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German Pages 317 [322] Year 2017
Hendrik Ehrhardt
Stromkonflikte Selbstverständnis und strategisches Handeln der Stromwirtschaft zwischen Politik, Industrie, Umwelt und Öffentlichkeit (1970–1989)
Geschichte Franz Steiner Verlag
VSWG – Beiheft 240
Hendrik Ehrhardt Stromkonflikte
vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet
band 240
Hendrik Ehrhardt
Stromkonflikte Selbstverständnis und strategisches Handeln der Stromwirtschaft zwischen Politik, Industrie, Umwelt und Öffentlichkeit (1970–1989)
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung, Frankfurt am Main
Umschlagabbildung: Kernkraftwerk Gundremmingen, 1989 Quelle: Historisches Konzernarchiv RWE Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Lektorat: DAS LEKTORAT Monika Kopyczinski, Berlin Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11624-4 (Print) ISBN 978-3-515-11633-6 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Danksagung.......................................................................................................
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Einleitung .......................................................................................................... Fragestellung und Untersuchungsgegenstand ............................................. Quellen ........................................................................................................ Forschungsstand ..........................................................................................
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1 Energiebedarf als zentrale Orientierungsgrundlage stromwirtschaftlichen Handelns .................................................................. 31 1.1 „Knick in der Kurve“: Energiebedarfsprognosen in Stromwirtschaft und Politik ................... 31 1.2 Sinkender Haushaltsstrombedarf als Anstoß zum Umdenken bei der Energiebedarfsfrage? ............................................................... 52 1.3 Kohle oder Kernenergie? Welcher Kraftwerkstyp wird gebaut? ......... 72 1.4 „Weg vom Öl“ und hin zur heimischen Steinkohle: Steinkohleverstromung und der ,Jahrhundertvertrag‘ ......................... 80 1.5 Zusammenfassung ............................................................................... 110 2 Marktmacht im Monopol? Das Verhältnis zwischen industrieller Kraftwirtschaft und den öffentlichen Energieversorgungsunternehmen ............. 113 2.1 Das Verhältnis zwischen industrieller Kraftwirtschaft und öffentlichen Stromversorgern: historische Grundlagen und Strukturen .................. 113 2.2 Stromwirtschaft und industrielle Kraftwirtschaft im Konflikt: Durchleitung und Demarkation als zentrale Felder der Auseinandersetzung ....................................................................... 123 2.3 Die Gemischte Kommission als Schlichterin zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft? Konfliktthemen und gemeinsame Interessen in und jenseits der Kommission ............. 148 2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie? Konkrete Missbrauchsverfahren und preiswerter Industriestrom............................................ 165 2.5 Zusammenfassung ............................................................................... 183 3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft ..................................... 3.1 Vom Kostentreiber zur Legitimationsinstanz: Rauchgasentschwefelung und Großfeuerungsanlagenverordnung als Katalysatoren neuer Unternehmenspolitik ..................................... 3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft: Veränderte Rahmenbedingungen und Professionalisierung ................ 3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis? Der Kampf der Stromwirtschaft gegen den Akzeptanzverlust ............ 3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie als erfolgreicher Coup der Stromwirtschaft? ..................................................................
185 185 210 231 247
Schlussfolgerungen ........................................................................................... 263
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Inhaltsverzeichnis
ANHANG Quellen und Literatur ........................................................................................ 271 A. Ungedruckte Quellen ........................................................................... 271 B. Gedruckte Quellen und Literatur ......................................................... 273 Interviews.......................................................................................................... 306 Abkürzungen ..................................................................................................... 306 Abbildungen und Tabellen ................................................................................ 309 Personenregister ................................................................................................ 313 Sachregister ....................................................................................................... 315
DANKSAGUNG Die vorliegende Studie ist im Rahmen einer Promotion am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden. Da eine Dissertation nicht ausschließlich eine Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand ist, möchte ich die Gelegenheit der Veröffentlichung nutzen, den Personen und Institutionen zu danken, die mich auf diesem Weg unterstützt und begleitet haben. Allen voran möchte ich Prof. Thomas Kroll danken, der mein Projekt zur Geschichte der Stromwirtschaft in jeder Phase gefördert und durch wichtige methodische sowie lebensweltliche Hinweise unterstützt hat. Durch seine Aufgeschlossenheit gegenüber Themen jenseits des historischen Mainstreams war er für mich der ideale Doktorvater. Mein Dank gilt darüber hinaus meinem Zweitgutachter Prof. Dirk van Laak, der mich bereits seit meinem Studium begleitet hat. Die Gespräche mit ihm und seine kritischen Anmerkungen haben wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Ohne die Quellen aus den Archiven und die Hilfe der Archivare ist historisches Arbeiten nur schwer möglich. Daher gilt mein spezieller Dank Hans-Georg Thomas und Peter Döring vom RWE Archiv sowie Roselie Kracht, Haike Heymann und Petra Uhlmann von den E.ON Archiven in München, Hannover und Dortmund. Bei meinen Interviewpartnern möchte ich mich für ihren Vertrauensvorschuss bedanken. Ihre Aussagen waren ein wertvoller Quell der Erkenntnis und gewährten mir wichtige Einblicke in ihre Sicht auf die Energiewirtschaft. John-Wesley Löwen, der zeitgleich über das Verhältnis von Industrie, Kommunen und Elektrizitätswirtschaft promovierte, danke ich für die gemeinsame Zeit im Archiv und den inspirierenden Austausch darüber hinaus. Besonders herzlich möchte ich mich bei meinen Eltern Gerold und Sabine bedanken, die mich in allen Lebenslagen unterstützt haben und die besten Eltern sind, die man sich vorstellen kann. Ohne die permanente Unterstützung meiner Freunde und Kollegen Tobias Federwisch, Lars Vogel, Jens Ripcke, Diana Köpke, Gerhard Mener, Karsten Redmann, Andrea Klausch, Stefanie Freyer und Sabine Sommer wäre die Arbeit wohl kaum gelungen. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die Reihe VSWG, Frau Stüdemann vom Steiner Verlag für ihre Geduld und die gute Zusammenarbeit. Für das Lektorat meiner Arbeit gebührt mein Dank Monika Kopyczinski, die akribisch, umsichtig und mit hohem Engagement den Text „in Form“ gebracht hat. Widmen möchte ich diese Studie meiner Tochter Luise, die das größte Glück auf dieser Erde ist! Hendrik Ehrhardt
Potsdam, im Februar 2017
EINLEITUNG Mit dem gegenwärtigen Transformationsprozess des Energiesystems erhalten auch Fragen zu dessen Genese verstärkt Aufmerksamkeit. Insbesondere die Entstehungsbedingungen, Akteurskonstellationen und Organisationsstrukturen sowie die Wechselwirkungen von Energiesystem und Gesellschaft sind dabei von Interesse. Zudem stellt sich die Frage nach der energiewirtschaftlichen Vorprägung der Akteure, sind diese doch fast ausnahmslos im Zeitalter der Großkraftwerke sozialisiert und ausgebildet worden. Wenig überraschend verläuft die öffentliche Diskussion darüber jedoch unhistorisch. Einen der ersten wichtigen Veränderungsprozesse der jüngeren Vergangenheit erfuhr das deutsche Energiesystem mit der Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts im Jahr 1998. Zumindest formal wurden dabei die „Aufhebung der staatlichen Investitionskontrolle und -lenkung“ in der Energiewirtschaft erwirkt sowie staatliche Regulierung zugunsten vermeintlich freien Wettbewerbs zurückgedrängt. Über die Langzeitwirkung dieser wie anderer Bemühungen, den ordnungspolitischen Rahmen der Energiewirtschaft zu reformieren, lassen sich allerdings erst Vermutungen, aber noch keine abschließenden Bewertungen treffen. Eine weitere grundlegende Veränderung des Energiesystems scheint mit der flächendeckenden Förderung und Einführung erneuerbarer Energien angestrebt zu werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Umbau und der stärkeren Verknüpfung der Energienetze im nationalen wie europäischen Rahmen, dem Ausbau von dezentralen Energieerzeugungs- und Speichertechnologien sowie der Einführung der Elektromobilität. Die Anpassung des bestehenden Energiesystems an diesen Transformationsprozess stellt eine der zentralen ökonomischen, politischen und sozialen Gestaltungsaufgaben der Gegenwart dar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die etablierten Strukturen der Energieversorgung bislang durch Resistenz hinsichtlich möglicher Änderungs- und Korrekturabsichten kennzeichnet waren. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg in Europa die Energienachfrage, die lange Zeit hauptsächlich durch die unmittelbare Verwertung von Primärenergie gedeckt wurde.1 Schon damals war die Schätzung des notwendigen Energiebedarfs von großer Bedeutung, wenn auch von anderer Qualität als seit den 1970er-Jahren. Im Zuge der Industrialisierung ergab sich außerdem durch eine Reihe technischer Innovationen die Möglichkeit einer steigenden Energieschöpfung aus Primärenergiequellen in Form von veredelter Energie (Elektrizität). Durch gleichzeitige Fortschritte in der Energieübertragung und der Entwicklung neuer Antriebssysteme (z. B. in der Aluminium- sowie Stahlindustrie oder durch Elektromotoren im Handwerk) hielt die elektrische Energie immer mehr Einzug in den wirtschaftlichen Produktionsprozess. Für Deutschland 1
Unter Primärenergie versteht man die in der Natur ursprünglich vorkommenden Energieträger oder -formen wie Stein-, Rohbraunkohle, Erdgas, Uran, Biomasse, Erdwärme, Sonne, Wasser, Wind usw.
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Einleitung
lassen sich die ersten Ansätze dieser Entwicklung, die in einem engen Zusammenhang mit den aufstrebenden „neuen Industrien“ stand, schon in der Zeit des Kaiserreichs beobachten. Selbst eine traditionsreiche Wirtschaftsbranche wie der Steinkohlebergbau blieb davon nicht unberührt. Er lieferte nicht nur einen bedeutenden Anteil der Primärenergie, sondern sah sich auch mit der Herausforderung konfrontiert, Investitionen zu tätigen, um sich auf den dynamischen Märkten der „neuen Energien“ zu etablieren. Die so entwickelte Fähigkeit, elektrische Energie mithilfe neuer Technologien aus unterschiedlichen Primärenergieträgern zu gewinnen und sie vielfältig nutzbar zu machen, hob die Knappheitsbedingungen dennoch nie auf. Doch konnte die Elektrizität, die ihre produktive Kraft aus einer immer stärker diversifizierten Primärenergiebasis (Energiemix) schöpfte, die Elastizität des Energieangebots bedeutend steigern. Historisch betrachtet verlief der Prozess der Elektrifizierung allerdings nicht in allen Regionen und nicht in allen Gesellschaftssegmenten gleich, sondern führte aufgrund zeitlich und räumlich verschiedener Startbedingungen zu unterschiedlichen Strategien, um die steigende Energienachfrage zu bewältigen. Aus dem gesellschaftlichen Umgang mit der Energie resultierten letztlich Entwicklungspfade, die heute zwar nicht irreversibel sind, aber den gesellschaftlichen Entscheidungsspielraum einengen. Das gesellschaftliche Erfahrungswissen, die historisch gewachsenen Denkmuster bzw. Mentalitäten, die Interessen einzelner Gesellschaftsgruppen sowie die jeweils spezifische Art der Organisation der Energieerzeugung und -anwendung erschweren einen abrupten Systemwechsel. Ein Bruch mit dem historisch gewachsenen Energiesystem würde einen hohen Kostenaufwand für die Gesellschaft bedeuten und einen Zeitraum beanspruchen, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Aus historischer Perspektive ergeben sich jedoch für die aktuelle Debatte über alternative Energiekonzepte, ökologische Folgekosten und Reorganisationsmaßnahmen im Energiesektor interessante Anknüpfungspunkte und Erkenntnisse. Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit können allerdings nur Teilaspekte dieser übergeordneten Fragen untersucht werden, nicht aber die historischen Besonderheiten und strukturellen Bedingtheiten des deutschen Energiesystems in toto.2 Auffällig am deutschen Energiesystem sind vor allem drei wesentliche Merkmale:3 Erstens weisen die institutionellen Rahmenbedingungen einen relativ hohen Grad an historischer Kontinuität auf – und dies über politische Systemwechsel hinweg. Zweitens sind die Entstehungszeit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sowie die Entwicklung bis in die Gegenwart hinein aufs Engste mit staatlichem Handeln verknüpft.4 Die Rolle des Staates ist im Bereich Energieversorgung viel2 3
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Für einen Überblick über die Struktur des deutschen Energiesystems siehe Abbildung 1 im Anhang. Als Energiesystem wird hier ein historisch gewachsenes Energieversorgungskonzept verstanden, das auf der Zusammensetzung diverser Primärenergieträger basiert (innerhalb eines gesellschaftlichen Organisationsrahmens, der die Erzeugung, Verteilung und Anwendung der Energie koordiniert und kontrolliert), die mithilfe der jeweils verfügbaren Technologien sowie dem endogenen Erfahrungswissen der Gesellschaft in veredelte Energien transformiert werden. Siehe u. a. Burgbacher, Fritz, Die gemischtwirtschaftliche Unternehmung in der Energiewirtschaft, in: Energiewirtschaftliches Institut Köln (Hg.), Wirtschaftliche und rechtliche Grundfra-
Einleitung
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gestaltig: Kommunen, Bundesländer und zuständige Bundesministerien nehmen unterschiedliche Aufgaben wahr. Für den hier skizzierten Zusammenhang sind besonders die früheren Länder (etwa Preußen, Schwaben, Bayern etc.) als Eigentümer von Energieversorgern von Interesse. Weiterhin spielen die Kommunen als Eigentümer von Energieversorgungsunternehmen (EVU) bis in die Gegenwart hinein eine wichtige Rolle. Kommunen nehmen bis heute eine zentrale Funktion im Energieversorgungssystem ein, weil sie über Konzessionsabgaben – also gewissermaßen die Pachtgebühr für die Wegenutzung für Stromleitungen – direkt vom Stromverkauf profitieren. Zudem agieren Kommunen selbst als Energieversorger. Ihre Interessenvertretung, der Verband kommunaler Unternehmen (VKU), ist bis heute einer der maßgeblichen Lobbyverbände im Energieversorgungssystem. Ob – und wenn ja, inwieweit – der Staat verantwortlich für die Energieversorgung ist, spielt im Verhältnis zwischen Staat und EVU eine zentrale Rolle. So hatte die Mehrzahl deutscher Energieversorger in der Zeit von 1954 bis 1989 eine öffentliche oder gemischtwirtschaftliche Anteilseignerstruktur. Vor allem die Brutto-Erzeugung und Engpassleistung lagen mehrheitlich bei den gemischtwirtschaftlichen Unternehmen. Die gemischtwirtschaftliche Unternehmensart war die dominierende Eigentumsform in der deutschen Stromwirtschaft. An den Energieversorgungsgesellschaften waren sowohl öffentliche als auch private Kapitalgeber beteiligt. Für die bestimmenden Akteure des deutschen Strommarktes, die großen Verbundunternehmen, war diese Form charakteristisch. Die unternehmerische Entscheidungsfindung in solchen Kapitalgesellschaften war in hohem Maße durch die Struktur der Anteilseigener gekennzeichnet und beeinflusst. Drittens spielte die industrielle Kraftwirtschaft seit den 1880er-Jahren eine prägende Rolle bei der Erzeugung von Energen der Energiewirtschaft, München 1949, S. 40–56; Becker, Ralph, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch gemischtwirtschaftliche Unternehmen, Baden-Baden 1997. Wenngleich der kommunalpolitische Einfluss Ende der 1960er-Jahre bei den EVU immer noch groß war, so kann seit dieser Zeit durchaus von einer „Teilprivatisierung“ der EVU gesprochen werden. Siehe u. a. Schwarz, Meinhard, Partnerschaft mit privatem Kapital, in: VEW AG (Hg.), Mehr als Energie. Die Unternehmensgeschichte der VEW 1925–2000, Essen 2000, S. 230–293, hier S. 230; Radzio, Heiner, Unternehmen mit Energie. Aus der Geschichte der VEBA, Düsseldorf u. a. 1990, S. 169–194; Hausner, Otto, Der Kapitalbedarf für den Energieausbau und dessen Deckung, in: Energiewirtschaftliches Institut Köln (Hg.), Die Energiewirtschaft in ihrer ökonomischen und sozialen Umwelt 1975–1985, München 1974, S. 137–152, hier S. 142; Gieske, Friedhelm, Finanzierungsprobleme der deutschen Gas- und Elektrizitätsversorgung, in: EWT 24 (1974) 11, S. 537–542, hier S. 541; Ponto, Jürgen, Perspektiven der Energiefinanzierung, Vortrag, gehalten auf der VDEW-Tagung vom 24. bis 26. Mai 1977 in München. Der erhöhte Kapitalbedarf hatte unter anderem mit den hohen Kosten für die Errichtung von Kernkraftwerken zu tun. Die Interessenvertretung der Verbundunternehmen forderte von mit diesem Problem befassten Ministerien (BMWi, BMFT und dem BMF) Steuer- und Abschreibungsvergünstigungen für den Bau von Kernkraftwerken. Siehe HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929. Die Auswirkungen der Privatisierung und Deregulierung der Energiewirtschaft wurden seit den 1970er-Jahren im europäischen Vergleich höchst unterschiedlich bewertet. Siehe u. a. Chick, Martin, Electricity and Energy Policy in Britain, France and the United States since 1945, Cheltenham u. a. 2007; Helm, Dieter, Energy, the State, and the Market. British Energy Policy since 1979, Oxford 2003; Pfaffenberger, Wolfgang / Scheele, Ulrich / Salge, Katrin, Energieversorgung nach der Deregulierung. Entwicklungen, Positionen, Folgen, Berlin 1999.
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Einleitung
gie. Sie war vor den öffentlichen Energieversorgungsunternehmen entstanden, wenngleich auch vorwiegend mit dem Anspruch, die Industriebetriebe selbst zu versorgen.5 Ihre Position als wichtiger Energieerzeuger und bedeutender Kunde der EVU hat die Industrie seit dieser Zeit jedoch immer weiter eingebüßt. FRAGESTELLUNG UND UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND Die vorliegende Studie fragt nach der Art und Weise, wie die bundesdeutschen Energieversorgungsunternehmen (EVU) in den 1970er- und 1980er-Jahren agierten, welche Unternehmenspolitik sie betrieben und wie sie das deutsche Energiesystem dadurch formten.6 Dabei wird das (west-)deutsche Energiesystem als ein historisch gewachsenes Geflecht von Staat, Energieversorgern und anderen gesellschaftlichen Akteuren verstanden. Im Fokus der Analyse stehen die beiden größten Unternehmen dieser Zeit: die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) sowie die Preußenelektra AG (PREAG).7 Beide Unternehmen bieten sich als Untersuchungsgegenstände an, da sie das Energiesystem der Bundesrepublik Deutschland dominierten, bei der Auswahl der Primärenergieträger für die Stromerzeugung jedoch eine jeweils eigene Unternehmenspolitik verfolgten. Während die PREAG ihren Strom etwa zur Hälfte aus Kernenergie gewann, produzierten die RWE ihren Strom zu zwei Dritteln aus heimischer Braunkohle.8 5
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Als industrielle Kraftwirtschaft werden Unternehmen der Industrie bezeichnet, die ihren Strombedarf ganz oder zu großen Teilen selbst erzeugen. Bis zum Ersten Weltkrieg war die installierte Kraftwerksleistung der Industrie mehr als doppelt so hoch wie die der öffentlichen Elektrizitätswerke. Siehe Ott, Hugo (Hg.), Statistik der öffentlichen Energieversorgung Deutschlands 1890–1913, Historische Energiestatistik von Deutschland, Bd. 1, St. Katharinen 1986, S. IX. Auf eine genauere Periodisierung wird hier bewusst verzichtet. Vermeintlich einschneidende Ereignisse der beiden Jahrzehnte, wie z. B. der Ölpreisschock 1973/74, stellen für die Stromwirtschaft keine eindeutige Zäsur dar. Vielmehr wirkten diese vorwiegend als Trendverstärker bereits zuvor begonnener Entwicklungen, sodass sich hier kein klarer Bruch, sondern allenfalls eine strategische Anpassung des Handelns der Branche erkennen lässt. Gleichwohl endet der Untersuchungszeitraum im Jahr 1990, weil sich die stromwirtschaftlichen Strukturen durch die Wiedervereinigung Deutschlands grundsätzlich veränderten. In einigen Fällen wird darüber hinaus die Nordwestdeutsche Kraftwerke AG (NWK) mit in die Untersuchung einbezogen. Zur NWK existiert eine gute Quellengrundlage und darüber hinaus war die NWK schon vor ihrem Beitritt zur Preußenelektra 1985 sowohl organisatorisch als auch in anderen unternehmerischen Fragen aufs Engste mit der Preußenelektra verbunden. Trotz der quasimonopolistischen Strukturen des Marktes zeichnet beide Unternehmen ein historisch gewachsenes Konkurrenzverhältnis aus. So thematisiert z. B. die Preußenelektra in ihrer eigenen Unternehmenshistorie im Abschnitt über Ziele und Aufgaben der Preußenelektra im Geschäftsbericht aus dem Jahr 1946 Folgendes: „Ein […] Grund für das Interesse des preußischen Staates an der Elektrizitätswirtschaft, lag in der Gefahr, daß die Elektrizitätswirtschaft ganz Deutschlands in privatkapitalistische Hände geriet – ‚stinnesiert‘ wurde. Die Versuche des Großindustriellen Stinnes, der seinerzeit bereits das RWE beherrschte und im Braunschweiger Gebiet die mächtigen Braunkohlevorkommen der Braunschweigischen Kohlebergwerke A. G. an sich gebracht hatte […] veranlaßten den preußischen Staat […] einen Keil von Norden nach Süden einzuschalten.“ Die Preußische Elektrizitäts-Aktiengesellschaft und ihre Entwicklung,
Fragestellung und Untersuchungsgegenstand
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Die großen Verbundunternehmen waren die bestimmenden Akteure des Energiesystems, die auf Branchenebene in einer ebenso vielschichtigen Wechselbeziehung zueinander standen (Verbundwirtschaft) wie innerhalb des ordnungspolitischen Rahmens.9 Darüber hinaus dominierten sie im Forschungszeitraum den Energiemarkt, der eine klar definierte Struktur aufwies. An der Spitze standen die hier untersuchten Verbundunternehmen. Um die Komplexität des gesellschaftlichen Handelns der Unternehmen zu erfassen, empfehlen sich daher mehrere Problemfelder zur Analyse. Kodifizierte Regelungen und ordnungspolitische Regeln bilden dabei die Makroebene für die beteiligten Organisationen (die EVU), deren Handeln die Mikroebene darstellt. Mit Auswahl der RWE und der PREAG werden regionale und kommunale Energieversorger nicht systematisch, sondern problemorientiert in die Untersuchung miteinbezogen. Die von der Stromwirtschaft immer wieder selbst angeführten Besonderheiten der Branche sollen nachfolgend kritisch hinterfragt werden. Ganz allgemein geht es dabei um die fundamentalen Beziehungen zwischen Gesellschafts- und Energiesystem. Vor allem die Protagonisten der Stromwirtschaft argumentierten stets mit der ‚Systemrelevanz‘ ihrer Branche: Ihr Wirtschaftszweig habe durch seine Erfolge wesentlich zum gesellschaftlichen Wohlstand beigetragen. Diese herausgehobene gesellschaftliche Position rechtfertige und erfordere eine gesonderte Behandlung und gesetzliche Ausnahmeregelungen. Aufgabe dieser Analyse soll es daher auch sein, die Argumente der Stromwirtschaft, die zur Legitimation ihres Sonderstatus herangezogen werden, näher zu beleuchten. Die Durchsetzung stromwirtschaftlicher Interessen war nämlich meistens erfolgreich. Sie zielte auf den Erhalt unter-
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Geschäftsbericht aus dem Jahr 1945/46, S. 6. Allerdings sind seit 1927 mit dem sogenannten Elektrofrieden die Versorgungsgebiete durch Demarkationsverträge zwischen den Energieversorgern weitgehend aufgeteilt worden. Siehe Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 320 ff. Auch in den 1980er-Jahren spielte die divergierende Struktur der Stromerzeugung hinsichtlich der Primärenergieträger noch eine Rolle. Die „Revierferne“ und das daraus resultierende Abgeschnittensein von der Braunkohle und den sich daraus ergebenden Kostenvorteilen konnte aus Sicht der nord- und süddeutschen EVU konsequenterweise nur den Weg in die Kernenergie bedeuten. Dies bestätigt rückblickend auch der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Preußenelektra, Erhard Keltsch, im Jahr 1980, indem er ausführt, „daß nur die Kernenergie geeignet ist, die natürlichen Vorteile, die das RWE hat, auszugleichen. Die seinerzeitige Entscheidung bei Preußenelektra und der NWK, auf die Kernenergie zu setzen, sei deshalb trotz aller Rückschläge richtig gewesen.“ Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 16. Mai 1980, S. 18, E.ON-Archiv München, EEA 608. Als Verbundunternehmen werden die neun großen Energieversorgungsunternehmen bezeichnet, die einen Großteil der elektrischen Energie erzeugen und gleichzeitig Eigentümer des Hoch- und Höchstspannungsnetzes sind. Diese Form der überregionalen Stromversorgung entstand vor mehr als 100 Jahren und war vor allem mit der Idee verknüpft, Versorgungssicherheit mittels Verbundleitungen über Versorgungsgebiete hinweg zu schaffen. Siehe zur Geschichte des Verbundbetriebs: Boll, Georg, Geschichte des Verbundbetriebes. Entstehung und Entwicklung des Verbundbetriebes in der deutschen Elektrizitätswirtschaft bis zum europäischen Verbund. Ein Rückblick zum 20-jährigen Bestehen der Deutschen Verbundgesellschaft e. V. – DVG Heidelberg, Frankfurt/M. 1969, S. 13 ff., 56 ff., 114 ff.; Schnug, Artur / Fleischer, Lutz, Bausteine für Stromeuropa. Eine Chronik des elektrischen Verbunds in Deutschland. 50 Jahre Deutsche Verbundgesellschaft, Heidelberg 1999, S. 43 ff.
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Einleitung
nehmerischer Freiheit, möglichst wenig Kontrolle sowie auf die Wahrung bestehender, für die Stromwirtschaft vorteilhafter Strukturen. Das wichtigste Argument war dabei der Verweis auf die Versorgungssicherheit. Für den untersuchten Zeitraum ist dies eines der häufigsten Argumente der Branche mit Blick auf die – im ersten Kapitel näher untersuchten – Energiebedarfsprognosen. Um die Argumentationslogik, die sich hinter dem Verweis auf die Versorgungssicherheit verbirgt, besser verstehen zu können, ist die Erklärung einiger technischer Eigenschaften von Elektrizität und Energieversorgung notwendig. Zunächst kann festgestellt werden, dass die physikalische Speicherfähigkeit von Elektrizität beschränkt ist. Daraus ergibt sich der Umstand, dass ständig genügend Elektrizität in Kraftwerken produziert werden muss.10 Auch die Leitungsgebundenheit von Strom wird häufig als Argument gegen eine wettbewerbliche Organisation der Stromwirtschaft ins Feld geführt. Neben diesen Besonderheiten werden unterschiedliche Phänomene seitens der Stromwirtschaft unter dem Begriff „Versorgungssicherheit“ subsumiert. Hinter dieser Überzeugung verbirgt sich der Gedanke, dass elektrische Energie kein Produkt, sondern eine Dienstleistung im Sinne des öffentlichen Versorgungsauftrages sei, die keinem Wettbewerb ausgesetzt sein sollte.11 Auf der Grundlage der gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit – und in Zeiten steigender Energiebedarfsprognosen sowie eines stabilen ordnungs- und wettbewerbspolitischen Rahmens – war in den 1970erund 1980er-Jahren der Absatz des Stroms aus neu errichteten Kraftwerken kaum ein Thema. Ferner wurde und wird von der Stromwirtschaft auch in anderen Zusammenhängen immer wieder auf die im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) verankerte allgemeine Anschluss- und Versorgungspflicht hingewiesen. Dieses Argument spielt vor allem im zweiten Kapitel eine wichtige Rolle, wenn es um das Verhältnis 10
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Die Transformierbarkeit von Materie in Energie und Wärme hängt mit den thermodynamischen Gesetzen zusammen und verdeutlicht auf diese Weise die Begrenztheit von Ressourcen und der Entropie. Siehe u. a. Osietzki, Maria, „Energetische Selbstorganisation“. Soziale Voraussetzungen, ökologische Begleiterscheinungen und technisch-naturwissenschaftliche Folgen der Thermodynamik, in: Ritter, Martina (Hg.), Bits und Bytes vom Apfel der Erkenntnis. Frauen – Technik – Männer, Münster 1999, S. 33–46. Und aus der Energiewirtschaft: Knizia, Klaus, Kreativität, Energie und Entropie. Gedanken gegen den Zeitgeist, Düsseldorf u. a. 1992, S. 90 ff. Erst mit einer intelligenteren Kopplung der Netze und verschiedener Anlagen ist es möglich, Energie zu „speichern“. So z. B. mit Pumpspeicherkraftwerken, in denen überschüssiger Strom dazu genutzt werden kann, Wasser mittels elektrisch betriebener Pumpen einen Berg hinaufzupumpen. In Zeiten fehlenden Stroms wird dieses Wasser wieder ins Tal gelassen und treibt Turbinen und Generatoren an, die dann Elektrizität erzeugen. Somit kann das zeitliche Problem zwischen Energiebedarf und Nachfrage gelöst werden. Auch das intelligentere Betreiben („Fahren“) von fossilen und nuklearen Kraftwerken sowie vor allem ihre Vernetzung mit erneuerbaren Energien (Wind und Sonne), insbesondere im europäischen Maßstab, könnte die mangelnde Speicherfähigkeit von Elektrizität ausgleichen. Budde, Hans-Jürgen, Elektrische Energie – Ware oder Dienstleistung?, in: EWT 21 (1971) 5, S. 243–248; Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) (Hg.), Jahresbericht 1989, Frankfurt/M. 1990, S. 15. Im Jahresbericht des Verbandes wird die Auffassung vertreten, „dass Strom kein Produkt sei wie andere Güter, sondern eine Dienstleistung, bei der es – ebenso wie bei der Trinkwasserversorgung – überall auf der Welt keinen Wettbewerb gibt“. Diese Aussage bezog sich auf die Pläne der EG-Kommission, mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt durchzusetzen.
Fragestellung und Untersuchungsgegenstand
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der EVU zur industriellen Kraftwirtschaft geht. Für alle Kapitel der vorliegenden Studie sind gleichermaßen die Argumente der hohen Kapitalintensität der Stromwirtschaft bei Investitionen in Energieerzeugungs- und Verteilungsanlagen sowie die Langfristigkeit des energiewirtschaftlichen Handelns relevant. Darüber hinaus ist die Stromwirtschaft von der staatlichen Preis- und Kartellaufsicht gekennzeichnet. Gerade die energierechtlichen Fragen sollen aufgrund ihrer Komplexität im Folgenden problemorientiert untersucht werden.12 Auf drei unterschiedlichen, noch näher zu bestimmenden Problemfeldern sollen sowohl die Kontinuität als auch der Wandel des Handelns der Stromkonzerne nachvollzogen werden. Das Agieren der Unternehmen wird dabei als stromwirtschaftliches Handeln aufgefasst und analysiert.13 Der Fokus ist problemorientiert und akteurzentriert. Die Fragestellung lautet: Welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume hatten die Unternehmen auf den drei zu untersuchenden Feldern? Dabei werden die EVU als Organisationen verstanden, deren Handeln nicht ausschließlich hinsichtlich ihrer eigenen Rationalität, sondern hinsichtlich ihrer gesamtgesellschaftlichen Bezüge untersucht werden soll.14 Die Unternehmen werden hierbei gleichermaßen als ökonomisch-funktionale und soziale Organisationen verstanden.15 Mittels einer solchen Perspektive lassen sich verschiedene Dimensionen 12
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Ausschließlich auf das Thema „Regulierung“ konzentriert sich die Studie von Alexandra von Künsberg. Siehe Künsberg, Alexandra von, Vom „Heiligen Geist der Elektrizitätswirtschaft“. Der Kampf um die Regulierung der Stromwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2012. Dieser Begriff wird in Anlehnung an Bernhard Stiers Konzept der Elektrizitätspolitik verwendet, der vorwiegend die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland von 1890 bis 1950 in den Blick nimmt. Siehe Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 33 ff. Zuerst wurde der Begriff der Elektrizitätspolitik, wenn auch vorwiegend für die praktische Politik konzipiert, in den 1920er-Jahren durch den bei einer AEG-Tochter beschäftigten Elektroingenieur Gustav Siegel geprägt. Siehe Siegel, Gustav, Elektrizitätspolitik, in: Elektrotechnik und Maschinenbau 45 (1927) 39, S. 823–826. Auf die Ausformulierung einer konkreten Handlungs- oder Organisationstheorie wird an dieser Stelle verzichtet. Die Begriffe der Studie orientieren sich im Wesentlichen an Ansätzen einer neoinstitutionalistischen Handlungstheorie. Für einen Überblick hierzu siehe u. a. Walgenbach, Peter, Neoinstitutionalistische Ansätze in der Organisationstheorie, in: Kieser, Alfred / Ebers, Mark (Hg.), Organisationstheorie, 6., erw. Aufl., Stuttgart 2006, S. 353–401. Dass Organisationstheorien historischer Analyse bedürfen, ist nicht erst seit den 1990er-Jahren bekannt, wenngleich diese Forderung in dieser Zeit verstärkt erhoben wurde. Siehe Kieser, Alfred, Why Organization Theory Needs Historical Analyses – And How This Should Be Performed, in: Organization Science 5 (1994) 4, 1994, S. 608–620. Aus der Industrie- und Arbeitergeschichte wird für die nachstehende Untersuchung vor allem der Hinweis ernst genommen, dass Unternehmen nicht als monolithische Entitäten mit dem einseitigen Ziel der Transaktionskostenmaximierung zu verstehen sind, sondern vielmehr als Akteure, die sich auf sozialen Handlungsfeldern bewegen und mit diesen in Interaktion stehen. Siehe Welskopp, Thomas, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 117–141; Siegenthaler, Hansjörg, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999) 2, S. 276– 301. Siehe dazu ausführlicher Plumpe, Werner, Unternehmen, in: Ambrosius, Gerold / Petzina, Dietmar / ders. (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökono-
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Einleitung
stromwirtschaftlichen Handelns, nämlich Energiebedarf, Energiemarkt sowie das dynamische Verhältnis zu Umwelt und Öffentlichkeit analysieren. Auf dieser methodischen Grundlage soll im Folgenden das endogene und exogene stromwirtschaftliche Handeln der EVU auf drei miteinander verbundenen Problemfeldern untersucht werden: der Energiebedarfsplanung, des Ordnungsrahmens und der Konkurrenz sowie der Umwelt und Öffentlichkeit. Die Verschiedenheit dieser Bereiche gewährleistet eine umfassende Charakterisierung stromwirtschaftliches Handeln in der Gesamtschau: Erstens wird die Politik der Stromwirtschaft in Bezug auf die Energiebedarfsproblematik untersucht (Kapitel 1). Die Energiebedarfsprognosen stehen hierbei im Fokus der Analyse, weil sie die Entscheidungsgrundlage für das unternehmerische Handeln, etwa den Bau von Kraftwerken, sind. Energiebedarfsprognosen werden mit Zahlen aus der Vergangenheit erstellt, die eine Orientierung für in der Gegenwart zu treffende Entscheidungen bieten sollen. Darüber hinaus sollen diese Prognosen weit in die Zukunft reichen und den künftigen Energiebedarf relativ präzise bestimmen. Spätestens seit den 1920er-Jahren bilden Energiebedarfsprognosen die zentrale Orientierungsgrundlage stromwirtschaftlicher Planung. Sie weisen einen gewissen Grad an historischer Kontinuität auf. Seit den 1970er-Jahren hat sich diese Situation jedoch entscheidend verändert. Politik und Öffentlichkeit stellten zusehends die Argumente und Schlussfolgerungen infrage, die aus den Prognosen abgeleitet wurden. Auch in der Stromwirtschaft selbst wurden Energiebedarfsprognosen immer mehr zum Thema. Infolgedessen geriet der bis dahin stets vorausgesetzte lineare Zusammenhang zwischen Energiebedarf, Wirtschaftswachstum und Versorgungssicherheit – ein wesentliches Element bei der Erstellung von Energiebedarfsprognosen – in die Kritik.16 Nahezu zeitgleich und verstärkt durch die beiden Ölpreisschocks (1973/74 und 1979) sowie die Energiepolitik der Bundesregierung
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men, 2. Aufl., München 2006, S. 61–94, hier S. 61; ders., Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums – oder: warum Unternehmen nur historisch erklärt werden können, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2003), S. 143–156. In der vorliegenden Untersuchung stehen jedoch nicht einzelne Unternehmen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Branche „Stromwirtschaft“, deren Handeln anhand der beiden Unternehmen und ihrer Verbände untersucht werden soll. Die deutsche Stromwirtschaft ist seit den 1970er-Jahren weit davon entfernt, das Werk einzelner großer Männer zu sein, selbst wenn es innerhalb der Gruppe der EnergieversorgerVorstände einzelne Figuren gab, die bestimmend wirkten. Das Agieren dieser Gruppe war in den 1970er- und 1980er-Jahren von einem höheren Maß an Unsicherheit geprägt, als dies noch in den 1950er- und 1960er-Jahren der Fall gewesen ist. Siehe dazu: Hesse, Jan-Ottmar, „Der Kapitalismus ist das Werk einzelner hervorragender Männer“. Unternehmensgeschichte zwischen Personen und Strukturen, in: GWU 3 (2005), S. 148–158; Casson, Mark, Der Unternehmer. Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 4, S. 524–544, hier S. 526. Ganz ähnliche Beobachtungen lassen sich im Übrigen für den Zusammenhang zwischen Metallverbrauch und Wirtschaftswachstum ausmachen. Das heißt, steigendes Wirtschaftswachstum muss nicht zwangsläufig mit einem steigenden Ressourceneinsatz, in diesem Fall Metall, einhergehen. Siehe dazu Wengenroth, Ulrich, Eiffelturm und Coladose. Über den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Metallverbrauch, in: Kultur & Technik 3 (1995), S. 10–15.
Fragestellung und Untersuchungsgegenstand
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wurde die Frage virulent, mit welchem Primärenergiemix („Weg vom Öl“ und hin zur heimischen Steinkohle und der Kernenergie) künftige Kraftwerke ‚befeuert‘ werden sollten. Für Energiebedarfsprognosen und die mit ihnen verbundenen Probleme lassen sich also Elemente sowohl der Kontinuität als auch des Wandels vonseiten der EVU erkennen. Zweitens wird das Verhältnis zwischen industriellen Eigenerzeugern und der öffentlichen Stromversorgung in den Blick genommen (Kapitel 2). Dieses war seit den Anfängen der Stromversorgung – nicht nur in Deutschland – Anlass für zahlreiche Auseinandersetzungen. Industrielle Eigenerzeugung lieferte bis zum Ersten Weltkrieg rund drei Viertel der gesamten Strommenge, sodass es die öffentlichen Elektrizitätskonzerne auch bis in die Zwischenkriegszeit hinein schwerhatten, sich gegen die industriellen Kraftwerksbetreiber durchzusetzen.17 Eigenerzeuger und öffentliche Elektrizitätskonzerne zeichnet ein historisch gewachsenes Konkurrenzverhältnis aus. Dieses ist allerdings in den einzelnen Industriezweigen unterschiedlich stark ausgeprägt, was verallgemeinerbare Aussagen erschwert. Die Industriebetriebe waren in der Regel nicht daran interessiert, mit den öffentlichen Energieversorgungsunternehmen zu konkurrieren. Stattdessen wollten sie eine kostengünstige Energieerzeugung aufbauen, ohne dabei jedoch das Liefermonopol der öffentlichen Elektrizitätswerke infrage zu stellen. Aus rein ökonomischem Kalkül dürfte es für Industriebetriebe deshalb nicht entscheidend gewesen sein, ob sie ihren Energiebedarf mittels eigener Anlagen erzeugten oder einen günstigen Stromliefervertrag mit einem EVU abschlossen. Denn die eigene Energieerzeugung garantierte Industriebetrieben nur insoweit eine Versorgungsunabhängigkeit mit elektrischer Energie, wie diese nicht auf Zusatzlieferungen der öffentlichen Stromwirtschaft angewiesen waren. Gerade für die Schwer-, Metall-, Papier- und Chemieindustrie machte der Strompreis zum Teil zwei Drittel der Gesamtkosten aus. Auf diese Weise waren Zusatzlieferungen über die vertraglich vereinbarte Menge hinaus ein erheblicher Kostenfaktor, weil die Energieversorger diese, im Verhältnis zur Eigenproduktion, zu einem wesentlich höheren Preis an die Industrie lieferten. Umgekehrt konnte der Verlust eines großindustriellen Kunden, wenn dieser sich z. B. für die Eigenerzeugung seiner Energie entschied, für die EVU erhebliche Umsatzeinbußen bedeuten. In Zeiten abgeschlossener Versorgungsgebiete, langfristiger Lieferverträge und geringer Auswahl von Stromanbietern stellte die Eigenerzeugung für die Industrie jedoch oft die einzige Möglichkeit dar, an den Energiekosten zu sparen. Das Verhältnis zwischen industrieller Kraftwirtschaft und Energieversorgern macht auch die handlungsleitenden Prinzipien unternehmerischer Elektrizitätspolitik deutlich. Die „Gemischte Kommission“18 zeigte, wie sich Energieversorger in Aushandlungsprozessen mit anderen Marktteilnehmern bzw. Kunden, in diesem Fall der 17
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Löwen, John Wesley, Zwischen Selbstversorgung und öffentlicher Stromversorgung. Elektrizitätswirtschaftliche Interessen der Schwerindustrie von 1926 bis 1936, in: Peter, Döring / Horstmann, Theo (Hg.), Revier unter Strom. Fotografien zur Elektrizitätsgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2010, S. 86–95, hier S. 87. Die Gemischte Kommission war ein informelles Gremium, das sich aus Vertretern der Stromwirtschaft und der industriellen Kraftwirtschaft zusammensetzte, um Konflikte zwischen bei-
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Einleitung
industriellen Kraftwirtschaft, verhielten. Im Kern ging es in dieser Kommission um die Frage der „Durchleitung“ von elektrischer Energie.19 Dabei kam es einerseits darauf an, welchen Preis der Industriebetrieb für seinen selbst erzeugten (überschüssigen) Strom erhielt, und andererseits, welchen Preis das EVU verlangte, falls der Strom des Industriebetriebs aus der Eigenerzeugung nicht ausreichte. Da die Energieversorger seitens des Energierechts bei Sondervertragskunden – und solche sind Industriebetriebe – keinerlei Preisbindung unterlagen und darüber hinaus das Leitungsmonopol besaßen, waren Konflikte in diesem Bereich vorprogrammiert. Des Weiteren häuften sich seit den 1970er-Jahren gerichtliche Klagen der Industrie wegen Marktmissbrauchs der Energieversorger. Es gilt folglich zu klären, ob – und wenn ja, inwiefern – die industrielle Kraftwirtschaft tatsächlich eine Marktmacht im Monopol darstellte. Anhand dieser Probleme soll das Verhältnis zwischen EVU und industrieller Kraftwirtschaft untersucht und näher charakterisiert werden. Drittens wird das Handeln der Stromwirtschaft vor dem Hintergrund der Themen „Umwelt“ und „Öffentlichkeit“ genauer analysiert (Kapitel 3). Dieser auf den ersten Blick recht weit gefasste Bereich lässt sich im Hinblick auf die 1970er- und 1980er-Jahre eingrenzen. So wird anhand der Reformbemühungen beim Energierecht – und auch beim Kartellrecht – deutlich, dass die EVU innerhalb des (rechtlichen) Ordnungsrahmens und gegenüber ‚dem Staat‘ ihre grundsätzliche Position gefährdet sahen. Zudem geriet seit Mitte der 1960er-Jahre die Legitimationsgrundlage zweier, die Stromwirtschaft kennzeichnender Aspekte zusehends in die Kritik – die mangelnde Speicherfähigkeit der Elektrizität und die Leitungsgebundenheit.20 Vertreter der öffentlichen Stromwirtschaft behielten jedoch ihren Standpunkt bei und behaupteten, dass gerade aufgrund dieser beiden Besonderheiten echte Wettbewerbsverhältnisse auf dem Energiemarkt ausgeschlossen seien. Ordnungs- und Regulierungsfragen gehören deshalb zu den zentralen Berührungspunkten zwischen EVU und dem Staat, an denen sich das Verhältnis beider zueinander gut erkennen lässt. Auch vom Aufkommen eines neuen Umweltbewusstseins sowie von der daraus resultierenden Umweltgesetzgebung waren die Energieversorger im speziellen Maße betroffen. Gerade die Nachrüstung alter Kohlekraftwerke und die Festlegung höherer Grenzwerte für neue Anlagen durch eine verschärfte Immissionsschutzgesetzgebung waren für die EVU nicht nur monetär, sondern auch legitimatorisch richtungsweisend. Die einst als öffentliche Einrichtungen entstandenen Elektrizitätswerke mit ihrer im EnWG verankerten Versorgungspflicht hatten sich mittlerweile vor allem hinsichtlich ihres Selbstverständnisses – und nicht nur bezüglich
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den Gruppen beizulegen und gemeinsame Interessen auszuloten. Auf die Arbeit der Kommission wird in Kapitel 2.3. näher eingegangen. Vereinfacht dargestellt, geht es dabei um das Problem, ob ein Industriebetrieb seinen Strom in das Stromnetz der EVU einspeisen darf und an welcher Stelle er diesen wieder entnimmt bzw. zu welchem Preis dies geschieht. Ausschließlich technisch betrachtet gibt es verschiedene Formen der Durchleitung. Relevant für die folgende Untersuchung sind vor allem die Entnahme und die Einspeisung von elektrischer Energie durch Industriebetriebe in das Netz der Energieversorger. Siehe u. a. Gröner, Helmut, Ordnungspolitik in der Elektrizitätswirtschaft, in: ORDO XV/XVI (1965), S. 333–412.
Fragestellung und Untersuchungsgegenstand
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ihrer Aktionärsstruktur – zu privatwirtschaftlichen Akteuren gewandelt. Mit der Immissionsschutzgesetzgebung der frühen 1980er-Jahre, die für die EVU gewaltige Investitionen bedeutete, veränderten sich prinzipiell die Anforderungen aus Politik und Gesellschaft an die Energieversorger. Es gilt also zu fragen, wie die EVU mit dieser veränderten Lage umgingen. Ferner sollen das stromwirtschaftliche Handeln gegenüber dem Staat, den Gerichten und Kartellbehörden sowie die ambivalente Haltung der Energieversorger in ihrem (rechtlichen) Ordnungsrahmen und gegenüber der Öffentlichkeit untersucht werden. Die verstärkte Öffentlichkeitsarbeit der Energieversorger deutet auf ein verändertes Selbstverständnis der Unternehmen hin. Durch Reorganisation sowie die Schaffung neuer Institutionen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit (wie z. B. der Informationszentrale für Elektrizitätswirtschaft) seit den 1970er-Jahren versuchte die Branche, ihren öffentlichen Akzeptanzverlust einzudämmen. Neben diesen Maßnahmen sollten auch andere Strategien der Öffentlichkeitsarbeit, meist unter Einbezug neuer sozialwissenschaftlicher Ansätze und Methoden, das Image der Stromwirtschaft in der Öffentlichkeit nachhaltig positiv beeinflussen. Ob sich mit diesem Vorgehen auch ein modifiziertes Bild der Stromwirtschaft von der Öffentlichkeit verbindet, soll ebenfalls im dritten Kapitel geklärt werden. Die verwendeten Quellen lassen vermuten, dass die Akteure der Branche eine veränderte Öffentlichkeit zum Teil dafür verantwortlich machten, dass es ihnen immer schwerer fiel, für ihre Anliegen Zustimmung zu erhalten. Zweifelsohne wurde das Verhältnis der Stromwirtschaft zur Öffentlichkeit durch die Ereignisse des ersten und zweiten Ölpreisschocks von 1973/74 bzw. 1979, den Störfall von Harrisburg und den Reaktorunfall von Tschernobyl nachdrücklich beeinflusst. Diese Ereignisse wirkten jedoch nur als Trendverstärker bereits zuvor begonnener Entwicklungen. Dies gilt vor allem in Bezug auf den Akzeptanzverlust der Kernenergie.21 Bei all diesen Ereignissen, so hat das Studium der verwendeten Quellen gezeigt, handelt es sich zwar um bedeutsame Ereignisse für die Stromwirtschaft. Ihre historische Bedeutung muss indes sorgfältig ausgeleuchtet und ggf. gesondert betrachtet werden, stellen sie doch nicht die Regel, sondern die Ausnahme dar.
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Den Energieversorgern kam es nach Tschernobyl darauf an, der Öffentlichkeit zu verdeutlichen, dass deutsche Kernkraftwerke kaum Gemeinsamkeiten mit dem sowjetischen Reaktortyp hätten und dass damit derartige Ereignisse in der Bundesrepublik ausgeschlossen seien. Tatsächlich veranlassten Behörden und Betreiber aufwendige Sicherheitsüberprüfungen der deutschen Kernkraftwerke. In Teilen der Energiewirtschaft mehrten sich schon Ende der 1980erJahre die Stimmen, die einen Ausstieg aus der Kernenergie nicht mehr für ausgeschlossen hielten und von einer „Übergangsenergie“ sprachen. Bezeichnenderweise war es der spätere Wirtschaftsminister Werner Müller – damals persönlicher Assistent des Preußenelektra-Aufsichtsratsvorsitzenden und VEBA-Vorstandsvorsitzenden Rudolf von Bennigsen –, der seinem damaligen Vorgesetzten diese Idee näher gebracht haben soll. „Die Organe der VEBA haben die Kernkraft von Anfang an als eine Übergangslösung für die Deckung des Energiebedarfs angesehen“, so von Bennigsen am 30. Mai 1986 in Die Welt. Oder drei Jahre später im Spiegel: „Ich habe ja selbst schon vor Tschernobyl davon gesprochen, daß Kernenergie nur eine Übergangsenergie ist. Ich habe die Übergangszeit damals auf etwa 50 Jahre geschätzt“. Siehe Der Spiegel 16 (1989), S. 31.
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Einleitung
QUELLEN Die vorliegende Studie profitiert maßgeblich von der liberalisierten Archivpolitik der wichtigsten Energieversorgungsunternehmen seit dem Jahr 2000.22 Die Materialgrundlage bilden Quellenbestände aus Archiven der beiden Unternehmen Preußenelektra (PREAG) und Rheinisch-Westfälische-Elektrizitätswerke (RWE), die von der Forschung bisher kaum oder noch nie ausgewertet wurden.23 Dabei handelt es sich vorwiegend um Unternehmensakten und hierbei vor allem um Vorstandsund Aufsichtsratsprotokolle, Briefwechsel, Vermerke, Positionspapiere sowie zahlreiche weitere Dokumente. Neben diesen unternehmenseigenen Quellen wurden die Akten von Verbänden, hauptsächlich von der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), der Deutschen Verbundgesellschaft (DVG) und der Vereinigung Industrielle Kraftwirtschaft (VIK), konsultiert.24 Verbände dienen in der Stromwirtschaft als Kommunikationsplattformen für ihre Mitglieder und bilden mit ihren themenbezogenen Ausschüssen den Rahmen für branchenspezifische Positionen jenseits einzelner Unternehmen. Die Verbandsunterlagen waren für die vorliegende Analyse äußerst hilfreich, um Entscheidungsprozesse umfassend nachvollziehen zu können. Eine Herausforderung stellte allerdings die energiewirtschaftliche Sprache der Quellen dar. Der Mix aus technischen, juristischen und ökonomischen Spezialbegriffen bedurfte einer erheblichen Übersetzungsleistung. Zusätzlich zu den ungedruckten Quellen wurde die in den 1970er- und 1980erJahren erschienene energiewirtschaftliche Literatur herangezogen. Besonderes Augenmerk galt dabei den drei Zeitschriften Energiewirtschaft, Energiewirtschaftliche Tagesfragen (EWT) und Zeitschrift für Energiewirtschaft (ZfE), die wichtige Publikationsorgane für die Themen der Branche darstellten und gerade von den Vorständen und Abteilungsleitern der Unternehmen regelmäßig auch als Forum genutzt wurden. Ein überaus wertvolles Erkenntnisreservoir bilden darüber hinaus die 29 geführten Gespräche und Experteninterviews.25 Bei der Mehrzahl der Interviews handelte es sich um teilstandardisierte Leitfadeninterviews, von denen Volltranskripte angefertigt wurden. Die Auswahl der Interviewpartner orientierte sich an deren Position im Unternehmen sowie an den inhaltlichen Schwerpunkten der vorliegenden Studie. So wurden vorwiegend ehemalige Vorstände, Direktoren und Abteilungsleiter der RWE und der PREAG befragt. In der anschließenden Analyse zielte ein
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Siehe Stier, Bernhard, Die neue Elektrizitätsgeschichte zwischen kulturhistorischer Erweiterung und kommunikationspolitischer Instrumentalisierung. Anmerkungen zum Forschungsstand am Ende des „langen 20. Jahrhunderts der Elektrizität“, in: VSWG 87 (2000) 4, S. 477– 488. 23 In einigen Fällen wurden die Quellen weiterer Verbundunternehmen hinzugezogen, wie z. B. die des Bayernwerks oder der Hamburger Electricitäts-Werke AG (HEW). 24 Hierbei sind vor allem die Akten der VDEW bzw. ihrer jeweiligen Fachausschüsse sowie der DVG, in der die Politik der neun großen Verbundunternehmen diskutiert und koordiniert wurde, von Bedeutung. Für das zweite Kapitel waren die Akten der VIK und ihrer Ausschüsse von essentieller Bedeutung. 25 Eine Auflistung der Gesprächs- und Interviewpartner findet sich im Anhang.
Quellen
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erster Schritt darauf, das assoziative Netz dieser Gespräche zu identifizieren und herauszufinden, wie die Themen in der Rückschau von den Beteiligten reflektiert bzw. angesprochen wurden. Dabei waren folgende Fragen leitend: Welche stromwirtschaftlichen Themen werden von den Gesprächspartnern häufig thematisiert und welche nicht? Finden sich in den Interviews die Themen der Quellen wieder? Ergibt sich durch den zeitlichen Abstand eine andere Bewertung bestimmter stromwirtschaftlicher Probleme oder bleibt die Einschätzung gleich? Darüber hinaus wurden die Interviews auf bestimmte Ähnlichkeiten, Strukturmerkmale und Unterschiede hin untersucht. Zuvor waren die Interviewten mit Quellenbefunden konfrontiert worden, um ‚blinde Flecken‘ in der Erinnerung auszuschließen. Auf die umfangreiche und sehr kontroverse Methodendiskussion zu Experteninterviews soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.26 Lediglich das Vorgehen soll skizziert werden, denn immerhin steht mittlerweile außer Frage, dass es das Experteninterview nicht gibt.27 Die Interviews der 29 Experten dienen dazu, um zu ergründen, ob und wie stromwirtschaftliche Belange jenseits der Quellen thematisiert wurden. Der Leitfaden wurde genutzt, um das Gespräch zu strukturieren und gleichzeitig die Offenheit der Erzählsituation nicht zu beschränken. Experteninterviews zeichnen sich in ihrem Verlauf durch ein hohes Maß an Heterogenität in Bezug auf die Datenerhebung aus, weshalb vermieden werden sollte, die Interviews als Quelle objektiver Informationen zu verstehen.28 Die für das Interview konstitutiven Einflüsse der Interaktionsstrukturen (Person und Experte) während des Gesprächs, wie auch die situativen Lebensumstände des Interviewten, das heißt im vorliegenden Fall die heutige Position, das Ausscheiden aus dem Unternehmen, der Wandel der Einstellung zu bestimmten Themen etc., erschweren die Auswertung in gewisser Weise. In der Analyse ging es daher darum, aus dem Erzählten die Erfahrungsschichten des Experten in Bezug auf energiewirtschaftliche Probleme freizulegen und Hypothesen zu überprüfen. Bedacht werden musste dabei, dass es sich bei den Experten um ehemalige Vertreter einer Institution oder Organisation handelte, deren Aussagen vor diesem Hintergrund gelesen und interpretiert werden müssen. Die Rekonstruktion der Deutungsangebote der interviewten Experten diente ferner dazu, diese mit dem Quellenmaterial abzugleichen. Idealiter kamen so Brüche und Verwerfungen oder Gemeinsamkeiten und Bestätigungen zum Vorschein. Eine häufig anzutreffende Geisteshaltung von Stromwirtschaftlern offenbart sich in der Feststellung, dass Stromwirtschaft ein komplexes Geflecht aus technischen, ökonomischen und juristischen Sachverhalten darstelle. Dies sei, so die Annahme interviewter Protagonisten, gerade Politikern und Laien schwer zu vermitteln. Diese Einstellung war häufig, wenn auch in höchst unterschiedlicher Ausprä26 27
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Einen Überblick zum Thema geben u. a. Bogner, Alexander / Littig, Beate / Menz, Wolfgang (Hg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung, Wiesbaden, 2005. Bogner, Alexander / Menz, Wolfgang, Expertenwissen und Forschungspraxis: die modernisierungstheoretische und die methodische Debatte um die Experten. Zur Einführung in ein unübersichtliches Problemfeld, in: ders. / Littig, Beate / ders. (Hg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung, Wiesbaden, 2005, S. 20. Ebd., S. 9.
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Einleitung
gung, in den Quellen und Interviews zu erkennen, wobei bei jüngeren Führungskräften diese Haltung seltener auszumachen war als bei ihren älteren Kollegen. Die Tendenz zur Verrechtlichung sowie die zunehmende Dominanz ökonomischen und juristischen Führungspersonals bei den Verbundunternehmen stellt ein weiteres Kennzeichen der Energiewirtschaft der 1970er-, vor allem aber der 1980er-Jahre dar. FORSCHUNGSSTAND Energiewirtschaft im weiteren und Stromwirtschaft im engeren Sinne fristen in der Geschichtswissenschaft bisher ein eher randständiges Dasein. Zwar haben sich verschiedene Teildisziplinen – von der Technik- über die Kultur- bis hin zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie die Umweltgeschichte – dem Thema „Energie“ bereits gewidmet, doch besteht das Interesse erst seit etwa 20 Jahren. Obwohl Energie stets als ein wichtiger Aspekt in historischen Prozessen verstanden wurde, hat die Zahl der Detailstudien erst in jüngerer Zeit zugenommen.29 Gesamtdarstellungen zum Thema „Energie“, wie die des tschechisch-amerikanischen Umweltwissenschaftlers und Historikers Vaclav Smil, Energy in World History,30 bilden die große Ausnahme. Der nachstehend präsentierte Forschungsstand kann daher relativ knapp gehalten werden, da die meisten Studien die in dieser Untersuchung aufgeworfenen Fragen nur am Rande berühren.31
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Dies lässt sich u. a. an Studien zur Industrialisierung und Überblicksdarstellungen zum 19. Jahrhundert erkennen. Siehe u. a. Landes, David S., The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge 1969; Wrigley, Edward A., Energy and the English Industrial Revolution, Cambridge u. a. 2010; Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Kap. XII: Energie und Industrie: Wer entfesselte wann und wo den Prometheus? München 2009, S. 909–957. Für neuere Forschungen siehe Döring, Peter, Ruhrbergbau und Elektrizitätswirtschaft. Die Auseinandersetzung zwischen dem Ruhrbergbau und der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft um die Steinkohleverstromung von 1925 bis 1951, Essen 2012; Künsberg, Alexandra von, Vom „Heiligen Geist der Elektrizitätswirtschaft“. Der Kampf um die Regulierung der Stromwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2012; Altenburg, Cornelia, Kernenergie und Politikberatung. Die Vermessung einer Kontroverse, Wiesbaden 2010; Tauer, Sandra, Störfall für die gute Nachbarschaft? Deutsche und Franzosen auf der Suche nach einer gemeinsamen Energiepolitik (1973–1980), Göttingen 2012; Graf, Rüdiger, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er-Jahren, München 2014; Ehrhardt, Hendrik / Kroll, Thomas (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012; Möllers, Nina / Zachmann, Karin (Hg.), Past and Present Energy Societies. How Energy Connects Politics, Technologies and Cultures, Bielefeld 2012. 30 Smil, Vaclav, Energy in World History, Boulder u. a. 1994. 31 Ein ausgewogen argumentierender und sehr lesenswerter Überblick zum Forschungsstand findet sich in der Studie von Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 20–36. Daran anknüpfend sollen deshalb in der vorliegenden Analyse – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur Publikationen aus den vergangenen zehn Jahren aufgenommen werden.
Forschungsstand
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Die Technikgeschichte hat die Stromwirtschaft lange Zeit vor allem unter dem Gesichtspunkt technischer Innovation erforscht und kam deshalb selten über binnenlogische Erklärungsmuster hinaus. Die Technik wurde dabei als Motor der Weiterentwicklung verstanden, und die sozialen, politischen sowie ökonomischen Implikationen – ganz abgesehen von den kulturellen – spielten in diesem Forschungsstrang eine eher untergeordnete Rolle.32 In der viel beachteten und häufig zitierten Studie des amerikanischen Technikhistorikers Thomas Hughes wird hingegen die Erforschung der öffentlichen Stromversorgung von der traditionellen Technikgeschichte gelöst und um neue Aspekte erweitert.33 In dieser systemtheoretisch inspirierten Betrachtungsweise steht das Stromnetz als wesentlicher Bestandteil der Stromwirtschaft im Mittelpunkt, um die Expansion der öffentlichen Stromversorgung in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Großbritannien von den Anfängen bis zum Ende der 1920er-Jahre miteinander zu vergleichen. Hughes zeichnet das Bild eines fortschreitenden räumlichen Integrationsprozesses, der in Metropolen wie New York, Berlin und London seinen Ausgangspunkt hatte, sich auf die Vororte der Städte ausweitete und schließlich in einem letzten Schritt auch Landstriche mit geringer Bevölkerungsdichte umfasste. Die Dynamik dieser Entwicklung war zwar aufgrund der landesspezifischen Verhältnisse unterschiedlich, doch letztlich führte sie in allen Fällen zu einer Konzentration durch Unternehmensfusionen oder Verstaatlichung, wie im britischen Fall. Das war die organisatorische Voraussetzung für den netztechnischen Zusammenschluss der Kraftwerksanlagen. Die entscheidende Position innerhalb dieses Netzes nehmen die sogenannten system builder ein, die das Stromsystem entwickelt, aufgebaut sowie dessen Wachstum und Erweiterung vorangebracht haben. Hughes’ Studie markierte Mitte der 1980er-Jahre einen Meilenstein technikhistorischer Forschung, weil darin die Technik nicht mehr singulär betrachtet, sondern ihr Systemcharakter hervorgehoben wurde. Die Entwicklung der Elektrizitätsversorgung zwischen 1880 und 1930 wird von Hughes als Genese einer Großtechnologie verstanden, bei der das power system als cultural artefact, als Ergebnis wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher, politischer und organisatorischer Handlungen, interpretiert wird.34 Hughes technikhistorischen Studien war damit eine neue Erkenntnis inhärent: Die Entwicklung des Stromversorgungssystems geschah nicht ausschließlich aus technischen Beweggründen, sondern vielmehr in Folge eines sozialen und gesellschaftlichen Wandels und beeinflusste diesen zugleich. Wenn Hughes der Entwicklung des Stromsystems der gesellschaftlichen Dimension eine technikprägende Kraft zuspricht, folgt dieses allerdings einer gewissen Eigenlogik, die durch immanente Gesetzmäßigkeiten vorgegeben zu sein scheint.35 32
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Siehe etwa die entsprechenden Bände der Propyläen-Technikgeschichte, Bd. 4: König, Wolfgang / Weber, Wolfhard, Netzwerke, Stahl und Strom, 1840 bis 1914, Berlin 1990; Bd. 5: Braun, Hans-Joachim / Kaiser, Walter, Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914, Berlin 1992; Braun, Hans-Joachim (Hg.), Energie in der Geschichte. Zur Aktualität der Technikgeschichte, 2 Bde., Düsseldorf 1984. Hughes, Thomas P., Networks of Power. Electrification in Western Society, 1880–1930, Baltimore u. a. 1983. Ebd., S. 6. Ebd., S. 79.
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Einleitung
In Hughes Evolutionsmodell ist kein Platz für alternative Entwicklungsmöglichkeiten: Das System der Stromversorgung, das sich bis Ende der 1930er-Jahre etablierte, bleibt in der Analyse des Autors die einzig denkbare Lösung. Durch diesen Ansatz werden die system builder als Sieger der Geschichte präsentiert, während alternative Lösungsmöglichkeiten mit berechtigten Chancen auf Realisierung entweder gar nicht oder nur als Hemmnisse zur Erreichung der optimalen und faktisch eingetretenen Entwicklung existieren.36 Eine weitere Öffnung der Technikgeschichte hat erst in den vergangenen 15 Jahren stattgefunden: Neue sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen und Methoden haben das Spektrum dieses Forschungsstranges erheblich erweitert.37 Viele dieser Studien sind durchaus verdienstvoll und haben einer traditionellen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wichtige Perspektiven aufgezeigt. Dies heißt aber noch lange nicht, dass man zum Beispiel das Hauptantriebsmoment der Elektrifizierung in der Schweiz – ganz der linguistischen Wende folgend – auf „das Sprechen“ darüber zurückführen kann.38 Dass dies auch anders zu bewerkstelligen ist, hat der Sozialhistoriker David Nye für die Vereinigten Staaten unter Beweis gestellt.39 Nye macht in seiner Analyse deutlich, wie Elektrizität in das alltägliche Leben der Amerikaner Einzug hielt und wie sie dieses grundlegend veränderte. Das kulturhistorische Werk offenbart, dass Verbundnetze nur zu einem geringeren Teil aus den strategischen Überlegungen von Ingenieuren und Managern hervorgegangen sind. Vielmehr kann der Autor belegen, dass dieser Prozess relativ ungeplant verlief sowie von Versuchen und Irrwegen konkurrierender Unternehmungen gekennzeichnet war. In der Technikgeschichte wurde das Thema „Energiekonsum“ zuletzt im Rahmen des Projektes „Objekte des Energiekonsums“ am Forschungsinstitut des Deutschen Museums in München erforscht. Das Projekt zielte darauf ab, die Rolle des Energiekonsums im Privathaushalt seit dem Ersten Weltkrieg zu untersuchen. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie der Privathaushalt neben der Industrie zum bedeutendsten Energieverbraucher werden konnte und welche Diskurse und Aushandlungsprozesse im Laufe des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen haben.40
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Hellige, Hans Dieter, Von der programmatischen zur empirischen Technikgeneseforschung: Ein technikhistorisches Analyseinstrumentarium für die prospektive Technikbewertung, in: Technikgeschichte 60 (1993), S. 186–223, hier S. 200. 37 Siehe u. a. Binder, Beate, Elektrifizierung als Vision. Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag, Tübingen 1999; Heßler, Martina, „Mrs. Modern Woman“. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushaltstechnisierung, Frankfurt/M. u. a. 2001; Osietzki, Maria, Die allegorischen Geschlechter der Energie, in: Spilker, Rolf (Hg.), Unbedingt modern sein. Elektrizität und Zeitgeist um 1900, Bramsche 2001, S. 12–25. 38 Siehe Gugerli, David, Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz 1880–1914, Zürich 1996. 39 Siehe Nye, David E., Electrifying America. Social Meanings of a New Technology 1880–1940, Cambridge 1997. Für Kalifornien: Williams, James C., Energy and the Making of Modern California, Ohio 1997. 40 Siehe Gerber, Sophie, Küche, Kühlschrank, Kilowatt. Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945–1990, Bielefeld 2015; Lorkowski, Nina, Weiße Ware, Körper, Schmutz. Das Badezimmer und Energienutzung im Privathaushalt, 1870–1960, Diss. Univ. München 2015.
Forschungsstand
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Über die Technikgeschichte hinaus erfreut sich die Infrastrukturgeschichte immer größerer Beliebtheit41 und hat seit der Jahrtausendwende innovative Perspektiven eröffnet.42 Mögen diese für andere Themenbereiche, und vor allem für die Kolonial- und Dekolonisierungsgeschichte oder als politische Kulturgeschichte, wichtige Ergebnisse und Methoden zutage gefördert haben, so ist dies für die Energiegeschichte nur mit Einschränkungen der Fall.43 Die Infrastrukturgeschichtsforschung eröffnet insbesondere dann interessante Erkenntnisse, wenn sie die Geschichte der „Daseinsvorsorge“44 und deren Kontinuitäten sowie deren Bedeutungswandel seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt.45 Bisherige Untersuchungen sind das Ergebnis großzügig geförderter europäischer Forschungsprojekte,46 denen es in der Mehrzahl darum geht, Übertragungseinrichtungen für elektrische Energie als Vorstufe einer europäischen Zusammenarbeit zu präsentieren, um zu zeigen, dass diese zu einer erfolgreichen europäischen Integration geführt haben.47 Oder anders41 42 43
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Siehe Engels, Jens Ivo, Machtfragen. Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Infrastrukturgeschichte, in: NPL 55 (2010) 1, S. 51–70. Siehe Laak, Dirk van, Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001) 3, S. 367–393; ders., Der Begriff „Infrastruktur“ und was er vor seiner Erfindung besagte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 280–299. Laak, Dirk van, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn u. a. 2004; ders., Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999; ders., Garanten der Beständigkeit. Infrastrukturen als Integrationsmedien des Raumes und der Zeit, in: Doering-Manteuffel, Anselm (Hg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 167–180. Dieser Begriff ist bisher vor allem rechtswissenschaftlich konzeptualisiert und eher in seiner Bedeutung erforscht worden. Zurück geht er auf den Staats- und Verfassungsrechtler Ernst Forsthoff, der diese Debatte von den späten 1920er-Jahren bis in die 1970er-Jahre hinein geprägt hat. Siehe u. a. Kersten, Jens, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff, in: Der Staat 44 (2005), S. 543–569; Meinel, Florian, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin 2011; Neu, Claudia (Hg.), Daseinsvorsorge. Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung, Wiesbaden 2009. Unter Begriffen wie public utilities, services publiques und anderen wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts im westlichen Europa und den USA die Frage diskutiert, wer für die Errichtung infrastruktureller Einrichtungen zuständig sei, wer diese betreibt und finanziert. Ferner wurde darüber debattiert, ob sich Infrastrukturen als staatliche Steuerungsinstrumente eignen bzw. als Einrichtungen des Vorsorge- und Wohlfahrtsstaates dienen können. Siehe u. a. Zwicky, Friedrich J., Public Utilities, Jena 1937. Auf die Spitze getrieben wurde die Diskussion erstmals mit dem Vorhaben zur Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft im Winter 1918/19, als einige Sozialisten Teile der Wirtschaft vergesellschaften wollten. Siehe u. a. Kehrberg, Jan O. C., Die Entwicklung des Elektrizitätsrechts in Deutschland. Der Weg zum Energiewirtschaftsgesetz von 1935, Frankfurt/M. 1997, S. 77–128. Siehe Laak, Dirk van, Das „vergrabene Kapital“ und seine Wiederentdeckung. Das neue Interesse an der Infrastruktur, Interdisziplinäre Arbeitsgruppen IAG Globaler Wandel – Regionale Entwicklung, Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2010. Siehe u. a. Kaijser, Arne / Vleuten, Erik van der (Hg.), Networking Europe: Transnational Infrastructures and the Shaping of Europe, 1850–2000, Sagamore Beach/Mass. 2006; Lagendijk, Vincent, Electrifying Europe. The Power of Europe in the Construction of Electricity Networks, Amsterdam 2008. Siehe Misa, Thomas J. / Schot, Johan, ,Inventing Europe‘: Technology and the Hidden Integration of Europe, in: History and Technology 21 (2005) 1, S. 1–21; Kleinschmidt, Christian, In-
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herum: Ein starkes Europa habe die Weiterentwicklung des europäischen Verbundsystems wesentlich befördert. Diese These ist nicht grundsätzlich zu bestreiten, bietet aber eine zu einfache Interpretation des komplizierten historischen Prozesses an, der sich so nicht vollzogen hat. Auch handelt es sich nicht ausschließlich um eine Erfolgsgeschichte der Elektrifizierung. Wie bereits dargelegt wurde, waren die system builder meist aufgrund politischer Hindernisse nicht immer erfolgreich bei der Durchsetzung ihrer Pläne. Seit einiger Zeit wird dieser Infrastructural Europeanism in verschiedene Phasen unterteilt, was eine konzeptionelle Differenzierung infrastruktureller Leitgedanken – wie beispielsweise ihrer Umsetzung – ermöglicht.48 Flankiert durch die aktuelle Diskussion über die Notwendigkeit eines europäischen Verbundnetzes nehmen diese Studien Bezug auf Pläne für ein europäisches Stromnetz aus den 1920er-Jahren. Zwar verweisen diese Pläne und die Diskurse darüber durchaus auf wichtige Entwicklungstendenzen über Energiesysteme und deren europäische Vernetzung, aber ihre Umsetzung war zu dieser Zeit keineswegs in Sicht. Die Untersuchungen müssten gewissermaßen den Transfer leisten und die Verbindung herstellen von den Plänen der 1920er-Jahre bis zu den Anfängen der europäischen Integration, was sie aber nur in Ansätzen tun.49 Angesichts politischer und wirtschaftlicher Nationalisierungs- sowie Autarkietendenzen nach dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit des Nationalsozialismus hatte ein europäisches Verbundnetz trotz intensiver politischer und technischer Diskussion seiner Befürworter nur geringe Realisierungschancen. Von einem europäischen Verbundsystem kann man daher frühestens seit den 1950er-Jahren sprechen. In Zeiten abgeschlossener Versorgungsgebiete war Stromwirtschaft jedoch eine nationalstaatliche Angelegenheit.50 Die Verteilungsstellen für den europäischen Austausch von Elektrizität waren bis in die
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frastructure, Networks, (Large) Technical Systems: ,The Hidden Integration‘ of Europe, in: Contemporary European History 19 (2010) 3, S. 275–284. Siehe Schot, Johan / Lagendijk, Vincent, Technocratic Internationalism in the Interwar Years: Building Europe on Motorways and Electricity Networks, in: Journal of Modern European History 6 (2008) 2, S. 196–217; Schipper, Frank / Schot, Johan, Infrastructural Europeanism, or the Project of Building Europe on Infrastructures: an Introduction, in: History and Technology 27 (2011) 3, S. 245–264, hier S. 254 ff. In der Geschichte der Energieversorgung existieren massenhaft Pläne und Vorstellungen, die für allerlei Zusammenhänge nutzbar gemacht werden können. So z. B. hatte schon August Bebel in seiner Schrift Die Frau im Sozialismus von der Nutzbarmachung der Sonnenenergie aus Nordafrika gesprochen. Die Stärke dieser Unternehmungen liegt in der Benennung transnationaler Institutionen, wie der World Power Conference, und engagierten Ingenieuren, wie Georges Viel, Oskar Oliven und Dannie Heineman, um zu verdeutlichen, dass Pläne für ein europäisches Verbundnetz existierten. Erst durch den Verweis auf die Bedingungen ihrer Realisierung und Verhinderung durch die Politik und den technokratischen Charakter der häufig zu groß dimensionierten Vorhaben entwickeln diese Forschungen größere Erklärungskraft. Ein Beispiel für Infrastruktur-Großprojekte der Energieversorgung liefert das sogenannte Desertec-Projekt. Dabei wird versucht, mehrheitlich solarthermisch erzeugten Strom aus Marokko, Tunesien und Algerien nach Europa zu transportieren. Das im Jahr 2009 initiierte Projekt scheint nach verheißungsvollem Beginn jedoch aktuell einiges von seinem euphorischen Potenzial eingebüßt zu haben. Jedenfalls ziehen sich derzeit namhafte Investoren aus dem Projekt zurück. So waren z. B. die deutschen EVU zu Beginn der 1980er-Jahre alles andere als begeistert, als im Zuge der Pläne für eine Energierechtsreform die Versorgungsgebiete infrage gestellt werden
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1980er-Jahre vergleichsweise schwach ausgebaut.51 Dies wird sich sicher in Zukunft massiv ändern müssen, wenn die Pläne vieler europäischer Regierungen zur stärkeren europäischen Vernetzung in Sachen Energieversorgung Realität werden sollen. Ausnahmen von dem bisher skizzierten Forschungsstand bilden in mancher Hinsicht die Habilitationsschriften von Bernhard Stier und Joachim Radkau.52 Beide Studien verknüpfen verschiedene Forschungsbereiche und ruhen auf reichhaltiger Quellenbasis. Ihr Fokus ist vornehmlich auf die politikgeschichtliche Dimension der Energiegeschichte gerichtet. In der Entstehungszeit der Studie Radkaus galt diese als richtungsweisend, weil sie Technik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte einbezog.53 Der Bielefelder Historiker analysiert die Tiefendimension der Atomgeschichte zwischen Interessenverbänden aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Darüber hinaus ist seine Schrift ein Plädoyer für Versachlichung und Nüchternheit in der Kernenergiedebatte, eine Geisteshaltung, die sowohl Befürwortern als auch Gegnern der Technologie seinerzeit mitunter abhandengekommen war. Und das gilt bis heute. Radkau legt – fast nebenbei – einige Mythen der Energie- und Atomgeschichte offen, so zum Beispiel das Argument der Energielücke, auf die im ersten Kapitel der vorliegenden Untersuchung über die Energiebedarfsprognosen noch näher eingegangen wird. Auch die angeblich führende Rolle der Energieversorger beim Einstieg in die Kernenergie wird hinterfragt und als weniger bedeutend als bisher angenommen eingestuft. Dies gilt ebenfalls für die gleichrangige Verwendung von Kohle- und Kernenergie, die lange Zeit unter der Chiffre „Konsens zwischen Kohle und Kernenergie“ subsumiert wurde und die energiepolitische Szenerie in der Bundesrepublik mitbestimmte. Dieser Konsens sei ,hinter den Kulissen‘ alles andere als stabil gewesen, aber nach außen von den beteiligten Akteuren jedoch immer wieder als Musterbeispiel der Einigkeit präsentiert worden. Radkaus Studie hält vor allem dazu an, Entwicklungen in Energieund Atomwirtschaft ebenso wie in der Energiepolitik nicht auf Grundlage von Zwangsläufigkeiten oder Sachzwängen zu analysieren und zu interpretieren. Vielmehr soll das Augenmerk auf „verdrängte Alternativen“ gelegt werden, wie es tref-
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sollten. Dies hätte dazu führen können, dass sich die deutsche stromintensive Industrie vom französischen Staatsunternehmen EdF hätte beliefern lassen müssen. Boll, Georg, Geschichte des Verbundbetriebes. Entstehung und Entwicklung des Verbundbetriebes in der deutschen Elektrizitätswirtschaft bis zum europäischen Verbund. Ein Rückblick zum 20-jährigen Bestehen der Deutschen Verbundgesellschaft e. V. – DVG Heidelberg, Frankfurt/M. 1969, S. 144 ff.; Herzig, Thomas, Elektroindustrie und Energieverbund zwischen Deutschland und Frankreich von der Jahrhundertwende bis in die 50er-Jahre, in: Cohen, Yves / Manfrass, Klaus (Hg.), Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 289–301, S. 300 f. Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983; Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999. Im Jahr 2013 ist die Habilitationsschrift von Joachim Radkau mit verändertem Titel und Inhalt sowie der Koautorenschaft von Lothar Hahn, dem ehemaligen Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission, erneut erschienen. Siehe Radkau, Joachim / Hahn, Lothar, Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013.
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fend im Untertitel des Bandes heißt. Nur auf diese Weise könne der „Ursprung der nuklearen Kontroverse“54 in Ansätzen freigelegt werden. Neben der von Joachim Radkau enthält auch die Schrift von Bernhard Stier instruktive Hinweise für die nachstehende Analyse. Stier untersucht die politische Steuerung der deutschen Stromwirtschaft von 1890 bis 1950. Im Kern geht es ihm darum, wie staatliche Elektrizitätspolitik aus „Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen technischer Innovation, ökonomischen Interessen, politischen Weichenstellungen und sozialen Auswirkungen“55 zustande gekommen ist. Das System der Elektrizitätsversorgung ist für Stier dabei das Produkt sowohl von Entscheidungsprozessen, politischen Diskursen und der Durchsetzungskraft verschiedener Akteure als auch immanenter wirtschaftlich-technischer Sachzwänge, die sich aufgrund früherer Entscheidungen ergeben. Dabei konzentriert sich Stier vor allem auf die parlamentarische und öffentliche Elektrizitätsdebatte und versteht Elektrizitätspolitik damit als technisch-soziales Gesamtsystem. Im Unterschied zu der Abhandlung des Koblenzer Historikers handelt es sich bei der nachstehenden Analyse nicht um die Untersuchung einzelner Phasen der Herausbildung eines Elektrizitätssystems. Vielmehr soll ein bereits etabliertes System erforscht werden. Dieses dürfte die Handlungsspielräume der Akteure einerseits eingeengt, andererseits aber um neue oder wieder aktuell gewordene Felder erweitert haben. Dennoch folgen in einem vermeintlich gesättigten Elektrizitätssystem bei Weitem nicht alle Akteure einer systemimmanenten technisch-wirtschaftlichen Rationalität. Gerade seit den 1970er-Jahren stellt sich vermehrt die Frage, inwieweit historisch gewachsene und für die Volkswirtschaft bedeutsame Systeme, wie das der Stromwirtschaft, einem Wandel unterliegen und welcher Art dieser ist. Es gibt zahlreiche Bereiche, an denen die historisch gewachsene Kontinuität aufgebrochen oder zumindest infrage gestellt wurde. Schon in Stiers Studie wurde deutlich, dass selbst in den öffentlichen betriebswirtschaftlichen und steuerungspolitischen Diskursen der Jahrhundertwende allerlei Gestaltungsspielraum bestand. Dass dieser auch genutzt wurde, um unterschiedliche Elektrizitätspolitiken umzusetzen, zeigt sich anhand der Länder Baden, Württemberg und Preußen bis 1950. In diesem Zusammenhang beleuchtet Stier ebenfalls die Rolle des Staates bei der Erfüllung der Gemeinschaftsaufgabe „Energieversorgung“ und untersucht deren historische Entstehungsbedingungen. Die Frage, ob und wie der Staat regulierend in die Stromwirtschaft eingreift, wird nachstehend vor allem im zweiten und dritten Kapitel zu diskutieren sein. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Privatisierung der Stromwirtschaft seit Ende der 1960er-Jahre bilden die Eingriffe des Staates ein wichtiges Faktum.56 Das 54 55 56
Allerdings verzichtet Radkau an vielen Stellen auf die explizite Ausformulierung dieser Alternativen bzw. hätte diese durchaus präziser und schärfer formulieren können. Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 33. Die Privatisierungs- und Regulierungserfahrungen fallen im europäischen und internationalen Vergleich höchst unterschiedlich aus. Siehe dazu u. a. Millward, Robert, Private and Public Enterprise in Europe. Energy, Telecommunications and Transport, 1830–1990, Cambridge 2005; Newbery, David M., Privatization, Restructuring, and Regulation of Network Utilities, Cambridge u. a. 2000; Hirsh, Richard, Power Loss: the Origins of Deregulation and Restructuring in the American Electric Utility System, Cambridge 1999.
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Selbstverständnis der Energieversorger entsprach damals vorwiegend dem privatwirtschaftlicher Unternehmen, wenngleich die Struktur der Anteilseigner auf eine klare gemischtwirtschaftliche Struktur hindeutete. Aufgrund der Vielgestaltigkeit der Präsenz des „Staates“ in der Elektrizitätswirtschaft in Form von Kommunen als Anteilseigner, Regulierungsbehörde, Preisaufsicht, Betreiber und Gesetzgeber muss die Frage, ob dieser – in der Begrifflichkeit von Jürgen Kocka – den Kapitalismus hierbei nur organisierte oder staatsmonopolistisch betrieb, bei der Analyse immer mitgedacht werden.57 Stiers Ausführungen zu den elektrizitätspolitischen Regulierungskonflikten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bilden eine kenntnisreiche Ausgangsbasis für die Betrachtung ähnlicher Problemlagen in den 1970er- und 1980er-Jahren. Eine darüber hinausgehende Auswertung des politik- und wirtschaftswissenschaftlichen sowie juristischen Forschungsstands ist für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung hingegen kaum mehr relevant. Diese Disziplinen benutzen energiehistorische Fragen meist nur als Rückblenden für allerlei Erklärungsansätze und verzichten häufig auf eine tiefergehende historische Analyse. Auch fehlt es ihnen meist an der Reflexion über konkrete historische Bedingungen oder sie dienen lediglich als Bonmot für fachspezifische Forschungsfragen. Dennoch sind Teile dieser Studien – insofern diese den Untersuchungszeitraum betreffen – mitunter hilfreiche Quellen für einen Überblick über den energiepolitischen Diskurs seit den 1970er-Jahren.58 Auch die Umweltgeschichte hat sich am Rande mit der Stromwirtschaft, eher aber mit grundsätzlichen Energiefragen beschäftigt. Rolf Peter Sieferle, der bereits 1982 mit dem Buch Der unterirdische Wald59 wegweisende Pfade einschlug, hat einen umfassenden Aufsatz mit dem Titel Energie60 verfasst. Darin konzipiert Sieferle Energie als eine fundamental wichtige Größe in einem vom Menschen genutzten Ökosystem. Obwohl der Umwelthistoriker vornehmlich an Energieflüssen, Stoffkreisläufen und deren Folgen für das ökologische System interessiert ist, diskutiert er die gesellschaftlichen Folgen der Energieumwandlung in Agrar- und In57 58
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Kocka, Jürgen, Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen, in: Winkler, Heinrich-August (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 19–35. So z. B. Gröner, Helmut, Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Baden-Baden 1975; Meyer-Renschhausen, Energiepolitik in der BRD 1950 bis heute, Köln 1977; ders., Das Energieprogramm der Bundesregierung. Ursachen und Probleme staatlicher Planung im Energiesektor der BRD, Frankfurt/M. 1981; Meyer-Abich, Klaus Michael / Schefold, Bertram (Hg.), Wie möchten wir in Zukunft leben? Der harte und der sanfte Weg, München 1981; Meyer-Abich, Klaus Michael (Hg.), Energieeinsparung als neue Energiequelle. Wirtschaftspolitische Möglichkeiten und alternative Technologien, München 1979; Steger, Ulrich / MeyerAbich, Klaus Michael, Handlungsspielräume der Energiepolitik, Mittel- und längerfristige Perspektiven bedarfsorientierter Energiesysteme in der Bundesrepublik, Villingen 1980; Hennicke, Peter / Johnson, Jeffrey P. / Kohler, Stephan / Seifried, Dieter, Die Energiewende ist möglich. Für eine neue Energiepolitik der Kommunen, Frankfurt/M. 1985. Sieferle, Rolf Peter, Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution, München 1982. Sieferle, Rolf Peter, Energie, in: Brüggemeier, Franz-Josef / Rommelspacher, Thomas (Hg.), Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, München 1989, S. 20–41.
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dustriegesellschaften. Beiden Gesellschaftsformationen attestiert Sieferle unterschiedliche Krisentendenzen für ihr Energiesystem. Vor allem dem fossilen System bescheinigt er nur Übergangscharakter. Dieser transitorische Zustand betrifft – so die Kernbotschaft des Autors – nahezu alle Energiesysteme, die eine hohe Flächenabhängigkeit aufweisen.61 Aus dieser Feststellung resultiert neben den gesellschaftlichen und politischen Dimensionen der Nutzungs-, Erzeugungs- und Verbreitungsmodi von Energie eine zentrale Aufgabe bei der Transformation von Energiesystemen. Auch Zäsuren sind von der Forschung zur Umweltgeschichte immer wieder diskutiert worden. Insbesondere die Frage, inwieweit die 1950er-Jahre – gemeint ist jedoch die Zeit von 1950 bis 1966 – als Epochenschwelle von der Industriegesellschaft zur Konsumgesellschaft taugt, ist intensiv debattiert worden.62 Ähnliches, wenn auch mit einer anderen These, wurde später auch für die 1970er-Jahre erörtert.63 Darüber hinaus existieren für den untersuchten Zeitraum einige Studien und Sammelbände zur Energiepolitik, vorrangig aus dem Bereich der Umwelt- und Technikgeschichte,64 die sich mit relevanten Teilaspekten auseinandersetzen. Es liegt jedoch keine Monographie vor, die die vielfältigen Phänomene der Stromwirtschaft in den Blick nimmt.65 Auch rechtshistorische Werke halten wichtiges Referenzwissen für die vorliegende Untersuchung bereit und verweisen auf die Kontinuität des EnWG aus dem Jahr 1935 über politische Systemwechsel hinweg.66 In 61
Siehe Sieferle, Rolf Peter u. a., Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung, Köln u. a. 2006. 62 Siehe u. a. Pfister, Christian, Das „1950er Syndrom“. Die umweltgeschichtliche Epochenschwelle zwischen Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft, in: ders. (Hg.), Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1995, S. 51–95; Pfister, Christian, Energiepreis und Umweltbelastung. Zum Stand der Diskussion um das „1950er Syndrom“, in: Siemann, Wolfram (Hg.), Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München 2003, S. 61–86. 63 Siehe Kupper, Patrick, Die „1970er Diagnose“: Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325–348. 64 Siehe die äußerst instruktiven Literaturberichte von Joachim Radkau und Frank Uekötter: Radkau, Joachim, Literaturbericht Technik- und Umweltgeschichte, in: GWU 48 (1997), S. 479– 497, 50 (1999), S. 250–258, 356–384; Uekötter, Frank, Literaturbericht Technik- und Umweltgeschichte, in: GWU 61 (2010), S. 518–530. 65 Siehe u. a. Hünemörder, Kai F., Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004; Hohensee, Jens, Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996; ders. / Salewski, Michael (Hg.), Energie-Politik-Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993; Wessel, Horst A., Das elektrische Jahrhundert. Entwicklung und Wirkungen der Elektrizität im 20. Jahrhundert, Essen 2002; Salewski, Michael (Hg.), Das nukleare Jahrhundert. Eine Zwischenbilanz, Stuttgart 1998. 66 Siehe Kehrberg, Jan O. C., Die Entwicklung des Elektrizitätsrechts in Deutschland. Der Weg zum Energiewirtschaftsgesetz von 1935, Frankfurt/M. 1997; Löwer, Wolfgang, Rechtshistorische Aspekte der deutschen Elektrizitätsversorgung von 1880 bis 1990, in: Fischer, Wolfram (Hg.), Die Geschichte der Stromversorgung, Frankfurt/M. 1992, S. 169–215; Hellige, Hans Dieter, Entstehungsbedingungen und energietechnische Langzeitwirkungen des Energiewirtschaftsgesetzes von 1935, in: Technikgeschichte 53 (1986), S. 123–155.
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der Forschung zur Wirtschaftsgeschichte etwa hat es eine intensive Debatte darüber gegeben, was das spezifisch Nationalsozialistische an diesem Gesetz ist.67 Eine einseitige historische Interpretation des Gesetzes stellte gerade in den 1970er-Jahren eine geeignete Blaupause dar, um die Energiewirtschaft und ihre Verbindungen zur Politik als „Megawatt-Clan“, „Stromstaat“ oder „Stromdiktatur“ zu charakterisieren und in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken.68 Das Buch Der Atom-Staat ist mittlerweile zum Klassiker der Umwelt- und Friedensbewegung geworden. Darin brachte der Zukunftsforscher Robert Jungk eine gesellschaftlich verankerte Skepsis gegenüber der Kerntechnik und ihren möglichen Folgen zum Ausdruck.69 Eine ähnliche Richtung, wenngleich weniger polemisch, schlägt Wolfgang Zängl ein, der die Politik der Elektrifizierung seit 1866 unter den negativen Generalverdacht der Machenschaften zwischen Politik und Energiewirtschaft stellt.70 Die Energieversorgungsunternehmen haben an ihrer Historisierung durch eigene Publikationen und Auftragsstudien mitgewirkt. Vor allem die Studien zu den Unternehmensjubiläen erweisen sich als überaus nützliche Quellen für die Rekonstruktion des historischen Selbstbildes der Unternehmen.71 Zudem enthalten einige dieser Veröffentlichungen wichtige, weil wissenschaftlich fundierte sowie kritische Aufsätze von Historikern. Manche hatten es sich sogar zur Aufgabe gemacht, der jeweiligen Jubiläumsschrift ein entsprechendes Werk mit kritischen Beiträgen entgegenzusetzen.72 Dass sich die Energiegeschichte dabei seit gut fünfzehn Jahren in einem Zustand zwischen „kulturhistorischer Erweiterung und kommunikationspolitischer Instrumentalisierung“73 befindet, ist bereits festgestellt worden. Im Bereich der Energie- und Elektrizitätsgeschichte liegen viele Quellen in ganz unterschiedlichen 67
Ambrosius, Gerold, Was war eigentlich „nationalsozialistisch“ an den Regulierungsansätzen der dreißiger Jahre?, in: Abelshauser, Werner u. a. (Hg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen, Essen 2003, S. 41–60. 68 Siehe Karweina, Günter, Der Megawatt-Clan. Geschichte mit der Energie von morgen, Hamburg 1981; ders., Der Stromstaat, Hamburg 1984; Eckardt, Nikolaus / Meinerzhagen, Margitta / Jochimsen, Ulrich, Die Stromdiktatur. Von Hitler ermächtigt – bis heute ungebrochen, Hamburg und Zürich 1985. 69 Jungk, Robert, Der Atom-Staat: vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1977. 70 Zängl, Wolfgang, Deutschlands Strom. Die Politik der Elektrifizierung von 1866 bis heute, Frankfurt/M. u. a. 1989. 71 Siehe u. a. Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998; Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen (VEW) (Hg.), Mehr als Energie. Die Unternehmensgeschichte der VEW 1925–2000, Dortmund 2000. Als wenig wertvoll und vor allem apologetisch gehalten, können die Studien von Manfred Pohl gelten. Siehe u. a. Pohl, Manfred / Schneider, Andrea H., VIAG Aktiengesellschaft 1923–1998. Vom Staatsunternehmen zum internationalen Konzern, München und Zürich 1998; Pohl, Manfred, Das Bayernwerk 1921 bis 1996, München und Zürich 1996; ders., Unternehmen Energie. Aus der Geschichte der VEBA, Düsseldorf und Wien 1979. 72 Siehe Maier, Helmut (Hg.), Elektrizitätswirtschaft zwischen Umwelt, Technik und Politik. Aspekte aus 100 Jahren RWE-Geschichte, 1898–1998, Freiberg 1999. 73 Siehe Stier, Bernhard, Die neue Elektrizitätsgeschichte zwischen kulturhistorischer Erweiterung und kommunikationspolitischer Instrumentalisierung. Anmerkungen zum Forschungsstand am Ende des „langen 20. Jahrhunderts der Elektrizität“, in: VSWG 87 (2000) 4, S. 477– 488.
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Archiven zum Teil brach. Daraus folgt, dass zunächst Grundlagenarbeit erforderlich wäre, bevor an transnationale Vergleiche oder andere Ansätze zu denken wäre. In entsprechenden Bemühungen wird zunächst bereits bekanntes Wissen handbuchartig zusammengefasst.74 Eine eigenständig konzeptualisierte Energie- und Elektrizitätsgeschichte steht also erst am Anfang, was vorerst national fokussierte Analysen, wie die vorliegende, unabdingbar macht. Dies bedeutet nicht, dass im Folgenden international wirksame Phänomene ausgeblendet werden sollen. Deren genauere Untersuchung bleibt jedoch künftigen Vergleichsdarstellungen überlassen. Allerdings kann auch die vorliegende Forschungsarbeit keine umfassende Geschichte des Elektrizitätssystems unter Berücksichtigung aller technischen und sozialen, politischen wie kulturellen Aspekte und ihrer gegenseitigen Verknüpfungen leisten. Eine solche Studie bleibt deshalb vorerst ein noch immer nicht eingelöstes Vorhaben.75
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Siehe u. a. Hausman, William J. / Hertner, Peter / Wilkins, Mira, Global Electrification. Multinational Enterprise and International Finance in the History of Light and Power, 1878–2007, Cambridge u. a. 2008. Ausnahmen hierfür bilden u. a. Frost, Robert L., Alternating Currents. Nationalized Power in France, 1946–1970, Ithaca/N. Y. u. a. 1991; Hannah, Leslie, Electricity Before Nationalisation. A Study of the Development of the Electricity Supply Industry in Britain to 1948, London 1979; Hecht, Gabrielle, The Radiance of France: Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge 1998. Für den Bereich der Energiepolitik sieht es da schon etwas besser aus. Siehe u. a. Kitschelt, Herbert, Politik und Energie. Energie-Technologiepolitiken in den USA, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Schweden, Frankfurt/M. 1983; Chick, Martin, Electricity and Energy Policy in Britain, France and the United States since 1945, Cheltenham u. a. 2007; Timothy Mitchell, Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, London [u. a.] 2011; und für die Wirtschaftsgeschichte des Öls sowie der Ölunternehmen: Yergin, Daniel, Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/M. 1991; Karlsch, Rainer / Stokes, Raymond G., „Faktor Öl“. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974, München 2003; Beltran, Alain (Hg.), A Comparative History of National Oil Companies, Brüssel u. a. 2010. Die Geschichte anderer Primärenergieträger und Energietechnologien ist von Anfang an eher hinsichtlich ihrer internationalen Bezüge oder im Vergleich erforscht worden. Siehe u. a. Heymann, Matthias, Die Geschichte der Windenergienutzung 1890–1990, Frankfurt/M. 1995; ders., Forscher, Pioniere und Visionäre. Wasserstoff als Energieträger, München u. a. 2009; Mener, Gerhard, Zwischen Labor und Markt. Geschichte der Sonnenenergienutzung in Deutschland und den USA 1860–1986, Baldham 2001; Neukirch, Mario, Die internationale Pionierphase der Windenergienutzung, Diss. Univ. Göttingen 2009. Siehe auch Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 33.
1 ENERGIEBEDARF ALS ZENTRALE ORIENTIERUNGSGRUNDLAGE STROMWIRTSCHAFTLICHEN HANDELNS 1.1 „KNICK IN DER KURVE“:1 ENERGIEBEDARFSPROGNOSEN IN STROMWIRTSCHAFT UND POLITIK Von Beginn an war die Stromwirtschaft von ihrer zentralen gesellschaftlichen Rolle zur sicheren und preiswerten Bereitstellung von Energie überzeugt. Für weite Teile der Öffentlichkeit und in der Politik war hingegen Energieversorgung immer nur dann ein Thema, wenn diese, wie in den Kohlekrisen der 1950er-Jahre, knapp zu werden drohte. Erst durch die Politisierung und Problematisierung der Energiefrage in den 1970er-Jahren erfuhr die Diskussion eine größere wissenschaftliche und öffentliche Aufmerksamkeit. In diesem Prozess gerieten auch bisher unbeachtete Aspekte der Energieversorgung in den Blick. Durch die materiellen Gegebenheiten des Energiesystems weist die Infrastruktur elektrischer Versorgung eine erhebliche Trägheit auf. Damit verbunden ist die fehlende Möglichkeit eines kurzfristigen Umsteuerns beim Kraftwerkspark bzw. dem daraus resultierenden Energiemix. Auf diese Weise kommt der Vorausschau des künftigen Energiebedarfs eine wichtige Rolle zu. Nachstehend soll daher untersucht werden, ob sich für die in puncto Energiebedarfsprognosen an Kontinuität gewöhnte Stromwirtschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren etwas grundlegend veränderte. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses: Hat das Denken und Handeln der Energieversorger an der Wende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren wesentliche Veränderungen erfahren? Welche Auswirkungen zogen modifizierte Energiebedarfsprognosen und das faktische Sinken des Energiebedarfs nach sich? Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang die interne Kommunikation der Unternehmen, die öffentliche Vermittlung der Energiebedarfsprognosen durch die Branche sowie die jeweilige Unternehmensstrategie? Energiebedarfsprognosen werden von Energieversorgungsunternehmen mit dem Ziel angefertigt, verlässliche Aussagen über den künftigen Energiebedarf zu erhalten. An diesen Prognosen wird die Planung für den unternehmenseigenen Kraftwerkspark ausgerichtet. Dadurch nehmen solche Prognosen eine zentrale Stellung in der Unternehmenspolitik ein. Unabhängig von den Unternehmen erstellt auch das Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) Energiebedarfsprognosen in Bezug auf den Gesamtenergiebedarf der Volkswirtschaft. Für die Erstellung dieser Prognosen ist das BMWi allerdings auf Zahlen aus der Stromwirtschaft angewiesen. Für die 1970er- und 1980er-Jahre lassen sich ca. 25 seriöse Energiebedarfsprognosen finden. Diese arbeiten mit höchst unterschiedlichen Modellen und Metho1
So der gleichnamige Titel eines Spiegel-Artikels aus dem Jahr 1977, in dem der Umgang der Stromwirtschaft mit ihren eigenen Prognosen kritisiert wird. Im Unterkapitel 1.2 über Haushaltsstrom wird darauf noch näher eingegangen. Siehe Knick in der Kurve, in: Der Spiegel 15 (1977).
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1 Energiebedarf als zentrale Orientierungsgrundlage stromwirtschaftlichen Handelns
den. Neben Stromwirtschaft und BMWi erstellen auch Institute, Verbände oder größere Unternehmen bzw. internationale Organisationen, wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Internationale Energieagentur (IEA), Energiebedarfsprognosen.2 Oskar von Miller, Planer einer reichsweiten Elektrizitätsversorgung der ersten Stunde,3 führte im Jahr 1930 dazu aus: „Als Grundlage der einwandfreien Elektrizitätsversorgung ist eine möglichst genaue Ermittlung des künftigen Stromverbrauches nötig, weil eine Überschätzung des Verbrauches unnütz große Einrichtungen und damit unnötige Kapitalverluste zur Folge hätte, während bei einer Unterschätzung des Verbrauches Dispositionen entstehen könnten, die bei späterer Erweiterung die Beseitigung vorhandener Einrichtungen bedingen.“4 Damit ist exakt zusammengefasst, worin die Probleme für Energieversorger bezüglich der Planbarkeit von Energieerzeugungsanlagen5 und des zu bewältigenden Bedarfs an elektrischer Energie bestanden. Die Stromwirtschaft gehört zu den Wirtschaftsbranchen, die einen relativ hohen Grad historischer Kontinuität in Hinblick auf ihre wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen aufweisen.6 Daran hat sich auch im 20. Jahrhundert mit seinen großen politischen Zäsuren nichts geändert.7 Die juristischen und ökonomischen Bedingungen in der Energiewirtschaft waren durch einen hohen Grad an Kontinuität, Beständigkeit und Verlässlichkeit gekennzeichnet, und das mindestens bis in die 1970er-Jahre hinein. Seit den 1920er-Jahren wurde die Planung des Energiebedarfs zusehends intensiviert und professionalisiert.8 Nach 1945 spielte dann die Vorausschätzung des Energiebedarfs eine herausragende Rolle beim Wiederauf-
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Siehe Kraus, Michael, Bundesdeutsche Energieprognosen der letzten 30 Jahre. Eine Fehlerursachenanalyse, in: Härter, Manfred (Hg.), Energieprognostik auf dem Prüfstand, Köln 1988, S. 89–117. Oskar von Miller entwickelte in einem von der Reichsregierung in Auftrag gegebenen Gutachten den Gedanken zu einer einheitlichen Elektrizitätsversorgung des Deutschen Reiches. Siehe dazu Füßl, Wilhelm, Oskar von Miller 1855–1934. Eine Biographie, München 2005, S. 198. Miller, Oskar von, Gutachten über die Elektrizitätsversorgung, Gutachten über die Reichselektrizitätsversorgung, Berlin 1930, S. 2. Stromwirtschaftliche Planung ließe sich ebenso anhand von Übertragungseinrichtungen für elektrische Energie und des Ausbaus des gesamten Netzes untersuchen. Dies bezieht sich hauptsächlich auf den sogenannten Elektrofrieden aus dem Jahr 1928 und das EnWG von 1935. Siehe Stier, Bernhard, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 458; ders., Zwischen kodifikatorischer Innovation und materieller Kontinuität. Das Energiewirtschaftsgesetz von 1935 und die Lenkung der Elektrizitätswirtschaft im Nationalsozialismus, in: Bähr, Johannes / Banken, Ralf (Hg.), Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus. Studien zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts im Interventionsstaat des „Dritten Reichs“, Frankfurt/M. 2006, S. 281–305. Siehe u. a. Rathenau, Walther, Über ein Reichselektrizitätsmonopol (zwei Briefe an den Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Adolf Wermuth, vom 6. Januar 1911 und vom 27. April 1911), in: ders., Nachgelassene Schriften, Bd. 1, Berlin 1928, S. 165–177; Gilson, Norbert, Rationale Kalkulation oder prophetische Vision? Klingenbergs Pläne für die Elektrizitätsversorgung der 1920er-Jahre, in: Plitzner, Klaus (Hg.), Elektrizität in der Geistesgeschichte, Bassum 1998, S. 123–141; Miller, Oskar von, Gutachten über die Reichselektrizitätsversorgung, Berlin 1930.
1.1 „Knick in der Kurve“: Energiebedarfsprognosen in Stromwirtschaft und Politik
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bau der jungen Bundesrepublik.9 Seit den 1970er-Jahren erlebte das Interesse an der Ermittlung des Energiebedarfs auch außerhalb der energiewirtschaftlichen Fachwelt einen neuen Aufschwung. Selbst Kernenergiekritiker nutzten damals die ihrer Ansicht nach viel zu hohen Prognosen, um gegen einen weiteren Ausbau der Atomkraft zu Felde zu ziehen.10 Sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte suchten nach alternativen Energiekonzepten und erhielten von der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik argumentative Schützenhilfe.11 Selbst in der Energiewissenschaft wurde zu Beginn der 1980er-Jahre die Frage gestellt, ob Energiebedarfsprognosen besser als ihr Ruf seien.12 Und in Tageszeitungen wurde schon 1978 konstatiert, dass die Energiebedarfsprognose doch eine recht „schwierige Kunst“ sei.13 Die Planung in den Unternehmen unterscheidet sich entsprechend von vergleichbaren Vorgängen in der ‚Politik‘ – etwa bei dem für die meisten stromwirtschaftlichen Belange zuständigen Bundeswirtschaftsministerium. Die Energieversorger waren (und sind dies auch heute noch) schon allein aufgrund ihrer Organisationsform auf die Planung des Energiebedarfs angewiesen, weil davon der Zubau von Kraftwerken und Übertragungsnetzen, also die Grundlage ihres ökonomischen Handelns, abhing.14 Die Politik musste im Gegensatz dazu vorwiegend die gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Folgen des Energiebedarfs im Blick ha-
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Siehe Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), Der Kapitalbedarf der öffentlichen Elektrizitätsversorgungsunternehmen zur Sicherung der Wirtschaftsentwicklung im Bundesgebiet, Gutachten erstattet für das Bundesministerium für Wirtschaft, Oktober 1953; Borchardt, Knut / Buchheim, Christoph, Die Wirkung der Marshallplan-Hilfe in Schlüsselbranchen der Deutschen Wirtschaft, in: VSWG 35 (1987) 3, S. 330–347, hier S. 331 ff. Die Publikationen der Kernenergiekritiker sind in ihrer Anzahl kaum überschaubar. Auffallend viele – vor allem die weniger polemischen – beschäftigen sich mit Energiebedarfsprognosen. Siehe u. a. Traube, Klaus, Müssen wir umschalten? Von den politischen Grenzen der Technik, Hamburg 1978; Mez, Lutz (Hg.), Der Atomkonflikt, Atomindustrie, Atompolitik und AntiAtom-Bewegung im internationalen Vergleich, Berlin 1979. Siehe u. a. Meyer-Abich, Klaus Michael, Energiepolitik, in: ders. / Schefold, Bertram (Hg.), Wie möchten wir in Zukunft leben? Der harte und der sanfte Weg (= Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen, Bd. 1), München 1981, S. 72–104; Meyer-Abich, Klaus Michael / Schefold, Bertram (Hg.), Die Grenzen der Atomwirtschaft. Die Zukunft von Energie, Wirtschaft und Gesellschaft, München 1986. Siehe Haerter, Manfred, Energiebedarfsprognosen – besser als ihr Ruf?, in: Lücke, Fritz (Hg.), Ölkrise. 10 Jahre danach, Köln 1984, S. 252. Siehe Rudzinski, K., Die schwierige Kunst der Energiebedarfs-Prognose, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 1978. Darüber hinaus sind mit den Prognosen einige Folgeprobleme verknüpft. So rückte z. B. durch den prognostizierten Kernenergieausbau auch das Problem der Entsorgung und Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen seit Ende der 1970er-Jahre verstärkt in den Blickpunkt von Politik, Unternehmen und Öffentlichkeit. Trotz vertraglicher Vereinbarungen mit französischen und britischen Firmen gab es zu dieser Zeit einen eindeutigen Mangel an europäischer Wiederaufarbeitungskapazität. Siehe dazu Tiggemann, Anselm, Die „Achillesferse“ der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004, S. 775 f.
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1 Energiebedarf als zentrale Orientierungsgrundlage stromwirtschaftlichen Handelns
ben.15 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich politische Entscheidungsträger – und dies nicht erst seit den 1970er-Jahren – entweder auf Zahlen aus der Energiewirtschaft selbst oder den von ihr in Auftrag gegebenen Studien verließen.16 Energiepolitische Akteure aus dem BMWi bewerten die Rolle von Prognosen in der Retrospektive deshalb durchaus ambivalent: „Wir brauchten die Energieprognosen ja für die Energieprogramme, und die haben wir uns nicht gläubig genommen von der Wirtschaft. Durch das Einholen von Gutachten von mehreren Instituten [z. B. EWI Köln und Prognos], die wir dann bei uns im Hause [Bundeswirtschaftsministerium] ausgewertet haben, gab es ein Kaleidoskop von verschiedenen Meinungen, wenngleich z. B. die Shell-Prognosen den größten Einfluss auf unser Meinungsbild hatten. Dies war jedoch in anderen Abteilungen des Hauses wieder anders.“17 Die Aussage von Ulrich Engelmann, eine der wichtigsten für Energiepolitik zuständigen Personen im BMWi, verdeutlicht die zumindest partielle Abhängigkeit der Politik von externem Sachverstand. Das BMWi sah sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Energieversorger. Für ihre politischen Programme mussten die Beamten im Ministerium sich auf Szenarien verlassen, die weit in die Zukunft reichten, aber mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit verbunden waren. Vor allem hinsichtlich der Datengrundlage hegte man Zweifel an der Verlässlichkeit.18 Die Bundesregierung verstand „den Informationswert von Prognosen nicht als stichtagsbezogene Zahlenaussagen, sondern als Darlegung von Tendenzen und Größenordnungen einer zu erwartenden Entwicklung. Alle Prognosen müssen, wenn sie Grundlage einer realistischen Politik sein sollen, immer wieder an Änderungen der ökonomischen und politischen Daten angepaßt werden.“19 Im Unterschied zu den Unternehmen setzte die Politik zwar die Rahmenbedingungen für die Energiepolitik, musste jedoch nur in puncto Forschung konkret investieren. Da die Unternehmen auf Basis ihrer Planungen die Unternehmensstrategie festlegten, hatten sie ein höheres finanzielles Risiko zu tragen, falls diese fehlschlagen sollten. In den 1970er- und 1980er-Jahren waren indes das Monopol der Energieversorger und damit ihre Ertragssituation kaum gefährdet. Fehlplanungen beim Kraftwerkspark verursachten zwar immense Kosten, diese konnten jedoch über Strompreiserhöhun15 16
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Diese Unterscheidung erfüllt den Zweck, die höchst unterschiedlichen Planungsprozesse im politischen Raum nicht mit Energiebedarfsplanung gleichzusetzen. Die Energieversorger waren qua EnWG für die Versorgungssicherheit zuständig. Ganz konkret bedeutete dies z. B., dass sich die zuständige Abteilung im Bundeswirtschaftsministerium III, B2 für die Erstellung ihrer Statistiken auf Zahlen der VDEW verließ, die diese von ihren Mitgliedsunternehmen erhalten hatte. Für die Energiebedarfsprognosen holte man sich vor allem über externe Gutachten Sachverstand ins Ministerium. Siehe Transkript des Interviews mit Ulrich Engelmann am 5. Juni 2009. Siehe u. a. Die Energiepolitik der Bundesregierung vom 3. Oktober 1973, BT-Drucksache 7/1057, S. 4. Eine der Quellen für die Unsicherheit von Wirtschaftsprognosen im Allgemeinen und Energieprognosen im Besonderen sind die Probleme bei der Erhebung, Verfügbarkeit und Verwendung von Daten für deren Erstellung. Siehe Menges, Günther, Probleme der Erhebung, Verfügbarkeit und Verwendung von Daten für Wirtschaftsprognosen, in: Matthöfer, Hans (Hg.), Energiebedarf und Energiebedarfsforschung. Argumente in der Energiediskussion, Bd. 2, Villingen 1977, S. 367–382. Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung vom 19. Dezember 1977, BT-Drucksache 8/1357, S. 3.
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gen wieder ausgeglichen werden, sodass diese in der Gesamtbilanz der Unternehmen keine entscheidende Größe darstellten. Das wurde auch von der Bundespolitik so gesehen: Vorausschätzungen des Energiebedarfs „[dürfen] nicht als politische Planziele mißverstanden werden. Sie entlassen die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung, auf der Basis der von ihr für realistisch gehaltenen Annahmen, über die Investitionen zu entscheiden.“20 Trotzdem musste auch die Politik ihre einstigen Planzahlen im Laufe der Zeit erheblich nach unten korrigieren.21 Während man im März 1973 noch eine Energiebedarfssteigerung für das Jahr 1985 von 610 Mio. t SKE (Steinkohleeinheiten) voraussah, wurde der Anstieg gut vier Jahre später im Dezember 1977 nur noch mit 483 Mio. t SKE beziffert. Der 1973 für 1985 prognostizierte Anstieg sollte damit erst im Jahr 2000 (!) eintreten.22 Bemerkenswert an der „Zweiten Fortschreibung des Energieprogramms“ von 1977 ist nicht nur, dass eine Korrektur der Prognosen nach unten vorgenommen wurde. Vielmehr erfolgte eine deutlich veränderte Schwerpunktsetzung hin zum Energiesparen und zur Erforschung nicht nuklearer, vor allem fossiler Energietechnologien. Das Kernstück der Fortschreibung des Programms – die sinkenden Bedarfsprognosen – sorgte dafür, dass weniger Kernkraftwerkskapazität veranschlagt wurde. Während die Bundesregierung 1973 einen Zubau an Kernkraftwerkskapazität von 40.000 MW (besser 50.000 MW) bis 1985 für erforderlich hielt, war dies 1977 nur noch gut die Hälfte, nämlich 24.000 MW.23 Auch in der dritten Fortschreibung des Energieprogramms im November 1981 korrigierte der Bund die Prognosewerte für den Primärenergie- und den Stromverbrauch sowie den Bedarf an Kernkraftwerken abermals nach unten.24 Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass sich die Bundesregierung zusehends von den Prognoseergebnissen der Institute distanzierte. Während sie sich die Zahlen der Institute in den Jahren zuvor direkt zu eigen gemacht hatte, firmierten diese in der offiziellen Sprachregelung der Energieprogramme nunmehr nur noch als plausible Vorausschätzung bestimmter Trends.25 Darüber hinaus ist seit den 1970er-Jahren mit dem Aufkommen alternativer Energiepfade bzw. Szenarien eine gewisse Häufung von Gutachten und Energiebedarfsprognosen zu verzeichnen. Mit dem Entstehen des Öko-Instituts in Freiburg und anderen zeitgleich gegründeten Institutionen veränderte sich die gesamte Ener20 21
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Dritte Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung vom 5. November 1981, BT-Drucksache 9/983, S. 7. Dies verwundert kaum, denn ein langsameres Wirtschaftswachstum und kräftige Energiepreissteigerungen, vor allem beim Öl, und die daraus resultierenden Sparreaktionen verschiedener Verbrauchsgruppen führten dazu, dass die Forschungsinstitute ihre Prognosen noch auf Grundlage gänzlich anderer Zahlen erstellten. Siehe Die Energiepolitik der Bundesregierung vom 3. Oktober 1973, BT-Drucksache 7/1057, S. 4 bzw. Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung vom 19. Dezember 1977, BT-Drucksache 8/1357, S. 16. Siehe Die Energiepolitik der Bundesregierung vom 3. Oktober 1973, BT-Drucksache 7/1057, S. 10 bzw. Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung vom 19. Dezember 1977, BT-Drucksache 8/1357, S. 16. Siehe Dritte Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, S. 34. Ebd., S. 8.
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gieberatungsszene. Schon zu Beginn der 1970er stellte man in der Stromwirtschaft fest, dass sich „außenstehende Institute“ mit den Aufgaben und Zukunftsproblemen der Elektrizitätsversorgung beschäftigten, und das, obwohl diese Institute sicher schlechtere Unterlagen hätten als die Fachleute der Energieversorger.26 Alternative Energieszenarien und die entsprechenden Organisationen durchliefen bald schon einen Institutionalisierungsprozess und bildeten auf diese Weise eine Gegenexpertise zu denen traditioneller Experten. Sichtbar wird dies in der Bundesrepublik an der Wende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren, als mit der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik die Meinungen verschiedener Experten (Pro und Contra Kernenergie) in die abschließende Empfehlung einflossen.27 Die Diversifizierung der Beratungsszene und vor allem das verstärkte öffentliche Interesse an den Prognosen kommentierten einige EVU-Vorstände mit der Feststellung, dass in diesem Bereich eine „Marktlücke“ bei der Verteilung der Informationen in der Öffentlichkeit bestehe.28 Die Funktionsweise der Gegenexpertise in der Stromwirtschaft ähnelt stark den von Tim Schanetzky beschriebenen Mechanismen rund um den Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.29 Auch hier gerieten traditionelle Experten unter den Bedingungen des rasanten gesellschaftlichen Wandels der 1970er-Jahre zusehends in Erklärungsnöte, was die Prognosen der wirtschaftlichen Entwicklung anbetraf, die noch auf den hohen Erwartungen an Wachstumsraten der 1960er-Jahre aufgebaut hatten. Freilich führte dies nicht dazu, dass ganz auf Prognosen verzichtet wurde, was angesichts der angespannten gesamtwirtschaftlichen Situation fatal gewesen wäre, zumal Fehlprognosen zu einem gewissen Grad selbst zur Verschlechterung der Konjunktur geführt hatten. Gleichwohl gewöhnten sich Berater, Regierung und Öffentlichkeit zusehends daran, den Prognosen bezüglich ihrer Aussagekraft weniger Vertrauen entgegenzubringen.30 Schanetzky kommt in seiner Studie sogar zu dem Schluss, dass dies zu einem Autoritätsverfall wissenschaftlicher Expertise geführt und die Verwissenschaftlichungsprozesse in der Politik seit den 1970er-Jahren grundsätzlich infrage gestellt habe.31
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So mehrere EVU-Vorsitzende anlässlich einer DVG-Mitgliederversammlung. Niederschrift der 49. Mitgliederversammlung der DVG am 16. November 1972, S. 5, HKR, DVG ab 1. Januar 1973 bis 31. Mai 1973, 6033. Siehe Traube, Klaus / Ullrich, Otto, Billiger Atomstrom? Wie die Interessen der Elektrizitätswirtschaft die Energiepolitik bestimmen, Hamburg 1982, S. 28 ff.; Altenburg, Cornelia, Kernenergie und Politikberatung. Die Vermessung einer Kontroverse, Wiesbaden 2010, S. 64 ff. Siehe Niederschrift der 49. Mitgliederversammlung der DVG am 16. November 1972, S. 5, HKR, DVG ab 1. Januar 1973 bis 31. Mai 1973, 6033. Wie sich Energiebedarfsprognosen künftig gegenüber der Öffentlichkeit kommunizieren ließen und wie der Energiebedarf zukünftig in der DVG sowie mit internationalen Gremien (z. B. UNIPEDE) der Energiewirtschaft abgestimmt werden sollte, darüber gab es in und zwischen den EVU unterschiedliche Auffassungen. Siehe Schanetzky, Tim, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007. Ebd., S. 158, 184 f. Ebd., S. 271 ff.
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Auch in der Stromwirtschaft selbst bzw. bei den ihr nahestehenden Wissenschaftlern wurden die Energiebedarfsprognosen zusehends kritischer gesehen. Die Kritik zielte vorwiegend auf die alternativen Energieszenarien bzw. auf die Annahmen der zugrundeliegenden Prognosen.32 Für die Befürworter alternativer Energieszenarien war seit Mitte der 1970er-Jahre indes klar, dass es neben ökologischen Argumenten nur einen vertretbaren Grund für die Einrichtung, Erweiterung, Erneuerung oder Substitution eines Energieversorgungssystems geben konnte, nämlich einen entsprechenden Energiebedarf.33 Mit dieser Entwicklung hatte eine gewisse Form der Demokratisierung der Energiepolitik sowie des Beraterwesens stattgefunden.34 Auf der Basis von Energiebedarfsprognosen wurde die Stromerzeugungskapazität errechnet und der Bau neuer Kraftwerke festgelegt. Bis weit in die 1970erJahre hinein ging man durchschnittlich von einer Zuwachsrate des Energiebedarfs zwischen 7 und 8 % aus, erst zu Beginn der 1980er-Jahre plante man nur noch mit gut der Hälfte.35 Im Sinne der Sicherheit der Energieversorgung planten die Unternehmen in ihren Bauprogrammen weiterhin mit einer Zuwachsrate von rund 7 %, obwohl schon Mitte der 1970er-Jahre abweichende Befunde zu Bedarfsprognosen vorlagen.36 Nicht zuletzt aufgrund der gesetzlichen Versorgungsverpflichtung und aufgrund von Unsicherheiten bei den Prognosen plante man jedoch weiterhin mit ähnlichen Zahlen wie bisher.37 Die traditionelle Regel von der Verdopplung des 32
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Siehe Michaelis, Hans, Energieprognosen kritisch betrachtet. Zehn Ursachenkomplexe für Fehleinschätzungen, in: EWT 35 (1985) 4, S. 214–224; Wessels, Theodor, Die Problematik der Energieprognose, in: Brennstoff-Wärme-Kraft 19 (1967), S. 115–120; Kraus, Michael, Über die Kritik an Energieprognosen und ihre Berechtigung, in: Lücke, Fritz (Hg.), Ölkrise. 10 Jahre danach, Köln 1984, S. 253–268. Siehe u. a. Meyer-Abich, Klaus Michael, Energiebedarf und Energienachfrage – Kriterien der Sozialkosten – Nutzen – Analyse alternativer Energieversorgungssysteme, in: Amery, Carl / Mayer-Tasch, Peter C. / ders., Energiepolitik ohne Basis. Vom bürgerlichen Ungehorsam zur energiepolitischen Wende, Frankfurt/M. 1978, S. 46–82, hier S. 46. Siehe Altenburg, Cornelia, Wandel und Persistenz in der Energiepolitik: Die 1970er-Jahre und die Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“, in: Ehrhardt, Hendrik / Kroll, Thomas (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 245–263, hier S. 262. Bei der Preußenelektra war 1983 z. B. nur noch ein Jahreszuwachs von 3,2 % zu verzeichnen, und man rechnete für 1984 mit einem Zuwachs des Jahresstromverbrauchs von etwa 3 %. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 18. Mai 1984, S. 4, E.ON-Archiv München, EEA 609. So lag die durchschnittliche Zuwachsrate des Stromabsatzes bei der Preußenelektra 1973 bei rund 9 %, während sie 1974 auf 1 % sank, um im Jahr 1975 wieder auf 3 % anzusteigen. Allein diese drei Jahre verdeutlichen die Schwankungen, denen die Zuwachsraten unterlagen. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 7. Dezember 1976, S. 3, E.ON-Archiv München, EEA 223. Dies deutete z. B. Heinrich Mandel in seinem Vortrag vor dem Verwaltungsbeirat der RWE am 26. Februar 1975 an: „Der Zuwachs des Stromverbrauchs in der BRD betrug 1974 nur knapp 4 % (Vorjahr 8,1 %) und erreichte rund 300 Milliarden Kilowattstunden. Die Stromabgabe der RWE stieg 1974 um 4,5 % auf rund 96,6 Milliarden Kilowattstunden. Wir schließen jedoch aus dieser geringen Zuwachsrate nicht voreilig auf eine Tendenzwende in der Zunahme des Stromverbrauchs und planen unseren weiteren Zubau von Kraftwerksleistung auf der Basis einer
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Strombedarfs in zehn Jahren, also einer jährlichen Steigerungsrate von 7,2 %, war nicht nur einer der zentralen Orientierungspunkte der Branche, sondern auch für politische Entscheidungsträger und die Volkswirtschaft insgesamt.38 Ende der 1970er- und zu Beginn der 1980er-Jahre kam es zu einer Aufweichung dieses Paradigmas: Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil Politik und Öffentlichkeit immer mehr Kritik an den Prognosen der Stromwirtschaft übten und auch weil der Energiebedarf nie wieder die einstigen Zuwachsraten erreichen sollte. Die Folgen dieser Entwicklung waren durchaus schwerwiegend, war der Kernkraftwerksbau Ende der 1960er- und frühen 1970er-Jahre doch am ungehemmten Wachstumsglauben der Vergangenheit orientiert gewesen. Die Unternehmen der Stromwirtschaft richteten die Planung für ihren kompletten Kraftwerkspark auf die Energiebedarfsprognosen aus. Durch die fehlende Möglichkeit, Elektrizität dauerhaft speichern zu können, musste sich das Elektrizitätsangebot deshalb immer an den höchsten Bedarfsspitzen orientieren, um keine Lücke in der Versorgung entstehen zu lassen. Diese physikalische Tatsache musste auch bei der Erstellung von Energiebedarfsprognosen mit ins Kalkül gezogen werden. Die Orientierung am Spitzenverbrauch, der möglichst genau ermittelt werden musste, führte naturgemäß zu Planungsproblemen. Seit den 1950er-Jahren hatte man in den Unternehmen noch mit wesentlich höheren Zuwachsraten zwischen 11 und 19 % gerechnet.39 Dies war dem Umstand geschuldet, dass die Elektrifizierung der Haushalte noch lange nicht abgeschlossen war und ebenfalls bei den anderen Verbrauchsgruppen (vor allem bei der Industrie) ein hoher Bedarf an Elektrizität vorherrschte.40 Mit dieser Formel des Zuwachses – also der Verdopplung des Energiebedarfs in zehn Jahren – war jeder stromwirtschaftlich Tätige sozialisiert worden und hatte sie verinnerlicht.41 Diese war also Arbeitsgrundlage und historisch gewachsenes Diktum zugleich. Auch in der Politik war diese Grundannahme bereits Mitte der 1950er-Jahre als eine für die Energiewirtschaft unumstößliche Regel interpretiert worden.42 Spätestens seit den 1950er-Jahren wurde den Akteuren in der Stromwirtschaft jedoch be-
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mittleren Zuwachsrate von 7 %, um nicht Gefahr zu laufen, unsere gesetzlichen Verpflichtungen, den Strom jederzeit ausreichend und sicher zu liefern, eines Tages nicht erfüllen zu können.“ Siehe u. a. Meysenburg, Helmut, Die deutsche Elektrizitätsversorgung. Grundsätzliche und zeitnahe Fragen und Aufgaben aus der Sicht des Jahres 1970, in: Jahrbuch für Bergbau, Energie, Mineralöl und Chemie, 63 (1970), S. 13–29, hier S. 18: Entwicklung des Stromabsatzes der öffentlichen Versorgung von 1900 bis 1980. Siehe ebd. Die strukturelle Zusammensetzung des gesamten Primärenergieverbrauchs wandelte sich zwischen 1950 und 1973 erheblich. Der Anteil fester Brennstoffe ging zurück, während der von Erdgas und vor allem der von Erdöl zunahmen. Siehe Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, Statistischer Jahresbericht des Referats Elektrizitätswirtschaft im Bundeswirtschaftsministerium, in: Elektrizitätswirtschaft, Jg. 1949 ff. Siehe u. a. Meysenburg, Helmut, Stromabnehmer, Stromerzeugung und -verteilung in ihrem wirtschaftlichen Zusammenhang, Essen 1955, S. 18; Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 380. Siehe u. a. Erhard, Ludwig, Investitionen und Rationalisierung in der Energiewirtschaft in Ausrichtung auf den Verbraucher, in: Elektrizitätswirtschaft 54 (1955) 11, S. 339–341, hier S. 339 f.
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wusst, welche Schwierigkeiten den Prognosen innewohnten. Dennoch war das Motiv der Beherrschbarkeit bei den Aussagen über den Schätzungscharakter der Verbrauchsentwicklung bestimmend.43 Ein Indiz für die Skepsis in Bezug auf sinkende Zuwachsraten bei den EVU seit Mitte der 1970er-Jahre lässt sich bei der Weitergabe der Zahlen an die Politik ausmachen. Im Fazit eines DVG-Papiers zur Primärenergiebedarfsvorschau, das für das Bundeswirtschaftsministerium bestimmt war, hieß es: „Diese Betrachtungen zeigen, mit welchen großen Unsicherheiten solche Bedarfsvorschauen behaftet sind. Bei einer eventuellen Weitergabe der neuen Primärenergiebedarfsvorschau an das BMWi – sie wird dort für die nächste Fortschreibung des Energieprogramms erwartet – wäre daher zu überlegen, ob die hier auf Basis 1973 angenommenen beiden Varianten 7 bzw. 5 % p. a. aus heutiger Sicht noch ausreichend realistisch sind.“44 Die Vorsicht der EVU bei der Weitergabe der Zahlen an die Politik seit dieser Zeit verdeutlicht die Unsicherheit der Stromwirtschaft darüber, dass diese von der Politik möglicherweise falsch interpretiert werden und dadurch zu nachteiligen Regelungen für die Branche führen könnten. Beim Blick auf die Sprache zeigt sich, dass Energiebedarfsberechnungen – trotz aller oder gerade wegen ihrer immanenten Unsicherheiten bei der Berechnung – oft mit einer gewissen Eigenlogik bzw. als Resultat eines Sachzwangs präsentiert wurden.45 Hinter den zu hohen und zum 43
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Siehe u. a. Energiewirtschaftliches Institut Köln (EWI) (Hg.), Gegenwärtige Struktur und künftige Entwicklung der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Gutachten des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln, Berlin 1964. Im Vorwort schreibt Theodor Wessels, der Direktor des Instituts: „Diese Genauigkeit [des Gutachtens] darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei allen Zukunftsaussagen um Vorausschätzungen handelt, die mit einem zum Teil sehr hohen Maß an Unsicherheit behaftet sind. Gerade die zahlenmäßigen Einzelergebnisse können jedoch weitere Untersuchungen anregen, um die unvermeidlichen Fehlergrenzen einzuengen.“ Noch größer als bei den Wirtschaftswissenschaftlern wurde die Beherrschbarkeit der Vorausschätzungen bei der Deutschen Verbundgesellschaft eingeschätzt. Siehe Deutsche Verbundgesellschaft (DVG), Entwicklung des Verbundbetriebes in der deutschen Stromversorgung. 10 Jahre DVG 1948–1958, Heidelberg 1959, S. 24 f. Die Deutsche Verbundgesellschaft (DVG) ist der interessenspolitische Zusammenschluss der neun größten deutschen Energieversorger, die im Verbundbetrieb (Hochspannungsnetz) zusammenarbeiten. Zur Geschichte und Funktion der DVG siehe Schnug, Artur / Fleischer, Lutz, Bausteine für Stromeuropa. Eine Chronik des elektrischen Verbunds in Deutschland. 50 Jahre Deutsche Verbundgesellschaft, Heidelberg 1999. Neue Primärenergie-Bedarfsvorschau für die deutsche Stromversorgung [von Gerd Rittstieg], 11. November 1975, S. 4, HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, 6037. Das Sachzwangargument wurde vor allem bei gescheiterten Energieprojekten, wie dem Schnellen Brüter und der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf, genutzt, gerade und obwohl Politiker, EVU und weite Teile der Öffentlichkeit von ihrem Nutzen immer weniger überzeugt waren. Bei der Entsorgung, Wiederaufarbeitung und Endlagerung von Kernbrennstoffen standen für die Energiewirtschaft besonders Wirtschaftlichkeitsüberlegungen und Kostenfragen im Mittelpunkt. Zum Kostenargument bei der Entsorgung siehe u. a. Sprechzettel für Rudolf von Bennigsen für die Vorstands- und Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra am 25. November 1983, S. 6 ff. Zum Begriff des Sachzwangs siehe Steinmetz, Willibald, Anbetung und Dämonisierung des Sachzwangs. Zur Archäologie einer deutschen Redefigur, in: Jeismann, Michael (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt/M. 1995, S. 293–333.
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Teil hochgerechneten Energiebedarfsprognosen stand der reale Bau von großen Kraftwerken mit mehreren Hundert MW Leistung. Tatsächlich wurden die Ausbauprogramme zur Kernenergie der 1970er-Jahre nur in Ansätzen Realität, dennoch wurde aus Gründen der Legimitation mit der Versorgungssicherheit oder einer drohenden ‚Energielücke‘ argumentiert.46 Doch Versorgungsengpässe waren in einigen Fällen, wenn auch regional begrenzt, tatsächlich zu befürchten: So kam es zum Beispiel in Baden-Württemberg zu Beginn der 1980er-Jahre durchaus zu Engpässen in der Energieversorgung, die jedoch mit teuren Stromimporten aus Frankreich wieder ausgeglichen werden konnten.47 Schon seit Mitte der 1950er-Jahre hatten Befürchtungen von einer möglichen Energielücke den Diskurs in der bundesdeutschen Öffentlichkeit geprägt. Damals waren Engpässe in der Kohleversorgung noch eine erfahrbare Realität, weshalb das Energienotgesetz von 1949 noch 1953 verlängert worden war. Die Phase der Kohleförderungspolitik zu Beginn der 1950er-Jahre wurde abgelöst durch eine regelrechte Ölschwemme seit Mitte des Jahrzehnts, womit die Energielückendiskussionen der Vorjahre völlig überzogen erschienen. Jedenfalls hielt die Bundesregierung noch unter dem Eindruck der Kohleknappheit eine Verbreiterung der eigenen Energiebasis für notwendig und öffnete die Bundesrepublik für Ölimporte, was zur Dauerkrise der Kohle führen sollte.48 Energiepolitik war nun zusehends zur Kohleschutzpolitik geworden, da sich vor allem Ludwig Erhard mit dem Dilemma konfrontiert sah, einerseits die heimische Steinkohle zu schützen und andererseits den Wettbewerb mit dem Primärenergieträger Öl zuzulassen.49 Diese Erfahrungen zwischen Energieknappheit und Überfluss hatten bei Erhard zu der Überzeugung geführt, dass Energieprognosen nicht mehr vertrauenswürdig seien.50 Das Energieprogramm der Bundesregierung aus dem Jahr 1973 wurde dann unter anderem 46
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Siehe Böske, Johannes, Zur Ökonomik der Versorgungssicherheit in der Energiewirtschaft, Münster 2007, S. 7–62; Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 113 f. Siehe u. a. Buchenau, Karl-Wilhelm, Verpaßte Möglichkeiten für kostengünstigen Strom. Die zu erwartende Lücke in Baden-Württemberg droht teuer zu werden, in: Börsen-Zeitung, 27. November 1976. An dieser Stelle wurde der Konflikt zwischen einzelnen Bundesländern und der Bundesregierung hinsichtlich der Energiepolitik wieder einmal offensichtlich. Der badenwürttembergische Ministerpräsident Hans Filbinger warf der Bundesregierung in Bezug auf Kernkraftwerke vor, mit „gespaltener Zunge“ zu sprechen. Filbinger sah sein Land in mustergültiger Weise der Aufforderung des Energieprogramms der Bundesregierung folgen, entsprechende Standorte für Kernkraftwerke auszuweisen. Er kritisierte den Kurswechsel Bonns, nun doch nicht so schnell Kernkraftwerke zu benötigen und in Deckung zu gehen, und stellte sich damit auf die Seite der Energiewirtschaft des Landes. Siehe Heesemann, Siegfried, Probleme der Energiewirtschaft, in: Energiewirtschaftliches Institut Köln (Hg.), Die öffentliche Energieversorgung im wirtschaftlichen und politischen Kräftefeld der Gegenwart, München 1953, S. 176–185, hier S. 177. Siehe Saretzki, Thomas, Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1999. Ein Politikfeld zwischen Wirtschafts-, Technologie- und Umweltpolitik, in: Willems, Ulrich (Hg.), Demokratie und Politik in der Bundesrepublik 1949–1999, Opladen 2001, S. 195–221, hier S. 203 f. Zit. nach Förster, Karl, Allgemeine Energiewirtschaft, Berlin 1965, S. 69.
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auch dafür kritisiert, dass Energieprognostik nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Darüber hinaus bezog sich die Kritik auf die Uneinheitlichkeit der Planungsgrößen für die verschiedenen Primärenergieträger sowie die Planungszeiträume.51 In der Stromwirtschaft sah man sich deshalb mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, Energiebedarfsprognosen erstellen zu müssen, obwohl sich mit ihnen die künftige Entwicklung nicht voraussagen ließ. Mithilfe der Prognosen konnten lediglich Tendenzen ermittelt werden, die aber immerhin einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit aufwiesen. Die Schwierigkeiten bei der Erstellung von Energiebedarfsprognosen bestanden vor allem darin, dass Prognosen mit aktuell und zeitnah erhobenem Zahlenmaterial bestückt wurden, aber für einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren aussagekräftig sein sollten. Auch Investitionsentscheidungen für konkrete Projekte wurden relativ zeitnah und für eine lange Dauer getroffen. Dies verdeutlicht die planerischen wie zeitlichen Probleme, mit denen die Unternehmen konfrontiert waren. So war es durchaus keine Seltenheit, dass sich der prognostizierte Energiebedarf zwischen dem Beginn und der Inbetriebnahme eines Kraftwerks erheblich verschob. Bei der Erstellung von Energiebedarfsprognosen waren eine Vielzahl von Einflussfaktoren und konfliktbeladenen Zielen miteinander in Einklang zu bringen. Die auf Basis von Prognosen in Betrieb genommenen Kraftwerke laufen jahrzehntelang und prägen auf diese Weise die Versorgungsstruktur in Gegenwart und Zukunft. Die Struktur des Energieverbrauchs kann sich jedoch kurzfristig verändern, zum Beispiel durch das Konsumverhalten von Haushalten und Industrie. Dieser mögliche Wandel ist die Grundlage für die Argumentation der Stromwirtschaft, ständig ausreichend Energie bereitzustellen, um auf eventuelle Verbrauchsänderungen reagieren zu können. Für die Politik ist diese Problematik deshalb schwer einzuschätzen, weil sich energiepolitische Ziele, wie zum Beispiel Energiesparen und Energieeffizienz,52 nur über mehrere Dekaden hinweg erreichen lassen. Diese politischen Maßnahmen können indes im Widerspruch zu den bestehenden stromwirtschaftlichen Strukturen stehen, und es bedarf vieler aufwendiger wirtschafts- und ordnungspolitischer Schritte, um energiepolitische Veränderungen zu bewirken. Seit Mitte der 1970er-Jahre verlängerte sich die Planungszeit noch zusätzlich, da immer mehr Klagen bei Gerichten über Kern-, aber auch über Kohlekraftwerke eingingen. Darüber hinaus führten die verlängerten Genehmigungsverfahren für Kraftwerke zu erheblichen Verzögerungen bei deren Bau, weil die Genehmigungsbehörden zusehends skeptischer gegenüber Kraftwerken eingestellt waren. Im Verlauf der 1970er-Jahre hegten die Genehmigungsbehörden, nicht zuletzt wegen des öffentlichen Widerstandes gegen neue Kraftwerksprojekte, immer häufiger Vorbehalte gegenüber dieser Form der Großtechnologie. Verzögerungen konnten auch aufgrund verfahrensrechtlicher und bürokratischer Probleme entstehen, wie zum 51 52
Siehe Meyer-Renschhausen, Martin, Das Energieprogramm der Bundesregierung. Ursachen und Probleme staatlicher Planung im Energiesektor der BRD, Frankfurt/M. und New York 1981, S. 21 f. Siehe dazu Bergmeier, Monika, Zur Geschichte umweltfreundlicher Energietechniken im 20. Jahrhundert. Das Beispiel der Abfallenergieverwertung, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 151–176.
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Beispiel mangelnder Erfahrung der Behörden mit Atom- und Wasserrecht bei der Genehmigung von Kernkraftwerken.53 Eine Folge dieser Entwicklung war, dass sich die Zeitspanne von der Vorplanung bis zur Inbetriebnahme und Lieferung der ersten Kilowattststunde auf über sechs Jahre bei konventionellen Kraftwerken bzw. auf acht bis zehn Jahre bei Kernkraftwerken erhöhte. Die Planung musste auf diese Weise für noch längere Zeiträume im Voraus erstellt werden; die Planungsgrundlagen blieben jedoch die gleichen, womit sich die Unsicherheit bei den Energiebedarfsprognosen eher vergrößerte. Erhebliche Auswirkungen hatte diese Situation auf die Kosten für Energieerzeugungsanlagen – sie stiegen daraufhin deutlich. Von 20 geplanten Kraftwerken, so nahmen die EVU 1976 an, sollte sich die Fertigstellung von elf wegen gerichtlicher und genehmigungsrechtlicher Probleme zum Teil über Jahre verzögern.54 Tatsächlich spielten die Kosten für die Energieversorger eine wichtige Rolle. Denn sowohl Bauzinsen als auch Preissteigerungen während der längeren Bauzeit und der Weiterbetrieb älterer Anlagen verursachten zusätzliche Kosten.55 Von den Kosten abgesehen war die Stromwirtschaft vor allem über den Widerstand in der Öffentlichkeit erstaunt, habe doch die Bundesregierung die Notwendigkeit des Baus von Kernkraftwerken in ihrem Dritten Verstromungsgesetz – eigentlich ein Gesetz für den Einsatz von Steinkohle in der Stromwirtschaft – ausdrücklich betont. Dazu heißt es bei den Energieversorgern: „Die Gerichte, die über die sofortige Vollziehbarkeit von Baugenehmigungen zu urteilen haben, machen ihre Entscheidungen von dem Nachweis abhängig, daß die Leistung auch tatsächlich zu der im Bauplan vorgesehenen Zeit zur Deckung des Strombedarfs benötigt wird.“56 Vor allem wegen der Kernenergieproblematik war Energieversorgung spätestens seit Ende der 1970er-Jahre zu einer politischen Frage geworden. Dieser Umstand war einigen Unternehmen der Stromwirtschaft durchaus bewusst. Dennoch forderten sie insbesondere von der Bundesregierung wiederholt Planungssicherheit für Bauvorhaben ein. Für die zeitgerechte Fertigstellung von Kraftwerksanlagen seien verlässliche Rahmenbedingungen eine notwendige Voraussetzung, so die Argumentation der Unternehmen.57 Für die Energieversorger waren deshalb die energiepolitischen Debatten im Bundestag von großem Interesse. Die Preußenelektra bewertete die Zusammenarbeit der politischen Parteien in energiepolitischen Angelegenheiten durchaus positiv. 53 54 55
56 57
Siehe Niederschrift über die Sondersitzung des Vorstandsrates der VDEW am 26. Januar 1977, S. 3, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929. Siehe DVG, Baufolge von Kraftwerksblöcken (größer 400 MW) 1976, HKR 6038, DVG-Planungsausschuß auf der Mitgliederversammlung am 1. Dezember 1976. Siehe Briefwechsel zwischen Gerhard Rittstieg (RWE) und Direktor Dr. Ing. Georg Becker (VEW) über die „Kosten infolge Verzögerungen von Kraftwerksbauten“, HKR, DVG ab 1. August 1976 bis 31. Dezember 1976, W5–6038; Bald, Martin, Was kosten die Verzögerungen im Kernkraftwerksbau der deutschen Volkswirtschaft?, in: ZfE (1981) 2, S. 96–99. Bericht des Geschäftsführers der DVG Dr. Lehmhaus vom 15. April 1975, S. 1 f., HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, W5–6037. Jenseits der energiepolitischen Gesetzgebung forderten die EVU vor allem eine Verkürzung und unbürokratischere Abwicklung von Genehmigungsverfahren für die Errichtung neuer Kraftwerke. Siehe Rinke, Werner, Notwendige Verbesserung für das Genehmigungsverfahren zur Errichtung neuer Kraftwerke, in: EWT 30 (1980) 11/12, S. 836–843.
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Gleichwohl kritisierte die gesamte Stromwirtschaft fast routinemäßig, dass ein jährlich verändertes Energieprogramm nicht dazu geeignet sei, den Unternehmen Planungssicherheit zu bieten.58 Aufgrund schwindender öffentlicher Akzeptanz bezüglich der Kernenergie, aber auch wegen zunehmender Schwierigkeiten bei Genehmigungsverfahren, sah sich die VDEW im Januar 1977 gar zu einem offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Schmidt veranlasst.59 Ferner reklamierten die Energieversorger gegenüber dem Bund in einer Resolution die mangelnde Kontinuität in dessen Energieprogrammen sowie eindeutige Regelungen, um die Planungssicherheit für die Energieversorger zu erhöhen.60 Die Rechtslage zur Genehmigung von Kernkraftwerken sei „derart unübersichtlich und schwierig, dass es findigen Kernkraftwerksgegnern immer wieder gelingen werde, durch Anrufen der Verwaltungsgerichte die Genehmigungsverfahren in die Länge zu ziehen.“61 Von der Politik wurde auf der gleichen Aufsichtsratssitzung moniert – in diesem Fall von Kurt-Dieter Wagner, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium – „daß EVU es sich zu leicht machen, wenn sie behaupten, mit Optionen nicht leben zu können, weil sie verkennen, daß die Energiepolitik nur einen, wenn auch wesentlichen Teil der gesamten Gesellschaftspolitik darstellt. Es sei deshalb unmöglich, diesen Teil herauszulösen und ohne Rücksicht auf die anderen zu regeln.“62 Wagner forderte stattdessen eine gewisse Offenheit der energiepolitischen Konzeptionen, die „Entdämonisierung der Kernenergie“ sowie alternative Möglichkeiten der Energiesicherung, zum Beispiel durch Einsparungen oder Entwicklungen neuer Technologien. In diesem gesellschaftspolitischen Prozess müsse die Stromwirtschaft nach Einschätzung des Ministerialdirektors mitwirken und mitdiskutieren sowie nicht zuletzt mit den Ergebnissen leben. Diese grundsätzlichen Fragen hatten sich an einer Aussprache im Bundestag über Energiepolitik entzündet. Ulrich Segatz, energiewirtschaftlicher Vorstand der Preußenelektra, bemerkte abschließend, dass bei einem nicht auf Dauer und Beständigkeit angelegten Versorgungskonzept das Offenhalten der von Wagner angesprochenen Optionen sehr kostspielig sei und dies den Handlungsspielraum der EVU weiter begrenzen würde.63 Sowohl für Kohle- als auch für Kernkraftwerke wurde von den Energieversorgern Ende der 1970er- zu den 1980er-Jahre gegenüber der Politik deshalb von „Investitionsstau“ 58 59
60 61 62 63
Siehe Rudolf von Bennigsen sowie Ulrich Segatz, Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 5. Juli 1979, S. 9, 11, E.ON-Archiv München, EEA 608. Und dass, obwohl sich dieser in der Regierungserklärung am 16. Dezember 1976 eindeutig zur Kernenergie bekannt hatte. Die VDEW begründete ihren Vorstoß vor allem mit den „widersprüchlichen Äußerungen auf allen Ebenen des politischen Lebens“ zur Haltung Schmidts und mit dem Aufflammen des außerparlamentarischen Widerstands gegen die Kernenergie. Siehe Brief der VDEW an Bundeskanzler Helmut Schmidt vom 27. Januar 1977, HKR, VDEWVorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929; Offener Brief der VDEW an Bundeskanzler Schmidt, VDEW-Informationsdienst 4 (1977), 10. Februar 1977. Siehe Mitteilung der VDEW an RWE-Vorstand Heinrich Mandel vom 25. Januar 1977, HKR, VDEW-Resolution, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929. Erhard Keltsch auf der Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra. Siehe Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 5. Juli 1979, S. 12, E.ON-Archiv München, EEA 608. Ebd. Ebd.
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und „Investitionsrisiko“ gesprochen.64 Um die Argumente für die Politik plausibler zu gestalten, wurde der Vergleich mit anderen Wirtschaftsbranchen bemüht und dabei aufgezeigt, wie benachteiligt man gegenüber diesen sei. Zwischen Stromwirtschaft, Politik und Öffentlichkeit bestand offensichtlich nicht nur Uneinigkeit in der Frage, wie hoch der künftige Energiebedarf sei, sondern auch darüber, welche ordnungspolitischen sowie energiepolitischen Entscheidungen daraus abzuleiten seien. Diese Diskussionen beinhalteten im Kern die in der Stromwirtschaft wie auch in der Öffentlichkeit intensiv diskutierte Frage, inwieweit all diese geplanten Kraftwerke überhaupt zur Deckung des künftigen Energiebedarfs benötigt würden. Die Rede von den „Überkapazitäten“65 machte die Runde.66 Auch im Bundestag hatte man bereits einen „gegenwärtigen Überhang von Kraftwerkskapazität, der unleugbar vorhanden ist“,67 festgestellt. An den Äußerungen von RWEVorstand Günther Klätte vor dem Beirat seines Unternehmens wird deutlich, dass die Stromwirtschaft im Zweifel immer für den Ausbau von Kapazitäten votierte: „Wir haben eine Versorgungspflicht in den Gebieten, in denen uns die Verantwortung für eine stets ausreichende Versorgung übertragen wurde, und dieser Pflicht müssen wir genügen, und es mag sich jeder ausmalen, welches Urteil die Öffentlichkeit über uns fällen würde, wenn der nächste Aufschwung nicht oder nur verspätet stattfinden könnte, weil wir im Sinne von Lieferfristen zusätzlichen Bedarf erst in einem oder zwei Jahren, vielleicht noch später decken könnten. Deshalb müssen wir hinsichtlich der Zuwachsraten im Zweifel auf der sichereren Seite liegen und uns, und das ist besonders wichtig, ein Bild darüber machen, wie groß der Zweifel, das heißt die Unsicherheit der Prognose, wohl sein kann, weil davon natürlich die Größe des erforderlichen Sicherheitszuschlages abhängen muß.“68 64
65
66 67 68
Für die Preußenelektra handelte es sich dabei um das seit dem Urteil des OVG Münster vom 24. November 1980 verzögerte Genehmigungsverfahren für den vierten Block des Steinkohlekraftwerks Heyden, der letztlich erst 1987 in Betrieb ging. Darüber hinaus um Verzögerungen beim Kernkraftwerk Grohnde. Für die RWE ging es um die von der Landesregierung Nordrhein-Westfalens politisch gewollten Steinkohlekraftwerke Voerde und Ibbenbüren. Siehe Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 19. Mai 1981, S. 15 f., E.ON-Archiv München, EEA 608; HKR, DVG-Planungsausschuß auf der Mitgliederversammlung am 1. Dezember 1976, 6038. Befeuert durch die amerikanische Regulierungsdiskussion seit Beginn der 1970er-Jahre, wurde das Regulierungssystem leitungsgebundener Wirtschaftszweige infrage gestellt. So hatten die Wirtschaftswissenschaftler Harvey Averch und Leland L. Johnson bereits 1962 in einem Aufsatz nachgewiesen, dass in einem System, in dem das Monopol bezüglich seiner Kosten und Preise den Genehmigungsbehörden unterliegt, der Anreiz zum Aufbau von Überkapazitäten im Kraftwerksbereich besonders groß sei. Dies geschehe vor allem zur Erhöhung der Rendite. Negative Folgen dieser Entwicklung, so die beiden amerikanischen Ökonomen, seien eine ineffiziente Überkapitalisierung beim regulierten Unternehmen und höhere Preise beim Endverbraucher. Siehe Averch, Harvey / Johnson, Leland L., Behavior of the Firm Under Regulatory Constraint, in: The American Economic Review 52 (1962) 5, S. 1052–1069. Siehe u. a. Möller, Klaus-Peter / Ströbele, Wolfgang, Überkapazitäten im Jahre 1985?, in: Wirtschaftsdienst 10 (1978), S. 515–521. Otto Graf Lambsdorff, Debatte im Deutschen Bundestag, in: Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, 215. Sitzung am 22. Januar 1976, stenografisches Protokoll, S. 14856. Ausführungen von Günther Klätte anlässlich der RWE-Beiratssitzung am 25. Februar 1976, S. 7, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1975/76, 2724.
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Auch der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Lambsdorff hatte dezidiert auf die Versorgungspflicht69 der EVU hingewiesen: „Der öffentliche Auftrag der Energieversorgung verpflichtet die Unternehmen zum Vorhalten dieser Kapazitäten. Aus dem Überhang in der Rezession kann sehr schnell ein Mangel im Boom werden, und Stromversorgungsengpässe wird sich von uns in diesem Hause und auch draußen wohl niemand wünschen.“70 Überkapazitäten waren nicht nur ein Ergebnis eines kaum vorhandenen Energiemarktes, sondern auch das der Überzeugungen in Stromwirtschaft und Politik. Sowohl Energieversorger als auch politische Entscheider entschlossen sich, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, im Zweifel für den Bau neuer Kraftwerke, anstatt zu riskieren, dass künftig ein Mangel an Energie herrschte. Die Politik war sich dabei des Umstandes bewusst, dass sich die Stromwirtschaft in einem Monopolmarkt befand. Im Gegenzug für die weitgehende Freistellung von Risiken der EVU beim Stromabsatz – im EnWG war dies mittels geschlossener Versorgungsgebiete bereits seit 1935 kodifiziert – erwartete Lambsdorff von den Unternehmen, dass diese über die Ertragsmaximierung hinaus die energiepolitischen Ziele des Staates unterstützten.71 Die Erschütterung des Glaubens, dass Energiebedarf auch in den kommenden Jahren auf kontinuierlich hohem Niveau weiter wachsen werde, kommt in den Worten von Erhard Keltsch, dem Vorstandsvorsitzenden der Preußenelektra, besonders deutlich zum Ausdruck. Bei einem Vortrag vor der DVG im Jahr 1975 mit dem vielsagenden Titel Was nun …? charakterisiert er die energiewirtschaftliche Lage folgendermaßen: „Ein stiller verläßlicher Mitarbeiter der Elektrizitätswirtschaft, ‚Genosse Trend‘, hat sich nach jahrzehntelanger Tätigkeit vor mehr als zwei Jahren verabschiedet. Einen vollwertigen Ersatz haben wir bisher nicht gefunden. Die Kurve der Absatzentwicklung für die elektrische Energie ist unstetig geworden. Sie läßt zur Zeit keine Schlüsse für die Zukunft mehr zu.“72 Zu den Folgen, die die Stromwirtschaft aus diesem Umstand zu ziehen habe, meint Keltsch: „Die ausgebliebenen Zuwachsraten haben zur Zeit einen Überhang an Kraftwerksleistung gebracht, der eine Streckung der Bauprogramme erlaubt. Zum Teil wird dadurch die derzeitige Verlangsamung der Baudurchführungen kompensiert. Die Elektrizitätswerke täten trotzdem gut daran, wenn sie ihre langfristigen Pläne ausführungsreif in die Schublade legten, um so lange wie möglich flexibel zu bleiben.“73 Damit sind die Schwierigkeiten der Unternehmen der Stromwirtschaft zwischen kurz- und langfristiger Planung knapp umrissen, nämlich einerseits 69 Das Argument der Versorgungspflicht wurde in der öffentlichen Diskussion dieser Zeit und von den EVU häufig undifferenziert dargestellt. Nach EnWG besteht eine Versorgungspflicht nur gegenüber den Tarifabnehmern, nicht aber gegenüber Sonderabnehmern, zu denen auch die Industrie zählt. Auf diese Problematik wird im Kapitel 2 noch zurückzukommen sein. 70 Otto Graf Lambsdorff, Debatte im Deutschen Bundestag, in: Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, 215. Sitzung am 22. Januar 1976, stenografisches Protokoll, S. 14856. 71 Siehe ebd. 72 Erhard Keltsch, „Was nun …?“, anlässlich des DVG Berichts 1975, HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, 6037, S. 1. 73 Ebd., S. 3. In ähnlicher Weise äußerte sich auch der VEBA-Chef Rudolf von Bennigsen. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 28. April 1975, S. 8, E.ON-Archiv Düsseldorf, 1/5/39–270.
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per Gesetz ständig genügend Strom vorzuhalten sowie andererseits neue Kraftwerkskapazitäten zu errichten und gleichzeitig keine Überkapazitäten zu schaffen, die dann ungenutzt und damit teuer wären. Für die 1970er- und 1980er-Jahre muss jedoch konstatiert werden, dass Kraftwerksüberkapazitäten entstanden waren. Dies war seinerzeit weder in Branchenkreisen noch in der Politik ein Geheimnis. Die Befürworter alternativer Energieszenarien nutzten das Argument der „Überkapazitäten“ vor allem dazu, um gegen den weiteren Ausbau der Kernenergie zu argumentieren.74 Doch auch in Publikationen, die der Stromwirtschaft nahestanden, erkannte man bei genauerem Hinsehen, dass die Überkapazitäten nicht aus Kernkraftwerken, sondern vor allem aus fossil befeuerten Kraftwerken resultierten.75 Die Handlungsspielräume – so die Wahrnehmung der Unternehmen – waren jedoch für die EVU aufgrund energiepolitischer Festlegungen seit den 1970er-Jahren zusätzlich eingeschränkt worden. RWE-Vorstand Klätte sowie auch der Aufsichtsratsvorsitze der Preußenelektra und Chef der Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks AG (VEBA), Rudolf von Bennigsen, waren dieser Auffassung. Klätte erklärte, dass man der Stromwirtschaft auch in Zukunft die Freiheit lassen solle, ihre Prognosen zu erstellen und danach ihre Anlagen zu planen. Die Unternehmen würden nach seiner Lesart nicht versuchen, die Wirtschaft zu steuern, sondern verbrauchsorientiert die Entwicklung beim Strombedarf und entsprechende Konsequenzen vorauszusehen. „Was tatsächlich geschieht, bestimme allein der Verbraucher“,76 so Klätte. Eine Einengung des Gestaltungsspielraums angesichts der geringen Zuwachsraten sowie energiepolitischer Festlegungen konstatierte auch von Bennigsen. Vor allem bei der Frage, welche Primärenergie bei der Planung von Kraftwerken in Zukunft zum Einsatz kommen würde, könnten die EVU kaum gestaltend handeln. Neben Problemen der Vorausschätzung des künftigen Energiebedarfs – wie zum Beispiel der Entwicklung des Abnahmeverhaltens von Tarifkunden, der konjunkturellen Entwicklung und der Auswirkungen auf den industriellen Sektor – wirkten sich von „außen kommende Ereignisse“77 auf die Unternehmen aus. Als Zwänge von außen empfand die Stromwirtschaft unter anderem den „Jahrhundertvertrag“,78 der die Energieversorger zum Einsatz eines bestimmten Primärenergieträgers, nämlich der Steinkohle, zwinge. Auch die Preisentwicklung auf dem Öl- und Gasmarkt
74 75 76 77 78
Siehe u. a. Ruske, Barbara / Teufel, Dieter, Das sanfte Energiehandbuch. Wege aus der Unvernunft der Energieplanung in der Bundesrepublik, Reinbek 1980, S. 58 ff. Siehe Arbeitsausnutzung und Arbeitsverfügbarkeit fossil gefeuerter Kraftwerke 1970–1977, in: Atomwirtschaft, November (1979), S. 541. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. Juni 1980, E.ON-Archiv München, EEA 608. Ebd., S. 12. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen VDEW und GVSt vom 10. Mai 1977 über die Ausgestaltung der deutschen Steinkohleverstromung. Diese Vereinbarung wurde zwar zwischen den beiden Verbänden geschlossen, betraf jedoch insgesamt 42 Elektrizitätswerke vom großen Verbundunternehmen bis zum Stadtwerk sowie mit 6 Steinkohlebergbauunternehmen alle wichtigen Vertreter des deutschen Steinkohlebergbaus. Auf diesen Vertrag wird in Kapitel 1.4 noch näher einzugehen sein.
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lasse den Energieversorgern weniger Spielraum.79 Jedoch sind die von Rudolf von Bennigsen beschriebenen Probleme durchaus als gängige Zwänge der Energiebeschaffung in der Stromwirtschaft zu interpretieren. Wie an anderer Stelle noch deutlich werden wird, war der Jahrhundertvertrag ein Aushandlungsprozess zwischen Steinkohlebergbau, Politik und Energiewirtschaft, dem am Ende alle Seiten zustimmten. Dem VEBA-Vorstandsvorsitzenden ist insofern beizupflichten, als dass gerade die Steinkohleverstromung den Handlungsspielraum der Elektrizitätswirtschaft hinsichtlich der Wahl des Primärenergieträgers beim Bau von neuen Kraftwerken einschränkte. Die Annahme, dass die Stromwirtschaft völlig frei von politischen Rahmensetzungen über ihre Geschäftspolitik entscheiden könne, ist eher abwegig; dass sich die Stromwirtschaft mehr Gestaltungsspielraum bei ihren Entscheidungen wünschte, jedoch aus deren Sicht verständlich. Zurück zu den Energiebedarfsprognosen: Offensichtlich hatte sich in der Stromwirtschaft bereits Mitte der 1970er-Jahre die Erkenntnis durchgesetzt, dass man zwar planen müsse, dass aber das alte Niveau an Zuwachsraten wohl kaum mehr erreicht werden würde. Dazu führte Erhard Keltsch aus: „Man rechnet im übrigen mit einer baldigen Einstellung eines neuen Mitarbeiters ‚Genosse Trend‘, wenn auch mittelfristig mit einer schwächer steigenden Absatzentwicklung im Gefolge. Nicht zuletzt auch durch gewolltes Sparen, was auch wir selbstverständlich nicht tadeln, wenn es nicht am falschen Ende geschieht.“80 Auf einer Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra heißt es 1976: „Die zusammengefaßte Leistungsbilanz der Preußenelektra/NWK zeigt, daß mit den vorhandenen und den bereits beschlossenen Kraftwerksbauvorhaben bis 1982 eine jährliche Absatzsteigerung von rund 8,5 % bewältigt werden kann, daß aber danach zusätzliche Kraftwerksleistung benötigt wird, wenn langfristig weiter mit jährlichen Absatzsteigerungen von nur rund 8,5 % gerechnet werden muß. Bei einer Absatzsteigerung von nur rund 5 % p. a. wäre dagegen ein gewisser Überhang an Kraftwerkskapazität vorhanden.“81 Wichtig war für die Energieversorger, falls die Energiebedarfsprognosen nicht eintreffen würden – was sie in der Folgezeit nicht taten –, die daraus entstandenen Kosten „zu bewältigen“ und „ausreichende Gewinnmargen“82 zu erzielen. Auch an reinen Zahlen lässt sich der Überschuss an Kraftwerksleistung der Stromwirtschaft erkennen, sodass Kraftwerkskapazität ungenutzt blieb. Bei der Preußenelektra betraf dies im Herbst 1975 die Kraftwerke Staudinger Block I und II (500 MW), Robert Frank Block I und II (290 MW), Heyden Block I (110 MW) und Pumpspeicherwerke (300 MW), was insgesamt zu einer freien Leistung von 1.300 MW führte. Bei anderen Verbundgesellschaften war die Situation ähnlich.83 Dies hätte 79 80 81 82 83
Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. Juni 1980, E.ON-Archiv München, EEA 608. Erhard Keltsch, „Was nun …?“, anlässlich des DVG Berichts 1975, S. 4, HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, 6037. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. April 1976, S. 5, E.ON-Archiv Düsseldorf, 1/5/39–271. Ebd., S. 5 f. Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 18. November 1975, S. 3, E.ON-Archiv Düsseldorf 1/5/39–270.
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dazu geführt, dass nur die am wirtschaftlichsten arbeitenden Kraftwerke eingesetzt worden wären und vor allem diejenigen stillgestanden hätten, die vorwiegend mit Ruhrkohle betrieben wurden.84 Letztlich waren sinkende Energiebedarfskennziffern für die EVU jedoch ein gehöriges Problem, denn mit Stromzuwachsraten von 3 bis 4 % waren der „Entwicklung der Umsatzerlöse aus Stromverkauf enge Grenzen gesetzt“,85 wie der energiewirtschaftliche Vorstand Ulrich Segatz dem Verwaltungsausschuss der Preußenelektra 1977 mitteilte. Auch bei den RWE stellte man 1980 fest, dass die EVU zwar schon seit 50 Jahren Absatzprognosen erstellten und danach ihre Anlagen planten, dass die Unternehmen aber den „zukünftigen Wiederanstieg der Zuwachsraten auf frühere Höhen für unwahrscheinlich“86 hielten. Gerade wegen des stagnierenden Stromabsatzes bei industriellen Kunden, der sich 1979 nur um 2 bis 2,5 % erhöht habe, sei nicht damit zu rechnen, dass sich die Zuwächse in Zukunft wesentlich erhöhen würden.87 Von Teilen der Industrie wurden die EVU dafür kritisiert, dass sie mit der Rechnung von halbierten Zuwachsraten (3,2 bis 5 % statt 7 % Zuwachs) für den Zeitraum von 1980 bis 1990 die Abwanderung der energieintensiven Industrien ins Ausland hinnehmen würden und das dies für die gesamte deutsche Volkswirtschaft schädlich sei.88 Auch von politischer Seite, und hierbei vor allem vom BMWi, gab es zu Beginn der 1980er-Jahre Signale an die Energieversorger, dass im Ministerium angesichts veränderter Energiebedarfsprognosen ein Umdenken bei der Kraftwerksplanung einsetzte. Grundsätzlich zeigte sich die Politik angesichts sinkender Prognosen und Zuwachsschätzungen besorgt und fragte bei den Energieversorgern nach den Gründen für deren Einschätzung.89 Über diese Nachfrage hinaus erwogen einige Bundesländer, Konsequenzen aus den geringer veranschlagten Prognosen zu ziehen. So wollte beispielsweise der hessische Finanzminister, Heribert Reitz, angesichts der neuen Erkenntnisse über die Entwicklung des Energiebedarfs Standorte für neue Kraftwerke, die man zum Zeitpunkt gänzlich anderer Bedarfsschätzungen festgelegt hatte, nicht weiter vorhalten.90 Auch am Beispiel des geplanten, 84
85 86 87 88 89 90
Siehe ebd. Ein Nebeneffekt dieser Tendenz war, dass dies zu einem mangelnden Absatz von Steinkohle führte, weil die Stahlindustrie als größter Kunde der Ruhrkohle ihre Produktion erheblich eingeschränkt hatte. Die Kohleförderung wurde jedoch trotz dieser Absatzkrise nicht zurückgenommen, sodass sich an Ruhr und Saar Kohlehalden bisher kaum bekannten Ausmaßes gebildet hätten, so Keltsch weiter. Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 6. Juli 1977, S. 3, E.ON-Archiv München, EEA 3275. So die Auffassung von Günther Klätte. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. Juni 1980, S. 12, E.ON-Archiv München, EEA 608. Siehe ebd. Siehe entsprechende Äußerungen vom Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Aluminium Werke (VAW), Rudolf Escherich, auf einer Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra. Ebd., S. 10 f. So z. B. der Ministerialdirektor des BMWi, Hans Tietmeyer, auf einer Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra im Juni 1980. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. Juni 1980, S. 11, E.ON-Archiv München, EEA 608. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 19. August 1982, S. 7, E.ON-Archiv München, EEA 867.
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aber nie realisierten 1.300 MW-Kernkraftwerks im hessischen Borken lässt sich erkennen, dass für die Politik bei der Genehmigung von Kraftwerken die Frage der Stromabsatzprognose immer mehr in den Vordergrund rückte.91 Diese Einschätzung war jedoch bundesweit keinesfalls einheitlich, da die Landesregierungen ganz unterschiedliche energiepolitische Auffassungen vertraten. Damit einher ging die divergierende Genehmigungspraxis für einzelne Kraftwerkstypen. Die Situation wurde durch die großen energiepolitischen Konzeptionsunterschiede zwischen Bund und Ländern weiter verkompliziert. Diese Unterschiede führten in den 1970er- und 1980er-Jahren regelmäßig zu Konflikten zwischen Bund und Ländern. So war man in Bayern bei der Landesregierung wie bei dem staatseigenen Bayernwerk der Meinung, dass die Schätzung des künftigen Energiebedarfs nicht zwangsläufig mit dem Bau neuer Kraftwerke zusammenhinge, wohl aber mit der Reduktion der Erdölimporte. So heißt es anlässlich der Aufsichtsratssitzung des Bayernwerkes im April 1975: „Das bayrische Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr habe erklärt, dass auch ohne Zuwachs der Bau von Kernkraftwerken sinnvoll und richtig sei, denn er trage dazu bei, die Ölabhängigkeit Bayerns zu vermindern.“92 Bernd Lupberger, Vorstand beim Bayernwerk, konstatierte, dass es für Bayern bei der Wahl des Primärenergieträgers auch deshalb keine Alternative zur Kernenergie gäbe, da die Steinkohle in zu weiter Entfernung gefördert würde, die Braunkohlevorräte zur Neige gingen, Erdgas nicht ausreichend zur Verfügung stünde und andere Energieträger, wie Sonne, Wind, Gezeitenhub und Erdwärme, nicht in Betracht kämen.93 Diese Aussagen verdeutlichen ebenfalls, dass Substitutionsprozesse zwischen verschiedenen Energieträgern eine der Schwierigkeiten von Energiebedarfsprognosen darstellte.94 Bei der konkreten Planung von Kraftwerksprojekten spielten Energiebedarfsprognosen jedoch nach wie vor eine wichtige Rolle, wie das Beispiel Brokdorf noch einmal exemplarisch verdeutlichen soll: Im November 1976 wurde für Brokdorf noch mit einer jährlichen Zuwachsrate von 8 % kalkuliert. Dies erforderte die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes für spätestens 1982/83, weil die Unternehmen Nordwestdeutsche Kraftwerke AG (NWK) und Hamburger Electricitäts-Werke AG (HEW) andernfalls nicht genügend Kraftwerksleistung zur Verfügung gehabt hätten. Der tatsächliche Anstieg des Stromverbrauchs betrug jedoch im Zeitraum von 1976 bis 1980 im Durchschnitt nur knapp 5 %, von 1979 auf 1980 gar nur 0,6 %. Daher mussten die Prognosen auf 4 bis 5 % jährlich korrigiert werden, wodurch sich auch der Zeitpunkt der Inbetriebnahme um etwa drei Jahre verschob und sich auf den Winter 1984/85 verlagerte.95 Aus diesem Beispiel wird ersichtlich, wie 91 92 93 94 95
Siehe Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 22. April 1986, S. 5, E.ON-Archiv München, EEA 609. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrates der Bayernwerk AG am 30. April 1975, S. 7, E.ON-Archiv München, EEA 344. Ein Gutachten des DIW kam zu dem Ergebnis, dass für Bayern bis 1985 von einem Bedarfszuwachs von 6,9 % auszugehen sei. Ebd. Dieser Umstand wird in den Kapiteln 1.3 und 1.4 berücksichtigt. Siehe Vorlage für Rudolf von Bennigsen zu Tagungsordnungspunkt 2 „Bauvorhaben Kernkraftwerk Brokdorf“ der Aufsichtsratssitzung der NWK am 14. November 1980, E.ON-Archiv Hannover, Bestand NWK, S. 3 f.
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zentral die Energiebedarfsprognosen für die Unternehmen waren und welche Folgen diese haben konnten. Falls sich Projekte verzögerten – wie in zahlreichen Fällen geschehen – kamen auf die EVU immense Kapitalkosten und Zinslasten zu.96 Trotz veränderter Planungsgrundlagen passten die Unternehmen die Planungen für ihre Kraftwerke nur unwesentlich an, da sie durch die Erfüllung des „gesetzlichen Auftrags eher von dem höheren als von dem niedrigeren Wert ausgingen“.97 Regional war der Bedarf an Kraftwerksleistung höchst unterschiedlich: Während Mitte der 1970er-Jahre für den Norden Deutschlands ausreichend Leistung zur Verfügung stand, war in Süddeutschland ein Mangel zu verzeichnen. Gerade in Bezug auf die Einführung von Nachtspeicherheizungen spielte dies eine große Rolle, denn damit konnten die sogenannten Nachttäler, also die Nachstunden, in der die Kraftwerke wegen geringeren Bedarfs heruntergefahren werden mussten, ausgeglichen werden. Denn für die Energieversorger war eine gleichmäßige Lastkurve über 24 Stunden hinweg, also der kontinuierliche Betrieb eines Kraftwerks, am kostengünstigsten. Durch eine flächendeckende Einführung der Nachtspeicherheizung hätten die Energieversorger drei Probleme auf einmal lösen können: Erstens hätte dies zu einem Ausgleich der Lastkurve in der Nacht geführt.98 Zweitens wäre ein größerer Bedarf an elektrischer Energie entstanden, und man hätte dafür neue Kraftwerke benötigt oder bereits bestehende besser auslasten können. Drittens wäre der Wettbewerb der Energieträger um die Wärmeversorgung der Haushalte durch die Einführung der Elektroheizung zugunsten von Elektrizität und zu Ungunsten von Gas und Öl entscheidend beeinflusst worden.99 Durch die Existenz eines flächendeckenden Verbundsystems, das heißt eines bundesweiten Netzes, konnte Elektrizität auch über regionale Grenzen hinweg ausgetauscht werden, sodass für die gesamte Bundesrepublik kein Kapazitätsmangel bestand. Die Lieferung oder der Austausch von elektrischer Energie über die Grenzen des eigenen Versorgungsgebietes hinaus machte jedoch die Abstimmung mit anderen Energieversorgern erforderlich.100 Diese war in der Praxis zwischen den Unternehmen gang und gäbe und stellte kein entscheidendes Problem dar. 96
Siehe Trenkler, Harro, Betriebswirtschaftliche und energiewirtschaftliche Aspekte von Verzögerungen im Kernkraftwerksbau, in: EWT 27 (1977) 4, S. 261 f. 97 Aktennotiz der HEW vom 29. Januar 1981, Anlage zur Vorlage für Rudolf von Bennigsen zu Tagungsordnungspunkt 2 „Bauvorhaben Kernkraftwerk Brokdorf“ der Aufsichtsratssitzung der NWK am 14. November 1980, E.ON-Archiv Hannover, Bestand NWK, S. 2. 98 Die effizientere Auslastung eigener Kraftwerkskapazitäten war seit den Anfängen der Stromwirtschaft ein zentrales Thema in der Branche. So hatten z. B. die Berliner Elektrizitätswerke bereits in den 1920er-Jahren damit begonnen, Warmwasserspeicheröfen, die nachts das Wasser wärmten, das tagsüber im Bad verbraucht wurde, zu bewerben und zu vermieten. Damit waren die Kraftwerke in der Nacht besser ausgelastet und konnten somit optimal betrieben werden. Siehe Lorkowski, Nina, Managing Energy Consumption. The Rental Business of Storage Water Heaters of Berlin’s Electricity Company from the late 1920 s to the early 1960 s, in: Möllers, Nina / Zachmann, Karin (Hg.), Past and Present Energy Societies. How Energy Connects Politics, Technologies and Cultures, Bielefeld 2012, S. 137–162. 99 Siehe DVG-Mitgliederversammlung am 14. Juli 1976, S. 4, Bedarfsentwicklung, HKR, DVG ab 1. August 1976 bis 31. Dezember 1976, W5–6038. 100 Siehe DVG, Konsequenzen aus den Bauverzögerungen von Kraftwerken am 25. Mai 1979, HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, W5–6040.
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Die Energieversorgungsunternehmen argumentierten beim weiteren Zubau von Kraftwerken auch damit, dass ein Substitutionseffekt zugunsten von Strom, zum Beispiel durch die verstärkte Nutzung von Nachtspeicheröfen, stattfinden würde. Die Nachtspeicherheizung wurde zu Beginn der 1960er-Jahre, z. B. von den RWE, zwar durchaus ambivalent beurteilt, dennoch förderte das Unternehmen die Entwicklung und Anwendung dieser Geräte, weil sie eine gute Möglichkeit darstellten, die Bedarfstäler in der Nacht auszugleichen. Dies geschah u. a. mittels attraktiver Tarife für die Abnehmer von Nachtstrom. Die Nachfrage nach dieser Technologie führte jedoch zum Teil zu Auslastungsproblemen im Kraftwerkspark des Unternehmens.101 Zu Beginn der 1970er-Jahre hatte dies zur Folge, dass die Reklame für die seit den 1960er-Jahren stark beworbene Speicherheizung eingestellt werden musste.102 Spätestens seit Ende der 1970er-Jahre konnte das Unternehmen die Lieferwünsche seiner Kundschaft nach Strom für Nachtspeicheröfen kaum noch erfüllen, weil die einstigen Nachttäler zwischenzeitlich aufgefüllt worden waren.103 In den Führungsetagen der Stromwirtschaft zeigte man sich angesichts dieser Entwicklung durchaus unsicher, wie darauf zu reagieren sei, falls die erhöhte nächtliche Nachfrage Störungen in der Energieversorgung zur Folge hätte. Eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe sollte daher zunächst die juristischen Folgen dieser Entwicklung abklären. Zugleich waren von den Mitgliedsunternehmen bei der VDEW höchst unterschiedliche Wünsche darüber eingegangen, wie dies öffentlich zu kommunizieren sei. Die Bandbreite der Vorschläge reichte dabei von der Änderung der Tarife bis zur Zurückhaltung im Interesse des Branchenimages.104 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Aufgaben der Stromwirtschaft seit Mitte der 1970er-Jahre nicht mehr in einer reinen „Verwaltung“ der nahezu automatisch steigenden Zuwachsraten des Stromverbrauchs bestanden. Vielmehr wurde die Branche mit der Bewältigung von Einflüssen konfrontiert, die nach ihrer Auffassung „von außen“ an sie herangetragen worden waren.105 Führende Protagonisten der Stromwirtschaft nahmen diesen legitimatorischen Transformationsprozess als einschneidend wahr. Das stromwirtschaftliche Handeln wurde nicht nur von neuen Akteuren auf dem Feld der Energiepolitik sowie der Energiewirtschaft zuse101 Siehe Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Braunkohle und Atomeuphorie 1945–1968, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 173–196, hier S. 196. 102 Auch im europäischen Ausland verzeichnete die Nachtspeicherheizung seit Mitte der 1960erJahre starke Zuwächse, wie z. B. in Großbritannien und Norwegen. Siehe Heinemann, Wolf R., Energieverbrauch im Haushalt, Darstellung der Ergebnisse der 8. Weltkraftkonferenz in Bukarest 1971, in: Brennstoff-Wärme-Kraft 24 (1972) 2, S. 45–46. Seit Mitte der 1970er-Jahre hatte auch die stürmische Entwicklung der Speicherheizung der vergangenen zehn Jahre in der Bundesrepublik einen gewissen Abschluss gefunden. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 19. November 1974, E.ON-Archiv Düsseldorf, S. 4. 103 Niederschrift über die Aufsichtsratssitzung des RWE vom 2. Juli 1976, HKR 1983. 104 Niederschrift über die Sitzung des „FA Stromwirtschaft“ am 19. September 1979, HKR, VDEW FA „Stromwirtschaft“ ab August 1978 bis Dezember 1979, 2923. 105 Siehe Keltsch, Erhard, Die deutsche Elektrizitätswirtschaft: Aus der Gegenwartsanalyse zu einem Blick in die Zukunft, in: Elektrizitätswirtschaft 78 (1979), S. 475 ff.; Boeck, Hartmut, Tagesfragen der Elektrizitätswirtschaft, in: Elektrizitätswirtschaft 78 (1979), S. 464 ff.
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hends kritischer hinterfragt, sondern auch von traditionellen Eliten aus Politik und Stromwirtschaft. Die Schwierigkeit bestand offensichtlich nicht nur darin, die geringeren und weniger konstanten Energiebedarfsprognosen in die Unternehmensplanung zu integrieren. Vielmehr bereitete es den Energieversorgern Probleme, über diese in den eigenen Unternehmen und der Branche zu kommunizieren und ein seit Jahrzehnten vorherrschendes Denken aufzubrechen bzw. dies öffentlich zu erklären und zu legitimieren. Möglicherweise hatten die Unternehmen durch die routinemäßige Fortschreibung der Energiebedarfsprognosen über Jahrzehnte hinweg deren Komplexität, Bedeutung und Außenwirkung unterschätzt. Für die Unternehmen war eine Prognose lange Zeit eine aus den Gegebenheiten der Vergangenheit voraussagbare Zukunft, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch so eintreffen würde. Die Struktur von Prognosen besteht jedoch – mit Reinhard Koselleck gesprochen – u. a. darin, dass etwas erwartet werden muss. Auf diese Weise bieten Prognosen stets auch alternativen Möglichkeiten Raum, etwa hinsichtlich einer anderen Entwicklung des Energiebedarfs, da der Wahrscheinlichkeitsgehalt einer Prognose nur erwartet, aber noch nicht erfahren werden kann. Schon eine Prognose zu erstellen – und sei es für die ‚Schublade‘ – heißt in dieser Hinsicht, die Situation zu verändern, der sie entspringt. Die bisherige Erfahrung als Grundlage der Prognose reicht nicht aus, um den neuen Erwartungshorizont präzise zu determinieren.106 Genau davon aber gingen die Energieversorgungsunternehmen über Jahrzehnte hinweg aus und leiteten daraus die Grundlinien für ihr Handeln ab. 1.2 SINKENDER HAUSHALTSSTROMBEDARF ALS ANSTOSS ZUM UMDENKEN BEI DER ENERGIEBEDARFSFRAGE? Schon um 1900 gewann der Haushalt – besonders wegen seines wachsenden Bedarfs an elektrischem Licht – zunehmendes Interesse in der Stromwirtschaft. Spätestens seit Ende der 1920er-Jahre hatte die Branche den Haushalt fast gänzlich erobert, vor allem weil der Wärmemarkt zu einem der wichtigsten Absatzgebiete der Stromwirtschaft zählte. Mit der Werbung für allerlei Haushalts- und Heizgeräte sollten die Lasttäler der Kraftwerke verringert oder nach Möglichkeit gänzlich beseitigt werden.107 Eine der Kernfragen bei der Entwicklung des Strombedarfs war von Anfang an, ob bei Haushalten ein Bedarfszuwachs zu beobachten sei. Vom ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bis weit in die 1970er-Jahre hinein kam dem Haushalt deshalb als Orientierungsmarke für den künftigen Strombedarf eine zentrale Bedeutung zu. Seit den 1950er-Jahren stieg der Stromabsatz in der Bundesrepublik Deutschland mit großen jährlichen Zuwachsraten an. Der Haushaltsstromverbrauch mit seinen 106 Koselleck, Reinhart, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Erfahrung, Frankfurt/M. 1979, S. 349–375, hier S. 359. 107 Siehe Tetzlaff, Sven, „Laß mich rein …!“ Die Eroberung des Haushalts durch die Elektrizitätswirtschaft, in: Museum der Arbeit (Hg.), „Das Paradies kommt wieder …“ Zur Kulturgeschichte und Ökologie von Herd, Kühlschrank und Waschmaschine, Hamburg 1993, S. 10–25.
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damals zweistelligen jährlichen Zuwachsraten hatte – ganz im Gegensatz zum Industrie- und Gewerbestromverbrauch – großen Anteil an dieser Entwicklung. Wenngleich der Anteil des Haushaltsstroms am Gesamtstromverbrauch in der Zeit von 1950 bis 1986 von knapp 7 % auf 25 % gestiegen war, so differenziert sich doch das Bild dahingehend, dass die hohen Zuwachsraten seit Mitte der 1970er-Jahre immer weiter zurückgingen.108 Ergebnisse einer Studie des Fachausschusses Elektrizitätsanwendung der VDEW führten bereits 1974 zu den weitreichenden Schlussfolgerungen, „daß die Haushaltsstrom-Zuwachsraten ohne Heizstromeinfluß seit etwa 20 Jahren ständig zurückgehen“ und auch in Zukunft „zwar nicht mit Nullwachstum, aber doch mit wesentlich geringeren Zuwachsraten zu rechnen ist“.109 Im Bundeswirtschaftsministerium hielt man zu Beginn der 1970er-Jahre den Haushalt – langfristig betrachtet – immer noch für den Bereich mit den höchsten Strombedarfszuwächsen.110 Elektrizitätswirtschaftliche Studien wie die oben genannte teilten diesen Eindruck jedoch immer weniger. So kam die Studie Überlegungen zur künftigen Entwicklung des Stromverbrauchs privater Haushalte in der BRD bis 1985 aus dem Jahr 1975 zu dem Ergebnis, dass der Verbrauch der Haushalte von 1973 bis 1985 nur um rund 4 % p. a. wachsen werde.111 Für die Öffentlichkeit waren die Ergebnisse dieser Studie zunächst nicht bestimmt. Vergleichbare Studien von Zukunftsforschungsinstituten wie Prognos kamen zu ganz ähnlichen Ergebnissen.112 In einer Sitzung der DVG 1975 wurde vor allem darüber diskutiert, wie diese Studie der Öffentlichkeit zu vermitteln sei: „In der vorliegenden Form berge die Studie die Gefahr, daß die Öffentlichkeit, Gerichte und Behörden aus ihr den Schluß ziehen, der Zuwachs begrenze sich auf maximal 4 %, und es bedürfe keiner neuen Kraftwerke. Die Studie muß so formuliert werden, daß der gesamte Verbrauchszuwachs 7 % bleiben wird, daß darin 4 % Zuwachs für die normale Entwicklung im Haushalt enthalten sind und der Rest an 7 % auf Substituierung des Öls durch Kernkraft entfallen.“113 Die Mehrheit der Vorstände anderer Energieversorger befürwortete diesen Kurs. Vor allem sei die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Energieversorger 7 % Steigerung anstreben müssen, um das Energieprogramm der Bundesregierung zu erfüllen, das eine Substitution von Öl fordert. Im Bundeswirtschaftsministerium werde dies genauso gesehen, stellte der Vorstandsvorsitzende Günther Nie108 Siehe Schäfer, Hermann / Herzig, Thomas, Zur Geschichte der deutschen Elektrizitätsversorgung. Ein Überblick, in: Historicum, Frühling 1987, S. 21–25, hier S. 25. 109 Dotzenrath, Wolfgang / Schmidt, Hartmut, Die Entwicklung des Haushaltsstromverbrauchs und seine Beeinflussung durch die Elektroheizung, in: Elektrizitätswirtschaft 73 (1974) 25, S. 743–749, hier S. 749, 743. 110 Siehe u. a. Obernolte, Wolfgang, Entwicklungstendenzen in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft und ihre Konsequenzen für Wirtschaft und Staat, in: ÖTV-Gewerkschaft (Hg.), Dokumentation Energie. Leistungen, Prognosen, Alternativen, Mannheim 1972, S. 133–140, hier S. 133. 111 Überlegungen zur künftigen Entwicklung des Stromverbrauchs privater Haushalte in der BRD bis 1985, HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, 6037. 112 Niederschrift über die Mitgliederversammlung der DVG am 30. Juni 1975, S. 5, HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, 6037. 113 Ebd.
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hage (VEW) fest. Günther Klätte (RWE) erinnerte daran, dass sich die Wirtschaftsinstitute in ihren Prognosen bisher sehr oft getäuscht hätten, das Interesse der Öffentlichkeit an zurückliegenden Prognosen aber offensichtlich so gering sei, dass kaum jemand solche Fehlprognosen nachträglich kommentiere oder kritisiere. Bei einer Fehleinschätzung der Zuwachsrate trügen jedoch nicht die Wirtschaftsinstitute, sondern allein die Unternehmen das Risiko. Die Studien der VDEW und der Prognos AG könnten daher die Energieversorger nicht entlasten, wenn diesen später vorgeworfen würde, nicht genügend Kraftwerke gebaut zu haben. Ein Leistungsüberschuss werfe im Augenblick keine allzu großen Kosten auf, da die Kernenergie teure andere Brennstoffe ersetzen könne. Zu wenig Leistung, so konstatierte Klätte, wäre dagegen eine Katastrophe für die gesamte Wirtschaft und die Verantwortung dafür würde den Energieversorgungsunternehmen voll angelastet werden. Die Mitglieder der DVG votierten am Ende der Mitgliederversammlung im Jahr 1975 gegen die Veröffentlichung der Studie, weil deren Ergebnisse in der Öffentlichkeit undifferenziert interpretiert würden.114 Aufgrund der Brisanz der Zahlen firmierte die Untersuchung in Branchenkreisen damals unter dem Synonym „Panzerschrankstudie“.115 Die Geschichte rund um die Studie genießt bis heute in der Stromwirtschaft einen zweifelhaften Ruf – nicht zuletzt, weil diese erstmals dafür gesorgt hatte, dass die bisher gültige stromwirtschaftliche Faustregel von der Verdopplung des Energiebedarfs in zehn Jahren infrage gestellt wurde.116 Solche Erwägungen kamen nicht von irgendeiner Seite, sondern aus dem Hause RWE und der allgemein anerkannten Abteilung „Anwendungstechnik“. Diese hatte in einer aufwendigen Studie eine Vielzahl von Privatkundenhaushalten untersucht, um herauszufinden, welches Zuwachspotenzial an elektrischer Energie von diesen in Zukunft zu erwarten wäre. Dass das Ergebnis angesichts der allgemeinen Politik der EVU in Bezug auf ihre Zuwachsraten auf Kritik stieß, verwundert kaum. In der Bundesregierung, deren Energieprogramm mit ähnlichen Zuwachsraten rechnete, dürfte man über die Ergebnisse der Studie wenig erfreut gewesen sein. Das Magazin Der Spiegel kommentierte seinerzeit bissig, dass die Prognosen der westdeutschen Elektrizitätswirtschaft ihren eigenen Erkenntnissen widersprechen würden und die VDEW seit 1975 ein Gutachten unter Verschluss halte, das den Kraftwerksbau gravierend beeinträchtigen könne.117 Dieser Unterstellung wider-
114 Siehe ebd. 115 Transkript des Gespräches mit Werner Müller am 4. Juni 2009. Die Studie sollte zwar von der VDEW veröffentlicht werden, entstanden war diese jedoch bei den RWE in der Abteilung „Anwendungstechnik“, die von Bernd Stoy geleitet wurde. 116 Die Gründe für das Infragestellen dieser energiewirtschaftlichen Faustregel scheinen jedoch höchst unterschiedlich zu sein. „In der Stromwirtschaft ging man in früheren Jahren davon aus, daß sich der Absatz ca. alle zehn Jahre verdoppelt. Dies entspricht einem jährlichen Zuwachs von 7 %. Aufgrund der konjunkturellen Entwicklung und vor allem der Entwicklung auf dem Energiemarkt im letzten Jahr wurde davon ausgegangen, daß diese Regel nicht mehr zutrifft“. Siehe Vorlage für Rudolf von Bennigsen zur Aufsichtsratssitzung und Hauptversammlung der Preußenelektra am 1. Juli 1976, S. 2, E.ON-Archiv München, EEA 608. 117 Knick in der Kurve, in: Der Spiegel 15 (1977).
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sprach die VDEW in einer Pressemeldung vehement.118 Im Verband machte man sich über die „einseitige Kampagne des Spiegels gegen die deutsche Elektrizitätswirtschaft“,119 die seit Beginn des Jahres geführt werde, intensiv Gedanken. In einem Beitrag des Magazins werde aus der unveröffentlicht gebliebenen Untersuchung des VDEW-Arbeitsausschusses „Marktforschung – Elektrizitätsanwendung“120 des Jahres 1975 über die künftige Entwicklung des Haushaltsstromverbrauchs zitiert. In diesem Artikel werde der Elektrizitätswirtschaft der Vorwurf gemacht – so die Interpretation der VDEW – sie habe die Bundesregierung mit ihren Prognosen über das zu erwartende Ansteigen des Energiebedarfs hintergangen. Beim Verband waren daraufhin Anfragen, beispielsweise von Bundesforschungsminister Hans Matthöfer, dem Bundeswirtschaftsministerium und verschiedenen Länderministerien, eingegangen, die um eine Zusendung dieser Studie baten. Damit sah man bei der VDEW frühere Befürchtungen bestätigt, dass Schwierigkeiten bezüglich des Kraftwerksausbaus entstehen könnten, wenn die damals diskutierten Untersuchungsergebnisse veröffentlicht würden. Der Kampagne des Spiegels sei nicht durch eine direkte Einflussnahme auf die Zeitschrift oder deren Herausgeber zu begegnen, da diese wenig Erfolg versprechend sei. Vielmehr könne dieser tendenziösen Berichterstattung – so die Strategie der VDEW – vor allem durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit ohne direkte Bezugnahme auf den Spiegel entgegengewirkt werden.121 Für weite Teile der Öffentlichkeit musste es so aussehen, als ob man in den Unternehmen schon viel früher zur Erkenntnis sinkender Bedarfsprognosen gekommen sei, diese jedoch weder weitergegeben noch in den Planungen berücksichtigt hatte. Das Verhalten der Stromwirtschaft in dieser Frage zeigt die bereits erwähnte Ambivalenz, mit der sich die Unternehmen konfrontiert sahen: einerseits für Versorgungssicherheit zu sorgen, ja gesetzlich dazu verpflichtet zu sein und sich andererseits Planungsgrundlagen anzupassen sowie diese gegenüber Politik, den Aktionären und der Öffentlichkeit zu vertreten. Die Auswirkungen der veränderten Energiebedarfsprognosen wurden intern so intensiv wie niemals zuvor diskutiert.122 „Es ist offenkundig“, heißt es anlässlich einer Verbandssitzung, „daß diese Prognosen heute nicht mehr uneingeschränkt gelten. Daher ist eine Neuberechnung erforderlich, da der VDEW sich den Fragen nach den Erwartungen der Elektrizitätswirtschaft über die künftige Entwicklung nicht entziehen kann.“123 Die Kommunika118 Pressemitteilung VDEW zu Stromprognosen, HKR, VDEW „FA Stromwirtschaft“ vom 1. Januar 1976 bis 24. Juni 1977, 2921. 119 Ergänzender Bericht des Geschäftsführers zur Vorstandsratssitzung der VDEW am 18. April 1977, S. 11 f., HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 120 Dieser Ausschuss hatte ganz wesentlich das sogenannte DOSTA-Verfahren (Demografisch orientierte Strukturanalyse) entwickelt und benutzt. Bei dieser Methode wurde eine Befragung größerer Kundengruppen sowie ihrer Verbrauchswünsche mit einer Strukturanalyse des zu erwartenden Verbrauchsverhaltens verbunden. 121 Ergänzender Bericht des Geschäftsführers zur Vorstandsratssitzung der VDEW am 18. April 1977, S. 11 f., HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 122 Sitzung des Vorstandsrates der VDEW am 1. Oktober 1975, „Künftige Entwicklung des Stromabsatzes“, S. 2 f., HKR, VDEW-Vorstandsrat von Oktober 1974 bis Dezember 1975, 2928. 123 Ebd.
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tion der Prognosewerte bedürfe anderer Prämissen gerade in Hinsicht auf die weitreichenden energiepolitischen Konsequenzen, die sich aus der Änderung der Prognosewerte ergäben. So sei künftig zu argumentieren, dass neben der Verminderung des Wirtschaftswachstums vor allem strukturelle Effekte (Abnahme des Bevölkerungswachstums und damit neuer Haushaltsanschlüsse oder einer unterdurchschnittlichen Entwicklung der stromintensiven Industrien im Vergleich zur gesamten Wirtschaftsentwicklung) die Verringerung der Stromzuwachsraten bewirkten. Auch die Substitution von Mineralöl hin zu Strom, insbesondere beim Heizen, solle stärker in die Argumentation einfließen. Die bisherige Korrelation zwischen realem Wirtschaftswachstum und Stromverbrauch, nämlich die Annahme, dass der Stromverbrauch in der Regel um 3 bis 4 % über dem Wachstum des realen Bruttosozialprodukts liege, gelte für die Energieversorger zwar weiterhin, jedoch sei in den kommenden 10 bis 20 Jahren mit einer schwächeren gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen, sodass sich daraus geringere Zuwachsraten beim Stromverbrauch ergeben würden.124 Das Prognoseergebnis der 1975 erschienenen Haushaltsstromstudie war in der Stromwirtschaft sehr umstritten.125 Vor allem die Frage, welcher Bereich – ob Haushalt, Industrie oder Handel und Gewerbe – in Zukunft die höchsten Stromzuwachsraten verzeichnen werde, bewerteten einzelne Unternehmen höchst unterschiedlich.126 Dies verwundert kaum, denn die Versorgungsgebiete der Energieversorger wiesen unterschiedliche Kundenstrukturen auf. Vor allem die Sättigung mit Haushaltsgeräten und die Zahl der zu versorgenden Haushalte würden in Zukunft stagnieren, signalisierte Werner Müller im Februar 1977 seinem Chef Günther Klätte bei den RWE. Dies hätte zur Folge, dass die Zuwachsraten im Haushaltsstrombereich von über 10 % der Vergangenheit angehörten.127 Ohne Bedenken hatte man auch die 1977er-Variante der Prognose nicht veröffentlicht. Da es Vorbehalte gegen einige Formulierungen gegeben hatte, wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die diese ausräumen sollte. Die zu diesem Zeitpunkt schon in 800 Exemplaren vorliegende Version könne in dieser Form nicht der Öffentlichkeit vorgelegt werden, hieß es innerhalb des Verbandes. Einigkeit bestand darin, dass die Bundesregierung und weitere öffentliche Stellen unverzüglich über das Ergebnis dieser Studie durch Zusammenfassungen informiert, die bereits gedruckten 800 Exemplare jedoch eingestampft werden sollten.128 Das Potenzial für Missverständnisse, die die Studie hervorrufen könnte, wurde auch dieses Mal vor allem für den Zusammenhang zwischen Energiebedarfsprognosen und dem weiteren Zubau von Kraftwerksleistung besonders hoch eingeschätzt. „Gerade hier wür-
124 Siehe ebd. 125 Neufassung der „Überlegungen zur Entwicklung des Haushaltsstrombedarfs“ in: Sachstandbericht des VDEW-Vorstandsrates zur Sitzung am 18. Oktober 1977, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 126 Niederschrift über die Außerordentliche Mitgliederversammlung der DVG am 19. April 1977, S. 5, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 127 Müller, Werner / Stoy, Bernd, Bemerkungen zu dem Vorschlag progressiver Haushaltstarife, S. 1, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1976/77, 2727. 128 Ebd. S. 3 f.
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den wahrscheinlich die Kernkraftwerksgegner ansetzen“,129 schrieb Wilm Tegethoff (Geschäftsführer der VDEW) in einem Brief an Wolfgang Dotzenrath (Vorstand der Deutschen Continental-Gas-Gesellschaft): „Bisher konnten wir darauf verweisen, daß die geplanten Kernkraftwerke notwendig sind, um die an die Elektrizitätswirtschaft gestellten Anforderungen zu befriedigen. Die vorzitierte Feststellung in der Studie würde aber mit Sicherheit dahingehend kommentiert, daß die Elektrizitätswirtschaft offenbar auf dem Heizsektor expandieren will und muß, um die geplante Kraftwerksleistung überhaupt ausnutzen zu können.“130 Noch zwei Jahre nach Erscheinen der Studie meinte der damalige Bayernwerksvorstand Hans Heitzer, dass die Studie aus dem Jahre 1975 zur künftigen Entwicklung des Haushaltsstromverbrauchs die argumentative Stellung der VDEWArbeit in puncto Stromverbrauchsentwicklung sehr beeinträchtigt habe. Die Stromwirtschaft könne nicht, so Heitzer weiter, einerseits von einer Lücke in der Stromerzeugung für die 1980er-Jahre sprechen und andererseits Produktinformation betreiben, die in der Öffentlichkeit als Werbung für Stromverbrauch gewertet werde. Von einem Energieversorger im Süden Deutschlands wurde diese Auffassung geteilt und dahingehend ergänzt, dass der SPD-Landesvorsitzende Erhard Eppler unter Bezugnahme auf die VDEW-Studie über den Haushaltsstrom in der Öffentlichkeit die Notwendigkeit des Baues von Kernkraftwerken bezweifle.131 Tatsächlich wurden die Prognosen vielfach von allen Beteiligten dazu genutzt, die eigene Argumentation zu stützen. Doch auch wenn die Haushaltsstromprognosen heiß diskutiert wurden: Der Verbrauch privater Haushalte machte faktisch nur rund ein Viertel des gesamten Stromverbrauchs der Bundesrepublik aus. An ihm konnte zwar einerseits die Sättigung der Stromnachfrage zu dieser Zeit prägnant abgelesen werden, andererseits unterschied sich der Haushalt in seinen Nachfragemustern jedoch stark von anderen Verbrauchsgruppen (z. B. der Industrie).132 Doch nicht nur die Kommunikation des angenommenen Energiebedarfs stellte die Stromwirtschaft vor neue Herausforderungen, sondern vor allem sein immer wahrscheinlicher werdendes Sinken. Auch hier spielte, ähnlich wie schon bei den Nachtspeicheröfen, die verstärkte Elektrizitätsanwendung im Haushalt eine wichtige Rolle. Nach dem Motto „Immer weniger Strom je Anwendung und immer mehr Anwendungen mit Strom“ hatte die Abteilung „Anwendungstechnik“ der RWE eine Strategie entwickelt, die die Substitution weg von Öl und Gas hin zu Elektrizität, nicht nur beim Heizen, förderte. Trotz der erwarteten Zunahme von Stromanwendungen führten die Prognosen aber zu dem Ergebnis, dass sich der 129 Brief von Wilm Tegethoff (Geschäftsführer der VDEW) an Wolfgang Dotzenrath (Vorstand der Deutschen Continental-Gas-Gesellschaft) vom 12. Juni 1975, S. 3, HKR, VDEW-Vorstandsrat von Oktober 1974 bis Dezember 1975, 2928. 130 Siehe ebd. 131 Niederschrift der Vorstandsratssitzung der VDEW am 18. April 1977, S. 7 f., HKR, VDEWVorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. Siehe dazu auch: Eppler, Erhard, Ende oder Wende? Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart u. a. 1975, S. 86 ff. Siehe auch Tabelle 2 im Anhang. 132 Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) (Hg.), Überlegungen zur künftigen Entwicklung des künftigen Stromverbrauchs privater Haushalte in der Bundesrepublik bis 1990, Frankfurt/M. 1977, S. 10.
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jährliche Zuwachs des Stromverbrauchs verringern werde. Der im RWE-Vorstand für den Bau und Betrieb der Kraftwerke zuständige Heinrich Mandel prüfte die Prognosen und kam zu dem Schluss, dass das Unternehmen zwar für die „jederzeit sichere, ausreichende und preisgünstige Stromversorgung“ verantwortlich sei, jedoch der Auftrag „jederzeit preisgünstig“ bei Überkapazitäten im Kraftwerksbereich nicht mehr erfüllt werden könne. Von noch größerer Bedeutung allerdings war der Auftragsbestandteil „jederzeit ausreichend“. Deshalb entschied Mandel, bis zum Beweis des Gegenteils die Planungen für den Zubau von Kraftwerksleistung auf der Grundlage eines Zuwachses von 7 % p. a. beizubehalten und nur bei Eintreten der Prognose der RWE-Anwendungstechnik sofort entsprechende Maßnahmen zur Streckung der Zubaupläne zu ergreifen. Damit war das Unternehmen auf die sich nach kurzer Zeit anbahnende Situation der relativen Verringerung des Stromverbrauchszuwachses relativ gut vorbereitet.133 Mit der Haushaltsstromstudie war indes noch ein anderes zentrales Problem bei der Erstellung von Energiebedarfsprognosen offensichtlich geworden, nämlich der Zusammenhang zwischen Energiebedarf und Wirtschaftswachstum. Zu einer plötzlichen und völligen Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energiebedarf käme es zwar nicht, konstatierte die Studie der VDEW 1977, wohl aber zu einer Verringerung der Parallelentwicklung zwischen beiden Bezugsgrößen.134 Gerade Mitte der 1970er-Jahre hatte es eine intensive wirtschaftswissenschaftliche wie öffentliche Debatte um die „Entkopplung“135 von Wirtschaftswachstum und Stromverbrauch gegeben. Der den Bericht des Club of Rome, die Grenzen des Wachstums, prägende Gedanke der Endlichkeit von Ressourcen und wirtschaftlichen Wachstums war keinesfalls neu. Neu war dagegen die Verbindung zu den Energiebedarfsprognosen und damit letztlich die Infragestellung ihrer bisherigen Berechnung. Diese bestand in der Annahme, dass die Entwicklung beider Kennziffern unmittelbar zusammenhinge und parallel verlaufe. Auch andere Prognosemodelle, zum Beispiel das „Deutschland-Modell“ von Eduard Pestel, gingen davon aus, dass die Kurven von Energiebedarf und Wirtschaftswachstum in Zukunft nicht mehr zwangsläufig gleich verlaufen müssten.136 Bisher hatte man in der Stromwirtschaft solche Auffassungen als Schriften von linken Kritikern und Wissenschaftlern abtun 133 Siehe Transkript des Gepräches mit Dr.-Ing. Bernd Stoy am 24. August 2009. 134 Ebd., S. 9. Auch bei der DVG kam man zu ähnlichen Schlussfolgerungen, wie eine von den RWE in Auftrag gegebene Studie belegt. Siehe Analyse des Zusammenhangs zwischen BSP und Stromverbrauch, Brief der RWE an die DVG zur Verteilung im Ausschuss „Wirtschaft und Betriebe“ vom 25. November 1977, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 135 Siehe u. a. Neu, Axel D., Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch – eine Strategie der Energiepolitik? Kiel 1978; Schmitt, Dieter / Schürmann, Heinz Jürgen, Die unterstellte Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energiebedarf – keine neue Alternative, in: Energiewirtschaft 2 (1978), S. 147–155; Horn, Manfred, „Entkopplung“ von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch – eine neue Strategie der Energiepolitik oder nur ein Schlagwort?, in: EWT 29 (1979) 3, 1979, S. 144–152; Michaelis, Hans, Handbuch der Kernenergie. Kompendium der Energiewirtschaft und Energiepolitik, Bd. 1, Düsseldorf 1982, S. 167 ff. 136 Pestel, Eduard u. a., Das Deutschland-Modell, Herausforderungen auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 146.
1.2 Sinkender Haushaltsstrombedarf als Anstoß zum Umdenken?
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können.137 Doch nun kam aus der Energiewirtschaft selbst eine durchaus differenzierte Argumentation. Mit dem Buch Entkopplung. Wirtschaftswachstum ohne mehr Energie? hatten der Direktor des Bereichs „Energieanwendung“ Bernd Stoy und sein Mitarbeiter Werner Müller nicht nur vielen Energiebedarfsprognosen die Grundlage entzogen, sie bezweifelten nun auf theoretischer Ebene, dass es in Zukunft noch einen zwingenden Zusammenhang zwischen Energiebedarf und Wirtschaftswachstum gebe. Allerdings war die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energiebedarf nach Meinung der beiden Autoren allzu oft missverstanden worden. Denn trotz der möglichen Entkopplung beider Faktoren vertraten Stoy und Müller die Ansicht, dass über die Einführung von Anwendungstechnik (Wärmepumpen etc.) in Zukunft ein größerer Energiebedarf notwendig werden würde. Denn diese Technologien zur Energieeinsparung funktionierten primär über Elektrizität.138 Nicht ganz zufällig waren diese beiden auch die Autoren der oben erwähnten Haushaltsstromstudie. Stoy und Müller kommentierten Entstehungsprozess und Diskussionsverlauf rund um Prognosen für den künftigen Energiebedarf folgendermaßen: „Die Energiebedarfsprognosen werden von wirtschaftswissen137 Alternative Energieszenarien häuften sich seit Mitte der 1970er-Jahre. Im Jahr 1977 hatte die evangelische Studiengemeinschaft Heidelberg eine entsprechende Studie vorgelegt. Auch das bereits von Eduard Pestel vorgelegte „Deutschland-Modell“ fällt in diese Kategorie, allerdings ohne sich klar für oder gegen die Nutzung der Kernenergie auszusprechen. Besondere Aufmerksamkeit erlangten die Studien von Erhard Eppler und der 1980 vom Öko-Institut Freiburg vorgelegte Bericht zur „Energiewende“. Die beiden Letzteren wurden von der Elektrizitätswirtschaft vor allem wegen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit und politischen Bedeutsamkeit besonders wahrgenommen. Eppler war immerhin Fraktionsvorsitzender der SPD im badenwürttembergischen Landtag und die Gutachten des Öko-Instituts wurden auch von etablierten politischen Parteien ernst genommen. Siehe Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Alternative Möglichkeiten für die Energiepolitik, Heidelberg 1977; Krause, Florentin / Bossel, Hartmut / Müller-Reißmann, Karl-Friedrich, Energie-Wende. Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran. Ein Alternativ-Bericht des Öko-Instituts Freiburg, Frankfurt/M. 1980; Eppler, Erhard, Ein Alternativszenarium zur Energiepolitik: Strom für morgen, bessere Energienutzung in einer ökologisch und sozial verträglichen Energieversorgung, in: Die Neue Gesellschaft 26 (1979) 2, S. 796–802. Entsprechende Reaktionen aus Energiewirtschaft und Politik ließen nicht lange auf sich warten. Und so veröffentlichten ein Mitarbeiter des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums und späterer Hauptgeschäftsführer der VDEW, die Energieversorger des Landes sowie die Kernforschungsanlage Jülich entsprechende Schriften, die sich kritisch mit den Thesen Epplers auseinandersetzten. Siehe Grawe, Joachim, Energiesparen und Kernenergie, Alternativen oder Elemente einer „gemischten“ Energiepolitik?, in: ZfE (1979) 4, S. 238–251; Stellungnahme der EVS, TWS und der Neckarwerke, „Ein Alternativ-Szenarium zur Energiepolitik“. Mehr Wunsch statt Wirklichkeit: Epplers Energie-Alternative auf dem Prüfstand, Stuttgart Juni 1979; Schmitz, Kurt / Voss, Alfred, Ein Alternativszenarium zur Energiepolitik? Analysen, Fragen und Anmerkungen zu dem von Erhard Eppler vorgelegten „Alternativszenarium zur Energiepolitik“, Jülich 1977. 138 Siehe Müller, Werner / Stoy, Bernd, Entkopplung. Wirtschaftswachstum ohne mehr Energie?, Stuttgart 1978, S. 124–159. Die Wärmepumpe erlebte in dieser Zeit einen regelrechten Siegeszug, weil diese als energiesparende Alternative für die Warmwasserbereitung im Haushaltsbereich galt. So bekannten sich beispielsweise Bundesverteidigungsminister Hans Apel und Erhard Eppler öffentlich zur Anschaffung einer Wärmepumpe für ihren Privathaushalt. Siehe Heiße Ware aus Wasser, Luft und Erde. Wird die Wohnung mithilfe der „Ölspar-Maschine“ Wärmepumpe wieder preiswert warm?, in: Der Spiegel, Nr. 43, 20. Oktober 1980, S. 110–122.
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schaftlichen Instituten gemacht, auf der Basis der traditionellen Erfahrung. Die Bundesregierung übernimmt diese Prognosen und vertritt sie nach außen. Mit der Zeit werden Zweifel laut, die Energiediskussion verschärft sich. Einzelne Unternehmen und Verbände unterstreichen die Prognosen, um der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Die Regierung fühlt sich in diesen Prognosen bestätigt und meldet dies den Instituten weiter, die das auch selbst schon von Verbänden erfahren haben.“139 Beide entwarfen damit ein durchaus pessimistisches Bild davon, wie Energiebedarfsprognosen in aller Regel zustande kamen. Dass ihr Buch bei den RWE nicht ausschließlich Freude ausgelöst haben dürfte, versteht sich von selbst. Vor dem Erscheinen des Buches setzte man sich im RWE-Vorstand dann auch intensiv mit der Publikation auseinander, das heißt, jeder Vorstandsbereich fertigte entsprechende Stellungsnahmen an. Erst gegen Mitte der 1980er-Jahre setzte sich in weiten Teilen der Stromwirtschaft die Erkenntnis durch, dass in Zukunft, bedingt durch strukturelle Veränderungen der Wirtschaft und einen rationelleren Energieeinsatz, die Kopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch nicht mehr notwendigerweise gegeben sein werde.140 Gleichwohl bildete das Wissen über Kausalzusammenhänge im Energiebereich weiterhin eine wichtige Orientierungsgrundlage für unternehmerische Entscheidungen.141 Mit ständig aktualisierten Planungsziffern für den Energiebedarf versuchte man bei der Deutschen Verbundgesellschaft Informationen darüber zu sammeln, wie man in Zukunft die Kapazitäten beim Zubau von Kraftwerken zu gestalten habe. Die Schwierigkeit, aus relativ kurzfristigen Prognosen eine Früherkennung für den künftigen Energiebedarf abzuleiten, kollidierte mit dem Wissen, dass erst mittels langfristiger Prognosen ein gewisser Grad an Planungssicherheit generiert werden könne. Für Mitte der 1980er-Jahre lässt sich feststellen, dass die Unternehmen der Stromwirtschaft die geringeren Zuwachsraten im Blick hatten und entsprechende Planungsszenarien in der Schublade lagen. So setzte sich bei den Energieversorgern zunehmend die Erkenntnis durch, dass bei der Ausbauplanung für Kraftwerke nicht mehr ausschließlich die Trendextrapolation von Vergangenheitswerten die wichtigste Bestimmungsgröße sein konnte. Vielmehr müsse geklärt werden, ob bestimmte Entwicklungen zum Beispiel auf kurzfristige konjunkturelle Einflüsse oder langfristige strukturelle Ursachen zurückzuführen seien.142 Trotz dieser nie abschließend zu beantwortenden Frage entwickelten die Unternehmen eine starke Sensibilität im Umgang mit den Grundlagen der Bedarfsprognosen. 139 Müller, Werner / Stoy, Bernd, Entkopplung. Wirtschaftswachstum ohne mehr Energie?, Stuttgart 1978, S. 114. 140 Trenkler, Harro, Die Erfolge der Marktwirtschaft erfordern keine Eingriffe. Neue Einflüsse auf die Entwicklung der Kraft- und Wärmewirtschaft, in: EWT 36 (1986) 1, S. 9–20, hier S. 18. 141 Jochem, Eberhard, Der Ruf der Energiebedarfsprognosen – ein Ergebnis von Mißverständnis, Unterlassungen, personellen Gegebenheiten und institutionellen Rahmenbedingungen, Karlsruhe 1983, S. 9. 142 Oberlack, Werner, Ausbauplanung der Erzeugungs- und Verteilungsanlagen in einem Elektrizitätsversorgungsunternehmen, in: Energiewirtschaftliches Institut Köln (Hg.), Planung in der Energiewirtschaft. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 20. Arbeitstagung am 7. und 8. März 1978 in der Universität zu Köln, München 1978, S. 169–186, hier S. 176.
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Angesichts der veränderten Prognosen war man bei der DVG vor allem wegen der angemessenen „Sprachregelung“ gegenüber der Öffentlichkeit besorgt. Kurzfristige Zuwachsraten, so der Tenor, dürften dabei nicht der Maßstab für langfristige Planungen sein. Die Energieversorger befanden sich hier tatsächlich im Zwiespalt zwischen kurz- und langfristiger Planung ihrer Erzeugungsanlagen. Seit 1950 war der Strombedarf im Haushaltsbereich mehr als 20 Jahre lang auf hohem Niveau gewachsen, bis 1973 ein jäher Abfall erfolgte. Die Zeitgenossen sahen sich also vor allem mit der Frage konfrontiert, ob es sich um einen einmaligen Einbruch handelte. Was sollte die Stromwirtschaft tun und in ihre Pläne hineinschreiben, fragten auch Werner Müller und Bernd Stoy: „Eine Fortschreibung dessen, was Jahrzehnte galt, oder eine Fortschreibung dessen, was seit zwei, drei Jahren aus nicht recht erklärlichen Gründen zu beobachten war?“143 Unabhängig von der Antwort auf diese Frage müsse man, so meinten die EVU, vor allem auf die exakte Wortwahl in der Öffentlichkeit achten, weil kurzfristige Einbrüche bei den Zuwachsraten des Stromverbrauchs Anfang 1974 „mehr als die Einbrüche in früheren Jahren die Öffentlichkeit zweifeln lassen, ob die Kraftwerksbauprogramme nicht überzogen sind.“144 Wie bereits im vorangegangenen Kapitel verdeutlicht, hatten sich die Planungszeiträume aufgrund von Klagen und häufig daraus resultierenden Baustopps noch zusätzlich verlängert. Mithilfe von Prognosen konnten, wie seit Mitte der 1970er-Jahre immer deutlicher wurde, ohnehin nur Tendenzen ermittelt werden, die einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit aufwiesen.145 Die Schwierigkeiten bei der Erstellung von Energiebedarfsprognosen bestanden vor allem darin, dass Prognosen mit aktuellem und zeitnah erhobenem Zahlenmaterial bestückt wurden, jedoch aussagekräftig für einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren sein sollten.146 Prognosen wurden zusehends kritischer hinterfragt und auf ihre Funktionalität geprüft. Der eigentliche Wert von Prognosen, so der wissenschaftliche Tenor, bestünde nicht darin, die Zukunft vorwegzunehmen, sondern brauchbare Entscheidungshilfen für anstehende Entscheidungen zu liefern. Im Vordergrund sollte nun nicht mehr wie bisher der Erfolg, sondern der Informationsnutzen im Mittelpunkt stehen.147 Dies sollte mittels einer „systematischen Zukunftsanalyse“ geschehen, um Unsicherheiten, die der Prognose ohnehin innewohnten, durch die Einbeziehung alternativer 143 Müller, Werner / Stoy, Bernd, Entkopplung. Wirtschaftswachstum ohne mehr Energie?, Stuttgart 1978, S. 101. 144 Siehe Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses „Wirtschaft und Betrieb“ vom 10. November 1975, HKR, DVG ab 1. April 1975 bis 31. Juli 1976, W5–6037. 145 Siehe Schnell, Peter, Energiebedarfsprognosen in der Elektrizitätswirtschaft und ihre praktische Nutzanwendung, in: Elektrizitätswirtschaft 76 (1977) 16, S. 521–530; Rasokat, Horst, Trendanalysen und Trendprognosen in der Elektrizitätswirtschaft, in: Elektrizitätswirtschaft 75 (1976) 7, S. 158–167. 146 Sandner, Norbert, Die Grenzen der mittel- und langfristigen Prognosen des Energieverbrauchs, in: Glückauf 108 (1972) 24, S. 1147–1160, hier S. 1149 f. 147 Dennoch dürfte der Erfolg bzw. das Eintreten bestimmter Prognosen wichtig für die Energieversorger gewesen sein. Daher untersuchten Energiewirtschaftler vergangene Energiebedarfsprognosen auf ihre Eintrittswahrscheinlichkeit und „Treffgenauigkeit“. Siehe Bohnen, Ulrich / Schneider, Hans K., Erfolgskontrolle ausgewählter Energiebedarfsprognosen der Vergangenheit (1960–1973), München 1979, S. 5 f.
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Entwicklungen abzufedern.148 Dieses Vorgehen hatte die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik mit ihren vier verschiedenen Energiepfaden zu Beginn der 1980er-Jahre bereits erprobt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es für die Umsetzung alternativer Pfade in die unternehmerische Planung für Kraftwerksvorhaben sicher eines starken politischen Willens bedurft hätte. Die Entscheidung, welches Kraftwerk gebaut werden sollte, musste aber letztlich in den Unternehmen selbst gefällt werden. Damit soll keinesfalls unterstellt werden, dass es sich bei der Enquete-Kommission um ein entscheidungsschwaches Gremium gehandelt hat. Dies wurde in der Forschung mittlerweile kenntnisreich widerlegt.149 Die vier von der Kommission vorgeschlagenen Pfade zukünftiger Energiepolitik blieben auch in den Jahren nach dem Bericht ein wichtiger Referenzpunkt, vor allem im parlamentarischen Energiediskurs. Schon zu Beginn der 1960er-Jahre hatte eine Enquete-Kommission gezeigt, dass die Zusammensetzung des Energiebedarfs eine zentrale Rolle für die künftige Struktur der Energiewirtschaft spielen würde.150 Es soll aber auch nicht behauptet werden, dass Energieversorger immer idealtypisch nach ökonomischen Rationalitätskriterien gehandelt hätten. Kostenfragen waren beim Bau von Kraftwerken ein zentraler Orientierungspunkt. Diese wurden allerdings weniger berücksichtigt, wenn politische Rahmenbedingungen den Bau eines bestimmten Kraftwerkstyps erforderten. Die Stromwirtschaft erhoffte sich durch ihr Entgegenkommen Zugeständnisse von Bundes- und Landespolitik bei anderen Themen. Diese von ökonomischen Überlegungen getriebene Strategie zielte darauf ab, leichter mit politischen Entscheidungsträgern über die Subventionierung der Kohleverstromung, des Kernkraftwerksbaus oder der Kosten für die Luftreinhaltung ins Gespräch zu kommen. Nur auf diese Weise ist zu erklären, weshalb die Stromwirtschaft ihre standhafte Weigerung, die sinkenden Prognosen zu akzeptieren, vermeintlich einfach preisgab. Dennoch besteht ein Unterschied darin, ob eine Enquete-Kommission eine politische Empfehlung aussprechen soll oder ob ein Unternehmen anhand von Energiebedarfsprognosen die Ausrichtung seiner künftigen Investitionen bestimmt. Bereits Ende der 1960er-Jahre hatte es Versuche zur Methodenverfeinerung der Energiebedarfsprognosen gegeben, die das Ziel hatten, deren Genauigkeit und Verlässlichkeit zu verbessern. Dies brachte jedoch nur geringen Erfolg. Selbst die ständige Aktualisierung des Zahlenmaterials sowie die Verbesserung der statistischen Ausgangsdaten konnten Energiebedarfsprognosen zwar zuverlässiger gestalten, aber von einem grundsätzlichen Problem nie ganz befreien: der grundsätzlichen Abhän148 Siehe Voß, Alfred, Energieprognosen – Überflüssig oder notwendig?, in: Brennstoff-WärmeKraft 35 (1983) 5, S. 215–221; Schneider, Hans Karl / Bohnen, Ulrich, Systematische Energiemodelle versus bedingte Energieverbrauchsprognosen, in: ZfE (1980) 1, S. 1–13. Zur Kritik an dieser Methode siehe Jochem, Eberhard, Der Ruf der Energiebedarfsprognosen – ein Ergebnis von Mißverständnis, Unterlassungen, personellen Gegebenheiten und institutionellen Rahmenbedingungen, Karlsruhe 1983. 149 Siehe Altenburg, Cornelia, Kernenergie und Politikberatung. Die Vermessung einer Kontroverse, Wiesbaden 2010. 150 Wessels, Theodor, Struktur und Entwicklungstendenzen der deutschen Energiewirtschaft in der Sicht der Enquete-Kommission, in: Energiewirtschaftliches Institut Köln (Hg.), Die EnergieEnquete: Ergebnisse und wirtschaftliche Konsequenzen, München 1962, S. 12–25, hier S. 13.
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gigkeit von zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklungen.151 Dieser Umstand hat sich in der Stromwirtschaft – die sich in ihrem Selbstbild deshalb als besondere Branche begreift – als Mentalität und Berufsethik niedergeschlagen. Sie wird von der Überzeugung genährt, dass die ausreichende Verfügbarkeit von elektrischer Energie die Grundvoraussetzung für Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum bildet. Aus dieser Perspektive wurde elektrische Energie und damit in gewisser Weise auch die Stromwirtschaft von ihren Protagonisten als für die Industriegesellschaft elementar wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Ablehnung der Studien verstehen, die einen geringeren Energiebedarf konstatierten. Einzelne Energieversorger versuchten, durch die Aufteilung in Kundensegmente zu verlässlicheren Energiebedarfszahlen zu gelangen. Für den Haushaltsbereich etwa versuchte man, das Problem der großen aggregierten Daten durch eine kleinteiligere Analyse und Befragung der Haushaltsstromkunden im eigenen Versorgungsgebiet zu lösen.152 Die bereits oben erwähnte RWE-Studie ging nach diesem Modell vor und sammelte mittels Befragung eine Vielzahl von Informationen über die Stromverbrauchsgewohnheiten von Haushalten. Auf Grundlage dieser Informationen kam man erst zu dem Ergebnis der geringeren Zuwachsraten und irritierte damit die energiewirtschaftliche Fachwelt und Öffentlichkeit. Andere Energieversorger, wie zum Beispiel die Energieversorgung Schwaben AG (EVS), gingen ähnlich vor, um exaktere Zahlen über den Energiebedarf der Haushalte zu erhalten. Dabei untersuchte man die Haushaltsgröße, den Elektrifizierungsgrad (sogenannte Gerätesättigung) und die Verbrauchsgewohnheiten. Unter Einbeziehung der Bevölkerungsentwicklung kam die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sich durch die Sättigung des Haushalts mit stromintensiven Geräten der Bedarf der Haushalte in Zukunft nur noch moderat entwickeln werde. Lediglich die Erweiterung von elektrischen Speicherheizgeräten und der verstärkte Einsatz von Wärmepumpen könnten in Zukunft zur Ausweitung des Haushaltsstrombedarfs führen.153 Die Aufschlüsselung der Meta- und Großprognosen, die mit aggregierten Daten für Bruttostromverbrauch und Primärenergiebedarf für ein konkretes Versorgungsgebiet rechneten, führte in Teilen der Energiewirtschaft zu der Erkenntnis, dass die Zuwachsraten in Zukunft geringer ausfallen würden. Doch auch für den Haushaltsbereich war man sich von wirtschaftswissenschaftlicher Seite nicht sicher, ob diese Entwicklung von kurz- oder doch langfristiger Natur sein würde. Trotz des Umstandes, dass Haushalte aufgrund besserer Energieausnutzung Energie sparten, würde sich dies nur marginal auswirken. Ein Substitutionseffekt zugunsten der Elektrizität, wie in den Studien der Energiewirtschaft angenommen, wurde von der Mehrheit der volkswirtschaftlichen Forschung ebenfalls konstatiert.154 151 Wessels, Theodor, Gegenwärtiger Stand der Methoden der Vorausschätzung des Energiebedarfs, in: Brennstoff-Wärme-Kraft 18 (1966) 10, S. 518–519. 152 Der Strombedarf für Haushaltskunden war einfacher zu ermitteln als der für Industrieabnehmer, da Letztere eine höhere Nachfrageelastizität aufweisen als Haushalte. 153 Siehe Schnell, Peter, Prognosen in der Elektrizitätswirtschaft, in: Elektrowärme im technischen Ausbau A1 (1978), S. 1–8; Ciesiolka, Josef F., Der Einsatz von Wärmepumpen im Haushaltsbereich, München 1986. 154 Siehe u. a. Pfaffenberger, Wolfgang, Zur Entwicklung des Energieverbrauchs der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren, in: EWT 33 (1983) 5, S. 303–306;
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Darüber hinaus kam es im Haushaltsbereich sehr darauf an, welcher Teil des Verbrauchs wachsen würde.155 In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre sparten die Haushalte durch rationelleren Energieeinsatz sowie andere Bemühungen zusehends mehr Strom ein. Auch wenn die Zahl der verbrauchten Kilowattstunden mit rund 2.800 im Jahr 1989 nur etwas unter der Zahl von 1985 lag, ist gerade der Vergleich mit den 1970er-Jahren sehr prägnant. Denn in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre war der Stromverbrauch der Haushalte um 39 %, in der zweiten Hälfte nur noch um rund 16 % angewachsen.156 Dies musste jedoch, wie oben bereits ausgeführt, nicht zwangsläufig mit dem Neubau von Kraftwerken korrelieren. Im Haushalt könne zwar Energie eingespart werden – so die Argumentation der Stromwirtschaft – aber diese Einsparungen müssten sich „nicht auf den Bedarf an installierter Kraftwerksleistung auswirken“,157 wie Günther Klätte der RWE betonte. Vielmehr könnten die Haushalte vor allem bei großer Kälte nicht auf eine angemessene Raumheizung verzichten. Natürlich stellte sich in puncto Einsparungen bei Haushalten die Frage, ob man den gewünschten Effekt nicht über den Preis für Haushaltsstrom erreichen oder zumindest stimulieren könne, – eine Idee, die bei der Bundesregierung und vor allem beim Bundeswirtschaftsministerium auf breite Zustimmung stieß. Die Stromwirtschaft gab jedoch zu bedenken, „dass ein Abgehen von kostenorientierten und kostendeckenden Tarifen diese zu Willkürakten mache, deren Richtigkeit bei dann verstärkt zu erwartender Kritik niemand mehr beweisen könne“.158 An den Worten von Klätte wird deutlich, dass die EVU den politischen Steuerungsversuchen (und ihren realwirtschaftlich schwer abschätzbaren Konsequenzen) entgegenzuwirken versuchten. Diese liefen darauf hinaus, dass die Einsparungen beim Stromverbrauch von Haushalten fast zwangsläufig zu weniger Kraftwerkskapazität führen könnten. Im BMWi war man vor allem über die Öffentlichkeitswirksamkeit derartiger Überlegungen besorgt, denn diese könnten „in der Öffentlichkeit als parteilich gewertet werden“.159 Vonseiten der Stromwirtschaft wies Rudolf von Bennigsen (Preußenelekta) darauf hin, dass die derzeitige öffentliche Energiediskussion am Thema vorbeigehe. Den EVU bleibe deshalb nur die Möglichkeit, eine feste Haltung einzunehmen und zu behaupten.160
155 156 157 158 159 160
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)/Energiewirtschaftliches Institut an der Universität Köln (EWI)/Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), Der Energieverbrauch in der Bundesrepublik Deutschland und seine Deckung bis zum Jahre 1995, Essen 1981, S. 148 ff. Da man sich z. B. nicht sicher war, inwieweit die Anreize zum Energiesparen bei den Haushalten ankamen. Siehe u. a. Hohmeyer, Olav, Energieverbrauch und Energieeinsparung in den Haushalten, Oldenburg 1981, S. 44 f. Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) (Hg.), Jahresbericht 1989, Frankfurt/M. 1990, S. 27. Verbrauchssteigernde Faktoren waren dabei die größere Anzahl von elektrischen Geräten im Haushalt, während deren Effizienz zu verbrauchsmindernden Effekten führte. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 12. Mai 1977, S. 9, E.ON-Archiv Düsseldorf 1/5/39–273. Ebd. So Ministerialdirektor Hans Tietmeyer aus dem BMWi. Ebd., S. 10. Ebd.
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In der aufgeladenen Atmosphäre Mitte der 1970er-Jahre ging es immer weniger um die sachliche Diskussion von Energiebedarfsprognosen: Vielmehr versuchte jede Seite, in der stark polarisierten Debatte über die Nutzung der Kernenergie Energiebedarfsprognosen als strategisches Argument für sich nutzbar zu machen. Exemplarisch verdeutlicht dies die Diskussion um die Einführung anderer Stromtarife, die vor allem von Kernenergiegegnern gefordert wurde. In der öffentlichen Diskussion tauchte immer wieder die Forderung nach sogenannten progressiven Haushaltstarifen161 auf. Bei den RWE wurde daraufhin in der Abteilung von Bernd Stoy eine entsprechende Analyse von Werner Müller angefertigt, die daraufhin am 10. Februar 1977 an RWE-Vorstand Klätte übersandt wurde. Darin hieß es: „Es mehren sich die Forderungen und konkreten Vorschläge von sogenannten Umweltschützern, aber auch von Parteigremien und Politikern, denen zufolge die Elektrizitätswerke die degressiven Haushaltsstromtarife zugunsten progressiver Tarife abschaffen sollen. Durch diese Maßnahme könne angeblich eine vermeintliche Stromverschwendung der deutschen Haushalte vermieden werden.“162 Zum künftigen Strombedarf schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Das bestätigt den Eindruck, der immer stärker selbst auf Fachkongressen und Symposien spürbar wird. Es geht in der Regel kaum noch darum, eine Basis für die Entscheidung über den künftigen Strombedarf zu suchen. Im Vordergrund stehen Ideologien und Weltanschauungen. Soll Kernenergie friedlich genutzt werden oder nicht? Ist wirtschaftliches Wachstum erforderlich, oder soll die Entwicklung angehalten werden? Über diese Fragen wird diskutiert, kaum aber noch über die Folgen einer Entscheidung, in welche Richtung sie auch immer führen mag.“163 Diese beiden Quellen verdeutlichen, wie sich die Situation seit Mitte der 1970er-Jahre zugespitzt hatte. In dieser aufgeladenen Atmosphäre sollte sich der Handlungsspielraum für die Stromwirtschaft schließlich immer weiter verringern. So sahen sich die Energieversorger von Teilen der Öffentlichkeit unter einen negativen Generalverdacht gestellt, was bei den Unternehmen dazu führte, möglichst auf dem eigenen Standpunkt zu beharren, weil sich dessen öffentliche Kommunikation zunehmend schwierig gestaltete. Während bis Ende der 1960er-Jahre eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich der Veröffentlichung neuer Methoden zur Energieprognostik vorherrschte, verzeichnete vor allem der durch interdisziplinär interessierte Naturwissenschaftler und Ingenieure geprägte „systemanalytische Ansatz“ einen regelrechten Aufschwung.164 Spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre setzte damit jenseits der Strom161 Ausführungen von Günter Klätte auf der Aufsichtsrats- und Beiratssitzung des RWE am 23. Februar 1977, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1976/77, 2727. 162 Stoy, Bernd / Müller, Werner, Bemerkungen zu dem Vorschlag progressiver Haushaltstarife, S. 1, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1976/77, 2727. 163 Mehr oder weniger Energie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Januar 1977. 164 Siehe u. a. Häfele, Wolf (Hg.), Energiesysteme im Übergang – Unter den Bedingungen der Zukunft, Landsberg/Lech 1990. Darin vor allem Kap. 11 „Energiebedarf als offene Perspektive“; Kraus, Michael, Energy Forecasting. The epistemological context, in: Futures 19 (1987) 3, S. 254–275. In Frankreich hatte bereits Mitte der 1970er-Jahre eine intensive Diskussion über Szenarien und Methoden der Energieprognostik eingesetzt, allerdings vorwiegend initiiert
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wirtschaft ein regelrechter Forschungsboom zum Thema „Energiebedarf“ ein.165 Die VDEW behielt die gewohnte Argumentation des steigenden Energiebedarfs jedoch bei und verwies darauf, dass sich durch die neuen Erkenntnisse nur der Zeitpunkt für den Bedarf an neuer Leistung und damit neuer Kraftwerke verschöbe, sich aber an deren grundsätzlicher Notwendigkeit nichts änderte. Schon bei einem Bedarfszuwachs von 5 % würde im Winter 1985, so die Argumentation der VDEW, die bisherige Kraftwerksleistung unter Einbeziehung von extremen Wetterverhältnissen und daraus möglicherweise resultierenden Netzzusammenbrüchen nicht mehr ausreichen.166 Eines der zentralen Argumente für die Fortsetzung bereits begonnener Kraftwerksbauvorhaben war jedoch die Aufrechterhaltung der sogenannten Reserveleistung.167 Die Stromwirtschaft veranschlagte für eine sichere Versorgung einen Andurch traditionelle Akteure der Energiewirtschaft. Siehe dazu exemplarisch: Chateau, Bertrand / Lapillonne, Bruno, La prévision à long terme de la demande d’énergie: essai de renouvellement des méthodes, in: Collection Energie et Société, Paris 1977. 165 Siehe Hans Matthöfer (Hg.), Energiebedarf und Energiebedarfsforschung, Villingen 1977. Die Reihe „Argumente in der Energiediskussion“ untersuchte seit Mitte der 1970er-Jahre in 13 Bänden verschiedene Problemstellungen der Stromwirtschaft, vor allem hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bezüge. Einen Schwerpunkt bildete die Bürgerbeteiligung an strittigen Energieprojekten. Weitere Werke befassten sich mit Gerichtsentscheidungen zu Kernkraftwerken, dem Verhältnis von Kernenergie und Medien sowie mit dem Zusammenhang zwischen Energie, Wachstum und Arbeitsplätzen. Hans Matthöfer, nach eigener Einschätzung ein überzeugter „Kohlemann“ und zu Beginn seiner Amtszeit als Forschungsminister auch Anhänger der friedlichen Nutzung der Kernenergie, zeigte sich zusehends skeptisch gegenüber dem forcierten Ausbau der Kernkraft. Die 13 Bände waren nicht zuletzt eine Folge des sogenannten Bürgerdialogs Kernenergie, der zwischen 1975 bis 1978 eine Reihe von Veranstaltungen beinhaltete, die aus Sicht der Bundesregierung dazu dienen sollte, den wachsenden Widerstand gegen Kernkraftwerke zu kanalisieren und das eigene Atomprogramm durchzusetzen. Siehe Abelshauser, Werner, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009, S. 305 ff., 627. 166 Siehe Boeck, Hartmut, Tagesfragen der Elektrizitätswirtschaft, in: Elektrizitätswirtschaft 78 (1979) 12, S. 464–470, hier S. 465 f.; Edwin, Kurt W. / Kochs, Hans-Dieter / Traeder, Günter, Untersuchung der Kraftwerksreserve im Verbundsystem (= Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen, Nr. 2816: Fachgruppe Bergbau, Energie), Opladen 1979, S. 4. 167 Schon seit der Entstehungszeit des Verbundsystems – also der Kopplung mehrerer Großkraftwerke mittels eines Leitungsnetzes – war die Vorhaltung einer Kraftwerksreserve für die Energieversorgung unerlässlich, um Ausfälle eines Kraftwerks durch ein anderes auffangen zu können und nicht die Netzstabilität zu gefährden. Wie groß diese sein sollte und welches Kraftwerk (auf Basis welchen Primärenergieträgers) an welchem Ort diese gewährleisten sollte, führte frühzeitig zu heftigen Diskussionen. Siehe zu diesem Aspekt: Döring, Peter, Dezentralisierung versus Verbundwirtschaft. Die Diskussion um die Regulierung der Elektrizitätswirtschaft im Vorfeld des Energiewirtschaftsgesetzes von 1935, in: Ehrhardt, Hendrik / Kroll, Thomas (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft, Göttingen 2012, S. 119–148, hier S. 132 f. Über diesen Diskussionen schwebte gewissermaßen die bis heute relevante „Systemfrage“: ob also Energieversorgung eher durch ein System von zentralen Großkraftwerken oder dezentraler Stromerzeugungstechniken bewerkstelligt werden soll. Im Zeitalter der erneuerbaren Energien sieht es so aus, als ob es künftig nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch geben sollte. Freilich hat die Energieversorgung im gesamten 20. Jahrhundert, und vor allem in den vergangenen vierzig Jahren, Potenziale dezentraler Energieerzeugungstechnologien verschenkt. Siehe zu diesen Aspekten: Mener, Gerhard, Stabilität und Wandel in der Energieversorgung: Ge-
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teil von 18–25 % Reserve an der gesamten Kraftwerksleistung.168 Die Stromwirtschaft hielt die Vorhaltung einer Reserveleistung auch über die erforderliche Kraftwerkskapazität hinaus für notwendig. Vor allem das Argument der Versorgungspflicht sowie ein möglicherweise steigender Energiebedarf bei wirtschaftlichem Wachstum wurden hierfür als Argumente vorgetragen. Auch das Urteil der Öffentlichkeit in dieser Frage schien für die Stromwirtschaft von Belang zu sein. Deshalb wollten die Unternehmen hinsichtlich „der Zuwachsraten im Zweifel auf der sichereren Seite liegen“ und sich ein Bild davon verschaffen, wie groß die Unsicherheiten bei den Prognosen wohl sein würden, um davon die Größenordnung der Reservehaltung abzuleiten.169 Das Argument ausreichender Kapazitäten über die Bereitstellung entsprechender Reserveleistung ließ sich weder für Industrie noch für Haushalte widerlegen und fand in der Bundespolitik Gehör, zumal der ordnungspolitische Rahmen der Stromwirtschaft die Legitimation für Überkapazitäten quasi mitlieferte. Rechtlich kodifiziert war diese freilich im Energiewirtschaftsgesetz nicht. Die Logik lautete daher pointiert: „Deshalb gilt die Bedingung: Vorausschätzung des Bedarfs so gut wie möglich, doch im Zweifel eher Überkapazitäten als eingeschränkte Versorgung, denn der teuerste Strom für unsere Volkswirtschaft ist der, der fehlt. Daher kommt unsere Devise: Strom darf nicht knapp werden.“170 Die Stromwirtschaft müsse daher „stets eine Art Konjunkturreserve im Kraftwerksbestand vorhalten“.171 Aus Sicht der Unternehmen war diese Interpretation durchaus folgerichtig und galt vor allem für kurz- und mittelfristige Zeithorizonte. Langfristig bedeutete diese Logik zwar ein gewisses Überangebot an Energie. Andererseits gestattete gerade die Situation des Überangebots im Öl- und Gasbereich Kraftwerksgegnern gegen zu viel Kapazität im Kohle- und Kernkraftbereich zu argumentieren. Ende der 1980er-Jahre äußerte RWE-Vorstand Günther Klätte auch öffentlich, dass die entstandenen Überkapazitäten letztlich „das Ergebnis der Einschätzung des Stromzuwachses aus der Sicht vor zehn oder acht Jahren“172 seien. Damit hatte die Stromwirtschaft ihre Sichtweise nicht wesentlich verändert, denn die Überkapazitäten waren nach ihrer Interpretation letztlich der Preis für die Si-
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schichte der Sonnenenergie und der Kraft-Wärme-Kopplung, in: Ehrhardt, Hendrik / Kroll, Thomas (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft, Göttingen 2012, S. 179–190; Mener, Gerhard, Zwischen Labor und Mark. Geschichte der Sonnenenergienutzung in Deutschland und den USA 1860–1986, Baldham 2001; Heymann, Matthias, Die Geschichte der Windenergienutzung 1890–1990, Frankfurt/M. 1995. DVG vom 5. September 1977, Bemessung der Reserve, S. 9, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. Die Reserve wird auf Grundlage der Jahreshöchstlast berechnet. Dieser Begriff bezeichnet den Zeitpunkt im Jahr, an dem der höchste Stromverbrauch (Last) auftritt. In aller Regel ist dies ein Wochentag im Winter zu frühen Abendstunden. Anhand dieses Richtwertes wird errechnet, welche Kraftwerkskapazitäten bereitstehen müssen, um die komplette Versorgung ohne Stromimporte sicherzustellen. Siehe Ausführungen von Günther Klätte anlässlich der RWE-Beiratssitzung am 25. Februar 1976, S. 7, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1975/76, 2724. Ebd., S. 18. Ebd., S. 5. Siehe Transkript des Interviews mit Günther Klätte, in: SiegTech, 2/3 (1988).
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cherheit der Stromversorgung.173 Das Risiko eines Kapazitäts- oder Strommangels konnten und wollten die Energieversorger nicht eingehen. In der gesamten Stromwirtschaft war man darüber besorgt, dass die Höhe der Kraftwerksreserve missverständlich interpretiert werden könnte. Daher erdachte man in zwei Ausschüssen der DVG 1977 eine „Sprachregelung zur Bemessung der Reserve“,174 um diese bei Bedarf in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Reservekapazitäten und Versorgungssicherheit bei Verbrauchsschwankungen lauten die bekannten Stichworte. Dabei müsse der Öffentlichkeit verdeutlicht werden, so die Überlegungen in der Stromwirtschaft, dass es sich bei der Reserve nicht um Anlagen handele, die über das erforderliche Maß hinausgingen. Vielmehr handele es sich um eine „Eingreifreserve oder Bereitschaftsleistung, die – wie eine Feuerwehr – zwar oft unbeschäftigt, aber dennoch existenznotwendig ist“.175 Bei der Ausarbeitung zur „Bemessung der Reserve“ hatten die RWE die Federführung übernommen, da einige Unternehmen in der DVG Bedenken gegen die ursprüngliche Fassung von September 1977 geäußert hatten. Dabei ging es vor allem darum, dass die erforderliche Reserve im Zweifelsfall auf ganz unterschiedliche Einflüsse reagieren muss: den Ausfall von Kraftwerksblöcken, konjunkturellen und meteorologischen Entwicklungen sowie schwankenden Energiebedarfszuwächsen.176 Tatsächlich war die Reserve für die Sicherheit der Stromversorgung unerlässlich und ihre Berechnung höchst kompliziert.177 Nur ließ sich außerhalb der Unternehmen schwer nachvollziehen, weshalb die EVU unterschiedliche Reservemengen vorhielten und wie viel Reserve insgesamt mindestens notwendig war. In der Stromwirtschaft häuften sich schließlich seit Mitte der 1970er-Jahre die nachdenklichen Töne zu Energiebedarfsprognosen und den daraus abzuleitenden unternehmerischen Entscheidungen. Anders als in den Jahrzehnten zuvor hatte die Unsicherheit zur Beurteilung der energiewirtschaftlichen Lage auch Teile der EVU 173 Die Diskussion um Überkapazitäten spielt auch in der aktuellen Diskussion um die künftige Ausgestaltung des Strommarktes eine zentrale Rolle. Siehe u. a. BT-Drucksache 18/5323. 174 DVG an die Mitglieder des Planungsausschusses und des Ausschusses „Wirtschaft und Betriebe“ am 9. September 1977, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1975/76, 2724. 175 Ebd. 176 Siehe Schreiben von Rolf Bierhoff an Günther Klätte vom 7. Februar 1977; DVG an die Mitglieder des Planungs- und Rechtsausschusses am 5. Oktober 1978; Interner Vermerk der DVG vom 4. Oktober 1978, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 177 Bis heute spielt die Bemessung der Reserve und die Frage, an welcher Stelle im Netz diese zur Verfügung stehen soll, in der Diskussion um eine sichere Energieversorgung eine zentrale Rolle. Im Zuge des von der Bundesregierung geplanten Atomausstiegs stellte sich im August 2011 erneut diese Frage. Die Bundesnetzagentur warnte in diesem Zusammenhang die grünrote Landesregierung in Baden-Württemberg, Genehmigungsschwierigkeiten für ein Kohlekraftwerk in Mannheim (GKM 3/220 MW) doch schnellstens aus dem Weg zu räumen. Andernfalls könnte auch das für die Stilllegung vorgesehene Kernkraftwerk Philippsburg 1 zur Sicherstellung der Kaltreserve herangezogen werden. Eine Kaltreserve auf Kohlebasis wäre jedoch wesentlich preisgünstiger. Siehe u. a. Heiße Reserve. Kohleblöcke oder lieber Atomreaktoren? In diesen Tagen klärt sich, womit im Winter Strom-Engpässe überbrückt werden, in: Süddeutsche Zeitung, 26. August 2011, S. 20. Letztlich wurden jedoch die von der Bundesnetzagentur favorisierten Kohlekraftwerke zur Sicherstellung der Kaltreserve herangezogen.
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selbst erfasst. Hierbei nahmen einige Akteure die Zukunftsunsicherheit und voneinander abweichende Prognosen aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zum Anlass, um die Position der Energieversorger vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zu hinterfragen. Für die Energieversorgung sei die Abschätzung des Energiebedarfs besonders schwierig, weil sie „das letzte Glied in einer Kette planender Institutionen“ sei. Trotz regulierender Eingriffe, der Kapitalintensität der Branche sowie längerer Planungs-, Bau- und Genehmigungszeiträume wäre es verantwortungslos, diese „Unsicherheiten der Entwicklung des Elektrizitätsverbrauchs zunächst tatenlos abzuwarten“. Anders als in der Vergangenheit, als das Wachstum beim Energiebedarf noch relativ stetig war, wolle man sich künftig in Studien, Variantenrechnungen und Grenzbetrachtungen in verstärktem Maße mit der Energiezukunft beschäftigen. Diese Ausarbeitungen sollten dazu dienen, unnötige Investitionen zu vermeiden und gleichzeitig Versorgungssicherheit zu gewährleisten.178 Ein veränderter Umgang mit Energiebedarfsprognosen wurde also zumindest konzeptionell angestrebt. Aus Sicht der Unternehmen blieb indes die Problematik bestehen, dass sich die Kraftwerksplanung zunächst an Energiebedarfsprognosen orientierte. Noch schwieriger wurde es, wenn ein Kraftwerk erst einmal beschlossene Sache war. Einerseits wurden meist Kostengründe ins Feld geführt, die für die Fortsetzung von Projekten sprachen. Andererseits führten der bereits in Kapitel 1.1 beschriebene „Sachzwang“ und die Eigenlogik von Projekten zur Fortsetzung von Kraftwerksvorhaben. Der Vorstand eines Energieversorgers skizzierte die stromwirtschaftlichen Prozesse sehr anschaulich mit folgenden Worten: „Sie müssen ja sehen, zum Zeitpunkt der Monopolsituation hatten wir Überkapazitäten, die wir nicht zugegeben haben. Wenn es irgendwo draußen mal ein bisschen kalt war, flitzten alle Techniker durchs Büro und über die Gänge: ,Ihr müsst sofort ein Kraftwerk bauen, sonst fehlt der Strom!‘ Ist ja klar, ein Techniker baut ja ein Kraftwerk.“179 Der Vorstand eines anderen Unternehmens äußerte sich folgendermaßen: „Man konnte natürlich ein Kraftwerk nicht erst dann bauen, wenn der Verbrauch schon da war. […] Ich habe seinerzeit die Kollegen aus der Bauabteilung nur mühsam dazu gebracht, jetzt mal auf die Bremse zu treten [bei der Planung von Kraftwerken]. Die wollten ja was zu tun haben! Aber ich habe gesagt, wir bremsen ab, das wurde im Hause nicht gern gehört. Aber ich hab gesagt: Schluss jetzt, wir sehen jetzt erst mal, wo das hinläuft.“180 Dass die Unternehmen auf alle Eventualitäten der Energieversorgung vorbereitet sein wollten, ihre Bauprogramme daher kontinuierlich fortschrieben, ist durchaus nachvollziehbar und konsequent. Bei der VEBA, der Konzernmutter der Preußenelektra, wurde die Situation angesichts der Dritten Fortschreibung des Energieprogramms so interpretiert, dass die Bundesregierung in diesem Programm die ‚Restbedarfsphilosophie‘ nicht mehr erwähne. Mit dem Argument der Vorhaltung einer Reserveleistung zur Sicherung der Energieversorgung ließ sich die Notwen178 Siehe Bericht des Vorsitzenden der DVG Lichtenberg (gleichzeitig Vorstand des Badenwerks) über das Jahr 1976, S. 1 f., HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 179 Siehe Transkript des Interviews mit dem Vorstandsmitglied eines Energieversorgungsunternehmens. Transkript im Besitz des Autors. 180 Ebd.
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digkeit zusätzlicher Kraftwerksleistung bei den zuständigen Bundesministerien besonders plausibel begründen. Angesichts des faktisch seit Ende 1976 bestehenden Moratoriums für Kernkraftwerke ließ sich der Bedarf an zusätzlicher Kraftwerkskapazität seitens der Stromwirtschaft mit den BMWi kooperativ abstimmen.181 Anlässlich einiger Treffen, Briefwechsel und Verbandssitzungen der DVG von Januar 1977 bis Januar 1978, an denen Vertreter des BMWi ebenso beteiligt waren wie die Vorstände der EVU, wollte man Fakten und Argumente zum Thema „Moratorium für Kernkraftwerke“ ausloten.182 Dabei ging es vor allem um die Auswirkungen der Verzögerung des Kernkraftwerksausbaus auf die Elektrizitätsversorgung.183 Die DVG gab Hilfestellung bei der Formulierung der Ministeriumspapiere und signalisierte dem Ministerium, dass eine durch Verzögerung bzw. Verhinderung des weiteren Kernkraftwerksausbaus entstehende Leistungslücke aus verschiedenen Gründen nicht durch einen verstärkten Ausbau von konventionellen Kraftwerken geschlossen werden könne.184 Insgesamt kam es der DVG in ihrer Argumentation darauf an, dem Ministerium zu verdeutlichen, dass die Konsequenzen einer Deckungslücke der Energieversorgung im Widerspruch zu ihrem eigenen Energieprogramm standen. So würde bei Verzögerungen im Kraftwerksbau verstärkt auf den Einsatz von Öl bei der Elektrizitätserzeugung zurückgegriffen.185 181 Die Bundesregierung hatte sich in ihrer Regierungserklärung vom 16. Dezember 1976 eindeutig für den Ausbau der Kernenergie und deren Beitrag zur Deckung des künftigen Energiebedarfs ausgesprochen. Der Bundesinnenminister hatte jedoch zu Beginn des Jahres 1977 in einem Gespräch mit den betroffenen EVU die Position dahingehend präzisiert, dass Errichtungsgenehmigungen zukünftig von einer „Entsorgungsvorsorge“, also der Möglichkeit der Endlagerung von radioaktivem Material und Kernbrennstäben, abhingen. Durch diese erhöhten Sicherheitsauflagen kam es zu einem Moratorium für die Errichtung von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik. Siehe u. a. Kraftwerk Union AG (KWU) (Hg.), Auswirkungen eines Kernenergie-Moratoriums auf die elektrische Energieversorgung und die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland, Mühlheim 1977. 182 Siehe Erläuterungen zu den Gesprächsthemen der außerordentlichen Mitgliederversammlung der DVG am 3. Februar 1977, S. 1, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 183 Entwurf von Dr. Paul Laufs (BMWi) „Auswirkungen einer abgestuften Verzögerung des Kernkraftwerksausbaus auf die Elektrizitätsversorgung“ vom 6. Januar 1977, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 184 Hinweise der DVG zum Vermerk des Bundesministeriums für Wirtschaft, Abt. III B 2 vom 6. Januar 1977, S. 1, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. Hierbei verwies die DVG auf eine Vielzahl von Gründen. Neben den Verzögerungen beim Genehmigungsverfahren für konventionelle Kraftwerke, Lieferproblemen bei Kraftwerkskomponenten, mangelnden Möglichkeiten der Leistungsaushilfe aus dem Ausland sollte die Leistungslücke nicht allein global betrachtet werden, da ein Leistungsmangel regional sehr unterschiedlich sein könne. Für einen umfangreichen Ausgleich von Kraftwerksleistung sei das bestehende Verbundnetz nicht ausgerichtet. 185 Öl nimmt aufgrund der dominierenden Rolle der Kohle im Kraftwerksbereich in der Bundesrepublik – und vor allem im Vergleich mit anderen Ländern – eine eher untergeordnete Position bei der Stromerzeugung ein. Darüber hinaus ist der Anteil des Öls zur Stromerzeugung seit Mitte der 1970er-Jahre rückläufig und stagniert seitdem auf niedrigem Niveau. Während der Anteil des Öls an der Erzeugung elektrischer Energie 1960 3 % betrug, stieg dieser bis 1970 auf 15 %, um im Jahr 1980 auf 7 % bzw. 1990 auf 2 % abzusinken. Siehe Die Elektrizitätswirtschaft
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Eine Reduzierung des Primärenergieträgers Öl war jedoch eines der Ziele, das die Bundesregierung mit ihrem Energieprogramm unbedingt erreichen wollte. Die Kosten für die Stromerzeugung und damit der Strompreis würden weiter steigen und in Folge die Industrie in der Konkurrenz mit dem Ausland erheblich an Boden verlieren. Dies wäre mit der Gefahr des Verlustes an Arbeitsplätzen in der Industrie verbunden gewesen. Durch den verstärkten Einsatz von Kohle und Heizöl würde sich die Umweltbelastung mittels Rauchgasen erhöhen, die gerade bei Altanlagen erheblich war. Der Mangel an Kraftwerksleistung würde zunächst zu einer Verringerung der Störungsreserve und damit zur Verringerung der Versorgungssicherheit führen. Alles in allem wollte die DVG mit ihrem Standpunkt verdeutlichen, dass das Ausmaß der negativen volkswirtschaftlichen wie sozialpolitischen Auswirkungen kaum abzusehen wäre, falls der weitere Ausbau der Kernkraftwerksleistung nicht weiter vorangehe und damit eine ausreichende und preiswerte Elektrizitätsversorgung nicht mehr gewährleistet sei.186 Strompolitisch zeigt sich hier eine enge Kooperation zwischen Energieversorgern und verschiedenen Bundesministerien, vor allem aber mit dem BMWi. Meist, so auch in diesem Fall, wurden dabei wechselseitig Stellungnahmen zu bestimmten Themen ausgetauscht.187 Bemerkenswert ist jedoch, dass man bei der DVG in der turnusmäßigen Leistungsvorschau schon vor den Konsultationen mit den Ministerien mit einer anderen Entwicklung rechnete. Für die Zeit ab 1982 ging man von einem geringeren Anstieg des Strombedarfs aus. Dies hätte nach Einschätzung des Verbandes auch zu einer Verminderung der Stromerzeugung aus Kernenergie und zur Reduzierung des Kraftwerksausbauprogramms geführt.188 Intern vermutete man also eine andere Entwicklung, als man gegenüber den Ministerien äußerte. Dies war bei der DVG ein durchaus übliches Vorgehen und verdeutlicht die verschiedenen Strategien bei stromwirtschaftlichen Aushandlungsprozessen. Der Verband war durch die Interessen seiner Mitglieder zu einer konservativen Argumentation gegenüber der Politik angehalten, anderweitig hätte man die höheren Ausbauprogramme der Vorjahre kaum erklären können. Auch jenseits der Prognosen sah sich die DVG mit veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert.189 Solange jedoch in Sachen Kernenergieausbau noch nicht alles verloren war, wollte man gegenüber der Bundesregierung die eigene Position,
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in der BRD im Jahre 1972/1987. Statistischer Jahresbericht des Referats Elektrizitätswirtschaft im BMWi, Bonn 1972/1987; BT-Drucksache 9/983, S. 17. Stichworte der DVG für die Formulierung des Punktes 4 des Vermerkes des Bundesministeriums für Wirtschaft, Abt. III B 2 vom 6. Januar 1977, S. 1 f., HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. Erläuterungen zu den Gesprächsthemen der außerordentlichen Mitgliederversammlung der DVG am 3. Februar 1977, S. 1, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. DVG-Leistungsvorschau „Langfristige Vorschau über den Primärenergiebedarf der Stromversorgung in der Bundesrepublik Deutschland 1974–1984“, Stand August 1976, S. 2, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. Dazu gehörten die strukturellen und preislichen Veränderungen im Primärenergieangebot, die wirtschaftliche Entwicklung der Jahre 1974/75 und die immer gravierender werdenden Verzögerungen bei der Inbetriebnahme neuer Kraftwerke sowie das Dritte Verstromungsgesetz.
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also den unverminderten Ausbau der Kernenergie, weiterhin vertreten. Nicht zuletzt durch die veränderten Energiebedarfsprognosen wurde von politischer Seite ein geringerer Zubau an Kernkraftwerkskapazität in den Energieprogrammen veranschlagt. Auf Grundlage unsicherer politischer Rahmenbedingungen, Prognosen sowie der öffentlichen Meinung stellte sich dennoch die Frage, durch welchen Kraftwerkstyp der zukünftig geringere Energiebedarf gedeckt werden solle. 1.3 KOHLE ODER KERNENERGIE? WELCHER KRAFTWERKSTYP WIRD GEBAUT? Die Annahme eines steigenden Energiebedarfs stellte in der Geschichte der Stromwirtschaft bis etwa 1975 den Normalfall dar. Dass dies jedoch nicht zwangsläufig zum Bau neuer Kraftwerke führen musste, verdeutlicht ein Blick in die Etablierungsphase der Kernenergie. Die Rolle der Energieversorger war bei der Einführung der Kernenergie keinesfalls so eindeutig, wie dies bisher in einer breiteren Öffentlichkeit angenommen wurde.190 Im Jahr 1956 fragte man sich bei den Unternehmen: „Kernenergie für die Elektrizitätswirtschaft – Aber wann?“191 Diese Frage war keinesfalls rhetorisch gemeint, wie zehn Jahre später ein Brief der RWE an Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg verdeutlicht. „Als unerläßliche Voraussetzung“ für die Einführung der Kernenergie, schrieb darin Vorstand Heinrich Mandel, erscheine den RWE „ein Anwachsen des Elektrizitätsverbrauchs in etwa gleichem oder gar stärkerem Umfang, als er in den letzten Jahren zu beobachten war“, und dies wiederum setze „ein gleichmäßiges Weiterwachsen der Industrieproduktion wie des häuslichen Wohlstandes“192 voraus. Auf die vielseitige Entstehungsgeschichte der Kernenergie, die Rolle des Staates sowie der Energieversorger in diesem Prozess kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden.193 Interessant für die Fragestellung dieser Analyse ist vor allem die Verbindung zum Energiebedarf. In dem oben zitierten Schreiben der RWE an den Bundesforschungsminister machte das Unternehmen ausdrücklich klar, dass bei konstant bleibendem Stromverbrauch überhaupt nicht an den Bau von Kernkraftwerken zu denken sei, da erst kürzlich rentable Braunkohlebestände erschlossen worden seien, deren Verfeuerung „eindeutig vorrangig“ gegenüber einer 190 Seit einiger Zeit wird darüber auch in der Presse berichtet. Siehe Kriener, Manfred, Aufbruch ins Wunderland. Deutschlands Stromkonzerne wollten ursprünglich gar keine Atomenergie. Doch die Politik drängte – und zahlte alles, in: Die Zeit, 30. September 2010, S. 24. 191 Schöller, Heinrich, Kernenergie für die Elektrizitätswirtschaft – Aber wann?, in: Atomwirtschaft, Oktober 1956, S. 331–332. 192 Schreiben der RWE an Forschungsminister Stoltenberg vom 22. Dezember 1966, zit. nach Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 212 f. 193 Für weitere Informationen siehe insbesondere Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983; Wolfgang D. Müller, Anfänge und Weichenstellungen. Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1990; ders., Auf der Suche nach dem Erfolg – Die Sechziger Jahre. Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1996.
1.3 Kohle oder Kernenergie? Welcher Kraftwerkstyp wird gebaut?
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Einführung der Kernenergie zu behandeln sei. Im Übrigen sei es so, dass „infolge der rückläufigen Trends des Elektrizitätsverbrauchs zur Zeit noch erhebliche ungenutzte Kraftwerkskapazität“ freistehe.194 In Bezug auf die Einführung der Kernenergie muss man zwischen den verschiedenen Energieversorgern durchaus differenzieren. Während die RWE durch ihr „Gottesgeschenk“ Braunkohle bereits über einen preiswerten Primärenergieträger verfügten und auf diese Weise preiswerten Industriestrom anbieten konnten, der einen Großteil des Unternehmenserfolgs ausmachte, traf dies auf die norddeutschen Energieversorger nicht zu. Gerade nach dem oben erwähnten Schreiben konzentrierte man sich in Bonn zusehends auf die zum Teil bundeseigene Preußenelektra und die Hamburger Electricitäts-Werke, wie die Verhandlungen über die Großkernkraftwerke Würgassen und Stade belegen. Auf diese Weise waren es die Konkurrenten der RWE, die der Kernkraft in Deutschland kommerziell zum Durchbruch verhalfen.195 Bis in die 1960er-Jahre wurde die Wirtschaftlichkeit der Kernenergie durchaus kritisch gesehen und vor allem im Vergleich zu konventionellen (Braun-)Kohlekraftwerken zu Recht bezweifelt.196 Besonders die unkalkulierbar erscheinenden finanziellen Risiken der Kernenergie lösten bei den Energieversorgern erhebliche Bedenken aus. Bei den Unternehmen führte dies dazu, dass diese die Bundesregierung aufforderten, sich das monetäre Risiko bei Kernkraftwerksprojekten mit ihnen zu teilen, um es für sie selbst finanziell weniger riskant zu gestalten.197 Überhaupt betrachtete die Stromwirtschaft den Einstieg in die Kernenergie als unternehmerisches Wagnis, das mit einer Reihe von technischen und wirtschaftlichen Risiken verbunden war.198 Die unterschiedliche Bewertung der Kerneinstiegsfrage hatte bei den RWE zu ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen den beiden Vorständen Helmut Meysenburg und Heinrich Mandel geführt. Als „sachlich wie persönlich“ umschreibt Joachim Radkau den Konflikt zwischen den beiden Kontrahenten. Mandel hatte als einer der prominentesten Vorkämpfer für die Kernenergie seit seinem Eintritt in den RWE-Vorstand im Jahr 1967 durchaus Anpassungsschwierigkeiten bei einem Unternehmen, dessen Trumpf bisher in der Braunkohle und ihren Kostenvorteilen gegenüber anderen Energieträgern lag.199 Mit seinem wissen194 Schreiben der RWE an Forschungsminister Stoltenberg vom 22. Dezember 1966, zit. nach Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 212 f. 195 Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Braunkohle und Atomeuphorie 1945–1968, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 173–196, hier S. 193 f. 196 Siehe u. a. Buderath, Josef, Die Ordnungspolitik in der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Bad Homburg 1962, S. 7: „Die Elektrizitätserzeugung in Atomkraftwerken wurde nicht berücksichtigt, da ihre Wirtschaftlichkeit im Vergleich zu konventionellen Kraftwerken noch nicht erwiesen ist.“ 197 Mandel, Heinrich, Welches Vertrauen verdienen wirtschaftliche Informationen bei der Planung einer Kernenergieanlage?, in: Atomwirtschaft, Januar (1963), S. 12–16, hier S. 16. 198 Siehe Mandel, Heinrich, Die Zukunft der Stromerzeugung und das unternehmerische Wagnis der Elektrizitätswirtschaft, in: Atomwirtschaft, März (1964), S. 102–108. 199 Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 214 f.
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schaftlichen Hintergrund sowie den beiden Doktortiteln war er ein eher ungewöhnlicher Protagonist unter den Energieversorgern dieser Zeit. Sein Gegenspieler Meysenburg war vor allem am Stromabsatz und nicht so sehr an dessen Produktionsmethoden oder gar an Kraftwerksinnovationen interessiert.200 Im Bereich der Elektrizitätsanwendung für Haushalt, Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft sah er die größten Steigerungspotenziale für den künftigen Stromabsatz. Mandel, der gern Gesamtszenarien für die Energiewirtschaft vor allem unter Berücksichtigung der Kernenergie201 entwarf, sah sich 1966 durch Meysenburg schließlich einem der schwersten Vorwürfe überhaupt ausgesetzt: Meysenburg erhob den Vorwurf, er habe mit seiner Behauptung, dass Atomstrom besonders billig sei, den RWE das Geschäft verdorben, weil nun alle Großabnehmer der RWE – vor allem amerikanische Chemie- und Aluminiumfirmen, die Niederlassungen im Ruhrgebiet planten, in ihren Verträgen mit dem Unternehmen auf Atomstromklauseln bestanden.202 Dieses Vorgehen wurde in den folgenden Jahrzehnten bei anderen Energieversorgern im Übrigen zur gängigen Praxis.203 Preise von 2,5 Pf je kWh waren dabei keine Seltenheit und wurden in den Verträgen meist mit 20-jähriger Laufzeit festgeschrieben.204 Tatsächlich lag der Erzeugungspreis von Atomstrom um 1968 jedoch mit ca. 4 Pf je kWh doppelt so hoch. Der Atomstrom, so die Aussage Mandels, werde erst langfristig billiger sein als die Braunkohle, könne aber jetzt schon mit den Preisen in einem nicht subventionierten Steinkohlekraftwerk konkurrieren.205 Im Fall der Ansiedlung neuer Industriekunden gab es Ende der 1960er-Jahre eine Interessenkongruenz zwischen Politik und Stromwirtschaft. Landesregierungen freuten sich über die Schaffung neuer Arbeitsplätze, während sie den Energieversorgern halfen, ihre Kraftwerkskapazitäten großzügig auszubauen – zu einer Zeit, als von sinkenden Bedarfsprognosen kaum die Rede war. Industriekunden, vor allem aus der Aluminiumindustrie, waren für die Energieversorger besonders interessant, denn diese beziehen meist Tag und Nacht eine relativ gleichbleibende
200 Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Braunkohle und Atomeuphorie 1945–1968, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 173–196, hier S. 189. 201 Siehe u. a. Mandel, Heinrich, Die Zukunft der Stromerzeugung und das unternehmerische Wagnis der Elektrizitätswirtschaft, in: Atomwirtschaft, März (1964), S. 102–108; ders., Die langfristige Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle der Kernenergie, in: Atomwirtschaft, Januar 1967, S. 44–52. 202 Siehe Meysenburg, Helmut, Aktuelle Probleme der Elektrizitätswirtschaft, Düsseldorf 1966, S. 26 ff.; Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 214. 203 Brief der NWK an die niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel vom 20.7.1978 über die Verhandlungen bezüglich des Strompreises und weiterer vertraglicher Bedingungen der NWK mit dem Chemieunternehmen ICI (Imperial Chemical Industries), E.ON-Archiv Hannover, Bestand NWK. 204 Projekt DOW-NWK Stade am 2. Oktober 1968, E.ON-Archiv Hannover, Bestand NWK. 205 Nachrichten des Monats, „RWE-Hauptversammlung atomfreundlich“, in: Atomwirtschaft, April (1968), S. 176.
1.3 Kohle oder Kernenergie? Welcher Kraftwerkstyp wird gebaut?
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Menge Strom.206 Für die Stromwirtschaft hatte dies die angenehme Folge, dass sie ihre Kraftwerke rund um die Uhr voll auslasten konnte, was zu nahezu optimalen Erzeugungskosten führte. Strom aus Kernkraftwerken wurde erst im Verlauf der 1970er-Jahre konkurrenzfähig. Wie die Energieversorger die Differenz im Strompreis ausglichen, wie sie also die realen Kosten wieder hereinholten, darüber wurde in gut informierten Presseorganen heftig spekuliert.207 Ob sich die Versorger die Preisdifferenz, wie im Artikel von Heinz Günter Kemmer behauptet wurde, durch Strompreissteigerungen bei den Haushaltskunden wieder zurückholten, ist nicht zweifelsfrei zu klären. Gegenüber der Industrie wurde jedoch eindeutig die Strategie der Preisdifferenzierung angewandt, um Industrieunternehmen zur Aufgabe ihrer Eigenerzeugung und zum Abschluss von Stromlieferverträgen mit einem Energieversorger zu bewegen.208 Die Stromwirtschaft betonte der Bundesregierung gegenüber vor allem das finanzielle Risiko der Kernenergie. Dies taten die Unternehmen nicht zuletzt deshalb, weil sie damit in Bonn eine möglichst vorteilhafte Regelung für die Branche zu erreichen hofften. „Denn die Conditio sine qua non bestand für das RWE darin, daß das gesamte über konventionelle Kraftwerke hinausgehende Risiko vom Bund getragen wurde.“209 Dass sich die Rentabilität der Kernenergie bei entsprechenden Blockgrößen irgendwann einstellen und die Kernenergie wirtschaftlich zu betreiben sein würde, daran bestand zumindest bei den Energieversorgern kein Zweifel: „Wann der Tag X der Energiewirtschaft kommt, hängt einzig und allein von der Preisrelation Atomstrom/Kohlestrom ab. Das ist das nüchterne Kriterium, das abseits von aller Politik dazu berufen ist, übertriebene Hoffnungen zu dämpfen und Unschlüssigkeit zu brechen.“210 Für Mandels Gegenspieler im RWE-Vorstand, Meysenburg, war vor allem ein allgemein steigender Stromverbrauch eine wichtige Voraussetzung für die Integration der Kernenergie in die bestehende Stromversorgung. Nach seiner Auffassung verfügte man durch die Modernisierung der Kraftwerke in der Nachkriegszeit noch über ausreichend neue Anlagen. Ferner stünde aufgrund des rückläufigen Elektrizitätsverbrauchs „zur Zeit noch erhebliche ungenutzte Kraftwerkskapazität frei“.211 Meysenburg sprach es zwar explizit nicht so aus, aber sein Vertrauen in die Kernenergie war weit weniger groß als das Mandels. 206 Darauf wird in Kapitel 2 noch näher eingegangen. 207 Kemmer, Heinz Günter, Elektrizitätsversorgung: „Da gibt es solche Strauchdiebe …“, in: Die Zeit, 6. August 1982. 208 Dieses Vorgehen erinnert sehr stark an den Umgang der Stromwirtschaft mit der industriellen Kraftwirtschaft in den 1920er-Jahren. Siehe dazu vor allem Kapitel 2.1. 209 Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Braunkohle und Atomeuphorie 1945–1968, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 173–196, hier S. 192. 210 Siehe u. a. Mandel, Heinrich, Die Planung des RWE auf dem Atomsektor, in: Atomwirtschaft, Oktober (1956), S. 332–334, hier S. 334. Diesen Tag sah Heinrich Mandel bereits zwölf Jahre zuvor als gekommen, 1968 stand die Kernenergie nach seiner Auffassung an der Schwelle zur Wirtschaftlichkeit. Siehe Mandel, Heinrich, Die Kernenergie an der Schwelle zur wirtschaftlichen Nutzung, in: Atomwirtschaft, Januar (1968), S. 23–30, hier S. 30; Gudehus, H., Zur Kostendegression bei Kernkraftwerken, in: Atomwirtschaft, Februar (1966), S. 93–95. 211 Meysenburg, Helmut, Aktuelle Probleme der Elektrizitätswirtschaft, Düsseldorf 1966, S. 29.
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Vielmehr spielten für ihn neben dem Preis ein weiterhin steigender Energieverbrauch und die Stilllegung entsprechender Altanlagen die ausschlaggebende Rolle bei der kommerziellen Einführung der Kernenergie. Ob nun eher der Preis – in der Bundesrepublik herrschte damals vor allem durch die Kohle ein hohes Energiepreisniveau – oder der künftige Energiebedarf als das wichtigste Motiv für die Einführung der Kernenergie zu identifizieren ist, lässt sich nicht eindeutig klären.212 Jedenfalls war das Energiepreisniveau für die energieintensive Industrie ein Nachteil im Wettbewerb mit dem Ausland. Zu dieser Problematik gab Mandel 1959 aufschlussreich zu bedenken: „Es gibt heute und in der näheren Zukunft keine Energielücke, die unbedingt durch die Atomenergie geschlossen werden müßte. Es gibt kein Energie-Mengenproblem, sondern nur ein Preisproblem. Auf der Welt gibt es noch genug Kohle und Öl für die Zukunft.“213 Die Stromwirtschaft gehörte nicht nur zu den am stärksten regulierten Wirtschaftsbranchen, sondern unterlag seit den 1970er-Jahren auch anderen Entscheidungszwängen, die ihren Gestaltungsspielraum zusätzlich einengten. Grundsätzlich forderten die EVU von der Politik Planungssicherheit für ihre Unternehmenspolitik und von politischer Seite zeigte man durchaus Verständnis für dieses Anliegen der Unternehmen. So äußerste beispielsweise Ministerialdirektor Hans Tietmeyer aus dem BMWi die Ansicht, dass Prognosen nur dann mit einer gewissen Sicherheit gemacht werden könnten, wenn diese durch passende politische Entscheidungen eingerahmt würden. Auch erinnerte er die EVU daran, dass zum Beispiel die Diskussion über die Erhöhung des Importkohlekontingents nur im Zusammenhang bereits bestehender Rahmenbedingungen (Jahrhundertvertrag) geführt werden könne.214 Günther Klätte (RWE) erwiderte darauf in der gleichen Sitzung, dass, „nachdem die Wünsche der deutschen Steinkohle befriedigt seien“ und auch die Rolle der Importkohle geklärt sei, „der weitere Ausbau der Kernenergie nicht weiter verschoben werden dürfe“.215 Hierbei ging es offensichtlich um die Flexibilität und die Geschwindigkeit, mit der die Energieversorger gewillt waren, auf veränderte Realitäten zu reagieren. Stromwirtschaft ist per se ein langfristig orientiertes Geschäft und allein dadurch mit hohen Opportunitätskosten verbunden. Dies bedeutet, dass einmal getroffene Entscheidungen häufig nur unter Inkaufnahme großer Kosten und Risiken korrigiert oder zurückgenommen werden können. Darüber hinaus wirken sich Entscheidungen für lange Zeiträume in der Zukunft aus. Dies trifft vor allem für die aus Energiebedarfsprognosen gezogenen Konsequenzen zu: „Diese an sich schon sehr 212 In zahlreichen Schriften von Politikern und Forschern kommt vor allem die Fortschrittsrhetorik bei Einführung der Kernenergie zum Tragen. Siehe u. a. Brandt, Leo, Die Zweite Industrielle Revolution, München 1957; Rusinek, Bernd A., „Kernenergie, Schöner Götterfunken!“ Die „umgekehrte Demontage“. Zur Kontextgeschichte der Atomeuphorie, in: Kultur & Technik 4 (1993), S. 15–21. 213 Mandel, Heinrich, Probleme des Atomkraftwerkbaus, Manuskript 1959, zit. nach Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 115. 214 Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. Juni 1980, S. 13, E.ON-Archiv München, EEA 608. 215 Ebd., S. 14.
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schwere Aufgabe der Vorschau und Vorausplanung“, klagte VEBA Chef Rudolf von Bennigsen, „für die der Vorstand die ihm von keinem abnehmbare Verantwortung trage, werde dadurch noch erschwert, daß wegen der langen Genehmigungsverfahren und Bauphasen sowohl bei Kernkraftwerken als auch bei Kohlekraftwerken ein schnelles Reagieren auf Veränderungen praktisch nicht mehr möglich sei.“216 Damit hatte von Bennigsen das gesamte Tableau der Energiebedarfsproblematik zur Sprache gebracht. Exemplarisch lässt sich an den Äußerungen des VEBA-Managers erkennen, dass sich um 1980 die Schwierigkeiten bei der Energiebedarfsplanung vergrößert hatten und dass dies neben den staatlichen Rahmenbedingungen auch mit Problemen bei den beiden Primärenergieträgern Kohle und Kernenergie zusammenhing. Auf Basis welchen Primärenergieträgers Kraftwerke gebaut werden sollten, war für die Energieversorger also alles andere als irrrelevant, nicht zuletzt wegen des Kostenarguments. Denn ein mit teurer (deutscher) Steinkohle betriebenes Kraftwerk warf, betriebswirtschaftlich kalkuliert, nicht so viel Gewinn ab wie ein Kernkraftwerk.217 Die Kostenfrage verschiedener Kraftwerkstypen rückte zu Beginn der 1980erJahre ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vielmehr noch wurde diese Frage auch zu einem zentralen Feld der Konfliktaustragung zwischen Kernenergiebefürwortern und -gegnern in der Bundesrepublik wie in den USA.218 Zu diesem Thema setzte 1983 eine regelrechte Gutachterauseinandersetzung zwischen dem Energiewirtschaftlichen Institut Köln (EWI) und dem Öko-Institut Freiburg ein, in der jede Seite ihre jeweiligen Berechnungen verteidigte. So hatten die beiden Mitarbeiter des Öko-Instituts, Dieter Viefhues und Jürgen Franke, mit soliden Methoden die Kosten von Kernkraftwerken und Steinkohlekraftwerken gegenübergestellt und mit einem hohen Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit unter dem Titel Das Ende des billigen Atomstroms219 publiziert. Die Studie des etablierten Energiewirtschaftlichen Instituts Köln kam jedoch zu anderen Ergebnissen als die Freiburger Untersuchung.220 Und so versuchten die Autoren in Rezensionen gegenseitig ihre jeweiligen Annahmen und Methoden zu widerlegen.221 216 Ebd., S. 12 f. 217 Siehe Schmitt, Dieter / Junk, Herbert, Kostenvergleich der Stromerzeugung auf Basis von Kernenergie und Steinkohle, in: ZfE (1981) 2, S. 77–86. 218 Siehe Kitschelt, Herbert, Der ökologische Diskurs. Eine Analyse von Gesellschaftskonzeption in der Energiedebatte, Frankfurt/M. 1984, S. 57–83. 219 Franke, Jürgen / Viefhues, Dieter, Das Ende des billigen Atomstroms, Köln 1983. 220 Die Unterschiede der beiden Studien sind sehr vielfältig und können an dieser Stelle nicht hinreichend gegenübergestellt werden. Diese reichen jedoch von den Errichtungs- und Stilllegungskosten, über die Ausnutzungsdauer bis hin zu Wiederaufarbeitungs-, Brennstoff- und Betriebskosten. In den meisten Fällen sind die Zahlen des Öko-Instituts zwei bis dreimal so hoch wie die des EWI Köln. Die Erzeugungskosten differieren dementsprechend stark und liegen beim EWI Köln bei 13,2 Pf je kWh und beim Öko-Institut zwischen 41 und 92 Pf je kWh. 221 Siehe Schmitt, Dieter / Junk, Herbert, Das Ende des billigen Atomstroms? Eine kritische Auseinandersetzung mit der Studie des Öko-Instituts, in: EWT 33 (1983) 8, S. 551–559; Franke, Jürgen / Viefhues, Dieter, Ist das Ende des billigen Atomstroms erreicht? Erwiderung auf eine „kritische“ Rezension zur Studie des Öko-Instituts Freiburg „Das Ende des billigen Atomstroms“, Münster 1983.
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Auch in der Stromwirtschaft beschäftigte man sich intensiv mit den Berechnungen beider Institute. Die Preußenelektra stellte dabei die Erzeugungskosten „Pf je kWh“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und verglich die Ergebnisse der beiden Studien mit den Betriebskosten ihrer Kraftwerke Mehrum und Heyden IV (Steinkohle) sowie Unterweser und Grohnde (Kernkraft). Beim Energieversorger wurden die Zahlen des EWI als wesentlich realitätsnaher als die des Öko-Instituts Freiburg eingeschätzt.222 In Nordrhein-Westfalen nahm gar Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer die allgemeine Diskussion zum Anlass, das Battelle-Institut223 mit einer Studie zum Kostenvergleich zwischen Steinkohle- und Kernkraftwerken zu beauftragen. Die derzeitige Kostenstruktur sei seines Erachtens „nicht hinreichend transparent“.224 Er forderte deshalb die DVG auf, dem Battelle-Institut alle notwendigen Daten für dessen Studie zur Verfügung zu stellen. Der NRWWirtschaftsminister war alles andere als ein Verteidiger der bestehenden Energiewirtschaftsstrukturen, denn er war bei der Reformdiskussion um den Ordnungsrahmen (Vierte Kartellgesetznovelle, Durchleitung, Demarkation, Wettbewerb) der Energiewirtschaft seit den 1980er-Jahren einer der Hauptakteure. Die Preisvorteile der Kernenergie gegenüber der Steinkohle waren in den 1970er-Jahren aus Sicht der Stromwirtschaft jedenfalls unübersehbar geworden. Die Errichtungskosten und die jährlichen Fixkosten waren bei einem Kernkraftwerk zwar höher als bei einem konventionellen Steinkohlekraftwerk. Die variablen Kosten jedoch, die wesentlich vom Preis für den Brennstoff (Uran war im Verhältnis der Menge und Brennstoffausnutzung preiswerter als jede Kohlesorte) bestimmt wurden, lagen beim Kernkraftwerk wiederum deutlich darunter. Hinzu kam, dass die Energiewirtschaft die Entsorgungskosten für Kernkraftwerke – die teuerste Komponente der Kernenergie – frühzeitig vergesellschaftet und damit dem Staat überantwortet hatte.225 Kernkraftwerke waren auf diese Weise konkurrenzlos billig und konnten durch eine hohe Betriebsstundenzahl ihre Vorteile durch Skaleneffekte noch vergrößern. Die Frage der Brennstoffbasis eines Kraftwerks war nicht nur im Rahmen einer genaueren Energiebedarfsplanung von Belang. Vielmehr wurden die Überkapazitäten der EVU um 1980 von Klaus Traube, einem ehemaligen Top-Manager eines 222 Stellungnahme des Preußenelektra-Vorstands „Erzeugungskosten Kernenergie“ vom 9. April 1984, E.ON-Archiv Hannover, Bestand Kernkraftwerk Brokdorf; Aktenvermerk der VEBA „Vergleich der Stromerzeugungskosten von Steinkohlekraftwerken und Kernkraftwerken“ vom 9. Dezember 1976, E.ON-Archiv Düsseldorf, Bestand VEBA AG, Ordner 14a. 223 Beim Battelle-Institut handelt es sich um ein amerikanisches Institut, das vorwiegend Vertragsforschung im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich betrieb. Gegründet 1929 in den USA, war es seit 1952 mit Büros in Frankfurt und Genf auch in Europa vertreten. Die Frankfurter Außenstelle verfügte zudem über wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Abteilungen. Siehe u. a. Battelle-Institut (Hg.), Einstellungen und Verhalten der Bevölkerung gegenüber verschiedenen Energiegewinnungsarten, Frankfurt/M. 1977. 224 Brief von Wirtschaftsminister Riemer an die DVG vom 7. Januar 1977, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 225 Zwar mussten die Unternehmen Rückstellungen für die Stilllegung, den Rückbau sowie für die Entsorgung der Kraftwerke und des radioaktiven Materials bilden, aber dies geschah mit steuerlich günstigen Modellen. Auch die Frage, was mit den Milliardenbeträgen bis zu ihrem Einsatz geschehe, wurde aus heutiger Sicht meist nur von Kernenergiekritikern gestellt.
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Kraftwerk-Komponentenherstellers, als „Kraftwerkshalden“226 öffentlich gebrandmarkt, nachdem er zum Kernkraftgegner geworden war. Die Unternehmen wollten jedoch nicht mit einer reinen MW-Mengenbetrachtung argumentieren, sondern den Energiebedarf und den daran ausgerichteten Kraftwerksbedarf nach Lastbereichen differenziert wissen.227 Auch die VDEW beschäftigte sich auf einer Pressekonferenz mit dem Titel Kraftwerkshalde oder Kraftwerkslücke? am 19. März 1979 intensiv mit dieser Thematik. Die Vereinigung kam zu dem Ergebnis, dass selbst, wenn man niedrige 4 % an Stromzuwachs für die 1980er-Jahre annähme, die erforderliche Reserve bald genutzt werden müsste und bereits gegen Ende des Jahrzehnts Versorgungsrisiken einträten. Eine Orientierung der Planung an der Unterseite des Verbrauchskorridors kam jedoch für die Vereinigung nicht infrage. Vielmehr sah die Strategie der VDEW Folgendes vor: „Die Konsequenz kann nur sein, dass weitere Kraftwerke begonnen werden müssen. Dabei kommen für den Zuwachs nur Steinkohle für die Mittellast und Kernenergie für die Grundlast infrage. Die Elektrizitätswirtschaft hat gerade im abgelaufenen Jahr ihren Steinkohlebezug auf fast 33 Mill. t gesteigert und wird auf Grundlage des 10-Jahresvertrages mit dem Steinkohlebergbau den Einsatz dieses heimischen Energieträgers fortsetzen. Der Bedarf an neuer Kraftwerksleistung liegt in den nächsten Jahren zunächst weniger bei der Mittellast als bei der Grundlast, das heißt also bei der Kernenergie.“228 Für die stromwirtschaftliche Planung war zwar die Betrachtung nach „Lastbereichen“ entscheidend. Doch die EVU waren in ihren Planungen nicht gänzlich frei von energiepolitischen Rahmenbedingungen. Ein Faktor, der für diese Betrachtung nicht zu vernachlässigen war, war die Kundenstruktur der Energieversorger: Hatte ein Unternehmen viele Kunden, die über den gesamten Tag verteilt gleichmäßig Strom abnahmen – also vor allem Industriekunden –, so konnte dieses Unternehmen kosteneffizient Grundlastkraftwerke betreiben. Eine Abnehmerstruktur mit vielen ländlich über weite Distanzen verteilten Abnehmern verteuerte jedoch vor allem die Stromverteilung, die rund ein Drittel der gesamten Stromerzeugungskosten ausmachte. Zweifelsfrei liegt dem Verhältnis zwischen Kohle und Kernenergie einiges an Konfliktpotenzial zugrunde. Ob man dabei jedoch von einer verhinderten Konfrontation sprechen kann, wie dies Joachim Radkau getan hat, bleibt fraglich.229 Gerade ein Blick auf den gesamten Energiebedarf verdeutlicht die Probleme zwischen Steinkohle und Kernenergie: Mit dem Gesetz zur Steinkohleverstromung hatte sich die Bundesregierung 1965 auf Steinkohle als wichtigsten Primärenergieträger für Großkraftwerke festgelegt, um damit deren Anteil an der gesamten Stromerzeugung weiter zu festigen. Damit aber blieben aufgrund der skizzierten Zuwachsraten, die in 226 Drei neue Atomkraftwerke pro Jahr? Klaus Traube über die „Dritte Fortschreibung des Energieprogramms“, in: Der Spiegel 41 (1981), S. 66–80. 227 Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 4. Dezember 1980, S. 6, E.ON-Archiv München, EEA 608. 228 Abschrift der VDEW-Pressekonferenz mit dem Thema „Kraftwerkshalde oder Kraftwerkslücke?“ am 19. März 1979, S. 3 f., HKR, VDEW FA „Stromwirtschaft“ ab August 1978 bis Dezember 1979, 2923. 229 Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 123 ff.
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den 1960er-Jahren noch weitgehend stabil waren, nur noch 900 MW jährlich für den Ausbau der Kernenergie übrig. Dies hätte dem Bau eines Kernkraftwerks pro Jahr entsprochen, was dem Organ der Atomindustrie „Atomwirtschaft – Atomtechnik“ schlichtweg zu wenig war. Das Fachblatt verwies in seinem Leitartikel „Wann kommen kommerzielle Atomkraftwerke?“230 im Juli des Jahres 1966 vielmehr dezidiert auf die politischen Hemmnisse für den Bau des ersten kommerziellen Atomkraftwerks in der Bundesrepublik. Als Fazit zum Verstromungsgesetz war Folgendes zu lesen: „Dies zeigt, wie sehr die Aussichten [der Kernenergie] durch diese Maßnahme betroffen werden.“231 Und auch beim Deutschen Atomforum fragte man, ob die Verstromungsgesetze die kerntechnische Entwicklung in der Bundesrepublik behinderten.232 Dass die Verstromungsgesetze „entgegen der ursprünglichen Absicht von Bundestag und Bundesregierung“ die Entwicklung der Kernenergie und damit den Fortschritt beeinträchtigten, dessen war man sich beim Deutschen Atomforum relativ sicher.233 Gerade bezüglich der Preisdiskussion zwischen Steinkohle und Kernenergie und der Äußerungen zum Verstromungsgesetz erhielt die Zeitschrift Atomwirtschaft durchaus kritische Leserzuschriften.234 Es überwogen hier allerdings die Stimmen, die die Förderung der Kernenergie den Kohlesubventionen vorzogen.235 1.4 „WEG VOM ÖL“ UND HIN ZUR HEIMISCHEN STEINKOHLE: STEINKOHLEVERSTROMUNG UND DER ,JAHRHUNDERTVERTRAG‘ Seit den Anfängen der bundesdeutschen Energieversorgung nahm die Steinkohle unter allen Primärenergieträgern eine zentrale Rolle ein.236 Gemeinsam mit der bei der Verfeuerung wesentlich preiswerteren Braunkohle237 stellte die Steinkohle für die Bundesrepublik den einzig echten heimischen Energieträger dar, der in ausreichender 230 Leitartikel [Ohne Autorangabe], Wann kommen kommerzielle Atomkraftwerke?, in: Atomwirtschaft–Atomtechnik, Juli (1966), S. 353. 231 Ebd. 232 Bericht über die Diskussion beim Deutschen Atomforum, Behindern Verstromungsgesetze die kerntechnische Entwicklung in der Bundesrepublik?, in: Atomwirtschaft – Atomtechnik, Dezember 1966, S. 596. 233 Edler, Erika / Schlitt, A., Verstromungsgesetze behindern den Fortschritt, in: Atomwirtschaft, März (1968), S. 126 f. 234 Siehe Leserzuschrift zu Wolfgang Gatzka zum Beitrag „Verstromungsgesetze behindern den Fortschritt“, in: Atomwirtschaft, Juli (1968), S. 379; Gatzka, Wolfgang, Das Gesetz zur Sicherung des Steinkohleabsatzes in der Elektrizitätswirtschaft, in: Glückauf 103 (1967) 6, S. 303 f. 235 Seetzen, Jürgen, Kohlesubventionen und Kernenergieförderung – ein Gegensatz?, in: Atomwirtschaft, Dezember (1968), S. 586 f. 236 Siehe u. a. Kroker, Evelyn, Zur Entwicklung des Steinkohlebergbaus an der Ruhr zwischen 1945 und 1980, in: Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie–Politik–Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 75–88. 237 Auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kohlesorten, wie z. B. Ballast- und Fettkohle, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Selbstverständlich sind die Heizwerte dieser Sorten und damit ihr Nutzen für die Verfeuerung höchst unterschiedlich. Siehe u. a. Müller, Leonhard, Handbuch der Elektrizitätswirtschaft. Technische, wirtschaftliche und rechtliche Grundlagen, 2. Aufl., Berlin u. a. 2001, S. 192–204.
1.4 „Weg vom Öl“ und hin zur heimischen Steinkohle
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Menge vorhanden war.238 Vor allem seit den 1970er-Jahren wurde von Politik, Gewerkschaften und Unternehmen immer wieder der Ausgleich zwischen „Kohle und Kernenergie“ hervorgehoben und propagiert. Dabei gab man beide Primärenergieträger als heimisch aus, obwohl Uran in Westdeutschland geologisch kaum vorkommt. Die relativ einfache Beschaffung in westlichen Industrienationen, wie etwa Australien und Kanada, ließen auch die Kernenergie als heimischen Energieträger erscheinen. Auf die Konstruktionsprinzipien und die öffentlich präsentierte Einigkeit zwischen „Kohle und Kernenergie“ wird in Kapitel 3.4. noch näher eingegangen. Bei der Verstromung von Steinkohle handelte es sich für den Untersuchungszeitraum um ein seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts etabliertes Verfahren der Energieerzeugung.239 Sowohl im Steinkohlebergbau als auch in der Stromwirtschaft waren seit Jahrzehnten Steinkohlekraftwerke betrieben worden. Die Geschichte dieser Art der Stromerzeugung ist selbst vielschichtig und konfliktreich, kann hier aber nicht weiter untersucht werden, da sich dieses Kapitel auf die Steinkohleverstromung und die Problemlagen seit den 1970er-Jahren konzentriert.240 Hier wird deshalb vor allem der Frage nachzugehen sein, welche stromwirtschaftlichen Interessen die Unternehmen bei der Steinkohleverstromung verfolgten und wie sie diese gegenüber der Politik kommunizierten und durchsetzten. In gesetzgeberischer Form erhielt der Steinkohlebergbau seit Mitte der 1960erJahre mit den Gesetzen zur Sicherung des Steinkohleeinsatzes von der Elektrizitätswirtschaft absatzsichernde Schützenhilfe.241 Mitte der 1960er-Jahre wurde mehr als 238 Siehe u. a. Imig, Heinrich, Die wirtschaftliche Situation des Bergbaus und die Wirtschaftspolitik der Industriegewerkschaft Bergbau. Referat, gehalten auf der 5. Generalversammlung der Industriegewerkschaft Bergbau (Kassel 7.–13. August 1955). Zit. nach Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945. Vorrang für die Kohle, Dokumente und Materialien zur Energiepolitik der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, Köln 1981, S. 100; Semrau, Gerhard, Stromerzeugung und Steinkohleverstromung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1980, in: Glückauf 117 (1981) 8, S. 473–476. 239 Siehe Döring, Peter, Steinkohleverstromung. Die Auseinandersetzung zwischen der Elektrizitätswirtschaft und dem Ruhrbergbau in den Jahren 1933 bis 1951, in: Rasch, Manfred (Hg.), Technikgeschichte im Ruhrgebiet – Technikgeschichte für das Ruhrgebiet, Festschrift für Wolfhard Weber zum 65. Geburtstag, Essen 2004, S. 518–543; ders., Von der Konfrontation zur Kooperation. Steinkohlebergbau und Elektrizitätswirtschaft im Ruhrgebiet, in: ders. / Horstmann, Theo (Hg.), Revier unter Strom. Fotografien zur Elektrizitätsgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2010, S. 52–71. 240 Die Geschichte der Steinkohleverstromung ist für das gesamte 20. Jahrhundert vergleichsweise gut erforscht. Siehe u. a. Döring, Peter, Ruhrbergbau und Elektrizitätswirtschaft. Die Auseinandersetzung zwischen dem Ruhrbergbau und der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft um die Steinkohleverstromung von 1925 bis 1951, Essen 2012; Abelshauser, Werner, Kohle und Marktwirtschaft. Ludwig Erhards Konflikt mit dem Unternehmensverband Ruhrbergbau am Vorabend der Kohlenkrise, in: VfZ 33 (1985) 3/4, S. 489–546; Dolata-Kreutzkamp, Petra, Die deutsche Kohlenkrise im nationalen und transatlantischen Kontext, Wiesbaden 2006, S. 55 ff.; Farrenkopf, Michael / Slotta, Rainer, Zur Geschichte des Ruhrbergbaus nach 1945. Ein Überblick, in: ders. / Ganzelewski, Michael / Przigoda, Stefan / Schnepel, Inga / ders. (Hg.), Glück auf! Ruhrgebiet. Der Steinkohlebergbau nach 1945, Bochum 2009, S. 23–36; Nonn, Christoph, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen 2001. 241 Siehe Gesetz zur Förderung der Verwendung von Steinkohle in Kraftwerken vom 12. August 1965; Gesetz zur Sicherung des Steinkohleeinsatzes in der Elektrizitätswirtschaft vom 5. Sep-
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deutlich, dass die seit 1957/58 schwelende Kohlekrise und der Zustand des Ruhrbergbaus mit den zu großen Fördermengen (140 Mio. t/Jahr) nicht mehr tragbar waren. Aus Sicht der Bundesregierung sowie der Landesregierung in NRW war deshalb eine Kurskorrektur notwendig, weil die Absatzkrise der Steinkohle in der Verdreifachung der Haldenbestände zwischen 1964 und 1966 zum Ausdruck kam.242 Auch leistete die deutsche Steinkohle in Folge des stagnierenden Primärenergieverbrauchs lange nicht mehr den Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung wie noch im Jahrzehnt zuvor, sodass eine steigende Subventionierung politisch nur schwer zu rechtfertigen war. Daher wurde eine Anpassung der Kohleförderung an die Absatzmöglichkeiten vorgenommen. In diesem Zusammenhang hätten höhere Subventionen für die Steinkohle auch zu einer stärkeren steuerlichen Belastung anderer Energieträger, vor allem des Heizöls, geführt. Ein insgesamt höheres Energiepreisniveau in der Bundesrepublik hätte darüber hinaus zu internationalen Wettbewerbsnachteilen der heimischen Ruhrkohle geführt und wurde entsprechend abgelehnt.243 Die Herabsetzung der staatlichen Absatzziele bedeutete jedoch keinesfalls den Verzicht auf sämtliche staatliche Unterstützung. Dem standen nicht zuletzt die Interessen der Zechengesellschaften und die sozialen Konsequenzen von wirtschaftlichen Strukturveränderungen im gesamten Ruhrgebiet entgegen.244 Daher entschied sich die Bundesregierung, die wichtigsten Abnehmer der Steinkohle, die Eisen- und Stahlindustrie, durch Gesetze abzusichern. Dies erschien deshalb notwendig, weil Eisen- und Stahlindustrie gemeinsam mit der Stromwirtschaft rund die Hälfte der deutschen Steinkohle verbrauchte. Bis zu Beginn der 1980er-Jahre sollte sich dieser Trend noch weiter fortsetzen: Während Haushalte und Gewerbe weiter auf Mineralöl setzten, nahm die deutsche Stahlindustrie fast vollständig Steinkohle ab, ihr Anteil an der Stromerzeugung betrug ca. 26 %.245 Schon 1968 hatte man unter Mitwirkung des Bundeswirtschaftsministeriums, der Landesregierung NRW, der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE)
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tember 1966; Gesetz über die weitere Sicherung des Einsatzes von Gemeinschaftskohle in der Elektrizitätswirtschaft vom 13. Dezember 1974. Für eine vertiefende Analyse des Steinkohleeinsatzes in der Elektrizitätswirtschaft sowie der Verstromungsgesetzgebung insgesamt siehe u. a. Rudhart, Hendrik, Volkswirtschaftliche Auswirkungen der Gesetze zur Förderung und Sicherung des Steinkohleeinsatzes in der Elektrizitätswirtschaft und ihre wirtschaftliche Beurteilung, Diss. Univ. Köln 1971; Schweickardt, Paul Erich, Die wirtschaftspolitische Problematik des Steinkohlesicherungsgesetzes als ein Beispiel staatlicher Anpassungshilfe zur Bewältigung struktureller Veränderungen in der Energiewirtschaft, Diss. Univ. Heidelberg 1968. Statistik der Kohlenwirtschaft 1972, Essen 1972. Zit. nach Streckel, Siegmar, Die Ruhrkohle AG. Entstehungsgeschichte und Zulässigkeit, Frankfurt/M. 1973, S. 28. Specht, Uwe, Die Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland von 1948–1967. Versuch einer Ziel-Mittel-Analyse, Freiburg im Breisgau 1969, S. 45, 149. Schneider, Hans Karl, Das Problem der Organisation des Ruhrkohlenabsatzes im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Steinkohlebergbaus und im Hinblick auf den energiewirtschaftlichen Strukturwandel, Köln 1959, S. 30. Aus gewerkschaftlicher Perspektive: Arendt, Walter, Zukunftsprobleme der Energiewirtschaft vom Standpunkt der Gewerkschaften, in: Duvernell, Helmut (Hg.), Bildung und Ausbildung in der Industriegesellschaft, Berlin 1966, S. 221–230. Kroker, Evelyn, Zur Entwicklung des Steinkohlebergbaus an der Ruhr zwischen 1945 und 1980, in: Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie–Politik–Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 75–88, hier S. 88.
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und der Bergbauunternehmen den Ruhrbergbau in einer Einheitsgesellschaft, der Ruhrkohle AG, zusammengefasst.246 Während das Erste Verstromungsgesetz den Bau neuer Kraftwerke bis ins Jahr 1971 steuerlich günstig gestaltete, diente das Zweite Verstromungsgesetz vor allem dazu, die Preisdifferenz beim Brennstoff (Preisvorteile für Gemeinschaftskohle bzw. schweres Heizöl gegenüber der Steinkohle) und betriebsbedingte Mehrkosten für Steinkohlekraftwerke auszugleichen. Zwei Drittel dieser Subventionsmaßnahmen wurden vom Bund übernommen und ein Drittel von den Bergbauländern Saarland und NRW.247 Nicht zuletzt weil der Einsatz von schwerem Heizöl in Kraftwerken nun genehmigungspflichtig war, wurde durch diese Maßnahmen der Bau von ca. 10.000 MW Kraftwerksleistung auf Steinkohlebasis bis Ende 1971 angestoßen.248 Schon bei dieser Gelegenheit hatte RWE-Vorstand Helmut Meysenburg darauf hingewiesen, dass dieses Gesetz eine Bestimmung sei, die die „notwendige Entscheidungsfreiheit der Unternehmer hinsichtlich ihrer Brennstoffwahl in einem bisher nicht gekannten Umfang beschränke“.249 Doch für die Stromwirtschaft sollte dies erst der Anfang sein. Der Rückgang der Fördermengen seit 1970 und das Anwachsen der Kohlehalden seit 1972 belegten, dass sich der Ruhrbergbau auch durch die Schaffung einer Einheitsgesellschaft nicht nachhaltig aus seiner Strukturkrise hatte befreien können. Auch der Ölpreisschock 1973/74 konnte, trotz gegenteiliger Erwartungen, die Lage der Steinkohle in der Bundesrepublik nicht grundsätzlich verbessern.250 Der Preisdruck durch den internationalen Kohlehandel führte vielmehr dazu, dass der Steinkohlebergbau sich bemühen musste, seine Kohle in großen Mengen zu ver246 Siehe Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen, Von der Einheitsgesellschaft zum „Vorrang für die Kohle“, in: dies. (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945, Köln 1981, S. 327. Mit der Gründung der Ruhrkohle AG wurde der bereits begonnene Weg des geordneten Rückzugs des deutschen Steinkohlebergbaus fortgesetzt. Flankiert wurde die Gründung von Zechenschließungen und Veränderungen auf den nationalen wie internationalen Energiemärkten. Die Krise des Ruhrbergbaus endete damit nicht, sondern wurde allenfalls in geordnete Bahnen gelenkt, um unter anderem Proteste der Arbeiter zu kanalisieren. Siehe Farrenkopf, Michael / Slotta, Rainer, Zur Geschichte des Ruhrbergbaus nach 1945. Ein Überblick, in: ders. / Ganzelewski, Michael / Przigoda, Stefan / Schnepel, Inga / ders. (Hg.), Glück auf! Ruhrgebiet. Der Steinkohlebergbau nach 1945, Bochum 2009, S. 23–36, hier S. 30. 247 Für andere Bundesländer, wie z. B. Bayern, war die „Revierferne“ hinsichtlich der Kohleproblematik durchaus schwerwiegend. Denn die Bereitstellung eines ausreichend günstigen Energieangebots zählte zu den wesentlichen wirtschaftlichen Standortfaktoren im Wettbewerb zwischen den Bundesländern. Siehe Deutinger, Stephan, Eine „Lebensfrage für die bayerische Industrie“. Energiepolitik und regionale Energieversorgung 1945 bis 1980, in: Schlemmer, Thomas / Woller, Hans (Hg.), Bayern im Bund, Bd. 1: Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001, S. 33–118; Grüner, Stefan, Geplantes „Wirtschaftswunder“? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973, München 2009, S. 384–395. 248 Die Ausweitung der Stromerzeugung auf Ölbasis war für die Energieversorger nie eine ernsthafte Alternative. Bei einer politisch unbeeinflussten Markentwicklung hätte die Stromwirtschaft aller Voraussicht nach eher auf Importkohle denn auf Öl gesetzt. 249 Meysenburg, Helmut, Aktuelle Probleme der Elektrizitätswirtschaft, Düsseldorf 1966, S. 27. 250 Der Steinkohlebergbau hoffte insbesondere auf die Verknüpfung der Technologie- und Strukturpolitik. Denn im Rahmen des Energieprogramms wurden im Sinne einer sicheren (heimischen) Energieversorgung vor allem Technologien zur Kohlevergasung, Kohlehydrierung und der Kopplung mit Kernenergie gefördert und erprobt.
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stromen. Unterstützt wurde der Steinkohlebergbau dabei von der Stromwirtschaft, die zum Teil Importverträge mit amerikanischen Kohlelieferanten auflöste. Dieser Trend kehrte sich jedoch bereits Mitte der 1980er-Jahre wieder um, denn damals versuchte die Preußenelektra in den USA und Australien neue Gesellschaften für Importkohle zu erwerben oder langfristige Lieferverträge mit diesen abzuschließen.251 Die Subventionierung der Steinkohle wurde mit dem Dritten Verstromungsgesetz 1974 schließlich unvermindert fortgesetzt: Im Rahmen des Ersten Energieprogramms im September 1973 hatte die Bundesregierung eine Steinkohleabsatzmenge von 80 bis 85 Mio. t bis 1980 angestrebt. Davon sollten ca. 30 Mio. t jährlich von der Elektrizitätswirtschaft abgenommen werden, die ihre Kooperationsbereitschaft auch bereits erklärt hatte.252 Eine Kurskorrektur als Reaktion auf den Ölpreisschock und die Veränderung der Weltenergiemärkte nahm die Bundesregierung in ihrer ersten Fortschreibung des Energieprogramms ein Jahr später, im Oktober 1974, vor. Als Lehre aus der Krise rückte das Bemühen um sparsame Energieverwendung nun verstärkt ins Zentrum politischer Bemühungen. Dem Energieträger Steinkohle wurde im Rahmen der Ölkrise von der Politik eine neue Rolle zugedacht. Die Regierung wollte von nun an die Menge inländischer Steinkohle nicht mehr zurückfahren, sondern ausbauen und gab bis 1980 eine Fördermenge von 94 Mio. t jährlich als Ziel an,253 was sich schon wenig später als unrealistisch erweisen sollte. Bis 1978 ging die Fördermenge auf 83,5 Mio. t jährlich zurück, und auch der Inlandsabsatz stagnierte bei ca. 60 Mio. t pro Jahr.254 Flankiert wurde das Dritte Verstromungsgesetz durch eine „Ausgleichsabgabe“ für die Steinkohleverstromung.255 Von den Elektrizitätswerken wurde dieser sogenannte Kohlepfennig direkt an die Endkunden weitergegeben, die auf diese Weise 251 Bei der Konzernmutter der Preußenelektra, der VEBA, existierte seit 1979 eine abgestimmte Konzernstrategie zum Einsatz von Importkohle sowie entsprechende Pläne zur Prospektion entsprechender Kohlevorkommen in Australien. Siehe Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 4. Dezember 1980, S. 7, E.ON-Archiv München, EEA 608. Nachdem die Vorhaben in Australien gescheitert waren, wollte man die langfristige Versorgung mit Steinkohle durch Aktivitäten in den USA sicherstellen. Siehe Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 14. Mai 1982, S. 24 f., E.ON-Archiv München, EEA 608. 252 BT-Drucksache 7/1057, S. 12 ff. 253 BT-Drucksache 7/2713. Die Absatzeinbußen auf dem Wärmemarkt, also bei Haushalten und im gewerblichen Sektor, zugunsten anderer Energieträger (Heizöl) konnten auch zu Beginn der 1980er-Jahre durch diese Maßnahmen nicht aufgehalten werden. Und während in der Zeit zwischen März 1969 und März 1971 im deutschen Steinkohlebergbau keine Zeche stillgelegt werden musste, wurde dieses Schicksal bis zum Dezember 1976 gleich 28 Schachtanlagen mit einer Förderkapazität von 34 Mio. t zuteil. Siehe Huske, Joachim, Die Steinkohlezechen im Ruhrrevier. Daten und Fakten von den Anfängen bis 2005, 3. Aufl., Bochum 2006. 254 Statistik der Kohlenwirtschaft, Zahlen zur Kohlenwirtschaft, Essen und Köln, 113 (1978), S. 16. 255 Dieser sogenannte Kohlepfennig wurde als Aufschlag auf den Strompreis erhoben, um die heimische Steinkohle zu finanzieren. Gegen eine derartige Abgabe hatten sich die EVU lange Zeit gewehrt, weil sie die Subventionierung des Steinkohlebergbaus als eine rein öffentliche Aufgabe ansahen. Siehe Stellungnahme der VDEW zum Kohlepfennig an die Wirtschaftsminister der Länder vom 7. Februar 1973, HKR, Ordner VDEW Verschiedenes – Mitgliederrundschreiben, 1. August 1969 bis August 1975, 2915.
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die Steinkohle subventionierten. Im Durchschnitt betrug diese Abgabe ca. 4 % und sie wurde seit dem 1. Januar 1975 erhoben.256 Die Verstromung der Steinkohle in der Stromwirtschaft erreichte seit 1974 nie wieder die in den fortgeschriebenen Energieprogrammen angegebene Menge von 33 Mio. t pro Jahr. Vielmehr fiel diese bis 1977 unter die Marke von 30 Mio. t pro Jahr.257 Der Kohlepfennig funktionierte über den Mechanismus eines Ausgleichfonds. So wurde er bei den Stromabnehmern eingesammelt und in den Verstromungsfond gezahlt. Die Unternehmen der Stromwirtschaft kauften auf der Grundlage langfristiger Lieferverträge bei den Bergbauunternehmen deutsche Steinkohle zum Listenpreis, der über dem Preis von Importkohle lag. Die Preisdifferenz zur Importenergie wurde zum Teil in Anrechnung gegen den Ölpreis oder gegen Importkohlepreise durch die Vergabe von Kontingenten zum Bezug von Importsteinkohle vom Fond an die EVU ausgeglichen. Auf diese Weise fand das Geld aus dem Fond seinen Weg von den Verbrauchern bzw. der Stromwirtschaft zu den Bergbauunternehmen, die damit ihre defizitäre Produktion bezahlen konnten. Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde zusehends klarer, dass die seit Ende der 1960er-Jahre angestrebte ‚Gesundschrumpfung‘ des deutschen Steinkohlebergbaus nicht zu verwirklichen war. Allein die Förderkosten für die heimische Steinkohle hatten sich seit Beginn der 1970er-Jahre fast verdreifacht. Damit verschlechterte sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Steinkohle im Vergleich zu anderen Energieträgern zusätzlich.258 Insgesamt hatten indes die Verstromungsgesetze dazu beigetragen, dass der Ölanteil an der Stromerzeugung erheblich zurückging – und damit ihr politisch intendiertes Ziel erfüllt.259 Der Versuch der Bundesregierung, der heimischen Kohle durch staatliche Subventionierung langfristig den Absatz zu sichern, war jedoch nur bedingt erfolgreich. Die Fördermenge der deutschen Steinkohle erreichte 1978 mit 83,9 Mio. t ihren bis dato niedrigsten Stand.260 Im Jahr 1981 trug die Steinkohle nur noch mit einem Anteil von 18 % zur Deckung des Primärenergiebedarfs in der Bundesrepublik bei. Trotz des Umstands, dass Stahlindustrie und Stromwirtschaft nach der großen Krise die wichtigsten Abnehmer der Steinkohle geworden waren, 256 Begleitet wurden diese energiepolitischen Maßnahmen zur Stützung der deutschen Steinkohle in den folgenden Jahren von zahlreichen Durchführungsbestimmungen und Gesetzesnovellen, die vor allem auf die Förderung des Baus von Steinkohlekraftwerken sowie den Mehrkostenausgleich im Vergleich zu anderen Energieträgern, vor allem Heizöl, abzielten. Für einen Überblick über diese Maßnahmen in Bezug auf die Steinkohle: Meyer-Renschhausen, Martin, Das Energieprogramm der Bundesregierung. Ursachen und Probleme staatlicher Planung im Energiesektor der BRD, Frankfurt/M. und New York 1981, S. 77 ff., 110 ff., 184 ff. 257 VIK (Hg.), Statistik der Energiewirtschaft 1977/78, S. 46. 258 Siehe Düngen, Helmut / Schmitt, Dieter, Neuere Entwicklungen und Perspektiven der Kohlesubventionierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZfE (1978) 2, S. 276–286. 259 Während der Mineralölanteil an der Stromerzeugung 1966 mit 10,8 % seinen bis dahin höchsten Stand erreicht hatte, stieg dieser bis 1973 sogar auf 13 % an. Ab dieser Zeit war ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen. 1989 betrug der Anteil des Mineralöls an der Stromerzeugung nur noch 2,3 %. Siehe Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen – Auswertungstabellen November 2007. 260 Kroker, Evelyn, Zur Entwicklung des Steinkohlebergbaus an der Ruhr zwischen 1945 und 1980, in: Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie–Politik–Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 75–88, hier S. 88.
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nahmen diese 1975 weniger Steinkohle ab, obwohl ihre Stromerzeugung nahezu konstant geblieben war.261 Grund dafür war nicht nur die Inbetriebnahme größerer Kraftwerksblöcke, sondern auch die Substitution zugunsten anderer preiswerterer Primärenergieträger, wie zum Beispiel der Braunkohle durch die RWE.262 Bereits seit Mitte der 1970er-Jahre hatte sich die Absatzkrise der Ruhrkohle durch die Produktionseinschränkungen der Stahlindustrie als größtem Abnehmer des Kohlebergbaus erheblich verschärft. Unvermindert hohen Fördermengen und den daraus resultierenden Kohlehalden standen Teile der Stromwirtschaft durchaus skeptisch gegenüber. So bezweifelte der Vorstandsvorsitzende der Preußenelektra, Erhard Keltsch, dass das Dritte Verstromungsgesetz – mit dem Zweck, die Kohle vor dem Öl zu schützen – in dieser Situation greife. Vielmehr äußerte er den Verdacht, dass die Bundesregierung versuche, die Stromwirtschaft zu einem zusätzlichen Einsatz von Steinkohle zulasten anderer Primärenergien zu nötigen und die damit verbundenen Mehrkosten über einen erhöhten Kohlepfennig an den Stromverbraucher weiterzureichen.263 Die Unternehmen der Stromwirtschaft, so die Empfehlung Keltschs, sollten sich gegen eine derartige Maßnahme wehren, weil sie keine Lösung bringe, wohl aber das Problem von einem Wirtschaftszweig auf einen anderen übertrage.264 Bei der Steinkohle war der staatliche Zugriff besonders gravierend, weil ein Eingriff in die Kohleförderung nicht zuletzt mit einer Veränderung der Beschäftigungslage im Bergbau verbunden war. Für Keltsch waren die Grenzen „etwaiger Hilfsaktionen jedoch erreicht“,265 wenn, wie im Fall des politisch ge261 Plumpe, Werner, Krisen der Stahlindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Henning, Friedrich-Wilhelm (Hg.), Krisen und Krisenbewältigungsstrategien vom 19. Jahrhundert bis heute, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 70–91, hier S. 71 f. 262 Meyer-Renschhausen, Martin, Das Energieprogramm der Bundesregierung. Ursachen und Probleme staatlicher Planung im Energiesektor der BRD, Frankfurt/M. und New York 1981, S. 131 f. 263 Es ist höchst schwierig nachzuvollziehen und zu kontrollieren, wie Energieversorger ihre Preise kalkulieren. Das berührt als zweites Problem die Frage, wie Preisgenehmigungsbehörden dies überprüfen. Die Praxis der 1970er- und 1980er-Jahre zeigte, dass es aus der Sicht der Stromerzeuger eher selten Probleme mit den zuständigen Landesministerien bei der Genehmigung von Strompreiserhöhungen gab. Siehe dazu u. a. Hauschild, Jürgen, Die Absatzpolitik der Energieversorgungsunternehmen im Spannungsfeld von Gewinnstreben und öffentlichen Leistungsansprüchen, Tübingen 1964, S. 142 f. Vor allem die unterschiedliche Preispolitik gegenüber den verschiedenen Abnehmergruppen (Tarif- und Sonderabnehmer) ist dabei von Interesse. Was die Preisaufsicht der Genehmigungsbehörden betrifft, so sind Energieversorger im Bereich der Sonderabnehmer – dies sind vor allem mittlere und große Industriebetriebe mit einem erheblichen Strombedarf – weit weniger gebunden als bei Tarifabnehmern. 264 Auch die stromintensive Industrie bzw. der sie vertretende Verband, die VIK, versuchte bei der Bundesregierung eine Sonderregelung für ihre Mitgliedsunternehmen zu erreichen, sodass diese weniger vom Dritten Verstromungsgesetz belastet sein würden. Diese Forderung lehnte der Bundeswirtschaftsminister mit dem Hinweis ab, dass selbst bei einem Stromkostenanteil an den Gesamtkosten von 20 % – bei Aluminiumhütten lag dieser Anteil teilweise deutlich niedriger – die Anhebung der Ausgleichsabgabe von bisher 3,24 % auf 4,5 % bei den Unternehmen nur zu einer Kostensteigerung um 0,25 % führen würde. Siehe Bundeswirtschaftsminister Friderichs an die VIK vom 10. Februar 1976, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 265 Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 18. November 1975, E.ON-Archiv Düsseldorf, S. 4.
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wollten Steinkohlekraftwerks Ibbenbüren/Westfeld, die Kosten zur Sicherung der Arbeitsplätze in keinem Verhältnis mehr zum gesellschaftlichen Nutzen stünden. Nach einer kooperativen Lösung zwischen Stromwirtschaft und Steinkohlebergbau hatte es lange Zeit nicht ausgesehen. Vielmehr kam es Mitte der 1970er-Jahre zwischen der RWE und dem nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer zu erheblichen Auseinandersetzungen. Riemer, ohnehin kein ausgewiesener Freund der Stromwirtschaft, hatte eine Strompreiserhöhung der RWE dazu genutzt, den Stromversorger heftig zu kritisieren. Die RWE hatten die Preiserhöhung für Sondervertragskunden unter anderem mit der Ausweitung der Steinkohleverstromung und den vermeintlich gestiegenen Kosten begründet. Tatsächlich gaben die RWE aber konjunkturell bedingt 9 % weniger Kilowattstunden an ihre Kunden ab, als man in früheren Schätzungen angenommen hatte. Auch die Abnahme von Steinkohle wurde um 10 Mio. t zurückgefahren. Darüber hinaus ersetzten die RWE Teile der Strommengen aus Steinkohle durch preiswertere Braunkohle und Kernenergie.266 Der Minister warf dem Unternehmen daher vor, durch seine „konträre Verstromungspolitik“ zur Haldenbildung beigetragen zu haben und Kostenersparnisse nicht durch Strompreissenkungen an die Verbraucher weitergegeben zu haben. Bei der RWE war man hingegen der Auffassung, dass der Anteil der Steinkohle an der Energiebedarfsdeckung schon in den vergangenen Jahren „weit über das wirtschaftlich vertretbare Maß hinausgegangen sei“.267 Minister Riemer blieb jedoch bei seiner ursprünglichen Auffassung und wollte die Anträge des Energieversorgers auf Strompreiserhöhungen künftig genauer unter die Lupe nehmen.268 Bei der Preußenelektra war man 1973 noch davon ausgegangen, dass die EVU ihre Verpflichtungen aus dem Zweiten Verstromungsgesetz, also der Abnahme der Steinkohlemengen zur Stromerzeugung in den Kraftwerken, einhalten würden. Die Akzeptanz erhöhter Kosten durch den Einsatz von Ruhrkohle sollte sicherstellen, dass bei aus diesem Grunde notwendigen Strompreiserhöhungen Schwierigkeiten vonseiten der Länderbehörden nicht zu erwarten seien.269 Diese Erwartung sollte sich in Nordrhein-Westfalen offensichtlich nicht bestätigen. Die VDEW schätzte die Lage bezüglich der Halden ein wenig anders ein. Diese seien in erheblichem Umfang durch Sonderschichten verursacht worden, die der Steinkohlebergbau trotz rückläufigen Kohleverkaufs bis in den Herbst 1975 gefahren habe. Der Steinkohlebergbau habe nach Auffassung der Stromwirtschaft seine politische und wirtschaftliche Bedeutung – auch wegen des bevorstehenden Bundestagswahlkampfes – dazu
266 Schreiben der RWE an NRW-Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer, Strompreisbildung – Steinkohleverstromung vom 12. Dezember 1975, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1975/76, 2724. 267 Günther Klätte, Notizen zum Aufsichtsratsbericht vom 31. Oktober 1975, HKR, 2724. 268 Schreiben von NRW-Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer an die RWE, Preisbildung elektrischer Energie – Steinkohleverstromung vom 8. Dezember 1975, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1975/76, 2724. 269 Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 30. Mai 1973, E.ON-Archiv München, Aufsichtsrat und Beirat Juni 1972 bis Mai 1974, EEA 862, S. 10.
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genutzt, einflussreiche Politiker aller Parteien für sein Ziel zu gewinnen, die Stromwirtschaft zum erwünschten Steinkohleeinsatz zu verpflichten.270 Ein grundsätzliches Dilemma blieb für den Steinkohlebergbau allerdings weiterhin bestehen. Einerseits plante die Bundesregierung die Steinkohle als wichtigen Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung ein. Andererseits existierten für die deutsche Steinkohle nur unzureichende Absatzmöglichkeiten. Deshalb schlug der Steinkohlebergbau der Bundesregierung eine langfristige Liefervereinbarung mit der Elektrizitätswirtschaft vor. Schon seit Ende der 1960er-Jahre hatte es immer wieder intensive politische Debatten darüber gegeben, ob die Bundesregierung der Kohle mit Nachdruck, sprich mit gesetzlich eingeführten Abnahmeverpflichtungen, aus ihrer Absatzkrise helfen solle. In der Stromwirtschaft wurde die Möglichkeit einer kooperativen Lösung zu Beginn der 1970er-Jahre noch höchst unterschiedlich, in der Tendenz aber eher skeptisch bewertet.271 Im Verhältnis zwischen EVU und Steinkohleverband sollte sich Mitte der 1970er-Jahre in Sachen Kohleverstromung ein ,Friedensschluss‘ zwischen VDEW und dem Gesamtverband des deutschen Steinkohlebergbaus (GVSt) abzeichnen.272 Die Bundesregierung hatte ohnehin eine Regelung auf freiwilliger Basis favorisiert und nun wurde am 10. Mai 1977 zwischen Stromwirtschaft und Steinkohlebergbau eine Vereinbarung getroffen und vom Bergbau überschwänglich als „Jahrhundertvertrag“273 bezeichnet. An ihrem Beispiel lassen sich stromwirtschaftliche Aushandlungsprozesse geradezu mustergültig darstellen. Der Steinkohlebergbau musste bis zum Abschluss dieser Vereinbarung einen umfänglichen und zum Teil schmerzhaften ökonomischen Anpassungsprozess vollziehen. Zugleich war dieser Wirtschaftszweig seit den 1960er-Jahren daran gewöhnt, langfristige Verträge mit Industriepartnern abzuschließen, um den Bergbau zu stabilisieren. Wie der 1969 mit der Stahlindustrie bei einer Laufzeit von 20 Jahren abgeschlossene „Hüttenvertrag“ beispielhaft belegt, befand sich der Steinkohlebergbau meist in einer relativ guten Verhandlungsposition.274 270 Ergänzender Bericht des Geschäftsführers zur Sitzung der Vorstandsratssitzung der VDEW am 13. Januar 1976, S. 2, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929. 271 Niederschrift über die Vorstandsratssitzung der VDEW am 8. Oktober 1973, HKR, Ordner VDEW Verschiedenes – Mitgliederrundschreiben, 1. August 1969 bis August 1975, 2915. 272 Künftige Steinkohleverstromung, Internes Dokument RWE, Rittstieg an Klätte, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK Januar 1979 bis Januar 1980, 6039. Die Strategie zur Steinkohleverstromung und deren Umsetzung wurde im Wesentlichen zwischen den RWEVorständen Mandel, Klätte, Gieske und Spalthoff auf dem Rückflug von einer Reise nach Luxemburg besprochen. Das von Rittstieg verfasste Papier ist gewissermaßen ein zusammenfassendes Protokoll. Interessanterweise fanden viele Vorschläge der RWE später Eingang in den Jahrhundertvertrag. 273 Vereinbarung zwischen VDEW und GVSt vom 10. Mai 1977, HKR, VDEW Verschiedenes ab September 1975 bis 31. Juli 1979, 2916. Diese Vereinbarung wurde zwar zwischen den beiden Verbänden geschlossen, betraf jedoch insgesamt 42 Elektrizitätswerke vom großen Verbundunternehmen bis zum Stadtwerk sowie mit 6 Steinkohlebergbauunternehmen alle wichtigen Vertreter des deutschen Steinkohlebergbaus. 274 Abelshauser, Werner, Von der Kohlekrise zur Gründung der Ruhrkohle AG, in: Mommsen, Hans / Borsdorf, Ulrich (Hg.), Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisation in Deutschland, Köln 1979, S. 415–443, hier S. 438.
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Mit dem Jahrhundertvertrag verpflichteten sich 42 Stromversorger, über einen Zeitraum von zehn Jahren durchschnittlich 33,5 Mio. t SKE jährlich zu verstromen. Abhängig von der Konjunkturlage sollte die Verstromungsmenge ab 1981 jährlich um etwa 1 auf 45 bis 47,5 Mio. t SKE für den Zeitraum von 1991 bis 1995 steigen. Abweichende Mengen bis 20 % sollten in den Folgejahren ausgeglichen werden. Die zu verstromende Menge je Unternehmen wurde nach einem Schlüssel auf die einzelnen EVU verteilt. Eine Vertragseinschränkung lag darin, dass die Verstromungsmengen an bestimmte Zuwachsraten beim Stromverbrauch geknüpft waren. Auch bei dieser vertraglichen Regelung spielte die Entwicklung des gesamten Energiebedarfs also eine zentrale Rolle. Den Stromerzeugern war der Vertrag durch den Gesetzgeber mittels erheblicher Mehrkostenausgleiche schmackhaft gemacht worden. Zwar beschwerten sich die EVU in der Folgezeit immer wieder vehement über die konkrete Ausgestaltung des Jahrhundertvertrags, aber letztlich konnten sie gegen diesen ernsthaft kaum etwas unternehmen. Der Vertrag stellte eine der wesentlichen energiepolitischen Prioritäten der Bundesregierung dar und mit einer entsprechenden Einstellung trat die Politik auch gegenüber der Stromwirtschaft auf. Im Übrigen war der Vertrag durch eine enge persönliche Abstimmung zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem IGBE-Vorsitzenden Adolf Schmidt zustande gekommen, er bildete später die Grundlage für den Konsens zwischen Kohle- und Kernenergie. Der IGBE-Vorsitzende Schmidt hatte es, ähnlich wie sein Vorgänger, der spätere Arbeitsminister Walter Arendt, verstanden, in Sachen Energiepolitik auf die Bundesregierung einzuwirken. Adolf Schmidt verfügte über einen „direkten Draht“ zu Bundeskanzler Helmut Schmidt und wusste diesen zu nutzen. Beide pflegten ein freundschaftliches Verhältnis und vertraten zum Teil ähnliche energiepolitische und -wirtschaftliche Auffassungen, vor allem, was die Rolle der Steinkohle im gesamten Primärenergieangebot betraf.275 Im Januar 1980 teilten Vertreter des Steinkohlebergbaus und der Stromwirtschaft dem Bundeskabinett mit, dass sie den Jahrhundertvertrag verlängern und mengenmäßig erhöhen wollten, damit die Verstromungsgesetze daraufhin verändert werden könnten. Abnehmer der Steinkohle sollten die öffentlichen Elektrizitätswerke sowie die Vereinigung Industrieller Kraftwirtschaft (VIK) und die Bundesbahn sein. In der modifizierten Vereinbarung sei die Aufstockungsmenge nicht bezuschusst. Im Gegenzug sollte den abnehmenden Unternehmen jedoch der Zugang zum Drittlandskohleimport gewährt werden. Für die IGBE war der Vorrang der heimischen Kohle eine Selbstverständlichkeit. In der Stromwirtschaft diskutierte man dagegen schon kurze Zeit nach Unterzeichnung die mögliche Aufkündigung der Vereinbarung. Anlass dazu gab die Behauptung, dass der Bergbau angeblich minderwertige Kohle mit einem geringeren Brennwert an die Energieversorger lieferte und damit die Übereinkunft nicht einhalte. Zur Aufkündigung der Vereinbarung kam es allerdings nie, denn die Energieversorger schätzten die politische Lage so ein, dass eine Aufkündigung ihnen deutliche Nachteile brächte.276 Im Zuge der verlängerten Vereinbarung mit der Stromwirtschaft forderten die IGBE die Bundes275 Transkript des Interviews mit Adolf Schmidt am 7. März 2008 in Bochum-Wattenscheid. 276 Bericht des Geschäftsführers zur VDEW-Vorstandsratssitzung am 15. November 1978, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. Juli 1978, 2931.
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regierung auf, die Beschränkungen für Importkohle erst zu lockern, wenn die heimische Steinkohle am Markt abgesetzt sei.277 Angesichts der sich vergrößernden Kohlehalden und des wachsenden Konkurrenzdrucks durch Importkohle waren die Forderungen der IGBE durchaus verständlich. Die Stromwirtschaft, allen voran die RWE und die Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG (VEW), mussten zwar erst mit sanftem politischen Druck von der Notwendigkeit weiterer Steinkohlekraftwerke überzeugt werden. Doch schließlich schlossen beide Unternehmen mit dem Bergbau langfristige Verträge über die Abnahme von Steinkohlestrom ab.278 Die Regelung der Steinkohleverstromung hatte für die Stromwirtschaft durchaus positive Effekte. Erstens mündete die jahrelange und zum Teil heftig geführte Auseinandersetzung mit dem Steinkohlebergbau in einem Vertragswerk und zweitens war der Hauptstreitpunkt zwischen beiden Parteien, nämlich die Abnahme von Kraftwerkskohle, aus der Welt geschafft. Drittens wurden die Kosten für die Regelung von den Stromverbrauchern getragen, womit den Kraftwerksbetreibern keine zusätzlichen Kosten entstanden. Schließlich schützten flexible Regelungen im Jahrhundertvertrag die Stromwirtschaft davor, eventuell mehr Steinkohle abnehmen zu müssen, als sie verstromen konnte.279 Gerade nach dem Ölpreisschock 1973/74 entwickelten sich die Leitlinien der bundesdeutschen Energiepolitik: Sie reichten von Energiespar- und Effizienzbestrebungen – „Weg vom Öl“ – hin zur Steinkohle. In Forschungsprogrammen wurde zum Beispiel intensiv die Verflüssigung von Kohle zu Öl untersucht. Dabei handelte es sich um ein kostenaufwendiges sowie energetisch verschwenderisches Unterfangen, das vor allem von der Intention bestimmt war, möglichst unabhängig von Ölimporten zu sein. Die energiepolitischen Ziele der Bundesregierung waren jedoch jenseits der Festlegung auf Kernenergie sowie der Förderung der heimischen Kohle durchaus widersprüchlich. Sie gingen vor allem zulasten einer rationelleren Energieanwendung und deren Erforschung.280 Der Steinkohlebergbau war 277 Rundbrief der IGBE, Abteilung Wirtschaft, an alle Sekretäre der IGBE vom 13. Mai 1980 mit einer Darstellung der Vereinbarungen zwischen Elektrizitätswirtschaft und Bergbau bis zum Jahre 1955 als Anlage. Zit. nach Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945. Vorrang für die Kohle, Dokumente und Materialien zur Energiepolitik der Industriegewerkschaft Bergbau und Chemie, Köln 1981, S. 392 f. Adolf Schmidt, der Vorstandsvorsitzende der IGBE, plädierte im Zusammenhang mit der Verlängerung nicht nur für die Verstromung der Steinkohle, sondern auch für deren Verkokung und dafür, dass sie generell auf dem Wärmemarkt eingesetzt werde. Siehe Schmidt, Adolf, Vorrang für heimische Kohle. Abschlussrede, gehalten auf dem 12. Gewerkschaftskongress der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (Aachen 24.–28. November 1980). Zit. nach Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945. Vorrang für die Kohle, Dokumente und Materialien zur Energiepolitik der Industriegewerkschaft Bergbau und Chemie, Köln 1981, S. 396. 278 Döring, Peter, Von der Konfrontation zur Kooperation. Steinkohlenbergbau und Elektrizitätswirtschaft im Ruhrgebiet, in: ders. / Horstmann, Theo (Hg.), Revier unter Strom. Fotografien zur Elektrizitätsgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2010, S. 68. 279 Jákli, Zoltán, Vom Marshallplan zum Kohlepfennig. Grundrisse der Subventionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1948–1982, Opladen 1990, S. 280. 280 Bergmeier, Monika, Zur Geschichte umweltfreundlicher Energietechniken im 20. Jahrhundert. Das Beispiel der Abfallenergieverwertung, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 151– 176, hier S. 163.
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in dieser Situation bestrebt, nicht nur den kurzfristigen Lückenbüßer zu spielen, sondern langfristig von der Ölkrise zu profitieren.281 Auch die Gewerkschaften erklärten wiederholt, dass es für sie kaum Alternativen zu Steinkohlekraftwerken gäbe. Langfristig betrachtet, waren trotz kurzfristig verminderter Zuwachsraten im Elektrizitätsverbrauch Steinkohlekraftwerke zur Stromerzeugung absolut unumgänglich. Und diese Auffassung werde, so der IGBE-Vorsitzende Schmidt, „weder innerhalb noch außerhalb der Elektrizitätswirtschaft bezweifelt“.282 In der Stromwirtschaft hatte man bis dato den Einsatz von Steinkohle pragmatisch beurteilt. Denn zum einen war Steinkohle für die Stromwirtschaft ein vergleichsweise teurer Primärenergieträger für den Betrieb ihrer Kraftwerke, zum anderen war es politisch möglich, die Mehrkosten auf den Strompreis umzulegen. Für die Energie-Aushandlungsprozesse zwischen Politik, Stromwirtschaft und Steinkohlebergbau waren gegenseitige Zugeständnisse und Ausgleich charakteristisch. Dies bedeutete konkret, dass die Stromwirtschaft aus politischen Erwägungen heraus – diese umfassten meist die Sicherheit der Arbeitsplätze im Steinkohlebergbau – ein Steinkohlekraftwerk mit relativ teurem Brennstoff errichtete und betrieb, weil dies den Wünschen der Politik entsprach. Dafür erwartete die Stromwirtschaft an anderer Stelle Zugeständnisse von der Politik, vor allem Subventionen von Land oder Bund. Der Bau des Kraftwerks Ibbenbüren in Nordrhein-Westfalen belegt dies exemplarisch.283 Ibbenbüren war ähnlich wie die schon zuvor errichteten RWE-Steinkohlekraftwerke Weiher III, Scholven F und Voerde A+B Teil des von der Bundesregierung angestoßenen 6000-MW-Programms zur Verringerung des Mineralölanteils in der deutschen Stromerzeugung. Im Fall von Ibbenbüren knüpften die RWE ihren Willen zur Errichtung des Steinkohlekraftwerks wesentlich an den Ausgleich der erheblichen Standortnachteile. Diese bezogen sich vor allem auf die enormen Stromtransportkosten, da für Mittellaststrom aus einem Steinkohlekraftwerk im Norden des RWE-Versorgungsgebiets kein Bedarf bestand. Auch die Mehrkosten bei den Gesamtinvestitionen für das Kraftwerk sowie die teure Kohle aus der Zeche Ibbenbüren sollten zwischen den RWE, dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Bund und der beteiligten Preussag AG aufgeteilt werden. Im Ergebnis subventionierte damit die Politik den von ihr favorisierten Kraftwerkstyp. Dies geschah, obwohl die RWE dem NRW-Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer am 22. Juni 1977 auf der Ib281 Schmidt, Adolf, Lückenbüßer Steinkohle?, in Wirtschaftsdienst 54 (1974) 1, S. 20–22. 282 Siehe Schmidt, Adolf, Die Bedeutung heimischer Stein- und Braunkohle für die Energieversorgung. Referat auf dem 6. Workshop „Energie“ der RWE, November 1978. Zit. nach Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945. Vorrang für die Kohle, Dokumente und Materialien zur Energiepolitik der Industriegewerkschaft Bergbau und Chemie, Köln 1981, S. 377–386, hier S. 385. 283 Interner Vermerk 700 MW Block in Ibbenbüren vom 10. Januar 1978, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1977/78, 2728. Die Beteiligungsverhältnisse am Kraftwerk in Ibbenbüren hatten sich aufgrund der Einflussnahme des Bundeskartellamts von ursprünglichen 50/50 % = RWE/Preussag im Einvernehmen mit der Preussag auf eine 76/24 % = RWE/Preussag geändert. Siehe Niederschrift über die Aufsichtssitzung der RWE am 28. März 1979, S. 3, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1978/79, 2731.
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benbüren-Konferenz signalisiert hatten, dass es den Bedarf aus diesem Kraftwerk zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung nicht benötige.284 Die RWE errichteten insgesamt 2.861 MW Leistung an Steinkohlekraftwerken und hatten mit den vier errichteten Kraftwerken fast 50 % zum 6.000-MW-Programm der Bundesregierung beigetragen. Auch das Beispiel Voerde verdeutlicht, wie intensiv um die Realisierung von Steinkohlekraftwerken im Untersuchungszeitraum gerungen wurde. Schon in den frühen 1970er-Jahren hatten die RWE gemeinsam mit der Steinkohlen-Elektrizität AG (STEAG) die Errichtung dieses Kraftwerks geplant. Aufgrund wachsender Baukosten (insgesamt 1,8 Mrd. DM), den Einschränkungen aus der Umweltschutzgesetzgebung und den Schwierigkeiten bezüglich der Beteiligungsverhältnisse zwischen beiden Unternehmen zog sich die endgültige Errichtung des Kraftwerks jedoch lange hin.285 Wegen zahlreicher Verwaltungsgerichtsklagen sowie dem daraus resultierenden Baustopp (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 1978) erregte das Projekt in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit. Infolge der juristischen Auseinandersetzungen war bis Ende der 1970er-Jahre nicht sicher, ob das fast fertiggestellte Kraftwerk überhaupt den Betrieb aufnehmen würde.286 Ähnlich wie im Fall Ibbenbüren war auch hier nicht klar, ob die RWE den Strom zum Zeitpunkt der eigentlich geplanten Inbetriebnahme überhaupt benötigten.287 Intern deutete sich jedoch bei den RWE schon 1978 an, dass nicht alle Steinkohlekraftwerke, die bis Mitte der 1980er-Jahre fertiggestellt worden wären, unbedingt zur Deckung des Energiebedarfs benötigt würden, wenngleich sich die Gewerkschaft IGBE, und vor allem ihr Vorsitzender bei den RWE, nachhaltig für Voerde einsetzten.288 Mit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster gegen den Ausbau des Kraftwerks in Voerde war erstmals das Dilemma zwischen Umweltanforderungen und langfristiger Absatzsicherung der Steinkohle offensichtlich geworden.289 Die Auseinandersetzungen um das Kraftwerk hatten mittlerweile bundesweit Bekanntheit erlangt und in der Presse firmierte das Projekt bald als das „prozeßberüchtigte Voerde“.290 Damit es mit dem Bau des Kraftwerks endlich vorangehen konnte, kolportierte Der Spiegel den Rat von Helmut Schmidt an Johannes Rau, „denen vom RWE […] mußt du mal kräftig in die Weichteile treten“.291 Das verdeutlicht den 284 Niederschrift der Aufsichtsratssitzung der RWE vom 8. Juli 1977, S. 6, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1977/78, 2728. 285 Vermerk Gerd Rittstieg, Steinkohlekraftwerk Voerde vom 15. Dezember 1978, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1978/79, 2730. 286 So Günther Klätte auf der Hauptversammlung der RWE am 2. Februar 1979, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1978/79, 2731. 287 Ein Baustopp zur rechten Zeit, in: Die Zeit, Nr. 17, 21. April 1978, S. 9. 288 Notiz über die Vorstandsratssitzung am 9. Oktober 1978, HKR W8/2, S. 2. 289 Brief des Hauptvorstandes der IGBE an den Bundeskanzler zum Berufungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Münster gegen den Ausbau des Kraftwerks Voerde vom 13. Juli 1976, in: Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945. Vorrang für die Kohle, Dokumente und Materialien zur Energiepolitik der Industriegewerkschaft Bergbau und Chemie, Köln 1981, S. 367 f. 290 Kohlekraftwerke und auch Kernenergie. Die STEAG glaubt an eine zweigleisige Zukunft der Energie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 1979, S. 16. 291 Stromversorgung: Nicht mehr haltbar, in: Der Spiegel, Nr. 28, 9. Juli 1979, S. 66 f.
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Druck, der von der Politik auf die Stromwirtschaft ausgeübt wurde. Voerde und Ibbenbüren belegen die Tatsache, dass es sich bei Steinkohlekraftwerken meist um politisch gewollte Kraftwerke handelte. Die Unternehmen der Stromwirtschaft strebten in diesem Prozess ein für sie möglichst kostengünstiges Vorgehen an, was angesichts der Bauverzögerungen jedoch kaum gelang. Doch auch andere Unternehmen als die RWE sahen sich in Nordrhein-Westfalen mit Genehmigungsschwierigkeiten bei Steinkohlekraftwerken konfrontiert. So hatte die Preußenelektra erhebliche Hürden zu überwinden, um einen zusätzlichen Block für ihr Kraftwerk in Heyden nördlich von Minden genehmigen zu lassen. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Preußenelektra, Rudolf von Bennigsen, zeigte sich angesichts dieser Entwicklung verwundert darüber, dass es selbst in Nordrhein-Westfalen ungeahnte Schwierigkeiten gebe, ein Steinkohlekraftwerk zu errichten. Schließlich gebe es doch in diesem Bundesland einen ausgeprägten politischen Rückhalt für diesen Kraftwerkstyp und dezidiert die politische Forderung nach bevorzugter Kohleverstromung.292 Letztlich entschieden im Fall einer Klage aber immer Gerichte über den Bau eines Kraftwerks, selbst wenn diese Beschlüsse im Gegensatz zu den energiepolitischen Prioritäten einer Landesregierung standen. Die Landesregierung NRW machte schließlich aus ihrer Kohlevorrang-Politik keinen Hehl: Erst wenn nach dem Einsatz der zu verstromenden Steinkohle noch weiterer Bedarf an Kraftwerkskapazität vorläge, sei sie bereit, auch über den Einsatz von Kernenergie zu sprechen. Solange jedoch seitens der Stromwirtschaft noch von Überkapazitäten die Rede sei und Standorte für Kohlekraftwerke nur zögerlich ausgenutzt würden, könne die Landesregierung dem Einsatz von Kernenergie nicht zustimmen.293 Das 6.000-MW-Programm der Bundesregierung hatte auch das Verhältnis zwischen dem Steinkohlebergbau und der Stromwirtschaft verändert. Angesichts des seit 1973 im Rückgang befindlichen Stromabsatzes war unklar, ob und – wenn ja – inwieweit künftig Bedarf für Steinkohlekraftwerke bestünde. Der finanziell angeschlagene Steinkohlebergbau monierte angesichts dieser Situation jedenfalls öffentlich, dass die Stromwirtschaft nicht die versprochenen Mengen an Steinkohle abnähme. Dem widersprach die VDEW in einem Brief heftig und bat den Steinkohleverband, in Zukunft solche Äußerungen zu unterlassen.294 Die Stromwirtschaft wusste, dass der Bau von Steinkohlekraftwerken ein sozialpolitisch höchst relevantes Thema war. Bei den Energieversorgern war man sich darüber im Klaren, dass die Steinkohle – neben der Braunkohle – der einzige wirklich heimische Primärenergieträger zur Stromerzeugung war, wenngleich die Beschaffung von Uran für die Erzeugung von Kernenergie kein Problem darstellte. Die Energieversorger waren nicht bereit, alle Belastungen, die sich aus der Steinkohleverstromung ergaben, allein zu übernehmen. Zusagen über höhere Abnahmemengen seitens der Energieversorger gingen deshalb meist mit Zusicherungen aus 292 Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 4. Dezember 1980, S. 8, E.ON-Archiv München, EEA 608. 293 Energiepolitisches Gespräch mit der Landesregierung NRW vom 19. April 1978, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 294 Paul Schenk (Vorsitzender VDEW) an Karlheinz Bund (Vorsitzender GVSt) vom 3. November 1975, HKR, VDEW-Vorstandsrat von Oktober 1974 bis Dezember 1975, 2928.
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dem BMWi einher, einen erhöhten Kohlepfennig zu gewähren. RWE-Vorstand Günther Klätte vertrat Mitte der 1970er-Jahre die Auffassung, dass, da die Steinkohle in Notzeiten von allen in Anspruch genommen werde, auch alle an der Sicherung dieser Primärenergiequelle zu beteiligen seien. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Preußenelektra, von Bennigsen, widersprach dieser Feststellung und meinte, dass der Kohlepfennig die Strompreisunterschiede zwischen den einzelnen EVU noch vergrößere.295 Faktisch differierte die Höhe des Kohlepfennigs ohnehin regional und dies war von der Bundesregierung bewusst so festgelegt worden.296 Hinsichtlich der Verstromung von Steinkohle hatten die RWE und die Preußenelektra divergierende Interessen: Die RWE verfügten mit der Braunkohle über einen äußerst preiswerten heimischen Energieträger als Geschäftsgrundlage. Der Preußenelektra mangelte es an dieser preiswerten Primärenergiebasis und sie setzte folglich größtenteils auf die Kernenergie. Die Preußenelektra hatte bis dahin die Einführung der Kernenergie immer auch als Mittel verstanden, die natürlichen Preisvorteile der RWE mit der Braunkohle auszugleichen. Um diesen Wettbewerbsnachteil wettzumachen – vor allem die verminderte Attraktivität bei der Ansiedlung von Industrieunternehmen im eigenen Versorgungsgebiet –, war die PREAG an möglichst hohen Importquoten für Steinkohle interessiert. Denn der Steinkohleweltmarktpreis lag deutlich unter dem deutscher Steinkohle. Diese Interessengegensätze wurden von den nicht im Ruhrgebiet ansässigen Energieversorgern gern unter dem Motto „revierfern“ zusammengefasst und betrafen eigentlich alle bundesdeutschen Unternehmen, bis auf die RWE und die VEW.297 Das Argument der „Revierferne“ hatte auch schon in früheren Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt. So führten unter anderem die starken Forderungen des Ruhrkohlebergbaus im Zusammenhang mit der Kohlekrise in den Jahren 1958/59 zur Mobilisierung revierferner Branchen und Regionen. Eine Vielzahl von Interessengruppen, angeführt von privaten Energieverbrauchern und der Industrie über Stadtwerke bis hin zum Bund der Steuerzahler, machte gegen die Kohleschutzpolitik mobil. Sowohl gegen eine Ölsteuer wie gegen einen Kohlezoll wurde massiv an die Bundesregierung appelliert, diese Maßnahmen nicht durchzusetzen. Doch auch die Interessenpolitik des Ruhrbergbaus konnte in der Folge das Ansteigen des Öl295 Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und Beirats der Preußenelektra am 27. April 1976, S. 8, E.ON-Archiv München, EEA 608. 296 Die Subventionen, die nach den Verstromungsgesetzen geleistet wurden, waren bisher wesentlich aus der Mineralölsteuer finanziert worden. Der Kohlepfennig stellte jedoch eine spezifische Verbrauchssteuer auf den Stromverbrauch dar. Nachdem er 1975 3,2 % betragen hatte und 1979 zwischenzeitlich auf 6,2 % angehoben wurde, machte er 1980 4,5 % der Stromerlöse aus. Regionale Unterschiede in den Strompreisen sollten durch eine regional differierende Abgabe nivelliert werden. Diese Regelung galt seit 1978. Siehe BT-Drucksache 8/2307 vom 18. November 1978. 297 So hatten die RWE schon in den 1950er-Jahren mit der STEAG einen langfristigen Verbundvertrag abgeschlossen. Siehe Vertrag zwischen Steinkohlebergbau und RWE vom 6. September 1950 über Verbundarbeit, Essen 1950. Darin wurde der Bergbau an der Stromlieferung für die öffentliche Versorgung beteiligt und durfte an einzelnen Stellen des RWE-Netzes Strom zwischen seinen Anlagen durchleiten. Im Gegenzug verzichtete der Bergbau auf die Errichtung eigener Hochspannungsleitungen und auf die unmittelbare Belieferung Dritter mit Strom.
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verbrauchs nicht verhindern. Der Absatz der Steinkohle stabilisierte sich bis 1964.298 Vor allem in der Kohlekrise Mitte der 1960er-Jahre etablierte sich Bayern als Sprecher der revierfernen Bundesländer, um gegen die Interessenpolitik des Ruhrkohlebergbaus vorzugehen.299 Angesichts dieser Situation verwundert es wenig, dass ausgerechnet die revierfernen Länder Bayern und Niedersachsen in den 1970er-Jahren am intensivsten auf Kernkraft zur Stromerzeugung setzten. Exemplarisch zeigt sich an diesem Beispiel, dass die Konkurrenz verschiedener Energieträger und der sie unterstützenden Interessengruppen keinesfalls ein Phänomen der 1970er-Jahre allein war. Vielmehr gehören diese Verdrängungs- und Substitutionseffekte zur Geschichte von Energiesystemen und waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert schon zwischen Gas und Elektrizität zu beobachten.300 Selbst für den Naturstoff Holz lässt sich, wenn auch etwas anders gelagert, eine Konkurrenz mit anderen Energieträgern feststellen.301 Das Vordringen jedes neuen Energieträgers in der Bundesrepublik musste deshalb zwangsläufig die Rolle der Steinkohle tangieren. Betrachtet man das gesamte 20. Jahrhundert, so ist das Verhältnis zwischen Steinkohle und Stromwirtschaft mit der Zeit eher kooperativer denn konfrontativer geworden. Aufgrund der engen personellen Verflechtungen im Ruhrgebiet waren die Beziehungen zwischen Stromwirtschaft und Steinkohlebergbau seit den 1880erJahren jedoch schon viel verflochtener, als dies bisher in der Forschung angenommen wurde.302 Dennoch blieb die politisch initiierte, wenn auch am Ende freiwillige Abnahmeverpflichtung der Steinkohle für die Stromwirtschaft ein kostensteigernder Faktor, den es möglichst klein zu halten galt. Wenig überrascht daher die Position der VDEW zur Zweiten bzw. Dritten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung. Einer gesamteuropäischen Kohlepolitik im Sinne des Montanunionvertrages und damit der Abnahmeverpflichtung von Gemeinschaftskohle in Zeiten des Überangebots stimmte die VDEW zu. In Deutschland aber setzte man sich vor allem für die Erhöhung des Importkohleanteils ein. Diese kam vorwiegend aus dem außereuropäischen Ausland. Importkohle, so die Ausführungen der Vereinigung, sei nicht nur ein „preisstabilisierendes Element für die Stromerzeugung vor allem der Küstenländer, sondern diene auch der notwendigen Diversifizierung der Energieversorgung. Auch diese
298 Siehe Nonn, Christoph, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen 2001, S. 96–139. 299 Deutinger, Stephan, Eine „Lebensfrage für die bayerische Industrie“. Energiepolitik und regionale Energieversorgung 1945 bis 1980, in: Schlemmer, Thomas / Woller, Hans (Hg.), Bayern im Bund, Bd. 1: Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001, S. 33–118, hier S. 70. 300 Siehe Braun, Hans-Joachim, Gas oder Elektrizität? Zur Konkurrenz zweier Beleuchtungssysteme, 1880–1914, in: Technikgeschichte 47 (1980) 1, S. 1–19. 301 Radkau, Joachim, Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts: Revisionistische Betrachtungen über die „Holznot“, in: VSWG 73 (1986) 1, S. 1–37, hier S. 36 f. 302 Siehe Döring, Peter, Von der Konfrontation zur Kooperation. Steinkohlebergbau und Elektrizitätswirtschaft im Ruhrgebiet, in: ders. / Horstmann, Theo (Hg.), Revier unter Strom. Fotografien zur Elektrizitätsgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2010, S. 52–71.
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Option sollte offengehalten werden.“303 Mit dem Jahrhundertvertrag zur Steinkohleverstromung bis 1987 habe man „den Erfordernissen einer Absatzstabilisierung für die deutsche Steinkohle […] voll Rechnung getragen.“304 Für die VDEW und die durch sie vertretenen EVU stand damit fest, dass der Bau weiterer Steinkohlekraftwerke nicht nötig sei und man genügend Zugeständnisse gegenüber dem Steinkohlebergbau gemacht habe. Besonders das Dritte Verstromungsgesetz schien dabei den Nerv des Verbands getroffen zu haben, wenn es heißt: „Dabei wirkt sich jedoch erschwerend aus, daß das geänderte Dritte Verstromungsgesetz nicht in allen Punkten die Voraussetzungen schafft, die Bestandteile dieser Vereinbarung sind. […] Einer absoluten Priorität der heimischen Steinkohle bei der Stromerzeugung ohne Berücksichtigung wirtschaftlicher Erfordernisse könnte der VDEW nicht zustimmen.“305 Schon zu Beginn der 1970er-Jahre hatte die VDEW vom Bundeswirtschaftsminister gefordert, dass der Auslandsbezug von Steinkohle erst eingeschränkt werde dürfe, wenn die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Steinkohle wiederhergestellt sei.306 In Sachen Steinkohleverstromung sprach die Elektrizitätswirtschaft allerdings wegen des unterschiedlichen Zugriffs auf vorhandene Primärenergie nicht mit einer Stimme. Gegenüber dem Bundeswirtschaftsministerium verdeutlichte die VDEW, dass sie für die Erhöhung des Abnahmekontingents der Steinkohle Gegenleistungen erwarte. Diese Zugeständnisse sollten unter anderem – den Unternehmenszielen der nicht im Ruhrgebiet befindlichen Stromversorger entgegenkommend – in der Erhöhung des Importkohlekontingents bestehen. Auf die politische Außenwahrnehmung schien das BMWi in diesem Zusammenhang besonders großen Wert zu legen. Denn mit der Aufstockung der Verstromungsmenge sollte verdeutlicht werden, dass man der politischen Forderung nach Priorität der heimischen Kohle nachkommen werde.307 Die VDEW forderte im Gegenzug, dass bei der Aufstockung der Kohlebezugsverpflichtung auch das Importkohlekontingent erhöht werden müsse. Für die Vertreter des Ministeriums schienen die politischen Außenwirkungen dieses Aushandlungsprozesses entscheidend zu sein. So sollte in der öffentlichen Darstellung nicht etwa der Eindruck entstehen, dass die gewährten Zuschüsse ein Ausgleich für die nicht genehmigten Kernkraftwerke seien.308 Zu Beginn der 1980er-Jahre rechnete man in der Stromwirtschaft – vor allem bei der Preußenelektra – damit, dass bedingt durch Verzögerungen beim Kernkraft303 Stellungnahme der VDEW zur 2. Fortschreibung des Energieprogramms vom 1. Februar 1978, S. 11, HKR, VDEW Verschiedenes ab September 1975 bis 31. Juli 1979, 2916. 304 Ebd. 305 Ebd., S. 11 f. 306 Schulte, Richard, Vortrag auf der VDEW-Hauptveranstaltung der VDEW am 23. Mai 1973, S. 17, HKR, Ordner VDEW Verschiedenes – Mitgliederrundschreiben, 1. August 1969 bis August 1975, 2915. 307 Vermerk der VDEW-Abteilung Energiewirtschaft vom 23. Januar 1980 über die Besprechung mit dem Bundesminister für Wirtschaft über Kohlefragen am 22. Januar 1980, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK Januar 1979 bis Januar 1980, 2908. 308 Vermerk der VDEW-Abteilung Energiewirtschaft vom 23. Januar 1980 über die Besprechung mit dem Bundesminister für Wirtschaft über Kohlefragen am 22. Januar 1980, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK Januar 1979 bis Januar 1980, 2908, S. 4.
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werksbau, durch höhere Ölpreise und die Einsatzbegrenzung preiswerten Erdgases zusätzliche Steinkohlekraftwerke gebaut werden müssten.309 Das Beispiel „Steinkohleverstromung“ belegt exemplarisch, dass Aushandlungsprozesse zwischen Staat und Elektrizitätswirtschaft gängige Praxis waren. Aus Sicht Letzterer ging es dabei um möglichst vorteilhafte Regelungen, auch wenn sich bei den Energieversorgern unterschiedliche Interessen abzeichneten, die im Verband austariert werden mussten. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, war bei diesem Aushandlungsprozess der Wille zur Kooperation auf staatlicher Seite wie bei der Stromwirtschaft durchaus vorhanden. Die Stromwirtschaft demonstrierte bei dieser Gelegenheit auch fortwährend ihr immenses Selbstbewusstsein. Dieses speiste sich vor allem aus der Überzeugung, dass die eigene Branche durch die Wahrnehmung der volkswirtschaftlich bedeutsamen Aufgabe der Energieversorgung eine herausgehobene Stellung im deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einnehme. Dass die Verstromung von Steinkohle bei den meisten Unternehmen der Stromwirtschaft ein sensibles und vor allem hochpolitisches Thema war, verdeutlichen die Äußerungen der VDEW zu dieser Problematik. Nachdem die Vereinigung dem Bundeswirtschaftsministerium Ende 1976 die Zahlen über die zukünftig zu erwartende Menge an Steinkohleeinsatz in Kraftwerken übermittelt hatte, die im Übrigen rückläufig war, stellte man dem Ministerium eine Lösung der Steinkohleproblematik in den kommenden fünf Jahren in Aussicht. Dazu hieß es bei der VDEW: „Diese Erklärung hat entscheidend dazu beigetragen, den politischen Druck zu mindern.“310 Damit sicherte die Elektrizitätswirtschaft zu, auch weiterhin umfangreiche Mengen Steinkohle in ihren Kraftwerken für die Verstromung zu nutzen. Der Einsatz von Steinkohle war für viele Politiker deshalb so wichtig, weil deren fortgesetzte Förderung sowie die Abnahmegarantien der Stromwirtschaft Arbeitsplätze sicherten. Auf diese Weise war die Subventionierung dieses Primärenergieträgers gegenüber der Öffentlichkeit zumindest zum Teil legitimierbar. Darüber hinaus war die deutsche Steinkohle das Symbol für den deutschen Kumpel und gehörte bis weit in die 1980er-Jahre hinein zur Identität ganzer Regionen. Vor allem für Landespolitiker in NRW konnte daher der Verzicht auf die Verstromung von Kohle direkt mit dem möglichen Verlust von Stimmen bei der nächsten Wahl verbunden sein. Der Vorschlag der VDEW, der zu diesem Zeitpunkt eng mit den Mitgliedsunternehmen abgestimmt wurde, war jedoch mit der Forderung verknüpft, das Verstromungsziel für Steinkohle in der Zweiten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung „auf eine realistische Größe zurückzuführen“.311 Das bedeutete 28 bis 29 statt der bisher jährlich fälligen 33 Mio. t SKE. Der Verband forderte eine Absenkung der Verstromungsmenge, weil Steinkohle für die meisten Unternehmen eine zusätzliche finanzielle Belastung gegenüber dem Einsatz von anderen Primärenergieträgern bedeutete. Politisch gewollte Kraftwerke, wie es landläufig in der Stromwirtschaft hieß, waren gerade im Steinkohlebereich keine Seltenheit. Die Stromwirtschaft 309 Konzeptpapier der Preußenelektra „Zukünftige Kohleverstromung und Umweltschutz“ vom 23. Oktober 1976, S. 2, E.ON-Archiv Düsseldorf. 310 Ergänzender Bericht des Geschäftsführers zur Sitzung des Vorstandsrats der VDEW am 26. Januar 1977, S. 3, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929. 311 Ebd., S. 4.
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kritisierte an den Verstromungsgesetzen Mitte der 1970er-Jahre jedoch meist nicht die energiepolitische Zielsetzung der Substitution oder Verstromung von Steinkohle, sondern vielmehr deren Ausgestaltung, Begründung und Durchführung.312 Einige Energieversorger im Süden Deutschlands stellten zu Beginn der 1980erJahre fest, dass sie die Zusagen aus dem Jahrhundertvertrag nicht würden einhalten können. Auch die Tatsache, dass zu dieser Zeit von einer Stabilisierung des Steinkohlebergbaus keine Rede sein konnte, erschwerte die Situation. Diese beiden Faktoren wurden durch die nächste Krise der Stahlindustrie zusätzlich verschärft. Die Verringerung der Abnahmemengen durch die zwei wichtigsten Abnehmergruppen kam für den Steinkohlebergbau zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Gerade bei den süddeutschen Stromversorgern vergrößerten sich die Kohlehalden zusehends und wurden auf diese Weise nicht nur zu einem Problem für die Unternehmen selbst, sondern für die gesamte Branche, denn Verstromungsziele der Steinkohle waren kaum einzuhalten. Als Problemlösung für diese Situation kam zum Beispiel ein Ausgleich unter den Energieversorgungsunternehmen in Betracht, der auch ohne die politische Zustimmung aus Bonn hätte realisiert werden können. Eine andere Alternative, die Streckung der Abnahmeverpflichtungen aus dem Jahrhundertvertrag, die von einigen Vertretern der Stromwirtschaft als Lösung favorisiert wurde, war jedoch kaum realisierbar. Gegen diese Variante hätte vor allem der Steinkohlebergbau massiv interveniert. Damit waren die Energieversorger in eine Bredouille geraten, die sie ihrer eigenen Einschätzung nach zumindest zum Teil selbst verschuldet hatten.313 Die Abnahmemenge der Steinkohle hatte sich an zu optimistisch geschätzten Strombedarfsentwicklungen orientiert, die in ihrem vorhergesagten Umfang nicht eingetreten waren. Mit ihren Annahmen befanden sich die Energieversorger jedoch in prominenter Gesellschaft, denn sowohl Bundesregierung als auch führende Wirtschaftsinstitute hatten die Zukunftsentwicklung des Energiebedarfs in ähnlicher Weise prognostiziert. Die Vereinbarungen des Jahrhundertvertrags waren nicht zuletzt aufgrund sanften politischen Drucks und gemeinsamer Aushandlungsprozesse zwischen Stromwirtschaft, Politik und Steinkohlebergbau zustande gekommen. Die für diese Arbeit berücksichtigten, umfassenden Quellenbestände sowie die geführten Interviews legen die Vermutung nahe, dass gerade der Steinkohlebergbau seine Interessen gut durchsetzen konnte: Beim Jahrhundertvertrag handelte es sich um eine privatrechtliche Vereinbarung, die der Stromwirtschaft eigentlich die Möglichkeit einräumte, weniger Steinkohle abzunehmen.314 Dennoch war man in der Stromwirtschaft unsicher, ob der Verweis auf „veränderte Verhältnisse“, wie sich dies in Form des veränderten Energiebedarfs andeutete, als Begründung für einen 312 Siehe u. a. Brief der VDEW an Wirtschaftsminister Hans Friderichs vom 6. Dezember 1976, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28. Februar 1977, 2929; Schulte, Richard, Die öffentliche Elektrizitätsversorgung – Gegenwart und Zukunft vor dem Hintergrund globaler Energieprobleme, in: Bund, Karlheinz u. a. (Hg.), Die Energiewirtschaft zieht Bilanz. Berichte zur Lage der einzelnen Energieträger. Jahrbuch für Energie, Bergbau und Chemie, Essen 1974, S. 47–52, hier S. 49. 313 Siehe u. a. Feist, Joachim, Am Jahrhundertvertrag wird gerüttelt. EVU unter wachsendem Druck der Kohlehalden, in: EWT 33 (1983) 10, S. 723–725. 314 Vereinbarung zwischen der VDEW und dem GVSt vom 10. Mai 1977. § 5 Anpassung der Abnahmeverpflichtung, HKR, VDEW Verschiedenes ab September 1975 bis 31.07.1979, 2916.
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solchen Schritt genügend Überzeugungskraft entfalten würde. Zumindest ließ sich mit heftigem Widerstand seitens des Kohlebergbaus rechnen.315 Die Erfüllung des Jahrhundertvertrags wurde durch die Stromwirtschaft selbst seit Mitte der 1980er-Jahre als schwierig eingestuft. Begründet wurde dies mit der Tatsache, dass der Energiebedarfszuwachs relativ gering ausgefallen sei und die Verstromung der Steinkohle bei einigen Energieversorgern zum Teil im wirtschaftlich ungünstigen Grundlast- statt wie üblich im Mittellastbereich hätte erfolgen müssen.316 Für die Strategie der Stromwirtschaft war es bis Mitte der 1980er-Jahre von entscheidender Bedeutung, ob die Branche von der Politik zur Grundlasterzeugung aus deutscher Steinkohle gezwungen werden könne.317 Eine Verlängerung des Jahrhundertvertrags über 1995 hinaus kam für die Stromwirtschaft ohnehin nur infrage, wenn im Gegenzug Veränderungen des ordnungspolitischen Rahmens unterblieben. Die Festlegung der zu verstromenden Kohlemenge war für die Elektrizitätswirtschaft nicht ausschließlich vom Stromzuwachs, sondern auch von der Frage abhängig, ob die Kohle im kostengerechten Mittellastbereich eingesetzt werden konnte und ob sie mit billigerer Importkohle durchmischt werden würde.318 Das Kostenargument schien beim Einsatz von Steinkohle in Kraftwerken also zunächst tatsächlich das Kernanliegen der Stromwirtschaft zu sein. Wie bereits ausgeführt, war der Einsatz deutscher Steinkohle in Kraftwerken für die Stromwirtschaft per se teuer. Trotzdem konnten diese höheren Kosten mit den Ausgleichszahlungen, die im Jahrhundertvertrag festgelegt waren, wieder aufgefangen werden. Schwierig wurde es für die Stromwirtschaft allerdings, wenn Steinkohlekraftwerke in anderen Lastbereichen, zum Beispiel im Grundlastbereich, eingesetzt wurden. Dies wurde zum Teil getan, um die Verstromungsziele zu erreichen. Dafür mussten rentablere Kraftwerke, meist Kernkraft- oder Braunkohlekraftwerke, zurückgefahren werden, was die Kostenstruktur der Stromversorger negativ beeinflusste. Einige Unternehmen rechneten ohnehin schon Ende der 1970er-Jahre damit, dass für Steinkohlekraftwerke, die nach 1985 in Betrieb gehen würden, nicht mehr mit Zuschüssen gerechnet werden könne.319 Diese Erwartung sollte sich jedoch als falsch erweisen. Die Geschichte der Steinkohleverstromung und vor allem der Jahrhundertvertrag verdeutlichen, dass die Stromwirtschaft Fragen der Steinkohleverstromung als Pfand und Verhandlungsmasse der Politik gegenüber einsetzte. Das Quellenstudium hat gezeigt, dass die Stromwirtschaft zu Zugeständnissen bei der Steinkohleverstromung bereit war, wenn die Politik ihr bei anderen Fragen entgegenkam. Vor allem die RWE betrachteten den Bau von Steinkohlekraftwerken als ein Zugeständ315 So Günther Klätte auf einer Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra. Siehe Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 27. Mai 1983, S. 8, E.ON-Archiv München, EEA 608. 316 Gespräch mit dem RWE am 17. Februar 1986 in Düsseldorf, Notiz zur Vorstandssitzung am 3. Februar 1986, S. 3, Dr. Gaul. Gespräche mit Vorständen anderer Gesellschaften, E.ON-Archiv München, EEA 2697. 317 Bericht des Geschäftsführers zur VDEW-Vorstandsratssitzung am 23. April 1979, HKR 6009. 318 Siehe ebd. 319 So der energiewirtschaftliche Vorstand der Preußenelektra bei einer Aufsichtsratssitzung im Juli 1979. Siehe Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 5. Juli 1979, E.ON-Archiv München, EEA 608.
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nis an die Politik. Angesichts der seit Beginn der 1980er-Jahre immer lauter werdenden Forderungen nach Reformen im Energierecht, der Auflockerung der Demarkationsgrenzen sowie einer stärkeren Berücksichtigung der industriellen Kraftwirtschaft erwarteten nicht nur die RWE, sondern die gesamte Stromwirtschaft ein Entgegenkommen der Politik bei diesen Problemen. In den Worten von Ulrich Segatz, energiewirtschaftlicher Vorstand der Preußenelektra: „Die deutsche Elektrizitätswirtschaft hat diesem Kompromiß [gemeint ist der Jahrhundertvertrag] zugestimmt, weil sie hierin den einzigen Weg sieht, zwei andere Ziele, nämlich die Ausweitung des Importkohlekontingentes für die Elektrizitätswirtschaft und die politische Akzeptanz der Kernenergie, zu erreichen.“320 Die energiewirtschaftlichen Verbände, wie die DVG, in der die acht größten Energieversorger vertreten waren, bewerteten das Zustandekommen des Jahrhundertvertrages ganz ähnlich: Die Verpflichtung zum Einsatz von Steinkohle sei noch von wesentlich höheren Energiebedarfsprognosen ausgegangen. Durch diese Entwicklung sei der Einsatz von Kernenergie nach Lesart des Verbandes wesentlich geringer ausgefallen. Die Einhaltung der Verpflichtung zur Steinkohleverstromung sei dadurch immer schwieriger, auch böten sich für Importkohle immer weniger Einsatzmöglichkeiten. Die Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Jahrhundertvertrags resultierten nach Auffassung der Stromwirtschaft vor allem daraus, dass dieser unter ,wirtschaftlich-moralischem Druck‘ zustande gekommen sei. Ziel der Stromwirtschaft müsse sein, diesen Zustand zu verändern, wie es intern hieß. Künftig solle versucht werden, das in den Jahren von 1976 bis 1980 zwar nicht postulierte, aber faktisch ,stille‘ Kernenergie-Moratorium mit der Hilfe bzw. Initiative des Bundeswirtschafts- und -innenministeriums aufzuheben. Dieses Ziel könne die Stromwirtschaft auf politischer Ebene nur erreichen, wenn sie eine Absatzsicherung für die einzige heimische Primärenergie, die Steinkohle, garantiere. Dies sei im Übrigen auch die Voraussetzung für den Wiedereinstieg in die Kernenergie.321 Anhand der Aushandlungsprozesse zwischen Steinkohle- und Stromwirtschaft wurde deutlich, dass Steinkohle für die Stromwirtschaft nur ein Energieträger, wenngleich ein zentraler im unternehmerischen Energiemix war. Die Kernenergie galt in weiten Teilen der Stromwirtschaft trotz der Schwierigkeiten bei ihrer Durchsetzung noch immer als zukunftsträchtiger. Dennoch erkannte die Branche frühzeitig, dass der Steinkohleverband über erheblichen öffentlichen und politischen Einfluss verfügte. Von einigen Auseinandersetzungen abgesehen, suchte die Stromwirtschaft, und hier vor allem die VDEW, den Schulterschluss mit der Interessenvertretung der Steinkohle, wenn es etwa um die öffentliche Akzeptanz der Kernenergie ging. Anlässlich einer Besprechung im Bundeswirtschaftsministerium im Januar 1980 wurde besonders deutlich, dass die Stromwirtschaft zur Verbesserung des Images der Kernenergie die Hilfe des Steinkohleverbandes förmlich erwartete. Als Gegenleistung für eine neue Vereinbarung über die Abnahme der Steinkohle durch die Stromwirtschaft hielt die VDEW ein Bekenntnis des Steinkohleverbands 320 Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 16. Mai 1980, S. 3 f., E.ON-Archiv München, EEA 608. 321 Deutsche Verbundgesellschaft (DVG), Stichworte zur Diskussion einer langfristigen strompolitischen Strategie, 15. Januar 1986, S. 1 f.
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zur Kernenergie in der Öffentlichkeit für unabdingbar. Der Steinkohlebergbau befand seine bisherige Unterstützung für die Kernenergie jedoch für ausreichend.322 Nach dem zweiten Ölpreisschock und dem Atomunfall von Harrisburg im Jahr 1979 erwartete die Stromwirtschaft weitere Forderungen vonseiten des Steinkohlebergbaus. Vor allem die VDEW befürchtete, dass der Neubau von Steinkohlekraftwerken nun ebenso vehement gefordert werden würde wie eine zusätzliche Zuschussgewährung im Falle steigender Heizölpreise. Tatsächlich befanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits 4.000 MW Steinkohlekraftwerkskapazität im Bau, weitere 6.000 MW im Genehmigungs- und zusätzliche 10.000 MW im Antragsverfahren.323 Zu den angesprochenen Problemen richtete man daher im September 1979 einen „Kohlekreis“ ein, der mit Vertretern aus den Mitgliedsunternehmen besetzt war und die langfristige Strategie der Stromwirtschaft in Sachen Kohlepolitik erarbeiten sollte.324 Aus dem politischen Spektrum wurden die Befürchtungen der Stromwirtschaft wesentlich durch die Positionen der SPD genährt. Diese hatte nach einem Treffen der Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern eine Pressemitteilung herausgegeben, in der die Partei den beschleunigten Zubau neuer sowie die Ersetzung alter Kohlekraftwerke forderte. Damit untermauerten die Sozialdemokraten ihre energiepolitische Linie der Vorjahre. Den alten Beschlüssen wurden weitere Forderungen, wie „eine wesentliche Erhöhung der Steinkohlemengen“ aus den Lieferverträgen mit der Stromwirtschaft und „vorerst keine weitere Steigerung der Importkohlequoten“, hinzugefügt.325 Ungeachtet dieser Entwicklung nahm der „Kohlekreis“ seine Arbeit auf, um zu eruieren, welche Position die Elektrizitätswirtschaft künftig zur Steinkohleverstromung einnehmen sollte. Zu diesem Zweck stellte er verschiedene Szenarien zur künftigen Entwicklung in diesem Bereich zur Diskussion. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stand die Entwicklung des künftigen Stromverbrauchs sowie der Einsatz der Kernkraft. Für die Zeit von 1977 bis 1990 galt eine Stromverbrauchssteigerung zwischen 3,9 und 5,9 % als realistisch. Bei den Kernkraftwerken ging man für das Jahr 1990 von einem Bestand an installierter Leistung zwischen 18 und 36 GW aus.326 Vor allem die weit gefassten Schätzungen des „Kohlekreises“ für den Kernkraftwerksbestand belegen die Unsicherheit der Stromwirtschaft in Bezug auf die Entwicklung dieses Sektors. Gerade der obere Grenzwert für die Kernkraft muss aus heutiger Sicht unrealistisch anmuten, waren doch im Jahr 1987 gerade einmal 20 GW an Kernkraftwerksleistung gebaut.327 322 VDEW-Abteilung Energiewirtschaft, Ergebnisvermerk vom 18. Januar 1980 über die Besprechung GVSt/VDEW am 17. Januar 1980, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK Januar 1979 bis Januar 1980, 2908, S. 3 f. 323 Ergänzender Bericht des Geschäftsführers zur VDEW-Vorstandsratssitzung am 24. April 1979, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1979 bis Dezember 1979, 6009. 324 Sachstandsbericht, Sitzung des Vorstandsrats am 24. Oktober 1979, TOP 5 Kohlepolitik, HKR 6009. 325 VDEW-Kohlekreis, Mitteilung für die Presse, SPD-Fraktionsvorsitzende zur Steinkohleverstromung am 29. September 1979, HKR 2908. 326 Sitzung der VDEW-Steinkohlekommission am 20. September 1979, Tab. 1 und 2, HKR 2908. 327 Die Elektrizitätswirtschaft in der BRD im Jahre 1987. Statistischer Jahresbericht des Referats Elektrizitätswirtschaft im BMWi, Bonn 1987, S. 8.
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Aus dem Verständnis Ende der 1970er-Jahre heraus müssen diese Kennwerte indes als realistisch bezeichnet werden, denn 1979 waren 9149 MW Kernkraftwerkskapazität, also ca. 9 GW, installiert.328 Angesichts der Pläne der Bundesregierung und trotz der nach unten korrigierten Zahlen für den Zubau von Kernkraftwerken musste eine Verdopplung der Leistung bis 1990 im Jahr 1979 als sehr wahrscheinlich gelten. Beide Zahlen waren jedoch für die strategische Ausrichtung der Stromwirtschaft in puncto Steinkohleverstromung wichtig. Nur durch die Schätzung der Energiebedarfsentwicklung sowie des Einsatzes der Kernenergie war es möglich, die künftig benötigte Steinkohlemenge zu bestimmen. Da man sich an mittleren Zahlenwerten der beiden obigen Prognosen orientierte, blieb für Ende der 1980er-Jahre nach Einschätzung des „Kohlekreises“ ein wahrscheinlicher Steinkohlebedarf von 48 bis 75 Mio. t SKE (einschließlich Importkohle) übrig. Da das Angebotspotenzial der deutschen Steinkohle aus Sicht des Kreises zwischen 40 und 50 Mio. t SKE (ohne Importkohle) lag, wurde dieser Wert als mögliche Verstromungsmenge angenommen.329 Der „Kohlekreis“ war nicht zuletzt deshalb gebildet worden, um den Mitgliedsunternehmen der VDEW Hilfestellung bei Fragen der Steinkohleverstromung zu geben. Gerade bei der Frage, welche Strategie man den einzelnen Unternehmen empfehlen sollte, herrschte große Unsicherheit. Gleichwohl legte jeder Stromversorger seine Unternehmenspolitik bei diesem Problem selbst fest. Von der VDEW wurde jedoch ein geschlossenes Auftreten der Branche zumindest angestrebt. Um die Handlungsfähigkeit der Branche zu demonstrieren, war unmittelbar vor dem Parteitag der SPD am 6. Dezember 1979 die Herausgabe einer unverbindlichen Erklärung geplant, in der sich die Stromwirtschaft dazu bereit erklärte, einer Verlängerung der Abnahmezusagen sowie einer Aufstockung der Steinkohlemenge – sofern wirtschaftlich vertretbar – zuzustimmen.330 Grundsätzlich war die Stromwirtschaft also dazu bereit, die Vereinbarung mit dem Steinkohlebergbau zu verlängern. Zunächst wollte man allerdings die weiteren Verhandlungen mit der GVSt abwarten, bevor man die Ergebnisse öffentlich machte.331 Tatsächlich wurde der Jahrhundertvertrag im Jahr 1980 um weitere zehn Jahre verlängert und mengenmäßig ausgeweitet. Durch Ergänzungsvereinbarungen zum bereits bestehenden Vertragswerk verpflichtete sich die Stromwirtschaft, insgesamt 6 Mio. t SKE mehr abzunehmen, was bei einer Gesamtabnahmemenge von 145 einer Mengenerhöhung um 4,14 % entsprach. Bei den einzelnen Unternehmen der Stromwirtschaft gestaltete sich die Abnahme differenziert, da aufgrund der heterogenen Erzeugungsstruktur der 44 am Vertrag beteiligten Versorger ein unterschiedlicher Bedarf an Steinkohle bestand. Die Bundesregierung billigte die Vereinbarung in der Kabinettssitzung vom 26. März 1980 ohne Änderungen.332 Die Stromwirt328 Statistisches Bundesamt (Destatis) (Hg.), Statistisches Jahrbuch 1982 für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart und Mainz 1982, S. 208. 329 Sitzung der VDEW-Steinkohlekommission am 20. September 1979, HKR 2908. 330 Vermerk über die Ergebnisse der 1. Sitzung des VDEW-Kohlekreises am 20. September 1979, HKR 2908. 331 Vermerk über die Ergebnisse der 2. Sitzung des VDEW-Kohlekreises am 5. November 1979, HKR 2908. 332 Verpflichtungserklärung der RWE vom 14. April 1980 zusätzlich zur GVSt/VDEW-Vereinbarung vom 24. März 1980, HKR, Gemischte Kommission VDEW/BDI-VIK ab Februar 1980, 2909.
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schaft hätte im Gegenzug für die Mehrabnahme heimischer Steinkohle mehr ausländische Kohle importieren dürfen.333 Jedoch hielt man bei der VDEW wie bei den Unternehmen Letzteres – also die Erhöhung des Importkohlekontingents – bis Ende 1981 für politisch nicht durchsetzbar.334 Bei der Importkohlefrage – dies lässt sich quellenmäßig jedoch nicht eindeutig belegen – mochte für einige Unternehmen der Stromwirtschaft der Zeitpunkt eine wesentliche Rolle gespielt haben, ganz nach dem Motto: „Wir verhandeln nur dann über die Zeit nach 1987, wenn die Ruhrkohle umgekehrt bereit ist, über mehr Importkohle vor 1985 mit sich reden zu lassen.“335 Auch die Kernenergie blieb Bestandteil in dieser strategischen Gleichung. Fast penibel achtete die VDEW darauf, dass die relativen Anteile zwischen Kernenergie, heimischer Steinkohle und Importkohle gewahrt blieben. Und auch der Ruhrkohle-Chef Karlheinz Bund, einer der wesentlichen Akteure auf der Steinkohleseite, sicherte den betroffenen Unternehmen im gesellschaftlichen Atomstreit zu, ihnen „in ihrer schwierigen Lage zu helfen“.336 Die Stromwirtschaft ließ sich Ende der 1970er-Jahre nicht zuletzt auch deshalb auf die Verhandlungen mit dem Steinkohlebergbau ein, weil die Branche diesmal die anstehenden Probleme frühzeitig geklärt wissen wollte. Die negativen Erfahrungen im Vorfeld der Verhandlungen zum Jahrhundertvertrag waren noch frisch, als man bereits zwei Jahre vor der Einigung unter erheblichen politischen Druck geraten war.337 Vor allem die VDEW diskutierte seit 1979 intensiv die langfristige Strategie der Stromwirtschaft zum Steinkohleeinsatz. Hierzu wurden verschiedene Szenarien unter Hinzuziehung der möglichen Energieverbrauchsentwicklung, des Ausbaus der Kernenergie sowie des Angebots für Importkohle erarbeitet. Die Abwägung der Vor- und Nachteile für die Fortschreibung des Jahrhundertvertrags sollte vor allem dazu dienen, den richtigen Zeitpunkt für die Gespräche mit dem Steinkohlebergbau zu finden, um die Interessen der Stromwirtschaft in diesem komplizierten Prozess optimal durchzusetzen.338 Die Verlängerung und Aufstockung der Steinkohleverstromung machte einen erheblichen Teil der Absatzsicherung und damit der Investitions- und Förderplanungen der deutschen Steinkohle aus. Darüber hinaus war diese an einen entsprechenden Strombedarfszuwachs geknüpft. Nur wenn dieser in der Zeit zwischen 1981 und 1985 zwischen 3 und 5 % läge, würde die vereinbarte Steinkohlemenge 333 Vereinbarungsgrundsätze und Ergänzungsvereinbarungen zwischen VDEW/GVSt vom 13. März 1980, S. 14, HKR, Gemischte Kommission VDEW/BDI/VIK ab Februar 1980, 2909; Importkohle als Anreiz zur Kohle-Verstromung. Elektrizitätswirtschaft zur Abnahme größerer Inlandsmengen offensichtlich bereit: Bald neue Verträge, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Februar 1980. 334 In den Jahren 1986/87 verstromte die Elektrizitätswirtschaft knapp 39 bzw. 40,5 Mio. t SKE deutsche Steinkohle sowie 4,6 bzw. 4,5 Mio. t SKE Importkohle. Siehe Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi), Die Elektrizitätswirtschaft in der BRD im Jahre 1987. Statistischer Jahresbericht des Referats Elektrizitätswirtschaft im BMWi, Bonn 1987, S. 37. 335 Brief von Dr. Rolf G. Wieting an Günther Niehage vom 6. Dezember 1979, HKR 2908. 336 Energieprobleme: Ruhrkohle-Chef fordert Konsens, in: Handelsblatt, 19. November 1979. 337 Kohle–Strom–Vertrag: Elektrizitätswirtschaft möchte mehr Kohle, aber nicht zuviel, in: Süddeutsche Zeitung, 28. November 1979. 338 VDEW-Abteilung Energiewirtschaft, Arbeitspapier zur längerfristigen VDEW-Strategie zum Steinkohleeinsatz in Kraftwerken vom 10. September 1979, HKR 2908.
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von der Stromwirtschaft abgenommen. Lag die Menge darunter oder darüber, würde sie entsprechend gemindert oder ausgeweitet.339 Für den Steinkohlebergbau blieb der Vertrag mit der Elektrizitätswirtschaft auch Mitte der 1980er-Jahre noch der „große Wurf“.340 Um die Anpassung der Steinkohleverstromung wurde in den 1980er-Jahren zwischen Elektrizitätswirtschaft und Steinkohlebergbau vor allem in den extra dafür abgehaltenen „Kohlerunden“ gerungen. Am 3. Dezember 1982 und am 10. Oktober 1983 kamen bei diesen Zusammenkünften die drastisch angestiegenen Haldenbestände zur Sprache: Am 1. Januar 1979 hatte der Lagerbestand (Halde) deutscher Steinkohle noch 18,2 Mio. t betragen. 1980 bzw. 1981 war er auf 8,1 bzw. 8,5 Mio. t zurückgegangen, nur um bis 1983 auf 22,1 Mio. t anzuwachsen, ein Niveau, das es seit Mitte der 1960er-Jahre nicht mehr gegeben hatte.341 Angesichts dieser Situation wurde die Fördermenge der deutschen Steinkohle um 10 Mio. t pro Jahr zurückgefahren, wobei die Investitionsbeihilfen und andere Regelungen aus dem Jahrhundertvertrag bestehen blieben.342 Die hohen Haldenbestände waren jedoch nur ein Problem unter vielen. Doch nun sollte sich das strategische Geschick des Steinkohlebergbaus und vor allem der Industriegewerkschaft IGBE zeigen: Hätten diese eigentlich dazu führen müssen, die Förderung unter Tage zu verringern – mit der Folge einer Reduktion zu leistender Schichten für die Kumpel und entsprechender Abstriche beim Lohn – wurden auf Druck der Gewerkschaft stattdessen Anpassungsschichten gefahren, um die soziale Komponente beim Haldenabbau nicht zu vernachlässigen.343 Seit Mitte der 1980er-Jahre mehrte sich deshalb die Kritik am Jahrhundertvertrag: Dieser wurde als sozial- und regionalpolitisches Strukturhilfeinstrument kritisiert. Der Vertrag sei weder energiewirtschaftlich noch energiepolitisch sinnvoll und damit kein geeignetes Mittel, um die Stromerzeugung zu diversifizieren und Versorgungssicherheit kostenoptimal herzustellen.344 Die Weiterführung des Vertrags über seine Laufzeit bis 1995 hinaus war deshalb schon Mitte der 1980er-Jahre Gegenstand der Kritik. Durch technische Innovationen, moderate Tarifabschlüsse sowie Konzentrations- und Rationalisierungsmaßnahmen waren die Betriebskosten im deutschen Steinkohlebergbau im Vergleich zum europäischen Ausland (vor allem zu Großbritannien und Frankreich) mittlerweile relativ günstig. Dennoch stieg der Subventionsbedarf der deutschen Steinkohle ständig weiter an.345 339 Vereinbarungsgrundsätze vom 24. März 1980, HKR, Gemischte Kommission VDEW/BDI/ VIK ab Februar 1980, 2909. 340 Bund, Karlheinz, Der Jahrhundertvertrag bleibt der große Wurf. Perspektiven für die deutsche Steinkohle, in: EWT 35 (1985) 1/2, S. 18–21. 341 Statistik der Kohlenwirtschaft, entsprechende Jahrgänge. 342 Farrenkopf, Michael / Slotta, Rainer, Zur Geschichte des Ruhrbergbaus nach 1945. Ein Überblick, in: ders. / Ganzelewski, Michael / Przigoda, Stefan / Schnepel, Inga / ders. (Hg.), Glück auf! Ruhrgebiet. Der Steinkohlebergbau nach 1945, Bochum 2009, S. 23–36, hier S. 32. 343 Siehe Schmidt, Adolf, Eine neue Kohlenkrise? Gewerkschaftliche Anmerkungen zur Situation des Steinkohlebergbaus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 34 (1983) 10, S. 641–648. 344 Siehe Horn, Heinz, Steinkohle: Ausgedient?, in: Schmitt, Dieter / Heck, Heinz (Hg.), Handbuch Energie, Pfullingen 1990, S. 80–87. 345 Steinkohle: Wer die Zeche zahlt, in: Wirtschaftswoche, Nr. 48, 21. November 1986, S. 50.
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Die Unternehmen der Stromwirtschaft waren auch Mitte der 1980er-Jahre noch der Auffassung, dass der Einsatz heimischer Steinkohle nur in Kombination mit Kernenergie wirtschaftlich vertretbar sei. Einige Unternehmen der Stromwirtschaft – und allen voran die Preußenelektra – hingen immer stärker von der Kernenergie ab. Nach der Fusion des Unternehmens mit der NWK betrug der Kernenergieanteil an der Gesamterzeugung ca. 70 %.346 Ungeachtet dessen herrschte weiterhin Diskussionsbedarf in Sachen Steinkohleverstromung, vor allem um die künftige Gestaltung der Zuschüsse für den Kohlepfennig. Zur Regelung dieser Frage fanden zahlreiche Besprechungen im Bundeswirtschaftsministerium statt, an denen neben Vertretern der Stromwirtschaft auch Vertreter der industriellen Kraftwirtschaft teilnahmen. Da die Bundesländer in ganz unterschiedlichem Maße von der Steinkohleverstromung betroffen waren, wurde für jedes Land eine andere Höhe des Kohlepfennigs festgelegt. Aus diesem Grund waren auch die Landeswirtschaftsminister in den Prozess der Entscheidungsfindung involviert. Im Kern ging es darum, in welcher Höhe und für welchen Zeitraum die Ausgleichsabgabe gekürzt werden sollte. Stromwirtschaft und industrielle Kraftwirtschaft bevorzugten, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, ein sogenanntes Streckungsmodell.347 Dabei war eine stufenweise Absenkung des Kohlepfennigs auf 4 % bis 1995 vorgesehen. Von 1986 an stand damit die Frage im Raum, unter welchen Bedingungen das einst im Jahrhundertvertrag vereinbarte Mengengerüst zur Steinkohleverstromung aufrechterhalten werden könne. Vor allem Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann war bei der Regelung der Kohleverstromung darauf bedacht, Vor- und Nachteile möglichst gerecht auf alle Beteiligten zu verteilen. Für die Elektrizitätswirtschaft kam jedoch eine Zustimmung zur weiteren Kohleverstromung nur in Betracht, falls andere ordnungspolitische Reformen, wie die Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), eine Verschärfung der Missbrauchsaufsicht sowie eine damit verbundene vertiefte Prüfung der Demarkations- und Konzessionsverträge unterblieben. Gerade die erneute Prüfung der Demarkations- und Konzessionsverträge bereitete den Verbänden der Stromwirtschaft erhebliches Kopfzerbrechen.348 Im Wirtschaftsausschuss des Bundesrats wurde von Bayern und Rheinland-Pfalz vorgeschlagen, dass bei Auslaufen eines Konzessionsvertrags die Kartellbehörde prüfen solle, ob ein Energieversorger sich möglicherweise zu Unrecht auf die Demarkation berufe und damit ein rationalisierungsfeindliches Verhalten gegeben sei. Gegen Ende der 1980er-Jahre drängte sich der Eindruck auf, dass weder die Elektrizitätswirtschaft noch das Bundeswirtschaftsministerium zu einer Einigung
346 Niederschrift über die Sitzung des Beraterkreises Nord am 13. November 1985, E.ON-Archiv Hannover, Bestand NWK, S. 7 f. Beim Beraterkreis Nord handelte es sich um ein Gremium, das zur besseren Koordinierung der Fusion zwischen Preußenelektra und der NWK eingerichtet worden war. 347 Besprechung mit Bundeswirtschaftsminister Bangemann über die Steinkohleverstromung am 5. Oktober 1987, PREAG Kohleverstromung 19. Oktober 1987 bis 17. August 1990, E.ONArchiv München, EEA 2969. 348 Ergebnisvermerk der VDEW über ein Gespräch mit Bundeswirtschaftsminister Dr. Bangemann am 23. Juni 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969.
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in der Verstromungsfrage kommen würde.349 Diese wurde durch den Verfall des Ölpreises zusätzlich erschwert. Da die Differenz des deutschen Steinkohlepreises zum Ölpreis darüber bestimmte, in welcher Höhe die Stromwirtschaft vom Kohlepfennig profitierte, ging es Ende der 1980er-Jahre einmal mehr um die Frage einer grundsätzlichen Weiterführung der Verstromungsregelungen. Da der Ölpreis seit 1986 stark gesunken war, hatten sich nun die Ansprüche der Energieversorger auf die Beiträge des Ausgleichsfonds stark erhöht. Damit war der Fond in eine erhebliche finanzielle Schieflage geraten. Hinzu kam die erwähnte Haldenproblematik durch die immer noch hohe Förderquote der deutschen Steinkohle. Schon war in den Zeitungen zu lesen, dass die Energieversorgungsunternehmen von den neuen Regelungen zum Kohlepfennig profitieren könnten.350 Von dem Vorschlag einer Streckung der Steinkohleverstromung fühlten sich vor allem die IGBE sowie die zuständigen Minister in den Revierländern NordrheinWestfalen und Saarland provoziert. Doch es ging nicht nur um die zeitliche Streckung der Verstromungsmenge, die vor allem von der Stromwirtschaft favorisiert wurde. Vielmehr erregte Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) mit einer Bemerkung die Gemüter, dass die Energieversorgung auch ohne eine nationale Kohleförderung aufrechtzuerhalten sei. Besonders die Befürworter der Steinkohleverstromung nahmen diese Äußerung als Provokation wahr.351 Denn damit hatte der gerade einmal hundert Tage im Amt befindliche Bundeswirtschaftsminister eines der Kernargumente für die Fortsetzung des Jahrhundertvertrages infrage gestellt und so dem Steinkohlebergbau für die kommenden schwierigen Verhandlungen den Wind aus den Segeln genommen. Die Energieversorgung durch heimische Energieträger zu sichern, war in der Folge des Ölpreisschocks 1973/74 das Argument der Steinkohleseite, um die Förderung der deutschen Steinkohle zu begründen. Ganz in diesem Sinne stellte daher der Vorsitzende der IGBE, Heinz-Werner Meyer, auf einer Pressekonferenz die Informationskampagne „Für eine sichere Energieversorgung durch die deutsche Kohle“ vor. Aufseiten der Stromwirtschaft befürchtete man, dass dies die größte Informationskampagne in der Geschichte der Industriegewerkschaft werden könne.352 Der Vorsitzende der IGBE forderte in der Kampagne alle Akteure, die weniger deutsche Steinkohle verstromen wollten, auf, dies öffentlich kund zu tun und nicht zu behaupten, dass diese nicht mehr finanzierbar sei. Bei dieser Gelegenheit insistierte Meyer, dass die Subventionen für die Kernenergie weitaus höher seien als die für die Kohle. Seit 1956 sei die Kernenergie von Bund und Ländern mit 80,2 Mrd. DM unterstützt worden, während die 349 VDEW-Abteilung Energiewirtschaft, Steinkohlegespräch mit Bundeswirtschaftsminister Dr. Bangemann am 19. September 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969; Fax vom Verhandlungsführer der Stromwirtschaft Prof. Dr. Peter F. Heidinger (Vorstandsvorsitzender Energieversorgung Schwaben AG) an die Mitgliedsunternehmen der VDEW vom 16. Dezember 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 350 Der Kohlepfennig: Ein warmer Regen – für wen? In: Die Welt, Nr. 285, 6. Dezember 1988. 351 Heck, Heinz, Bericht aus Bonn: Energiepolitik, Äpfel und Birnen …, in: EWT 39 (1989) 5, S. 276. 352 Schreiben von Joachim Grawe, VDEW-Verbindungsstelle Bonn an den Vorstand der IZE, Hermann Krämer (Preußenelektra) und Jochen Holzer (Bayernwerk) vom 6. März 1989, E.ONArchiv München, EEA 2969.
1.4 „Weg vom Öl“ und hin zur heimischen Steinkohle
107
Zuschüsse für Steinkohle nur 43,3 Mrd. DM betragen hätten.353 An diesen Ausführungen wird deutlich, dass die IGBE nicht mehr bedingungslos an der Seite der Kernenergiebefürworter stand, sofern ihre eigenen Interessen berührt waren.354 Die Kohleverstromung erlebte Ende der 1980er-Jahre einen starken Politisierungsschub, sodass auch das Bundeskanzleramt zusehends in die Lösung dieser Frage einbezogen wurde, um die Belastungen des Verstromungsfonds für die Stromwirtschaft zu begrenzen.355 Die Stromwirtschaft und vor allem der Aufsichtsratsvorsitzende der Preußenelektra, Rudolf von Bennigsen, suchte dabei den direkten Kontakt zum Bundeskanzler, um die Verstromungsfrage auch über den Zeitpunkt 1991 hinaus zu lösen.356 Der VEBA-Chef war der Ansicht, dass die Zukunft der Kohleverstromung eine Frage der politischen Gestaltung sei, da diese nicht zuerst die Interessen der Stromwirtschaft, sondern vor allem der Stromkunden, und insbesondere der industriellen Sonderabnehmer und des Bergbaus, betraf.357 Diese Position wurde von den meisten Energieversorgern geteilt, die ihre Haltung zur langfristigen Steinkohleverstromung (über das Jahr 2000 hinaus) auch davon abhängig machen wollten, welche Regelungen die Politik in dieser Frage treffen würde.358 Bundeskanzler Helmut Kohl hatte bereits am 11. März 1987 bei einer Grubenfahrt auf der Recklinghauser Zeche versprochen, dass die Bundesregierung und er selbst sich in der Pflicht sähen, für den Fortbestand der deutschen Steinkohle einzustehen und den Jahrhundertvertrag auf jeden Fall zu erfüllen. Die sozialdemokratische Opposition sah dies etwas anders und kritisierte vor allem Bundeswirtschaftsminister Bangemann für dessen Verhalten in den Kohlerunden, in denen er weder Kohlevorrangpolitik betriebe noch ein energiepolitisches Gesamtkonzept vertrete.359 Tatsächlich gab es im Bundeswirtschaftsministerium und im Kanzleramt unterschiedliche Vorstellungen über die Kohleverstromung: Diese Unterschiede bezogen sich vor allem auf die zeitliche Ausdehnung und das Mengengerüst des Jahrhundertvertrags. Für alle politischen Parteien, aber vor allem für die Regierungskoalition, ging es bei 353 Die Zahlen der IGBE wurden von der Stromwirtschaft in Zweifel gezogen. Siehe Brief von Rudolf von Bennigsen an Heinz-Werner Meyer vom 7. März 1989, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 354 Meyer, Heinz-Werner, Sichere Kohle – sichere Energie – Arbeit für alle, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 9 (1987), S. 571–576, hier S. 572; ders., Strukturveränderungen im Ruhrgebiet. Krise und Wandel, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3 (1988), S. 141–151, hier S. 147 ff. 355 VDEW-Verbindungsstelle Bonn, Vermerk vom 17. November 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 356 Schreiben von Rudolf von Bennigsen an Bundeskanzler Helmut Kohl vom 14. Oktober 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 357 Brief von Rudolf von Bennigsen an Bundeswirtschaftsminister Dr. Helmut Haussmann vom 1. Februar 1989, E.ON-Archiv München, EEA 2969. Die besondere Position des VEBA-Konzerns hängt auch damit zusammen, dass dieser als Hauptaktionär der Preußenelektra einerseits die Interessen der öffentlichen Stromwirtschaft vertrat und andererseits als Anteilseigner der Ruhrkohle auch ein Interesse am Fortbestand des Bergbaus hatte. Aus dieser Konstellation lässt sich die differenzierte Argumentation von Rudolf von Bennigsen erklären. 358 Stellungnahme der deutschen Elektrizitätswirtschaft zur langfristigen Verstromung heimischer Steinkohle vom 15. März 1989, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 359 Antrag der SPD-Fraktion, Kohlevorrangpolitik vom 14. Oktober 1987, BT-Drucksache 11/958.
108 1 Energiebedarf als zentrale Orientierungsgrundlage stromwirtschaftlichen Handelns
der Verstromung von Steinkohle um ihre Glaubwürdigkeit, hatten sie doch der Bevölkerung wie dem Bergbau wiederholt den Erhalt des Jahrhundertvertrags versprochen. Faktisch hatten sich jedoch die Rahmenbedingungen des Vertrags seit 1977 massiv verändert. Dadurch wurden aus den einst im Vertrag vereinbarten Verstromungszielen ambitionierte Vorhaben und die gesamte Vereinbarung für alle Beteiligten erheblich teurer. Eine Einigung wurde auch deshalb immer schwieriger, weil die Bundesländer über die Höhe des Kohlepfennigs unterschiedlicher Meinung und entsprechend bereit waren, ihre Interessen über den Bundesrat durchzusetzen. Auch innerhalb der Regierung führte die Steinkohleproblematik zu erheblichen Friktionen. So verdeutlicht ein Schreiben von Arbeitsminister Norbert Blüm, wie sehr die Frage der Steinkohleverstromung von landespolitischen Überlegungen geprägt war. Blüm wies für die nordrhein-westfälischen Christdemokraten explizit auf die Arbeitsplatzproblematik im Rahmen der Steinkohleverstromung hin,360 und ein Schreiben von Theo Waigel zeigt, dass es auch innerhalb der Koalition mehrere Positionen zur Verstromungspolitik gab, etwa bezüglich Laufzeit und Menge der zu verstromenden Steinkohle. Darüber hinaus äußerte der Bundesfinanzminister schon frühzeitig Bedenken gegenüber der Verfassungsmäßigkeit des Dritten Verstromungsgesetzes.361 Und schließlich war das Zeitfenster, in dem die Verstromungsproblematik geregelt werden konnte, durch die Kommunalwahlen und Landtagswahlen 1989 bzw. 1990 und die Bundestagswahlen 1990 eng. Im Jahr 1989 schließlich kam es in den Gesprächen zwischen Stromwirtschaft und Bundesregierung zu einer Einigung. Schon in der Koalitionsrunde vom 9. Dezember 1988 hatte das Bundeskabinett beschlossen, den Ausgleichsfond, dessen Einnahmen nicht mehr ausreichten, durch eine Kürzung der Steinkohleverstromung zu entlasten, um die Ausgaben zu decken. Nach Gesprächen zwischen Vertretern der Stromwirtschaft mit Staatssekretären im Bundesfinanz- und Wirtschaftsministerium am 5. Oktober 1989 wurde man sich darüber einig, dass die zu verstromende Steinkohlemenge für die Zeit bis 1995 jährlich 40,9 Mio. t betragen solle. Damit kam es zu einer Unterschreitung der Menge aus dem Jahrhundertvertrag um 0,78 Mio. t. Letztlich entfielen für die Zeitspanne von 1991 bis 1995 von dieser Menge 34,5 Mio. t SKE auf die öffentliche Stromwirtschaft. Die Unternehmen der Stromwirtschaft zeigten sich bereit, den Ausgleichfond um den Substitutionsvorteil, der ihnen aus dem Ersatz deutscher Steinkohle durch Importkohle entstand, zu entlasten.362 Obwohl der Verhandlungsführer, Staatssekretär Dieter von Würzen aus dem Bundeswirtschaftsministerium, erst die Reaktion über das Angebot der Stromwirtschaft in seinem Haus abwarten wollte, machte er aus seiner persönlichen Auffassung keinen Hehl, dass er von der Stromwirtschaft finanziell mehr Entgegenkom360 Schreiben von Bundesarbeitsminister und CDU-Landesvorsitzendem Norbert Blüm an Bundeskanzler Helmut Kohl vom 19. Januar 1989, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 361 Schreiben von Theo Waigel an Bundeskanzler Helmut Kohl vom 7. Dezember 1988, E.ONArchiv München, EEA 2969. 362 Fax von von Bennigsen an den Vorstand der Preußenelektra, Kohleverstromung, vom 25. Januar 1989, E.ON-Archiv München, EEA 2969; Hermann Krämer anlässlich der Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 6. Oktober 1989, S. 3 f., E.ON-Archiv München, EEA 2157.
1.4 „Weg vom Öl“ und hin zur heimischen Steinkohle
109
men erwartet habe. Schließlich kam bei der Einigung eine Entlastung des Ausgleichsfonds eine Mrd. DM heraus. Nicht ganz zufällig war dies die Summe, die Bundeswirtschaftsminister Haussmann schon häufiger als Forderung in der Öffentlichkeit formuliert hatte.363 Beide Seiten hatten sich darüber verständigt, dass über die Ergebnisse dieses Gesprächs gegenüber der Öffentlichkeit zunächst Stillschweigen zu wahren sei.364 Jedoch waren in der Zwischenzeit die Pläne bei der Presse schon längst durchgesickert, die vermutete, dass der Regierung um Helmut Kohl inzwischen fast jedes Mittel recht sein würde, um die Themen „Kohleverstromung“ und „Jahrhundertvertrag“ aus der Welt zu schaffen.365 Mit dem Ende der 1980er-Jahre deutete sich an, dass der Kohlepfennig über die Zeit nach 1995 hinaus keine Zukunft haben würde, vor allem deshalb, weil die zunehmende Verrechtlichung der Energiepolitik auf die Problematik hinauslief, ob die Subventionierung der Steinkohleverstromung nach europäischem Recht überhaupt noch zulässig sei. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hatte die Bundesregierung im Frühjahr 1989 aufgefordert, bis Herbst einen Plan zur Verringerung der Ausgleichszahlungen nach dem Dritten Verstromungsgesetz vorzulegen. Dieser Aufforderung kam die Bundesregierung zum Teil mit entsprechenden Gesetzen nach.366 Der Kohlepfennig fand jedoch auf anderem Wege ein juristisches Ende. Ein Stromkunde der RWE hatte im Jahr 1985 dem Stromversorger die auf den Strompreis aufgeschlagene Ausgleichsabgabe für Steinkohle vorenthalten. Aus diesem zunächst banal anmutenden Vorfall wurde ein langwieriges juristisches Verfahren, das schließlich im Oktober 1994 vor dem Bundesverfassungsgericht enden sollte. Das Verfassungsgericht erklärte das Dritte Verstromungsgesetz aus dem Jahr 1980 für verfassungswidrig. Vom Gericht wurde dabei insbesondere kritisiert, dass das Gesetz die Stromverbraucher belaste, deren Aufgabe es aber nicht sei, durch ihre Zuschüsse den Einsatz von Steinkohle bei der Stromerzeugung zu sichern.367 Gerade am Beispiel Steinkohleverstromung zeigt sich, dass diese nicht isoliert von anderen Problemen betrachtet werden konnte, etwa dem ordnungspolitischen Rahmen, dessen Wahrung für die Stromwirtschaft entscheidend war. Dies galt insbesondere für die Erhaltung der Demarkationsgebiete sowie die Beibehaltung des § 103 Abs. 5 Nr. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, in dem die Durchleitung elektrischer Energie ausgeschlossen war. Darüber hinaus, und dies wird im zweiten Kapitel noch deutlich werden, wollte die Stromwirtschaft „einen Verdrängungswettbewerb durch externen Kernenergiestrom“ unbedingt verhindert
363 Heck, Heinz, Bericht aus Bonn: Entspannung an der Kohlefront, in: EWT 39 (1989) 11, S. 692. 364 VDEW-Abteilung Energiewirtschaft, Ergebnisvermerk über das Steinkohlegespräch am 20. Januar 1989 im Bundeswirtschaftsministerium, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 365 Kohlepfennig: Vertrauliches Modell, in: Wirtschaftswoche, Nr. 9, 24. Februar 1989, S. 213. 366 Siehe u. a. Gesetzentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes, BT-Drucksache 11/5392 vom 17. Oktober 1989. 367 Siehe Dederer, Hans-Georg, BVerfGE 91, 186 – Kohlepfennig. Zur Verfassungsmäßigkeit von Sonderabgaben: das Kriterium der Finanzierungsverantwortlichkeit der materiell Abgabebelasteten, in: Menzel, Jörg (Hg.), Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive. Tübingen 2000, S. 551–555.
110 1 Energiebedarf als zentrale Orientierungsgrundlage stromwirtschaftlichen Handelns
wissen.368 Diese Befürchtung bezog sich vor allem auf den preiswerten Strom aus französischen Kernkraftwerken. Der französische Staatskonzern Électricité de France (EdF), so die Sorge der deutschen Stromwirtschaft, könne mit günstigen Angeboten vor allem grenznahen Industrieunternehmen preisgünstige Stromlieferverträge anbieten. Daher gab es bei der VDEW ernsthafte Überlegungen, in die Vereinbarung über die Steinkohleverstromung Sanktionen einzubauen, sollte es zu unerwünschten französischen Exporten kommen.369 Die deutsche Stromwirtschaft wollte ihre Zusagen zum Jahrhundertvertrag auch an die Forderung geknüpft wissen, dass das Bundeswirtschaftsministerium alles dafür tue, den Ausbau der Kernenergie zu fördern, damit der „Konsens Kohle und Kernenergie“ weiter Bestand habe.370 Für die Zeit nach Tschernobyl und der allgemeinen Stimmung gegen die Kernkraft mag diese Forderung zunächst merkwürdig anmuten. Aber gerade in der strategischen Allianz zwischen Kohle und Kernenergie sah die Stromwirtschaft die Möglichkeit, auch künftig politische Rückendeckung für die Kernkraft zu erhalten. War die Front der Befürworter des Jahrhundertvertrags in und außerhalb der Stromwirtschaft bis Ende der 1980er-Jahre ohnehin deutlich gebröckelt, gewannen die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen immer stärkere Bedeutung. Die gesamte Stromwirtschaft, vor allem die VDEW, brachte in den Besprechungen mit dem Bundeswirtschaftsminister unmissverständlich zum Ausdruck, dass, falls die Energieversorger „in den freien Wettbewerb entlassen werden, sie alle Belastungen abwerfen werden, die sie im freien Wettbewerb behindern“.371 Wie das Verhalten der Stromwirtschaft in einer solchen Situation konkret ausgesehen hätte, ließen ihre Vertreter zumindest in den schriftlichen Quellen offen. Aus dem Zusammenhang der Verhandlungen geht jedoch hervor, dass die vertragliche Steinkohleverstromung in der gewohnten Form sicherlich gekippt worden wäre. 1.5 ZUSAMMENFASSUNG Energiebedarfsprognosen sind ein, wenn nicht das zentrale Element stromwirtschaftlicher Planung. Die Erkenntnisse über Energiebedarfsprognosen bleiben jedoch nicht auf diesen engen thematischen Bereich beschränkt. Während sich die ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Stromwirtschaft im Vergleich zu der Zeit um 1950 nur unwesentlich verändert hatten, sahen sich die Unternehmen ab den 1970er-Jahren mit veränderten Kommunikations- und Legitimationsbedingungen für ihr planerisches Handeln konfrontiert. Auch in den Unter368 Schreiben der VDEW an den Bundeswirtschaftsminister Dr. Bangemann vom 19. April 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 369 VDEW Schreiben an seine Mitgliedsunternehmen, Kohleverstromung vom 12. August 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 370 Schreiben der VDEW an den Bundeswirtschaftsminister Dr. Bangemann vom 19. April 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969. 371 Besprechungsnotiz für Rudolf von Bennigsen von der 2. EVU-Kohlerunde bei Wirtschaftsminister Bangemann am 23. Juni 1988, E.ON-Archiv München, EEA 2969.
1.5 Zusammenfassung
111
nehmen wuchs deshalb zum Teil die Skepsis gegenüber der alten energiewirtschaftlichen Faustregel von der Verdopplung des Energiebedarfs alle zehn Jahre. Die Unternehmensquellen zeigen, dass ab Mitte der 1970er-Jahre bei den Energieversorgern eine zunehmende Unsicherheit in Bezug auf die energiewirtschaftliche Planung vorherrschte, besonders in der Frage, an welchen Energiebedarfszahlen sich der Bau neuer Kraftwerke ausrichten ließe. Damit standen die Unternehmen vor der schwierigen Aufgabe, durch ihren gesetzlichen Auftrag nun auf der Basis erheblich veränderter Planungsgrundlagen und einer gewandelten öffentlichen Legitimation planen zu müssen. Waren Komplexität, Langfristigkeit und Unsicherheit ohnehin schon für Energiebedarfsprognosen charakteristisch, so taten die neuen energiepolitischen Rahmenbedingungen ihr Übriges. Die in den 1970er-Jahren heftig geführte Auseinandersetzung um den Ausbau der Kernenergie verlor im Verlauf der 1980er-Jahre nicht zuletzt wegen des gesunkenen Energiebedarfs an Brisanz. Dies unterstreicht die zentrale Bedeutung der Energiebedarfsproblematik im Zusammenhang mit der gesamten Energiefrage. In diesem Kapitel sollte es nicht darum gehen zu zeigen, dass sich Prognosen als falsch erweisen können. Kernpunkt war vielmehr, inwiefern sich die Divergenz von Prognosen und tatsächlichem Strombedarf in den genannten drei Feldern (Haushaltsstrom, ,Notwendigkeit‘ der Kernenergie und Kohleverstromung) jeweils niedergeschlagen hat. Festzuhalten ist zudem, dass die Glaubwürdigkeit von Energieprognosen in der Öffentlichkeit, in der Politik und selbst in der Stromwirtschaft im Zeitraum zwischen den 1970er- und den 1980er-Jahren erheblich abgenommen hat. Ein Blick auf die durchschnittlichen Zuwachsraten (Tabelle 1) gibt Aufschluss auf deren konsequenten Abwärtstrend. Während dieser für den Zeitraum von 1966 bis 1974 noch 8,2 % betragen hatte, hat er sich zwischen 1975 und 1980 mit 3,9 % schon mehr als halbiert, um von 1980 bis 1990 nur noch 1,85 % zu betragen. Zwar hofften die Energieversorger vor allem Mitte der 1970er-Jahre, dass die Entwicklung bestimmter Jahre Ausnahmen seien, aber die Tendenz sinkender Zuwachsraten verfestigte sich zusehends. Dennoch waren diese Bedenken durchaus produktiv, denn sie führten auch zum Hinterfragen von Reichweite, Erklärungsansätzen und Methodik der Prognosen. Spätestens mit Beginn der 1980er-Jahre führte dies in der breiten Öffentlichkeit und selbst bei den Versorgern zu grundsätzlichen Zweifeln an den Energiebedarfsprognosen: Vor allem intern wurden die stetig weiter sinkenden Prognosen und die daraus abzuleitenden Folgen diskutiert, selbst wenn man öffentlich und gegenüber der Politik weiterhin die zentrale Bedeutung der Energieversorgung sowie den Bau neuer Kraftwerke betonte. Dies galt speziell für den Haushaltsstrom, bei dem die Kooperation zwischen Energieversorgern und verschiedenen Bundesministerien, vor allem dem BMWi, besonders eng war. Gleichwohl behielten die Unternehmen dabei zum Teil wichtige Informationen für sich: nämlich die Halbierung der prognostizierten Werte seit Mitte der 1970er-Jahre. Die Unsicherheit bei den Prognosen führte in der Stromwirtschaft indes nicht zu ernsthaften Ertrags- oder Liquiditätsproblemen. Eventuelle Defizite wurden über Preiserhöhungen wieder ausgeglichen. Die neue Unsicherheit in Bezug auf stromwirtschaftliche Planung hatte wesentlich damit zu tun, dass auch in der Stromwirtschaft die Erkenntnis gereift war, dass das Wachstum des Bruttosozialprodukts (BSP), aber vor allem des Energiebedarfs,
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zwar nicht stagnieren, doch nur im unteren einstelligen Bereich weitergehen würde. Dies führte jedoch bei den Energieversorgern nicht dazu, die daraus abgeleitete Legitimation für ihr Handeln infrage zu stellen. Durch die weiterhin vorherrschenden günstigen Rahmenbedingungen (ein geschlossenes Absatzgebiet, ein durch das GWB gesichertes „natürliches Monopol“ der Energieversorger sowie hohe Markteintrittsbarrieren für mögliche Konkurrenten) führte die Planungsunsicherheit keineswegs zu grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der eigenen Marktposition. Differenzierter beurteilten die Energieversorger das Bild ihrer Unternehmen in der Öffentlichkeit, wie die Sorge um die Vermittlung der Energiebedarfsprognosen gezeigt hat. Der Bewältigung von exogen an die Stromwirtschaft herangetragenen Einflüssen, so die Wahrnehmung der Branche, wie den Protesten gegen Kraftwerksvorhaben, den Genehmigungs- und Gerichtsverfahren, den Umweltauflagen für Kohlekraftwerke sowie den Versuchen zur Reform des Energierechts und Energiemarkts sind als weitaus folgenreicher zu bewerten als die planerischen Veränderungen. Wenngleich einige Protagonisten der Stromwirtschaft bereits in den 1980er-Jahren erkannten, dass die Proteste gegen den Ausbau der Kernenergie dazu beigetragen hatten, den Bau weiterer Kraftwerke zu verhindern. Darüber hinaus wurden vor allem in Kapitel 1.4 auch Erkenntnisse darüber geliefert, welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume für die Stromversorger sowie für die Bundes- und Landespolitik bei der Debatte um Kohleverstromung bestanden. Der Jahrhundertvertrag und die daraus resultierende Verpflichtung der Elekrizitätswirtschaft, eine festgelegte Menge Steinkohle zu verstromen („politisch gewollte Kraftwerke“), schränkte den Handlungsspielraum der Unternehmen zusätzlich ein. Allerdings erreichten die Unternehmen für diese von ihnen als Zumutung wahrgenommene energiepolitische Auflage in einem langwierigen Aushandlungsprozess mit der Politik an anderer Stelle durchaus Zugeständnisse. Dabei wurde offensichtlich, dass ein Problem, wie hier die Kohleverstromung, kaum isoliert von anderen stromwirtschaftlichen Fragen, wie zum Beispiel der Diskussion über den Ordnungsrahmen, zu behandeln ist. Die weitgehende Erhaltung des ordnungspolitischen Rahmens war für die Stromwirtschaft äußerst vorteilhaft und stand im direkten Zusammenhang mit der Frage der Steinkohleverstromung. Zugeständnisse bei der Kohleverstromung wurden von der Stromwirtschaft gezielt als Faustpfand bei anderen Fragen eingesetzt. Die Häufung der Probleme und ihre Verwobenheit stellte für die Energieversorger eine nicht vorauszusehende Komplexität dar. Die bundesdeutsche Stromwirtschaft war im Verlauf der 1970er-Jahre in eine Vertrauenskrise geraten, deren Ende auch zu Beginn des neuen Jahrzehnts nicht abzusehen war. Der Umgang mit und die Kommunikation von Energiebedarfsprognosen sowie das daraus abzuleitende unternehmerische Handeln verdeutlichen diese Krisensituation.
2 MARKTMACHT IM MONOPOL? DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN INDUSTRIELLER KRAFTWIRTSCHAFT UND DEN ÖFFENTLICHEN ENERGIEVERSORGUNGSUNTERNEHMEN Jene Industriebetriebe, für die eine Eigenerzeugung wirtschaftlich ist, sind in der Regel wegen entsprechend großer Abnahme und günstiger Belastungscharakteristika besonders gesuchte und umworbene Kunden der E-Werke. Bei einem Lieferangebot pflegen sie die Preise nahe an ihre Selbstkostengrenze heranzuführen.1 2.1 DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN INDUSTRIELLER KRAFTWIRTSCHAFT UND ÖFFENTLICHEN STROMVERSORGERN: HISTORISCHE GRUNDLAGEN UND STRUKTUREN Am Anfang der Energieversorgung aller heutigen Industrieländer stand – nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in den USA – die industrielle Eigenerzeugung. Mindestens seit den 1880er-Jahren, das heißt, noch vor der öffentlichen Stromerzeugung und bis in die 1930er-Jahre hinein, machte die industrielle Stromerzeugung rund die Hälfte des insgesamt erzeugten Stroms aus. Darüber hinaus war die Industrie mit rund 80 % des gesamten Strombedarfs in den 1920er-Jahren der mit Abstand wichtigste Abnehmer der öffentlichen Energieversorger.2 Die Industrie baute zu dieser Zeit die Eigenstromerzeugung auf Grundlage von Kraft-WärmeKopplung (KWK) aus und versuchte gleichzeitig, den Fremdstrombezug aus den öffentlichen Netzen zu minimieren. Diese Entwicklung setzte die öffentlichen Energieversorger unter einen erheblichen Konkurrenzdruck.3 Ob dies jedoch für die Industrie eines der Hauptantriebsmomente war, ihre Eigenerzeugung auszubauen, ist fraglich.4 Vieles spricht dafür, dass es der Industrie meist weniger darum ging, das Liefermonopol der öffentlichen Elektrizitätswerke infrage zu stellen, sondern vielmehr darum, preiswert Energie für den eigenen Produktionsprozess zu erzeugen und in dieser Hinsicht weniger abhängig von den öffentlichen Energieversorgern zu sein. Vor allem wenn ein Industriebetrieb über mehrere Werke oder Produktionsstätten verfügte, konnte es für ihn ökonomisch äußerst attraktiv sein, neben eigenen Erzeugungsanlagen auch über eigene Leitungen den Strom zwischen den unterschiedlichen Produktionsstätten zu verteilen. 1 2 3
4
Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 352. Faridi, Alexander, Der regulierende Eingriff des Energiewirtschaftsgesetzes in den Wettbewerb zwischen öffentlicher und industrieller Stromerzeugung in den 1930er-Jahren, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004) 2, S. 173–197, hier S. 176. Siehe Faridi, Alexander, Eigenstromerzeugung oder Fremdstrombezug? Stromlieferungen und Stromlieferverträge zwischen deutscher Großindustrie und öffentlichen Elektrizitätsversorgungsunternehmen in den 1920er- und 1930er-Jahren, in: Technikgeschichte 70 (2003) 1, S. 3–21. Für die Frühphase der Elektrifizierung: Henniger, Gerd, Eigenerzeugung oder Anschluß an das öffentliche Netz. Die Rolle der Industrie als Stromkonsument bei der Herausbildung der Überlandversorgung, in: Schott, Dieter / Böhme, Helmut (Hg.), Wege regionaler Elektrifizierung in der Rhein-Main-Neckar-Region. Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 1993, S. 105–126.
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2 Marktmacht im Monopol?
Dies ist gerade deshalb von zentraler Bedeutung, weil die öffentlichen Elektrizitätsversorgungsunternehmen per Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) über das Leitungsmonopol verfügten. Weder in den 1920er-Jahren noch später in den 1970erJahren gab es eine Verpflichtung für die Energieversorger, überschüssigen Industriestrom über das öffentliche Netz zu einem anderen Betrieb „durchzuleiten“. Deshalb stellte sich für die Industrie immer wieder die Frage nach dem Aufbau eigener Leitungsnetze, um nicht von den öffentlichen Energieversorgern abhängig zu sein. Vielfach, und diese Variante soll nicht ausgeschlossen werden, war es für Industriebetriebe ökonomisch reizvoller, sich von einem Energieversorger beliefern zu lassen und nicht in eine Eigenerzeugung sowie in eigene Netze zu investieren. Der wichtigste institutionelle Rahmen der Energiewirtschaft, das zum Teil sehr offen gestaltete EnWG aus dem Jahr 1935, beinhaltete in § 6, Abs. 3 eine strukturbildende Verordnung im Verhältnis zwischen industrieller Kraftwirtschaft und öffentlichen Energieversorgungsunternehmen.5 Danach war ein öffentliches EVU zu einer „allgemeinen Anschluss- und Versorgungspflicht“ gegenüber Tarifkunden verpflichtet, nicht jedoch gegenüber sogenannten Sonderabnehmern. Industriebetriebe zählen aufgrund ihres meist hohen Energiebedarfs zur Gruppe der Sonderabnehmer. Ihr Verhältnis zum öffentlichen EVU wird daher meist – insofern sie sich nicht komplett selbst versorgen, wie dies nur bei wenigen Industrieunternehmen der Fall ist – durch einen Stromliefervertrag geregelt. Die Beschreibung dieses Verhältnisses mag zunächst banal und bürokratisch anmuten. Es hatte allerdings weitreichende Konsequenzen für beide Seiten und auch für das Energiesystem insgesamt. In der Praxis ging es vor dem Hintergrund des oben skizzierten Verhältnisses darum, welchen Preis ein Industrieunternehmen für seine Energie bezahlte und ob sich ihm genügend Anreize boten, zur Eigenerzeugung zu wechseln. Dies hatte nicht selten harte und zähe Verhandlungen zur Folge. § 6, Abs. 3 EnWG war deshalb so folgenreich, weil Industriebetriebe mit eigenen Kraftwerken – als Sonderabnehmer – keinen rechtlich kodifizierten Anspruch auf Stromlieferung von einem öffentlichen Elektrizitätswerk hatten. Im Klartext hieß das, dass ein öffentlicher Stromversorger die Belieferung eines Großabnehmers ablehnen konnte, wenn dies für ihn wirtschaftlich unzumutbar war. Wie erwähnt bestand nur für Tarifabnehmer, nicht aber für Sonderabnehmer allgemeine Anschluss- und Versorgungspflicht. Konkrete Folgen hatte dies für beide Seiten vor allem bei der Aushandlung von Stromlieferverträgen: Da die Industrie selten in der Lage war, sich zu 100 % selbst zu versorgen, war sie auf die Lieferung von Zusatz- und Reservestrom eines Elektrizitätswerks angewiesen. Die Gefahr, dass ein Elektrizitätswerk bei den Verhandlungen über Zusatz- und Reservestromlieferungen seine Monopolstellung gegenüber den Großabnehmern ausspielte, war damit durchaus gegeben. Dies äußerte sich dergestalt, dass das Elektrizitätswerk seine Lieferungen oder deren Preise davon abhängig machte, ob der Sonderabnehmer den Betrieb seiner Eigenanlagen einstellte und diese vom Elektrizitätswerk weiter betreiben ließ. Auch der Verzicht auf den Betrieb von Eigenanlagen und den Bau eigener Leitungen wurde in Strom-
5
Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz) vom 26. Oktober 1936, in: Reichsgesetzblatt I, 1935, S. 451–1.456.
2.1 Das Verhältnis industrielle Kraftwirtschaft und öffentliche Stromversorger
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lieferverträgen zwischen EVU und Industrie zum Teil vereinbart.6 Damit war ein günstiger Stromliefervertrag gewissermaßen das Entgegenkommen für das Stilllegen eigener Anlagen. Neben diesen Problemen wird gern übersehen, dass diese Konstellation durchaus positive Auswirkungen in sich barg: Denn durch die fehlende Anschluss- und Versorgungspflicht dürfte sich für die Sonderabnehmer ein besonders starker Anreiz ergeben haben, Investitionen für die Entwicklung und Umsetzung innovativer Techniken für die eigene Stromerzeugung zu tätigen. Das wiederum hat vielfach dazu geführt, dass die Verhandlungsposition gegenüber dem Elektrizitätswerk und seinem Liefermonopol auf lange Sicht gesichert sein konnte. Die Ankündigung, eine Eigenanlage errichten zu wollen, konnte ein wirksames Mittel der Industrie sein, die Strompreisforderungen eines EVU in die Schranken zu weisen. Angesichts der herausragenden Bedeutung der industriellen Kraftwirtschaft seit den Anfängen der Stromerzeugung ist es wichtig danach zu fragen, wie sich ihre Rolle seit den 1920er-Jahren verändert hat und wie sich die Stromversorger zum einstigen Konkurrenten und Kunden ,Industrie‘ positionierten. Dies kann hier nur in groben Zügen geschehen, da der Untersuchungszeitraum sich auf die 1970erund 1980er-Jahre konzentriert. Neben dem oben skizzierten Verhältnis zwischen industrieller Kraftwirtschaft und öffentlichen Energieversorgern spielte in den 1920er-Jahren – anders als im Untersuchungszeitraum – auch die technische Entwicklung eine große Rolle. Der Entwicklungsgrad des Stromsystems in den Bereichen „Netz“ und „Erzeugung“ war zu diesem Zeitpunkt keinesfalls flächendeckend oder gar abgeschlossen. Dies bedeutete, dass Industriebetriebe mit eigenen Stromerzeugungskapazitäten durch die Beherrschung der dazugehörenden Technik vielfach mehr Erfahrungen als die öffentlichen Energieversorger hatten. Das galt vor allem für Industriebetriebe mit Produktionsverfahren, die einen hohen Dampf- und Wärmebedarf aufwiesen. So stellten zum Beispiel damals die Werke der IG-Farben, die durch die Nutzung energieeffizienter KWK äußerst preiswert Strom für den eigenen Bedarf erzeugte, für die RWE trotz deren billiger Braunkohle eine große Konkurrenz dar. Auch die zum IG-Farben-Konzern gehörenden Bayerwerke in Leverkusen verfügten als Großkesselbetreiber über herausragendes Wissen in der Wärmetechnologie, vor allem im Hochdruckbereich. Die gesamte Stromerzeugungs- und Netzstrategie wurde in einer sogenannten Wärmekommission, einer eigenen Abteilung innerhalb des Unternehmens, überwacht und optimiert. Im Bereich der Stromnetze gab es für die Chemieindustrie einen Anreiz, in eigene Verbundleitungen zu investieren und damit die eigenen Betriebe miteinander zu vernetzen, um auf diese Weise unabhängig vom Leitungsmonopol der öffentlichen Stromlieferanten zu sein. Die Stromtransportfrage löste der IG-Farben-Konzern sehr unterschiedlich. So unterhielt der Konzern im mitteldeutschen Braunkohlegebiet eigene Verbundleitungen,
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Fischerhof, Hans, „Stromdurchleitung“ über fremde Netze als Rechtsproblem, Baden-Baden 1974, S. 9 f. Die RWE förderten die Drucklegung der Studie. Brief von Klätte/Scheuten an Fischerhof vom 4. Juni 1974, HKR 13662.
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die seit 1934 zu einer konzerneigenen „IG-Sammelschiene“ ausgebaut wurden, die im Hochspannungsbereich an die reichseigenen Elektrowerke angeschlossen war.7 Im Westen entschied sich der Chemiekonzern zu der Strategie, mit den öffentlichen Stromversorgern zusammenzuarbeiten. Einer der zentralen Gründe für diese Entscheidung war der Umstand, dass man den Stromtransport zwischen entfernt liegenden Werken gewährleisten wollte. Denn hier im Westen wären die Investitionskosten im Unterschied zu den mitteldeutschen Verhältnissen aufgrund der Länge der Leitungen wesentlich höher gewesen. Darüber hinaus existierte im Westen mit den Hochspannungsleitungen der RWE bereits eine leistungsfähige Transportleitung. Daher lag dort in der Errichtung eigener Hochspannungsleitungen kaum eine wirtschaftlich interessante Alternative, selbst wenn man die zu zahlenden Netzgebühren berücksichtigte.8 Die Verhandlungen zwischen öffentlichen Energieversorgern und Industrieunternehmen fanden – wie das Beispiel deutlich macht – durchaus auf Augenhöhe statt, besaßen doch beide eine nicht unbeträchtliche wirtschaftliche Machtposition und gute Verbindungen zur politischen Führung. Auch wenn die Energiewirtschaft in puncto Investitionskontrolle und anderen Eingriffen des Staates schon seit ihren Anfängen zu den am meisten regulierten Branchen gehörte, so hielt sich der Staat jenseits dieser ordnungspolitischen Rahmensetzungen lange zurück, sofern keine Engpässe in der Energieversorgung zu befürchten waren oder er andere politische Ziele gefährdet sah. Dieser Umstand gehört zu den historischen Kontinuitäten im Verhältnis zwischen Industrie und EVU und wird in Kapitel 2.3. zur Gemischten Kommission noch näher untersucht werden. Institutionen, in denen Interessen zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft verhandelt werden, waren seit jeher eher der historische Normal-, denn ein Sonderfall. So existierte zum Beispiel seit 1924 beim Reichskohlenrat ein „Gemischter Ausschuss für Kraft und Wärme“, der die allgemeinen technischen und wirtschaftlichen Fragen bei der gemeinsamen Erzeugung und dem Austausch von Kraft und Wärme zwischen industriellen Eigenstromerzeugern und den Elektrizitätswerken bearbeitete.9 Dieser kann gewissermaßen als eine Vorgängerinstitution der Gemischten Kommission verstanden werden, da er eine ähnliche Zusammensetzung aufwies und vergleichbare Problemlagen wie später in den 1970er-Jahren verhandelte. Auch 1925 gab es ein Bewusstsein darüber, dass „nur von Fall zu Fall durch Verständigung zwischen Stromverbrauchern [stromerzeugende Industrie] und Elektrizitätswerken“ entschieden werden könne. Dazu gehörten neben der „Strompreispolitik der Elektrizitätswerke“ die Eigenerzeugungskosten der Industrie sowie die Frage, welche Informationen diesbezüglich zwischen beiden Seiten auszutauschen seien.10 Ferner 7 8 9 10
Hackenholz, Dirk, Die elektrochemischen Werke in Bitterfeld 1914–1945. Ein Standort der IG-Farbenindustrie AG, Münster 2004, S. 249. Schäff, Karl, Verbund mit industriellen Kraftwerken, in: VDEW (Hg.), Das Zeitalter der Elektrizität, Frankfurt/M. 1967, S. 90–98, hier S. 92. Siehe Bericht über die Beratungen der unterzeichnenden Sachverständigen aus dem Kreis der Elektrizität erzeugenden und verbrauchenden Industrien an den Gemischten Ausschuss für Kraft und Wärme, WWA Dortmund K1/Nr. 649. Ebd., S. 4.
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wurde das Problem der Reserve- und Zusatzstromlieferung diskutiert, das auch in den 1970er-Jahren wieder auftauchen sollte. Selbst ein großer Industriebetrieb mit Eigenstromerzeugung konnte sich, wie gesagt, nur in den wenigsten Fällen zu 100 % selbst mit Energie versorgen und musste daher für den sogenannten Spitzenbedarf – wie zum Beispiel bei kurzfristiger Erhöhung der Produktion – die notwendige zusätzliche Energie vom Elektrizitätswerk beziehen. Gerade über die Preise für die Lieferung dieser Leistung gab es zwischen beiden Vertragspartnern immer wieder unterschiedliche Auffassungen: Die Industrie forderte in den 1920er-Jahren vehement, den Spitzenbedarf vom Elektrizitätswerk zum normalen oder nur leicht erhöhten Bezugspreis der Normallieferung zu beziehen. Im Gegensatz dazu vertraten die EVU die Auffassung, dass das Vorhalten der Reserve Kosten verursache, die sie der Industrie in Rechnung stellen müsse, zumal diese damit das „Risiko der Wirtschaftlichkeit“ der Energieerzeugung den Elektrizitätswerken zuschiebe. Denn damit könne die Industrie, so die EVU, ihre eigenen Anlagen effizient betreiben und müsse diese nicht ausbauen. Das Risiko für die EVU, seitens der Industrie periodisch eine stärkere Nachfrage zu erwarten oder eben nicht, müsse daher im Strompreis abgebildet werden. „Zwischen den beiden extremen Fällen“, so schrieben die Sachverständigen aus der Industrie an den Gemischten Ausschuss, dass die Industrie lediglich eine „Spitzenbedarfsdeckung zu normalen Preisen“ erwarte und das Elektrizitätswerk „jede Zusatzstromlieferung durch das Verlangen unmöglich mache, den Kapitaldienst in voller Höhe des Spitzenbedarfs vergütet zu erhalten, liegt eine große Zahl von Zwischenmöglichkeiten“.11 In den 1920er-Jahren scheint die Kooperationsbereitschaft zwischen beiden Parteien begrenzt gewesen zu sein, denn die Industriesachverständigen empfahlen ein „verständnisvolles Zusammenwirken zwischen Stromverbrauchern [Industrie] und Erzeugern [Elektrizitätswerken]“.12 Der umgekehrte Fall zu dem eben skizzierten wurde ebenfalls 1925 intensiv diskutiert, wobei es darum ging, dass ein industrieller Eigenstromerzeuger seinen überschüssig erzeugten Strom – also zum Beispiel bei geringerer Produktionsauslastung – in das öffentliche Netz einspeisen wollte. Abgesehen von grundlegenden technischen und betrieblichen Voraussetzungen und dem notwendigen Informationsaustausch13 für diesen Vorgang, also wann der Strom ins öffentliche Netz ein11 12 13
Ebd., S. 6 Ebd. Der Austausch bzw. der Umgang mit Informationen, insbesondere beim Übertragungsnetz, spielt bis in die Gegenwart hinein eine zentrale Rolle. So kann z. B. immer nur eine Handvoll Experten (meist Hochspannungstechniker) bei den Übertragungsnetzbetreibern tatsächlich eine Aussage darüber treffen, ob – und wenn ja – wie stabil das Stromnetz tatsächlich ist. Hierbei kann es zu einem Konflikt zwischen Netzbetrieb und Informationsbereitstellung kommen. Deshalb fordern einige kritische Stimmen des bestehenden Systems seit geraumer Zeit einen nicht gewinnorientierten und unabhängigen Netzbetreiber, der das operative Geschäft übernimmt. In den USA existieren als Reaktion auf die spektakulären Stromausfälle in Kalifornien um das Jahr 2000 herum auf regionaler Ebene bereits erste unabhängige Netzbetreiber. Auch die Europäische Union sowie die Bundesnetzagentur befassen sich seit 2007 verstärkt mit der eigentumsrechtlichen Trennung von Stromnetz und Erzeugung sowie mit unabhängigen Netzbetreibern. Siehe u. a. Säcker, Franz Jürgen, Der Independent System Operator. Ein neues ins-
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gespeist würde, um die Netzstabilität nicht zu gefährden, ging es hier um den zu vergütenden Preis. Bedeutsamer als diese Frage war jedoch das grundsätzliche Problem der Durch- bzw. Überleitung von Strom. Denn aufgrund des Wegemonopols der öffentlichen Elektrizitätswerke waren die Industrieunternehmen auf die Zustimmung der öffentlichen Elektrizitätswerke angewiesen, was die Einspeisung von Strom ins öffentliche Netz betraf. Hierbei spielte auch noch ein weiterer Akteur eine Rolle, der in der vorliegenden Studie trotz seiner zentralen Stellung für die Energiewirtschaft nicht systematisch untersucht werden kann: die Gemeinden. Letztere schlossen mit den Energieversorgern Verträge über das ausschließliche Wegenutzungsrecht ab, das heißt, über den Bau und die Nutzung von Netzleitungen. Für die Vergabe dieses Rechts erhielten die Kommunen eine sogenannte Konzessionsabgabe, die oft einen nicht unwesentlichen Beitrag zum jeweiligen Haushalt der Kommunen und Gemeinden leistete.14 Mit der Ausschließlichkeitsklausel, die die Konzessionsverträge üblicherweise enthielten, wurde den Unternehmen von den Kommunen die Nutzung der Wege zur alleinigen Versorgung mit Energie (Gas, Wasser, Elektrizität) eingeräumt – eine Festlegung, die erst mit der Energierechtsreform von 1998 entscheidend verändert und liberalisiert wurde. Die beinahe flächendeckende Absicherung der Versorgungsgebiete erreichten die EVU darüber hinaus durch den Abschluss von Demarkationsverträgen mit anderen Versorgern, in denen sich beide Seiten gegenseitig dazu verpflichteten, in bestimmten Gebieten die Energieversorgung über feste Leitungen zu unterlassen.15 Jedes der Unternehmen war durch diese Konstruktion in seinem Gebiet quasi Monopolist. Durch die Leitungsgebundenheit der Energieversorgung und das Eigentum der jeweiligen Unternehmen an den Versorgungsleitungen, verbunden mit einer ausschließlichen Nutzungsbefugnis, ergab sich ein Quasi-Monopol für das Netz. Für Industrieunternehmen resultierten daraus weitreichende Schwierigkeiten. Lagen Betriebe von Unternehmen in unterschiedlichen Versorgungsgebieten und wurden dadurch bestehende Demarkationsgrenzen und Verträge tangiert, so mussten diese geändert werden. Bei großen Industriebetrieben, wie zum Beispiel den Vereinigten Stahlwerken, stellte dies kaum ein Problem dar. Der Demarkationsvertrag wurde gelockert, wenn auch in diesem Fall mithilfe sanften staatlichen Drucks.16 Aufgrund der Vielzahl der Fälle lassen sich hier allerdings nur schwerlich allgemeingültige Aussagen treffen.
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titutionelles Design für Netzbetreiber?, Frankfurt/Main u. a. 2007; Büdenbender, Ulrich, Einführung eines Ownership Unbundling bzw. Independent System Operator in der Energiewirtschaft. Rechtliche und rechtspolitische Würdigung der wesentlichen Argumente der Europäischen Kommission, Essen 2007. Zum Begriff des Konzessionsvertrages siehe u. a. Templin, Wolf, Recht der Konzessionsverträge, München 2009, S. 16 f. Interessanterweise war im EnWG von 1935 nicht die Rede von geschlossenen Versorgungsgebieten. Ganz im Gegenteil war dort jedoch eine Bestimmung kodifiziert, die Stromanbieter sanktionieren sollte, falls diese sich gegen die Durchleitung elektrischer Energie stellen sollten. In der Praxis wurde dieses Instrument jedoch von der Politik nicht eingesetzt. WEV, Die Elektrizitätswirtschaft im Deutschen Reich, Berlin 1939/40, S. 37; Vereinbarung zwischen RWE und VEW vom 6. November 1929, HKR V1/45.
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Das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft konnte sehr unterschiedlich sein: Während sich der Informationsaustausch (als Grundlage der Zusammenarbeit) zwischen öffentlichen Stromversorgern und den rheinischen Chemiewerken zum Teil sehr reibungslos gestaltete, waren die stromwirtschaftlichen Verhältnisse im Ruhrgebiet oft weitaus komplizierter. Hier traten mehrere Akteure mit zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen auf, was ein wesentlich höheres Konfliktpotenzial in sich barg. Die Konfliktlinien, so kann hier nur angedeutet werden, verliefen dabei keineswegs ausschließlich zwischen den öffentlichen Stromversorgern und den industriellen Kraftbetrieben. Vor allem im Bergbau herrschte Unstimmigkeit zwischen dem Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikat (RWKS) und seinen Mitgliedszechen, die oft ganz andere Strategien hinsichtlich der Stromerzeugung verfolgten. Viele der Bergbaugesellschaften agierten nicht als reine Zechenunternehmen, sondern als sogenannte Hüttenzechen, das heißt, sie versorgten die Eisen- und Stahlindustrie mit Energie. Das RWKS wollte hingegen eigene Großkraftwerke errichten, um den Steinkohlebergbau in die Stromversorgung einzubeziehen, sodass aus Sicht des Syndikats den EVU nur noch die Funktion des reinen Stromlieferanten zugedacht war, um den Zechen die Errichtung neuer Steinkohlekraftwerke zu überlassen.17 Vor allem der Steinkohlebergbau konnte seine Beziehungen zu den Energieversorgern günstig gestalten, was nicht zuletzt der eng verflochtenen Entstehungsgeschichte beider geschuldet war. Doch auch handfeste ökonomische Interessen der EVU führten zu einem kooperativen Vorgehen.18 Dies verdeutlichen nicht zuletzt die Verhandlungen zwischen der STEAG und der VEW im Jahr 1937. Damals gelang es der STEAG, nach kurzer Verhandlungszeit im Sommer 1937 mit dem westfälischen EVU einen Vertrag abzuschließen, bei dem die Interessen beider Parteien zur Geltung kamen. So erklärte sich die VEW bereit, rund 50 % des Stroms der Zechen ins öffentliche Netz einzuspeisen und an andere Verbraucher im Versorgungsgebiet weiterzuverkaufen. Voraussetzung für die Zugeständnisse der VEW war die garantierte und zuverlässige Abgabe durch den Bergbau. Auch die Forderungen der Industrie nach einem eigenen Leitungsnetz tauchten damals bereits auf. Dieser sogenannte Zechenverbundbetrieb sollte dazu dienen, die Stromabgabe der einzelnen Zechen zusammenzufassen und ins öffentliche Netz einzuspeisen.19 Ohne näher auf die Details in den 1930er-Jahren einzugehen, lässt sich hieran ein klassisches Problem zwischen EVU und Industrie anschaulich verdeutlichen: Für die Industrie stellte sich die Frage, ob sie ihre selbst erzeugte Energie vorwiegend zur Eigenversorgung nutzen sollte und/oder Überschüsse ins öffentliche Netz einspeisen konnte. Verweigerte ein Energieversorger als alleiniger 17
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Siehe Tengelmann, Wilhelm, Die Steinkohle in der Elektrowirtschaft, Herne 1936, S. 32–41; Döring, Peter, Von der Konfrontation zur Kooperation. Steinkohlenbergbau und Elektrizitätswirtschaft im Ruhrgebiet, in: Döring, Peter / Horstmann, Theo (Hg.), Revier unter Strom. Fotografien zur Elektrizitätsgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2010, S. 52–71, hier S. 57. Wenngleich man hier wiederum zwischen den verschiedenen Unternehmen differenzieren müsste. So der entsprechende Antrag der STEAG beim Reichswirtschaftsministerium im Sommer 1938. Siehe STEAG an Reichswirtschaftsministerium, 11. Juli 1938, Bundesarchiv (BArch) 4604/520.
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Besitzer des Netzes nun aus wirtschaftlichen Gründen die Durchleitung, musste die Industrie eigene Leitungen bauen, um eigens erzeugte Energie in ein anderes Werk weiterzuleiten. Die Errichtung von Leitungen war jedoch meist so teuer und aufwendig, dass es für die Industrie oft einfacher war, ihren Strom weiterhin vom EVU zu beziehen. Auf diese Weise konnte sich eine ernsthafte Konkurrenz zu den traditionellen Energieversorgern kaum etablieren oder gar neu entstehen. Oft – und dies entsprach der Argumentation der EVU – war die Errichtung doppelter Leitungen volks- wie betriebswirtschaftlich unsinnig und einfach zu teuer.20 Dieses Argument wurde auch von den Genehmigungsbehörden zu Recht häufig vertreten. Jedoch mussten Industriebetriebe solche Überlegungen anstellen, wenn die Energieversorger die Kooperation verweigerten und keine Durchleitung gestatteten oder vermeintliche technische Hürden dazu nutzten, die Zusammenarbeit zu verweigern. Nur in sehr wenigen Fällen waren tatsächlich technische Schwierigkeiten der Grund für Probleme zwischen industrieller Kraftwirtschaft und EVU.21 Vielfach konnte man sich einfach nicht auf die Höhe der Durchleitungsgebühr einigen. Im ordnungspolitischen Rahmen der Stromwirtschaft der 1930er-Jahre existierte kein kodifiziertes Durchleitungsrecht, auf das sich die Industrie hätte berufen können. Der Staat griff in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig in das Verhältnis ein oder ging gar gegen die Energieversorger als Inhaber und Betreiber des Netzes mit konkreten Maßnahmen vor. Die Interessen der Industrie bezogen sich meist auf die Inanspruchnahme des öffentlichen Netzes für den Zweck der Durchleitung zwischen verstreut liegenden Betrieben. Darüber hinaus war die Industrie kaum daran interessiert, die Kapazitäten der eigenen Kraftwerke auszubauen, sofern sie nicht für den betriebseigenen Strom erforderlich waren. Im Vordergrund standen der eigene Stromverbrauch und die Frage, auf welche Weise sich dieser so gering bzw. günstig wie möglich halten ließe. Gerade die STEAG und der Bergbau-Verein verfassten Ende der 1930er- und zu Beginn der 1940er-Jahre zahlreiche Denkschriften mit dem Ziel, den für die Energiewirtschaft zuständigen Behörden die Bedeutung des Ruhrbergbaus vor Augen zu führen.22 Dies geschah unmittelbar nachdem sie mit den RWE keine frei20 Diese Argumentationsfigur, also die Doppelinvestition in Energieübertragungseinrichtungen, wurde in den 1970er-Jahren von den EVU benutzt, um sich gegen die Auflockerung der Demarkationsgrenzen und mehr Wettbewerb auszusprechen. Neue Wettbewerber auf dem Energiemarkt, so die Ansicht der Stromwirtschaft, müssten bei Verweigerung der Durchleitung durch die EVU erst eigene Leitungsnetze aufbauen, um ihre erzeugte Leistung an den Endkunden zu verkaufen. Dies wären jedoch volkswirtschaftlich unnütze Investitionen. Daher solle man die Struktur der Energieversorgung so belassen, wie sie sich über Jahrzehnte bewährt habe. 21 Bericht über die Beratungen der unterzeichnenden Sachverständigen aus dem Kreis der Elektrizität erzeugenden und verbrauchenden Industrien an den Gemischten Ausschuss für Kraft und Wärme, WWA Dortmund K1/Nr. 649, Bd. 1, S. 10. 22 Siehe u. a. Bergbau-Verein, Die Ruhrkohle in der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Essen 1941; Buskühl, Ernst, Leistung und Aufgaben des Ruhrkohlebergbaus im Rahmen der neuen kohlen- und energiewirtschaftlichen Entwicklung, in: Glückauf 24 (1939), S. 505–511, hier S. 510 f.
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willige vertragliche Einigung bezüglich der Einspeisung ihres teuren Zechenstroms in das öffentliche Netz abschließen konnten, weil die RWE nicht bereit waren, die damit entstehenden Mehrkosten auf die Strompreise für die Endverbraucher umzuschlagen. Exemplarisch zeigt sich hieran der Strategiewechsel der Industrie gegenüber den Energieversorgern: Dieser funktionierte häufig nach dem Prinzip, dass bei fehlgeschlagenen Verhandlungen verstärkt der Kontakt zur Politik und zur Öffentlichkeit gesucht wurde, um die nicht kooperationsbereiten EVU doch noch zum Einlenken zu bewegen oder durch mögliche Interessenallianzen die eigenen Ziele auf anderen Wegen zu verwirklichen. Während in den 1920er-Jahren die Großindustrie das öffentliche Verbundnetz vor allem dazu nutzte, um Eigenstrom zwischen verstreut liegenden Betrieben durchzuleiten, war kleinen und mittleren Betrieben diese Möglichkeit oftmals verwehrt, weil sie mit den Energieversorgern, anders als große Industrieunternehmen, nicht oder nur schwer auf Augenhöhe verhandeln konnten. Eine kostengünstige Energieversorgung gleich mehrerer Produktionsstätten war für sie daher nicht möglich. Industriebetriebe waren oft nur zur Investition in Energieerzeugungsanlagen bereit, wenn sie die Eigenstromversorgung ihrer Betriebe dadurch günstiger gestalten konnten. Die Abgabe von Überschussstrom für die öffentliche Versorgung war für sie von sekundärer Bedeutung. Seit Ende der 1960er-Jahre hatte sich diese Situation aufgrund des Strukturwandels der Industrie23 und des Entwicklungsstandes des Stromnetzes (auf nahezu allen Spannungsebenen) wesentlich geändert. Das Stromnetz war an vielen Stellen schon so gesättigt, dass es Eigenerzeugung nur dort gab, wo diese für die Industrie auch wirklich ökonomisch lohnend war. Zugleich hatte die Preisdifferenzierungsstrategie der Energieversorger in den Nachkriegsjahrzehnten dazu geführt, dass die Eigenerzeugung von industriellem Strom rückläufig war und später auf niedrigem Niveau stagnierte. Dies war neben dem industriellen Strukturwandel wahrscheinlich der wichtigste Grund für die Zurückhaltung der Industrie in Fragen der Eigenstromerzeugung.24 23
24
Siehe u. a. Nonn, Christoph, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958– 1969, Göttingen 2001; Abelshauser, Werner, Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung, München 1984; Abelshauser, Werner, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 206 ff.; Der Spiegel 26 (1966), Cover mit dem Titel Krise an der Ruhr. Ohne Frage verlief dieser Wandel bei Weitem nicht in allen Branchen gleich oder nach ähnlichen Mustern ab. Vielmehr muss zwischen einzelnen Sektoren differenziert werden. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre sank national wie international vor allem die Nachfrage nach Kohle, Schiffen und Stahl. Demgegenüber verzeichneten einige warenproduzierende Sektoren durchaus einen beachtlichen Aufschwung, wie exemplarisch die Büro- und Datentechnik, Kunststoffherstellung und -verarbeitung und die elektrotechnische Industrie verdeutlichen. Ein differenzierter Blick auf verschiedene Branchen würde deshalb die Einbeziehung der Lohnund Beschäftigungsstruktur, des Kapital- und Investitionsbedarfs sowie der Wertschöpfung erfordern. Siehe Glastetter, Werner / Högemann, Günter / Marquardt, Ralf, Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 1950–1989, Frankfurt/M. u. a. 1991, S. 262– 356; Wirsching, Andreas, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006. Siehe Seidenfus, Hellmuth, Strukturwandlungen der Energiewirtschaft, in: Neumark, Fritz (Hg.), Strukturwandlungen einer wachsenden Wirtschaft. Verhandlungen auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik, Bd. 1, Berlin 1964, S. 266–283.
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Damals ging es der Industrie vielmehr um grundsätzliche Fragen der Durchleitung und der sich daraus ergebenden Folgeprobleme. Im Windschatten der Energieeffizienz- und Energiespardebatte der 1970er-Jahre erachtete man das politische Klima als günstig, die eigenen Interessen durchzusetzen. Die ungenutzten Potenziale der Eigenstromproduzenten passten geradezu optimal zum politischen Ziel des Energiesparens und wurden argumentativ entsprechend in die Waagschale geworfen. Befeuert durch die Diskussion um die wettbewerbsrechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft, die in den 1970er-Jahren durchaus wieder verstärkt in den öffentlichen Fokus gerieten, war man aufseiten der Industrie optimistisch, der eigenen Position verstärkt Gehör verschaffen zu können. Dies war jedoch nur vordergründig betrachtet das Ziel der Industrie: Primär ging es ihr um die Frage, wie die Einspeisung von Überschussstrom und die Vorhaltung von Reservestrom seitens der Energieversorger preislich bewertet wurden. Diese Fragen werden für die 1970er- und 1980er-Jahre in den folgenden Kapiteln 2.2–2.4 näher zu untersuchen sein. Einige der zentralen Grundlinien der Zusammenarbeit zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft wurden bereits im Herbst 1950 und Sommer 1951 im sogenannten STEAG-Vertrag festgelegt. Vorausgegangen war dieser Einigung ein fast 30 Jahre andauernder Konflikt zwischen beiden Gruppen. Kernstück war dabei nach Beendigung des Krieges und der Gründung der VIK im Jahr 1947 der Plan der industriellen Kraftwirtschaft zum Aufbau eines eigenen Verbundnetzes im Ruhrgebiet mit dem Namen „Ruhrsammelschiene“ (RUSA). Neben der RUSA sollten insgesamt 22 Steinkohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 2.900 MW unter der Regie des Ruhrbergbaus errichtet werden. Über die RUSA als neuem Verbundnetz sollte der in den Steinkohlekraftwerken erzeugte Strom zu einem Drittel von den Zechen abgenommen und zu zwei Dritteln ins öffentliche Netz eingespeist werden. Im Endeffekt verzichtete der Bergbau unter politischer Vermittlung von Ludwig Erhard auf die RUSA. Im STEAG-Vertrag von 1950 verzichteten die RWE auf den Bau neuer Steinkohlekraftwerke und verpflichteten sich auf 30 Jahre zur Abnahme von bis zu 500 MW Zechenstrom zu Preisen, die ihr sonst aus der Errichtung eigener Steinkohlekraftwerke entstanden wären. Im Gegensatz dazu verpflichtete sich der Bergbau, seine gesamten Stromlieferungen über das Netz der RWE zu tätigen.25 Die RWE zeigten sich im STEAG-Vertrag 1950/51 nicht zuletzt deshalb so kompromissbereit, weil einer der größten historisch gewachsenen Ängste des Unternehmens, nämlich die Einschaltung des Ruhrbergbaus in die öffentliche Stromversorgung, durch die Vereinbarung enge Grenzen gesetzt wurden. Vor allem blieb das Versorgungsmonopol der öffentlichen Stromwirtschaft erhalten.26 Mit dieser Vereinbarung wurde abermals bewiesen, dass auch eine Einigung bezüglich der 25 26
Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Braunkohle und Atomeuphorie 1945–1968, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 173–220, hier S. 178. Döring, Peter, Von der Konfrontation zur Kooperation. Steinkohlenbergbau und Elektrizitätswirtschaft im Ruhrgebiet, in: ders. / Horstmann, Theo (Hg.), Revier unter Strom. Fotografien zur Elektrizitätsgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2010, S. 52–71, hier S. 60 f.
2.2 Stromwirtschaft und industrielle Kraftwirtschaft im Konflikt
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zeitweise geplanten Durchleitung elektrischer Energie zwischen industrieller Kraftwirtschaft und öffentlicher Stromwirtschaft durch das Zutun aller Beteiligten durchaus zu bewerkstelligen gewesen wäre. Aus dieser Übereinkunft resultierte jedoch keine Änderung des Ordnungsrahmens der Stromwirtschaft in Bezug auf die Durchleitungsproblematik. Wie in diesem Abschnitt gezeigt wurde, war die Durchleitung von Strom durchaus ein Normal- und kein Sonderfall. Versuche und Ansätze, ein derartiges Recht in den ordnungspolitischen Rahmen der Stromwirtschaft zu integrieren, scheiterten vor allem am Willen der Verbundunternehmen wie auch an dem der Politik. Im folgenden Kapitel soll nun der Frage nachgegangen werden, weshalb es den Stromwirtschaftsunternehmen trotz der Vorgeschichte in Sachen Durchleitung noch immer Schwierigkeiten bereitet, diese grundsätzlich anzuerkennen und zu ermöglichen. 2.2 STROMWIRTSCHAFT UND INDUSTRIELLE KRAFTWIRTSCHAFT IM KONFLIKT: DURCHLEITUNG27 UND DEMARKATION ALS ZENTRALE FELDER DER AUSEINANDERSETZUNG Die Industrie blieb auch in der Nachkriegszeit ein machtvoller Kunde der öffentlichen Stromwirtschaft. Hinzu kommt jedoch, dass die stromerzeugende Industrie bis in die 1970er-Jahre hinein ein bedeutsamer Mitbewerber als Energieversorger auf dem Energiemarkt war. Dies war der Tatsache geschuldet, dass Ende der 1950erJahre noch ca. 39 % der gesamten Stromerzeugung in der Bundesrepublik auf die Industrie entfielen und rund 28 % der industriellen Stromerzeugung an das öffentliche Netz abgegeben wurden.28 Aufgrund dieser Situation gab es zwischen industrieller Kraftwirtschaft und Stromwirtschaft regelmäßig Auseinandersetzungen über die Frage, wie der ins öffentliche Netz eingespeiste Strom preislich zu bewerten sei.29 Ansonsten ist der Anteil der industriellen Kraftwirtschaft an der Bruttostrom-
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Das Wort „Durchleitung“ birgt ein gewisses Missverständnispotenzial in sich. Dabei wird suggeriert, dass es sich physikalisch um die Einspeisung elektrischer Energie an einer Stelle des Netzes und um die Entnahme an einer anderen Stelle handelt. Eine stofflich identische Entnahme (quantitativ und qualitativ) elektrischer Energie, wie diese an einem anderen Punkt eingespeist wurde, kann jedoch technisch und physikalisch nicht erfolgen. Im praktischen Betrieb eines Netzes liegt dieser Fall nur in ganz wenigen Ausnahmesituationen vor, nämlich im Falle direkt gerichteter Lastflüsse. Es handelt sich bei der Durchleitung elektrischer Energie also nicht um einen simplen Transport von Strom über ein Netz. Dennoch beschreibt der Begriff sehr anschaulich, wie Wettbewerb im Stromsektor hinsichtlich des Netzmonopols der großen Energieversorger angegangen werden kann. Daher wird in dieser Analyse der Begriff „Durchleitung“ verwendet, da er sich sowohl in den Quellen als auch in der Literatur als Terminus eingebürgert hat. Siehe u. a. Kasper, Oliver, Durchleitung von Strom, Köln u. a. 2001, S. 2 f.; Reichert-Clauß, Andrea, Durchleitung von Strom: Regulierungsansätze im deutsch-englischen Vergleich. Reformpotentiale und Überlegungen zu einer einheitlichen Regulierungstheorie, Heidelberg 2002, S. 5 f.; Seeger, Bernhard Johannes, Die Durchleitung nach neuem Recht, Baden-Baden 2002, S. 29 ff. Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 62. Fischerhof, Hans, in: VIK-Mitteilungen 5/6 (1956), S. 96.
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erzeugung in der BRD, insbesondere seit den 1970er-Jahren, kontinuierlich zurückgegangen, wie Abbildung 2 im Anhang veranschaulicht. Das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und Bergbau als einem der wichtigsten Vertreter der industriellen Kraftwirtschaft unterschied sich von den Beziehungen zu anderen Industrieunternehmen. Vor allem mit dem Ruhrbergbau pflegte die öffentliche Stromwirtschaft seit den 1950er-Jahren kooperativere Beziehungen als in den Jahrzehnten zuvor. Die RWE hatten bereits in den 1950er-Jahren mit der STEAG einen langfristigen Vertrag über die gemeinsame Zusammenarbeit bei Stromversorgung und Netznutzung abgeschlossen. Durch das Vertragswerk wurde der Bergbau an den Stromlieferungen für die öffentliche Versorgung beteiligt und durfte an einzelnen Stellen des RWE-Netzes Strom zwischen seinen Anlagen durchleiten. Im Gegenzug verzichtete der Bergbau auf die Errichtung eigener Hochspannungsleitungen und auf die unmittelbare Belieferung Dritter mit Strom.30 Allein mit diesem Vertragswerk war die Möglichkeit der Durchleitung vertraglich fixiert worden, wenngleich nur zwischen der STEAG und den RWE, die der Zechenwirtschaft umfängliche Einspeisungsrechte für das RWE-Versorgungsgebiet zugestanden. Auch mit wichtigen Kunden wie der Stahlindustrie schloss man bereits 1969 einen „Hüttenvertrag“ (Laufzeit 20 Jahre) ab, bei dem es sich um einen klaren Durchleitungsvertrag handelte.31 Allein diese beiden Verträge, wie auch zahlreiche andere noch später näher zu untersuchende Vereinbarungen zwischen Stromwirtschaft und Industrie, belegen die prinzipielle Möglichkeit der Einigung auf eine Durchleitung von Elektrizität, wie schon im vorigen Kapitel angedeutet worden ist. Angesichts dieser Ausgangssituation verwundert es, weshalb die Stromwirtschaft, und allen voran die RWE, ein Problem mit der Durchleitung elektrischer Energie hatte. Basierte die Sorge der Branche nur auf der Frage, ob eine Durchleitung vertraglich geplant stattfinden sollte, oder nicht? Ging es dabei tatsächlich ausschließlich um technische Fragen oder vielmehr um weiterführende Überlegungen zum stromwirtschaftlichen Ordnungsrahmen? Die industrielle Eigenstromerzeugung, die in der Regel privatwirtschaftlich organisiert war, blieb, wie erwähnt, bis in die 1960er-Jahre hinein eine bedeutende Konkurrentin auf dem deutschen Strommarkt. Mit der gemischtwirtschaftlichen Struktur der öffentlichen Energieversorgungsunternehmen – die sich seit ihrer Entstehung zu keinem Zeitpunkt ausnahmslos in öffentlicher Hand befanden – hatte sich jedoch ein Charakteristikum des deutschen Energiesystems etabliert, das sich in historischer Perspektive als ein Strukturmerkmal mit erstaunlicher Persistenz erweisen sollte. Trotz des immensen Anstiegs der Strompreise in den 1970er-Jahren, vor allem bedingt durch Lohnsteigerungen und höhere Primärenergiekosten, verzichteten viele Industriebetriebe auf die Eigenstromerzeugung und blieben weiterhin Kunden der Energieversorger. Viele Industrieunternehmen unternahmen nicht 30 31
Vertrag zwischen Steinkohlebergbau und RWE vom 6. September 1950 über Verbundarbeit, Essen 1950. Abelshauser, Werner, Von der Kohlekrise zur Gründung der Ruhrkohle-AG, in: Mommsen, Hans / Borsdorf, Ulrich (Hg.), Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisation in Deutschland, Köln 1979, S. 415–443, hier S. 438.
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einmal den Versuch, eine Eigenerzeugung, geschweige denn eigene Leitungen zu errichten. Und dies obwohl sich die Kraftwerksleistung der öffentlichen Versorgung im Zeitraum zwischen 1970 und 1989 mehr als verdoppeln sollte. Die Industrie blieb jedoch mit ca. 50 % weiterhin eine eminent wichtige Abnehmergruppe für die Unternehmen der Stromwirtschaft.32 Die Unternehmen der industriellen Kraftwirtschaft und insbesondere der sie vertretende Verband, die VIK, waren die zentralen Kontrahenten der Stromwirtschaft bezüglich der Stromdurchleitung. Die Position der Vereinigung war dabei keinesfalls so eindeutig, wie dies zunächst vermutet werden könnte. Denn einerseits war preiswerte Energie für Teile der stromintensiven Industrie unerlässlich, andererseits war die Mitgliederstruktur der VIK fast ebenso heterogen wie die der VDEW. Damit trafen teilweise sehr unterschiedliche Interessen und Anliegen der Mitglieder aufeinander, die in Aushandlungsprozessen austariert werden mussten. Wichtig für die hier zu untersuchenden Zusammenhänge sind vor allem die großen Sondervertragskunden der Energieversorger.33 Diese wurden über speziell ausgehandelte Verträge mit großen Strommengen versorgt. Schon durch diese Konstellation befand sich die VIK in einer Zwickmühle: Einerseits waren ihre Mitgliedsunternehmen abhängig vom Verhandlungspartner Energieversorgungsunternehmen, wenn wieder ein neuer Stromliefervertrag verhandelt wurde, was angesichts der meist zehn- oder zwanzigjährigen Laufzeit nur in relativ großen Zeitabständen vorkam.34 Andererseits wollte die VIK ihrem grundsätzlichen Anliegen der Stromdurchleitung Nachdruck verleihen und konnte dabei nicht immer zimperlich vorgehen. Schon seit Mitte der 1950er-Jahre hatte sich die VIK im Zuge der Neuordnung des Energie- und Kartellrechts für eine Lockerung der Gebietsmonopole, für eine Überprüfung der Konzessionsabgaben sowie für die Möglichkeit der „Durchleitung“ von Strom eingesetzt.35 Dabei hatte sie gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) versucht, die Durchleitung von Elektrizität und Gas aus industriellen Anlagen zu angemessenen Bedingungen und Preisen zu ermöglichen und gesetzlich zu verankern.36 Bereits Mitte der 1950er-Jahre hatte es ähnliche Überlegungen auch von politischer Seite gegeben. Im Bundeswirtschaftsministerium kursierte bereits seit 1955 32 33 34 35 36
Für die angeführten Zahlen siehe Berkner, U. u. a., Recht der Elektrizitätswirtschaft 1989, in: Elektrizitätswirtschaft 89 (1990) 3, S. 76–110. Im gesamten Kapitel 2 werden ausschließlich große Sondervertragskunden, die ihre elektrische Energie vorwiegend aus dem Hochspannungsnetz beziehen, betrachtet. Wenngleich es auch aufsehenerregende Ausnahmen mit gegenseitigen Kündigungen und gerichtlichen Auseinandersetzungen gab, war der Normalfall doch eher die gegenseitige Erfüllung des Vertrages. Grundsätze für ein neues Gesetz für die Elektrizitäts- und Gasversorgung der V. I. K., 18. Mai 1956, S. 3, HKR 1530. Bundesverband der deutschen Industrie (BDI)/Vereinigung industrielle kraftwirtschaft (VIK), Grundsätze für ein neues Gesetz für die Elektrizitäts- und Gasversorgung, Essen 1961. Der Bundesverband der deutschen Industrie spielt in den Verhandlungen der industriellen Kraftwirtschaft mit der Stromwirtschaft ebenfalls eine wichtige Rolle. Die detaillierte Erforschung des BDI in diesem Prozess konnte jedoch aufgrund des mangelnden Zugangs zu den entsprechenden Quellen nicht geleistet werden.
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ein Entwurf von Leitsätzen zu einem neuen EnWG, der die marktbeherrschende Stellung der Energieversorger zumindest hinterfragte. Der Entwurf sah als eines der Mittel, dieses Ziel zu erreichen, eine Verpflichtung für die Energieversorger vor, industrielle Eigenanlagen an ihr eigenes Versorgungsnetz anzuschließen. Ferner sollte der industriellen Kraftwirtschaft gestattet werden, ihre elektrische Energie über das Netz der Energieversorger an Dritte weiterleiten zu dürfen, wofür eine entsprechende Kostenerstattung an die Stromwirtschaft zu leisten war. Es wäre angesichts dieser Ausgangslage zu vermuten, dass die Anliegen der VIK im Zuge der allgemeinen Debatte um Energieeffizienz und Energiesparen seit den 1970er-Jahren besonders große Chancen auf Durchsetzung gehabt hätten. Denn Energieeffizienz war durch die Technologien, die die Industrie mehrheitlich anwendete – vor allem bei der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) – in wesentlich höherem Maße gegeben als in den Großkraftwerken der Stromwirtschaft. Letztere wiesen einen deutlich geringeren Wirkungsgrad und eine schlechtere Ausnutzung der verwendeten Primärenergie auf. Folglich war ein Mehr an Effizienz gleichbedeutend mit Energiesparen. In Zeiten sinkender Energiebedarfsprognosen und der steigenden Skepsis der Politik gegenüber neuen Großkraftwerken dürfte die Idee der VIK, bereits bestehende Anlagen für die Energieerzeugung zu nutzen oder auszubauen, besonders große Attraktivität genossen haben. Dass freilich nicht alle Anlagen der Industrie für diese Art der Umrüstung und Erweiterung geeignet waren, wurde von der industriellen Kraftwirtschaft nicht explizit erwähnt. Stattdessen verwies man in absoluten Zahlen auf das Potenzial der Anlagen.37 Die Zahlen für das künftige Potenzial der KWK aus der Stromwirtschaft lagen unter 1.000 MW und damit weiter unter denen der Industrie, die häufig von 8.500 MW (erreichbar in ein bis zwei Jahrzehnten) sprach.38 Gerade die RWE bezweifelten die Tendenz sowie die Zahlenwerte der VIK-Thesen zum Potenzial der KWK-Anlagen, vor allem hinsichtlich der Größe der Anlagen, die für diese Leistungssteigerung nicht ausgelegt seien.39 Relativ unabhängige Wissenschaftler nahmen in ihren Studien Mitte der 1980er-Jahre – unter verschiedenen Annahmen – ein aktivierbares Potenzial von KWK-Anlagen allein für Hessen von 400 bis 1.200 MW an.40 In der Stromwirtschaft war insbesondere RWE-Vorstand Günther Klätte der prominenteste Gegner in Sachen Durchleitung. Nach Klättes Interpretation würde 37
38
39 40
In der Presse wurden Zahlen der VIK sehr unterschiedlich kolportiert – von 8.000 bis 21.000 MW. Siehe Strom: Es wird bewußt diskriminiert, in: Der Spiegel 12 (1977), S. 90–98, hier S. 90; Hintergründe des RWE-Kartellverfahrens: Das Fabeltier der 8500 Megawatt. KraftWärme-Kopplung in der Industrie statt neuer Kraftwerke, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Dezember 1977; Klaus Deparade, Steht eine Renaissance der Dampfmaschine bevor?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. April 1978. Siehe Brief der VIK an die RWE, Ausbaupotential für industrielle Kraft-Wärme-Kopplung vom 25. September 1978, HKR 13622; Brief der RWE an die VIK vom 21. Februar 1978, Umrüstung von Dampfanlagen auf Kraft-Wärme-Kopplung von zusätzlich 8.500 MW? HKR 13622. Vermerk RWE, Abteilung Energiewirtschaft, Mögliche zusätzliche Kraft-Wärme-Kopplungen in industriellen Anlagen? Vom 28. Januar 1978, HKR 13622. Siehe Suttor, Karl-Heinz / Suttor, Wolfgang, Abschätzung des industriellen KWK-Potenzials in Hessen, Neckargemünd/Olching 1986.
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die grundsätzliche Erlaubnis bzw. eine Verpflichtung der Energieversorger zur Durchleitung zusammen mit der Aufhebung der Demarkationsgrenzen zum Verlust der Versorgungssicherheit und zur Verstaatlichung der Stromwirtschaft führen.41 Die wettbewerbsmäßigen Reformbestrebungen waren Klätte und vielen anderen in der Branche ein Dorn im Auge, daher war aus ihrer Perspektive eine Durchleitungsverpflichtung unbedingt zu verhindern. Der RWE-Vorstand sah mit der Forderung der Industrie die Gefahr verbunden, dass der gesamte Ordnungsrahmen der Stromwirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten und dies zu Ungunsten der Energieversorger geschehen würde. Mit der Durchleitungsproblematik war auch die grundsätzliche Frage verbunden, ob Elektrizität als eine Ware oder eine Dienstleistung wie jede andere zu betrachten sei.42 Noch im Jahresbericht der VDEW aus dem Jahr 1989 lässt sich die Feststellung finden, „dass Strom kein Produkt sei wie andere Güter, sondern eine Dienstleistung, bei der es – ebenso wie bei der Trinkwasserversorgung – überall auf der Welt keinen Wettbewerb gibt.“43 Auch auf europäischer Ebene übte die industrielle Kraftwirtschaft über die Vereinigung FIPACE (Fédération Internationale des Producteurs Autoconsommateurs Industriels d’Électricité) schon Ende der 1960er-Jahre Druck auf die Europäische Kommission aus, elektrische Energie wie jede andere Ware zu behandeln. Der Verband vertrat auf europäischer Ebene den Anspruch, dass KWK in Zukunft einen wichtigen Beitrag zum rationellen Energieeinsatz leisten und diese Technologie verstärkt gefördert werden müsse.44 Nach Ansicht der industriellen Kraftwirtschaft war die Stellung der deutschen Eigenerzeuger im europäischen Vergleich alles andere als günstig. So konnten beispielsweise in Belgien – anders als in der Bundesrepublik – die Versorgungsunternehmen die Errichtung oder den Betrieb von Eigenanlagen kaum verhindern oder erschweren. Ferner gebe es in Belgien schon seit der Zwischenkriegszeit eine für die Industrie vorteilhaftere Regelung der Wegenutzung. Dies bedeute, dass es belgischen Industrieunternehmen nach geltender Gesetzeslage gestattet war, getrennt liegende Betriebsteile unter Nutzung öffentlicher Leitungen von betriebseigenen Kraftwerk versorgen zu lassen.45 41
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45
Siehe Klätte, Günther, Mehr Wettbewerb in der Elektrizitätsversorgung durch Aufhebung der Demarkation und Verpflichtung zur Durchleitung – geht das oder führt das im ersten Schritt zum Verlust der Versorgungssicherheit und im zweiten Schritt zur Verstaatlichung?, in: EWT 29 (1979) 3, S. 131–134. Siehe Budde, Hans-Jürgen, Elektrische Energie – Ware oder Dienstleistung?, in: EWT 21 (1971) 5, S. 243–248. Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) (Hg.), Jahresbericht 1989, Frankfurt/M. 1990, S. 15. Diese Aussage bezog sich allerdings schon auf die Pläne der EG-Kommission, mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt durchzusetzen. Memorandum der FIPACE: Erläuterungen des Vertreters der VIK zum Memorandum der FIPACE in der Besprechung zwischen Beamten der Kommission und Vertretern der FIPACE am 6. Mai 1969 in Brüssel, HKR, VIK vom 1. Mai 1969 bis 31. Dezember 1973 [VIK-Durchleitungsstudie], 2903. Im belgischen Gesetz über „Die Verteilung von elektrischer Energie“ vom 10. März 1925 wird Industrieunternehmen auch die Möglichkeit eingeräumt, Gemeinschaftskraftwerke zu errichten und sich zusätzlich über das öffentliche Stromnetz versorgen zu lassen. Siehe Naudts, P., Förderung der industriellen Stromversorgung durch vorbildliches belgisches Wegerecht, in: VIK (Hg.), Beiträge zum Energierecht, Essen 1959, S. 239–251.
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2 Marktmacht im Monopol?
In Belgien existierte bereits seit 1964 ein gemeinsamer Ausschuss zur ständigen Koordinierung der Eigenerzeugung, in dem Betreiber von Industriekraftwerken und Stromwirtschaft saßen.46 Aktuelle Fragen der Erzeugung und Verteilung wurden im Rahmen eines „Runden Tisches der Elektrizität“ diskutiert und waren den Weisungen der gemeinsamen Gesellschaft CPTE unterworfen, die die Kraftwerke steuerte. Nicht zuletzt diese Rahmbedingungen dürften dafür verantwortlich gewesen sein, dass der Anteil der industriellen Kraftwirtschaft am gesamten Stromaufkommen in Belgien im Jahr 1969 rund 40,8 % betrug.47 Eine vergleichbare Institution fehlte in der Bundesrepublik bzw. war in Form der DVG nicht mit Vertretern aus der Industrie, sondern nur mit Mitgliedern aus den Verbundunternehmen besetzt. Erst mit der Einrichtung einer sogenannten Gütestelle im Jahr 1959 wurde das Spannungsverhältnis zwischen Industrie und Stromwirtschaft scheinbar institutionalisiert. Bei der Einrichtung dieser Stelle hatte der Gesetzgeber nicht eingegriffen. Die Vereinbarung wurde auf freiwilliger Basis zwischen VDEW und VIK für den Fall getroffen, dass sich ein Industrieunternehmen nicht mit einem Energieversorger über die Aufnahme freier Leistung aus Eigenanlagen (Gegendruckanlagen)48 einigen könne.49 In der Praxis entfaltete diese Institution jedoch kaum Wirkung und war in vielerlei Hinsicht nicht mit der belgischen Variante vergleichbar. In Frankreich war die rechtliche Position für die Eigenerzeuger trotz der Dominanz des staatlichen EdF-Konzerns ebenfalls günstiger als in Deutschland. Während in der Bundesrepublik kein gesetzliches Durchleitungsrecht existierte, bestand dies im Nachbarland. Die EdF war sogar dazu verpflichtet, Energie von Eigenerzeugern durch ihr Netz zu den Verbrauchern durchzuleiten, und zwar ohne Einschränkungen. Grundsätzlich kann also festgestellt werden, dass zumindest die rechtliche Position der industriellen Eigenerzeuger in Belgien und Frankreich besser war als die in der Bundesrepublik Deutschland.50
46
Kurgan-van Hentenryck, Ginette, The Economic Organization of the Belgian Electrical Industry since the End of the 19th Century, in: Van der Wee, Herman / Blomme, Jan (Hg.), The Economic Development of Belgium since 1870, Cheltenham u. a. 1997, S. 238–254, hier S. 252 f. 47 Stellungnahmen der VIK, Das Zusammenwirken der Elektrizitätsversorgungsunternehmen mit den privaten Stromerzeugern (VIK-Studie über die Durchleitung aus dem Jahre 1969), Essen 1977, S. 44 f. 48 Bei Industriekraftwerken handelt es sich häufig um Gegendruckanlagen, weil diese neben elektrischer Energie oft auch Prozessdampf erzeugen. Siehe Gatzka, Wolfgang / Giesel, Harald B. / Schilling, Hans-Dieter (Hg.), Das kleine Energielexikon, 2., überarb. und erw. Aufl., Essen 1982, S. 75. 49 Vereinigung Industrielle Kraftwirtschaft (VIK) (Hg.), Energierecht, 6., neu bearb. und erw. Aufl., Essen 1990, S. 413 f. Auch Mitte der 1960er-Jahre verfassten beide Verbände regelmäßig gemeinsame Briefe an ihre Mitgliedsunternehmen, um zur gemeinsamen Behandlung von Meinungsverschiedenheiten aufzurufen, doch erst die in Kapitel 2.3. noch näher zu beleuchtende Gemischte Kommission sollte grundsätzliche Regeln zur stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Energieversorgern etablieren. 50 Siehe Die Stellung der industriellen Eigenerzeuger elektrischer Energie in den EWG-Mitgliedstaaten. Bericht eines Unterausschusses der FIPACE, nach Berichten der industriellen Eigenerzeuger d. EWG-Mitgliedstaaten, zusammengestellt von Georg Malzer, Essen 1967.
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In der Praxis führte die Gesetzgebung jedoch zu ganz unterschiedlichen Entwicklungen. In Frankreich war beispielsweise die Transportgebühr für elektrische Energie, die von der Industrie an die EdF zu entrichten war, so hoch, dass nur in ganz wenigen Einzelfällen eine Durchleitung von Industriestrom durch das EdFNetz erfolgte. Für die französische Industrie war es meist wesentlich vorteilhafter und preisgünstiger, wenn sie sich im Fall getrennt liegender Produktionsstätten für eine Überschusseinspeisung an einer Stelle sowie den gleichzeitigen Vollstrombezug am zweiten Produktionsstandort entschied.51 Die Durchleitung der selbst erzeugten Energie stellte somit keine wirklich sinnvolle Alternative für die französische Industrie dar, obwohl diese juristisch möglich gewesen wäre. Dies bedeutet, dass es im europäischen Vergleich nicht überall dort zur Intensivierung und zum Ausbau der industriellen Kraftwirtschaft kam, wo dies die rechtlichen Rahmenbedingungen auf der ersten Blick nahe gelegt hatten. Ungeachtet dieser Situation betrachtete jedoch die deutsche VIK die rechtliche Position der Eigenerzeuger als zwingend reformbedürftig. Vor allem die Möglichkeit zur Durchleitung elektrischer Energie wurde als probates Mittel angesehen, die Stellung der Mitgliedsunternehmen gegenüber Energieversorgern zu stärken. Seit Mitte der 1970er-Jahre sollte Bewegung in das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft kommen. Im Energiepreis- und Tarifausschuss der VIK, in dem auch Vertreter der großen EVU saßen, wurde noch 1975 verstärkt darüber diskutiert, ob die Förderung dezentraler Erzeugungstechnik (KWK) mit oder ohne staatliche Regulierung durchzusetzen sei. Im Ausschuss gab es dazu unterschiedliche Auffassungen. Während die Industrie unterschiedliche Vorgehen präferierte, wies Günther Klätte für die Stromwirtschaft darauf hin, dass die EVU beim Bau von Anlagen (Gegendruckanlagen) durch die Industrie Verluste hinnehmen müssten und dass die Unternehmen der Stromwirtschaft durch ihre Verpflichtung zur Energieversorgung einem gewissen Bauzwang unterlägen. Für den RWE-Vorstand würde sich die industrielle Kraftwirtschaft durch ein solches Vorgehen unter Berufung auf volkswirtschaftliche Interessen ein positives betriebswirtschaftliches Ergebnis verschaffen und den Stromversorgern zugleich erhebliche Nachteile zumuten. Vor allem aber betonte Klätte, dass bei einer derartigen Gemengelage die Kooperation zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft enge Grenzen habe.52 Für die VIK widersprach Hans Ernst den Ausführungen des RWE-Vorstandes. Zwar könnten den Energieversorgern durch die Förderung der KWK durchaus Nachteile entstehen. Dies sei jedoch in einem nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisierten Umfeld völlig normal. „Im Übrigen“, so Ernst weiter, „sei das betriebswirtschaftliche Interesse an Eigenanlagen auf der Basis der KWK gleichlaufend mit dem volkswirtschaftlichen Interesse.“53 Zu einer Übereinkunft kam es bei dieser Sitzung nicht. Man einigte sich jedoch darauf, dass staatliche Interventi51 52 53
Gerhard Rittstieg an Dietmar Kuhnt, Überlegungen zur weiteren Behandlung der Durchleitungsproblematik seitens der Elektrizitätswirtschaft vom 25. Oktober 1978, HKR 13622. Niederschrift über die 49. Sitzung des Energiepreis- und Tarifausschusses am 18. November 1975, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. Ebd.
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onen in den vertraglichen Fragen der KWK nach Möglichkeit unterbleiben sollten, solange zwischen Energieversorgern und Industrie Kooperationsbereitschaft bestünde. Schon hier verständigte man sich auf einen „gemischten Arbeitskreis“, in dem die Anliegen beider Seiten diskutiert werden sollten.54 An diesen Auseinandersetzungen um die Förderung dezentraler Energieerzeugungstechniken lässt sich erkennen, warum die Durchleitung von Energie zum zentralen Konfliktpunkt zwischen Stromwirtschaft und Industrie geworden war: Vor allem auf der Angebotsseite bestand eine Monopolstellung der Stromwirtschaft. Denn in einem Absatzgebiet, das durch einen Energieversorger beherrscht wurde, konnte ein Industriebetrieb über eine eventuelle Eigenerzeugung hinaus nur Energie von eben diesem einen Energieversorger beziehen. Insofern waren der Industrie enge Grenzen gesteckt, über Marktprinzipien günstigere Verträge für ihre Energielieferung auszuhandeln. Dies hängt insbesondere mit der wettbewerbsrechtlichen Position der Energieversorger zusammen. Nach § 103, 1 GWB waren Gebietsschutzverträge vom Wettbewerb ausgenommen.55 Im Jahr 1957 war diese Regelung mit der Begründung in Kraft getreten, dass volkswirtschaftlich schädliche Doppelinvestitionen in dann nicht rentable Erzeugungs- und Übertragungseinrichtungen vermieden werden müssten. Mit dieser Argumentation waren die Energieversorger vom Wettbewerb nach den Tatbeständen §§ 1, 15 und 18 GWB ausgenommen worden.56 Diese Festlegung des Gesetzgebers speiste sich aus der Überzeugung, dass Energieversorger, die sich teilweise im öffentlichen Besitz befanden, mit ihrem Geschäftsgebaren am Allgemeinwohl orientieren sollten.57 Das Monopol der Stromwirtschaft war zusätzlich durch die bereits erwähnten Konzessionsverträge abgesichert.58 Dies sind Verträge zwischen Gebietskörperschaften und Energieversorgern, die die Verlegung und den Betrieb von Leitungen auf öffentlichen Wegen zum Zwecke der Versorgung mit Elektrizität, Gas und Wasser regeln. Bei dieser Vertragsform ist für die hier untersuchten Zusammenhänge vorrangig das sogenannte Ausschließlichkeitsrecht von Interesse. Dieses bedeutet, dass eine Gebietskörperschaft daran gebunden war, das Recht zur Versorgung des entsprechenden Gebietes jeweils nur einem Energieversorgungsunternehmen zu gestatten.59 Auf diese Weise waren Industriebetriebe, insofern sie nicht über eigene 54 55 56 57 58 59
Siehe ebd. Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27. Juli 1957 (GWB) BGBl., S. 1081 ff. Einem Wettbewerbsdruck sahen sich die Unternehmen bei geschlossenen Versorgungsgebieten allenfalls über die Substitutionskonkurrenz der verschiedenen Energieträger ausgesetzt. Müller, Jürgen / Vogelsang, Ingo, Staatliche Regulierung: regulated industries in den USA und Gemeinwohlbindung in wettbewerblichen Ausnahmebereichen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1979, S. 193. Alle Verträge, wie auch die Preisbildung in der Stromwirtschaft, unterliegen jedoch der Missbrauchsaufsicht, die ebenfalls im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verankert ist. Somit trug das Wegemonopol in Verbindung mit dem Versorgungsmonopol der Energieversorger zur Verfestigung der marktbeherrschenden Position der Unternehmen der Stromwirtschaft bei. Durch das Ausschließlichkeitsprinzip waren die EVU von Anfang an auf die Zusammenarbeit mit den Gemeinden angewiesen und kooperierten mit diesen sehr eng. Das flächendeckende Verbundsystem und die Konzessionsverträge waren auch für die privaten Endkunden alles andere als vorteilhaft. So hatte schon die Monopolkommission in ihrem Hauptgutachten 1973/75 zu den Beziehungen von Gemeinden und EVU festgestellt, dass die von bundesdeut-
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Leitungsnetze verfügten, wie dies nur ganz selten der Fall war, wegen der Leitungsgebundenheit elektrischer Energie vom Eigentümer des Leitungsnetzes – meist dem Energieversorger – abhängig. Mit dem Problem der Durchleitung waren also eine Reihe anderer energierechtlicher Aspekte aktuell geworden, zu denen sich die Stromwirtschaft verhalten musste. Vor allem die übergeordnete Frage, ob der Energiemarkt wie alle anderen Märkte einer Wettbewerbsordnung zu unterwerfen sei, war das brisanteste Problem.60 Die Diskussion dazu wurde seit Jahrzehnten geführt, einschließlich der Forderung industrieller Eigenerzeuger, ihren selbst erzeugten, überschüssigen Strom über das Netz der Energieversorger gegen die Entrichtung einer Transportgebühr an Dritte oder eigene Werke durchleiten zu dürfen. Vor allem die Frage, gegen welches Entgelt der von der Industrie nicht benötigte Strom in das Netz des Gebietsversorgungsunternehmens einzuspeisen wäre, erregte die Gemüter aller Beteiligten immer wieder aufs Neue. Auf die Problematik, wie die Aufnahme von Überschussstrom durch die Stromwirtschaft und die Abgabe von Reserve- und Zusatzstrom an die Industrie geregelt wurde, wird in Kapitel 2.3 noch näher eingegangen. Die Durchleitungsproblematik hing für die Stromwirtschaft immer auch eng mit ordnungspolitischen Reformen zusammen, insbesondere mit der Notwendigkeit geschlossener Versorgungsgebiete und den zugehörigen Demarkationsverträgen.61 Während die Stromwirtschaft die aus ihrer Perspektive bewährte Struktur der deutschen Energieversorgung beibehalten wollte, forderte die industrielle Kraftwirtschaft genau das Gegenteil. Über die Durchsetzung der Durchleitungsforderung und die Aufhebung von Demarkationsgrenzen wollte der Verband mehr Wettbewerb in der Elektrizitätserzeugung und Verteilung herbeiführen. Die bisher vorhandenen Strompreisdifferenzen spielten dabei in der Argumentation beider Parteien eine wichtige Rolle. So war die Stromwirtschaft der Auffassung, dass die bisherigen Preisdifferenzen von 15–25 % für eine sichere und preisgünstige Versorgung aller Abnehmergruppen völlig gerechtfertigt seien. Die Reformvorschläge der industriellen Kraftschen Gemeinden geforderte Konzessionsabgabe doppelt so hoch war, wenn die lokale Stromverteilung sich in der Hand von kommunalen Unternehmen befand. Die Höhe der Konzessionsabgaben hing wesentlich von der Menge des verkauften Stroms ab. Dass die kommunalen Betriebe damit ein Interesse an hohen und nicht so sehr an niedrigen Strompreisen hatten, ist eine naheliegende Vermutung. Die Einnahmen aus dieser Quersubventionierung des Gemeindehaushalts kamen insbesondere defizitär arbeitenden öffentlichen Einrichtungen, wie Schwimmbädern und dem öffentlichen Personennahverkehr, zugute. In den vergangenen vier Jahrzehnten war diese Praxis schon häufiger Anlass zu einer grundsätzlichen Kritik am Energieversorgungssystem. Siehe Monopolkommission (Hg.), Mehr Wettbewerb ist möglich. Hauptgutachten 1973/75, Baden-Baden 1976, S. 403 f. 60 Siehe u. a. Malzer, Georg / Wirth, H., Auflockerung des Wettbewerbs in der Elektrizitäts- und Gasversorgung, VIK-Berichte, Nr. 77, Essen 1958. 61 Siehe u. a. Meysenburg, Helmut, Die deutsche Elektrizitätsversorgung. Grundsätzliche und zeitnahe Fragen und Aufgaben aus der Sicht des Jahres 1970, in: Jahrbuch für Bergbau, Energie, Mineralöl und Chemie, 63 (1970), S. 13–29, hier S. 24; VDEW, Die Erfordernis geschlossener Versorgungsgebiete im Interesse aller Kunden. Zur Erörterung der Vierten Kartellgesetznovelle im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages vom 24. November 1978, HKR 5364.
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wirtschaft würden nach Interpretation der Stromwirtschaft zu einer Vervielfachung dieser Differenzen führen, was auch nicht im Sinne der Industrie sein könne.62 Letztlich diente die Argumentation der Stromwirtschaft dem Ziel, die Forderungen der VIK als unberechtigt darzustellen bzw. den Industrieverband durch die Benennung möglicher negativer Folgen für die eigene Klientel von seinen Zielen abzubringen. Die Industrie hatte hingegen schon in den frühen 1970er-Jahren darauf hingewiesen, dass Strukturunterschiede von Versorgungsgebieten den Strompreis nicht unmittelbar beeinflussten. Angesichts der bevorstehenden energierechtlichen Reformen machte die VIK die Stromwirtschaft darauf aufmerksam, dass es in ihrem eigenen Interesse sein sollte, die Hintergründe ihrer Kostenstruktur detailliert darzulegen.63 Einen weiteren Höhepunkt erreichte der schwelende Konflikt zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft Ende der 1970er-Jahre. Befeuert wurde dieser durch den Bericht der Monopolkommission und einem von Volker Emmerich verfassten und vom niedersächsischen Minister für Wirtschaft und Verkehr im Jahr 1977 herausgegebenen Gutachten. Emmerich war zu diesem Zeitpunkt für die Stromwirtschaft kein Unbekannter. Vielmehr stieg der Jurist durch sein Gutachten für das niedersächsische Wirtschaftsministerium zu einem der Hauptteilnehmer der energierechtlichen Debatte Ende der 1970er-Jahre auf. Für die Preußenelektra waren die Vorschläge von besonderer Brisanz. Emmerich hatte seine Überlegungen als Gutachten für das niedersächsische Wirtschaftsministerium angefertigt, das für einen großen Teil des Versorgungsgebiets der Preußenelektra zuständig war. Daher war sein Gutachten für das Unternehmen nicht irgendeine Empfehlung eines beliebigen Professors, sondern tangierte es direkt. Emmerich kritisierte in seinem Gutachten gezielt die kartellrechtliche Ausnahmestellung der Stromwirtschaft und machte Reformvorschläge, die Kartellaufsicht, und damit vor allem den Wettbewerb in der Branche, zu verschärfen.64 Die Quellen der Unternehmen und der Verbände der Stromwirtschaft belegen darüber hinaus, dass das Gutachten in den Folgejahren seines Erscheinens zu einem der zentralen Referenzpunkte für die ordnungspolitische Diskussion wurde. Insbesondere die juristischen Abteilungen der Unternehmen der Stromwirtschaft nutzten es als Beispiel für schlecht durchdachte Reformbestrebungen, um selbst für den Erhalt des Status quo und damit gegen eine Wettbewerbsordnung in ihrer Branche zu argumentieren. Schon 1973 war Emmerich der Stromwirtschaft mit einem Vortrag anlässlich eines Kolloquiums des Energiewirtschaftlichen Instituts Köln gewissermaßen „negativ“ aufgefallen. Wilm Tegethoff, der Geschäftsführer der VDEW und auf Verbandseite eine der zentralen Figuren der Stromwirtschaft, wollte daher im Anschluss eines Vortrags von Emmerich die Gelegenheit nutzen und über 62 63 64
Gespräch des RWE-Vorstands mit Dr. Christians (Deutsche Bank) am 27. Oktober 1978, HKR W8/2. Ernst, Hans, Bestimmen Strukturunterschiede den Strompreis?, in: VIK-Mitteilungen 2 (1972), S. 36–39. Emmerich, Volker, Ist der kartellrechtliche Ausnahmebereich für die leitungsgebundene Versorgungswirtschaft wettbewerbspolitisch gerechtfertigt? Herausgegeben vom Niedersächsischen Minister für Wirtschaft und Verkehr, Hannover 1978.
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dessen fragliche Thesen in einem persönlichen Gespräch diskutieren.65 Jener wiederum gab dem Geschäftsführer der VDEW in einem Schreiben zu verstehen, dass sich ihre Positionen aus seiner Sicht insgesamt angenähert hätten. Er habe, so Emmerich, die Notwendigkeit von Wettbewerb nicht zuletzt deshalb so stark betont, um Widerspruch hervorzurufen und damit die erstarrten Fronten in der energiepolitischen Diskussion aufzubrechen. Entsprechende Reaktionen, speziell von führenden RWE-Mitarbeitern, hätten ihm darin durchaus Recht gegeben.66 Als Ergebnis der Diskussion zwischen beiden blieb jedoch die unterschiedliche Auffassung darüber bestehen, ob und – wenn ja – wie Wettbewerb in der Stromwirtschaft zu gestalten sei. Gewissermaßen als wissenschaftliche Gegenexpertise suchte die Stromwirtschaft Rat bei anderen Energierechtlern, so bei Professor Jürgen Baur, Direktor des Instituts für Energierecht der Universität zu Köln. Innerhalb der energierechtlichen Fachwelt war er einer der prominentesten Gegner von Reformen. Baur argumentierte, dass weder zum Abbau der Gebietsschutzverträge noch zur Einführung einer Durchleitungspflicht eine Veranlassung bestehe. Das bestehende System weise vielmehr keine Mängel auf und garantiere in seiner Form sogar, dass Dysfunktionalitäten verhindert würden.67 Alexandra von Künsberg weist in ihrer wichtigen Studie zur Regulierungsgeschichte in der Stromwirtschaft darauf hin, dass Emmerich und Baur auf diese Weise perfekt die jeweiligen Argumente der gegnerischen Positionen repräsentierten.68 Sowohl die Überlegungen der Monopolkommission als auch Emmerichs Schrift vertraten unmissverständlich die Auffassung, dass die industrielle Kraftwirtschaft bezüglich der Möglichkeit einer wirtschaftlich günstigen Gestaltung der Eigenerzeugung durch staatliche wie private Regelungen eingeschränkt werde.69 Vielmehr noch bezogen diese Veröffentlichungen gegen die schon eingangs geschilderte Problematik der geschlossenen Versorgungsgebiete Stellung. Die Stromwirtschaft wehrte sich mit Artikeln von prominenten Vertretern der Branche im Fachblatt Energiewirtschaftliche Tagesfragen gegen die Thesen Emmerichs sowie daraus abgeleitete weiterführende ordnungspolitische Überlegungen.70 65 66 67 68 69 70
Brief von Wilm Tegethoff an Volker Emmerich vom 15. Juni 1973, HKR 13666. Brief von Volker Emmerich an Wilm Tegethoff vom 16. August 1973, HKR 13666. Gutachten von Prof. Jürgen F. Baur „Abbau der Gebietsschutzverträge und Durchleitungspflicht – Mittel zur Verbesserung der Versorgung?“, HKR 5365. Künsberg, Alexandra von, Vom „Heiligen Geist der Elektrizitätswirtschaft“. Der Kampf um die Regulierung der Stromwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1980), Berlin 2012, S. 117. Siehe Monopolkommission (Hg.), Mehr Wettbewerb ist möglich. Hauptgutachten 1973/75, Baden-Baden 1976, S. 406 f.; Emmerich, Volker, Ist der kartellrechtliche Ausnahmebereich, S. 47, 76, 97. Siehe Klätte, Günther, Mehr Wettbewerb in der Elektrizitätsversorgung durch Aufhebung der Demarkation und Verpflichtung zur Durchleitung – geht das oder führt das im ersten Schritt zum Verlust der Versorgungssicherheit und im zweiten Schritt zur Verstaatlichung?, in: EWT 29 (1979) 3, S. 131–134; Michaelis, Hans, Der Streit um den Ordnungsrahmen für die leitungsgebundene Energieversorgung, in: EWT 29 (1979) 1, S. 24–37; Büdenbender, Ulrich, Zur Notwendigkeit geschlossener Versorgungsgebiete in der leitungsgebundenen Versorgungswirtschaft. Kritische Anmerkungen zu einem Gutachten von Prof. Dr. Volker Emmerich, in: EWT
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Allen voran warfen RWE-Vorstand Günther Klätte und andere Mitarbeiter der RWE in ihren Beiträgen den Verfechtern des Wettbewerbs in der Energieversorgung vor, die Besonderheiten der Stromversorgung nur auf das Kriterium der Leitungsgebundenheit zu reduzieren.71 Auf diese Weise, so Klätte weiter, kämen die anderen, vor allem physikalisch bedingten Merkmale von Elektrizität, wie mangelnde Speicherfähigkeit viel zu kurz. Doch erst die Eigenschaft von elektrischer Energie mache diese unvergleichbar mit anderen Gütern, wie zum Beispiel Gas und Wasser. Bei elektrischer Energie handele es sich nach Klättes Auffassung, die in ihren zentralen Punkten stellvertretend für die gesamte Stromwirtschaft stehen kann, um eine Dienstleistung, die jederzeit in gleichem Umfang zur Verfügung stehen müsse. Die bereits in anderen Zusammenhängen aufgeführten Eigenheiten, wie Kapitalintensität sowie die Legitimation der Überkapazitäten („Zuwachsreserve“) durch unerwartete Bedarfsentwicklungen, seien als Preis für die Sicherheit der Energieversorgung zu verstehen, so Klätte.72 Diese Argumente dienten vor allem dazu, die Durchleitungsforderungen grundsätzlich abzulehnen und die Absatzgebiete der einzelnen Energieversorger durch die Demarkationsgrenzen zu erhalten. Für sich genommen waren einige Argumente durchaus stichhaltig. Mit dem Recht der Demarkation war für den RWE-Vorstand die Pflicht zur jederzeit ausreichenden und sicheren Bedarfsdeckung verbunden. Jedoch beanstandete die Kritik des Ordnungsrahmens meist nicht die Demarkation an sich, sondern lediglich deren Ausschließlichkeit und Wahrnehmung durch ein einziges Unternehmen. Klättes Überlegungen zielten indessen gegen eine „etwas aufgelockerte Demarkation“ sowie gegen nur „ein bißchen mehr Wettbewerb“ in der Energieversorgung.73 Vielmehr lautete sein Fazit, dass in der Elektrizitätsversorgung Wettbewerb und Versorgungspflicht einander ausschlössen und man daher am besten das bewährte System erhalten sollte. Die Reformer des Ordnungsrahmens, so die Einschätzung des RWE-Vorstands, verfolgten vor allem Eigeninteressen. Doch nicht nur die VIK und ihr nahestehende Juristen hatten versucht, die Strukturen der Stromwirtschaft zu verändern. Vielmehr gab es von der Bundesregierung sowie verschiedenen Bundesministerien bereits seit Mitte der 1960er-Jahre vielfältige Überlegungen, das GWB zu reformieren.74 Auch hierbei waren bereits
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28 (1978) 12, S. 735–743. Auch die wichtigste Interessenvertretung der regionalen Energieversorgungsunternehmen, kurz ARE, bezog gegen die Pläne der niedersächsischen Landesregierung Stellung. Siehe Braun, Dieter, Anmerkungen zu den Vorschlägen für Ergänzungen des Kartellrechts im Bereich Versorgungswirtschaft, in: EWT 29 (1979) 3, S. 135–142. Büdenbender, Ulrich, Zur Notwendigkeit geschlossener Versorgungsgebiete in der leitungsgebundenen Versorgungswirtschaft, in: EWT 28 (1978) 12, S. 735–743, hier S. 738. Klätte, Günther, Mehr Wettbewerb in der Elektrizitätsversorgung durch Aufhebung der Demarkation und Verpflichtung zur Durchleitung – geht das oder führt das im ersten Schritt zum Verlust der Versorgungssicherheit und im zweiten Schritt zur Verstaatlichung?, in: EWT 29 (1979) 3, S. 131–134. Ebd. Die zahlreichen Reformvorhaben und Referentenentwürfe können hier nur in Ansätzen und insofern sie für die Fragestellung der Untersuchung relevant sind, aufgegriffen werden. Für eine detailreiche, quellengespeiste Analyse der gesamten Regulierungsdiskussion siehe Küns-
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Durchleitung bzw. Einspeisung von Überschussstrom und die Frage der geschlossenen Versorgungsgebiete das Hauptthema gewesen. Ein Referentenentwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium wollte 1964 im Kern die Ausschließlichkeit der Versorgung durch einen Energieversorger aufheben und die Gemeinden dazu verpflichten, öffentlich auszuschreiben. Wie nicht anders zu erwarten, stieß der Entwurf auf heftigen Widerstand aus den Kommunen und den Versorgungsunternehmen. Die Entwurfspläne wurden daher vom BMWi bald aufgegeben und künftig nicht wieder aufgegriffen.75 An ihrem Ziel, die Gebietsmonopole aufzulockern, hielt die Bundesregierung jedoch zunächst fest. Sie nahm eine große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 18. Dezember 1968 im Deutschen Bundestag zum Anlass, um Stellung zur Reformdiskussion zu beziehen.76 In ihrer Antwort vom 14. März 1969 betonte die Regierung ihren grundsätzlichen Wunsch zu mehr Wettbewerb in der Energiewirtschaft. Neben diesem allgemeinen Ziel wollte sie künftig auch auf eine größere Transparenz der Energiepreise achten, die Missbrauchsaufsicht durch die Kartellbehörden verstärken und eine weitere Konzentration der Energiewirtschaft verhindern.77 Um diese Ziele zu erreichen, wollte die Regierung unter anderem die generelle Genehmigung der Demarkationsverträge durch § 103 Abs. 1 Nr. 1 GWB durchsetzen sowie die Konzessionsverträge durch § 103 Abs. 1 Nr. 2 GWB einschränken.78 In die Reformvorhaben zum Energierecht kam vor allem deshalb Bewegung, weil die bestehende Struktur der Stromwirtschaft von politischer Seite eine neue Bewertung erfahren hatte. Erstmals wurden im Energie-, Preis- und Kartellrecht Reformbestrebungen in Gang gesetzt, die in ihren langfristigen Auswirkungen die ordnungspolitischen Grundfesten des Elektrizitätsmarktes infrage stellen sollten.79 Hierbei wurde eine Reihe von Maßnahmen entworfen, die in ihrer Summe die Quasi-Monopolstellung der Energieversorger zumindest hinterfragten. Dabei ging es um den Rechtsschutz für Demarkationsabsprachen, also die Frage nach der Notwendigkeit von abgeschlossenen Versorgungsgebieten, und die Verbesserung der Missbrauchsaufsicht. Um die Reformbestrebungen konzertiert anzugehen, setzte die Regierung 1970 den Arbeitskreis „Neuordnung des Energiewirtschaftsrechts“ ein, der die Ergebnisse seiner Arbeit im April 1971 der Öffentlichkeit präsentierte. Weitreichenden Reformvorhaben, wie zum Beispiel der Wettbewerb um Versorgungsgebiete sowie unter den Großabnehmern, standen jedoch unzureichende Vorschläge zu deren Um-
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berg, Alexandra von, Vom „Heiligen Geist der Elektrizitätswirtschaft“. Der Kampf um die Regulierung der Stromwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1980), Berlin 2012. Stern, Klaus, Die verfassungsrechtliche Position der kommunalen Gebietskörperschaften in der Elektrizitätsversorgung, Berlin u. a. 1966, S. 8 f. BT-Drucksache 5/3668. Das Echo auf diese Anfrage war in der Energiewirtschaft außerordentlich groß. Siehe Energiewirtschaftliche Tagesfragen 1969, S. 297 ff. BT-Drucksache 5/3978. Ebd., S. 8 ff. Antwort des Bundesministers für Wirtschaft auf die Große Anfrage der Abgeordneten Delden, Schmidhuber, Dr. Luda, Rawe und Fraktion der CDU/CSU am 14. März 1969, BT-Drucksache 5/3668.
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setzung gegenüber.80 Die Reformbestrebungen der frühen 1970er-Jahre hatten bei der VIK durchaus die Hoffnung genährt, dass sich an der bestehenden Struktur der Stromwirtschaft bald etwas ändern würde. Dies brachte der Industrieverband auch gegenüber der Stromwirtschaft zum Ausdruck.81 Auch die Stromwirtschaft hatte zu diesem Zeitpunkt schon erkannt, dass die Verteidigung des Status quo allein nicht ausreichen würde. Vielmehr, so die Überlegungen in Branchenkreisen, müsse man selbst frühzeitig damit beginnen, sich darüber Gedanken zu machen, ob und – wenn ja – welche Bereiche der Stromwirtschaft reformbedürftig seien.82 Dies war jedoch zunächst gar nicht notwendig gewesen, denn die Reformbestrebungen der Regierung verpufften zum wiederholten Male ergebnislos. Unter dem Grundsatz „So viel Wettbewerb wie möglich, nicht mehr Staatsaufsicht als nötig“ stand mit dem sogenannten Obernolte-Entwurf nun zu Beginn der 1970er-Jahre wieder eine Novellierung des Energiewirtschaftsrechts auf der wirtschaftspolitischen Agenda der Bundesregierung.83 In umfassender Form sollte der Entwurf vom 30. Mai 1973 den energiewirtschaftlichen Teil des Kartellrechts ebenso reformieren wie die Tarifordnung und Teile des EnWG. Benannt nach dem damaligen Leiter der Energieabteilung des BMWi, Wolfgang Obernolte, der die Arbeiten im „Arbeitskreis Energiewirtschaft“ koordinierte und zusammenführte, sollte der Entwurf endlich den reformerischen Durchbruch schaffen. Er inkludierte die Forderung nach einer generellen Stärkung des Wettbewerbs, das allmähliche Wegfallen der Demarkation, die öffentliche Ausschreibung von Demarkationsgebieten sowie die Möglichkeit einer Durchleitungspflicht84 durch den Gesetzgeber. Zu einem Regierungsentwurf, der ein neues EnWG auf Basis der „Obernolte-Pläne“ angestoßen hätte, kam es jedoch in der siebten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages nicht mehr.85 An den Wirren rund um die Ölkrise lag es nicht allein, dass die Reformbestrebungen von der Bundesregierung nicht weiter verfolgt wurden. Die Diskussion um die Folgen des Ölpreisschocks genoss zunächst Vorrang vor allen anderen energiepolitischen Fragen. Wegen der krisenhaften Ereignisse der 1970er-Jahre traf der Obernolte-Vorstoß zunächst auf kein reformfreudiges Klima. Eine ebenso entscheidende Rolle für dessen Scheitern spielten die Widerstände der Energiewirtschafts80 81 82 83 84 85
Siehe u. a. Börner, Bodo, Reform des Energierechts und Natur der Sache, Düsseldorf 1971. Für die Gegenposition der VIK siehe Brocke, Wolfgang / Malzer, Georg / Ernst, Hans, Reform des Energierechts und Natur der Sache, in: VIK-Mitteilungen, Nr. 1 (1972), S. 1–10. Schreiben von Hans Ernst an Günther Klätte vom 27. Januar 1972, HKR 2903; VIK, Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Versorgung mit elektrischer Energie vom 12. September 1973, HKR 2903. Sitzung des FA „Stromwirtschaft“ am 3. Juni 1969, HKR, VDEW „FA Stromwirtschaft“ vom 1. Januar 1970 bis 31. Dezember 1975, 2920. Abgedruckt in Energiewirtschaft 1972, S. 277 ff. Fischerhof, Hans, „Stromdurchleitung“ über fremde Netze als Rechtsproblem, Baden-Baden 1974, S. 11 f. Siehe Löwer, Wolfgang, Rechtshistorische Aspekte der deutschen Elektrizitätsversorgung von 1880 bis 1990, in: Fischer, Wolfram (Hg.), Die Geschichte der Stromversorgung, Frankfurt/M. 1992, S. 169–215, hier S. 202; Tegethoff, Wilm, Die Entwicklung des deutschen Energiewirtschaftsrechts bis zur Neuordnung im Jahre 1998 – Vergängliches und Bleibendes, in: Elektrizitätswirtschaft 97 (1998) 13, S. 9–17, hier S. 15.
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verbände. Mit dem Referentenentwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium war der Versuch verbunden, das gesamte Energiewirtschaftsrecht zu modernisieren. Für das Vorhaben des BWMi waren die Voraussetzungen in zweierlei Hinsicht ungünstig. Einerseits behinderten die energiepolitischen Ereignisse eine derart umfassende Reform des Ordnungsrahmens der Energieversorgung. Andererseits liefen die Interessenvertreter der Energiewirtschaft Sturm gegen die Pläne des Ministeriums.86 Dennoch blieben die in diesem Entwurf formulierten Ideen wichtige Impulse für künftige Reformvorhaben. Die Befürworter der Liberalisierung des energiewirtschaftlichen Ordnungsrahmens konnten nach langer Zeit der Stagnation erst wieder Mitte der 1970er-Jahre kleinere Erfolge in ihren Bemühungen verbuchen und zwar im Bereich der Kartellgesetzgebung. Mit der Vierten Kartellgesetznovelle wurden vor allem die Missbrauchsaufsicht präzisiert und Gebietsschutzverträge auf eine zwanzigjährige Laufzeit begrenzt.87 Zur Erinnerung: In der Nachkriegszeit hatte sich die Stromwirtschaft eine Ausnahmestellung im Wettbewerbs- und Kartellrecht sichern können. Dies verwundert umso mehr, als dies eigentlich dem Ziel und Glaubensbekenntnis der sozialen Marktwirtschaft nach generellem Wettbewerb widersprach. Auch das EnWG stand mit dem Grundsatz, dass volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern seien und mittels Staatsaufsicht eine weitgehende Ausschaltung des Wettbewerbs erreicht werden sollte, dieser wirtschaftspolitischen Grundüberzeugung entgegen. Nach § 103 des Kartellgesetzes von 1955 waren in der Stromwirtschaft Demarkations- und Konzessionsverträge im Unterschied zu den meisten anderen Branchen zulässig. Eigentlich sollte dieser Zustand nur vorläufiger Natur sein, bis ein neues EnWG verabschiedet worden sei. Doch aus diesem Provisorium wurde trotz heftiger Kritik des Kartellamtes und der Industrie ein Dauerzustand, obgleich es der obersten Aufsichtsbehörde für Kartellfragen zu verdanken war, dass ihre unablässige Kritik an der Freistellung der Stromwirtschaft seit Mitte der 1960er-Jahre zumindest zu einer intensiveren Diskussion über diese Regelung führte.88 Die vierte Novelle des Kartellgesetzes stieß 1978 schon vor ihrer eigentlichen Verabschiedung auf wenig Gegenliebe in der Stromwirtschaft. Die Branche interpretierte diese Reformen als Eingriff in die ordnungspolitische Struktur des Wirtschaftszweiges. Die Forderungen nach Wettbewerb, so der einhellige Tenor in der Stromwirtschaft, seien damit auf „politisch fruchtbaren Boden gefallen“.89 Der Geschäftsführer der VDEW, Horst Magerl, befürchtete gar, dass der Druck, der zu diesen Reformen geführt hätte, auch die Verhandlungen über die stromwirtschaftli86 87 88
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Siehe u. a. Weigt, Norbert, Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes?, in: ZfE 4 (1984), S. 291–297. Tegethoff, Wilm / Büdenbender, Ulrich / Klinger, Heinz, Das Recht der öffentlichen Energieversorgung, Kommentar, Loseblattsammlung, 17. Ergänzungslieferung, Essen 1998, S. 20 f. Dem Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes des Jahres 1974 ist zu entnehmen, dass infolge der Entschließungen von der Behörde 400 mehr Verfahren durchgeführt wurden. Siehe BTDrucksache 7/3791 vom 12. Februar 1980; Büdenbender, Ulrich, Energiekartellrecht, Essen 1994, S. 151 ff. Niederschrift über die Sitzung des VDEW-Vorstandsrats am 15. November 1978, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. Juli 1978, 2931.
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che Zusammenarbeit mit der Industrie belasten könne. „Die VIK fördere diesen Druck noch durch intensive Aktivitäten und [die Streuung] verschiedener Papiere [bei politischen Entscheidungsträgern].“90 Die Strategie der Stromwirtschaft zur Milderung der Ergebnisse aus der Vierten Kartellgesetznovelle bestand darin, den Schulterschluss mit den anderen Verbänden der Energiewirtschaft zu suchen. Vorab sollten jedoch die wesentlichen Ursachen für die „Angriffe“ auf die Branche identifiziert werden. Dies ging relativ zügig von statten, denn nach Ansicht der Mehrzahl der Stromwirtschaftsvorstände habe das „ausgeprägte Umweltschutzdenken, die Unzufriedenheit mit dem Preisgebaren der EVU und das Misstrauen gegen die marktbeherrschende Stellung der EVU“91 zu den Reformüberlegungen geführt. Trotz dieser massiven Kritik wollte die Stromwirtschaft auch künftig ihre Monopolstellung, und in deren Kern die geschlossenen Versorgungsgebiete, als Grundlage einer funktionierenden Energieversorgung verteidigen. Die in der Vergangenheit vorgetragenen Argumente für deren Erhalt würden jedoch in Zukunft nicht mehr ausreichen, „weil sie von den zuständigen Behörden des Bundes und der Länder nur noch begrenzt mitgetragen“92 würden. Was den erwähnten Schulterschluss mit anderen Verbänden der Energiewirtschaft anging, suchte die Stromwirtschaft, in dem Fall die VDEW, zur Ablehnung der Vierten Kartellgesetznovelle wie auch der Durchleitungsforderungen der Industrie schon frühzeitig den Kontakt zu den anderen Verbänden, vor allem mit den kommunalen Unternehmen und seinem Spitzenverband, dem VKU, sowie dem BDI.93 Eine besondere Bedeutung in diesem Abstimmungsprozess kam dem sogenannten Winterscheider-Kreis zu.94 Dieser wurde wegen seines Treffpunkts im Hotel „Winterscheider Mühle“ in der Nähe von Köln intern so benannt und bekleidete eine wichtige Mittler- bzw. Moderationsfunktion zur Abstimmung der energiewirtschaftlichen Verbände. Im Rahmen dieser Treffen wurden kontroverse Punkte zwischen den Verbänden vorab geklärt, um öffentlich nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Energiewirtschaft nicht mit einer Stimme spreche. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen diverser Verbände kam es trotz des Abstimmungsprozesses ohnehin schon häufig zu öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten. 90 91 92 93 94
Ebd. Ebd. Ebd. DVG-Mitgliederversammlung, Bericht aus dem Ausschuß „Wirtschaft und Betrieb“, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. Papier der RWE, versandt an die Preußenelektra, über das „Krisenmanagement und Frühwarnsystem“ der Verbände in der Elektrizitätswirtschaft vom 24. Juli 1986, E.ON-Archiv Hannover, Preußenelektra, Vorstand, S. 2. Der „Winterscheider-Kreis“ war nicht formell institutionalisiert, es fanden jedoch regelmäßige Treffen der vier Geschäftsführer der Verbände ARE, DVG, VDEW und VKU statt, bei denen grundlegende Konflikte der Branche schon vorab besprochen wurden. In zahlreichen Fragen hat dieser Kreis als Katalysator bei Interessengegensätzen zwischen den verschiedenen Ebenen (von regional bis Verbundunternehmen) der Elektrizitätswirtschaft gewirkt. Die übergroße Mehrheit der Teilnehmer des „Winterscheider Kreises“ waren fast ausschließlich Juristen. Die Teilnehmer am 26./27. Januar 1978 in Winterscheid waren Dieter Braun (Geschäftsführer ARE), Dr. Dietmar Kuhnt (DVG, Justiziar RWE), Dr. Wolfgang Ludwig (VKU), Hermann (VDEW), Pabst (VDEW) und Gronau (VDEW). Später auch Dr. Horst Magerl für den VDEW (1978 Geschäftsführer).
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Bei der Vierten Kartellgesetznovelle sollte der Kreis jedoch seine Katalysatorfunktion beim Interessenausgleich erfüllen. In einem Vermerk der VDEW zum Gespräch des Kreises hieß es, dass sich zwischen den Teilnehmern der Gesprächsrunde die Tendenz abzeichne, den Referentenentwurf hinzunehmen. Trotz dieses Umstands vereinbarten die Teilnehmer, dass man in mündlichen und schriftlichen Stellungnahmen weiterhin im Detail Kritik an dem Entwurf üben sollte.95 Um konkret etwas gegen die Vierte Kartellgesetznovelle zu unternehmen, wurde eine entsprechende Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus den beteiligten Verbänden eingerichtet, die ein Positionspapier zur Thematik erarbeiten sollten.96 Dieses erschien im Dezember 1978 unter dem Titel Sichere Stromversorgung und kostengerechte Strompreise. Stellungnahme der Elektrizitätswirtschaft gegen die Auflösung der Versorgungsgebiete durch Zwangsdurchleitungen oder Wegfall der Gebietsabgrenzungsverträge.97 Herausgegeben wurde es von allen maßgeblichen energiewirtschaftlichen Verbänden ARE, VDEW, VKU und DVG. Die Broschüre sollte als Argumentationshilfe für die Mitgliedsunternehmen der Verbände gegenüber Bundes- und Landtagsabgeordneten dienen. Anlass zu dieser konzertierten Aktion bildeten vor allem die Beratungen des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages vom 29. November 1978. Die Kernargumente des Papiers waren schon vor seiner Veröffentlichung bestens bekannt, wurden jedoch für diesen Zweck zugespitzt, um mehr Überzeugungskraft zu entfalten. Als Argumente für den Sonderstatus der Stromwirtschaft wurden dafür die Leitungsgebundenheit, die Versorgungspflicht gegenüber allen Abnehmern sowie die hohe Kapitalintensität ins Feld geführt. Darüber hinaus hänge der Energiebezug vom Verbraucher ab. Auf diese Weise ergebe sich eine Zeitgleichheit von Erzeugung und Verbrauch.98 Um der Durchleitungsforderung der Industrie – ein Thema, das auch hier nicht fehlen durfte – entgegenzutreten, vertraten die Verbände den Standpunkt, dass eine gesetzliche Verpflichtung zur Durchleitung elektrischer Energie – von den Autoren als „Zwangsdurchleitung“ bezeichnet – zur Auflösung der Versorgungsgebiete führen würde. Den Verfassern des Papiers ging es hierbei um grundsätzliche Fragen: Die Verbände der Energiewirtschaft waren dezidiert der Meinung, das Stromnetz sei „kein Topf, in den wahllos eingespeist und aus dem an jeder beliebigen Stelle Strom entnommen werden kann“.99 Die Pflicht zur Durchleitung, so die Autoren weiter, wirke hinsichtlich der Auflösung der Versorgungsgebiete in gleicher Weise wie die Aufhebung der Gebietsabgrenzungsverträge selbst. Vor allem, wenn das Entgelt für die Mitbenutzung des Leitungsnetzes niedriger sein sollte als der Bau direkter zusätzlicher Leitungen, 95 96 97
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Vermerk der VDEW zum Gespräch in Winterscheid am 26./27. Januar 1978 zur Vierten Kartellgesetznovelle, HKR, Vorstand Rinke, Energieversorgungsunternehmen und Verbände, 5364. Notiz über die Vorstandsratssitzung am 21. Mai 1980, HKR W8/3. Sichere Stromversorgung und kostengerechte Strompreise. Stellungnahme der Elektrizitätswirtschaft gegen die Auflösung der Versorgungsgebiete durch Zwangsdurchleitungen oder Wegfall der Gebietsabgrenzungsverträge, 3. April 1979, S. 1–70, HKR, VDEW FA „Stromwirtschaft“ ab August 1978 bis Dezember 1979, 2923. Siehe ebd., hier S. 10. Ebd., S. 13.
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wirke die sogenannte Durchleitung kostentreibender als der Wegfall der Gebietsabgrenzungsverträge.100 Im Hinblick auf den Eigentumsschutz der Energieversorger wurden zudem verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Selbst begrenzte Durchleitungsverträge hielten die Verbände für nicht vertretbar. Denn jede „Zwangsbelieferung“ Dritter, unter Missachtung der abgegrenzten Versorgungsgebiete, schaffe neue Sonderrechte und Sondervorteile, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz aller Verbraucher entgegenstünden.101 Allerdings hatte die Stromwirtschaft ihr Versorgungsgebiet selbst mit zahlreichen Verträgen gewissermaßen freiwillig „durchlöchert“, indem sie mit verschiedenen Sonderabnehmern spezielle Verträge abgeschlossen hatte. Dies war seit dem frühen 20. Jahrhundert gängige Praxis. Von Gleichbehandlung konnte also auch ohne Reformen nicht die Rede sein. Im Rahmen der energiewirtschaftlichen Reformbemühungen war der Bestand der Versorgungsgebiete einer der Kernpunkte. Die Verfechter stromwirtschaftlicher Liberalisierung erblickten darin eine Möglichkeit, mehr Wettbewerb auf dem Energiemarkt zu schaffen. Gleichwohl waren sich die Liberalisierungsbefürworter darüber im Klaren, dass die Aufhebung des Rechtsschutzes von Demarkationsabsprachen nur ein Element der Quasi-Monopolstellung der Energieversorger war.102 Wenngleich die industrielle Kraftwirtschaft vorrangig die Notwendigkeit der Demarkationsverträge heftig kritisierte, so erkannte sie die natürlichen Besonderheiten elektrischer Energie – Leitungsgebundenheit und sehr geringe Speicherfähigkeit – doch an.103 Beides hing zusammen: Nach Auffassung der VIK bedeutete die Aufhebung von Gebietsschutzverträgen nicht das Ende des Monopols der Energieversorger. Vielmehr würden Leitungsgebundenheit und Konzessionsverträge die Grundlage der Stellung der EVU auf dem Energiemarkt bilden und daher auch künftig nur einen Wettbewerb in beschränktem Umfang zulassen.104 Auch in einer breiteren Öffentlichkeit wurde das Problem der Aufhebung der Demarkationsverträge diskutiert, vor allem unter dem Gesichtspunkt, ob das im Interesse der Verbraucher läge.105 Schon 1963 hatte das Bundeskartellamt verlangt, die Freistellung der Gebietsschutzverträge vom Wettbewerbsrecht aufzuheben. Doch die VDEW und der VKU konnten den Gesetzgeber davon überzeugen, dass mit dieser Reform der institutionelle Ordnungsrahmen der Stromwirtschaft aus den Fugen geraten würde und die Branche damit ihrem Auftrag einer sicheren und preiswerten Energieversorgung nicht mehr nachkommen könne.106 100 Ebd., S. 14. 101 Siehe ebd. 102 Siehe u. a. Ernst, Hans, Zur Frage einer neuen Ordnungspolitik auf dem Elektrizitätsmarkt vom 1. Oktober 1969, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2903. 103 Siehe ebd. 104 Ernst, Hans, Ist die Elektrizitätswirtschaft auf die Gebietsschutzverträge angewiesen?, in: VIKMitteilungen 1 (1970), S. 1–5. 105 Deparade, Klaus, Aufhebung der Demarkationsverträge im Interesse der Verbraucher?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Blick durch die Wirtschaft“, 2. Dezember 1970. Und als Antwort von Industrie und BMWi: Ernst, Hans / Lindemann, Harald, Demarkationsverträge liegen allgemein nicht im Interesse der Verbraucher, in: VIK-Mitteilungen 1 (1971), S. 4–6. 106 Löwer, Wolfgang, Rechtshistorische Aspekte der deutschen Elektrizitätsversorgung von 1880 bis 1990, in: Fischer, Wolfram (Hg.), Die Geschichte der Stromversorgung, Frankfurt/M. 1992,
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Trotz dieser Situation sah die industrielle Kraftwirtschaft in der Aufhebung des Gebietsschutzes eine Möglichkeit, die Monopolstellung der Energieversorger zu schwächen und damit ihre eigenen Belange besser durchsetzen zu können. Die Stromwirtschaft reagierte auf derartige Pläne aus Industrie und Politik mit einiger Besorgnis. So wurde in den Verbänden der Branche wie auch in den juristischen Abteilungen der Unternehmen viel Zeit und Energie darauf verwandt, die Argumente für den Gebietsschutz auszuarbeiten.107 Die Stromwirtschaft unternahm einige Anstrengungen, um die Reformbestrebungen abzuschwächen oder ganz zu verhindern. Insbesondere die zeitliche Befristung der Gebietsschutzverträge und deren Überprüfung durch das Kartellamt galten in der Stromwirtschaft als nicht hinnehmbar.108 Dabei nutzte die Branche ihr ausgezeichnetes Netzwerk in der Politik, um gegen diese Vorhaben vorzugehen. Anlass dazu gaben vor allem die Entwürfe verschiedener Landeswirtschaftsministerien zur Verschärfung der energierechtlichen Vorhaben des Bundes. So wollte das bayrische Wirtschaftsministerium im Zuge der Reformüberlegungen den Kartellbehörden weitgehende Eingriffe in die Demarkations- und Konzessionsverträge gestatten und Energiepreise als Grundlage der Missbrauchsaufsicht zulassen.109 Diese Pläne gingen über die des Bundeswirtschaftsministeriums hinaus. Die Stromwirtschaft beklagte, dass es den Kartellbehörden damit gestattet sei, Strukturpolitik zu betreiben, wofür diese aber nicht zuständig seien. Für die Energieversorger wog nicht nur die neue Rolle der Kartellbehörden schwer. Die Befugnisse, die die Legislative der Behörde zugestehen wollte, waren brisant. Der Vorschlag räumte dem Kartellamt die Möglichkeit ein, unter bestimmten Voraussetzungen die Verlängerung von Demarkations- und Konzessionsverträgen zu untersagen.110 Gegen diesen Vorschlag mobilisierte die Branche alle erdenklichen Kräfte. Für die Verschärfung der Rolle des Kartellamtes war eine Referentenarbeitsgruppe der Landeskartellämter verantwortlich. Bereits vorab hatte es daher persönliche Gespräche mit einigen Landeskartellreferenten, vor allem in Bayern und NRW, gegeS. 169–215, hier S. 202. 107 Siehe Gebietsschutz in der Elektrizitätswirtschaft, Ausarbeitung der juristischen Abteilung der RWE vom 14. März 1972, HKR 13662; Lupberger, Dirk R., Mehr Wettbewerb in der leitungsgebundenen Energiewirtschaft? Die Diskussion um die §§ 103 f. GWB im Rahmen der Vierten Kartellgesetznovelle und die Neufassung, in: EWT 30 (1980) 6, S. 407–416. 108 So Ulrich Segatz auf einer Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der PREAG am 4. Juli 1979, S. 6. 109 Schreiben der VDEW an die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages vom 31. Oktober 1979, HKR, Vorstand Rinke, 5366. 110 Über die Rolle des Kartellamts entwickelte sich seit den 1970er-Jahren zwischen der Behörde und der Stromwirtschaft, vor allem den RWE, eine juristische Diskussion. Siehe u. a. Klaue, Siegfried, Probleme der Kartellaufsicht aus § 103a GWB, in: Börner, Bodo (Hg.), Probleme der 4. Novelle zum GWB, Baden-Baden 1981, S. 25–40; Kuhnt, Dietmar, Möglichkeiten und Grenzen einer kartellrechtlichen Mißbrauchsaufsicht in der Versorgungswirtschaft, in: Börner, Bodo (Hg.), Die kartellrechtliche Mißbrauchsaufsicht, Düsseldorf 1977, S. 81–117. Der Vorschlag, Konzessionsverträge zeitlich zu befristen oder nach Ablauf für kündbar zu erklären, war nicht neu, sondern seit den 1950er-Jahren schon von kommunaler Seite vorgebracht worden. Siehe Verband kommunaler Unternehmen (VKU), Der Strombezugsvertrag – Grundsätze und Empfehlungen des VKU, Köln 1953.
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ben, um den Entwurf zur Vierten Kartellgesetznovelle zu entschärfen.111 Nach der Vorlage des Referentenentwurfs waren diese Gespräche intensiviert und auf andere Bundesländer ausgeweitet worden.112 In einem Schreiben der RWE an die Kartellreferenten wurde darauf rekurriert, dass die Reformbemühungen deshalb nicht nötig seien, weil sich die Stromwirtschaft inzwischen mit der industriellen Kraftwirtschaft auf eine „stromwirtschaftliche Zusammenarbeit“ geeinigt habe.113 Die Einigung mit der Industrie hatte nach Auffassung wichtiger Akteure im BMWi auch dazu geführt, dass die Forderungen aus dem politischen Raum zur Novellierung des Kartellgesetzes inzwischen abgeschwächt waren.114 Diese Entwicklung verwundert nicht, denn schon zu Beginn des Reformprozesses verfolgte die Bundespolitik vor allem das Ziel, ungerechtfertigte Hemmnisse für eine sinnvolle Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung aus dem Weg zu räumen.115 Schon 1978 hatte Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Energieversorgern signalisiert, dass er Demarkationsgrenzen für notwendig erachte und diese erhalten bleiben müssten. Eine einvernehmliche Lösung zwischen VDEW und VIK für die Durchleitungsproblematik war vom Bundeswirtschaftsministerium ohnehin präferiert worden.116 Die Stromwirtschaft mobilisierte gegen die zeitliche Befristung der Demarkationsabsprachen auch ihre kommunalen Kontakte. So war sich die VDEW mit dem VKU sowie dem Städte- und Gemeindetag in dieser Frage einig, weshalb man sich im Juni 1979 in einer gemeinsamen Stellungnahme gegen die Befristung von Demarkations- und Konzessionsverträgen aussprach.117 Denn auch den Kommunen konnte nicht daran gelegen sein, dass sie künftig auf wichtige Einnahmen in ihrem Haushalt verzichteten. Freilich gab es auch Kommunen, die ihre Energieversorgung selbst betrieben. Im Großen und Ganzen war das Verhältnis zwischen Energieversorgern und den meisten Gebietskörperschaften jedoch historisch so gewach-
111 Gespräch von Dr. Hermann, Gronau (beide VDEW) und Braun (ARE) mit dem bayrischen Kartellreferenten Dr. Kramm am 1. Februar 1978 sowie von Wilm Tegethoff (VDEW) mit Jenne (nordrheinwestfälisches Wirtschaftsministerium). Siehe Gesprächsprotokolle, HKR, Vorstand Rinke, Energieversorgungsunternehmen und Verbände, hier: 4. Kartellgesetznovelle, Forderungen nach Durchleitung und Demarkation zu Lasten der EVU, 5364. 112 Entsprechende Gespräche von VDEW-Vertretern mit den Landeskartellreferenten in NRW, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Bayern, Hessen und Baden-Württemberg, HKR, Vorstand Rinke, Energieversorgungsunternehmen und Verbände, hier: 4. Kartellgesetznovelle, Forderungen nach Durchleitung und Demarkation zu Lasten der EVU, 5364. 113 Siehe u. a. Schreiben von Werner Rinke an den saarländischen Wirtschaftsminister Werner Klumpp vom 13. August 1979, HKR, Vorstand Rinke, 5366. 114 Danner, Wolfgang, Die Vorschläge der Bundesregierung zur Novellierung des Ausnahmebereiches für die Versorgungswirtschaft im Kartellgesetz, in: Energiewirtschaft 1 (1980), S. 48–54, hier S. 48. 115 BT-Drucksache 8/3690 vom 12. Februar 1980, S. 32. 116 Kurzprotokoll über die Besprechung im Bundeswirtschaftsministerium am 5. Dezember 1978, Kohlepfennig und Ordnungspolitik, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. Juli 1978, 2931. 117 Schreiben der VDEW an die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12. Juni 1979, HKR, Vorstand Rinke, 5366.
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sen und damit äußerst gefestigt, dass die Interessenvertretung der Gemeinden in dieser Frage an der Seite der Stromwirtschaft stand.118 Besonderes Aufsehen erregten in der Stromwirtschaft abermals Pläne aus dem niedersächsischen Wirtschaftsministerium. Das Ministerium unter der Leitung von Ministerin Birgit Breuel hatte im Bundesrat eine Gesetzesinitiative eingebracht, nach der jedes Versorgungsunternehmen seinen Gebietsschutz riskiere, sofern es nicht bereit sei, den Strom eines industriellen Großabnehmers über das eigene Leitungsnetz zu transportieren.119 Wenngleich die Chancen auf Durchsetzung dieser Vorschläge von der Bundesregierung eher zurückhaltend beurteilt wurden und im Bundesrat keine Mehrheit fanden, lief die Stromwirtschaft dagegen Sturm.120 Nach einem Gespräch mit der Ministerin stellten die RWE in einem internen Vermerk frustriert fest, dass nach einem fast zweistündigen Gespräch mit der Ministerin „wenig Bereitschaft dazu bestand, sich Sachargumente zu eigen zu machen. Frau Breuel sieht die Dinge offensichtlich ganz und gar politisch.“121 Doch woher rührte eigentlich der Antrieb der Ministerin für solche weitgehenden Reformvorhaben? Die Motivation von Breuel war tatsächlich wirtschaftspolitisch motiviert und lag in dem Ziel begründet, im Norden der Republik mehr Industriebetriebe anzusiedeln. Für dieses Ziel setzte sich die Ministerin auch im Aufsichtsrat der Preußenelektra ein. Ganz konkret handelte es sich dabei um den Versuch, im strukturschwachen Norden Niedersachsens das Chemieunternehmen Imperial Chemical Industries (ICI) von der Ansiedlung eines Werks in Wilhelmshaven zu überzeugen. Das Projekt war mit einem Investitionsvolumen von 800 Mio. DM äußerst wichtig für die Region. Das Unternehmen war dabei von der Landesregierung mit einem sehr niedrigen Strompreis geködert worden. Das zuständige Versorgungsunternehmen, die NWK, erfuhr jedoch erst im Nachhinein von den Versprechen der Landesregierung und konnte diesen Strompreis aufgrund seiner Kostenstruktur nicht anbieten.122 118 Selbstverständlich kam es in der Geschichte zwischen Kommunen und Stromwirtschaft dennoch immer wieder zu Auseinandersetzungen, vor allem, wenn Kommunen sich bezüglich der Energieerzeugung unabhängig von den Energieversorgern machen wollten. Siehe Schott, Dieter, Die Vernetzung der Stadt. Kommunale Energiepolitik, öffentlicher Nahverkehr und die „Produktion“ der modernen Stadt Darmstadt – Mannheim – Mainz 1880–1918, Darmstadt 1999; Brüggemeier, Gert / Damm, Reinhard, Kommunale Einwirkung auf gemischtwirtschaftliche Unternehmen. Am Beispiel des RWE/VKA-Konflikts, Baden-Baden 1988; Häckl, Günther, Kommunale Energiepolitik in Nordhessen, Kassel 1988; Rettich, Siegfried, Kommunale Energieversorgungskonzepte. Möglichkeiten und Grenzen, Ehningen bei Böblingen 1992; Langner, Alfred, Kommunale Energieversorgung zwischen Eigenbetrieb und Fremdbezug. Aufgaben und Grenzen, Probleme und Konzepte der Energieversorgung in Stadt- und Landkreisen, Leipzig 1992. 119 BT-Drucksache 8/2136; Briefwechsel zwischen Birgit Breuel und Wolfgang Ludwig (VKU) im November 1978, HKR, Vorstand Rinke, 5364. 120 DVG, Stand der 4. Kartellgesetznovelle vom 14. November 1978, HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, 6040. 121 Schreiben von Peter Borstelmann (RWE Osnabrück) an Günther Klätte vom 23. Februar 1979, HKR, Vorstand Rinke, 5365. 122 Brief der NWK an die niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel vom 20. Juli 1978 über die Verhandlungen bezüglich des Strompreises und weiterer vertraglicher Bedingungen
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Nun stellte sich im Zusammenhang dieses Falles die Frage, ob ein anderes Unternehmen – außerhalb des Versorgungsgebietes – in der Lage war, dem Chemieunternehmen den Strompreis zu garantieren. Da sich die NWK jedoch weigerte, eine Durchleitung über ihr Versorgungsgebiet hinweg zu gestatten, unternahm das Land einen Vorstoß im Bundesrat. Mit dem Versuch, einen Missbrauchstatbestand im GWB (§ 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4) zu verankern, wollte die Landesregierung den Energieversorger künftig unter Druck setzen, falls dieser die Durchleitung von elektrischer Energie über sein Versorgungsgebiet behinderte. Der energierechtliche Reformvorstoß hatte also einen konkreten wirtschaftspolitischen Hintergrund, nämlich die Problematik, ob ein Energieversorger zur Durchleitung über sein Netz gezwungen werden könne, um Industrieunternehmen in den Genuss preiswerten Stroms kommen zu lassen.123 Auch im Wirtschaftsausschuss des Bundestages wurde dieser Vorschlag intensiv diskutiert. Die Stromwirtschaft wies die Mitglieder dieses Gremiums schon vorab darauf hin, welche negativen Auswirkungen diese Pläne für die gesamte Energieversorgung hätten.124 Die Kritik der Stromwirtschaft an diesen Plänen traf in einem wesentlichen Punkt zu, nämlich darin, dass diese vor allem Industrieunternehmen (meist Sondervertragskunden) begünstigten. Folglich käme die Industrie in den Genuss von wettbewerbsbedingten Preissenkungen, während Haushalts-, Landwirtschafts- und Gewerbekunden nichts von diesen Vorteilen hätten oder diese gar kompensieren müssten.125 Mit dieser Argumentation war natürlich Zuspruch von der Politik zu erwarten. Vor allem Regierungsvertreter wollten im Zuge der Energierechtsreformen unbedingt den Eindruck vermeiden, dass dies zulasten der Haushaltskunden gehe. Faktisch war die preisliche Benachteiligung von Tarifabnehmern Realität, während die Strompreise für Industrieunternehmen deutlich geringer ausfielen. Dies belegt beispielhaft der Stromliefervertrag der HEW mit den Hamburger Aluminiumwerken (Reynolds), der mit einer Laufzeit von 20 Jahren im Jahr 1973 abgeschlossen wurde. Über die gesamte Laufzeit wurde den Aluminiumwerken ein Kilowattstundenpreis von 2,8 Pf garantiert. Dies verwundert umso mehr, als der Strom, mit dem das Unternehmen beliefert wurde, mehrheitlich aus dem nahe gelegenen Kernkraftwerk Stade gestammt haben dürfte. Die Erzeugungskosten lagen in diesem jedoch bei 6,3 Pf je kWh. Schlussendlich bedeutete diese drastische Verkaufspolitik der Energieversorger in diesem Fall einen jährlichen Subventionsbetrag von 50 Mio. DM.126 So erstaunlich dieses Beispiel anmuten mag, es folgte einer mindestens seit der Nachkriegszeit gängigen Handlungslogik der Stromwirt-
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der NWK mit dem Chemieunternehmen ICI (Imperial Chemical Industries), E.ON-Archiv Hannover, Bestand NWK. Bericht des Geschäftsführers zur VDEW-Vorstandsratssitzung am 15. November 1978, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. Juli 1978, 2931. VDEW, Brief an die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages vom 24. November 1978, HKR, Vorstand Rinke, 5364. Vortrag von Werner Rinke vor dem Verwaltungsbeirat der RWE am 21. Februar 1979, HKR, Ordner Hauptversammlung, Präsidialsitzung, Aufsichtsratssitzung 1978/79, 2731. Kohler, Stephan, Geschichte der deutschen Elektrizitätswirtschaft und ihre Auswirkungen auf die kommunale und regionale Energieversorgung, Freiburg 1984, S. 33.
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schaft. Denn für die Bilanz der Stromwirtschaftsunternehmen war es vor allem wichtig, Industrieunternehmen, also Sondervertragskunden, zu gewinnen. Zutreffend fasste der Vorsitzende der VDEW, Heinrich Freiberger, dieses Vorgehen zusammen: „Zusätzliche industrielle Abnahme von Stromwärme ist für die Verbesserung der Belastungscharakteristika so wesentlich, daß sich die Unternehmensleitung eines E-Werkes nicht scheuen sollte, auch größere Beträge zur Einführung bereitzustellen.“127 Die Demarkation der Versorgungsgebiete mit Ausschließlichkeitsrecht sollte nach den Vorstellungen der Stromwirtschaft unbedingt aufrechterhalten werden. Andernfalls entstünden, so das negative Szenario der Energieversorger, nach der „Rosinen-Theorie“128 einseitige Vorteile für industrielle Kunden.129 Die Stromwirtschaft traf damit einen Nerv bei den meisten Politikern, die einen gänzlich offenen Wettbewerb in der Energieversorgung ebenso ablehnten wie die Branchenvertreter. Indem die Stromwirtschaft auf die strikte Interdependenz zwischen Versorgungssicherheit und Wettbewerbsausschluss setzte, ließ sie keinen Spielraum für Reformbemühungen.130 Mit der These „[e]in bißchen gibt es nicht“131 verfolgte die Stromwirtschaft damit eine Strategie, die jegliche Reformanstrengungen hätte scheitern lassen. Damit wurde gleichzeitig eine alte Diskussion um die Energieversorgung wieder entfacht. Diese hatte sich in den vorangegangenen Jahrzehnten um die Frage gedreht, ob die Haushaltskunden über ihre Stromrechnung die Preisvorteile der Industrie mitfinanzierten. Denn von Strompreisen in Höhe von 3 Pf je kWh konnte in einem Privathaushalt nur geträumt werden, während solche Preise für große Industriekunden normal waren. Freilich ist der Hinweis der Stromwirtschaft auf unterschiedliche Preise für verschiedene Gruppen von Stromkunden durch technische Besonderheiten zum Teil gerechtfertigt. Denn während etwa eine Aluminiumhütte ihren Strom direkt aus dem Hochspannungsnetz bezieht, muss dieser für Haushaltskunden transformiert und in das weitverzweigte Niederspannungsnetz geleitet werden, was natürlich erhebliche Mehrkosten verursacht. Auch in den energierechtlichen Diskussionen mit der Bundesregierung wies die Stromwirtschaft wiederholt darauf hin, dass sie aufgrund der technischen und wirtschaftlichen Besonderheiten der Energieversorgung den Wettbewerb um einzelne Verbraucher ablehne, da dies zum Teilwettbewerb um wenige Großabnehmer
127 Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 354. 128 Dieses Vorgehen wurde auch gern als „Rosinenpicken“ bezeichnet. Darunter verstand die Stromwirtschaft, dass bei Wegfall der geschlossenen Versorgungsgebiete kein Wettbewerb entstünde, sondern dass sich einige wenige Unternehmen (meist eigenerzeugende Industrie) mit den attraktivsten Kunden versorgen und für die Stromwirtschaft nur noch die unrentablen Kunden übrig bleiben würden. 129 Gebietsschutz in der Elektrizitätswirtschaft, Ausarbeitung der juristischen Abteilung der RWE vom 14. März 1972, HKR 13662. 130 Briefwechsel zwischen Riemer und Klätte im Januar 1979, HKR, 5365. 131 Transkript des Interviews mit dem Geschäftsführer der VDEW Horst Magerl, Ein bißchen gibt es nicht, in: Wirtschaftswoche, Nr. 6, 5. Februar 1979.
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führen würde.132 Folglich versuchte die Stromwirtschaft, die Bundesregierung und die Parlamentarier davon zu überzeugen, dass Reformen des Ordnungsrahmens im Interesse aller Kunden erfolgen müssten.133 Der Hinweis, dass der Bestand des Status quo vor allem ihr selbst, der Stromwirtschaft, nutzen würde, tauchte in ihrer Argumentation nicht auf. Gegen Ende des Jahres 1979 waren die Beratungen über die Vierte Kartellgesetznovelle in die entscheidende Phase gegangen. Nun schloss auch die Stromwirtschaft nicht mehr aus, dass die Befristung der Demarkations- und Konzessionsverträge auf 15 oder 20 Jahre sowie die Möglichkeit der Nichtverlängerung durch die Kartellbehörden gesetzliche Realität würden. Die Verbandsvertreter der Stromwirtschaft schätzten die Möglichkeiten, noch einen vertretbaren Kompromiss zu erreichen, äußerst gering ein, weil die Bestrebungen zur Auflockerung des Gebietsschutzes und zur sogenannten Durchleitung weit verbreitet seien.134 Die Vierte Kartellgesetznovelle trat am 1. Mai 1980 in Kraft und brachte zahlreiche Änderungen mit sich, mit denen die Stromwirtschaft nach wie vor nicht einverstanden war. Neben der Konkretisierung des bekannten Missbrauchstatbestands führte die Novelle einen neuen Missbrauchstatbestand ein, nämlich die Verweigerung der Durchleitung. Dieser Tatbestand war dann erfüllt, wenn ein Versorgungsunternehmen sich weigerte, mit einem anderen Unternehmen Verträge über die Einspeisung und Entnahme (Durchleitung) von Energie in sein Versorgungsnetz zu angemessenen Bedingungen abzuschließen.135 Darüber hinaus wurden die Laufzeiten von Demarkations-, Verbund- und Konzessionsverträgen auf 20 Jahre begrenzt und eine Verlängerung von einer kartellrechtlichen Prüfung abhängig gemacht.136 Die Ausführungen haben gezeigt, dass in Fragen der Regulierungspraxis viele Jahrzehnte lang Kontinuität und nicht Wandel in Bezug auf die Position der Stromwirtschaft vorherrschte. Auch zunächst aussichtsreiche Versuche in den 1950erJahren, die Wettbewerbsgesetzgebung und das Kartellrecht zu reformieren, scheiterten nicht zuletzt an der wirkungsvollen Organisation der stromwirtschaftlichen 132 Siehe Antworten der Elektrizitätswirtschaft zum Fragenkatalog für die öffentliche Anhörung zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26. Februar 1979, HKR, Vorstand Rinke, 5365; VDEW, Fallbeispiele zu dem Thesenpapier über die Notwendigkeit abgegrenzter Versorgungsgebiete vom 12. Dezember 1978, HKR 5364. 133 Auch in den Medien spitzte sich die Diskussion zusehends auf die Frage zu, ob die energierechtlichen Reformen im Sinne alle Verbraucher seien. Siehe u. a. Hamm, Walter, Kampf um Gebietsmonopole, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juli 1970, S. 17. 134 Sachstandsbericht des VDEW-Vorstandsrats am 24. Oktober 1979, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1979 bis Dezember 1979, 6009. 135 Beschlußempfehlung und Bericht des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestags BTDrucksache 8/3690 vom 21. Februar 1980, S. 19; BGBl. 1980 I, S. 464. Die Beurteilung, wann im juristischen Sinne eine Verweigerung der Durchleitung angemessen (unbillig) sei, provozierte eine rechtliche Diskussion zwischen Stromwirtschaft und Kartellamt. Siehe u. a. Büdenbender, Ulrich, Mißbrauchsaufsicht und Durchleitung in der Elektrizitätswirtschaft, in: Börner, Bodo, Probleme der 4. Novelle zum GWB, Köln 1981, S. 129–190 sowie der Aufsatz von Kartellamtsdirektor Siegfried Klaue im selben Band. Siehe ebd., Probleme der Kartellaufsicht aus § 103 GWB, S. 25–40. 136 BGBl. 1980 I, S. 465.
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Interessen durch die Verbundunternehmen und ihrer Verbände. Auch die Kommunen spielten in diesem Prozess eine wichtige Rolle bei der Erhaltung des Status quo.137 Der Einfluss, den die VIK bei diesen Fragen auf die Politik nehmen konnte, war zwar ebenfalls bedeutsam. Aber letztlich konnte sich die Stromwirtschaft, trotz kleinerer Erfolge der Industrie und einiger Neuerungen im Energierecht erfolgreich gegen ordnungspolitische Reformen zur Wehr setzen. Echte Fortschritte in Richtung Liberalisierung der Strommärkte sollte erst die Fünfte Kartellgesetznovelle im Jahr 1989 bringen.138 Seit 1957 war ein Großteil der öffentlichen Wirtschaft, unter ihnen auch die Stromwirtschaft, aus dem Geltungsbereich des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ausgeklammert. Erst 1980 erfolgte für den Strombereich mit der vierten Novelle des GWB eine gewisse Auflockerung, als die Laufzeit von Demarkations-, Konzessions- und Verbundverträgen auf 20 Jahre begrenzt wurde. Zum Erhalt des ordnungspolitischen Status quo hatte die Stromwirtschaft immer auf persönliche Kontakte in den Ministerien, Parlamenten und Behörden gesetzt. Dieser Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess konnte indes nicht verhindern, dass die Legislative die Besonderheiten der Energieversorgung um 1990 nur noch bedingt als Rechtfertigung dafür akzeptierte, diese weitgehend vom Wettbewerb auszunehmen. Vielmehr unterzogen viele politische Akteure die Eigenheiten der Energieversorgung einer neuen Bewertung, wenngleich es noch bis 1998 dauern sollte, bis sich dies in Gesetzen widerspiegelte. Bei der Durchleitungsproblematik konnte die Stromwirtschaft zwar eine gesetzliche Regelung erfolgreich verhindern, sich den Verhandlungen mit der Industrie jedoch nicht entziehen. Trotz der Begrenzung der Gebietsschutzverträge rückte die Stromwirtschaft bei der Frage der Durchleitung keinen Deut von ihrer ursprünglichen Position ab. Für sie sollten „Durchleitungen auch zukünftig auf besonders gelagerte Fälle beschränkt bleiben.“139 Die Themen „Durchleitung“ und „Demarkation“ sollten um 1980 auch die Gemischte Kommission weiter beschäftigen. Diese war 1971 mit dem Ziel eingesetzt worden, Konflikte zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft auch ohne politische Intervention und gesetzliche Regelungen zu lösen. 137 Künsberg, Alexandra von, (K)eine Tabula Rasa? Der Streit um den Status der Elektrizitätswirtschaft im Energiewirtschafts- und im Kartellrecht, in: Ehrhardt, Hendrik / Kroll Thomas (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 265– 283, hier S. 279 f. 138 Siehe u. a. Tegethoff, Wilm / Büdenbender, Ulrich / Klinger, Heinz, Das Recht der öffentlichen Energieversorgung, Kommentar, Loseblattsammlung, 17. Ergänzungslieferung, Essen 1998, S. 20 f. Da die Fünfte Kartellgesetznovelle am Ende des Untersuchungszeitraums liegt, findet diese in der vorliegenden Analyse keine Berücksichtigung. Bei diesem Reformschritt spielten die Europäische Union und ihre Vorstellung zur Einrichtung eines nach Wettbewerbskriterien organisierten gemeinsamen Binnenmarktes für Elektrizität eine wesentliche Rolle. Siehe dazu u. a. BGBl. 1989 I, S. 2486; Hermann, Rüdiger, Ein gemeinsamer Markt für Elektrizität in Europa. Optionen einer Wettbewerbsordnung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1997. 139 Strukturfragen im Übertragungsnetz. Durchleitung und zentralisiertes Übertragungs- und Verbundnetz. Vermerk zur Sitzung des DVG-Ausschusses Recht am 21. Oktober 1978, HKR 5365.
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2 Marktmacht im Monopol?
2.3 DIE GEMISCHTE KOMMISSION ALS SCHLICHTERIN ZWISCHEN STROMWIRTSCHAFT UND INDUSTRIELLER KRAFTWIRTSCHAFT? KONFLIKTTHEMEN UND GEMEINSAME INTERESSEN IN UND JENSEITS DER KOMMISSION Seit den 1950er-Jahren war das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft durch eine Vielzahl von Verhandlungen über Konfliktthemen geprägt. Erste Versuche Mitte der 1960er-Jahre, strittige Fragen zwischen beiden Parteien beizulegen, führten nicht zu einem dauerhaften Frieden. Das Verhältnis zwischen beiden Seiten verschlechterte sich wieder, als die VIK im Jahr 1969 ihre sogenannte Durchleitungsstudie veröffentlichte und damit massiv den bisherigen Umgang der Stromwirtschaft mit den Industrieunternehmen kritisierte. Bereits in den frühen 1970er-Jahren wurden Modelle der stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Energieversorgern diskutiert.140 In dieser Zeit konnte man sich zumindest auf die Einrichtung einer Schiedsgerichtsstelle einigen.141 Dies stand für den Versuch, Meinungsverschiedenheiten ohne Inanspruchnahme von Behörden zu regeln. Zwar konnten sich beide Parteien auf eine Einspeisung von Überschussstrom aus Eigenanlagen der Industrie in das Netz der Energieversorger verständigen, jedoch war der Preis dafür aus Industriesicht weiterhin zu niedrig.142 Unberührt von dieser Einigung blieb die Durchleitungsfrage. Schon bei diesen Gesprächen zwischen beiden Spitzenverbänden war deutlich geworden, dass diese Fragen nicht unabhängig von der Reformierung des Wettbewerbsrechts diskutiert werden konnten. Vielmehr war offensichtlich, dass die industrielle Kraftwirtschaft ihre Haltung zu energierechtlichen Reformen davon abhängig machen würde, inwieweit ihr die Stromwirtschaft bei anderen Fragen entgegenkäme.143 Die Gespräche waren seitens Stromwirtschaft nicht ganz freiwillig aufgenommen worden. Vielmehr hatten das Bundeswirtschaftsministerium und insbesondere Minister Otto Graf Lambsdorff der Industrie wie den Stromversorgern Ende der 1970er-Jahre mit sanftem Druck signalisiert, dass eine freiwillige Lösung der Pro-
140 Modell einer stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Industrieunternehmen mit Eigenerzeugungsanlagen und Elektrizitätsversorgungsunternehmen vom 26. November 1970, HKR, VIK vom 1. Mai 1969 bis 31. Dezember 1973, 2903. 141 Schon vor der Einrichtung einer Schiedsgerichtsstelle waren Streitigkeiten zwischen Industrie und Versorgungsunternehmen zum Teil durch Gütevereinbarungen beigelegt worden. Mit diesen hatte insbesondere die Industrie gute Erfahrungen gemacht. Siehe Ernst, Hans, Der Strombezugsvertrag für industrielle Sonderabnehmer – kritische Stellungnahme zu üblichen Vertragsbestimmungen, in: VIK-Mitteilungen 2 (1971), S. 27–31, hier S. 31. 142 Nach der Interpretation der Stromwirtschaft habe der BDI, der ebenfalls an diesen Verhandlungen beteiligt gewesen ist, das bereits erzielte Ergebnis wegen Sonderinteressen seiner Mitgliedsunternehmen zunichte gemacht. Siehe Vermerk über das Vorstandsgespräch zwischen VDEW/BDI/VIK am 6. November 1972, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK bis August 1977, 2905; Modell einer stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Industrieunternehmen mit Eigenerzeugungsanlagen und Elektrizitätsversorgungsunternehmen vom 21. September 1972, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK bis August 1977, 2905. 143 Siehe ebd.
2.3 Die Gemischte Kommission als Schlichterin?
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bleme zwischen beiden Parteien favorisiert werde.144 Auch öffentlich äußerte die Bundesregierung in der Zweiten Fortschreibung des Energieprogramms die Vermutung, dass zwischen beiden Seiten bald eine „befriedigende […] privatwirtschaftliche Vereinbarung abgeschlossen [werde] und es nicht nötig sein wird, administrative Lösungen in Betracht zu ziehen“.145 Die Bundesregierung wollte mit anderen Worten von einer gesetzlichen Regelung der Konflikte zwischen industrieller Kraftwirtschaft und Energieversorgern absehen und beide Seiten selbst zu einer Übereinkunft kommen lassen. Unterdessen versuchten beide Verhandlungspartner in Briefen, vor allem an das BMWi, für ihre jeweilige Position im Ministerium zu werben.146 Im Verhandlungsprozess selbst herrschte jedoch vor allem bei der Stromwirtschaft Unsicherheit darüber vor, ob man das Ministerium über den Zwischenstand der Verhandlungsergebnisse informieren solle, um es auf diese Weise in eine Mittlerrolle zu drängen.147 Bezüglich des Verhältnisses zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft gilt es zu berücksichtigen, dass die RWE mit Abstand die meisten Industriekunden unter den Energieversorgern aufwiesen. Die Quellen geben darüber Auskunft, dass der rheinisch-westfälische Stromkonzern in diesen Fragen eine gewisse Meinungsführerschaft innerhalb der Stromwirtschaft eingenommen und seine Interessen besonders gut durchzusetzen vermocht hatte, was anderen Unternehmen der Branche zum Teil missfiel.148 Über diese Interna der Stromwirtschaft hinaus herrschte auch bei der Industrie bis weit in die 1960er-Jahre die Überzeugung vor, dass die „Erzeugung von Strom dem dafür berufenen RWE überlassen werden solle“.149 Natürlich gab es prominente Gegenbeispiele aus der Industrie, die das Erzeugungsmonopol der EVU infrage stellten. Die Energieversorger waren jedoch von der Rechtmäßigkeit ihres Stromerzeugungsmonopols überzeugt und wehrten sich daher vehement gegen die Eigenerzeugung von Strom durch die Industrie sowie dessen Durchleitung über ihr Netz. Die Gemischte Kommission, die schon im Juni 1971 erstmals zusammentrat, beschäftigte sich in den frühen 1970er-Jahren vorwiegend mit Fragen des Energieund Kartellrechts.150 Doch auch das Thema „Durchleitung“ beschäftigte die Kommission schon damals, wobei die Stromwirtschaft der Auffassung war, dass eine Durchleitung des Industriestroms nur erfolgen dürfte, sofern dies nicht zur Schädi144 Niederschrift über die 56. Sitzung des Energiepreis- und Tarifausschusses vom 14. Februar 1978, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 145 Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung vom 19. Dezember 1977, BT-Drucksache 8/1357, S. 6. 146 Siehe u. a. Brief des VIK-Vorsitzenden an Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff über den Stand der Verhandlungen mit der Elektrizitätswirtschaft vom 22. November 1977, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK ab September 1977 bis März 1978, 2906. 147 Vermerk der VDEW Abteilung Energiewirtschaft über die 8. Sitzung der Gemischten Kommission am 12. Januar 1979, S. 8 f., HKR 2908. 148 Siehe u. a. Interner Vermerk Rittstieg an Klätte vom 25. August 1977, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK bis August 1977, 2905. 149 Schreiben von Fritz Gaede (Mannesmann) an Helmut Meysenburg vom 12. Juni 1962, HKR Mannesmann, Rheinstahl, Friedrich Krupp Hütte, 1959 bis 1973, 6218. 150 VIK-Mitteilungen Nr. 5/6 (1972), S. 139.
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2 Marktmacht im Monopol?
gung anderer Abnehmer führte.151 Der Nachweis darüber war allerdings äußert schwer zu erbringen. Zwischen beiden Parteien war daher strittig, wie das Entgelt für den Transport elektrischer Energie zu berechnen sei, da die Industrie zur Übertragung ihres Stroms das Netz der Stromwirtschaft in Anspruch nahm. Folglich ging es hier insgesamt um die Frage des Leitungsmonopols der Stromwirtschaft. Bereits in der ersten Sitzung der Kommission im Oktober 1977 wurde deutlich, dass beide Seiten entschlossen waren, ihre bisherigen Positionen zu verteidigen. Ein in der Vergangenheit kaum behandeltes Problem wurde dabei von der Industrie zuerst in die Diskussion eingebracht, nämlich der sogenannte Parallelbetrieb ihrer Eigenanlagen. Parallelbetrieb bedeutete nichts anderes, als die Abnahme von Strom aus dem Netz eines Industrieunternehmens, das gleichzeitig eine Eigenanlage betrieb und damit dauernd in Verbindung mit dem EVU-Netz stand. Nach Auffassung der Stromwirtschaft entstanden ihren Mitgliedsunternehmen dabei Kosten, um das Netz stabil zu halten, indem sie zum Beispiel Frequenzeinrichtungen zur Spannungshaltung und Reservekapazitäten für die Industrie zur Verfügung stellten. Insbesondere die RWE argumentierten, dass die industriellen Eigenanlagenbetreiber diesen Service gewissermaßen kostenlos in Anspruch nahmen. Dies stelle jedoch eine zu vergütende Dienstleistung des Energieversorgers dar, für die ein marktgerechter Preis verlangt werden müsse. Die Industrie war hingegen der Meinung, dass dies dem Stromversorger keine Kosten verursachte.152 Das Parallelfahrentgelt war, so beurteilten es Beteiligte in der Rückschau, trotz inhaltlicher Berechtigung durchaus eine „kleinkarierte technische Betrachtung“, ein Versuch der EVU, „mit einer intellektuellen, akademischen Argumentation weitere Erträge zu generieren“.153 Bei dieser zunächst sehr technisch anmutenden Frage ging es auch um das Problem, ob Zusatz- und Vollstrombezieher von der Stromwirtschaft gleich zu behandeln seien. Ausgangspunkt für die Diskussion war eine neue Preisregelung, die die RWE bereits 1969 für Abnehmer mit Eigenanlagen eingeführt hatten. Über deren Zulässigkeit gab es zwischen Industrie und Versorgungswirtschaft erhebliche Differenzen.154 Die VIK hatte schon mehrfach öffentlich beklagt, dass Industrieunternehmen mit Eigenanlagen von den Stromversorgern teilweise zu schlechteren Preisen und Bedingungen mit Zusatzenergie beliefert würden als Abnehmer ohne Eigenanlage.155 Daher lautete eines der wesentlichen Ziele der Industrie in der Gemischten Kommission, die unterschiedliche Behandlung von Zusatz- und Vollstrombeziehern zu beseitigen.156
151 Vermerk der VIK über die Sitzung der Gemischten Kommission am 25. Juni 1977, HKR 2903. 152 Siehe u. a. Niederschrift über die 40. Sitzung des Energiepreis- und Tarifausschusses der VIK am 6. Oktober 1972, HKR 2903. 153 Transkript des Interviews mit Prof. Dr. Ulrich Büdenbender am 4. Februar 2010. 154 Siehe u. a. Ernst, Hans, Grundlagen der Elektrizitätswirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung von Preisregelungen in Stromlieferungsverträgen, in: VIK-Mitteilungen 2 (1974), S. 33–39. 155 Siehe u. a. Malzer, Georg, Verbot der Diskriminierung von Eigenanlagenbetreibern, in: VIKMitteilungen 3 (1974), S. 75. 156 VDEW Abteilung Energiewirtschaft, Vermerk über die erste Sitzung der Gemischten Kommission vom 19. Oktober 1977, HKR 2906.
2.3 Die Gemischte Kommission als Schlichterin?
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Aus Sicht der Energieversorger konnten Voll- und Zusatzstrombezieher jedoch nicht gleichbehandelt werden. Vielmehr waren die Unternehmen der Stromwirtschaft wie erwähnt der Auffassung, dass die konstante Frequenz- und Spannungshaltung der selbst erzeugten elektrischen Energie im industriellen Werksnetz, bedingt durch die Verbindung mit dem Netz der Energieversorger, eine zu vergütende Dienstleistung darstelle.157 Darüber hinaus wollten die Stromversorger keine Anreize für die Industrie schaffen, rentable Eigenanlagen zu errichten, indem sie deren Betrieb zusätzlich erleichterten. Die Betreiber einer industriellen Eigenanlage hingegen hatten natürlich ein Interesse daran, ihre Kraftwerke optimal auszulasten. Dieses Bestreben nach optimaler Auslastung der eigenen Anlagen konnte zum Teil sehr unterschiedlich aussehen, führte jedoch in der Regel dazu, dass vom EVU nur Bedarfsspitzen bezogen wurden. Waren also die „Fahrpläne“ zwischen Industriekraftwerk und öffentlichem Kraftwerk schlecht abgestimmt, wurde über den Preis heftig gestritten. Benötigte ein Industrieunternehmen hingegen zur Nachtzeit Strom vom EVU, war dieser meist preiswerter, weil der Stromversorger sein Kraftwerk damit gleichmäßiger auslasten konnte. Die Stromwirtschaft wollte Voll- und Zusatzstrombezieher nur dann gleich behandeln, wenn diese „in konjunkturellen Abläufen ein synchrones Verhalten in der Eigenstromerzeugung und im Fremdstrombezug“158 nachwiesen. Diese Forderung dürfte nur von wenigen Industriebetrieben zu erfüllen gewesen sein, wenn diese ihre Eigenerzeugung rentabel gestalten wollten. Die Stromwirtschaft betrieb gegenüber den Eigenerzeugern der Industrie nach wie vor eine sogenannte Preisdifferenzierungsstrategie.159 Diese hatte bereits in den 1920er- und 1950er-Jahren dazu geführt, dass zahlreiche Eigenanlagenbetreiber ihre Kraftwerke aufgegeben und einen Stromliefervertrag mit einem EVU abgeschlossen hatten. Das Prinzip funktionierte folgendermaßen: Die Energieversorgungsunternehmen boten den Eigenerzeugern systematisch niedrige Strompreise an, zum Teil an der Grenze oder gar unterhalb der Erzeugungskosten, um diese als Abnehmer zu gewinnen. Für die Industrieunternehmen wurde es dadurch zusehends unattraktiver, Strom in eigenen Kraftwerken zu erzeugen. Hatte ein Energieversorger das Industrieunternehmen erst von einer rein externen Stromversorgung oder der gänzlichen Aufgabe der Eigenstromerzeugung überzeugt, war Letzteres fast vollständig von der Preisgestaltung der EVU abhängig. Nur ganz wenige Industrieunternehmen fanden nach Aufgabe oder dem Verkauf ihrer Kraftwerke zurück zur Eigenerzeugung. Auf diese Weise war der Anteil der von der Industrie erzeugten Energie an der Gesamterzeugung seit den 1930er-Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Gleichwohl nutzte die Industrie gegenüber den Energieversorgern seit jeher die Androhung, eine Eigenanlage zu errichten, um bessere Konditionen in einem Stromliefervertrag zu erreichen. 157 Budde, Hans-Jürgen / Eichelberg, Edmund / Klätte, Günther / Müller, Rudolf / Ploke, Walter / Zillmer, Werner / Zybell, Günther, Grundsätzliche Überlegungen bei der Gestaltung von Preisregelungen für Zusatzstrom- sowie Parallelbetriebs- und Reservestromversorgung, in: Elektrizitätswirtschaft 71 (1972) 1, S. 8–12. 158 Vermerk der VDEW-Abteilung Energiewirtschaft über die Sitzung der Gemischten Kommission am 16. Februar 1978, HKR 2906. 159 Siehe dazu Kapitel 2.3.
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2 Marktmacht im Monopol?
Durch ihre rechtliche Position im EnWG waren die Industrieunternehmen stark von den Energieversorgern abhängig. Besonders Betreiber einer Eigenanlage wurden dabei anders behandelt als beispielsweise Tarifkunden. Zugunsten der Sicherheit der Energieversorgung ist dies zum Teil sogar verständlich, weil der Betrieb von Eigenanlagen mit Kraftwerken öffentlicher Unternehmen im Netz koordiniert werden muss. Bereits im EnWG von 1935 war die Ungleichbehandlung von Industrieund Tarifkunden ausdrücklich angelegt. So konnten sich Eigenanlagenbetreiber nicht auf die allgemeine Anschluss- und Versorgungspflicht nach § 6, Abs. 1 berufen, die allen Tarifabnehmern zustand. Ferner konnten sie Anschluss und Versorgung nur in dem Ausmaß erwarten, wie dies für die EVU „wirtschaftlich zumutbar“ war.160 Diese Vorschriften hatten vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und der wirtschaftspolitischen Situation der 1930er-Jahre durchaus ihre Berechtigung. Bereits seit Ende der 1950er-Jahre widersprach jedoch die Industrie der Rechtsauffassung, dass für die Belieferung der Industrie keine gesetzliche Anschluss- und Versorgungspflicht für die EVU bestehe.161 Dass diese gesetzliche Regelung auch in den 1970er-Jahren nicht verändert wurde, verdeutlicht, wie ausgeprägt die Kontinuität des ordnungspolitischen Rahmens der Energieversorgung und wie erfolgreich die Interessenvertretung der Stromwirtschaft war. Der Vorschlag der VIK, für Überschussenergie eine Art Strombörse einzurichten, stieß selbstredend 1977 bei der Stromwirtschaft auf keinerlei Zustimmung.162 Auf der Seite der Industrie nahmen vorrangig die Vorstände Axmann (Farbwerke Hoechst), Drasen (Papierwerke Aschaffenburg) und Spilling (Spillingwerke) Führungsrollen bei den Verhandlungen mit der Stromwirtschaft ein. Für die Energieversorger übernahm diesen Part, wie schon beim Thema „Durchleitung“, neben den Verbandsvertretern der VDEW, RWE-Vorstand Günther Klätte. Gerade diese Akteure sorgten mit Vorwürfen an die jeweils andere Seite dafür, dass sich die Kommissionsarbeit unabhängig von den Positionen zum Teil persönlich sehr schwierig gestaltete. Insbesondere der Inhaber der gleichnamigen Spillingwerke Hamburg wurde von RWE-Vorstand Helmut Meysenburg als prominenter Gegner der Energieversorger identifiziert, wobei seine Haltung „durch seine persönlichen geschäftlichen Interessen motiviert“ sei.163 Die Einspeisung von Überschussstrom der Industrie und vor allem die Frage, wie dieser vergütet werden sollte, blieb eines der zentralen Themen der Kommission. Dabei konkurrierten industrielle Kraftwerksbetreiber und Stromwirtschaft um Energieversorger, die elektrische Energie ausschließlich weiterleiteten, sogenannte Weiterverteiler. Letztere verfügten nur in wenigen Fällen über eigene Kraftwerke. 160 Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz vom 13. Dezember 1935), Fassung von 1978, BGBGl. I, 684. 161 Siehe u. a. Malzer, Georg, Die Auswirkungen des Kartellgesetzes auf Energieversorgungsverträge, Essen 1959. 162 Vermerk der VDEW Abteilung Energiewirtschaft über die Verhandlungen der Gemischten Kommission am 17. November 1977, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK ab September 1977 bis März 1978, 2906, S. 5. 163 Vermerk der VDEW über die stromwirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Industrie mit Eigenerzeugungsanlagen und EVU vom 18. Oktober 1972, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK bis August 1977, HKR 2905, S. 1 f.
2.3 Die Gemischte Kommission als Schlichterin?
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Insbesondere bei den RWE war man deshalb der Ansicht, dass die Stromwirtschaft sich intern auf eine Regelung bei dieser Problematik einigen müsse. Dies sollte nach Auffassung der Rechtsabteilung des Unternehmens noch vor einer Einigung in der Gemischten Kommission geschehen. Andernfalls, so befürchtete der Stromversorger, könnten die günstigen Preise industrieller Eigenerzeuger dafür sorgen, dass einige Weiterverteiler sich künftig teilweise von der Industrie beliefern ließen.164 Die Sorge der RWE scheint in diesem Punkt durchaus realistisch. Dennoch befand sich die Mehrheit der Weiterverteiler meist im Besitz der Mutterunternehmen. Von Letzteren wurde daher auch die Geschäftspolitik der Weiterverteiler wesentlich mitbestimmt. Die Haltung der Stromwirtschaft bezüglich der Einspeisung von Überschussstrom war nicht grundsätzlich ablehnend, wollte aber spezifische technische Modalitäten berücksichtigt wissen.165 Die Stromwirtschaft beharrte darauf, dass sie trotz der Überschusseinspeisung der Industrie nach wie vor Kraftwerksleistung vorhalten müsse, da die Industrieeinspeisung überwiegend unsicher und die Industrie eben kein Energieversorger mit allen Rechten und Pflichten nach EnWG sei. Die Kraftwirtschaft erspare der Stromwirtschaft keine Kraftwerkskapazität, sondern lediglich Brennstoffkosten. Das aber müsste zur Preisbemessung für Überschussstrom zugrunde gelegt werden166 und so auch in der Öffentlichkeit kommuniziert werden, wenn es darum gehe, die Preise für Stromlieferungen der EVU und der industriellen Kraftwirtschaft zu vergleichen. Vielmehr noch müssten bei den Preisen der Energieversorger alle Kosten der Erzeugung, der Leitung und Verteilung bis zum Endkunden sowie Verwaltungskosten einschließlich eines angemessenen Gewinns enthalten sein.167 Für die Stromwirtschaft war es auch von zentraler Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt die Überschussenergie aufgenommen werden sollte. Die zeitliche Dimension war deshalb wichtig, weil die Energieversorger, übrigens ähnlich wie die industrielle Kraftwirtschaft – nur in viel größerem Maße –, die optimale Auslastung ihrer Anlagen anstrebten. Die Rechtsauffassung der Stromwirtschaft dazu lautete, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen nicht missbräuchlich handelt, wenn es das Angebot der Aufnahme nicht annehme.168 Natürlich ging es bei der Frage der Überschusseinspeisung auch darum, wer sich nach wem zu richten habe. Die Stromwirtschaft war der Auffassung, dass sich die industrielle Kraftwirtschaft nach der „Fahrweise“ des öffentlichen Netzes und damit nach den EVU richten sollte.169 164 Schreiben der Rechtsabteilung zum weiteren Vorgehen in der Gemischten Kommission, Ulrich Büdenbender und Dietmar Kuhnt an Werner Rinke und Günther Klätte vom 24. Januar 1979, HKR 2908. 165 Vermerk über die 4. Sitzung der Gemischten Kommission am 3. März 1978, HKR 2906. 166 Gerhard Rittstieg, Grundsätzliche Gedanken zum Beitrag der industriellen Eigenerzeuger zu öffentlichen Elektrizitätsversorgung vom 11. Juli 1977, S. 1–5, HKR, VDEW FA „Stromwirtschaft“ ab Juli 1977 bis Juli 1978, 2922. 167 Siehe ebd. 168 Siehe ebd. 169 Vermerk der VDEW über ein Treffen zwischen VDEW und VIK am 26. August 1977, HKR 2906, S. 6.
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2 Marktmacht im Monopol?
Vor allem die juristischen Abteilungen der Stromversorger empfahlen den Unternehmensführungen, die marktwirtschaftliche Argumentation bei dieser Frage nicht zu verlassen. Nur bei einer solchen Argumentation könne „ein grundlegender Bruch mit der früheren Haltung der Elektrizitätswirtschaft und speziell des RWE“170 vermieden werden. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, wenn nicht mehr wie bisher die „Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit der Kunden betont“,171 sondern auf die Kostenerstattung gegenüber den industriellen Stromerzeugern abgehoben würde. Dies könnte nach Ansicht der RWE-Rechtsabteilung auch negative Auswirkungen auf das Verhalten des Kartellamts haben: Die Behörde würde bei einer derartigen Argumentation verstärkt darauf achten, dass die vollstromversorgten Kunden nicht die industriellen Eigenerzeuger subventionierten.172 Auch die VIK war der Auffassung, dass die Vollstrombezieher den Industriestrom nicht subventionieren dürften. Dies, so VIK-Geschäftsführer Wolfgang Brocke, sei von den Eigenanlagenbetreibern auch gar nicht gefordert.173 Dass die Stromwirtschaft ihre rechtliche wie ökonomische Position dazu nutzte, um den Ausbau und die stärkere Förderung der industriellen Kraftwirtschaft zu behindern, lag auf der Hand. Doch auch Letztere nutzte alle erdenklichen Mittel, um ihre eigene Position zu verbessern. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen stellte allerdings als erste staatliche Stelle im Jahr 1981 fest, dass die Weigerung der Energieversorger, der industriellen Kraftwirtschaft angemessene Preise für ihren überschüssigen Strom zu zahlen, erheblich dazu beigetragen habe, die „industrielle Stromerzeugung in enge wirtschaftliche Grenzen zu verweisen“.174 „Durchleitung“ war nicht zuletzt vor diesem Hintergrund eines der Reizworte in der Gemischten Kommission. Wie sensibel die Stromwirtschaft auf Durchleitungsfragen reagierte, verdeutlichen bereits Überlegungen der VDEW aus dem Jahr 1973. Im Fachausschuss Stromwirtschaft des Verbandes hatten dessen Mitglieder sogar darüber nachgedacht, für das Wort „Durchleitung“ ein möglichst kurzes Ersatzwort zu finden. Begründet wurden diese Überlegungen mit dem Umstand, dass die Bedeutungsvielfalt für Außenstehende sonst missverständlich sein und falsche Vorstellungen hervorrufen könnte.175 Aufgrund der unterschiedlichen technischen Aspekte der Durchleitung war diese Suche durchaus verständlich. Denn es handelte sich dabei nicht ausschließlich um die Aufnahme und eine zeitlich sowie mengenmäßig identische Abgabe elektrischer Energie. 170 Stellungnahme von Ulrich Büdenbender an Werner Rinke über die „Nächste Verhandlung der Gemischten Kommission. Stromwirtschaftliche Zusammenarbeit mit industriellen Eigenerzeugern“, hier Stellungnahme zu der Ausarbeitung der VDEW vom 23. November 1978, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK April 1978 bis Dezember 1978, 2907. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Vermerk der VDEW über ein Treffen zwischen VDEW und VIK am 26. August 1977, S. 7, HKR 2906. 174 Energie und Umwelt. Sondergutachten März 1981 des Rats von Sachverständigen für Umweltfragen, BT-Drucksache 9/872, S. 123. 175 Sitzung des FA „Stromwirtschaft“ am 17. November 1975, Kurzes Ersatzwort für sogenannte Durchleitung, HKR, VDEW „FA Stromwirtschaft“ vom 1. Januar 1970 bis 31. Dezember 1975, 2920.
2.3 Die Gemischte Kommission als Schlichterin?
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Die VIK hingegen betrachtete Durchleitung als „Einspeisung mit Zweckbindung“,176 eine Bezeichnung, die von der Stromwirtschaft zunächst als nicht ausreichend erachtet wurde. Erst nach zähem Ringen einigten sich VDEW und VIK darauf, dass es Durchleitung im technisch-physikalischen Sinn nicht gäbe und künftig von einer „Einspeisung von Überschussstrom mit Zweckbindung“177 gesprochen werde. Dies knüpfte wiederum an die schon oben erwähnte Frage an, ob elektrische Energie als Ware oder Dienstleistung zu behandeln sei, was das Grundverständnis der Stromwirtschaft tangierte.178 Da es sich jedoch bei der Einspeisung und Entnahme von Strom nicht um jeweils identische Mengen handelte, wollte man in der Stromwirtschaft den Eindruck vermeiden, es handele sich bei Elektrizität um eine Ware wie jede andere. Der Parallelbetrieb mit einer Eigenanlage der Industrie war nach Lesart der Stromwirtschaft durchaus mit einigen Unwägbarkeiten behaftet, auch wenn alle von der Stromwirtschaft benannten technischen Probleme, nämlich Stromverlust, Blindstrom, Reservehaltung und unterschiedliche Lastkurven bei Energieversorgern und der Industrie, durchaus lösbar waren. Auch die Industrie gestand durchaus zu, dass eine Reihe technischer Voraussetzungen erfüllt sein müssten, die noch dazu kostenaufwendig waren, um eine einspeisende Eigenanlage im Parallelbetrieb fahren zu können.179 Bei der in den Vereinbarungen zwischen VDEW und VIK verwendeten Formulierung „Einspeisung mit Zweckbindung“ vermutete man in der Stromwirtschaft, dass dabei der „Durchleitungsgedanke Pate gestanden“ habe und die Stromwirtschaft „ein wenig vom Pfad der Tugend“ abgewichen sei und damit Gefahr laufe, „sei es politisch, sei es aus kartellrechtlichen Gründen, nachgeben zu müssen“.180 Daher sollte in der Vereinbarung von einer „Einspeisung mit Programmlieferung“ gesprochen werden und die Wünsche der VIK über den Preis erfüllt werden, wozu es letztlich auch kam. Bei der Diskussion um die Durchleitung handelte es sich keineswegs um begriffliche Haarspalterei, hier wurde um zentrale Interessengegensätze gerungen: Aus der Perspektive der Stromwirtschaft sollte das Wort „Durchleitung“ allein schon deshalb vermieden werden, weil es nach Ansicht der Branche bei Politik, Administration und Öffentlichkeit eine falsche Vorstellung davon erzeuge, was bei diesem Vorgang geschehe. Für die Stromwirtschaft war das elementar und für ihre bis dato ablehnende Haltung zur Durchleitungsproblematik bestimmend. Weil sich in der Öffentlichkeit die Vorstellung festgesetzt hatte, Strom würde lediglich transportiert, war es – so ihre Befürchtung – nicht mehr weit, weitergehende Durchleitungsverpflichtungen mit dem Argument zu begründen, dass die Mitbenutzung des
176 Budde, Hans-Jürgen, Rücklieferung und Durchleitung elektrischer Energie – eine technisch wirtschaftliche Klarstellung, in: EWT 5 (1973), S. 199 ff. 177 Fernschreiben von Horst Magerl (VDEW) an Dietmar Kuhnt (RWE) vom 20. Juli 1979, HKR 13620. 178 Stahringer, Wilhelm, Durchleitung von elektrischem Strom, in: Elektrizitätswirtschaft 1961, S. 25 ff. 179 VIK-Mitteilungen 1969, S. 77. 180 Dietmar Kuhnt an Günther Klätte, Verhandlungen VDEW und VIK vom 4. Mai 1979, HKR 13620.
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Transportnetzes durch industrielle Eigenanlagen nun einmal der Preis für die Monopolstellung der Energieversorger sei.181 Den Verfechtern der Durchleitung ging es im Gegensatz dazu vor allem um den Preis dieser Dienstleistung bzw. um die Vergütung, die sie für die Abgabe ihres Überschussstroms erhalten würden. Die Unternehmen der Stromwirtschaft wollten hingegen keine attraktiven Industriekunden verlieren und zudem verhindern, dass über das „Einfallstor“ Durchleitung der energiewirtschaftliche Ordnungsrahmen reformiert würde, um den Status quo zu erhalten.182 Die Verhandlungsatmosphäre zwischen beiden Parteien wurde von der VIKSeite schon vor der Gemischten Kommission gelegentlich als „sterile Pflichtübung“ bezeichnet. Als Haupthindernis für eine gemeinsame Einigung in zahlreichen Verhandlungen zwischen Industrieunternehmen und EVU identifizierte der Industrieverband darüber hinaus den mangelnden Austausch an „belegbaren Informationen über die technischen Gegebenheiten“. Diese „Informationslücke“ habe in den Verhandlungen Missverständnisse nach sich gezogen. Ein für beide Seiten zufriedenstellendes Verhältnis könne nur hergestellt werden, wenn dieser Zustand beseitigt werde.183 Mangelnde Transparenz warf die industrielle Kraftwirtschaft den Energieversorgern auch bezüglich der Offenlegung ihrer Preise vor. Dies war jedoch auch umgekehrt der Fall. Denn die Stromwirtschaft beklagte sich darüber, dass die industrielle Kraftwirtschaft die Kosten für ihre Stromerzeugung ebenso wenig offenlegte.184 Die VIK war trotz dieser Ausgangslage davon überzeugt, dass die Energieeinsparung, die durch ihre KWK-Anlagen erbracht wurde, sich irgendwann als Argument durchsetzen werde. Daran knüpfte der Industrieverband die Hoffnung, eine bessere Förderung dieser Technologie zu erreichen. Die VIK ging davon aus, dass der Verweis auf Energieeffizienz dazu führen werde, dass die Bundesregierung die Energieversorger dazu zwingen würde, mit der Industrie mehr als bisher zu kooperieren.185 Die Stromwirtschaft war hingegen der Ansicht, dass eine solche Verpflichtung der Energieversorger unter anderem einen „Bauzwang“ von Kraftwerken zur Folge hätte.186 181 Vermerk von Büdenbender vom 12. Oktober 1978, Überlegungen zur weiteren Behandlung der Durchleitungsproblematik seitens der Elektrizitätswirtschaft, HKR 13622. 182 Auch zu Beginn der 1980er-Jahre sollte die Diskussion um das Wort „Durchleitung“ und die damit verbundenen Inhalte weitergehen. Eine extra zu diesem Zweck eingerichtete Arbeitsgruppe favorisierte für den allgemeinen Gebrauch den Begriff „Übertragung“. Eine Implementierung dieses Begriffes in den allgemeinen Sprachgebrauch nähme nach Auffassung mehrerer Mitglieder der Arbeitsgruppe jedoch viel Mühe und Zeit in Anspruch. Dennoch wollte man nichts unversucht lassen und sich ein Beispiel an den Kollegen aus der Kraftwerkssparte nehmen, die es ja geschafft hätten, dass nicht mehr von Atomkraftwerk, sondern von Kernkraftwerk gesprochen würde. Siehe Schreiben von Gerhard Rittstieg an die Mitglieder der Arbeitsgruppe Ersatz des Ausdrucks „Durchleitung für EVU“ vom 4. November 1980, HKR, Gemischte Kommission VDEW/BDI-VIK ab Februar 1980. 2909. 183 Ernst, Hans, Grundlagen der Elektrizitätswirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung von Preisregelungen in Stromlieferverträgen, in: VIK-Mitteilungen 2 (1974), S. 33–39. 184 Vermerk über die 4. Sitzung der Gemischten Kommission am 3. März 1978, S. 5, HKR 2906. 185 Niederschrift über die 49. Sitzung des Energiepreis- und Tarifausschusses am 18. November 1975, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 186 Ebd.
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Die Auffassung der Stromwirtschaft entsprach angesichts der bereits sinkenden Zuwachsraten beim Energiebedarf allerdings nicht der Realität, da insgesamt weniger Kraftwerkskapazität benötigt wurde, als man in den frühen 1970er-Jahren angenommen hatte. Demgegenüber, so die Ansicht Klättes – stellvertretend für die gesamte Stromwirtschaft – , sei der Bau von Gegendruckanlagen ein Akt der freien Entscheidung der Industrie. Dies hätte zur Folge, so Klätte weiter, dass die Kraftwerke der EVU unter Minderauslastung litten, wenn Industrieanlagen gebaut würden.187 Die Stromwirtschaft, und insbesondere der RWE-Vorstand, befürchteten jedenfalls erhebliche Nachteile für die eigene Branche. Diese waren dergestalt, so die Auffassung der RWE, dass der Bau von Industriekraftwerken zu wirtschaftlichem Verlust der Versorgungsunternehmen führen würde. Angesichts dieser Lage wollten die RWE nicht untätig bleiben. „Bei einer derartigen Konstellation“, so eine durchaus ernst gemeinte Mahnung, „habe die Kooperation ihre Grenzen“.188 Klätte meinte, dass die Industrie es unterlassen sollte, „unter Berufung auf volkswirtschaftliche Interessen, ein für Industrieunternehmen gegebenenfalls betriebswirtschaftlich ungünstiges Ergebnis der KWK dadurch ins Positive zu verwandeln, daß den EVU Nachteile zugemutet oder von diesen die Erbringung von Dienstleistungen kostenlos verlangt würden“.189 Der RWE-Vorstand lag mit seiner Einschätzung durchaus richtig, dass KWK die Erträge der Energieversorger hätte schmälern können. Diese Feststellung bejahte auch die VIK. Der Industrieverband argumentierte indes, dass beim Betreiben von Eigenanlagen die betriebswirtschaftlichen Interessen mit den volkswirtschaftlichen Interessen einhergingen.190 Einzelne Vertreter von Industrieunternehmen – hier der Vorstandsvorsitzende der Papierwerke Aschaffenburg (PWA), Edmund Drasen – erklärten sogar ausdrücklich, dass von den Energieversorgern „keine betriebswirtschaftlichen Opfer im Interesse der Volkswirtschaft verlangt würden“.191 Beide Perspektiven waren aus der Sicht ihrer jeweiligen Akteure schlüssig und verständlich. Jedoch verbarg sich dahinter auch die Frage, wie effizient Energieerzeugung künftig sein und welche Rolle industriellen Eigenerzeugern auf einem kaum existenten Energiemarkt zugestanden werden sollte. Die Stromwirtschaft hatte frühzeitig erkannt, dass es bei den Verhandlungen mit der Industrie nicht ausschließlich um die im Rahmen der Kommission behandelten Fragen ging. Vielmehr hatte die Branche im Verlauf der 1970er-Jahre ein Gespür dafür entwickelt, bei welchem Problem es sich lohnte nachzugeben, um mit dem „Gegner“ zu kooperieren.192Allerdings war dieses Verhalten nicht bei allen 187 188 189 190 191
Siehe ebd. Ebd. Ebd. Siehe ebd. Vermerk der VDEW-Abteilung Energiewirtschaft über die Verhandlungen der Gemischten Kommission am 17. November 1977, S. 5, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK ab September 1977 bis März 1978, 2906. 192 VDEW-Papier, Strukturfragen im Übertragungsnetz, „Durchleitung und zentralisiertes Übertragungs- und Verbundnetz“, S. 8, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK April 1978 bis Dezember 1978, 2907.
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Konfliktthemen gleichermaßen stark ausgebildet. Die Stromwirtschaft war durch die Politisierung der Kernenergiefrage und die energierechtlichen Reformversuche unter intensiven öffentlichen und politischen Druck geraten. Gerade aus diesen Gründen konnte die industrielle Kraftwirtschaft ein interessanter und mächtiger Verbündeter sein. Auch die Belieferung deutscher Industriekunden mit preiswertem französischen Kernenergiestrom stellte eine reale Gefahr für die deutsche Stromwirtschaft dar. Eine Kooperation mit der Industrie, dem an sich schon attraktivsten Kunden der Energieversorger, hätte also für die Stromwirtschaft durchaus sinnvoll sein können.193 Tatsächlich sahen einige Akteure in der Stromwirtschaft sehr wohl, dass zwischen ihnen und der industriellen Kraftwirtschaft eine gewisse gegenseitige Abhängigkeit bestand. Eine Einigung in der Gemischten Kommission hätte vorausgesetzt, die Leistungen beider Seiten gegenseitig anzuerkennen. Auch die VIK betrachtete die Stromwirtschaft bei einigen Themen durchaus als geeigneten Koalitionspartner. Bezüglich einer möglichen Verstaatlichung des Übertragungsnetzes war bei der VIK die Rede davon, dass durch eine „sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Versorgungswirtschaft und Industrie“ der Netzverstaatlichung oder der Bildung einer bundesweiten Netz-AG entgegengewirkt werden könne. Überhaupt schien die VIK, und namentlich ihr Geschäftsführer Brocke, der Auffassung zu sein – wie er in einem Brief an die RWE schrieb –, dass nur „das vertrauliche, intime Gespräch der richtige Weg“194 sei, um gemeinsam gegen die Verstaatlichungstendenzen vorzugehen. Beide Verbände sprachen sich entschieden gegen eine Zentralisierung der Netze wie auch gegen eine Verstaatlichung der Energieversorgung insgesamt aus.195 Freilich knüpfte die Industrie die Zusammenarbeit in dieser Frage an ein Entgegenkommen der Stromwirtschaft bei der Durchleitungsproblematik.196 Um dies zu erreichen, war die VIK zu Zugeständnissen bereit. Im Vorfeld der Anhörung zur Vierten Kartellgesetznovelle im März 1979 bot die VIK der VDEW in ihrem sogenannten Modell II an, trotz der Durchleitungsverweigerung den Gebietsschutz durch die Kartellbehörden nicht automatisch aufzuheben, sondern für eine bestimmte Frist zu gestatten. Für den Fall, dass die stromwirtschaftliche Zusammenarbeit zu einem positiven Ergebnis gelangte, stellte die VIK der VDEW sogar weitere Zugeständnisse in puncto Gebietsschutz in Aussicht.197 Eine Verstaatlichung des Übertragungsnetzes war das Schreckgespenst der großen Verbundunternehmen. Und tatsächlich deutete die Reformdiskussion Mitte der 193 Brief von Helmut Meysenburg an Dr. Helmuth Wagner, Geschäftführendes Mitglied des BDI vom 27. Oktober 1972, HKR, Gemischte Kommission BDI/VDEW/VIK bis August 1977, 2905. 194 Brief von Wolfgang Brocke an Gerhard Rittstieg und Günther Klätte vom 30. Januar 1978, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 195 Pressemitteilung der VIK vom 1. Februar 1977, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 196 VIK-Stellungnahme zum Referentenentwurf der 4. Kartellgesetznovelle anlässlich der Anhörung der Verbände im Bundeswirtschaftsministerium am 7. März 1978, S. 1–18, hier S. 15, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 197 Brief der VDEW-Hauptgeschäftsstelle an die Fachausschüsse „Recht“, „Neues Energierecht“ und „Stromwirtschaft“, HKR 2908.
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1970er-Jahre durchaus in diese Richtung. Schon 1977 waren von verschiedenen Seiten Überlegungen ordnungspolitischer Natur über die Rolle des Übertragungsund Verbundnetzes geäußert worden. Die Motive hierfür waren sehr unterschiedlich, nach Auffassung der DVG jedoch weniger von sachlichen, als vielmehr von politischen Argumenten geprägt. Einzelne Politiker glaubten, die Monopolstellung der Energieversorger könne zunächst durch die Verstaatlichung des Höchstspannungsnetzes aufgehoben werden. In eine ähnliche Richtung gingen Überlegungen, das Betreiben der Höchstspannungsnetze dürfe nicht privatwirtschaftlich geschehen und damit der Gewinnorientierung unterliegen. Um diese Strukturfragen im Übertragungsnetz im Blick zu behalten, gewisse Tendenzen frühzeitig zu erkennen und ihnen möglicherweise entgegenzutreten, gründete die DVG den Arbeitskreis „Ordnungspolitische Diskussion über das Leitungsmonopol“. Dieser sollte die Argumente der Unternehmen abstimmen und sie auf eine breite Basis stellen.198 Als erster Politiker plädierte der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer für die Verstaatlichung der Energienetze.199 Ob diese Pläne ernstgemeint waren oder nur als Drohung eingesetzt wurden, um andere Ziele zu erreichen, kann anhand der Quellenlage nicht zweifelsfrei geklärt werden. Jedenfalls waren Riemers Überlegungen eng mit dem RWE-Problem und der zögerlichen Haltung des Konzerns im Hinblick auf den Bau neuer Steinkohlekraftwerke verknüpft.200 Insofern wollte Riemer den Druck auf das Unternehmen erhöhen. Auch über andere Punkte des stromwirtschaftlichen Ordnungsrahmens versuchte Riemer die Stellung der Energieversorger infrage zu stellen. In seiner Funktion als zuständige Landesenergieaufsicht hatte Riemer bereits seit 1970 zahlreiche Missbrauchsverfahren wegen marktbeherrschenden Verhaltens gegen die Versorgungsbranche angestrengt.201 Da sich die Zahl der Verfahren von 1970 bis 1973 fast verdreifacht hatte, forderte Riemer eine Verschärfung der Verfahren. Die Stromwirtschaft versuchte sich naturgemäß gegen die Verdachtsmomente eines unzulässigen marktbeherrschenden Verhaltens zur Wehr zu setzen. Zu diesem Zweck verschickte die VDEW an alle EVU – nicht nur in NRW – Fragebögen, in der diese Auskunft darüber geben sollten, wie viele Verfahren gegen sie seit 1970 eingeleitet wurden.202 Die Energieversorger waren von einer möglichen Verstaatlichung der Übertragungsnetze wenig begeistert, jedoch war man sich nicht einig darüber, wie man diesen Plänen begegnen sollte. RWE-Vorstand Günther Klätte begrüßte ebenso wie sein Kollege vom EVS einen Vergleich mit einschlägigen ausländischen Beispielen, um die Vorteile des deutschen Systems zu verdeutlichen. Der Vorstand des Bayernwerks, Lupberger, war allerdings skeptisch, ob diesen „politischen Vorstel-
198 Geschäftsbericht der DVG vom 1. Januar bis 31. Dezember 1978, S. 1–37, hier S. 2 f., HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, 6040. 199 Schmid, Klaus Peter, Der Kampf um Strom, in: Die Zeit, 18. Februar 1977. 200 Siehe Kapitel 1.4. 201 Die Welt, 10. April 1975. 202 HKR, Ordner VDEW Verschiedenes – Mitgliederrundschreiben, 1. August 1969 bis August 1975, 2915.
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lungen überhaupt elektrizitätswirtschaftliche Argumente entgegengesetzt werden“ könnten.203 Neben der Eigentumsfrage des Übertragungsnetzes erregten vor allem die Überlegungen zur Vierten Kartellgesetznovelle Aufsehen in der Stromwirtschaft. Tatsächlich war diese geplante Gesetzesänderung in der Lage, die ordnungspolitische Position der Stromwirtschaft langfristig zu verändern. Die Kombination aus Vierter Kartellgesetznovelle und den Problemen mit der industriellen Kraftwirtschaft, so vermutete man bei der DVG, war durchaus geeignet, um grundsätzlich über die ordnungspolitische Struktur der Energiewirtschaft nachzudenken.204 Mediengerecht aufbereitet und einer breiten Öffentlichkeit zugeführt wurde die Debatte um die Verstaatlichung des Höchstspannungsnetzes durch einen in den „Tagesthemen“ der ARD ausgestrahlten Beitrag vom 26. Juli 1979.205 Im Zuge dieser Ausstrahlung sammelte die Stromwirtschaft intensiv Argumente gegen die Pläne. In internen Vermerken findet sich vor allem der Verweis auf die bewährte Struktur der deutschen Stromwirtschaft, die bis dahin eine hohe Versorgungssicherheit und günstige Strompreise garantiert hätte. Darüber hinaus argumentierte die Branche, dass die Verstaatlichung des Höchstspannungsnetzes zu einer Verstaatlichung der gesamten Elektrizitätsversorgung führe. Dies sei allein schon abzulehnen, weil dies der Struktur des deutschen Staates und seines Wirtschaftssystems widerspreche.206 Freilich waren nicht alle Argumente der Stromwirtschaft stichhaltig. Auf den ersten Blick erstaunt es, dass sie in dieser Frage den Schulterschluss mit der VIK suchte. Es war fraglich, ob eine Netzverstaatlichung für beide Seiten gleichermaßen schwerwiegende Konsequenzen gehabt hätte. Aber immerhin zogen beide an einem Strang, wenn es darum ging, die Verstaatlichung der gesamten Energieversorgung zu verhindern.207 Obwohl sich der Industrieverband vehement für die Auflockerung der Gebietsschutzverträge, eine Verbesserung der Missbrauchsaufsicht nach § 104 GWB und die generelle Stärkung der industriellen Eigenerzeuger einsetzte, wollte er keinesfalls die „Einführung einer Zentralverwaltungswirtschaft“, sondern eine „weitgehende Stärkung der marktwirtschaftlichen Elemente“,208 ein Ziel, das auch die Energieversorger stets betont hatten. Trotz der gemeinsamen Front gegen Verstaatlichungstendenzen bleibt fraglich, ob beide Seiten eine vergleichbare Auffassung von marktwirtschaftlichen Elementen in der Energiewirtschaft vertraten. Das Verhältnis zwischen industrieller Kraftwirtschaft und EVU konnte indessen kooperative Züge tragen. Dies belegen Institutionen, die die gemeinsame Zu203 DVG-Mitgliederversammlung, Bericht aus dem Ausschuss „Wirtschaft und Betrieb“, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 204 Strukturfragen im Übertragungsnetz. Durchleitung und zentralisiertes Übertragungs- und Verbundnetz. Vermerk zur Sitzung des DVG-Ausschusses Recht am 21. Oktober 1978, HKR 5365. 205 Verstaatlichungstendenzen des Höchstspannungs- und Übertragungsnetzes, ARD-Tagesthemen vom 26. Juli 1979 um 22:30 Uhr, HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, 6040. 206 Vermerk der DVG, Argumente gegen eine Verstaatlichung der Höchstspannungs-Übertragungsnetze, HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, 6040. 207 Siehe u. a. Gespräch der VDEW mit Vertretern des BDI und der VIK zu Fragen des Referentenentwurfs für ein Energieversorgungsgesetz am 26. September 1973, HKR 13662. 208 Stellungnahmen der VIK, Essen 1977, Vorwort.
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sammenarbeit koordinierten. Deren Anfänge gehen bis in die 1880er-Jahre zurück.209 So wurde 1953 die sogenannte Gesellschaft für Stromwirtschaft gegründet, deren eigentliche Wurzeln bis in das Jahr 1929 zurückreichen. Ausgangspunkt für die Aktivitäten der Gesellschaft bildeten zwei Stromlieferverträge zwischen der Vereinigte Stahlwerke AG (VSt) und den RWE. Bereits in diesen Verträgen praktizierten Stahlindustrie und Energieversorger das Prinzip der Durchleitung von Strom in ihren Geschäftsbeziehungen.210 Die VSt hatte sich in diesen Vereinbarungen verpflichtet, allen nicht in eigenen Kraftwerken erzeugten Strom von den RWE zu beziehen. Der Stromversorger zeigte sich insofern flexibel, als jedes Unternehmen der Stahlwerke seine Strombezugsmenge relativ kurzfristig erhöhen konnte.211 Im Gegenzug war das Stahlunternehmen bereit, Energie nur „als Nebenprodukt bei Durchführung der eigentlichen Produktionsaufgaben der Werke“212 zu erzeugen, während die RWE wiederum den Überschussstrom der VSt-Unternehmen aufnahmen, sofern dieser in der vertraglich spezifizierten Form erzeugt worden war. Die Verträge erfuhren eine mit geringfügigen Anpassungen versehene Fortschreibung bis in die „Ewigkeit“. Vor allem in personeller Hinsicht bestand von Anfang an eine große Nähe zwischen der Gesellschaft für Stromwirtschaft und dem Energieunternehmen. So war beispielsweise Albert Vögler in den 1920er-Jahren gleichzeitig Vorstandsvorsitzender der VSt und RWE-Aufsichtsratsvorsitzender und konnte auf diese Weise die Beziehungen zwischen RWE und dem Stahlkonzern intensiver gestalten. Einer der aktivsten Vertreter der verschärften Preisregelungen der EVU gegenüber industriellen Eigenanlagenbetreibern, Hans-Jürgen Budde, war bis 1974 bei den RWE tätig, wechselte aber 1977 ‚die Seiten‘, um eine führende Position bei der VIK zu übernehmen. Auch der mittlerweile ausgeschiedene Vorstandsvorsitzende der RWE Jürgen Großmann (2007–2012) war einst Vorsitzender des Stromausschusses der Gesellschaft gewesen. Bereits Ende der 1960er-Jahre hatte sich das Kartellamt für die Verträge der Gesellschaft mit dem Energiekonzern interessiert. Das GWB war 1957 zwar so verändert worden, dass die leitungsgebundene Stromwirtschaft nach § 103 vom Wettbewerb ausgenommen war. Jedoch unterlag nun die Preis- und Vertragspraxis der Aufsicht der Kartellbehörden, die auch die Verträge zwischen den RWE und der Gesellschaft für Stromwirtschaft prüften. Die Behörde stellte in ihrem Verfahren die Frage, ob und inwieweit die im Stahlbereich geltenden Verträge Konditionen beinhalteten, die kartellgesetzlich eine unzulässige Diskriminierung anderer Abnehmer darstell209 Auch die Gründungsgeschichte der RWE verweist auf eine enge Verbindung zur Ruhrindustrie. In diesem Sinne ist die RWE gewissermaßen die „Aufzucht“ der Ruhrindustrie. Siehe von Sternburg, Wilhelm, Das RWE im Kaiserreich 1898–1918, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“. RWE. Ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 17–40, hier S. 27 ff. 210 Gesellschaft für Stromwirtschaft (GfSt) (Hg.), 50 Jahre Gesellschaft für Stromwirtschaft. GfSt 1953–2003, Text: Herbert Strohschein, Mühlheim an der Ruhr 2003, S. 10. 211 Döring, Peter, Ruhrbergbau und Elektrizitätswirtschaft. Die Auseinandersetzung zwischen dem Ruhrbergbau und der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft um die Steinkohleverstromung von 1925 bis 1951, Essen 2012, S. 429 f. 212 Ebd., S. 429.
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2 Marktmacht im Monopol?
ten. Darüber hinaus wurde auch die Frage aufgeworfen, ob im Verhalten der RWE ein Missbrauch ihrer marktbeherrschenden Stellung lag. Um nicht in diesen Verdacht zu geraten, kündigte die RWE am 30. September 1970 vorsorglich den zwanzig Jahre zuvor geschlossenen Vertrag. Infolgedessen legten die RWE und die Vertreter der Gesellschaft für Stromwirtschaft dem Kartellamt alle ihre Unterlagen offen. Nach Klärung der Situation und der kartellrechtlichen Stellungnahme trat der Stahlwerksvertrag mit einigen Modifizierungen 1972 wieder in Kraft.213 Insbesondere in der Endphase der Verhandlungen zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft nutzten beide Seiten alle erdenklichen Möglichkeiten und jede sich bietende Gelegenheit, um ihre jeweiligen Positionen zur Geltung zu bringen. Für die Industrie waren dies vor allem die Umweltfreundlichkeit und das Einsparpotenzial ihrer Anlagen sowie die Erzeugungsnähe ihres Verbrauchs, was zu einem geringeren Bedarf an Stromübertragungseinrichtungen führte. Die Energieversorger versuchten hingegen, die bisherigen Leistungen und die Sicherheit der bestehenden Struktur der Energieversorgung hervorzuheben. Darüber hinaus hoben sie wesentlich darauf ab, dass ein Industriebetrieb kein Energieversorgungsunternehmen und somit auch nicht für die Versorgung aller Stromkunden verantwortlich sei. Diese Betrachtung ist zwar richtig, ignoriert allerdings den Umstand, dass die industrielle Kraftwirtschaft auch nie anstrebte, ein EVU mit allen Rechten und Pflichten zu werden.214 Im Verständnis der Energieversorger versuchte die industrielle Kraftwirtschaft, Vorteile für ihre Mitglieder zu erreichen, die sich zulasten aller Stromkunden auswirken würden.215 Tatsächlich ging es der industriellen Kraftwirtschaft ausschließlich um Industriebetriebe, die ihren Strom selbst erzeugten oder überschüssigen Strom ans Netz der Energieversorger abgaben oder dieses dazu nutzen wollten, ihren Strom weiterzuverteilen. Dabei erzeugten die Industriebetriebe effizient Strom und Wärme, freilich nicht mit dem primären Ziel der Versorgung aller. Dennoch war es für die Industrie nicht nachvollziehbar, weshalb sie für ihren eingespeisten Strom nicht ein angemessenes Entgelt erhalten sollte. Aus ihrer eigenen Logik heraus ist die Position der Energieversorger jedoch ebenso verständlich, denn diese wollten für die Nutzung ihrer Netze eine Gebühr von der Industrie. Für die Zusatz- und Reserveversorgung gestaltete sich die Problematik noch ein wenig komplizierter: War ein Industriebetrieb nicht in der Lage, sich zu 100 % selbst zu versorgen, was in den wenigsten Fällen gelang, musste er zusätzliche Energie vom Energieversorger beziehen. Der Preis für die Lieferung sollte auch die Vorhaltungskosten beinhalten, da der Energieversorger nicht wissen konnte, zu welchem Zeitpunkt der Industriebetrieb die Leistung benötigen würde. Hinter den Auseinandersetzungen über diese Details verbarg sich hauptsächlich die Frage, welche Seite 213 Gesellschaft für Stromwirtschaft (GfSt) (Hg.), 50 Jahre Gesellschaft für Stromwirtschaft. GfSt 1953–2003, Text: Herbert Strohschein, Mühlheim an der Ruhr 2003, S. 48 f. 214 Zusammenfassender Vermerk der VDEW Abteilung Energiewirtschaft über die 9. Sitzung der Gemischten Kommission am 13. Februar 1979, S. 6, HKR 2908. 215 Gerhard Rittstieg, Grundsätzliche Gedanken zum Beitrag der industriellen Eigenerzeuger zur öffentlichen Elektrizitätsversorgung vom 11. Juli 1977, S. 1–5, HKR, VDEW Fachausschuss ab Juli 1977 bis Juli 1978, 2922.
2.3 Die Gemischte Kommission als Schlichterin?
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die umweltfreundliche sowie betriebs- und volkswirtschaftlich bessere Energieerzeugung aufzuweisen hatte. Zur Klarstellung: Die Industrie war nie bestrebt, ein reiner Energieversorger zu werden, dennoch wies ihre Form der Energieerzeugung einige bereits beschriebene Vorteile auf. Die Stromwirtschaft hatte die Energieversorgung, wie sie gern betonte, bisher für alle Verbraucher zuverlässig gestaltet. Doch nun stand im Raum, ob sie diese für eine Verbrauchergruppe, die Industrie, preislich angemessen gestaltet hatte, ohne ihre Marktmacht zu missbrauchen. Die Verhandlungen der Gemischten Kommission waren am 27. Juni 1979 mit einer Einigungserklärung zu einem endgültigen Abschluss gekommen. Wie eingangs erwähnt, hatte dabei sanfter politischer Druck auch eine Rolle gespielt. Ohne das BMWi wäre es zu keiner Einigung gekommen, denn als die Verhandlungen zwischen VDEW und VIK im Sommer 1977 kurzzeitig unterbrochen waren, wurden diese „auf Wunsch des BMWi“216 im August 1977 wieder aufgenommen. Nach Verabschiedung der gemeinsamen Erklärung über die Intensivierung der stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit im August 1979 beeilte sich der VDEW-Geschäftsführer, dem BMWi zu signalisieren, dass aus Sicht der beteiligten Verbände nun „alle notwendigen Voraussetzungen für eine sinnvolle Ausschöpfung des Eigenerzeugungspotenzials der Industrie – insbesondere auf der Basis der Wärme-KraftKopplung“217 erfüllt seien. Ein Arbeitsausschuss, um die weiteren einzelvertraglichen Vereinbarungen zu entwickeln, sei bereits eingesetzt. Wilm Tegethoff (VDEW) schließt sein Schreiben an Ministerialdirektor Ulrich Engelmann (BMWi) mit den Worten: „Auf irgendwelche gesetzgeberische Initiativen zu diesen Fragen kann deshalb verzichtet werden.“218 Damit hatte die Stromwirtschaft eines ihrer Ziele erreicht, nämlich der staatlichen Regelung zu entgehen, weitere Reformversuche am stromwirtschaftlichen Ordnungsrahmen in engen Grenzen zu halten und die eigene Stellung im System zu manifestieren. Mit dem Erhalt des Monopols aus Netz und Erzeugung konnte die Stromwirtschaft mehr als zufrieden sein, zumal die Energieversorger der industriellen Kraftwirtschaft in einer den eigentlichen Verhandlungsergebnissen beigefügten „Energiepolitischen Einigungserklärung“ ein wichtiges ordnungspolitisches Zugeständnis abgerungen hatten: Die VIK erklärte darin, dass „im Hinblick auf die Verwertung energiesparender Eigenerzeugung der Industrie eine Änderung der bestehenden Rechtslage nicht erforderlich“219 sei. Damit war der ordnungspolitische Status quo der deutschen Stromwirtschaft quasi auf Jahre hin zementiert und Wettbewerb weitgehend ausgeschlossen. Die Verhandlungsergebnisse der Gemischten Kommission verfehlten auch in der Praxis zwischen beiden Parteien nicht ihre Wirkung: So setzten die Energiever216 So der Bericht von Klätte und Lichtenberg. Niederschrift über die Mitgliederversammlung der DVG am 1. Dezember 1977, S. 1–9, hier S. 5, HKR, DVG Verschiedenes ab 1. Januar 1977 bis 14. Juli 1978, 6039. 217 Schreiben von Dr. Wilm Tegethoff (Geschäftsführer VDEW) an Ministerialdirektor Dr. Ulrich Engelmann (BMWi) vom 5. September 1977, Stromwirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Elektrizitätswirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft, S. 1 f. 218 Ebd. 219 Energiepolitische Einigungserklärung zwischen EVU und Industrie vom 4. Juli 1979, HKR 2908.
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sorger gegen Ende der 1980er-Jahre eher auf eine Verbesserung der Stromlieferkonditionen für die Industrie, als das Risiko einer möglichen Eigenerzeugung in Kauf zu nehmen. Dabei mussten die Energieversorger der Industrie natürlich Angebote machen, die den Kosten der Eigenerzeugung nahekamen, um deren Attraktivität für die Industrie zu senken.220 Eine Strategie, wie das Eingangszitat belegt, die spätestens seit den 1960er-Jahren in der Stromwirtschaft gängige Praxis war. Ferner passten die RWE ihre Musterverträge für die Lieferung von Reserve- und Zusatzstrom tatsächlich an. Diese wurden indes bald erneut von der VIK und auch von den Landeskartellbehörden in NRW für ihre Unübersichtlichkeit kritisiert.221 Die Gemischte Kommission konnte trotz fortbestehender Differenzen in einigen Fragen Einigkeit bei bestimmten Problemen erzielen. So einigten sich Industrie und Stromwirtschaft auf Regelungen zum Parallelbetrieb. Beide Seiten beschlossen, dass der industriellen Kraftwirtschaft für den Parallelbetrieb künftig kein Entgelt mehr berechnet werden sollte. Ebenso einigten sie sich auf die Gleichbehandlung von Zusatz- und Vollstrombeziehern. Gleichwohl wurde diese Regelung mit einer entscheidenden Einschränkung versehen. In der Erklärung hieß es dazu: „Zusatzstrombezieher werden nur dann Vollstrombeziehern gleichgestellt, wenn sie in konjunkturellen Abläufen ein synchrones Verhalten in der Eigenstromerzeugung und im Fremdstrombezug nachweisen. Dieser Nachweis ist nicht erforderlich bei reinem Gegendruckbetrieb.“222 Im Klartext bedeutete dies, dass sich die industriellen Kraftwerksbetreiber mit ihren Anlagen, wie bisher, nach der Stromwirtschaft richten mussten. Ferner konnte eine Regelung zur Belieferung mit Reservestrom gefunden werden.223 Besonders erfreut zeigte sich die Industrie über die Begrenzung der Vergütung für Überschussenergie nach unten. Damit verbesserte sich die Wirtschaftlichkeit von industriellen Eigenanlagen erheblich. Differenziert nach dem Zeitpunkt der Einspeisung sowie Sommer und Winter, erhielt die Industrie vom jeweiligen Energieversorger mindestens 2,2 und maximal 4,5 Pf je kWh für ihren eingespeisten Strom. Die Stromwirtschaft legte trotz dieser weitgehenden Zugeständnisse Wert darauf, dass individuelle Regelungen zwischen industriellem Einspeiser und EVU Vorrang vor dieser generellen Regelung hatten.224 220 Im Fall von Degussa setzte der Stromweiterverteiler Elektrizitäts-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM Kassel) mithilfe der Preußenelektra auf die Bindung des Strompreises an den Gaspreis und verhinderte somit, dass die Degussa in die Eigenerzeugung ging. Siehe Gespräch der Preußenelektra mit EAM Kassel am 29. Juni 1989, E.ON-Archiv München. Gespräche mit Vorständen anderer Gesellschaften, EEA 2697. 221 Schreiben von Kuhnt an Rinke vom 5. Januar 1979, HKR 13622; Vermerk der VDEW-Abteilung Energiewirtschaft über die 7. Sitzung der Gemischten Kommission am 12. Dezember 1978, HKR 2907, S. 8. 222 Grundsätze über die Intensivierung der stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Elektrizitätsversorgung und industrieller Kraftwirtschaft vom 4. Juli 1979, S. 2, HKR 2908. 223 Stromwirtschaftliche Zusammenarbeit, in: VIK-Mitteilungen 3 (1978), S. 55 f. 224 Grundsätze über die Intensivierung der stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Elektrizitätsversorgung und industrieller Kraftwirtschaft vom 4. Juli 1979, S. 4, HKR 2908.
2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie?
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Auch die Durchleitungsfrage wurde einer Lösung zugeführt. Hinter der technischen Formel „Einspeisung mit Zweckbindung“ verbarg sich die Idee der Begrenzung der Durchleitung. Der Einspeiser (meist ein Industriekraftwerk) sollte damit nur räumlich getrennte, aber zum eigenen Unternehmen gehörende Betriebsstätten versorgen. Die Versorgung Dritter – das war immer die Befürchtung der Energieversorger gewesen – sollte weitgehend ausgeschlossen bleiben.225 Die Stromwirtschaft konnte sich also zumindest insofern durchsetzen, als die industriellen Kraftwerksbetreiber über Umwege nicht doch zum heimlichen Energieversorger und damit zum ernsthaften Konkurrenten wurden. Die Kommission hatte damit ihr Ziel erreicht und eine Übereinkunft zu wesentlichen Problemen zwischen Industrie und Stromwirtschaft getroffen.226 Doch es wäre zu schön gewesen, wenn damit alle Probleme aus der Welt geschafft worden wären. Es blieb die Frage: Wie würde sich der Zugang zum Stromnetz für verschiedene Akteure in der Energiewirtschaft gestalten und wer würde dabei den Ton angeben? Trotz des Umstands, dass Teile der Presse den „Streit um den Industriestrom“227 für beendet erklärten, fühlten sich viele Industriebetriebe hinsichtlich des Strompreises weiterhin von den Energieversorgern benachteiligt. Darüber hinaus versuchten Industriebetriebe nun häufiger, gegen diese – nach ihrer Auffassung – Benachteiligung durch die Stromwirtschaft mit juristischen Mitteln vorzugehen. Dies hatte zur Folge, dass entsprechende Verfahren im Bundeskartellamt verhandelt wurden. Beiden Themenkomplexen – der industriellen Strompreisfindung und den juristischen Mitteln zu ihrer Durchsetzung – soll im folgenden Kapitel anhand von Fallbeispielen nachgegangen werden. 2.4 ZU HOHE STROMPREISE FÜR DIE INDUSTRIE? KONKRETE MISSBRAUCHSVERFAHREN UND PREISWERTER INDUSTRIESTROM „Wenn jemand viel mächtiger ist, muß er sich im Wettbewerb auch einem Zwerg gegenüber fair verhalten.“228 Die Themen der Gemischten Kommission stellten in den 1970er-Jahren nicht ohne Grund zentrale Konfliktfelder zwischen industrieller Kraftwirtschaft und Energieversorgern dar. In den Verhandlungen der Kommission gab es trotz eines Kompromisses am Ende unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Stromwirtschaft die industrielle Kraftwirtschaft bei der Wahrnehmung ihres Erzeugungspotenzials behinderte. Während führende Vertreter der VIK diesen Umstand bejahten, wurde dies von der Stromwirtschaft verneint. Insbesondere die RWE hoben darauf ab, 225 Ebd., S. 3. 226 BT-Drucksache 9/983, S. 17. 227 Streit um den Industriestrom ist beendet, in: Süddeutsche Zeitung, 6. Juni 1979; IndustrieStrom fließt künftig auch ins öffentliche Netz, in: Frankfurter Rundschau, 12. Juli 1979. 228 So die Aussage von Hans-Jürgen Budde in der öffentlichen Anhörung vor der achten Beschlusskammer des Bundeskartellamts im Verfahren gegen die RWE am 15. Dezember 1977 in Berlin. Zit. nach: Viel Lärm um Licht, in: Die Zeit, 30. Dezember 1977.
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2 Marktmacht im Monopol?
dass die Industrie erhebliche Vorteile durch die Verbindung mit dem Netz der Energieversorger genoss.229 Gleichwohl erwartete die VIK „kein öffentliches Eingeständnis eines Fehlverhaltens der EVU“. Die Industrie habe bisher bewusst „kein Sündenregister der öffentlichen Elektrizitätsversorgung aufgestellt“, vor allem um die langjährige Zusammenarbeit nicht zu erschweren. „Dessen ungeachtet seien aber zahlreiche ‚Kümmernisse‘ in Einzelfällen vorhanden.“230 Die sogenannten Kümmernisse der VIK bezogen sich vor allem auf die Strompreise für ihre Mitgliedsunternehmen, die die Industrie an die Energieversorger zu zahlen hatten. So hatte der seit Mitte der 1960er-Jahre einsetzende wirtschaftliche Strukturwandel einige Traditionsbranchen, etwa Schiffsbau, Kohlebergbau oder Eisen- und Stahlindustrie, unter erheblichen Kostendruck gesetzt. Wenngleich dieser Strukturwandel für einzelne Branchen einer differenzierten Bewertung unterzogen werden muss, waren vor allem stromintensive Wirtschaftszweige, wie zum Beispiel die Aluminium- und Papierindustrie, von ihm betroffen,231 wo der Strompreis bis zu einem Drittel der Gesamtkosten betrug. Einerseits konnte dies ein Vorteil sein, denn mit einer entsprechend großen Abnahmemenge befand sich die Industrie in einer guten Verhandlungsposition gegenüber dem jeweiligen Energiekonzern. Andererseits setzte die Monopolsituation der Stromwirtschaft und die begrenzte Möglichkeiten der Eigenerzeugung der Verhandlungsmacht auch wieder Grenzen. Deshalb verwundert es nicht, dass die VIK nach anderen Möglichkeiten suchte, um die Situation ihrer Mitgliedsunternehmen beim Energiebezug zu verbessern. Bereits seit Mitte der 1970er-Jahre hatte die Vereinigung Anstrengungen unternommen, um über das juristische Mittel der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht der Stromwirtschaft Fehlverhalten nachzuweisen. Die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht wurde nicht zuletzt in Ermangelung von Alternativen von der Kraftwirtschaft genutzt, war sie doch von sich aus nicht in der Lage, die gesamte Struktur der Energiewirtschaft zu verändern.232 Die Missbrauchsaufsicht war neben dem Kartellverbot und der Fusionskontrolle die dritte wichtige Säule des Kartellrechts. Unter Verweis auf einen möglichen Marktmissbrauch konnte überprüft werden, ob marktbeherrschende Unternehmen ihre Position rechtswidrig ausnutzen, und da die VIK solches der Stromwirtschaft unterstellte, sah sie dieses Rechtsmittel als geeignet an.233 Dennoch räumte auch die Industrie ein, dass es durchaus schwierig sei, die Missbrauchaufsicht konkret durchzuführen.234 Denn dafür musste eine Reihe 229 Vermerk der VDEW über ein Treffen zwischen VDEW und VIK am 26. August 1977, S. 3, HKR 2906. 230 Ebd., S. 4. 231 Siehe Kapitel 2.2. Ferner: Petzina, Dietmar, Krise und Aufbruch: Wirtschaft und Staat im Jahrzehnt der Reformen 1965 bis 1975, in: Goch, Stefan (Hg.), Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Münster 2004, S. 105–135, hier S. 109; Lauschke, Karl, Wandel und neue Krisen: Die alten Industrien in den 1970er- und 1980er-Jahren, in: Goch, Stefan (Hg.), Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Münster 2004, S. 136–162, hier S. 138. 232 Siehe u. a. Mißbrauchsaufsicht über die Strompreise vom 23. September 1976 – Stellungnahme der VIK zur Stromtarifentscheidung des BGH vom 31. März 1972 (WUW/E BGH 1221), S. 2, HKR, VIK 1974 bis 1978, 2904. 233 Ebd., S. 20 f. 234 Ebd., S. 69.
2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie?
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von Daten über das jeweilige Versorgungsgebiet ermittelt werden. Im Kern lief dies wieder auf die bereits seit Beginn der 1970er-Jahre gestellte Frage hinaus, ob Strukturunterschiede den Strompreis bestimmten.235 In einem zweiten Schritt musste dann festgestellt werden, ob Energieversorger unabhängig von der Struktur des jeweiligen Versorgungsgebietes ihre Marktmacht missbrauchten. Die Industrie setzte große Hoffnungen in das Kartellamt, denn dieses hatte seit Mitte der 1970er-Jahre das Verhalten der Stromwirtschaft sehr aufmerksam verfolgt.236 Dazu ist anzumerken, dass im Hintergrund zahlreiche Verfahren des Bundeskartellamtes gegen die Unternehmen der Stromwirtschaft anhängig waren. Bei diesen Verfahren ging es genau um die von der Industrie beklagte missbräuchliche Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung durch die Energiekonzerne. Vor allem die RWE waren hierbei in die öffentliche Kritik und das Fadenkreuz der Kartellbehörden geraten. Das wohl bekannteste Verfahren wurde seit 1977 gegen die RWE geführt. Das Bundeskartellamt warf dem größten deutschen Stromversorger den Missbrauch seiner Marktmacht gegenüber der industriellen Kraftwirtschaft vor. Inhaltlich begründet wurde dieser Missbrauchsvorwurf mit dem auch in der Gemischten Kommission diskutierten „Parallelfahrentgelt“ sowie dem Vorwurf, dass die RWE ihren industriellen Konkurrenten nicht genug für den eingespeisten Strom bezahlen würde. In einer fünfstündigen Anhörung setzten sich die RWE am 15. Dezember 1977 in Berlin gegen die Vorwürfe des Kartellamts zur Wehr und betonten abermals, dass industrielle Eigenerzeuger eben nicht mit anderen Industriekunden vergleichbar seien und daher zu Recht besondere Gebühren zu zahlen hätten. Den Ausgangspunkt für das Verfahren bildete das Vorgehen der RWE gegen verschiedene Industriebetriebe, die darüber klagten, dass sie ihren überschüssigen Strom gar nicht oder wenn, zu einem niedrigen Preis an die RWE verkaufen könnten bzw. müssten. Besonders die PWA standen dabei im Fokus von Öffentlichkeit und Kartellamt. Der bayerische Papierkonzern wollte mit dem Dampf, der im üblichen Produktionsprozess entstand, eine Turbine antreiben. Der so erzeugte Strom hätte eine Stadt mit 12.000 Einwohnern versorgen können. Die PWA hatten diese Pläne aufgegeben, weil die RWE diesen Strom nur zu einem niedrigen Preis in ihr Leitungsnetz einspeisen wollten.237 Interessanterweise war PWA-Vorstand Drasen einer der aktivsten Vertreter in der Gemischten Kommission aufseiten der industriellen Kraftwirtschaft gewesen. Besonders beim Problemfeld der Überschusseinspeisung und deren Vergütung hatte sich der Vertreter der PWA stark engagiert.238 235 Ernst, Hans, Bestimmen Strukturunterschiede den Strompreis?, in: VIK-Mitteilungen 2 (1972), S. 36–39. 236 So bewertete Siegfried Klaue, Direktor der achten Beschlussabteilung des Bundeskartellamts, das Verhalten der Stromwirtschaft durchaus kritisch. Siehe u. a. Klaue, Siegfried, Energieversorgungskonzepte aus der Sicht des Bundeskartellamtes, in: ZfE 10 (1986) 3, S. 206–207; ders., Die „neue“ Missbrauchsaufsicht nach § 103 GWB über Unternehmen der Versorgungswirtschaft, in: EWT 30 (1980) 8, S. 586–591; ders., Kartellpolitische Novellierungsvorstellungen für den Bereich der leitungsgebundenen Energiewirtschaft, in: ZfE (1978) 3, S. 214–219. 237 Siehe „Stromversorgung: Nicht mehr haltbar“, in: Der Spiegel, Nr. 28, 9. Juli 1979, S. 74–77, hier S. 77. 238 Siehe Zusammenfassender Vermerk der VDEW-Abteilung Energiewirtschaft über die 8. Sitzung der Gemischten Kommission am 12. Januar 1979, S. 5 f., HKR 2908.
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Das Kartellamt teilte die Auffassung der Industrie im Wesentlichen und wollte die „Behinderungspraktiken“ der Stromwirtschaft gegenüber der industriellen Kraftwirtschaft in „kürzester Zeit“ abschaffen.239 Darüber hinaus war die Behörde der Ansicht, dass die Behandlung der industriellen Stromerzeugung aus KWK den energiepolitischen Zielsetzungen entgegenstehe. Die RWE meinten jedoch, dass das Kartellamt nur über eine wettbewerbliche Prüfung der Verträge zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft und nicht über allgemeine energiepolitische Fragen zu befinden habe.240 Das Bundeskartellamt nahm den Fall der RWE mit den PWA als Ausgangspunkt, um im Missbrauchsverfahren alle Vertragsfragen für Eigenerzeuger einer kartellrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Die RWE zeigten sich befremdet über das Vorgehen der Behörde, eben nicht nur den Einzelfall, sondern die gesamten Vertragsfragen zu prüfen.241 Ebenso verwundert zeigte man sich beim Stromversorger darüber, dass das Kartellamt, obwohl sich nach Auffassung des Unternehmens seit 1971 nichts an der Vertragspraxis mit der Industrie geändert hatte, nun ein Verfahren einleitete.242 Ein entsprechendes Rechtsgutachten, das die RWE in Auftrag gegeben hatten, bestätigte die Auffassung des Stromversorgers, dass die Musterverträge des Unternehmens schon 1971 vom Kartellamt geprüft, damals aber kein Missbrauch festgestellt worden sei und insbesondere das Parallelfahrentgelt sachlich gerechtfertigt sei.243 Das Handeln des Kartellamts bei diesem Verfahren spielte also eine wichtige Rolle, denn die Rechtsgrundlagen hatten sich seit Beginn der 1960er-Jahre kaum verändert: Die Stromwirtschaft beherrschte auch zu diesem Zeitpunkt schon den Großteil des deutschen Energiemarkts und war darüber hinaus in der Lage, unliebsame industrielle Konkurrenz an ihrer freien Entfaltung zu hindern. Die Wettbewerbsaufsicht sah wohl erst 1977 einen Grund einzuschreiten, weil sich aus ihrer Sicht die energiepolitische Landschaft verändert hatte und Energieeinsparung eine höhere Priorität als zu Beginn des Jahrzehnts genoss.244 Schließlich wurde das Verfahren gegen die RWE am 6. Februar 1978 eingestellt. Die RWE erhielten dabei ihren Rechtsstandpunkt aufrecht, dass eine missbräuchliche Ausnutzung der Marktmacht durch das Unternehmen nicht vorliege. Gleichzeitig erklärte sich der Stromkonzern jedoch bereit, einige vom Kartellamt beanstandete Verhaltensweisen aufzugeben.245 In seiner Begründung erkannte das Kartellamt alle Erklärungen der RWE an und erklärte den Missbrauchsvorwurf daher als ausgeräumt. Die Erklärung der RWE, dass das Entgelt für den Parallelbe-
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Schreiben der RWE an das Bundeskartellamt vom 29. November 1977, HKR 2906. Siehe ebd. Schreiben der RWE an das Bundeskartellamt vom 29. November 1977, HKR 2906. Schreiben der RWE an das Bundeskartellamt vom 30. Januar 1978, HKR 2906. Rechtsgutachten der Rechtsanwälte Bruckhaus, Kreisfels Winkhaus & Lieberknecht für das Bundeskartellamt im Mißbrauchsverfahren gegen die RWE am 28. Januar 1978, S. 3, HKR 2906. 244 Aktenvermerk der juristischen Abteilung der RWE, Entwicklung und Ablauf des Verfahrens vom 9. Februar 1978, HKR 2906. 245 Mißbrauchsverfahren gegen RWE eingestellt, in: VIK-Mitteilungen 1 (1978), S. 25.
2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie?
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trieb im Zuge der KWK mit entsprechender Einsparung an Primärenergie zukünftig entfallen sollte, genügte der Behörde zur Ausräumung des Missbrauchsvorwurfs.246 Interessanterweise fand genau diese Regelung auch Eingang in die Vereinbarung zwischen VIK und VDEW im Rahmen der Gemischten Kommission, wenngleich in den Verhandlungen – auch nach der Entscheidung des Bundeskartellamtes – sehr hart gerungen wurde.247 Die Gleichbehandlung von Zusatzstrombeziehern und Vollstrombeziehern, sofern sich Letztere wie Vollstrombezieher verhielten und dies nachwiesen (d. h. in konjunkturellen Abläufen ein synchrones Verhalten in der Eigenstromerzeugung und im Fremdstrombezug an den Tag legten),248 reichte dem Kartellamt als Erklärung aus. Die Erklärung der RWE zum dritten Vorwurf schien für die Behörde ebenfalls ausreichend zu sein, um den Missbrauchsvorwurf schließlich fallen zu lassen. Darin verpflichteten sich die RWE, Überschussstrom aus der KWK mit entsprechender Einsparung an Primärenergie in ihr Netz aufzunehmen und angemessen zu vergüten. In allen Punkten ging die Behörde davon aus, „daß hierzu alsbald eine befriedigende Regelung innerhalb der Verbandsgespräche getroffen“ werde.249 Wie ernst die Entscheidung des Kartellamts von den RWE und der VDEW genommen wurden, zeigen nicht nur interne Briefwechsel und die Kommunikation mit dem Bundeskartellamt, sondern auch die intensive Öffentlichkeitsarbeit in dieser Sache. So zeigte sich der Geschäftsführer der VDEW, Wilm Tegethoff, enttäuscht über die nach seiner Auffassung sachlich falsche Berichterstattung über das Kartellverfahren: „Es kann also keine Rede davon sein, dass – wie in der Tagespresse immer wieder zu lesen war – das Bundeskartellamt den eigentlichen Impuls für die Bereitschaft der Elektrizitätswirtschaft gegeben habe, mit der Industrie zu verhandeln.“250 Auch in einem Schreiben an das BMWi wurde nach der Einstellung des Missbrauchsverfahrens seitens der RWE ähnlich argumentiert und über das Vorgehen des Bundeskartellamtes Beschwerde geführt, wenn es heißt: „Das Bundeskartellamt hat sich durch die Eröffnung des Verfahrens aus unserer Sicht unzulässig zum Vollstreckungsinstrument energiepolitischer Ziele gemacht. Dies war umso weniger erforderlich, als bereits wenige Tage zuvor, und zwar am 17. November 1977, die VDEW unter unserer Mitwirkung gegenüber der VIK konkrete Vorschläge zur Anpassung der Musterverträge für die stromwirtschaftliche Zusammenarbeit mit der industriellen Kraftwirtschaft unterbreitet hat. Hiermit sollte den von der Bundesregierung an die Versorgungswirtschaft herangetragenen Wünschen Rechnung getragen werden, einen Beitrag zur Energieeinsparung zu leisten.“251
246 Schreiben des Bundeskartellamtes an die RWE vom 6. Februar 1978, HKR 2906. 247 Schreiben der VDEW an Dr. Engelmann am 8 März 1978, HKR 2906; siehe Sitzung der Gemischten Kommission am 16. Februar 1978, S. 2, HKR 2906. 248 Gesamtpaket an Vorschlägen der VDEW-Verhandlungskommission an die BDI/VIK-Verhandlungsgruppe bei den Gesprächen zur stromwirtschaftlichen Zusammenarbeit am 17. November 1977, HKR 2906. 249 Schreiben des Bundeskartellamtes an die RWE vom 6. Februar 1978, S. 3, HKR 2906. 250 Brief von Wilm Tegethoff, Geschäftsführer VDEW an Wolf Dieter Mandel, Zeitschrift für kommunale Wirtschaft am 14. Februar 1978, HKR 2906. 251 Schreiben der RWE an das BMWi vom 14. Februar 1978, HKR 2906.
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Auch die RWE zeigten sich sehr besorgt über die negative Berichterstattung in der Presse, vor allem weil das Unternehmen das Kartellamt gebeten hatte, bei Einstellung des Verfahrens behutsam gegenüber der Presse zu argumentieren.252 Stattdessen sei noch vor der Einstellung des Verfahrens am 24. Januar 1978 ein vom Bundeskartellamt „ausgehender Artikel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung [erschienen], daß RWE auf die Forderungen des Bundeskartellamtes eingehen werde. Angesichts der Bedeutung eines Missbrauchsvorwurfes in der Öffentlichkeit sowie des mit außerordentlicher Publizität betriebenen Verfahrens hat uns die Art der Einstellung zu Unrecht in Misskredit gebracht.“253 Unabhängig von der Frage, ob das Bundeskartellamt den Zeitungsbericht lanciert hatte oder nicht, waren die RWE zu Recht um ihr Bild in der Öffentlichkeit besorgt. Sie zogen weitreichende Schlüsse aus dem ganzen Prozedere und machten entsprechende Ankündigungen gegenüber dem BMWi wie auch gegenüber dem Bundeskartellamt, dessen Präsident, Prof. Wolfgang Kartte, eine Kopie des Schreibens erhalten hatte. Die RWE zogen gegenüber dem BMWi folgendes Fazit aus dem Kartellverfahren: „Nachträglich gesehen war die Bereitschaft des RWE zum Entgegenkommen gegenüber den energiepolitischen Wünschen der Bundesregierung kartellrechtlich falsch. Sollte das Bundeskartellamt weiterhin versuchen, über die Missbrauchsaufsicht hinaus Energiepolitik zu treiben und entsprechend der Einstellungsverfügung in diesem Zusammenhang energiepolitische Erwartungen aussprechen, so müssen wir bereits jetzt vorsorglich darauf hinweisen, daß wir uns in Zukunft mit kartellrechtlich nicht relevanten Zugeständnissen zurückhalten müssen. Hierzu bitten wir um ihr Verständnis.“254 Mit den Zugeständnissen an das Kartellamt übte das Verfahren eine strukturierende Wirkung auf die Verhandlungen der Gemischten Kommission aus. Die Zugeständnisse der Stromwirtschaft konnten nun nicht mehr hinter diese Ergebnisse zurückfallen. In dieser Hinsicht bildete das Kartellamt eine wichtige Einflussgröße für die Verhandlungen zwischen Stromwirtschaft und Industrie, und deshalb kann das Ergebnis des Missbrauchsverfahrens gegen die RWE durchaus als Teilerfolg für die Industrie und die Kartellbehörden interpretiert werden. Insbesondere das Wegfallen des Parallelfahrentgeltes kam auf Betreiben des Kartellamts zustande.255 Gleichwohl versuchte die Stromwirtschaft, jeglichen Handlungsspielraum gegenüber der Industrie auszunutzen. So wies beispielsweise RWE-Vorstand Günther Klätte die VEW darauf hin, dass die Zusagen seines Unternehmens gegenüber „dem Kartellamt nur die RWE binden, aber nicht die VEW“.256 Ein juristisches 252 Siehe u. a. RWE gab Kartellamt nicht nach, in: Frankfurter Rundschau, 16. Februar 1978; Handelsblatt, 8. Februar 1978, S. 2; Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Blick durch die Wirtschaft“, 10. bzw. 14. Februar 1978; RWE contra VIK, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Blick durch die Wirtschaft“, 21. Dezember 1977. 253 Schreiben der RWE an das BMWi vom 14. Februar 1978, S. 2, HKR 2906. 254 Ebd. 255 Fax des Bundeskartellamtes an die RWE vom 30. November 1977, HKR 2906; siehe Handschriftliche Notiz mit Anlagen über die Risiken aus den Verhandlungen mit der VIK vom 12. Dezember 1977, HKR 2906. 256 Vermerk der über die Sitzung der Gemischten Kommission am 16. Februar 1978, S. 4, HKR 2906.
2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie?
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Grundsatzurteil zugunsten der Industrie bedeutete jedoch nicht zwangsläufig, dass sich in der Praxis etwas änderte. Mit dem Verfahren und den Ergebnissen der Gemischten Kommission waren die Konflikte zwischen Industrie und Stromwirtschaft um 1980 keinesfalls ausgeräumt. In der Folgezeit wurden sie von den großen Stromversorgern meist ökonomisch gelöst. Die schon in Kapitel 2.3 benannte Preisdifferenzierungsstrategie führte dazu, dass Betreiber von KWK-Anlagen durch eine flexiblere Preisgestaltung der Stromwirtschaft zur Aufgabe ihrer Eigenerzeugung bewegt wurden oder erst gar keine Anstrengungen in dieser Richtung unternahmen. Auch in den 1990erJahren wurde diese Praxis fortgesetzt, was dazu führte, „dass der Anteil des in KWK-Anlagen erzeugten Stroms im Jahr 2000 in Deutschland bei knapp über 10 % lag, während er in Dänemark, in den Niederlanden und in Finnland deutlich über 20 % erreichte“.257 Die Verträge zwischen der Industrie mit der Stromwirtschaft boten jedenfalls stetiges Konfliktpotenzial. Die Verhandlungen der Energieversorger und der Industrie um Stromlieferverträge offenbarten vor allem, dass diese machtpolitische Aushandlungsprozesse waren. Das Handeln der Energieversorger wurde dabei wesentlich von der Frage bestimmt, welche Bedeutung und Machtposition der Industriebetrieb aufwies, mit dem verhandelt wurde.258 Große Industrieunternehmen wie Bayer oder Hoechst konnten ganz anders mit Energieversorgern umgehen als kleinere Unternehmen und entsprechend wurde mit ihnen seitens der Stromwirtschaft auch umgegangen. Auch die persönlichen Beziehungen spielten in der Aushandlung von neuen oder der Fortsetzung von alten Stromlieferverträgen eine wichtige Rolle. Ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Industrie und EVU bestand aber immer, vor allem bezüglich der Preisfindung. Zum Teil hingen die Auseinandersetzungen aber auch mit den verschiedenen Persönlichkeiten zusammen. Wenn beispielsweise ein Vorstandswechsel stattfand, betrachtete man vermeintliche Probleme aus der Vergangenheit in einem ganz anderen Licht, wenn man sich persönlich besser verstand.259 Dass Industrie wie EVU jedoch auch kooperative Wege beschritten, wurde bereits erwähnt: So war zum Beispiel Hoechst Ende der 1970er-Jahre dazu bereit, Strompreiserhöhungen zu tolerieren und Kunde der RWE zu bleiben, sofern die Erhöhung zeitgleich mit der für den Konkurrenten Bayer stattfände.260 Aufschlussreich für das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft waren vor allem die konkreten Vertragsverhandlungen zwischen beiden Parteien. Während Hoechst und Bayer eine ausgezeichnete Verhandlungsposition gegenüber der Stromwirtschaft, in diesem Fall den RWE, besaßen, waren zum Beispiel die Möglichkeiten der PWA, auf die RWE Druck auszuüben, einge257 Mener, Gerhard, Stabilität und Wandel in der Energieversorgung: Geschichte der Sonnenenergie und der Kraft-Wärme-Kopplung, in: Ehrhardt, Hendrik / Kroll, Thomas, Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 179–190, hier S. 186. 258 Siehe u. a., HKR, RWE/Bayer, Stromlieferungsverträge 1957 bis 1973, C1/234. 259 Transkript des Interviews mit Gerhard Rittstieg am 10. März 2009 in Essen. 260 Vermerk von Gerhard Rittstieg über ein Telefonat mit Helmut Axmann (Hoechst) am 6. April 1978, HKR, RWE/Farbwerke Hoechst, 6241.
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schränkt, weil die PWA deutlich weniger Strom abnahmen. Ferner waren Bayer und die Badische Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) eher in der Lage, Eigenerzeugungsanlagen aufzubauen als kleinere Unternehmen.261 Diese unterschiedlich starke Verhandlungsmacht drückte sich vor allem in den Preisen aus, die die jeweiligen Unternehmen für ihren Strom bezahlen mussten.262 Gleichwohl gestalteten sich die Verhandlungen zwischen der PWA und den RWE seit 1973 durchaus kooperativ. Die RWE waren bereits im Juli 1974 über die Belieferung von zwei Werken des Papierunternehmens mit den PWA handelseinig geworden.263 Erst das spätere Kartellverfahren, bei dem die PWA gewissermaßen als repräsentatives Beispiel für die Beziehungen zwischen Stromwirtschaft und Industrie fungierte, erschwerte die Verhandlungen zwischen beiden Unternehmen erneut. Durch das Kartellverfahren 1977/78 mischte sich auch die Politik zusehends stärker in das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und Industrie ein. So wollte das BMWi im Juni 1977 von den RWE wissen, welchen Preis die PWA für die Einspeisung ihres Überschussstroms vom Energieversorger erhalte. Die Preise bewegten sich zwischen 2,0 und 3,3 Pf je kWh, wie in derartigen Verträgen üblich, aufgeschlüsselt nach Winter- und Sommerzeit und nach Tages- und Nachttarif.264 Dies entsprach den branchenüblichen Vergütungssätzen, obwohl die Industrie für die Abnahme von Strom differenziert nach Branche meist aber das Doppelte entrichten musste, so auch im Fall der PWA. Die Durchschnittspreise der RWE für Sondervertragskunden der Aluminiumindustrie lagen bei 3,3 Pf je kWh, während sie in der Chemiebranche 5,5 Pf je kWh betrugen.265 Für alle Sondervertragskunden (also auch Nichtindustriekunden) bewegten sich die Preise des RWE im Jahr 1979 zwischen 4,69 und 6,01 Pf je kWh.266 Die Vertragsverhandlungen zwischen Stromwirtschaft und stromerzeugender Industrie wurden auch von der Frage bestimmt, welches Potenzial die KWK insgesamt aufwies. Wie schon in Kapitel 2.2 verdeutlicht, lagen die Auffassungen beider Parteien dazu weit auseinander. Während die VIK von ca. 21.000 MW an Ausbaupotenzial ausging, lagen die Zahlen der Stromwirtschaft weit darunter.267 Zusätzliche Brisanz erhielt die Frage des KWK-Potenzials durch einen Beitrag in den Ta261 Siehe u. a. Stromlieferungs- und Durchleitungsvertrag zwischen RWE und BASF: Direktionsabteilung, Stromliefervertrag mit der BASF 1953–1964, HKR C1/203; Stromliefer- und Durchleitungsvertrag zwischen RWE und VEW vom 26. November 1980, HKR, Direktionsabteilung, Stromlieferverträge mit der BASF 1975–1984, HKR C1, 288; Vertrag zwischen Bayer und RWE vom 10. April 1969, HKR C1/234. 262 Vertrag zwischen Bayer und RWE vom 10. April 1969, Anlage 2, S. 10, HKR C1/234; Stromlieferungs- und Durchleitungsvertrag zwischen RWE und Papierwerke Aschaffenburg (PWA) vom 16. Juli 1974, HKR, RWE/Papierwerke Aschaffenburg, 1949 bis 1978, Anlage 2, S. 1, C1/128. 263 Akte HKR, RWE/Papierwerke Aschaffenburg, 1949 bis 1978, C1/128; Brief von RWE Papierwerke Aschaffenburg (PWA) vom 18. Dezember 1973 über die elektrische Energieversorgung der Werke in Aschaffenburg und Stockstadt, HKR C1/128. 264 Schreiben der RWE an das BMWi vom 11. Juli 1977, HKR 2906. 265 Notiz über das Gespräch des RWE-Vorstandes mit Friedrich Wilhelm Christians (Deutsche Bank) am 27. Oktober 1978, HKR W8/2. 266 Preise für Sondervertragskunden 1979, HKR 11832. 267 Schreiben der VIK an die RWE vom 9. Mai 1977, HKR 2906.
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gesthemen des WDR vom 24. März 1977. Darin wurde beispielhaft auf den Fall PWA eingegangen und auch der Vorstandsvorsitzende der PWA Drasen kam darin ausführlich zu Wort.268 Der Beitrag hob vor allem darauf ab, dass mit überschüssigem Dampf aus Produktionsprozessen der Papier- und Chemieindustrie ein beachtliches Energiepotenzial bereitstehe, das derzeit ungenutzt blieb. Konkret wurde dabei auf die bereits erwähnte mögliche Erweiterung des Werks Stockstadt der PWA verwiesen, die mit einer einfachen Stromerzeugung aus Dampf verbunden gewesen wäre. In der Sendung wurde behauptet, dass diese Investition an der Weigerung des Stromversorgers, den produzierten Strom entsprechend zu vergüten, gescheitert sei. Die RWE widersprachen dieser Feststellung: Mit ihnen sei nie über ein derartiges Vorhaben gesprochen worden.269 Diese öffentliche Zurschaustellung des Konflikts erregte vor allem die Gemüter der RWE-Verantwortlichen. Der Beitrag, so RWE-Direktor Gerhard Rittstieg270 in einem Brief an die VIK, gebe unzutreffende Details über die Verhandlungen seines Unternehmens mit den PWA wieder. So seien die Inhalte einer Vergütung von Überschussstrom im Gegenwert der Versorgung einer Stadt mit 12.000 Einwohnern durch die PWA sowie die Preisregelung des Parallelfahrens verkürzt oder falsch wiedergegeben worden.271 Der Beitrag hatte tatsächlich eindeutig Stellung für die Positionen der industriellen Kraftwirtschaft bezogen. Auch der VIK-Geschäftsführer kam darin zu Wort. Als der Reporter ihn fragte, was sich denn jenseits der gesetzlichen Missbrauchsaufsicht sowie einer besseren Position der industriellen Kraftwirtschaft im EnWG ändern müsse, antwortete dieser: „In erster Linie müßte sich die Verhaltensweise der EVU etwas ändern, die innere Mentalität. Das allein wäre schon erheblicher Fortschritt.“272 Gemeint war damit, dass die Unternehmen der Stromwirtschaft ihr jahrzehntelang eingeübtes Handeln als Monopolisten verändern und damit ihre ablehnende Haltung gegenüber anderen Formen der Stromerzeugung ablegen sollten. Dies blieb allerdings ein Wunschdenken der industriellen Kraftwirtschaft. Einzig über juristische Mittel und energiepolitisch wünschenswerte Ziele wie Energieeinsparung schien man die Haltung der Stromwirtschaft aufweichen zu können. Auch die Politik schließlich sollte als Genehmigungsbehörde eine wichtige Rolle im Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und Industrie spielen. Die Stromwirtschaft erwartete hinsichtlich der Genehmigungspraxis bei Sondervertragskunden geradezu ein Entgegenkommen der Politik. In den 1970er-Jahren herrschte jedoch in verschiedenen Ministerien und im Bundeskartellamt eine positive Einstellung gegenüber der Verschärfung des Preis- und Kartellrechts vor. Dies wurde nicht zuletzt durch den Umstand befördert, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen 268 VIK, Fernsehsendung über Energiepolitik am 24. März 1977 im WDR, 20:15 Uhr, Tagesthemen, HKR 2906. 269 Ebd., S. 3. 270 Rittstieg war, als Direktor der energiewirtschaftlichen Abteilung der RWE, wichtiger Gegner der Durchleitung in der deutschen Stromwirtschaft und mit seinem Vorgesetzten Günther Klätte einer der maßgeblichen Protagonisten in der Gemischten Kommission. 271 Schreiben der RWE an die VIK vom 5. Mai 1977, HKR 2906. 272 VIK, Fernsehsendung über Energiepolitik am 24. März 1977 im WDR, 20:15 Uhr, Tagesthemen, S. 6, HKR 2906.
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2 Marktmacht im Monopol?
Stromwirtschaft und industrieller Kraftwirtschaft in puncto Strompreise, Eigenerzeugung und Durchleitung auf einem Höhepunkt befanden. So gab zum Beispiel das Mitglied des Verwaltungsausschusses eines EVU in den 1970er-Jahren zu bedenken, ob es für gewisse industrielle Sonderabnehmer angesichts von Strompreiserhöhungen nicht interessant wäre, eine bislang „wegen Unrentabilität eingemottete Eigenanlage“273 wieder in Betrieb zu nehmen? Bei der Preußenelektra schien man sich dieses Umstands völlig bewusst zu sein.274 In den 1970er-Jahren kritisierte nicht nur die industrielle Kraftwirtschaft das Vorgehen der Stromwirtschaft in Strompreisfragen. Auch in der Stromwirtschaft selbst wurde Kritik laut. Vor allem in energiewirtschaftlichen Fachzeitschriften machte sich Führungspersonal der Branche seit Mitte der 1970er-Jahre darüber Gedanken, ob es einen „politischen oder ökonomischen“ Strompreis gebe.275 Auslöser war ein Unbehagen der Stromwirtschaft darüber, dass diese sich vermehrt zu politisch induzierten Strompreiserhöhungen gezwungen sah. Aus der Sicht der Stromwirtschaft griff die Politik als Regulator der EVU zu weit in die Unternehmensbelange ein. Auch die Auseinandersetzungen mit der industriellen Kraftwirtschaft taten ihr Übriges. Der internationale Vergleich der Strompreise, und hierbei insbesondere der Blick nach Frankreich, erregte bei den Energieversorgern und vor allem bei den RWE immer wieder Aufmerksamkeit.276 Wurden sonst von der Stromwirtschaft bei jeder sich bietenden Gelegenheit die verstaatlichten Zustände in anderen europäischen Ländern dazu genutzt, die Vorzüge des deutschen Energiesystems hervorzuheben, verhielt es sich diesmal etwas anders: Die RWE sorgten sich vor allem darüber, dass die Franzosen so preiswerten Industriestrom auf Basis von Kernenergie anbieten konnten. Bei dieser Betrachtung wurde allerdings unterschlagen, dass die Franzosen mit der staatlichen EdF und einer dahinterstehenden Herstellerindustrie sowie einer positiven Einstellung der Bevölkerung gegenüber Kernenergie ganz andere Voraussetzungen aufwiesen, preiswerten Strom zu produzieren. Dennoch wird bei zahlreichen zeitgenössischen Modellrechnungen zu Strompreisen nicht klar, wie die Entsorgungskosten mit einbezogen werden. Ein bei den deutschen EVU wie unabhängigen Studien üblicher Vergleich war der eines Kernkraftwerkes mit einem Steinkohlekraftwerk.277 Die Forderung der EVU nach einem sogenannten ökonomischen Strompreis beinhaltete vor allem die Orientierung an langfristigen Durchschnittskosten. Das heißt, einerseits sollten die EVU zu einer rationellen Betriebsführung 273 So Industriemanager Hans Birnbaum (Ministerialdirigent a. D. und Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG) auf einer Verwaltungsausschusssitzung der Preußenelektra. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 19. November 1974, hier S. 7, E.ON-Archiv München, EEA 607. 274 So Preußenelektra-Vorstand Erhard Keltsch, siehe ebd. 275 Lilienfein, Heinz, Ökonomische oder politische Strompreise?, in: Elektrizitätswirtschaft 75 (1976), S. 957–960. 276 Rittstieg, Gerhard, Die Kostenentwicklung und Preisbildung der Stromversorgung in den achtziger Jahren, in: Elektrizitätswirtschaft 80 (1981) 17/18, S. 581–588, hier S. 583. Siehe außerdem Transkript des Interviews mit Gerhard Rittstieg. 277 Siehe Kapitel 1.3.
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gezwungen sein und andererseits sollte ihnen ein angemessener Ertrag und damit die Erhaltung ihrer wirtschaftlichen Substanz ermöglicht werden, um ihre Kreditfähigkeit für Investitionsvorhaben zu erhalten.278 Für den VEBA-Chef Rudolf von Bennigsen war der Strompreis, „ähnlich wie der Benzinpreis, zu einem politischen Preis mit der Folge geworden, dass die Industrie ihre Kosten kaum noch“ erwirtschafte.279 Auch die Einführung der Kernenergie spielte im Verhältnis zwischen Industrie und den Unternehmen der Stromwirtschaft eine wichtige Rolle. Schon in Kapitel 1.3 wurde gezeigt, dass mit der Einführung der Kernenergie die Hoffnung auf preiswerten industriellen Strom verbunden war. Insbesondere die norddeutschen Energieversorger versuchten durch die Kernkraftwerksprojekte an der Elbe, die Ansiedlung von Industrie im strukturschwachen Norden Deutschlands zu forcieren. Niedrige Strompreise mittels Kernkraft sollten dort Industriestandorte besonders attraktiv machen. Doch trotz des großen Interesses von stromintensiven Firmen konnte eine gewisse Preislinie von den Energieversorgern ungeachtet umfangreicher Zugeständnisse nicht unterschritten werden.280 Denn die Existenz und das Fortbestehen von Stromlieferverträgen mit industriellen Großabnehmern war für die Unternehmen der Stromwirtschaft der offensichtlich größte Gewinnposten in ihrer Bilanz. So lässt sich etwa für die RWE zeigen, dass trotz anfänglich weit verbreiteter Skepsis gegenüber der Einführung der Kernenergie das Unternehmen nicht zuletzt mit Blick auf industrielle Großabnehmer auf Stromerzeugung aus Uran setzte. Nur durch Kernenergie und Braunkohle war das Unternehmen in der Lage, den preiswerten Strom zu liefern, den die industriellen Abnehmer benötigten. Nicht umsonst hatte die BASF daher – als eines der wenigen Industrieunternehmen in Deutschland – schon frühzeitig die Möglichkeit eines eigenen Kernkraftwerkes in Ludwigshafen in Betracht gezogen.281 Auch von politischer Seite, und 278 Lilienfein, Heinz, Ökonomische oder politische Strompreise?, in: Elektrizitätswirtschaft 75 (1976), S. 957–960; Stumpf, H., Die Politik in der Verantwortung für eine kostenorientierte Preisbildung öffentliche Energie- und Wasserversorgung, Köln 1981. 279 Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 3. Dezember 1981, S. 16, E.ON-Archiv München, AR-Protokolle Juni 1975 bis Mai 1982, EEA 608. 280 Niederschrift über die 33. Sitzung des Energiepreis- und Tarifausschusses am 24. Juli 1970, S. 5 ff., HKR, VIK 1974 bis 1978, 2903. Das große Interesse norddeutscher Energieunternehmen an Industriekundschaft belegt auch ein Gutachten der NWK, das den Titel Was wünscht die Industrie von den EVU? trägt. Siehe ebd. 281 Neben BASF plante vor allem die Hoechst AG ein Kernkraftwerk, das das Unternehmen neben Elektrizität mit dem für viele chemische Prozesse wichtigen Dampf versorgen sollte. Das Engagement der deutschen Chemieindustrie als treibende Kraft bei der kerntechnischen Entwicklung in der Bundesrepublik ist hinlänglich bekannt. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein waren es Chemie-Manager, wie Karl Winnacker, Wilhelm Alexander Menne oder Leopold Küchler, die als wichtige Promotoren der Kerntechnik auftraten. Siehe Wirtz, Karl, Im Umkreis der Physik, Karlsruhe 1988, S. 111; Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 100 ff. Dass das Interesse der Chemieindustrie an der Kerntechnik nicht in allen westeuropäischen Staaten gleich stark ausgeprägt war, verdeutlicht ein Blick in die Schweiz. Die chemische Industrie in der Schweiz war an der Entwicklung der Kerntechnik weit weniger interessiert und deutlich zurückhaltender als ihre deutschen Nachbarn. Siehe
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gerade aus Bonn, gab es große Unterstützung für dieses Projekt. Mit Willy Brandt fand es einen prominenten Unterstützer, der dessen Genehmigungsverfahren mit den Worten rügte, dass man sich „bürokratische Langatmigkeit“282 nicht mehr leisten könne. Erwidert wurde diese Kritik aus dem zuständigen Bundesministerium des Inneren von Ministerialdirigent Wilhelm Sahl, der sein Ministerium keinesfalls als „Hemmklotz aus einer falsch verstandenen Bürokratie heraus“283 sah. Schon Ende des Jahres 1968 hatten die RWE mit der BASF einen Vorvertrag über die Errichtung eines Kernkraftwerks im Raum Mannheim-Ludwigshafen abgeschlossen.284 Darin bekundeten beide Vertragspartner ihren Willen, alsbald ein Kernkraftwerk in der Region zu errichten und einen gemeinsamen Betrieb des Kernkraftwerks zu prüfen. Mit ca. 1.200 MW Leistung sollte es sich um einen für die damalige Zeit groß dimensionierten Reaktor handeln. Dieser sollte über zwei Blöcke verfügen und damit sowohl der Dampf- und Stromversorgung der BASF als auch der Strombeschaffung der RWE dienen.285 Werner Abelshauser hat in seiner Publikation über das Chemieunternehmen auf einigen wenigen Seiten die Umstände sowie die Vorgeschichte des geplanten Kernkraftwerks auf Grundlage unternehmenseigener Quellen analysiert.286 Darin wird vor allem deutlich, dass aus Planspielen von Technikern für ein Atomkraftwerk erst 1968 eine unternehmenspolitische Priorität wurde, wobei verschiedene unternehmerische Überlegungen eine Rolle gespielt hatten. Neben dem Strompreis war insbesondere die Frage zentral, ob das Kernkraftwerk bei der gleichzeitigen Bereitstellung von Dampf für chemische Prozesse die gewünschte Leistung erbringen würde. Angesichts der verflogenen Euphorie über die zivile Nutzung der Kernenergie war erst ab Mitte der 1960er-Jahre absehbar, dass die Kernenergie die Schwelle zur Wirtschaftlichkeit überschreiten würde. Trotz des bestehenden Vorvertrages mit den RWE gerieten die Verhandlungen bald ins Stocken. Ganz in der Rolle des Besitzstandswahrers bestanden die RWE auf ihr Monopol der Stromerzeugung und machten die Anerkennung des bestehenden Stromliefervertrags durch die BASF zu einer Vorbedingung für die gemeinsame Zusammenarbeit im Kernkraftwerksbereich.287 Auch zunehmende Genehmigungsschwierigkeiten, die vor allem in Standortfragen (Sicherheitsbedenken der Behörden bei stadtnahen Kernkraftwerken) begründet lagen sowie Finanzierungsprobleme sollten das Projekt begleiten.288 Die
282 283 284 285 286 287 288
Wildi, Tobias, Der Traum vom eigenen Reaktor. Die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945–1969, Zürich 2003, S. 46–52. Zit. nach Bößenecker, Hermann, Opfer für die Demokratie, in: Die Zeit, 15. Februar 1974. Ebd. Vorvertrag zwischen RWE und BASF vom 16. Dezember 1968, RWE, Direktionsabteilung, Stromlieferverträge mit der BASF, HKR C1/275. Ebd., S. 4. Abelshauser, Werner (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2003, S. 507– 514. Ebd., S. 510. Siehe ebd.; Standortuntersuchungen der BASF, in: Brennstoff-Wärme-Kraft 21 (1969) 1, S. 43, BASF plant Kernkraftwerk auf Werksgelände; IRS-Gutachten zum Kernkraftwerk BASF, in: Brennstoff-Wärme-Kraft 21 (1969) 8, S. 434. Vor allem Joachim Radkau hat das BASF-Pro-
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Beantragung eines weiteren Blocks (C) für das Kernkraftwerk im hessischen Biblis durch die RWE – von dem die BASF-Führung nebenbei von den Genehmigungsbehörden erfuhr – erschwerten das BASF-Vorhaben zusätzlich. Nachdem sich auch noch die Stadt Mannheim aus dem Projekt zurückgezogen hatte und das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) ein zweijähriges Moratorium für stadtnahe Kernkraftwerke verhängt hatte, schienen sich die Realisierungschancen immer weiter zu verschlechtern. Trotz positiver Signale vom Bund zu Beginn der 1970er-Jahre und der Auslotung von Finanzierungsmöglichkeiten aus Brüssel verhielten sich die RWE gegenüber dem Chemiekonzern weiterhin passiv. Bei Verhandlungen Mitte der 1970er-Jahre sah der Stromkonzern keine Veranlassung für ein besonderes Entgegenkommen bei den Angeboten des Chemieunternehmens.289 Darüber hinaus waren die RWE mit der Möglichkeit einverstanden, dass die BASF das Kernkraftwerk gemeinsam mit den Großkraftwerken Mannheim errichtet.290 Die Hoffnungen bei der BASF, die RWE könnten sich am Projekt beteiligen, wurden letztlich durch den Umstand zerstört, dass das Stromunternehmen voll auf den Ausbau von Biblis A setzte. Doch aufgrund der Liquiditätsprobleme des Chemiekonzerns war ein Kernkraftwerk allein finanziell nicht zu stemmen. Hinzu kamen die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen: So erließ das Bundesinnenministerium eine Richtlinie „Zum Schutz von Kernkraftwerken gegen Druckwellen aus chemischen Reaktionen“,291 die für Kernkraftwerke einen Mindestabstand zum Rhein vorschrieb, um Schiffe gegen Explosionen zu schützen. Pikanterweise war es RWE-Vorstand Heinrich Mandel, oft als „Atompapst“ tituliert, der das Bundesforschungsministerium darauf aufmerksam machte, dass man in den USA keine Kernkraftwerke mehr in Großstadtnähe errichtete.292 Nicht zuletzt daraufhin machte Forschungsminister Hans Leussink erst den Berstschutz zur Auflage für Kernkraft-
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jekt unter Sicherheitsaspekten für Kernkraftwerke betrachtet und dabei festgestellt, dass dieses zu einer Revision der deutschen Sicherheitskultur in Bezug auf Atomkraftwerke und die dafür angelegten Standards geführt habe. Dies sei, so der Bielefelder Historiker, trotz geringeren Widerstands der davon betroffenen Bevölkerung der erste Ausgangspunkt für die nukleare Kontroverse in der Bundesrepublik gewesen. Siehe Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 377 ff., 448. Einzelne Kernkraftwerksprojekte, nicht nur der Industrie, wurden nicht nur ausschließlich wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit oder Genehmigungsschwierigkeiten, sondern vor allem aufgrund von Sicherheitsbedenken in der Nähe von Großstädten aufgegeben, wie die Beispiele West-Berlin, Mannheim-Ludwigshafen und Frankfurt verdeutlichen. Siehe Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 372 ff. Notiz über die Vorstandsratssitzung am 1. Juni 1976, HKR W8/1, S. 2. Notiz über die Vorstandsratssitzung am 23. Februar 1976, HKR W8/1, S. 1. Bekanntmachung der Richtlinie für den Schutz von Kernkraftwerken gegen Druckwellen aus chemischen Reaktionen durch Auslegung der Kernkraftwerke hinsichtlich ihrer Festigkeit und induzierter Schwingungen sowie durch Sicherheitsabstände vom 13. September 1976, BAnz. 1976, Nr. 179. Auch am Berliner Wannsee hatte die Bewag seit 1959 ein Kernkraftwerk geplant. Siehe Roeckner, Katja / Sternberg, Jan, Berlin atomar. Die Atomkraftwerkspläne für die Hauptstadt, Berlin 2012.
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werke, um später noch grundsätzlichere Bedenken gegen die Sicherheitsstandards geltend zu machen. Leussink prägte den Begriff des „Restrisikos“, indem er argumentierte, dass die bisherigen Sicherheitsstandards für das Projekt nicht ausreichten.293 Dann geriet das Projekt in eine finanzielle Schieflage. Die veranschlagten Investitionskosten für verschiedene Standorte (hier Standort Nord) eines möglichen Kernkraftwerks hatten sich von 450 Mio. DM im Jahr 1970 auf 2.100 Mio. DM im Jahr 1976 mehr als vervierfacht, während sich die projektierten Einsparungen durch das Kernkraftwerk von 100 auf 60 Mio. DM verringerten. Das Kernkraftwerk sollte bei seiner Fertigstellung mit rund 3 Mrd. DM noch teurer werden als ursprünglich angenommen. Dies hätte die Finanzkraft des Chemiekonzerns, die für das Kerngeschäft unerlässlich war, erheblich geschmälert. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stand der Nutzen des Kraftwerks deshalb in keinem Verhältnis mehr zu seinen Kosten, weshalb der Vorstand der BASF im Dezember 1976 beschloss, das Projekt endgültig aufzugeben.294 Gescheitert war das Projekt wohl aus einer Mischung politischer und ökonomischer Gründe. Einerseits erschien es den Genehmigungsbehörden zu riskant, ein Kernkraftwerk mitten in einem großen Chemiewerk und in der Nähe einer Großstadt errichten zuzulassen. Andererseits mangelte es aufgrund der gestiegenen Kosten an Kooperationspartnern, die bereit waren, dieses Risiko mitzutragen. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Abteilung Energieversorgung bei der BASF räsonierte im Rückblick, dass das Unternehmen aus heutiger Perspektive froh über die eingetretene Entwicklung sei, dass kein zweites „Mülheim-Kärlich“295 dabei herausgekommen sei.296 Angesichts dieser Entwicklung nahm die öffentliche Kritik der BASF an den RWE stark zu. Vorstandsmitglied Ronaldo Schmitz kritisierte zu Beginn der 1980er-Jahre in einer Regionalzeitung die Tarifpolitik des Versorgungsunternehmens. Dieses hätte zwar den Status eines Privatunternehmens, verhielte sich aber als regionaler Monopolist wie ein Staatsunternehmen.297 Doch nicht nur bei der BASF erhöhte die RWE die Preise, sondern auch für Hoechst stieg der Strompreis von 1978 bis 1980 um ca. 55 % an.298 Der geltende Stromliefervertrag zwischen RWE und Hoechst war im Herbst 1975 von den RWE 293 Radkau, Joachim, Eine kurze Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung, in: APuZ 46–47 (2011), S. 7–15, hier S. 10. 294 Abelshauser, Werner (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2003, S. 513. 295 Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich wurde 1986 fertiggestellt und ging 1988 nach nur 13 Monaten aufgrund einer fehlerhaften Baugenehmigung bereits wieder vom Netz. Bis heute gilt das Projekt als eines der Symbole für das Scheitern der Kernenergie in der Bundesrepublik. Genaue Zahlen zu den Kosten lassen sich schwer ermitteln, bewegen sich aber zwischen 5–7 Mrd. DM. 1979 gingen die RWE noch von einer Fertigstellung im Jahr 1983 aus, womit das Kraftwerk schon 2,9 Mrd. DM gekostet hätte. Siehe Notiz über die Vorstandsratssitzung am 13. Dezember 1979, HKR W8/3. Im Jahr 1982 errechneten die RWE für 1986 eine Bausumme von 6,45 Mrd. DM. Siehe Notiz über die Vorstandsratssitzung am 8. November 1982, HKR W8/4. 296 Seubert, Hermann, Geschichte der BASF-Energie-Abteilung bzw. BASF-Energieversorgung 1960–1998. Energie 1960–1998, Ludwigshafen 1998, S. 113. 297 BASF: Strompreis gefährdet Arbeitsplätze, Mannheimer Morgen, 10. November 1982. 298 Preisentwicklung bei Hoechst 29. Juli 1978, HKR, RWE/Farbwerke Hoechst 6241.
2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie?
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gekündigt worden und endete somit am 15. Oktober 1978, was neue Verhandlungen zwischen den RWE und Hoechst erforderlich machte.299 Dabei ging es auch um die Frage, welchen Preis Hoechst für die über den Vertrag hinausgehende Liefermenge zu bezahlen habe.300 Beide Seiten – Industrie und RWE – legten aus Unsicherheit in Bezug auf die „Kostenentwicklung der Strombeschaffung“301 ein taktisches Vorgehen bezüglich der Laufzeit des Vertrags an den Tag. So konnten die Herstellungskosten für den Energieversorger angesichts der anstehenden Rauchgasentschwefelungsgesetzgebung und den damit verbundenen Nachrüstungen für Kohlekraftwerke künftig teurer werden. Grundsätzlich wollten die RWE jedoch den Industriekunden Hoechst nicht verlieren und strebten eine Vertragsverlängerung, wenn auch zu veränderten Konditionen, mit zehn Jahren Laufzeit bis 1988 an.302 Auch die Unwägbarkeiten bei der Kernenergie und der zunehmende Druck hinsichtlich des Baus neuer Steinkohlekraftwerke ließen das Versorgungsunternehmen in Preisfragen sowie bezüglich der Vertragslaufzeit vorsichtig agieren. Insbesondere beschäftigte die RWE mit Hoechst die Frage, ob das Unternehmen das Angebot eines anderen Energieversorgers vorliegen habe.303 Hoechst – meist vertreten durch seinen Vorstandsvorsitzenden Klaus Sammet – hatte sich mit dem Problem der Vertragsverlängerung an unterschiedliche Vorstandsbereiche bei den RWE gewandt. Ein Teil der Missverständnisse im Verhältnis zwischen den Verhandlungspartnern kann sicherlich auf die Verhältnisse im RWE-Vorstand und deren unterschiedliche unternehmenspolitische und stromwirtschaftliche Auffassungen zurückgeführt werden. Ferner hatten frühere schriftlich nicht fixierte Absprachen zwischen den Vorständen beider Unternehmen dazu geführt, dass es über die Vertrags- und Preisgestaltung zu Missverständnissen gekommen war. Alles in allem wollten jedoch sowohl die RWE als auch Hoechst ein „Pokerspiel“304 in Bezug auf das Angebot durch Dritte vermeiden. Angesichts der durch die RWE angekündigten hundertprozentigen Preissteigerungen für die Maingauwerke nahm der Handlungsdruck bei Hoechst nun enorm zu. Die RWE legten ihre spezifischen Preise nicht offen, sondern verwiesen auf allgemeine Kostensteigerungen in der deutschen Stromversorgung. Auf Grundlage dieser Informationen war die Preissteigerung für das Industrieunternehmen schwer nachvollziehbar. Eine hundertprozentige Kostensteigerung beim Strom hätte die Wettbewerbsposition von Hoechst jedenfalls erheblich verschlechtert. Um den Anliegen des Unternehmens Nachdruck zu verleihen, deutete der Konzern die Möglichkeit eines Schiedsgerichtsverfahrens an.305 Trotz Erhöhung des Drucks seitens der Industrie hatte eine „freundschaftliche Einigung“ weiterhin Priorität. Die RWE 299 Unterlagen für das Gespräch mit dem Vorstand der Hoechst-AG am 16. September 1977, HKR 6241. 300 Brief der Hoechst-AG an RWE-Vorstand Klätte, Ergänzungsvertrag für Stromlieferungen an die Maingauwerke, HKR 6241. 301 Interner Vermerk: Rittstieg an Klätte vom 28. April 1978, HKR 6241 302 Notiz von Werner Rinke über die Vorstandsratssitzung vom 27. April 1978, HKR W8/2. 303 Siehe ebd. 304 Brief des Vorstands der Hoechst AG an den RWE-Vorstand vom 31. Januar 1978, Betr. „Stromlieferung“, HKR 6241. 305 Siehe ebd.
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2 Marktmacht im Monopol?
forderten auch in den folgenden Gesprächen eine Preiserhöhung von mindestens 55 %, da es auch in anderen Branchen, wie der Aluminiumindustrie, ähnliche Preisanstiege gegeben habe. Bezüglich der Vertragslaufzeit und der Erhöhung der Preise innerhalb der Laufzeit zeigte sich der Stromversorger dagegen kompromissbereit. Hoechst hatte in der Zwischenzeit den Eindruck gewonnen, dass man aufseiten der RWE davon ausgehe, dass der Farbenkonzern dem „Konkurrenzangebot“ eine Absage erteilt hätte und die RWE daher Hoechst die Vertragsmodalitäten diktieren könnte.306 Tatsächlich lag das „Konkurrenzangebot“ – dessen Herkunft Hoechst nach wie vor nicht mitteilen wollte – mit etwa 5 Pf je kWh um 0,3 bis 0,7 Pf unter dem RWE-Angebot. Für die RWE war es nun auch im Hinblick auf die Verhandlungen mit anderen Industriekunden wie Bayer wichtig, dass das Konkurrenzangebot „vom Markt müsse“, weil dieses künftig immer wieder die RWE-Preise unterbieten würde. Sollte sich Hoechst für das Konkurrenzangebot entscheiden, so die Auffassung bei den RWE, solle es den Lieferanten baldmöglichst bekanntgeben, um die technische Umsetzung bezüglich der Durchleitung zu gewährleisten.307 Nach Vermutungen des RWE-Vorstandes handelte es sich um ein Angebot der Ruhrkohle AG. In dem entsprechenden Angebot sei wohl der Hinweis enthalten, so die Spekulation der RWE, dass der Stromversorger unter dem öffentlichen Druck keine Einwände gegen den Bruch der Demarkation erheben würde und mit der kostengünstigen Durchleitung des Stroms einverstanden sei. Die RWE handelten indes anders, als es die Konkurrenz erwartete: Man verlängerte den alten Vertrag mit Hoechst und hob die Preise ab Oktober 1978 um 55 % an.308 All dies führte zu einer Entwicklung, die sich bereits seit Mitte der 1970erJahre abgezeichnet hatte. Die RWE waren aufgrund der Unwägbarkeiten bei den Umweltschutzbestimmungen, der Diskriminierungsfrage und der zusätzlichen Steinkohleverstromung zulasten der Kernenergie nicht bereit, langfristig bindende Preiszusagen gegenüber der Industrie zu tätigen.309 Dennoch bemühten sie sich um die Fortsetzung der Belieferung von Hoechst.310 Zu Beginn der 1980er-Jahre wurden die RWE dann noch vorsichtiger und kündigten zahlreiche Stromlieferverträge mit der Industrie, vor allem mit dem Hinweis auf die am 1. Juli 1983 wirksam werdende Großfeuerungsanlagenverordnung (GfAVO) und die damit verbundenen Kostensteigerungen.311 Zwar verursachte die Verordnung immense Kosten von ca. 5 Mrd. DM, die die RWE für die Nach- und Umrüstung ihrer Braun- und Steinkohlekraftwerke bis 1988 aufwenden mussten. Diese konnten allerdings fast vollständig auf den Strompreis umgelegt werden, was das Unternehmen kurzfristig natürlich nicht von den Kosten zur Kapitalbeschaffung entlastete. Die Stromwirtschaft wurde zu dieser Zeit jedoch viel mehr von dem außerordentlichen hohen Anstieg 306 Brief von Rolf Sammet an Heinrich Mandel vom 25. April 1978, HKR 6241. 307 Vermerk Klätte, Stromlieferungsvertrag Farbwerke Hoechst – Gespräch mit Sammet vom 9. März 1978, HKR 6241. 308 Notiz über die Vorstandsratssitzung am 6. März 1978, HKR W8/2. 309 Verhandlungen mit Hoechst. Notizen aus dem Gespräch mit Helmut Axmann am 16. August 1978, HKR 6241. 310 Notiz über die Vorstandsratssitzung am 10. April 1978, HKR W8/2, S. 5. 311 Darauf wird in Kapitel 3.1 noch näher einzugehen sein.
2.4 Zu hohe Strompreise für die Industrie?
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der Brennstoffkosten sowie gestiegenen Baukosten bei Kraftwerksneubauten belastet. Keiner dieser kostensteigernden Faktoren hatte Berücksichtigung in den Verträgen mit der stromintensiven Industrie gefunden.312 Daher kündigte die RWE den Vertrag mit vielen Industriekunden vorsorglich zum nächstmöglichen Termin, um diese anschließend meist neu zu verhandeln.313 Preiswerter Kernenergiestrom barg für die Stromwirtschaft ein starkes ökonomisches und vor allem politisches Gefahrenpotenzial. Die Möglichkeit, dass die Industrie diesen selbst erzeugte, war zwar mittlerweile keine Option mehr. Vielmehr drohte Gefahr aus dem benachbarten Frankreich. Überhaupt hatte Frankreich eine gewisse ‚Schaufensterfunktion‘ für die deutsche Stromwirtschaft, und insbesondere für die RWE. Schon im Jahr 1966 hatte es eine gemeinsame Studienreise von Vertretern der VDEW und der VIK zur EdF nach Frankreich gegeben. Dies diente jedoch vorwiegend der praktischen Anschauung in Sachen Technik, weil die EdF schon frühzeitig größere Kraftwerksblöcke in Bau und Betrieb hatte, als dies in der Bundesrepublik der Fall war.314 In den 1980er-Jahren spitzte sich die Situation bezüglich des preiswerten Kernenergiestroms zu: Denn es machte das Gerücht die Runde, dass die EdF die deutsche Industrie mit preiswertem Strom beliefern wollte und bereits entsprechende Angebote vorgelegt hätte. Sogar bis in die Tagespresse war diese Vermutung vorgedrungen.315 In der deutschen Stromwirtschaft zeigte man sich angesichts dieser Nachrichten besorgt, da es sich bei einem derartigen Vorgang um eine Durchleitung über Grenzen eines Versorgungsgebietes hinweg gehandelt hätte.316 Diesen Vorgang betrachtete man seit dem Konsens der Gemischten Kommission 1979, wenn auch anhand anderer technischer Details, als geregelt und erledigt. Insbesondere die RWE zeigten sich angesichts der Grenznähe des eigenen Versorgungsgebietes und der zahlreichen Industriekunden durchaus besorgt. Daher suchte RWE-Vorstand Günther Klätte den direkten ‚Draht‘ zu seinen französischen Kollegen. Anlässlich eines Gesprächs versicherte ihm das EdF-Management, dass das französische Staatsunternehmen keine Sonderabnehmer in der Bundesrepublik belieferte. Um dies auch weiterhin sicherzustellen, sollte nach Auffassung der RWE der Gebietsschutz auch künftig eingehalten werden und keine Gespräche zwischen der EdF und Großabnehmern, egal ob mit Beteiligung der RWE oder nicht, geführt werden.317 312 Brief der RWE an die BASF vom 18. März 1985, RWE, Direktionsabteilung, Stromlieferverträge mit der BASF, HKR C1/275. 313 Presseerklärung: Zur Kündigung der Stromlieferungsverträge vom 15. Dezember 1983, HKR 520.7.4. 314 Die Energiewirtschaft der Électricité de France (E. d. F.). Berichte von einer Studienreise der VIK und der VDEW, Frankfurt/M. 1967. 315 Kemmer, Heinz Günter, Elektrizitätsversorgung: „Da gibt es solche Strauchdiebe …“, in: Die Zeit, 6. August 1982, S. 3. 316 Siehe Ausführungen von Bennigsens, Gedanken über eine wettbewerbsfähige Struktur der deutschen Energieversorgung, VIK-Jahrestagung am 15. November 1985, S. 7 ff.; Klätte, Günther, Mehr Strom aus Paris – weniger Arbeitsplätze bei uns. Hoher Strombezug aus Frankreich mit Risiken behaftet, in: Bonner-Energiereport 21/22 (1983), S. 14–19. 317 Notiz über die Vorstandsratssitzung am 5. Februar 1981, HKR W8/4.
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2 Marktmacht im Monopol?
Wie besorgt die RWE waren, zeigen auch die weiteren Schritte Klättes, um eine Belieferung der deutschen Industrie durch die EdF auszuschließen. Klätte mobilisierte zu diesem Zweck vor allem sein ausgezeichnetes Netzwerk. So suchte er unter anderen das Gespräch mit dem einflussreichen IGBE-Vorsitzenden Adolf Schmidt, um ihm zu verdeutlichen, dass Stromimporte aus Frankreich die Erfüllung des Jahrhundertvertrags gefährden könnten.318 Diese Maßnahme sollte dafür sorgen, dass auch die Kohleseite und deren Gewerkschaftsvertreter ihre Stimme gegen derartige Pläne erheben sollten. Die Mobilisierungsoffensive gegen die Lieferung preiswerten französischen Stroms an deutsche Industrieunternehmen erschien Klätte nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die Front in der Stromwirtschaft gegen dieses Vorhaben zu bröckeln schien. Zwar war auf Verbandsebene (bei der DVG sowie der VDEW) die Meinung Klättes Konsens. Doch in einzelnen Unternehmen, wie der VEW und EW-Mark Hagen, wurde die Auffassung vertreten, dass der Import von preiswertem Kernenergiestrom aus Frankreich durchaus interessant sein könnte. Klätte trat diesen Äußerungen vehement entgegen,319 denn vor allem durch die seit Ende der 1980erJahre absehbare Schaffung eines europäischen Binnenmarktes wurde es für die deutsche Industrie noch interessanter, französischen Kernenergiestrom zu beziehen. Freilich konnte zu diesem Zeitpunkt niemand wissen, dass es zu einem europäischen Energiemarkt wohl erst viel später kommen würde. Dennoch wurde schon Ende der 1980er-Jahre nicht nur in der Energiewirtschaft, sondern auch in der Rechtswissenschaft eine Diskussion über die juristische Möglichkeit französischer Stromlieferungen nach Deutschland geführt.320 Die Stromwirtschaft insgesamt und vor allem die RWE erkannten in französischen Lieferungen an die deutsche Industrie eine reale ökonomische Gefahr. Schon Mitte der 1970er-Jahre war vielen in der Stromwirtschaft klar, dass französischer Strom aus Kernenergie billiger war. Der Kostenvorteil des französischen Stroms beruhte jedoch nicht ausschließlich auf der Kernenergie oder den Eigentumsverhältnissen bei der EdF, die ein hundertprozentiges Staatsunternehmen war. Vielmehr fußte der durchschnittliche Kostenvorteil der Franzosen, wie das EWI errechnet hatte, darauf, dass in ihrem Energiemix weniger Kohle vorhanden und damit der Strompreis von weniger Subventions- und Abgabenzahlungen belastet war. Auch der höhere Kabelanteil der deutschen Stromversorgung sowie die höheren Konzessionsabgaben erhöhten den preislichen Vorteil des französischen gegenüber dem deutschen Strom.321
318 Siehe ebd; siehe auch Kapitel 1.4. 319 Siehe ebd. Über die Gründe, weshalb andere Unternehmen ihre Ansicht zum Import von französischem Kernenergiestrom geändert hatten, kann hier nur spekuliert werden. Dies könnte jedoch u. a. mit dem Umstand zu tun haben, dass diese Unternehmen ihre Kostennachteile bei der Stromerzeugung gegenüber dem Branchenführer RWE beseitigen wollten. 320 Siehe Börner, Bodo, Frankreichstrom nach Deutschland? Art. 90 II EWGV, Teil I, in: ders. / Evers, Hans-Ulrich / Immenga, Ulrich / Späth, Friedrich, Das Energiewirtschaftsgesetz im Wandel von fünf Jahrzehnten, Baden-Baden 1987, S. 61–116. 321 Schulz, Walter / Willers, Yves-Pierre, Internationale Industriestrompreise, München 1992, S. 346 f.
2.5 Zusammenfassung
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2.5 ZUSAMMENFASSUNG In der industriellen Eigenerzeugung von Strom bestand eine der wenigen Möglichkeiten, Wettbewerb auf dem Energiemarkt zu initiieren, wie dies bereits in den 1920er-Jahren der Fall gewesen war. Industrielle Stromerzeugung ist jedoch nicht dazu geeignet, eine vollständige Energieversorgung zu gewährleisten, sondern sie bestenfalls zu ergänzen. Die dezentrale Form der Energieerzeugung und die Durchleitung elektrischer Energie hätten der Industrie helfen können, einerseits selbst preiswerte Energie zu erzeugen und andererseits diese ins öffentliche Netz einzuspeisen. Damit wäre die Erzeugung von Strom wesentlich effizienter gewesen. Industrieller Strom aus der Kraft-Wärme-Kopplung ist im Vergleich zur Erzeugung von Strom in Großkraftwerken äußerst effektiv und weist einen sehr hohen Nutzungsgrad von Primärenergie auf. Der Konkurrenz durch die industrielle Kraftwirtschaft trug die Stromwirtschaft durch verschiedene Strategien und umstrittene Maßnahmen Rechnung. Mit der Gewährung von Preisnachlässen in Stromlieferverträgen versuchten die Energieversorger, die Errichtung industrieller Eigenanlagen zu unterbinden. Entsprechende Passagen, in denen die Industrie ihren Verzicht auf die Errichtung von Eigenanlagen erklärte, wurden in die Lieferverträge aufgenommen. Zusätzlich verlangte die Stromwirtschaft von der Industrie für die Bereitstellung von Zusatz- und Reservestrom überhöhte Preise, während die Einspeisung von industriellem Überschussstrom verhältnismäßig niedrig vergütet wurde. Damit sollte die Wirtschaftlichkeit der Eigenanlagen minimiert und letztlich deren Errichtung verhindert werden. Die Energieversorgungsunternehmen vermochten es, nicht zuletzt durch eine erfolgreiche Vertretung ihrer eigenen Interessen gegenüber der Politik, die Anliegen der Industrie vorerst zurückzudrängen. Im Entstehungsprozess des Energiewirtschaftsgesetzes erreichten es die öffentlichen Versorgungsunternehmen, in die Präambel des Gesetzes den Ausschluss volkswirtschaftlich schädlichen Wettbewerbs als Gegenleistung für die Erfüllung anderweitig vom Gesetzgeber auferlegter Pflichten zu verankern. Darunter verstanden sie die generelle Aufsicht durch die Energieaufsichtsbehörden und die damit verbundenen Investitions- und Preiskontrollen sowie die allgemeine Anschluss- und Versorgungspflicht. Letztere, und dies wurde von der Stromwirtschaft meist nicht thematisiert, bezog sich jedoch nicht auf Sondervertragskunden. Das heißt, im Zweifelsfall hätten die Stromversorger die Belieferung von Industrieunternehmen ablehnen können. Die Stromwirtschaft betonte ihre Sonderstellung bei nahezu allen energierechtlichen Reformvorhaben. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wer solche Pflichten auferlegt bekomme, dem müsse auch eine gewisse Sonderstellung eingeräumt werden, so der vorherrschende Tenor. Diese Haltung fand ebenfalls im Umgang mit der industriellen Kraftwirtschaft ihren Niederschlag. Wettbewerb konnte und wollte die Stromwirtschaft nicht entstehen lassen, um ihre Marktmacht im Monopol langfristig zu sichern. Die Stromwirtschaft war und ist nach wie vor eine der am stärksten regulierten Wirtschaftsbranchen. Einerseits wurde zwar die Einhaltung der von der Branche auferlegten Pflichten kontrolliert, andererseits aber kann für den Untersuchungszeitraum konstatiert werden, dass es sich bei der Mehrzahl der Maßnahmen um
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2 Marktmacht im Monopol?
Routinevorgänge handelte. Gleichwohl wurde die Stellung und Rolle der Stromwirtschaft in der Öffentlichkeit ungefähr seit Mitte der 1970er-Jahre so intensiv diskutiert wie selten zuvor. Aus diesem Diskussionsprozess erwuchsen nur kleine Positionsverschiebungen, die jedoch in ihrer Langzeitwirkung keinesfalls unterschätzt werden dürfen. Die Reaktion auf diese neue Situation fiel indes zum Teil sehr heftig aus, weil die Branche an derartige Debatten nicht gewöhnt war. Die Stromwirtschaft reagierte vor allem deshalb mit Befremden, weil Medien, Öffentlichkeit und wichtige politische Köpfe ihr Handeln zusehends kritischer hinterfragten. Ob – und wenn ja, wie – die Stromwirtschaft auf diese neue Herausforderung eine Antwort fand, wird im letzten Kapitel untersucht.
3 UMWELT UND ÖFFENTLICHKEIT IN DER STROMWIRTSCHAFT 3.1 VOM KOSTENTREIBER ZUR LEGITIMATIONSINSTANZ: RAUCHGASENTSCHWEFELUNG UND GROSSFEUERUNGSANLAGENVERORDNUNG ALS KATALYSATOREN NEUER UNTERNEHMENSPOLITIK Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft sind historisch betrachtet eine der Wurzeln der heutigen Umweltpolitik. Nicht ohne Grund hat Joachim Radkau diese in seinem 2011 erschienenen Opus magnum Die Ära der Ökologie als einen der acht Ursprünge der Umweltbewegung identifiziert. Luftreinhaltung war seit Ende des 19. Jahrhunderts als Kampf gegen den Rauch juristisch wie technisch schwer in den Griff zu bekommen.1 Die Luftreinhaltung war also ein historisch gewachsenes Ziel nicht nur der deutschen Umweltbewegung.2 Zunächst waren technische Umweltschutzfragen der Luftreinhaltung die Domäne technischer Experten. Im Widerstreit mit Juristen versuchten sie das Feld für sich zu beanspruchen, etwa im Bereich der Gewerbeaufsicht.3 Gerade technische Verbände setzten sich in verschiedenen, meist homogen besetzten Gremien mit der Problematik der Luftreinhaltung auseinander. So war die „Kommission zur Reinhaltung der Luft“ des Verbandes Deutscher Ingenieure bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts tonangebend.4 Seit den 1970er-Jahren blendete selbst die maßgeblich von Hans-Dietrich Genscher angestoßene Umweltpolitik das Thema „Schwefelemissionen von Kraftwerken“ noch lange Zeit aus.5 Dennoch lieferte die im Bundesinnenministerium angesiedelte Abteilung „Umweltschutz“ wichtige Impulse für die gesamte Umweltproblematik. Für die Bundespolitik war die Aufgabe, eine kohärente Umwelt1 2
3
4
5
Radkau, Joachim, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 171 f. Siehe Uekötter, Frank, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003; Brüggemeier, Franz-Josef / Rommelspacher, Thomas, Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840–1990, Essen 1992; Brüggemeier, Franz-Josef / Toyka-Seid, Michael (Hg.), Industrie – Natur. Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995, S. 60–92. Siehe Uekötter, Frank, Die Kommunikation zwischen technischen und juristischen Experten als Schlüsselproblem der Umweltgeschichte. Die preußische Regierung und die Berliner Rauchplage, in: Technikgeschichte 66 (1999), S. 1–31; ders., Das organisierte Versagen. Die deutsche Gewerbeaufsicht und die Luftverschmutzung vor dem ökologischen Zeitalter, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 127–150. Engels, Jens Ivo, Umweltschutz in der Bundesrepublik – von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung, in: Reichardt, Sven / Siegfried, Detlef (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2000, S. 405–422, hier S. 407. Uekötter, Frank, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 33.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
schutzgesetzgebung zu formulieren und durchzusetzen, keine einfache Angelegenheit, denn bis in die 1970er-Jahre hinein gehörte der Bereich zur konkurrierenden Gesetzgebung. Erst mit einer Grundgesetzänderung am 12. April 1972 erhielt der Bund Kompetenzen, die es ihm erlaubten, für die Bereiche „Luftreinhaltung“, „Lärmbekämpfung“ und „Abfallbeseitigung“ eigene Gesetzesvorhaben zu initiieren.6 Die deutsche Umweltpolitik galt lange Zeit als ein Politikfeld, das sich stark am amerikanischen Vorbild orientierte. Im Bereich der Luftreinhaltung setzte die deutsche Politik jedoch auch eigene wichtige Akzente.7 In diesem Kapitel wird danach gefragt, wie sich die Stromwirtschaft zur Umweltpolitik positionierte und ob sich ihre Einstellung seit den 1980er-Jahren veränderte. Welche Handlungsspielräume boten sich den Unternehmen in diesem Prozess, und fungierten diese mehr als Verhinderer oder als Vorreiter einer gesetzlich verankerten Luftreinhaltepolitik? Ferner wird untersucht, welche konkreten Konsequenzen diese Politik für die Unternehmen und ihr Image in der Öffentlichkeit hatte. Vorab soll jedoch gezeigt werden, welche die bedeutendsten gesetzgeberischen Maßnahmen der Umweltpolitik waren. Dass Luftreinhaltepolitik immer im „Geflecht politisch-administrativer Handlungsfelder“8 stattfindet, mag zunächst als triviale Feststellung anmuten. Die Erfolge staatlicher Luftreinhaltung beruhen allerdings nicht allein auf technischem Fortschritt, sondern sind mit politischen wie institutionellen Entscheidungen verknüpft.9 Der wichtigste Referenzpunkt der umweltpolitischen Gesetzgebung in der BRD war das Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG), das am 22. März 1974 in Kraft trat. Ferner war die 13. Durchführungsbestimmung dieses Gesetzes vom 1. Juli 1983 von zentraler Bedeutung: Diese sogenannte Großfeuerungsanlagenverordnung (GfAVO), die bereits unter der sozialliberalen Koalition angestoßen wurde, definiert, welche Grenzwerte für den Ausstoß von Schadstoffen aus großen Feuerungsanlagen, wie Elektrizitätswerken, zulässig sind.10 Das Regelwerk für die Stromwirtschaft wurde komplettiert durch die Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA-Luft), die die erste allgemeine Verwaltungsvorschrift des Gesetzes darstellte und erstmals am 28. September 1964 (Neufassungen am 28. August 1974, 23. Februar 1983 und am 28. Februar 1986) in Kraft trat. Mitte der 1960er-Jahren stellte die TA-Luft für die Stromwirtschaft noch kein sonderlich schwerwiegendes Problem dar, weil sie zwar erste allgemeine 6 7
8 9 10
Müller, Edda, Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik – (Ohn)macht durch Organisation?, 2. Aufl., Opladen 1986, S. 71 ff. Ditt, Karl, Die Anfänge der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er- und 1970er-Jahre, in: Frese, Matthias / Paulus, Julia / Teppe, Karl (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2005, S. 305–347, hier S. 314 ff. Hünemörder, Kai F., Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004, S. 47. Heymann, Matthias, Luftverschmutzung, Atmosphärenforschung. Luftreinhaltung: Ein technisches Problem, in: Brüggemeier, Franz-Josef (Hg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt/M. u. a. 2005, S. 325–341, hier S. 327. Kloepfer, Michael, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, Berlin 1994, S. 109–137.
3.1 Vom Kostentreiber zur Legitimationsinstanz
187
Emissionsanforderungen für bestimmte Luftschadstoffe, wie beispielsweise krebserregende Stoffe oder Staub spezifizierte, aber durch fehlende Kontroll- und Sanktionsmechanismen nur in geringem Maße den Betrieb der Kraftwerke tangierte.11 Ganz anders verhielt es sich mit den Neufassungen der TA-Luft seit 1974. Sie erregte die Gemüter in der Stromwirtschaft vor allem deshalb, weil diese nicht nur konkrete Grenzwerte (vor allem für Schwefeldioxid sowie Stickstoffoxide), sondern insbesondere entsprechende Kontrollmechanismen festlegte. Vielmehr schrieb sie auch vor, dass nicht nur neue Kraftwerke, sondern auch Altanlagen – unter Gewährung gewisser Übergangsfristen – den neuen Grenzwerten anzupassen und schlimmstenfalls stillzulegen seien.12 Bei der Diskussion über die Umweltgesetze der 1970er-Jahre wird gern übersehen, dass Schwefeldioxid zu den ‚klassischen‘ Umweltproblemen gehört, deren Tragweite schon seit der frühen Industrialisierung bekannt waren. Erst die alarmierende Diskussion um das Waldsterben zu Beginn der 1980er-Jahre ermöglichte eine politisch durchsetzbare „Radikallösung“ für das Problem.13 Die TA-Luft spezifizierte seit 1983 den in der GfAVO enthaltenen Katalog von Emissionsgrenzwerten von mehr als 150 organischen wie anorganischen Schadstoffkomponenten luftverunreinigender Stoffe. Dabei waren sowohl die Kurz- wie auch Langzeitwirkung dieser Stoffe von Belang. Luftverunreinigungen im Sinne der TA-Luft sind Veränderungen der natürlichen Luftzusammensetzung, insbesondere Rauch, Ruß, Staub, Gase, Aerosole, Dämpfe und Geruchsstoffe. Zu den Dämpfen kann auch Wasserdampf gehören, der aus Kraftwerkskühltürmen entweicht. Der große Erfolg der GfAVO (siehe dazu Tabellen 3 und 4), das soll hier vorweggenommen werden, bestand in den 1980er-Jahren in der massiven Reduzierung der Luftschadstoffe aus Kraftwerken der öffentlichen Versorgung.14 Die Verwaltungsvorschriften und Durchführungsverordnungen, wie die TA-Luft und die GfAVO, die in Folge des BImSchG erlassen wurden, berührten darüber hinaus die Genehmigungspraxis sowie den Betrieb der Kraftwerke.15 Doch die Auseinandersetzung um Grenzwerte und die letztendlichen Regelungen betraf und beschäftigte nicht nur verschiedene Politikbereiche, sondern wurde auch in der Stromwirtschaft mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die Energieversorger waren deshalb von diesen Gesetzesvorhaben betroffen, weil sie einen Großteil ihres Stroms in fossilen Kraftwerken erzeugten, die zum Teil erhebliche Immissionen produzierten. Allerdings muss die Stromwirtschaft hinsichtlich der Luftreinhaltepolitik durchaus differenziert betrachtet werden, was anhand der beiden nach11
Kalmbach, Siegfried / Schmölling, Jürgen, Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft, Berlin 1990, S. 9 f. 12 Kloepfer, Michael, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, Berlin 1994, S. 109–137. 13 Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Kernenergie und Diversifizierung 1968–1988, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 221–244, hier S. 239. 14 Hildebrand, M., Stand der Rauchgasreinigung bei EVU-Kraftwerken SO2- und NOx-Minderung, in: EWT 89 (1990) 9, S. 432–450, vor allem die Tabellen mit den gesunkenen Werten von 1982 bis 1993. 15 Siehe u. a. Berkner, U., u. a., Recht der Elektrizitätswirtschaft 1989, in: Elektrizitätswirtschaft 89 (1990) 3, S. 76–110.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
stehend untersuchten Unternehmen deutlich werden wird. Die RWE etwa waren von den geplanten Maßnahmen in viel größerem Maße betroffen, weil das Unternehmen den Großteil seines Stroms in Braunkohlekraftwerken erzeugte. Im Unterschied zu den RWE, gewann die Preußenelektra ihren Strom zu einem wesentlich größeren Prozentsatz aus Kernenergie und verursachte damit weniger Emissionen – wenngleich das Unternehmen das Kraftwerk Buschhaus betrieb, das von Umweltschützern in den 1980er-Jahren aufgrund seiner hohen Emissionswerte als „die Dreckschleuder der Nation“16 bezeichnet wurde. Für die Energieunternehmen ging es bei den Umweltgesetzen um viel Geld und ihr Image in der Öffentlichkeit. Vor allem die Frage, welche Grenzwerte für welche Art von Immissionen gelten und welche Anlagen von diesen Gesetzesmaßnahmen betroffen sein sollten, stand dabei für sie im Mittelpunkt. Die Stromwirtschaft übte vor allem Kritik an dem Aufwand zur Umsetzung der Emissionsgrenzwerte, der nach ihrer Auffassung nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprach.17 Ferner kritisierte sie die finanzielle Ausgestaltung bei der Umsetzung der Umweltgesetzgebung. Verschiedene Umweltverbände hielten die Regelungen der GfAVO hingegen für unzureichend. Diese schöpfe den „Stand der Technik“18 nur unzureichend aus und eröffne vielfältige Möglichkeiten, die Anforderungen durch Ausnahmegenehmigungen zu umgehen oder zu unterlaufen.19 In der Stromwirtschaft wurde bereits seit Mitte der 1970er-Jahre intensiv daran gearbeitet, Argumente zu entwickeln, die gegen höhere Grenzwerte ins Feld geführt werden konnten. Häufig wurde dabei die schwindende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Kraftwerke mit den Folgen für das betroffene Unternehmen angeführt, die die teuren Umweltauflagen nach sich zögen. Diese Begründung kam besonders häufig gegenüber der Politik zur Anwendung. Dabei drehte sich die Diskussion nicht nur um die Höhe der Grenzwerte, sondern auch um die Frage, ob die Regelungen nur für neu errichtete Kraftwerke oder auch für Altanlagen gelten sollten. Die Energiekonzerne kritisierten die vorliegenden Gesetzesentwürfe als unpräzise. Diese enthielten eine stattliche Anzahl an „unbestimmten Rechtsbegriffen“ (s. u.), die ihrer Auffassung gemäß dazu geeignet waren, dass die Umweltschutzgesetzgebung durch nachträgliche Anordnungen verschärft werden könnte.20 Im Jahr 1983 wurde dann auch gesetzliche Realität, was die Stromwirtschaft lange Zeit befürchtet hatte: Die GfAVO wurde auf Altanlagen ausgeweitet.21 Nicht nur die Kosten stießen den Energieunternehmen in diesem Zusammenhang übel 16 17 18 19 20 21
Kemmer, Heinz-Günther, Größter Stinker der Nation, in: Die Zeit, 6. Dezember 1985. Siehe u. a. Kuhnt, Dietmar, Die Verordnung über Großfeuerungsanlagen (13. BImSchV), Verfahrensgeschichte, Inhalte, Auswirkungen, Problematik, in: EWT 33 (1983) 8, S. 567–584, hier S. 567. Siehe u. a. Schladt, Wolfgang R., Der Begriff ,Stand der Technik‘ im Immissionsschutz, Diss. Univ. Kaiserslautern 1980. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Waldschäden und Luftverunreinigungen, Sondergutachten März 1983, Stuttgart 1983, S. 124, Ziffer 520. Siehe u. a. Vorbereitungsdokument für die Gespräche von Rudolf von Bennigsen mit dem PREAG-Vorstand, AR- und Beiratssitzungen am 12. November 1981 bzw. 3. Dezember 1981, S. 7. Preußenelektra 300 Aufsichtsratssitzungen 1981, E.ON-Archiv Düsseldorf. Siehe u. a. Kloepfer, Michael, Umweltrecht, München 1989, S. 404 f.
3.1 Vom Kostentreiber zur Legitimationsinstanz
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auf, sondern auch der äußerst kurzfristige Zeitraum, in dem sie diese Vorgaben umsetzen sollten, nämlich bis zum 1. Juli 1988. Für die meisten Anlagen bedeutete dies eine aufwendige Nachrüstung mittels einer sogenannten Rauchgasentschwefelungsanlage (REA). Die 1983 in ihren Grenzwerten verschärfte und auf Altanlagen ausgeweitete GfAVO setzte die Energiekonzerne damit unter erheblichen finanziellen Druck. Für neue Kraftwerke entfiel nun ein erheblicher Teil der gesamten Investitionen auf den Umweltschutzbereich: So veranschlagte zum Beispiel die Berliner Kraftund Licht AG (BEWAG) bei einem neuen Steinkohleblock in den 1980er-Jahren rund 28 % des gesamten Investitionsvolumens für umweltrelevante Kosten. Diese Zahlen waren trotz einiger Unterschiede innerhalb der Branche keine Seltenheit. Auch der Unterhalt der Umweltschutzanlagen war für die Energieversorger kein preiswertes Unterfangen. So errechnete ein süddeutsches Unternehmen im Jahr 1988, dass die jährlichen Umweltschutzmaßnahmen es für den gesamten Kraftwerkspark 60 Mio. DM pro Jahr kosten würden.22 Die Preußenelektra bezifferte die Belastungen aus der Rauchgasentschwefelung für ihr Unternehmen auf 500 bis 700 Mio. DM. Einschließlich der erhöhten Betriebskosten werde sich die gesamte Stromabgabe um 0,5 Pf je kWh verteuern. Die Mehrkosten, so lautete die Auffassung im Unternehmen, seien jedoch überhaupt nur durch den hohen Kernenergieanteil bei der Stromerzeugung zu stemmen.23 Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Mehraufwendungen sich nicht zuletzt deshalb erträglich gestalteten, weil Bund und Länder der Stromwirtschaft in vielen Fällen finanziell unter die Arme griffen. Dies zeigt sich beispielsweise an der REA für ein Kraftwerk der Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG (BKB), einem Tochterunternehmen der Preußenelektra. Die Gesamtkosten in Höhe von 313 Mio. DM konnten durch finanzielle Zuschüsse von Bund und Land in Höhe von 240 Mio. DM erheblich abgemildert werden. Die politische Seite regelte im Vertragstext mit den BKB jedoch, dass die Zuschüsse nur zurückzuzahlen seien, falls die BKB nicht alles in ihrer Macht stehende unternähme, um einen Terminverzug zur Installation der REA zu vermeiden.24 Letztlich hielten sich die Belastungen für den Stromkonzern in Grenzen, weil die Mehrkosten, sofern nicht ohnehin über Beihilfen ausgeglichen, auf den Strompreis aufgeschlagen wurden. Die Emissionsschutzgesetzgebung hatte jedoch auch auf der politischen Seite eine Vorgeschichte, die zu zahlreichen Konflikten zwischen den zuständigen Bundesministerien bzw. zwischen Bund- und Landesministerien führte. Luftreinhaltepolitik war seit Mitte der 1960er-Jahre stark durch Klientelinteressen geprägt gewesen. Auch einzelne Länder (vor allem NRW) spielten mit ihren „Kohleinteressen“
22 23 24
Müller, Leonhard, Handbuch der Elektrizitätswirtschaft. Technische, wirtschaftliche und rechtliche Grundlagen, 2. Aufl., Berlin u. a. 2001, S. 314 f. Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 27. Mai 1983, S. 6 f., E.ON-Archiv München, AR-Protokolle Juni 1975 bis Mai 1982, EEA 608. Auftrag für eine REA zwischen BKB an Davy KcKee AG, Anlage zur Vorstandssitzung am 20. Januar 1986, S. 1, E.ON-Archiv München, Vorstandsbüro, Allgemeines vom 19. Oktober 1987 bis 17. August 1990, EEA 2820.
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in diesem Prozess eine zentrale Rolle.25 Hierbei war unter anderem die Sorge der Landespolitik zu spüren, dass hohe Umweltschutzstandards den Verlust von Arbeitsplätzen im Steinkohlebereich zur Folge haben könnten. So äußerte etwa Preußenelektra-Vorstand Ulrich Segatz zu Beginn der 1980er-Jahre die Vermutung, „dass die beschäftigungsfeindlichen Auswirkungen der durch Umweltauflagen bedingten Verteuerungen [eines ohnehin schon teuren Steinkohlekraftwerks] auch im politischen Raum vielfach nicht gesehen würden“.26 Bis weit in die 1970er-Jahre hinein fungierten die Unternehmen der Stromwirtschaft eher als Bremser und Bedenkenträger bei umweltpolitischen Maßnahmen. Für die Branche schien noch Mitte des Jahrzehnts fast unbegreiflich zu sein, weshalb eine breite Öffentlichkeit sich mehr mit Umweltbelastungen als mit den Gefahren des Energiemangels auseinandersetzte.27 Dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass erste Umweltkonferenzen bereits seit den frühen 1970er-Jahren für eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit des Umweltthemas gesorgt hatten.28 Insbesondere auf europäischer Ebene gelang es, länderübergreifend vernetzte Graswurzelinitiativen mit Unterstützung der Europäischen Kommission durch die Einrichtung des Europäischen Umweltbüros den Natur- und Umweltschutz langfristig zu institutionalisieren.29 Die Stromwirtschaft war bis Mitte der 1970er-Jahre auch der Ansicht, dass man die TA-Luft in ihrer geplanten Neufassung nach wie vor verhindern könne. Dies schien damals halbwegs realistisch, weil Rauchgasentschweflungsanlagen mit technischen Problemen zu kämpfen hatten, die die Umsetzung des Gesetzes erschweren konnten. Ferner kritisierte die Stromwirtschaft, dass die TA-Luft auf völlig irrealen – rechnerisch von der Weltgesundheitsorganisation ermittelten – Immissionswerten beruhe, „die in gefährlicher Weise darauf abstellten, daß den Technikern etwas zur Erfüllung der überhöhten Forderungen einfallen werde“.30 Letztlich war die Höhe der Grenzwerte für die Kritik der Stromwirtschaft an der TA-Luft jedoch nicht entscheidend. Denn „egal mit welchen Grenzwerten, [die Verordnung stellte] eine starke Behinderung des Neubaus von Kohlekraftwerken“31 dar. Trotz 25 26 27
28 29 30 31
Müller, Edda, Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik – (Ohn)macht durch Organisation?, 2. Aufl., Opladen 1986, S. 204 ff. Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 3. Dezember 1981, S. 7, E.ON-Archiv München, EEA 608. Ulrich Segatz, Thesen für die Podiumsdiskussion zum Thema „Steinkohle und Kernenergie – notwendige Energieträger zur Sicherung des Wirtschaftswachstums?“ zur Tagung des Ruhrkohlenkonzerns am 29. Juni 1977, E.ON-Archiv München, Vorstandsbüro Segatz, Unterlagen 1. Dezember 1976 bis 30. Juni 1979, EEA 2364. Hünemörder, Kai F., Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik. Frühe Umweltkonferenzen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959– 1972), in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 275–296. Siehe Meyer, Jan-Henrik, Greening Europe? Environmental Interest Groups and the Europeanization of a New Policy Field, in: Comparativ 20 (2010) 3, S. 83–104. So Preußenelektra-Vorstand Erhard Keltsch anlässlich der Aufsichtsratssitzung des Unternehmens, Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 24. März 1974, S. 8, E.ON-Archiv München, EEA 608. Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 18. November 1975, S. 6, E.ON-Archiv Düsseldorf, 1/5/39–270.
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der hohen Anforderungen, die die TA-Luft formulierte, fiel den Technikern schließlich doch etwas zur Lösung des Problems ein, wenngleich noch bis Ende der 1980er-Jahre Probleme mit der Rauchgasentschwefelungstechnik bestanden, die hohe Kosten verursachten. Die Stromwirtschaft befürchtete zudem, dass die Umweltanlagen an sich sowie erst recht deren mangelnde Funktionsfähigkeit, den Wirkungsgrad ihrer Kraftwerke vermindern würden.32 Tatsächlich sinkt der Wirkungsgrad von Kraftwerken mit dem Einbau von Filteranlagen zur Luftreinhaltung, da deren Betrieb ebenfalls energieintensiv ist. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die optimale „Fahrweise“ des Kraftwerks und damit auf das ökonomische Ergebnis. Rauchgasentschwefelung war kurz gesagt in der Branche unbeliebt, vonseiten der Politik aber zunehmend als notwendig erachtet. Dennoch waren die Unternehmensführungen der Branche der Ansicht, dass die Politik die Stromwirtschaft ihre Arbeit machen lassen solle, statt diese durch neue Verordnungen und Gesetze davon abzuhalten. Diese statische Politikauffassung ließ sich auch bei der zu Beginn der 1970er-Jahre noch wenig professionellen Öffentlichkeitsarbeit der Energiekonzerne beobachten. Die Techniker in den Vorständen der Unternehmen waren – vereinfacht gesagt – der Ansicht, dass die Entscheidungen der Stromwirtschaft den Bürgerinnen und Bürgern wie der Politik nur vernünftig und rational erklärt werden müsse, um Verständnis zu bekommen. Große PR-Abteilungen seien damit überflüssig genauso wie jedes Technikpersonal, das Öffentlichkeitsarbeit betreibe. Diese Fachkräfte würden – so die Einstellung der technisch geprägten Vorstände – letzten Endes im Kerngeschäft der Unternehmen fehlen. Diese etwas vereinfachte Sichtweise auf Politik und gesellschaftliche Prozesse veränderte sich im Laufe der Zeit und die Stromwirtschaft erkannte, dass sie anders kommunizieren musste. Die Umweltgesetzgebung berührte fast unbemerkt auch das Problem der Steinkohleverstromung. Politisch und finanziell wurden Steinkohlekraftwerke protegiert, auch wenn sie viele Schadstoffe emittierten. Schließlich galten sie zusammen mit der Kernkraft als einzige heimische Energiequelle. So wandte sich etwa die IGBE im Zuge des Genehmigungsverfahrens des Kraftwerks Voerde an die Bundesregierung, um klarere Grenzwerte im BImSchG zu fordern.33 In diesem Punkt deckten sich die Auffassungen der Industriegewerkschaft und der Stromversorgungsunternehmen. Die Stromwirtschaft, namentlich die RWE, war jedoch auch Ende der 1970er-Jahre noch der Ansicht, dass das Bundesemissionsschutzgesetz in seiner reformierten Form noch immer keine ausreichende Rechtssicherheit bei Genehmigungsverfahren für Kohlekraftwerke herstelle.34 Ohnehin galt das VoerdeUrteil seit Mitte der 1970er-Jahre als Referenz für die Umweltschutzgesetzgebung, 32 33
34
Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 17. August 1988, S. 2, E.ON-Archiv München, EEA 3275. Brief des Hauptvorstandes der IGBE an den Bundeskanzler vom 13. Juli 1976 zum Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Münster gegen den Ausbau des Kraftwerkes Voerde. Zit. nach Martiny, Martin / Schneider, Hans-Jürgen (Hg.), Deutsche Energiepolitik seit 1945. Vorrang für die Kohle, Dokumente und Materialien zur Energiepolitik der Industriegewerkschaft Bergbau und Chemie, Köln 1981, S. 367 f. Das Gericht hatte die Immissionswerte der TA-Luft in seiner mündlichen Urteilsbegründung nicht als bindende Grenzwerte, sondern lediglich als Orientierungswerte herangezogen. Notiz über die Vorstandsratssitzung am 11. September 1978, HKR W8/2.
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während Energieversorger und Industrieverbände eine moderate Fortschreibung der TA-Luft, die den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand berücksichtigte, durchaus für angemessen hielten.35 Gleichwohl hatte sich dieser aus Sicht der Energieunternehmen und der Industrie nur unwesentlich verändert.36 Die Umweltgesetzgebung war für die Stromversorger auch ein Problem bei neu zu errichtenden Anlagen, sofern diese mit besonders emissionsschädlicher Kohle betrieben wurden. Bereits im Jahr 1974 stellte sich die Preußenelektra die Frage, ob die vom Bundeswirtschaftsministerium auferlegten neuen Entschwefelungsrichtlinien den „Todesstoß für die Kohleverstromung bedeuten würden“.37 Das Unternehmen sah vor allem den Betrieb der Kraftwerke im Helmstedter Revier gefährdet, weil diese mit stark schwefelhaltiger Kohle, sogenannter Salzkohle, betrieben wurden. Ein von der Landesregierung Niedersachsen in Auftrag gegebenes Gutachten kam 1984 zu dem Ergebnis, dass der Betrieb von Kraftwerken mit Salzkohle durch die Nachrüstung einer REA kaum noch wirtschaftlich vertretbar sei.38 Eine wirtschaftliche Nutzung der Anlagen, so das Gutachten, sei nur durch staatliche Alimentierung oder durch eine Abwälzung der Kosten auf den Strompreis erreichbar.39 Deshalb wies die Preußenelektra darauf hin, dass die Errichtung eines neuen 300-MW-Blocks, der mit Salzkohle betrieben werden sollte, durch die Auflage einer REA undurchführbar sei. Diese würde die ohnehin schon hohen Erzeugungskosten weiter verteuern, hieß es beim Unternehmen.40 Auch bereits im Probebetrieb befindliche Kraftwerke, wie der Block IV des Kraftwerks Staudinger, würden nach Ansicht des Unternehmens damit belastet, dass die Gesetzgebung für ein Drittel der Rauchgasmenge eine REA fordere. Diese nachträgliche Auflage, so das Statement der Preußenelektra, sei durch den „Druck einiger Gemeinden und Bürgerinitiativen erteilt worden“. Aufgrund dieser Umstände erwog der Stromkonzern sogar, das Kraftwerk anstelle von Heizöl mit Gas zu betreiben. Von den Genehmigungsbehörden wurde nach dem Dritten Verstromungsgesetz für diese Betriebsweise eine Erlaubnis in Aussicht gestellt, da die energiepolitische Priorität dieser Zeit vor allem darin bestand, Öl, nicht aber Kohle zu verdrängen.41 35
36
37 38 39 40 41
Nach dem sogenannte Voerde-Urteil des OVG Münster aus dem Jahr 1976 wurde der Stromwirtschaft, hier namentlich den RWE, die Erweiterung des gleichnamigen Kraftwerks um einen weiteren Block mit dem Verweis auf die Emissionsbelastung untersagt; siehe Urteil des OVG Münster vom 7. Juli 1976. Für ausführlichere Informationen zur Urteilbegründung siehe Deutsches Verwaltungsblatt 91 (1976) 19/20, S. 790–798. Stellungnahme der VEBA zum Änderungsentwurf 1981 der TA-Luft, Dezember 1981, S. 6, E.ON-Archiv Düsseldorf, VEBA AG Aufsichtsratssitzung 18. März 1981, Ordner 68; Schreiben der RWE-Hauptverwaltung, Schriftliche Begründung des Oberverwaltungsgerichts vom 7. Juli 1976 in Sachen Kraftwerk Voerde A/B, HKR 6216. Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 8. Mai 1978, S. 20, E.ON-Archiv München, EEA 3275. Rentz, Otto, Stand der Technik und wirtschaftliche Vertretbarkeit einer Rauchgasentschwefelung im Sinne von § 17 BImSchG für das „Salzkohle“-Kraftwerk Buschhaus, Karlsruhe 1984, S. 96. Ebd., S. 98. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 9. Mai 1978, S. 6, E.ON-Archiv München, EEA 608. Ebd., S. 7.
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Die fortwährende Reduzierung der noch erlaubten Emissionswerte löste innerhalb der Stromwirtschaft große Besorgnis aus. Aufgrund der unterschiedlichen Erzeugungsstruktur gab es von den Unternehmen durchaus heterogene Forderungen in Bezug auf die Ausgestaltung der Novellierung des BImSchG. So verwies beispielsweise Preußenelektra-Vorstand Suchanek darauf, dass sein Unternehmen im Unterschied zu den RWE, darauf bestehe, dass eine Ausweitung der Bestimmungen zur Rauchgasentschwefelung sich ausdrücklich auch auf Braunkohlekraftwerke beziehen solle.42 In der gesamten Stromwirtschaft teilte man die Sorge, dass die Verschärfung der Grenzwerte, die dem Gesetzgebungsprozess seit Mitte der 1970erJahre innewohnte, die Stromerzeugungskosten Schritt für Schritt erhöhen würde. Vor allem fürchteten die Energieversorger eine nachträgliche Verschärfung der Grenzwerte durch Gerichte und Behörden. Dem sollte mit der Festlegung exakter Abgabewerte entgegengewirkt werden, um eine nachträgliche Verschärfung zu verhindern.43 Die größten Ängste neben der Altanlagenproblematik löste in der Stromwirtschaft indes die Kostenfrage der Nachrüstmaßnahmen aus. Oft eingebettet in juristische und technische Begründungen drehten sie sich vor allem um die Frage, ob und wie die Milliardenaufwendungen auf den Strompreis umgelegt werden sollten. Bis zur endgültigen Regelung der TA-Luft und der GfAVO im Jahr 1983 versuchten die Energieversorger mit allen Mitteln, diese zu verhindern oder zumindest in der Wirkung für die Unternehmen abzumildern. In technischer Hinsicht war es allerdings nur zum Teil richtig, wenn die Stromwirtschaft behauptete, dass sich die Nachrüstung von Filtern für Entstickungs- und Entschwefelungstechnologien negativ auf die Leistungsfähigkeit von Kohlekraftwerken auswirkte. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der entsprechende Filter selbst Energie verbrauchte und dass durch die Funktion des Filters der Wirkungsgrad – und damit die Leistungsfähigkeit – des mit dem Kohle befeuerten Kraftwerks sank. Ob die Kraftwerke damit „nur noch zur Hälfte Kraftwerke und zum Rest Chemiewerke“ seien,44 wie Branchenvertreter behaupteten, scheint jedoch fraglich. Die begrenzte Wirtschaftlichkeit und Einsatzfähigkeit von Kraftwerken mit Filtern sollte dazu führen, dass die Energiekonzerne zumindest in ihren Planungen mit einer größeren Reserveleistung rechneten. Sie gingen davon aus, dass die Installation automatischer Abschaltvorrichtungen im Fall der Überschreitung von Grenzwerten dazu führte, dass ganze Kraftwerke nicht mehr zur Verfügung stünden. Die Effizienz der Kraftwerke (Wirkungsgrad)45 wurde durch die REA jedoch letztlich nur um 6 % gemindert.46 Angesichts der bestehenden Kraftwerksüberka42 43 44
Ebd., S. 8. Ebd. So der Vorstandsvorsitzende Erhard Keltsch 1978, Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 9. Mai 1978, S. 8, E.ON-Archiv München, EEA 608. 45 Zachmann, Karin, Wirkungsgrad contra Wertegrad. Zur Entstehung des Konflikts zwischen der technischen und der ökonomischen Auffassung des Wirtschaftens, in: Technikgeschichte 62 (1995) 2, S. 103–131. 46 Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 9. Mai 1978, S. 8 f., E.ON-Archiv München, EEA 608.
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pazitäten seit Ende der 1970er-Jahre dürfte diese Minderung der Kraftwerksleistung keine allzu große Belastung gewesen sein. Vielmehr noch dürfte dies, wenn auch im kleinen Maßstab, zum Abbau von Überkapazitäten beigetragen haben. Der monetäre Aspekt war jedoch nicht zu vernachlässigen, weil Umweltschutzmaßnahmen für die Energieversorger sehr kapitalintensive Investitionen bedeuteten.47 Schon 1983 hatte die Bundesregierung relativ grob geschätzt, dass die GfAVO die Unternehmen zwischen 6 und 12 Mrd. DM kosten würde.48 Rein ökonomisch betrachtet, war die Altanlagen-Regelung für die EVU der bedeutsamste Teil der GfAVO. Allein die Nachrüstung von Altanlagen seit Mitte der 1980er-Jahre verursachte für alle öffentlichen EVU Investitionen in Höhe von 21 Mrd. DM, die zu einer Kostensteigerung beim Strompreis von 2,9 Pf je kWh führten. Die Kosten teilten sich auf in Entschwefelung, die insgesamt ca. 15 Mrd. DM ausmachte, und Entstickung, die ungefähr 7 Mrd. DM kostete. Mit Investitionskosten zwischen 6 und 12 Mrd. DM bis 1993 waren diese Anlagen zweifelsfrei kein preiswertes Unterfangen für die Stromwirtschaft. Mit Ausnahme von 5 % der Kosten konnten diese jedoch komplett auf den Strompreis umgelegt werden.49 Tatsächlich spielte die Steinkohleverstromung bei der Umlegung der Umweltschutzkosten auf den Strompreis eine wichtige Rolle, wenn man den Zeitungsmeldungen von damals Glauben schenken darf. So erklärten die RWE gegenüber der Zeitung Die Welt, dass die Umweltschutzkosten Ende der 1980er-Jahre nur deshalb erträglich seien und der Strompreis konstant gehalten werden könne, weil den Unternehmen in den Jahren 1985 bis 1987 erhöhte Zuschüsse für die Verstromung heimischer Steinkohle zugeflossen seien. Diese habe der Stromkonzern unter anderem zur Deckung der Kosten aus dem Umweltschutz verwendet.50 Seit Mitte der 1970er-Jahre hat die Stromwirtschaft die Anstrengungen in puncto Umweltauflagen mit einer gehörigen Portion Skepsis beäugt. Besonders die unklaren finanziellen Rahmenbedingungen, die aus den Regelungen erwachsen mochten, sorgten in der Branche für Irritation. Diese identifizierte auch schon bald die Politik als Ursache des Problems, handele diese doch zunehmend „auf Druck der Straße“.51 Vor der endgültigen Regelung der Umweltschutzgesetze in den frühen 1980erJahren fand eine intensive Diskussion zwischen Stromwirtschaft und verschiedenen Bundesministerien statt. Die Energiebranche verfolgte dabei die Strategie, niedrigere Grenzwerte für Kohlekraftwerke möglichst zu verhindern. Häufig wurde dabei die schwindende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen ins Feld geführt. Dabei war nicht nur die Höhe der Grenzwerte entscheidend, sondern auch, ob die Regelungen nur für Altanlagen oder auch für neu erbaute Kraftwerke 47 48 49 50 51
Jung, J., Investitionsaufwand für die SO2- und NOx-Minderung in der deutschen Elektrizitätswirtschaft, in: VGB Kraftwerkstechnik, Februar (1988) 2, S. 154–157, hier S. 154. Zahlenangaben der Bundesregierung, zit. nach Salzwedel, Jürgen / Preusker, Werner, Umweltschutzrecht und -verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Köln u. a. 1983, S. 49. Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 6. Juli 1983, S. 3, E.ONArchiv München, EEA 609. Der Kohlepfennig: Ein warmer Regen – für wen?, In: Die Welt, Nr. 285, 6. Dezember 1988. Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 8. Mai 1978, S. 20, E.ON-Archiv München, EEA 608.
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gelten sollten. Diese Sorge kursierte innnerhalb der Branche unter dem Stichwort „unbestimmte Rechtsbegriffe“.52 Gemeint war damit, wie oben bereits dargelegt, dass die Umweltschutzgesetze durch eine nachträgliche Anordnung möglicherweise auch für Altanlagen gelten könnten.53 Dass diese Befürchtungen der Stromwirtschaft in diesem Punkt durchaus berechtigt waren, zeigte sich denn auch 1983, als genau dies gesetzliche Realität wurde. Die 1983 in ihren Grenzwerten verschärfte und auf Altanlagen ausgeweitete GfAVO setzte die Energiekonzerne unter erheblichen Handlungsdruck, indem die neuen Bestimmungen bis zum 1. Juli 1988 umgesetzt sein müssten. Der Zeitdruck wird auch daran deutlich, dass allein im Jahr 1987 Kraftwerke mit einer Feuerungsleistung von insgesamt 25 GWth mit einer Entschwefelungsanlage ausgerüstet wurden. Die Zahl erhöhte sich im Folgejahr um weitere 55 GWth. Im Vergleich dazu mutet die vorangegangene Dekade geradezu bescheiden an, denn zwischen 1976 und 1986 waren gerade einmal Kraftwerke mit einer Leistung von 25 GWth mit derartigen Anlagen ausgestattet bzw. in Betrieb genommen worden.54 Von politischer Seite wurde den Stromkonzernen in Aufsichtsratssitzungen davon abgeraten „nur auf die kostentreibende Wirkung von Umweltschutzmaßnahmen hinweisen zu wollen. Appelle, am Umweltschutz zu sparen, zahlten sich politisch nicht aus“,55 mahnte beispielsweise der hessische Finanzminister Heribert Reitz gegenüber der Preußenelektra an. Zwar verhallten diese Hinweise in der Stromwirtschaft nicht ungehört, dennoch ließ sich die Branche durch solche Ratschläge kaum in ihrem Kurs beirren und verwies darauf, dass sie zwar nicht absolut gegen Umweltschutz eingestellt sei, dieser aber kostenmäßig vertretbar und effizient sein müsse.56 Sowohl die politischen als auch die stromwirtschaftlichen Ebenen müssen jedoch differenziert werden: Während also der hessische Finanzminister Reitz die Energieversorger vor einer einseitigen Betrachtung warnte, verwies etwa der Landrat des Kreises Dithmarschen, Karl-Heinrich Buhse, darauf, dass eine Anti-Umweltschutz-Politik von den Energiekonzernen gar nicht beabsichtigt sei. Der Öffentlichkeit müsse aber unmissverständlich klargemacht werden, dass durch Umweltmaßnahmen verteuerter Strom irgendwann unverkäuflich werden könne.57 Von den Energieversorgungsunternehmen wurden hinsichtlich der Umweltschutzgesetzgebung aber noch ganz andere Argumente ins Spiel gebracht und vor allem eindeutig festgestellt, auf wessen Konto die Verschärfung der Gesetzgebung gehe. So „warnte Ulrich Segatz davor, die gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht 52 53 54 55 56 57
Vorbereitungsdokument für die Gespräche von Rudolf von Bennigsen mit dem PREAG-Vorstand, AR- und Beiratssitzungen am 12. November 1981 bzw. 3. Dezember 1981, S. 7, E.ONArchiv Düsseldorf, PREAG 300, Aufsichtsratssitzungen 1981. Siehe u. a. Kloepfer, Michael, Umweltrecht, München 1989, S. 404 f. Holschumacher, Ralf / Rentz, Otto, Emissionsarme Energieerzeugung in Kohlekraftwerken. Determinanten der Entwicklung und Ausbreitung von Emissionsminderungstechnologien – Ein internationaler Vergleich, Berlin 1995, S. 140 f. Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 3. Dezember 1981, S. 15, E.ON-Archiv München, EEA 608. Ebd., S. 16. Ebd.
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ausschließlich als Akzeptanzproblem zu verstehen. Es gehe vielmehr auch darum, die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen auf ihre technische Verwirklichbarkeit und im übrigen daraufhin zu überprüfen, wie weit sie eine Stromerzeugung nicht nur verteuern, sondern in ganzen Regionen unmöglich machen. Nicht die Öffentlichkeit oder gar der Strompreiskunde forderten immer neue Umweltschutzmaßnahmen. Der Druck dazu komme vielmehr von den beamteten Umweltschützern. Bezeichnend dafür sei, daß der 1978 gestartete Versuch einer TA-Luft Novellierung im Bundesrat am Widerstand der Länder gescheitert sei. Jetzt werde ein neuer Anlauf mit weiteren Verschärfungen unternommen.“58 Auch wenn hier eindeutige Schuldzuweisungen vom Vorstandsmitglied eines Energiekonzerns in Richtung „beamtete Umweltschützer“ vorgenommen wurden, so zeigt diese Auffassung nicht unbedingt die Meinung der gesamten Branche. Gleichwohl waren Vorurteile gegenüber Kritikern der Branche, Kernenergiegegnern und grünen Ideengebern in der Stromwirtschaft keine Seltenheit. Faktisch lag der energiewirtschaftliche Vorstand der Preußenelektra mit seiner Einschätzung bezüglich der Herkunft der Öko-Bewegung jedoch gar nicht so falsch. Prägend für das kollektive Gedächtnis bei Protesten gegen Atomkraft waren vor allem Wasserwerfer und die bürgerkriegsähnlichen Szenen. Darüber hinaus wird allerdings leicht vergessen, dass die Umweltbewegung nur zum Teil von außen in die politische Sphäre einbrach. Vielmehr entwickelten sich „Natur- und Umweltschutzbewegung im großen und ganzen in Affinität zu staatlichen Instanzen“.59 Die ,Neuerschaffung‘ des Politikfeldes „Umweltpolitik“ durch die sozialliberale Koalition seit 1970 belegen ebenso wie die Vielzahl von umweltpolitischen staatlichen Bildungsinitiativen und die Aktivitäten von Forstverwaltungen oder Gewerbeaufsichtsämtern sowie der Kommunalverwaltung insgesamt, dass die Entwicklung des Umweltbewusstseins (und einer gesellschaftlich relevanten Ökologiebewegung) ohne das Zutun staatlicher Institutionen nicht zu verstehen ist.60 Die Situation Ende der 1970er-Jahre war für die Energiewirtschaft angesichts der Kernenergiediskussion und des schwindenden Vertrauens breiter gesellschaftlicher Gruppen in „Experten“ ohnehin schwierig. Nicht zuletzt aufgrund dieser Situation wurde es für Energieversorgungsunternehmen zusehends komplizierter, einer sensibler werdenden Öffentlichkeit, komplexe juristische und technische Detaildiskussionen, etwa zur Novellierung der TA-Luft, zu vermitteln. Das Vermittlungsproblem traf im Übrigen auf viele Themen in der Stromwirtschaft zu. Für Laien handelte es sich dabei zumeist um vermeintlich simple, einfach zu erklärende Zusammenhänge. Die landläufige Meinung, dass Strom doch schließlich aus der Steckdose komme, vereinfacht das komplexe System „Energieversorgung“, das aus verschiedenen komplizierten Wissensgebieten besteht. Deren Verknüpfung macht das Verständnis nicht gerade einfacher. Ferner zogen sich die Vorstände der Energiekon58 59 60
Ebd., S. 16. Radkau, Joachim, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, S. 311. Kloepfer, Michael (Hg.), Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsentwicklung, Bonn 1995; Küppers, Günter / Lundgreen, Peter / Weingart, Peter, Umweltforschung – die gesteuerte Wissenschaft? Eine empirische Studie zum Verhältnis von Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftspolitik, Frankfurt/M. 1978.
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zerne wiederholt auf die Position zurück, dass doch nur sachlich argumentiert werden müsse, um sich verständlich zu machen. Dies war für das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft, Staat und Öffentlichkeit nicht gerade förderlich, zumal Energieversorgung seit den 1970er-Jahren immer mehr durch juristische und betriebswirtschaftliche und zusehends weniger durch technische Fragen und Probleme geprägt war. Das zeigte sich mit einem Jahrzehnt Verspätung auch in der Zusammensetzung der Vorstände der Unternehmen. Allein durch diese Verrechtlichung und Ökonomisierung haben sich die Unternehmen der Stromwirtschaft verändert. Flankiert wurde diese Entwicklung durch eine Pluralisierung der öffentlichen Meinung zu Energiefragen, Versorgern und deren Umwelthandeln. Aus diesem Grund wurde es für die Stromwirtschaft immer schwieriger, auf umweltpolitischem Terrain ihre Interessen durchzusetzen. Am Beispiel des hessischen Braunkohlekraftwerks Borken lässt sich exemplarisch zeigen, welche Strategien die Stromwirtschaft beim Umweltschutz verfolgte und wie die Branche vor allem gegenüber politischen Entscheidungsträgern argumentierte. Borken verdeutlicht, dass ein rentabler Weiterbetrieb von alten und damit besonders immissionsträchtigen Anlagen nur begrenzt möglich war. Laut Aussagen der Preußenelektra von 1983 wären von der Schließung des Kraftwerks im PREAG-Konzern ca. 2.600 Arbeitsplätze, davon rund 1.200 im Braunkohlenbergbau, betroffen gewesen. Bis zum Ende ihrer geplanten Lebensdauer hätten einige Kraftwerksblöcke daher entweder eine Ausnahmegenehmigung gebraucht oder hätten mit erheblichen Mitteln um den Preis der verminderten Wirtschaftlichkeit nachgerüstet werden müssen.61 Im Fall der Kraftwerke Buschhaus und Offleben versuchte die Stromwirtschaft erneut mit dem Arbeitsplatzargument zu punkten. Denn bei Schließung des Tagebaus und des Kraftwerks wären insgesamt 3.200 Arbeitsplätze gefährdet gewesen. 1987 wurde ein künftiger Weiterbetrieb von Borken in den 1990er-Jahren neben den Brennstoff- und Personalkosten auch daran geknüpft, dass man in Zukunft keine weiteren Genehmigungsschwierigkeiten erwartete.62 Öffentlichkeit, Medien und Genehmigungsbehörden spielten spätestens seit Ende der 1970er-Jahre eine kaum zu unterschätzende Rolle in Energie- und Umweltfragen. Diese Veränderungen wurden in der Stromwirtschaft durchaus mit Sorge registriert und führten unter anderem dazu, dass man die Chancen zur Durchsetzung eigener Positionen durchaus kritisch sah. Die Preußenelektra erhoffte sich zwar für Buschhaus und andere Kraftwerke Ausnahmegenehmigungen, doch dem Unternehmen war auch bewusst, dass Behörden dabei nicht zuletzt durch grüne Bundestagsabgeordnete, die medienwirksam gegen Buschhaus protestiert hatten, unter immer größeren Druck geraten waren.63
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Sprechzettel für Rudolf von Bennigsen zur Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra am 6. Juli 1983, S. 3, E.ON-Archiv Düsseldorf, 1/6/44–35. Dokument für Rudolf von Bennigsen bezüglich der Rückfragen „Mehrkosten für den Weiterbetrieb Borken“ auf den PREAG-Sitzungen vom 15. Mai 1987, Anlage 1, E.ON-Archiv Düsseldorf, 1/5/42–292. Sprechzettel für Rudolf von Bennigsen zur Aufsichtsratssitzung der Preußenelektra am 6. Juli 1983, S. 4, E.ON-Archiv Düsseldorf, 1/5/41–285.
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Die Auseinandersetzungen um das Kraftwerk wurden von einer breiteren Öffentlichkeit spätestens seit dem Sommer 1984 als „Buschhaus-Affäre“ wahrgenommen. Problematisch war an dem Kraftwerk vor allem das Fehlen der erforderlichen Entschwefelungstechnik. Das Kraftwerk, das von der hundertprozentigen Preußenelektra-Tochter BKB betrieben wurde, war 1977 noch ohne eine solche Entschwefelungsanlage genehmigt worden. Zu diesem Zeitpunkt war diese aber eigentlich bereits umweltpolitische Normalität. Die Politik der „hohen Schornsteine“, die auch für Buschhaus zutraf, wurde dennoch für die Inbetriebnahme sowie die Genehmigung von Kohlekraftwerken als ausreichend erachtet. Das Kraftwerk, so urteilte Andreas Wirsching in seiner Monografie über die Bundesrepublik der 1980erJahre, sei nicht zuletzt deshalb ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, weil die ursprünglichen Standards, die für das Projekt festgelegt worden waren, „von der umweltpolitischen Entwicklung überholt zu werden“64 drohten. Die Debatte um das Kraftwerk entzündete sich also in der Zeit nach seiner Genehmigung vor allem an der Frage, welche umweltpolitischen Maßstäbe für seinen Weiterbetrieb gelten sollten. Dabei wird deutlich, dass Umweltschutzfragen vor allem ein Aushandlungsprozess zwischen Energieversorgungsunternehmen und Politik, hier der Landesregierung, waren. Beim Kraftwerk Buschhaus verfing letztlich das Arbeitsplatzargument in der Politik und führte dazu, dass das Kraftwerk ohne REA in Betrieb ging.65 Trotz der weiterhin hohen Emissionen sprach der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht noch im Jahr 1984 davon, dass Buschhaus ein „Musterbeispiel von geglückter Umweltpolitik“66 sei. Die Umweltproblematik, so lässt sich an den Gesprächen zwischen Preußenelektra und der hessischen Landesregierung im März 1986 erkennen, wurde weder von Energieversorgern noch von der Politik, in diesem Fall der hessischen Landesregierung, getrennt von anderen Politikthemen diskutiert. Vielmehr brachten Zugeständnisse bei einem Punkt fast zwangsläufig Auswirkungen auf andere Themen mit sich. Nach einem Gespräch des Kraftwerksvorstandes Heinz Cramer mit dem hessischen Umweltminister Joschka Fischer berichtete dieser in der Vorstandsratssitzung des Energieversorgers, dass er bei der Rauchgasentschwefelung bzw. den Grenzwerten für die Emission kaum Möglichkeiten des Entgegenkommens durch die Landesregierung sehe. Das Kraftwerk Borken würde nach Cramers Einschätzung bereits 1988 geschlossen werden, sollte das Unternehmen „keine akzeptable Genehmigung für die Rauchgasentschwefelung und die Deponierung der Filterstäube und für die geplanten Anlagen nicht den zugesagten Zuschuss erhalten“.67 An diesen Aussagen des Preußenelektra-Vorstands wird deutlich, dass die Energiekonzerne durchaus in der Lage waren, Druck auf die Landeregierung auszuüben. Dies gelang vor allem dann, wenn, wie im Fall Borken, Umweltfragen von Kraftwerken mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen für die Region verknüpft waren. 64 65 66 67
Wirsching, Andreas, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, S. 367. Kemmer, Heinz-Günter, Der Kompromiß stinkt zum Himmel: Das Kraftwerk Buschhaus geht in Betrieb, in: Die Zeit, 27. Juli 1984. Der Spiegel, 19. November 1984, S. 143. Protokoll der Vorstandsratssitzung der Preußenelektra vom 6. März 1986, S. 2, E.ON-Archiv, Hannover Vorstand.
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Doch nicht alle Unternehmensabteilungen waren vom Weiterbetrieb alter Anlagen unter Ausnahmegenehmigungen vorbehaltlos begeistert. So warnte vor allem die juristische Abteilung der Preußenelektra vor einem Vertrag mit der Landesregierung über den Weiterbetrieb des Kraftwerkes Staudinger. Dieser könne möglicherweise Grenzwerte festlegen, die über die Forderungen der GfAVO hinausgingen und von denen auf diese Weise „eine präjudizierende Wirkung für die übrigen Kraftwerke zu erwarten“68 sei. Eine alte Befürchtung der Stromwirtschaft aus der Anfangszeit der Umweltschutzgesetzgebung kam hierbei wieder zum Tragen – nämlich das Problem der Rechtssicherheit für die Genehmigung und den Betrieb ihrer Anlagen. Ein wenig anders stellte sich die Diskussion um die Nachrüstung des Kraftwerks Borken mit einer REA dar. In einem Protokoll über das Gespräch mit Fischer hieß es: „Der Widerspruch [der Preußenelektra] gegen die Genehmigung der REA Borken wird vom Umweltministerium als flankierende Maßnahme für den Kernkraftwerksantrag nach EnWG gesehen. Für den Standort Borken sei ein AKW indiskutabel, da sei Fischer sich mit Börner und Steger einig. Das Umweltministerium seinerseits betrachtet den Standort Borken auch über 1993 hinaus auf der Basis der Braunkohle als lebensfähig. Das sei auch der Grund für die Festschreibung der Arbeitskräfte gewesen. Man [das hessische Umweltministerium] werde alles daran setzen, das Kernkraftwerk zu verhindern, und vor diesem Hintergrund ist auch der Weiterbetrieb der Anlage mit vergleichsweise hohen NOx- und SO2-Werten akzeptabel. Nur so sei auch das Engagement des Landes Hessen bei der Finanzierung der Entschwefelungsanlage zu sehen.“69 Die hessische Landesregierung, und insbesondere ihr Umweltminister Joschka Fischer, legte besonderen Wert darauf, dass in Borken anstelle eines alten Braunkohlekraftwerks kein Kernkraftwerk entstand. Es verwundert daher kaum, dass die Landesregierung zu dem Zugeständnis bereit war, sich an der Finanzierung der REA zu beteiligen. Gleichwohl kann die grundsätzliche Frage gestellt werden, ob diese staatliche Beihilfe angesichts der umweltpolitischen Gesetzeslage, die die Energiekonzerne dazu verpflichtete, ihre Anlagen mit emissionsmindernden Filtern auszurüsten, überhaupt notwendig gewesen wäre. Für den Vorstand des Energieversorgers schien das Vorgehen im Fall Borken jedenfalls klar: „Was Borken angeht, dürfen keine weiteren Zugeständnisse hinsichtlich der Betriebszeit [des Braunkohlekraftwerks] gemacht werden. Danach endet die Betriebszeit des Kraftwerkes spätestens 1993.“70 Tatsächlich wurden die Pläne für ein Kernkraftwerk in Borken anstelle des alten Braunkohleblocks mit der Stilllegung des Kraftwerks am 15. März 1991 und mit der Sprengung des alten Kraftwerksturms 1995 endgültig beerdigt. Die Stromwirtschaft bekämpfte die Umweltschutzgesetzgebung bis zu Beginn der 1980er-Jahre mit verschiedenen Mitteln. Zu Beginn des Jahrzehnts stellte sich, 68 69 70
Ebd., S. 3. Protokoll über das Gespräch mit dem Hessischen Minister für Umwelt und Energie am 19. Februar 1986, Schriftwechsel Cramer 1986–1992, S. 4, E.ON-Archiv München, EEA 1065. Protokoll der Vorstandsratssitzung der Preußenelektra vom 6. März 1986, S. 3, E.ON-Archiv Hannover, Vorstand.
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wie gesagt, die Frage, ob die Stromwirtschaft ausschließlich die Rolle des ,Bremsers‘ in Sachen Umweltschutz einnehmen wollte. Vielmehr erkannte die Branche, dass Umweltschutz nicht ausschließlich kostenintensiv war, sondern auch gewisse Vorteile, zum Beispiel für das Image eines Unternehmens, mit sich bringen konnte. Dahinter stand die Erkenntnis, dass man an den Gesetzesvorhaben der Bundesregierung nichts mehr ändern konnte und einen „Alternativplan“ ins Auge fassen musste. Daher versuchte die Stromwirtschaft, sich an die „Spitze der Bewegung“ zu stellen und den Eindruck zu erwecken, als ob sie eigentlich schon immer für Umweltschutz im Kraftwerksbereich gewesen sei.71 Die Stromwirtschaft betonte dabei intern, dass sie „die breite Strömung in der Bevölkerung zugunsten von Luftreinhaltemaßnahmen keineswegs übersehen“72 habe. Vielmehr noch: Diese dürfe in ihrer politischen Wirkung nicht unterschätzt werden. Dabei gehe es jedoch nicht darum, „die vorhandenen Wünsche durch Nachgiebigkeit künstlich zu steigern und die maßgebliche Frage aus dem Auge zu verlieren, ob die Planungen noch der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft angepasst“73 seien. Die Position der Unternehmen können durch folgende Formulierung zusammengefasst werden: „Wir akzeptieren die unter dem Stichwort ‚saurer Regen‘ politisch motivierte Rauchgasentschwefelung für neue Kraftwerke; wir tun dies mit erheblichen Bedenken hinsichtlich der Effizienz dieser Maßnahmen, weil mit Kostenaufwand (ca. 1,5 Pf je kWh bei 4.000 Betriebsstunden/Jahr) zwar die Immission an Schwefeldioxid erheblich reduziert, aber die tatsächliche Immissionssituation ‚vor Ort‘ nur unerheblich verbessert wird. Wir wenden uns jedoch entschieden gegen die geforderte Nachrüstung der Altanlagen, weil diese Maßnahme in noch stärkerem Maße unverhältnismäßig hohe Kosten verursacht. […] Unseres Erachtens lohnt es sich nicht, Milliarden-Beträge – in einem Jahrzehnt sind es kumuliert ca. 25 Mrd. DM – dafür auszugeben, dass die Reduzierung der Schwefeldioxid-Emission und die damit verbundene geringe Immissionsverbesserung um einige Jahre vorgezogen wird. Langfristig wird die gleiche Immissionssituation, wenn auch etwa 10 Jahre später, erreicht, indem die neuen Kraftwerke mit Rauchentschwefelung im Rahmen des technisch/wirtschaftlichen Ersatzprozesses die Altkraftwerke ablösen. Wir halten daher die Anwendung der Rauchgasentschwefelung für neue, aber nicht für alte Kraftwerke für eine vernünftige Kompromissformel.“74 Die Stromwirtschaft beharrte also neben der grundsätzlichen Einsicht in Umweltschutzmaßnahmen auf deren kostenmäßiger Begrenzung und zeitlicher Streckung. Im anstehenden Gespräch mit dem Bundesinnenministerium solle versucht werden, so die Strategie des Aufsichtsratsvorsitzenden der Preußenelektra, die Restnutzungsdauer der älteren Kraftwerke entweder durch sinnvolle Begrenzung des Abscheidegrades für Schwefel oder durch praktikable Vorgaben für die Restlaufzeiten festzulegen. Diesen Zweck solle auch ein Gespräch mit dem niedersächsischen Innenminister Wilfried Hasselmann haben, indem klarzustellen sein werde, 71 72 73 74
Gespräch des Autors mit Dr. Werner Hlubek am 25. August 2009. Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 19. August 1982, S. 6, E.ON-Archiv München, EEA 3275. Ebd. Ebd., S. 4 f.
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„dass weitgehende Entschwefelungsforderungen auch erhebliche Stromverteuerungen bedeuten, die durch Kostenvorteile aus dem Kernenergieeinsatz nicht aufgefangen werden können“.75 Es wäre jedoch sachlich falsch zu behaupten, dass die Unternehmen der Stromwirtschaft nichts für den Umweltschutz getan hätten. Vielmehr verdeutlicht das Beispiel RWE, dass umweltpolitisches Handeln in der Stromwirtschaft durch Druck aus der Politik angeschoben wurde. Der rheinisch-westfälische Stromversorger war eines der aktivsten Unternehmen in Umweltschutzfragen, wenngleich deren Initialzündung von der Landesregierung gekommen war. Nordrhein-Westfalen kann schon seit den 1950er-Jahren als Vorreiter in der Bekämpfung von Luftverunreinigungen gelten.76 Hier wurde also nicht nur ein Großteil der Schadstoffbelastungen emittiert, sondern auch zuerst Erfolge in ihrer Reduktion erzielt. Schon zu Beginn der 1970er-Jahre unternahmen die RWE erste Aktivitäten zur Rauchgasentschweflung, indem sie eine Pilotanlage am Kessel 1 des Goldenbergwerks installierten.77 Der Testbetrieb schlug jedoch fehl, die Anlage konnte nicht länger als sieben Tage in Betrieb gehalten werden. Auch wenn dieser Versuch mit einer Nassentschwefelungsanlage gescheitert war, arbeitete das Unternehmen weiter an der Entschwefelung von Abgasen. Dabei wurde im Jahr 1974 in Abstimmung mit dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) die Festlegung gemeinsamer Grenzwerte für Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke verhandelt.78 Diese sollten sich, so ein Ziel des Ministeriums, in absehbarer Zeit annähern. Die Grenzwerte, die in den verschiedenen RWE-Kraftwerken erreicht wurden, waren jedoch höchst unterschiedlich. Mit der Verordnung des MAGS im Jahr 1977 war den RWE klar, dass vor allem bei der Entschwefelung in Braunkohlekraftwerken Handlungsbedarf bestand.79 Da das getestete Nassentschwefelungsverfahren nicht die erwünschten Ergebnisse brachte, jedoch aufgrund der politischen Vorgaben Handlungsdruck bestand, entwickelte das Unternehmen ein eigenes Verfahren: das Trocken-Additiv-Verfahren. Dieses ließ sich bei der Verfeuerung von Braunkohle besonders gut anwenden, da die chemische Reaktion im Gegensatz zur „nassen Variante“ auch im niedrigen Temperaturbereich erfolgreich vollzogen wurde.80 Der Test dieses Verfahrens im kleineren Rahmen am Kraftwerk Fortuna und etwas später am 600-MW-Kraftwerk 75 76 77 78 79 80
Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 18. November 1982, S. 6, E.ON-Archiv München, EEA 3275. Siehe u. a. Brüggemeiner, Franz-Josef, Erfolg ohne Väter? Die Umweltpolitik in der Ära Rau, in: Mittag, Jürgen / Tenfelde, Klaus (Hg.), Versöhnen statt Spalten. Johannes Rau: Sozialdemokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007, S. 193–204. Aktenvermerk RWE, Betriebsverwaltung Goldenbergwerk zur REA der Firma Bischoff, 8. August 1973, HKR 13565. Zit. nach Schmitz, Michaela, Die Umweltproblematik der RWE-Braunkohlekraftwerke in den 1980er-Jahren, unveröffentlichte Masterarbeit 2009, Univ. Bochum. Koch, Eckehard, Blau statt grau. Geschichte der Entschwefelung von Braun- und Steinkohlekraftwerken in NRW, in: Energiewirtschaft und Technik Verlagsgesellschaft (Hg.), Umwelt + Technik, Düsseldorf 1988, S. 17. Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG (RWE), Umwelt-Bilanz. Umweltschutz im und am Kraftwerk, Essen 1984, S. 8.
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in Neurath verlief relativ erfolgreich.81 Im Zuge der Elften Verordnung zum BImSchG vom 20. Dezember 1978 wurden die Betreiber von Großfeuerungsanlagen mit einer Leistung über 350 MW ohnehin dazu verpflichtet, eine sogenannte Emissionserklärung abzugeben. Die RWE hatten bereits im Vorfeld festgestellt, dass die darin festgelegten Grenzwerte für Schwefeldioxid allein in den Kraftwerken Neurath, Frimmersdorf und Niederaußem überschritten wurden. Wegen der bestehenden Gesetzeslage musste daher im darauffolgenden Jahr mit Auflagen oder Bußgeldern gerechnet werden. Um dieser Situation zu entgehen, wurde in einem internen Vermerk empfohlen, auf den Vorschlag des BDI einzugehen und das Kraftwerk Neurath, gewissermaßen als Zeichen des guten Willens, als Demonstrationsanlage zu nutzen. Ein Unterfangen, das auch beim Bundesumweltamt auf Wohlwollen stieß. Ein positiver Nebeneffekt dieses Engagements bestünde darin, „mindestens für einige Jahre ein Stillhalteabkommen mit den Aufsichtsbehörden zu erreichen“.82 Das Unternehmen teilte dem Umweltbundesamt sein Vorhaben im November 1979 mit. Die Planungen seien im vollen Gange und mit dem entsprechenden Landesministerium in naher Zukunft detailliert zu erörtern. Zeitgleich wollte man mit dem Bundesumweltamt die finanzielle Unterstützung für das Projekt verhandeln. Das Bundesumweltamt hatte bereits im Vorfeld Interesse an dem Projekt bekundet und finanzielle Unterstützung bei der Umsetzung in Aussicht gestellt. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Stromkonzern mit dem Bau der Großdemonstrationsanlage und der Anwendung des erfolgreich getesteten Verfahrens die Sache als abgeschlossen ansah. Denn die RWE beabsichtigten keinesfalls, das Verfahren auch auf die anderen unternehmenseigenen Braunkohlekraftwerke auszuweiten. Eine umfassende Nachrüstung der vorhandenen Blöcke sei „weder aus Umweltschutzgründen geboten, noch technisch ohne weiteres möglich“.83 Bis zur Inbetriebnahme der Großdemonstrationsanlage im Kraftwerk Neurath würden bis Ende 1982 allerdings noch einige Jahre vergehen. Ähnlich wie die hessische Landesregierung der Preußenelektra hatte auch die politische Führung in Nordrhein-Westfalen den RWE Zuschüsse für die Sanierung der Altanlagen in Aussicht gestellt. Insgesamt wären den RWE also die Nachrüstung ihrer Blöcke mit entsprechenden Filteranlagen durchaus preiswert gekommen. Nachdem die TA-Luft jedoch mit Wirkung vom 1. März 1983 novelliert und auch die langjährig umstrittene GfAVO zum 1. Juli 1983 in Kraft getreten war, veränderte sich das Kalkül der RWE. Dies geschah vor allem auch, weil die GfAVO eine Reihe neuer Regelungen enthielt, die das rheinische Braunkohlerevier betrafen.84 Wie andere Unternehmen auch nutzten die RWE eine Schwäche der Verordnung, um Ausnahmegenehmigungen für einen Teil ihrer Kraftwerke zu beantragen. Die GfAVO erlaubte nämlich für Braunkohlekraftwerke einen Emissionsgrenzwert von 81 82 83 84
Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG (RWE), Umweltschutzbrief, Essen 1981, S. 4 ff. Zit. nach Schmitz, Michaela, Die Umweltproblematik der RWE-Braunkohlekraftwerke in den 1980er-Jahren, unveröffentlichte Masterarbeit 2009, RUB Bochum. Ebd. Mez, Lutz, Neue Wege in der Luftreinhaltepolitik. Eine Fallstudie zum informalen Verwaltungshandeln in der Umweltpolitik am Beispiel des RWE, Berlin 1984, S. 75 f.
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650 mg/m3. Dieser war höher als für alle anderen fossil betriebenen Kraftwerke und wurde deshalb von Kritikern nicht ganz zu Unrecht als „Lex RWE“ bezeichnet.85 Das Thema „Nachrüstung“ hatte also auch für die RWE eine immense Bedeutung. Schon vor Inkrafttreten der GfAVO nahm das Unternehmen deshalb über die VDEW Einfluss auf die Ausgestaltung einiger Passagen im Gesetz, die besonders diese Problematik betrafen. Der Energiekonzern beklagte, dass einige Formulierungen missverständlich seien und so ausgelegt werden könnten, dass Behörden jederzeit Nachrüstungsmaßnahmen anordnen könnten. Daraufhin erwirkte der Stromversorger über den Verband die Umformulierung der entsprechenden Passagen.86 Seit September 1982 versuchte das Unternehmen, nicht mehr nur über die VDEW, sondern direkt Einfluss auf die Ausgestaltung der GfAVO zu nehmen, da es noch erhebliche Bedenken über die aktuelle Form des Gesetzesvorhabens hegte. Dem Konzern bereiteten vor allem die abgesenkten Grenzwerte für Schwefeldioxid Kopfzerbrechen.87 Das offensive Vorgehen des Unternehmens zeigte sich in personifizierter Form vor allem im Kraftwerksvorstand Franz-Josef Spalthoff. Insbesondere im Gespräch mit Arbeitsminister Friedhelm Farthmann wurde deutlich, dass es dem Stromversorgungsunternehmen um die Erhöhung der Schwefeldioxid-Grenzwerte ging. Ganz konkret wollte es die Anwendung dieser Werte auf die laufenden Genehmigungsverfahren seiner neuen Kraftwerksblöcke für Goldenberg und Neurath verhindern und ging deshalb entsprechend offensiv zu Werke.88 Darüber hinaus thematisierte Spalthoff in diesem Gespräch intensiv die Altanlagenregelung. Er wollte, dass Farthmann und das MAGS sich auf Bundesebene für erneute Gespräche zu dieser Problematik einsetzten.89 Um das umfangreiche Umweltprogramm mit den strikten Grenzwerten von 400 SO2 mg/m3 einzuhalten, entschied sich der Stromkonzern für das Calcium-Gips-Verfahren.90 In Branchenkreisen wurde intensiv darüber diskutiert, wie die bei diesem Verfahren anfallenden großen Mengen Gips wirtschaftlich verwertet werden sollten.91 Die Stromwirtschaft verwies darauf, dass durch die Verwertung ihrer Abfälle die 85 86 87 88 89 90
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Ebd., S. 121. Statement zum Vorentwurf einer Verordnung über Großfeuerungsanlagen und Verbrennungskraftmaschinen (Fassung Dezember 1980), HKR 13511. Abteilung Kraftwerksbetrieb. Anfrage von Rinke an Heiderhoff zur SO2-Emissionsminderung bei Kohlekraftwerken vom 2. Februar 1982, HKR 13512. Schriftliche Gesprächsvorbereitung, Gespräch Josef Spalthoff mit Minister Friedhelm Farthmann am 30. September 1982, HKR 13512. Ebd. Die RWE hatten in einer freiwilligen Vereinbarung gegenüber der Landesregierung zugestanden, für insgesamt 6.600 MW Braunkohlekraftwerksleitung das bei Braunkohle mögliche Trocken-Additiv-Verfahren vorzunehmen. Die Investitionen waren mit ca. 100 Mio. DM vergleichsweise niedrig. Bei den Verfahren für Steinkohle, bei denen das Schwefeldioxid aus dem Rauchgas entfernt werden musste, waren die Investitionen um etwa den Faktor sieben höher, wobei allerdings auch die Schwefelabscheidung höher war. Siehe Vorlage für Rudolf von Bennigsen vom 17. August 1982 für die Verwaltungsausschusssitzung der Preußenelektra am 19. August 1982, S. 5, E.ON-Archiv München, EEA 3275. Backes, Heinz-Peter, Ein hochwertiger Rohstoff. Verwertung von Gips als Produkt aus REAAnlagen der Steinkohlekraftwerke, in: EWT 38 (1988), S. 122–125; Sonderbeilage Umwelt + Technik, Entschwefelung, Dokumentation Braun- und Steinkohlentschwefelung in NRW.
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natürlichen Gipsvorkommen geschont würden und damit die sonst erforderlichen Gipsdeponien vermieden werden könnten. Gleichwohl bestand durchaus Einigkeit darüber, dass man die bestehende Gipsindustrie nicht in den ökonomischen Ruin treiben wolle. In einer Arbeitsgruppe mit der Gipsindustrie wurde ein gemeinsames Verwertungskonzept erstellt, das die zum Teil euphorisch bewerteten Verwertungsmöglichkeiten relativieren und auf Grundlage einer Aufwand-Nutzen-Analyse bewerten sollte. Darin kommt deutlich zum Ausdruck, dass der vollständigen Verwertung enge Grenzen gesetzt seien und die Errichtung von Deponien unausweichlich sei.92 Erst Mitte der 1990er-Jahre wurden, insbesondere für die Reststoffe aus Braunkohlekraftwerken, neue Verwertungsmöglichkeiten, zum Beispiel durch den Bau neuer Fabriken in der Gipsstoffindustrie, geschaffen.93 Da alle Entschwefelungsanlagen bis zum 1. Juli 1988 in Betrieb genommen werden mussten, war der Zeitplan für die Energiekonzerne sehr knapp bemessen. Abzüglich des Genehmigungsverfahrens, das bis zu 10 Monate dauerte, blieben den Unternehmen kaum mehr als drei Jahre, um die Vorgaben umzusetzen. In Anbetracht sonstiger Revisionszeiten und damit einhergehender Stillstände von Kraftwerken wurden die Unternehmen durch diese Maßnahmen erheblich unter Druck gesetzt. Für die REA investierten die RWE in den folgenden Jahren ungefähr 8 Mrd. DM, wovon allein 6,4 Mrd. DM auf die Nachrüstung von alten Kraftwerksblöcken entfielen.94 Auf die gesamte Stromwirtschaft hochgerechnet sollen die Investitionen wohl 14,2 Mrd. DM für Entschwefelungstechnik betragen haben.95 Die RWE übten mit ihrem Vorgehen erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Umweltpolitik aus. In strategischer Absicht ging es dem Energieversorger, ähnlich wie der Preußenelektra, um die Ausweitung und zeitliche Streckung seiner Entscheidungsspielräume und Handlungsoptionen in Sachen Umweltinvestitionen. Dabei galt es, die Kosten, sofern nicht vermeidbar, möglichst umfassend auf die Stromverbraucher abzuwälzen. Die Preußenelektra beäugte im Jahr 1986 das Eintreten der RWE für Ausnahmeregelungen im Umweltschutzbereich mit einiger Skepsis und befürchtete sogar, dass deren Handeln alle EVU in Misskredit bringen könnte, ja eine Ungleichbehandlung für all jene Unternehmen der Branche bedeutete, die ihre Investitionsentscheidungen in Sachen Umweltschutz schon getroffen hätten.96 Un92 93 94
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Verwertungskonzept für die Reststoffe aus Kohlekraftwerken: Gips aus der Rauchgasentschwefelung, in: VGB-Kraftwerkstechnik 66 (1986) 4, S. 377–385, hier S. 385. Recker, M. / Kahl, D., Reststoffverwertung bei den VEAG-Braunkohlekraftwerken, in: VGBKraftwerkstechnik 75 (1995) 11, S. 988–991. Anders, Kenneth / Uekötter, Frank, Viel Lärm ums stille Sterben. Die Debatte über das Waldsterben in Deutschland, in: ders. / Hohensee, Jens (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Öko-Alarme, Stuttgart 2004, S. 112–138, hier S. 124; RWE AG, Bericht über das Geschäftsjahr 1989/90, Essen 1990, S. 34. Schärer, Bernd / Haug, Norbert, Teurer Strom durch Umweltschutz?, in: Umweltmagazin 18 (1989) 8, S. 32–34, hier S. 32. Zit. nach Anders, Kenneth / Uekötter, Frank, Viel Lärm ums stille Sterben. Die Debatte über das Waldsterben in Deutschland, in: ders. / Hohensee, Jens (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Öko-Alarme, Stuttgart 2004, S. 112– 138, hier S. 124. Gespräch mit dem RWE am 17. Februar 1986, Vorstandsbüro, S. 5, Gespräche mit anderen Gesellschaften, E.ON-Archiv München, EEA 2697.
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geachtet dieser Friktionen innerhalb der Stromwirtschaft machten alle Energieversorger von der Möglichkeit zur Ausgestaltung der Umweltgesetzgebung intensiv Gebrauch. Dennoch hatten sie spätestens seit 1983 erkannt, dass in diesem Bereich gewisse Handlungszwänge und politische Vorgaben bestanden, über die sie sich nicht hinwegsetzen konnten. Die Stromwirtschaft hatte zwar die Möglichkeit, an den Grenzwerten und Bedingungen der Umweltgesetze etwas zu verändern, nicht aber an deren grundsätzlicher Existenz. Eine wichtige Verbündete hatte die Stromwirtschaft im Kampf gegen die Umweltschutzgesetzgebung von Anbeginn auf ihrer Seite, nämlich die industrielle Kraftwirtschaft. Im Unterschied zur Durchleitungsproblematik waren Energieversorger und industrielle Kraftwirtschaft bei diesem Thema weitgehend einer Meinung. Dies verwundert kaum, denn sowohl Stromwirtschaft wie auch Eigenanlagenbetreiber emittierten SO2 und NOx in erheblichen Mengen.97 Ferner waren fast alle Anlagen der stromerzeugenden Industrie von der TA-Luft und der GfAVO betroffen. In dieser Hinsicht bedeutete die Umweltschutzgesetzgebung seit Beginn der 1980er-Jahre auch für die industrielle Kraftwirtschaft eine erhebliche Belastung. Da die meisten industriellen Kraftwerke auf Basis von Kohle betrieben wurden, liegt es auf der Hand, dass der Verband vor allem die Einführung der GfAVO scharf kritisierte.98 Wenngleich die meisten industriellen Stromerzeugungsanlagen auf Grundlage der KWK energetisch effizienter betrieben wurden als die der großen Energieversorger, mussten diese nach geltender Rechtsprechung dennoch nachgerüstet werden. Insbesondere die gesetzlich verordnete Pflicht zur Rauchgasentschwefelung bedeutete für die Industrie erhebliche Kosten.99 Der wesentliche Unterschied für die Industrie – im Vergleich zu den öffentlichen Energieunternehmen – bestand jedoch darin, dass sie die daraus entstehenden Kosten nur indirekt umlegen konnte. Die industriellen Kraftwerksbetreiber befanden sich im Unterschied zu den EVU nicht in einem Quasi-Monopolmarkt, sondern waren einem stärkeren Wettbewerb ausgesetzt als die Elektrizitätswerke. Ferner war der Kraftwirtschaft die Möglichkeit verwehrt, die Kosten auf den Strompreis umzulegen. Am Ende verteuerten sich die Kosten ihrer jeweiligen Endprodukte, die dann am Markt zum neuen Preis bestehen mussten. Trotz dieser Unterschiede zogen VIK und Stromwirtschaft gegen die gesetzlichen Verordnungen zum Immissionsschutz, zur Rauchgasentschwefelung und zur Nachrüstung von Großfeuerungsanlagen an einem Strang. Ihre ablehnende Haltung 97
Die industrielle Kraftwirtschaft emittierte nach eigenen Angaben zwischen 6 und 8 % des Gesamtaufkommens an SO2 in der Bundesrepublik. Siehe Stellungnahme der VIK, in: Innenausschuss Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, Protokoll über die öffentliche Anhörung zu Fragen des Umweltschutzes am Montag, dem 24. Oktober und Dienstag, dem 25. Oktober 1983, Bonn, Bundeshaus, Innenausschuss-Protokoll Nr. 8 und Nr. 9, Teil I, S. 379–381, hier S. 379. 98 Oligmüller, Peter, Umweltschutz – Auflagen und Genehmigungsverfahren, in: VIK-Mitteilungen 2 (1982), S. 29–32; Oligmüller, Peter, Umweltschutz – Verordnung über Großfeuerungsanlagen, in: VIK-Mitteilungen 5 (1982), S. 101–105. 99 Oligmüller, Peter, Die Verordnung über Großfeuerungsanlagen – ihre inhaltliche Ausgestaltung und Probleme ihrer Anwendung, in: VIK-Mitteilungen 4/5 (1983), S. 88–94.
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begründeten beide mit der Überzeugung, dass die Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Schadstoffen und ihren Auswirkungen wissenschaftlich keinesfalls abgesichert seien. Insbesondere „Waldsterben“ und „Saurer Regen“ wurden dabei zur Zielscheibe der Kritik von Stromwirtschaft und industriellen Kraftwerken.100 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem Stellungnahmen von Stromwirtschaft und Industrie im Rahmen der Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages im Oktober 1983. Anlass dazu gaben die Anträge der Fraktionen der SPD und der Grünen, die Sofortmaßnahmen gegen Waldsterben und Luftverunreinigungen forderten.101 Bei dieser Anhörung gaben auch die Verbände der Energiewirtschaft, also VDEW und VIK sowie die Vereinigung der Großkesselbesitzer e. V. (VGB) ihre gemeinsame Stellungnahme ab. Darin verdeutlichten sie, dass ein direkter Kausalzusammenhang zwischen Emissionen aus Kraftwerken, vor allem SO2, und Waldschäden, nicht bestehe.102 Diese Auffassung wurde im Übrigen vom „Rat von Sachverständigen für Umweltfragen“ in seinem Sondergutachten des Jahres 1983 geteilt.103 Im Kern ging es der Energiewirtschaft vor allem darum, eine weitere Verschärfung der Grenzwerte zu verhindern.104 Auch einzelne Unternehmen der Stromwirtschaft setzten sich mit den wissenschaftlichen Ursachen des Waldsterbens auseinander, wenn auch erst ab Mitte der 1980er-Jahre. Vor allem die EVS unternahm in dieser Hinsicht Anstrengungen und veranstaltete im Januar 1985 ein interdisziplinäres Kolloquium zum Thema „Waldschäden“. Ziel der Veranstaltung war es, die in den vergangenen Jahren „zu emoti100 Mittlerweile sind die Debatten um Waldsterben und sauren Regen von der Geschichtswissenschaft recht gut aufgearbeitet worden. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt zum Waldsterben an der Universität Freiburg hat verschiedene Aspekte der Debatte untersucht und in zum Teil noch nicht erschienenen Publikationen dargelegt. Siehe u. a. Bemmann, Martin, Beschädigte Vegetation und sterbender Wald. Zur Entstehung des Umweltproblems in Deutschland 1893–1970, Göttingen 2012; Schäfer, Roland, „Lamettasyndrom“ und „Säuresteppe“: Das Waldsterben und die Forstwissenschaften 1979–2007, Freiburg 2012; Detten, Roderich von, Wissenschaft und Umweltpolitik in der Debatte um das Waldsterben, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 217–269; Detten, Roderich von (Hg.), Waldsterben. Rückblick auf einen Ausnahmezustand, München 2013; Metzger, Birgit, „Erst stirbt der Wald, dann Du!“ Das Waldsterben als westdeutschen Politikums 1978–1986, Frankfurt/Main und New York 2014. 101 Antrag der Fraktion der SPD, Notprogramm gegen das Waldsterben, BT-Drucksache 10/35; Antrag der Fraktion Die Grünen, Programm gegen Luftbelastung Waldsterben, BT-Drucksache 10/67. 102 Stellungnahme der Verbände der Elektrizitätswirtschaft (VDEW, VGB, VIK) zur öffentlichen Anhörung zum Thema „Waldsterben und Luftverunreinigungen“, in: Innenausschuss Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, Protokoll über die öffentliche Anhörung zu Fragen des Umweltschutzes am Montag, dem 24. Oktober und Dienstag, dem 25. Oktober 1983, Bonn, Bundeshaus, Innenausschuss-Protokoll Nr. 8 und Nr. 9, Teil II, S. 556. 103 Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen „Waldschäden und Luftverunreinigungen“, März 1983, BT-Drucksache 10/113, S. 78 ff. 104 Stellungnahme der Verbände der Elektrizitätswirtschaft (VDEW, VGB, VIK) zur öffentlichen Anhörung zum Thema „Waldsterben und Luftverunreinigungen“, in: Innenausschuss Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, Protokoll über die öffentliche Anhörung zu Fragen des Umweltschutzes am Montag, dem 24. Oktober und Dienstag, dem 25. Oktober 1983, Bonn, Bundeshaus, Innenausschuss-Protokoll Nr. 8 und Nr. 9, Teil II, S. 560 ff.
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onal geführt[e]“105 Debatte wieder auf eine rationale Basis zurückzuführen. Der Vorstandsvorsitzende des Versorgungsunternehmens wünschte sich, dass die „Lücken in der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Kausalzusammenhänge“ im Kolloquium diskutiert werden sollten. Deshalb sollten die Erwartungen, was die Wirkung von Maßnahmen zur Schwefeldioxid- und Stickoxidreduzierung betreffe, nicht zu hoch angesetzt werden.106 Die Stromwirtschaft verschloss in den 1980er-Jahren nicht die Augen davor, dass die Diskussion um das Waldsterben die umweltpolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland dominierte. Mit der Befürchtung, „dass der Wald aufgrund des Eintrags von anthropogenen Luftverunreinigungen wie Schwefeldioxid und Stickstoffoxiden großflächig absterben werde“,107 wurde die größte Umweltdebatte der Nachkriegsgeschichte ausgelöst. Freilich war die Stromwirtschaft nur ein, wenngleich einer der bedeutenden Schadstoff-Emittenten. Im Unterschied zur Stromwirtschaft herrschte unter Naturwissenschaftlern, und insbesondere in der Forstwissenschaft, jedenfalls weitgehend Konsens darüber, dass die beobachtenden Waldschäden auf die von Menschen verursachte Luftverschmutzung zurückzuführen seien.108 Die Stromwirtschaft ging seit 1983 dazu über, Umwelthandeln als Unternehmenspolitik zu definieren und damit gleichzeitig eine neue Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Joachim Radkau charakterisierte das Vorgehen der Stromwirtschaft, und insbesondere das der RWE in der Frage der Rauchgasentschwefelung als „Prozeß des Umdenkens“.109 Tatsächlich war das Handeln der Energiekonzerne in Sachen Umweltgesetzgebung vor allem strategischer Natur. Insbesondere die RWE, einer der größten damaligen Rauchgasemittierenden, verstanden es seit 1983, die Rauchgasentschwefelung als Element eines neu entdeckten Umweltbewusstseins des Unternehmens darzustellen. Dabei konnten Außenstehende leicht den Eindruck gewinnen, als ob es für den Stromversorger etwas ganz Natürliches sei, die gesetzgeberischen Maßnahmen umzusetzen. Die Tatsache, dass die REA für den Stromversorger gewaltige Investitionen bedeuteten, wurde vom Unternehmen zwar selbst immer wieder betont. Dass die Investitionen aber auch wesentlich dazu beitrugen, dass der Konzern seine Preisführerschaft unter den Stromversorgungsunternehmen verlor, die wesentlich auf dem Preisvorteil der Braunkohle gefußt hatte, blieb dabei meist außen vor.110 105 Lehringer, Susanne, Energiewirtschaft auf der Suche nach wissenschaftlichen Antworten über die Ursachen der Waldschäden, in: Allgemeine Forstzeitschrift 40 (1985) 8, S. 154–156, 176, hier S. 154. 106 Ebd. 107 Schäfer, Roland, „Lamettasyndrom“ und „Säuresteppe“: Das Waldsterben und die Forstwissenschaften 1979–2007, Freiburg 2012, S. 12. 108 Bemmann, Martin, Beschädigte Vegetation und sterbender Wald. Zur Entstehung des Umweltproblems in Deutschland 1893–1970, Göttingen 2012, S. 14; Schäfer, Roland, „Lamettasyndrom“ und „Säuresteppe“: Das Waldsterben und die Forstwissenschaften 1979–2007, Freiburg 2012, S. 160. 109 Radkau, Joachim, Das RWE zwischen Kernenergie und Diversifizierung 1968–1988, in: Schweer, Dieter / Thieme, Wolf (Hg.), „Der gläserne Riese“: RWE – ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 221–244, hier S. 240. 110 Ebd., S. 239.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
Das Bild der Stromwirtschaft in der Öffentlichkeit reichte in den 1980er-Jahren vom Innovationsträger über das Opfer von politischen Entscheidungen bis hin zum Umweltsünder in der Rauchgasproblematik. Die Nachrüstung von teuren Schadstofffiltern war jedoch weniger Ergebnis eines neuen unternehmerischen Umweltbewusstseins, sondern vielmehr die Reaktion auf politischen wie öffentlichen Druck. Tatsächlich rüsteten die Unternehmen bis Ende der 1980er-Jahre einen Großteil ihrer Kraftwerke mit emissionsmindernden Anlagen aus und trugen damit erheblich zur Verbesserung der Luftqualität bei. Dieser Prozess wurde von ihnen mit Beginn der 1980er-Jahre zusehends durch eine zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit begleitet. Vor allem die RWE nahmen dabei eine Vorreiterrolle ein. Die Stromwirtschaft hatte zwar erkannt, dass sich mit der Umweltfrage ernsthafte Anliegen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen verbanden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Umweltproblematik nicht auch mit Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit angegangen werden konnte. Dieses Vorgehen war keineswegs eine Erfindung der Stromwirtschaft oder der RWE gewesen. Vielmehr finden sich derartige Überlegungen schon in Zeitschriften anderer Industriebranchen seit den 1940er-Jahren.111 Mit einer groß angelegten Kampagne und dem Drucken einer sogenannten Umweltbilanz beschritten die RWE seit 1984 neue Wege. Das Herzstück dieser Kampagne bildete neben ganzseitigen Zeitungsanzeigen und Fernsehwerbung eine Art grüne Imagebroschüre, in der die Umweltschutzmaßnahmen des Unternehmens erläutert wurden. Tatsächlich gerierte sich der nordrhein-westfälische Stromkonzern darin als Vorreiter im Umweltbereich, denn für ihn stehe, wie es in der ersten Broschüre hieß, Umweltschutz „gleichrangig neben den Zielen Sicherheit und Wirtschaftlichkeit“.112 Dass diese Selbsteinschätzung nicht ganz mit dem Verhalten übereinstimmte, das das Unternehmen bei der Diskussion um die Altanlagenverordnung oder bei der Frage der Demonstrationsanlage an den Tag gelegt hatte, muss hier nicht eigens wiederholt werden. In seiner Umweltbilanz finden sich zahlreiche Äußerungen zur Situation des Waldes in der BRD. Wie auch in anderen Publikationen der Stromwirtschaft findet sich dabei der Hinweis, dass man sich zwar wissenschaftlich einig sei, dass der Wald vielerorts krank sei, sich aber bei den Ursachen „[i]m Dickicht der Argumente“113 befinde, wie ein Kapitel der Umweltbilanz der RWE überschrieben war. Die Stromwirtschaft hatte in der Auseinandersetzung um die Umweltschutzgesetzgebung wiederholt argumentiert, dass sie sich bei der Umweltschutztechnik noch am Anfang befinde. Auch in der hier untersuchten Broschüre fehlt dieser Hinweis nicht und wird insbesondere für die Reduzierung von Schwefel geltend gemacht.114 Mit der Publikation versuchten die RWE ebenfalls zu verdeutlichen, dass Umweltschutz nicht umsonst zu haben sei. Ferner wurde dargestellt, dass das Unternehmen bei dieser Frage trotz aller technischen Unwägbarkeiten und ungeklärter 111 Uekötter, Frank, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003, S. 292 ff. 112 Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG (RWE), Umwelt-Bilanz. Umweltschutz im und am Kraftwerk, Essen 1984, S. 5. 113 Ebd., S. 7. 114 Ebd., S. 8 f.
3.1 Vom Kostentreiber zur Legitimationsinstanz
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wissenschaftlicher Grundlagen in Sachen Umweltschutz vorangehe. Auch im Jahr 2014 sei man bei den RWE nach wie vor stolz auf diese historische Leistung. Auf der Internetseite des Unternehmens heißt es zur Bilanz von „25 Jahren RWE-Umweltschutz“: „Der Erfolg war trotzdem gewaltig: Durchschnittlich 400 Briefe erhielt RWE damals pro Woche auf die Anzeigen. Allein die Broschüre, die ausführlich über die Umweltschutzmaßnahmen in und an den Kraftwerken informierte, wurde fast 200.000 Mal angefordert, und das, obwohl sie kaum beworben wurde.“115 Von „kaum beworben“ konnte jedoch nicht die Rede sein: Bei der öffentlichkeitswirksamen Vermarktung ihres vermeintlich grünen Images ließen die Unternehmen, und insbesondere die RWE, nichts unversucht. Mit der preisgekrönten Kampagne „Umweltbilanz“ war ihnen ein Erfolg gelungen, der verdeutlicht, welch wichtige Rolle Öffentlichkeitsarbeit für die Stromwirtschaft spielte. Auch der Verweis auf den Ausbau der Kernenergie stellte ein wichtiges Argument der Stromwirtschaft dar, um Umweltschutz zu demonstrieren. Denn der Bau von Kernkraftwerken würde die Luft von Emissionen ganz erheblich entlasten. Die Kernenergiesparte der Branche hatte bereits in den frühen 1970er-Jahren erkannt, dass man die unstrittige Umweltfreundlichkeit der Kernenergie in Sachen Emissionen als Argument nutzen müsse, um der Technologie ein umweltfreundliches Image zu geben. Dabei wurden die Folgekosten der Technologie durch Entsorgung und Endlagerproblematik keinesfalls verschwiegen, sondern intensiv diskutiert.116 Bereits seit 1972 erschien das Fachblatt Atomwirtschaft mit einer entsprechenden Beilage, die sich der Thematik „Kernenergie und Umwelt“ widmete. Diese wurde erst im Jahr 1988 wieder eingestellt. In der Publikation wurden auch strittige Themen zur Kernenergie, wie etwa die Frage der Strahlenbelastung, der Unfall von Harrisburg und das geplante Endlager Gorleben, intensiv diskutiert.117 Freilich verließ die Beilage dabei nie die Linie einer kernenergiefreundlichen Haltung. Mehr noch wurden regelmäßig Bundestagsabgeordnete und technische Experten zu ihrer positiven Einstellung zur Kernenergie befragt und vermeintlich unrealistische Energieszenarien, die ohne Kernenergie auskamen, wie das von SPD-Politiker Erhard Eppler aus dem Jahr 1984, zu widerlegen versucht.118 Mit dem Aufkommen der Umweltproblematik waren die Energiekonzerne ernsthaft dazu gezwungen, Stromerzeugung nicht mehr ausschließlich als rein physikalisch-technischen Vorgang zu betrachten, sondern als eine auch eindeutig gesamtgesellschaftliche Angelegenheit – und damit weitreichende Einmischung von ‚außen‘ zuzulassen. Freilich gehörte die Stromwirtschaft schon immer zu den meistregulierten Branchen, doch nun kam hinzu, dass den Versorgungsbetrieben seit den 1970er-Jahren der politische Rückhalt langsam verloren ging. 115 Siehe http://www.rwe.de/web/cms/de/334490/rwe-magazin/rwe-magazin-archiv/archiv-2009/ ausgabe-3/umweltschutz/25-jahre-rwe-umweltschutz, abgerufen am 22. September 2014. 116 Kellermann, Otto, Kernenergie und Umwelt, in: Atomwirtschaft, Juni 1975, S. 304–311; Häfele, Wolf, Kernenergie und ihre Alternativen, in: Atomwirtschaft, Oktober 1975, S. 498–508; Kernenergie und Umwelt 2 (1979), Entsorgung nüchtern betrachtet, S. 1. 117 Kernenergie und Umwelt, 2 (1979), S. 3; Kernenergie und Umwelt, Inventur nach Harrisburg, 5 (1979), S. 1; Kernenergie und Umwelt, Entscheidung über Gorleben, 6 (1979), S. 1. 118 Siehe u. a. Kernenergie und Umwelt, Inventur nach Harrisburg, 8–9 (1979), S. 2 f.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
Das Thema „Umwelt“ und vor allem die Frage der Luftreinhaltung waren damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das bedeutete, dass in der Unternehmenskommunikation die Kosten für Umweltschutzmaßnahmen nicht mehr ausschließlich als kostentreibend und wettbewerbsverzerrend dargestellt werden konnten – angesichts der Monopolsituation im Strombereich ein ohnehin wenig überzeugendes Argument. Die Umweltpolitik der Energieversorger hatte sich lange darin erschöpft, gegen Gesetzesvorhaben zu kämpfen und deren Wirkung für die eigene Branche abzumildern. Als sie jedoch erkannten, dass die entsprechenden Vorhaben nicht mehr zu verhindern waren, stellten sie sich an die „Spitze der Bewegung“119 und taten mit öffentlichkeitswirksamen Mitteln viel dafür, als umweltfreundliche Unternehmen wahrgenommen zu werden. Für die Qualität der Luft waren die Regelungen der GfAVO ein echter Erfolg. Denn die SO2 und NOx-Emissionen im Kraftwerkssektor gingen im Zeitraum zwischen 1982 und 1990 um 87 bzw. 68 % zurück.120 Zu Beginn der 1990er-Jahre wurde der Erfolg einer massiven Reduzierung der Luftschadstoffe in Kraftwerken deshalb auch in energiewirtschaftlichen Fachmagazinen hervorgehoben, freilich wurde der Anteil der Stromwirtschaft an diesen Maßnahmen besonders herausgestellt.121 Das Urteil über den Anteil der Stromwirtschaft an diesem Erfolg fällt ambivalent aus: Während die Stromwirtschaft sich noch Mitte der 1970er-Jahre als Bremse in umweltpolitischen Fragen entpuppte, begannen die Unternehmen mit dem Beginn der 1980er-Jahre, die gesetzlichen Vorgaben zu akzeptieren. Dennoch versuchten sie weiterhin, und aus ihrer Handlungslogik heraus durchaus verständlich, Sondergenehmigungen für Altanlagen zu erreichen. 3.2 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT IN DER STROMWIRTSCHAFT: VERÄNDERTE RAHMENBEDINGUNGEN UND PROFESSIONALISIERUNG Die Bedeutung des Faktors „Öffentlichkeit“ spielte für die Legitimation des stromwirtschaftlichen Handelns der Unternehmen seit den 1970er-Jahren eine immer größere Rolle. Diesem Umstand wurde in der Branche mit der Intensivierung und Professionalisierung der entsprechenden Unternehmens- und Verbandsabteilungen Rechnung getragen. Öffentlichkeit soll hier als ein Konglomerat verschiedener Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Bevölkerung verstanden werden, das seit Ende der 1960er-Jahre durch einen vielgestaltigen Strukturwandel gekennzeichnet ist.122 Mit der aktiver werdenden Umweltbewegung und ihrem Vordringen in 119 Transkript des Interviews mit Werner Hlubek am 25. August 2009 in Essen. 120 Siehe u. a. Matthes, Felix Christian, Stromwirtschaft und deutsche Einheit. Eine Fallstudie zur Transformation der Elektrizitätswirtschaft in Ost-Deutschland, Berlin 2000, S. 192. 121 Hildebrand, M., Stand der Rauchgasreinigung bei EVU-Kraftwerken SO2- und NOx-Minderung, in: EWT 89 (1990) 9, S. 432–450. 122 Siehe u. a. Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 4. Aufl., Neuwied u. a. 1969; Weisbrod, Bernd (Hg.), Die
3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft
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traditionelle Verwaltungs- und Politikbereiche erhöhten sich für die Stromwirtschaft die Erfordernisse, sich gegenüber den Repräsentanten dieser Ideen, etwa in Genehmigungsverfahren für Kraftwerke, zu legitimieren. Der Aufwand und die konzeptionelle Ausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit blieben davon nicht unberührt. In diesem Kapitel soll daher der Frage nachgegangen werden, wie sich die erhöhten Legitimationsanforderungen der Öffentlichkeit auf das unternehmerische Handeln der Energieversorger auswirkten. Ferner wird danach zu fragen sein, welche Mittel, Strategien und konzeptionellen Überlegungen die Stromwirtschaft als Reaktion darauf anwendete und wie sich das auf ihr unternehmerisches Handeln insgesamt auswirkte. Die konzeptionelle Ausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit der Unternehmen orientierte sich an den jeweiligen Adressatenkreis: Dies bedeutete, wie schon in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, dass je nach Arena, Publikum oder Thematik die Inhalte und die Selbstdarstellung variierten. Die hier untersuchten Unternehmen weisen die Rechtsform des gemischtwirtschaftlichen Unternehmens auf. Die Anteilseigner setzten sich also aus privaten und öffentlichen Kapitalgebern zusammen. Der Begriff der Gemischtwirtschaftlichkeit hat wegen seiner Bedeutungsvielfalt seit der Entstehung der Stromwirtschaft zu intensiven energiewirtschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten über die Rolle der Energiekonzerne geführt.123 Seit den 1880er-Jahren hat sich das Selbstverständnis der Unternehmen erheblich gewandelt und immer weiter von der Idee des ursprünglich öffentlichen Elektrizitätswerks entfernt. Der Idealtypus beinhaltete vor allem die Vorstellung der Energieversorgung als kommunale bzw. staatliche und damit öffentliche Aufgabe. Die Energieversorgungsunternehmen verstanden sich jedoch spätestens seit Ende der 1960er-Jahre immer weniger als Unternehmen der öffentlichen Versorgung. Auffällig ist, dass sie sich meist immer dann auf ihre traditionelle Aufgabe als Sachwaltende eines lebenswichtigen Wirtschaftsgutes beriefen, wenn Einschränkungen oder nachteilige Reformen seitens der Politik ins Haus standen.124 Der Rechtsform nach waren die Energieversorger seit Ende der 1960er-Jahre zu Aktiengesellschaften mit nach wie vor starken kommunalen und staatlichen Anteilen geworden. Die Besonderheiten der Branche, wie Leitungsgebundenheit und geringe Speicherfähigkeit von elektrischer Energie, dienten den Unternehmen in allerlei Zusammenhängen als Argumentationshilfen. Für Politik und Öffentlichkeit war dabei nicht immer leicht zu unterscheiden, wann Verweise auf die technische und wirtschaftliche Ausnahmestellung der Energiekonzerne gerechtfertigt waren und wann nicht. Angesichts der wachsenden energiewirtschaftlichen Komplexität, die von der Verknüpfung ökonomischer, technischer, juristischer und politischer Inhalte herrührte, war es für Laien immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Durch die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003. 123 Burgbacher, Fritz, Die gemischtwirtschaftliche Unternehmung in der Energiewirtschaft, in: Energiewirtschaftliches Institut Köln (Hg.), Wirtschaftliche und Rechtliche Grundfragen der Energiewirtschaft. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 1. Arbeitstagung am 10. und 11. April 1948 auf Burg Wahn bei Köln, München 1949, S. 40–56. 124 Siehe u. a. Keltsch, Erhard, Die Elektrizität in der modernen Industriegesellschaft, in: Atomwirtschaft, August/September (1971), S. 414–417.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
Politisierung der Energiefrage in den 1970er-Jahren, die durch den Strukturwandel in der Öffentlichkeit befördert worden war, wurden auch die Aufgaben und Funktionen von Energieversorgern sowie damit verbundene Energiekonzepte immer häufiger infrage gestellt. Mit diesen veränderten Rahmenbedingungen mussten sich die Unternehmen in ihrer internen wie externen Kommunikation nun auseinandersetzen. Die Erforschung unternehmerischer Kommunikationsprozesse steht in der Geschichtswissenschaft noch am Anfang. Über die Deutung, wie etwa das Phänomen Public Relations nach Deutschland gelangt sei, besteht nach wie vor Uneinigkeit.125 Die PR-Pioniere und Theoretiker der ersten Stunde – zum Beispiel Carl Hundhausen, Albert Oeckl126 und Franz Ronneberger – waren in klassischen westdeutschen Industriebranchen und den entsprechenden Unternehmen, wie Krupp oder BASF, sowie in der Wissenschaft tätig. Im Übrigen hatten sie ihre Karrieren schon im Nationalsozialismus begonnen, und es spricht einiges dafür, dass PR bereits in der NS-Zeit existierte und die Trennlinie zwischen PR, Werbung und Propaganda nicht ganz trennscharf gezogen werden kann. Eine Art funktionale PR und erste PRStellen sowie entsprechende Abteilungen wurden schon in der Ära des Nationalsozialismus eingerichtet.127 Erste Vorläufer moderner Public Relations und Konzepte zur Umsetzung von Kommunikationsstrategien existieren in Unternehmen schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Andere Autoren erkennen gar im Investiturstreit oder in der Propaganda für die Kreuzzüge erste Vorläufer der Öffentlichkeitsarbeit im deutschen Sprachraum. Als Vorläufer wirtschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit werden sogar die Hanse und die Fugger identifiziert.128 Ob und inwieweit Public Relations mit der Pflege öffentlicher Beziehungen hinreichend übersetzt ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Dass sich hinter unterschiedlichen Übersetzungen häufig unterschiedliche Auffassungen und konzeptionelle Vorstellungen verbergen, wie PR betrieben werden soll, liegt jedoch auf der Hand. Trotz der starken Orientierung an amerikanischen Leitbildern in den 1950erJahren ist Öffentlichkeitsarbeit in deutschen Unternehmen keine amerikanische Erfindung. Gerade die Beispiele Krupp und Siemens belegen eigenständige Entwicklungspfade der Öffentlichkeitsarbeit im deutschen Sprachraum und das schon weit 125 Berghoff, Hartmut (Hg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt/M. 2007; Heinelt, Peer, „PR-Päpste“. Die kontinuierlichen Karrieren von Carl Hundhausen, Albert Oeckl und Franz Ronneberger, Berlin 2003, S. 10. 126 Albert Oeckl koordinierte im Übrigen auch die Öffentlichkeitsarbeit rund um das Kernkraftwerksprojekt der BASF, das im vorangegangenen Kapital thematisiert wurde. Bis Ende der 1960er-Jahre war die Politik des Konzerns kaum Gegenstand öffentlicher Kritik, was sich mit dem Projekt für das Kernkraftwerk ändern sollte. Mit einer breit angelegten PR-Strategie aus Informationsveranstaltungen, Vorführungen und Betriebsbesichtigungen versuchte Oeckel, das Projekt öffentlich zu verteidigen und die BASF als umweltfreundliches Unternehmen zu präsentieren. Auch hochrangige Köpfe aus Wissenschaft und Politik waren Teil dieser Überlegungen, indem sie öffentlich für das Projekt Position bezogen, Mattke, Christian, Albert Oeckl, Wiesbaden 2006, S. 151, 161, 166. 127 Bentele, Günter, PR-Historiographie und funktional-integrative Schichtung. Ein neuer Ansatz zur PR-Geschichtsschreibung, in: Szyszka, Peter (Hg.), Auf der Suche nach Identität. PR-Geschichte als Theoriebaustein, Berlin 1997, S. 137–169, hier S. 161 f. 128 Kunczik, Michael, Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, Köln u. a. 1997, S. 21 ff., 36 ff.
3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft
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vor 1945.129 Mit der Gründung des Berufsverbandes Deutsche Public Relations Gesellschaft e. V. (DPRG) im Jahr 1958 entwickelte sich auch ein neues berufliches Selbstverständnis und -bewusstsein der „Öffentlichkeitsarbeiter“. Die Unterscheidung demokratischer Öffentlichkeitsarbeit von Propaganda und Werbung war hierbei bedeutsam. Mit der Konsolidierung des Berufsbildes ging auch dessen Professionalisierung mit außeruniversitären Aus- und Fortbildungsmaßnahmen einher. Nach Auffassung des Kommunikationswissenschaftlers Günter Bentele „boomte“ PR spätestens seit 1985 in der Bundesrepublik, was nicht zuletzt an der Gründung von Agenturen und steigenden Mitgliederzahlen des Verbandes sowie der verstärkten Inanspruchnahme von PR durch öffentliche Institutionen festgemacht wird.130 Kommunikation als Handlungsebene hatte für die Unternehmen seit der Nachkriegszeit immer mehr an Bedeutung hinzugewonnen. Die Zeiten, in denen diese leichtfertig als unwirtschaftlich abgetan werden konnte, dürfte ab den 1960er-Jahren vorbei gewesen sein. Kommunikation ging in Unternehmen spätestens seit Ende der 1960er-Jahre über Fest- und Jubiläumsschriften sowie Werkszeitungen hinaus. Die Neugründung und Erweiterung von Kommunikationsabteilungen sowie die Straffung von Kommunikationsstrukturen in den Unternehmen war dabei jedoch kein Selbstzweck, sondern stand unter dem Vorzeichen der Effizienzverbesserung. Die Forschung steht diesbezüglich erst am Anfang und hat allenfalls im Bereich „Scientific Management“ und „Human Relations“ erste Ergebnisse zu verzeichnen.131 Unternehmenskommunikation musste sich schon seit Ende der 1950erJahre mit dem Vorwurf auseinandersetzen, zu den „geheimen Verführern“132 zu gehören. Diese Auffassung wurde zuerst in populärwissenschaftlichen Studien aus den USA vertreten, die bald auch in deutscher Übersetzung vorlagen. Die überzogene These von der totalen Manipulierbarkeit der Konsumierenden durch Werbung
129 Zipfel, Astrid, Public Relations in der Elektroindustrie. Die Firmen Siemens und AEG 1847 bis 1939, Köln u. a. 1997; Kunczik, Michael, Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, Köln u. a. 1997, S. 1, 188 ff., 231 ff. 130 Bentele, Günter, PR-Historiographie und funktional-integrative Schichtung. Ein neuer Ansatz zur PR-Geschichtsschreibung, in: Szyszka, Peter (Hg.), Auf der Suche nach Identität. PR-Geschichte als Theoriebaustein, Berlin 1997, S. 137–169, hier S. 164. 131 Kocka, Jürgen, Industrielles Management. Konzepte und Modelle in Deutschland vor 1914, in: VSWG 56 (1969), S. 332–372; Welskopp, Thomas, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeitsund industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er-Jahren, Bonn 1994; Lauschke, Karl / Welskopp, Thomas (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994; Kleinschmidt, Christian, Wärmewirtschaft, Betriebswirtschaft und wissenschaftliche Betriebsführung: Innovationen der Eisen- und Stahlindustrie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Technikgeschichte 62 (1995) 4, S. 303–315; Rosenberger, Ruth, Von der sozialpolitischen zur personalpolitischen Transformationsstrategie. Zur Verwissenschaftlichung betrieblicher Personalpolitik in westdeutschen Unternehmen 1945 bis 1980, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 50 (2005) 1, S. 63–82; dies., Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008. 132 Packard, Vance, The Hidden Persuaders, New York 1957. Zuerst 1958 übersetzt: ders., Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in Jedermann, Düsseldorf 1958.
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wurde jedoch recht bald auch von deutschen Autoren bestritten.133 Wenn auch nicht mit Vorwürfen der Manipulation durch Öffentlichkeitsarbeit konfrontiert, bemerkte die Stromwirtschaft doch recht bald, welch geringes Vertrauen die Öffentlichkeit dem Wirtschaftszweig entgegenbrachte. Erste Ansätze einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit hatte es in der Elektrizitätswirtschaft schon Anfang der 1950er-Jahre gegeben. Verschiedene EVU hatten damit begonnen, PR-Abteilungen einzurichten, und auch die VDEW installierte ein entsprechendes Pressereferat, das später um ein Referat für Öffentlichkeitsarbeit ergänzt wurde. Im Jahr 1956 wurde sogar ein Sonderausschuss für Öffentlichkeitsarbeit bei der Vereinigung eingerichtet. Ähnliche Strukturen ließen sich bei der DVG vorfinden, wohingegen die Arbeitsgemeinschaft regionaler Energieversorgungsunternehmen (ARE) und VKU Öffentlichkeitsarbeit organisatorisch vorwiegend im Rahmen ihrer eigenen Verbandsziele betrieben.134 In der Stromwirtschaft war es Ende der 1950er-Jahre noch durchaus ein Novum, wenn sich Vorträge auf Jahreshauptversammlungen mit den Themen „Stromversorgung“ und „Öffentlichkeit“ beschäftigten. Gleichwohl stellte der Leiter der Informationsabteilung der HEW, Friedrich Hermann Korte, fest, dass die „Pflege der Beziehungen zur Öffentlichkeit“ künftig eine Aufgabe der Unternehmensleitungen sein müsse.135 Auch der Vorsitzende der VDEW, Heinrich Freiberger, meinte, im Jahr 1960 ein „Misstrauen der Öffentlichkeit gegen die Sonderstellung der EWerke“ festgestellt zu haben. Die historisch gewachsene Unternehmenskonzentration in der Stromwirtschaft sei der Kundschaft ebenso schwer zu erklären wie andere nicht leicht durchschaubare Strukturen der Branche. Vor allem die Aufklärung über die physikalischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der Stromwirtschaft könne verhindern, dass aus Unkenntnis tieferes Misstrauen werde.136 Freiberger beschäftigte sich – was zu dieser Zeit als fortschrittlich gelten kann – als einer der wenigen mit dem „Wandel der Beziehungen zur Öffentlichkeit“.137 Dennoch vertrat er dabei ein durchaus traditionelles Verständnis von der Öffentlichkeit und sah „die wohlgemeinten Wünsche und Forderungen“138 der Stromwirtschaft einer erstaunlichen Verständnislosigkeit ausgesetzt. Der ehemalige Vorstand der HEW erkannte jedoch auch, dass die öffentliche Meinung zusehends ein außerordentliches Gewicht erlange und selbst zum „Meinungsbildner“ werde. Die Strom-
133 Brand, Horst W., Die Legende von den „geheimen Verführern“. Kritische Analysen zur unterschwelligen Wahrnehmung und Beeinflussung, Weinheim 1978. 134 Siehe u. a. Meyer, Konrad / Sardemann, Fritz, Werden und Wirken der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke, in: VDEW (Hg.), Das Zeitalter der Elektrizität, Frankfurt/M. 1967, S. 209– 233, hier S. 230. 135 Vortrag von Friedrich H. Korte „Die Pflege der Beziehungen zur Öffentlichkeit als Aufgabe der Unternehmensleitungen“ auf der Jahreshauptversammlung der VDEW 1958. Abgedruckt mit dem Titel Stromversorgung und Öffentlichkeit. Gedanken zu einer echten energiewirtschaftlichen Tagesfrage, in: EWT 8 (1958/59) 67, S. 57–61. 136 Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 59 ff. 137 Ebd., S. 92. 138 Ebd., S. 93.
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wirtschaft sei durch diese Entwicklung „in einem bis dahin unbekannten Ausmaß in die Abhängigkeit von betriebsfremden Organen und Personen geraten“.139 Die bisherige Auffassung, dass die Pflege der Beziehungen zur Öffentlichkeit aufgrund der besonderen Marktsituation völlig überflüssig und noch dazu kostenintensiv sowie zeitaufwendig sei, gehörte damit der Vergangenheit an. Keineswegs reiche es aus, die selbstverständliche Pflicht der sicheren Energieversorgung immer wieder zu betonen. Freibergers Überlegungen gingen jedoch über die reaktive Analyse des Status quo hinaus. Er plädierte dafür, enge Kundenbeziehungen über den eigentlichen Abnehmerkreis hinaus aufzubauen und sorgsam zu pflegen, um das Vertrauen der neudeutsch als „Multiplikatoren“ Bezeichneten zu gewinnen. Freiberger begriff Öffentlichkeit damit als einen sehr machtvollen Faktor in Entscheidungsprozessen, der bis in öffentliche und halböffentliche Gremien hineinwirke und auf diese Weise Ausbaupläne für Kraftwerke und betriebliche Vorhaben befördern, aber auch hemmen könne. Durch diese erweiterte Sicht würde – so die Auffassung des VDEW-Vorsitzenden – jedes Elektrizitätswerk dazu gezwungen, bei allen Handlungen nicht nur die kaufmännischen, technischen oder juristischen Gesichtspunkte, „sondern immer zugleich auch die Wirkung auf die Öffentlichkeit zu bedenken“.140 Freiberger wollte auch methodisch neue Wege der „Vertrauenswerbung“ beschreiten.141 Damit war die soziologisch-psychologische Aufgabe der Beziehungspflege gemeint, die mit schlichter Beratung und Werbung nicht zu erledigen sei. Dabei griff Freiberger wie andere Vertreter von Unternehmen und Verbänden auch auf Erkenntnisse der aus den Vereinigten Staaten importierten „Public Relations“ zurück. Dieser Rückgriff sollte jedoch mit „entsprechender Anpassung an die [in] Deutschland anders gelagerte Denkungsweise und Gefühlswelt“142 geschehen. Freilich war „Vertrauenswerbung“ nur eine unzureichende Übersetzung für „Public Relations“. In der Stromwirtschaft sollte indes das gesamte Repertoire der Bezie139 Ebd. 140 Ebd., S. 94. 141 Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens war seit dem gleichnamigen Buch des Werbepsychologen und Begründers der Markentechnik Hans Domizlaff in Werbefachkreisen intensiv diskutiert worden. Daran anknüpfend, hatte auch der PR-Chef von Krupp Carl Hundhausen in den 1950er-Jahren von der Werbung um öffentliches Vertrauen, vorwiegend bezogen auf die Eisen- und Stahlindustrie, gesprochen. Domizlaff, Hans, Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik, Hamburg 1939; Hundhausen, Carl, Werbung um öffentliches Vertrauen. Public Relations, Essen 1951. Siehe dazu auch Kleinschmidt, Christian, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002, S. 204 ff.; Lehming, Eva-Maria, Carl Hundhausen: sein Leben, sein Werk, sein Lebenswerk. Public Relations in Deutschland, Wiesbaden 1997. Auch bei den I. G.-Farben-Nachfolgeunternehmen Bayer sowie den Chemischen Werken Hüls gehörte Vertrauenswerbung zu den zentralen Anliegen der unternehmerischen Öffentlichkeitsarbeit. Kleinschmidt, Christian, Von der Autarkie zur Weltwirtschaft. „Werbung um öffentliches Vertrauen“ am Beispiel von I. G. Farben-Nachfolgeunternehmen, in: Abelshauser, Werner / Hesse, Jan-Otmar / Plumpe, Werner (Hg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 205–219, hier S. 210. 142 Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 94.
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hungspflege zur Anwendung kommen. Begonnen werden sollte damit bei der eigenen Belegschaft, der die Öffentlichkeitsaspekte ihrer Tätigkeit innerhalb und außerhalb des Betriebes bewusstgemacht werden sollte. Neben ihrer fachlichen Aufgabe sollte diese damit auch immer als Personal der Vertrauenswerbung des eigenen Hauses fungieren.143 Die systematische Beschäftigung mit PR blieb in der Stromwirtschaft, wie zum Beispiel 1972 in Rom auf einem Symposium der Union Internationale des Producteurs et Distributeurs d’Énergie Électrique (UNIPEDE), aber zunächst noch die Ausnahme. Auch wenn es zuvor eine unternehmerische Öffentlichkeitsarbeit gegeben hatte: Mit der Methode der Vertrauenswerbung sollten die vielen Einzelmaßnahmen, wie Werks- und Kundenzeitungen, Betriebsbesichtigungen und die Arbeit der bereits vorhandenen Pressestellen, mittels einer einheitlichen Strategie methodisch geordnet betrieben werden. Freiberger entwarf zu diesem Zweck einen von den Vordenkern der modernen Pressearbeit entlehnten Wirkungskreislauf zwischen Elektrizitätswerk und Öffentlichkeit, der die Vertrauenswerbung systematisieren sollte.144 Neben der klassischen Pressearbeit, die unter dem Motto „Sammeln und Beobachten“ organisiert wurde, war sicher das „Aufklären und Einwirken“ das weitaus wichtigere Mittel, um die Beziehungen zur Öffentlichkeit zu verbessern. Dies sollte insbesondere unter Einbeziehung der eigenen Belegschaft geschehen und die Betriebsangehörigen zu diesem Zweck fortlaufend geschult werden. Ungleich wichtiger erschien Freiberger für die Umsetzung seines Konzepts jedoch die Einstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum eigenen Betrieb: Mit einer positiven Haltung gegenüber dem eigenen Unternehmen könnten diese gegenüber Dritten viel überzeugender ein positives Bild zeichnen. Die Mittel der Vertrauenswerbung lägen in Film, Funk und Fernsehen, den publizistischen Hauptorganen dieser Zeit. „Wesentlich [so die konzeptionellen Vorstellungen Freibergers] sind Art und Methode ihrer Verwendung. Mit behördenmäßigen Verlautbarungen und lieblosen Pressekonferenzen kann mehr Schaden angerichtet als Nutzen geerntet werden.“145 Darüber hinaus sei eine systematische Organisation dieser Aktivitäten unbedingt erforderlich. Eine direkte Verbindung der mit diesen Angelegenheiten betrauten Abteilung zur Geschäftsführung sei daher unerlässlich. Bei all diesen Überlegungen schien Vertrauen als Kategorie oder gar ökonomische Schlüsselvariable eine wichtige Rolle zu spielen. Nicht ganz zufällig wird dies seit einiger Zeit intensiver von verschiedenen historischen Teildisziplinen erforscht.146 Für die 143 144 145 146
Ebd. Abbildung 4 im Anhang. Freiberger, Heinrich, Betrieb von Elektrizitätswerken, S. 96. Siehe u. a. Themenheft „Vertrauen/Trust“ des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte 1 (2005); Frevert, Ute (Hg.), Vertrauen: Historische Annäherungen, Göttingen 2003; Berghoff, Hartmut, Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable: Zur Theorie des Vertrauens und der Geschichte seiner privatwirtschaftlichen Produktion, in: Ellerbrock, Karl-Peter (Hg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 58–71. Vertrauen ist nach Auffassung des Philosophen Martin Hartmann vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich mit dessen Hilfe etwas erreichen lasse, was sonst nicht ohne Weiteres zu bewerkstelligen wäre. Insofern stelle Vertrauen eine soziale Praxis dar, die immer wieder als Ressource in ökonomischen und politischen Zusammenhängen genutzt werde. Auf diese Weise
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Stromwirtschaft dürfte Vertrauen zur Schaffung eines positiven Unternehmensbildes dabei mindestens ebenso wichtig gewesen sein wie für andere Wirtschaftsbranchen.147 Interne, aber vor allem externe Unternehmenskommunikation im weitesten Sinne spielte dabei für die Stromwirtschaft eine wesentliche Rolle. Die Politisierung der Energiefrage sowie die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse seit den 1970er-Jahren trugen sicherlich dazu bei, dass die Energiekonzerne in höherem Maße als in den Jahrzehnten zuvor den Dialog mit der Öffentlichkeit suchten. Gleichwohl entdeckte die Stromwirtschaft die Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit trotz vielversprechender Ansätze erst relativ spät.148 Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass einige Unternehmen der Branche die Bedeutung des öffentlichen Ansehens als zentrales Element zukünftiger unternehmerischer Handlungsfähigkeit lange Zeit nicht erkannt hatten. Die VDEW allerdings trug dieser Entwicklung mit der Einrichtung eines Sonderausschusses für Öffentlichkeitsarbeit bereits in den 1950er-Jahren Rechnung – bis 1952 unter der Bezeichnung „Vertrauenswerbung“, seit 1962 unter „Öffentlichkeitsarbeit“. Die Anfänge gingen auf eine Ausstellung in Hamburg mit dem Titel Strom für uns zurück, die die VDEW gemeinsam mit den HEW und Firmen der Elektroindustrie veranstaltet hatte.149 Von dieser Ausstellung ging – nicht zuletzt durch die ihre nachfolgende Dokumentation – eine dauerhafte Wirkung auf die Öffentlichkeitsarbeit der Stromwirtschaft aus.150 In der Schrift mit dem Titel Werbung um Vertrauen151 aus dem Jahr 1954 wurden „Wesen, Mittel und Nutzen einer sys-
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hänge sie eng mit der Glaubwürdigkeit des „Absenders“ sowie der Akzeptanz der Rezipienten zusammen. Denn nur so könne es zu einer Vertrauensbeziehung kommen; Hartmann, Martin, Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011. Siehe u. a. Wischermann, Clemens, Kooperation, Vertrauen und Kommunikation: ein Rahmenmodell des Unternehmens auf institutionenökonomischer Grundlage, oder: Was macht Unternehmen handlungsfähig?, in: ders. (Hg.), Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Dortmund 2003, S. 76–92; Stücker, Britta, „Werbung um Vertrauen durch Schaffung eines positiven Firmenbildes“: Die Öffentlichkeitsarbeit der Bielefelder Anker-Werke, in: Wischermann, Clemens (Hg.), Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Dortmund 2003, S. 181–213; Kurzlechner, Werner, Von der Semantik der Klage zu einer offensiven Medienpolitik, in: Reitmayer, Morten / Rosenberger, Ruth (Hg.), Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er-Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 289–318. Schulte, Richard (Vorsitzender der VDEW), Tagesfragen der Elektrizitätswirtschaft, in: VIKMitteilungen 3 (1972), S. 53–55. Saran, Hans, Strom für uns, Hamburg 1955. Auf verschiedenen Weltausstellungen seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich gezeigt, dass diese von der Energiewirtschaft als Präsentationsorte für deren Produkte genutzt wurden. Der Fokus lag dabei primär auf der Schaffung und Ausweitung von Absatzmärkten, während seit den 1970er-Jahren die Vertrauensbildung im Mittelpunkt stand. Für die Weltausstellungen siehe Möllers, Nina, Electrifying the World: Representations of Energy and Modern Life at World’s Fairs, 1893–1982, in: dies. / Zachmann, Karin (Hg.), Past and Present Energy Societies. How Energy Connects Politics, Technologies and Cultures, Bielefeld 2012, S. 45–78, hier S. 74 f. Korte, Friedrich Hermann, Werbung um Vertrauen. Wesen, Mittel und Nutzen einer systematischen. Pflege der Beziehungen zwischen Elektrizitätswirtschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1954. Der Titel ist eine Anlehnung an den PR-Klassiker von Carl Hundhausen
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tematischen Pflege der Beziehungen zwischen Elektrizitätswirtschaft und Öffentlichkeit“ festgelegt. Auf Basis dieser Publikation sollte der Sonderausschuss zum Motor einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit der Branche werden. Vor allem die HEW, und besonders der Leiter ihrer Informationsabteilung, Friedrich Hermann Korte, nahmen eine Vorreiterrolle in der Entwicklung konzeptioneller Öffentlichkeitsarbeit der Stromwirtschaft ein. Anfangs standen die Verbandsunternehmen dieser Institution alles andere als wohlwollend, ja mit einer gewissen Ablehnung gegenüber. Doch das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Stromwirtschaft sowie zwischen Erzeugern und Verbrauchern elektrischer Energie eröffnete auch der Öffentlichkeitsarbeit neue Möglichkeiten: Das reichte von der personellen Aufstockung der entsprechenden Abteilungen in Unternehmen über Anzeigenserien bis hin zu Fernsehspots der DVG, die eine erfolgreiche Imagebewerbung der Branche darstellten.152 Aufgrund dieser zunächst durchaus unsystematisch anmutenden Form der Öffentlichkeitsarbeit und trotz einiger engagierter Unternehmen, wie die Technischen Werke der Stadt Stuttgart AG (TWS), konnte von einer koordinierten Öffentlichkeitsarbeit der Branche keine Rede sein. Vielmehr agierte jedes Unternehmen mehr oder minder für sich. Es handelte sich, so auch die Kritik in Branchenkreisen, um „Gelegenheits-PR“.153 Dies lag vor allem daran, dass auch zu Beginn der 1970er-Jahre bei Verbänden und Unternehmen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, was unter PR zu verstehen sei. Während die VDEW schon erhebliche Ressourcen in diese Aufgabe investiert hatte, war bei manchen Unternehmen noch die Ein-Mann-Abteilung gängige Praxis. Hinter diesem organisatorischen Zuschnitt hielt sich die Vorstellung, dass PR eine Art Werbung sei, die relativ kostenneutral funktioniere und auf diese Weise die Werbeanzeigen in Tageszeitungen erspare. Der Verband der Elektrizitätswirtschaft teilte eher die Meinung – für einen Dach- und Lobby-Verband sicher nichts Ungewöhnliches –, dass der Ertrag einer effektiven Öffentlichkeitsarbeit nicht in Mark und Pfennig zu messen sei, sondern sich vor allem im Vertrauen der Kunden und der Öffentlichkeit niederschlage.154 Diese Sichtweise wurde nicht von allen Branchenmitgliedern geteilt, vor allem die Vorstände einiger EVU beäugten die Kosten und den Nutzen der Öffentlichkeitsarbeit mit Skepsis. Eine homogene Außendarstellung der stromwirtschaftlichen Interessen gestaltete sich also schwierig. Dies hatte vor allem mit der Struktur der Stromwirtschaft in der Bundesrepublik zu tun, die vom kleinen Stadtwerk bis zum großen Verbundunternehmen höchst heterogen war und entsprechend zahlreiche, zum Teil divergierende Interessen umfasste. Doch so unterschiedlich die Standpunkte einzelner Akteure auch waren: Die führenden Köpfe in der Stromwirtschaft bewegte seit den 1970er-Jahren zusehends die Frage, wie einer breiten Öffentlichkeit, und vor allem der Politik, am besten ein möglichst homogenes Bild der Branche zu vermitteln sei. Intern ging es jedoch vielfach weiter wie bisher: Der Alltag der Verbands- und UnWerbung um öffentliches Vertrauen, der einige Jahre zuvor erschienen war; Hundhausen, Carl, Werbung um öffentliches Vertrauen, Essen 1951. 152 Transkript des Interviews mit Patricia Nicolai am 4. November 2009 in Berlin. 153 Haschke, Joachim, Öffentlichkeitsarbeit im scharfen Wind, in: EWT 20 (1970) 11/12, S. 678. 154 Ebd., S. 679.
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ternehmensarbeit war durch komplizierte Aushandlungsprozesse geprägt. Auch auf der Ebene der Verbundunternehmen fiel es häufig schwer, die Interessen einzelner Unternehmen abzustimmen.155 Die Stromwirtschaft war unter anderem durch den Bedeutungswandel der Öffentlichkeit sowie der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Umweltproblematik aus dem Schatten in den Fokus des öffentlichen Interesses getreten. Tatsächlich dürften weite Teile der Bevölkerung in den 1950er- und 1960er-Jahren die Verfügbarkeit von Energie noch als Fortschritt empfunden haben, während Ende der 1960er- und mit Beginn der 1970er-Jahre zusehends kontroversere Themen mit der Energiewirtschaft in Verbindung gebracht wurden. Die Stromwirtschaft sei dabei jedoch „nicht frei von Selbstkritik“,156 wie der Vorstandsvorsitzende der Preußenelektra, Erhard Keltsch, in einem Statement auf der Hannover-Messe 1977 zu Protokoll gab. Die Branche stehe aufgrund ihres zwangsläufig monopolähnlichen Charakters nach der Einschätzung Keltschs in dem Ruf, „fast arrogant zu sein“.157 Diese Einschätzung dürften viele in der Stromwirtschaft damals geteilt haben. Keltsch war ebenso wie viele Kollegen skeptisch, ob – und wenn ja – wie es gelingen könne, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Aus der Perspektive der Stromwirtschaft war die Komplexität der Themen dafür mitverantwortlich, dass diese so schwer zu vermitteln waren. „Der Versuch, [so Keltsch], die Öffentlichkeit in Veranstaltungen über bestimmte Themen aufzuklären, schlage oft in Polemik um.“ Dies liege vor allem daran, dass sich „Physik nicht mit populären Mitteln – erst recht nicht in einem Streitgespräch – verkaufen lasse. […] Argumente auf Glanzpapier kommen nicht an. Primitivzettel, mit einem Totenkopf bemalt, sitzen besser!“158 Die Öffentlichkeit würde – wesentlich unterstützt durch die negative mediale Berichterstattung, vor allem im Fernsehen – glauben, dass eine Kumpanei zwischen Staat und Stromwirtschaft hinter manchen Entscheidungen stecke und das diese hinter verschlossenen Türen gefällt und im Zweifel mit Gewalt durchgesetzt würden.159 Keltschs Äußerungen belegen eindringlich, auf welchen Vorurteilen das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Stromwirtschaft zu diesem Zeitpunkt beruhte. Insbesondere die Frage nach der Entsorgung von radioaktiven Abfällen aus Kernkraftwerken und entsprechenden Forschungseinrichtungen stand Mitte der 1970er-Jahre oft im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Die Anstrengungen der Politik, durch Hearings und andere Formen der Bürgerbeteiligung den Dialog mit der Öffentlichkeit zu fördern, waren hier vorrangig ausgeprägt.160 Auch in der 155 Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) (Hg.), PR-Leitfaden für die Praxis der Öffentlichkeitsarbeit in der Elektrizitätsversorgung, Frankfurt/M. 1968. 156 Statement von Erhard Keltsch, „Kommunikationsdebakel Energie“, anlässlich der HannoverMesse am 23. April 1977. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Siehe ebd. 160 Siehe u. a. Hatzfeld, Hermann, Der Gorleben-Report. Ungewißheit und Gefahren der nuklearen Entsorgung. Auszüge aus dem Gutachten und dem Hearing der niedersächsischen Landesregierung, Frankfurt/M. 1979; Schüller, Walter, Die Entsorgung der Kernkraftwerke. Eine Zwischenbilanz nach dem Gorleben-Hearing, in: ZfE (1979) 3, S. 157–163.
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Stromwirtschaft wurde die Entsorgungsfrage hinsichtlich der Zukunft der Kernenergie intensiv diskutiert.161 Vor allem über Pläne, die Neuerrichtung von Kernkraftwerken künftig an den Entsorgungsnachweis knüpfen zu wollen, zeigte sich die Branche besorgt.162 In den oben zitierten Worten des Vorstandsvorsitzenden der Preußenelektra kommt jedoch auch eine gängige rhetorische Figur zum Ausdruck, die in der Branche weit verbreitet war. Nämlich der Umstand, dass technisch-physikalisch dominierte Themen der Energiewirtschaft einer breiten Öffentlichkeit kaum sachlich zu vermitteln seien. Mit diesem Problem, so die Einschätzung der Branche, stehe die Stromwirtschaft gewissermaßen auf verlorenem Posten. Jedoch waren sich auch die Energieversorger des Umstandes bewusst, dass Techniker nicht in jedem Fall die Gabe besaßen, technische Zusammenhänge allgemeinverständlich und plausibel darzustellen. Vielmehr könne die Präsentation von Fachwissen gar zu Unsicherheit und Misstrauen führen. Daher versuchten die Unternehmen, eine Politik unter der Maßgabe „Vertrauen durch richtige Information“163 zu etablieren, ein Ziel, das nicht in allen Fällen zum gewünschten Ergebnis führte. Doch schon Mitte der 1970er-Jahre stellte das Fachmagazin Atomwirtschaft fest, dass abstraktes Vertrauen in die Kernenergie kein realistisches Ziel mehr sei, nachdem nun Misstrauen und Skepsis soweit vorgedrungen seien. Im günstigsten Fall, so der Vorschlag des Blattes, sei Vertrauen bei den Menschen zu erzeugen, die für dieses Feld verantwortlich seien. Dabei wäre es mit etwas „mehr Rednerschulung, Psychologietraining und Schminktechnik allerdings nicht getan“.164 Neben einer zielgruppenorientierten Vertrauenswerbung könnten nur diejenigen Vertrauen in der Öffentlichkeit gewinnen, die bereit seien, sich um Verständnis für ihre Besorgnisse und Befürchtungen wie für ihre Forderungen zu bemühen.165 Der richtige Weg, um Vertrauen in der Öffentlichkeit zu gewinnen, sei daher auch mit der Lösung eines grundlegenden Kommunikationsproblems verbunden. Kernenergiebefürworter müssten daher genauso engagiert und überzeugt auftreten wie die Gegnerinnen und Gegner dieser Technologie. Gleichwohl dürfte der Stromwirtschaft bereits Mitte der 1970er-Jahre bewusst gewesen sein, was diese im Jahr 1987
161 Tiggemann, Anselm, Die „Achillesferse“ der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004. 162 Siehe u. a. Bericht der Bundesregierung zur Entsorgung der Kernkraftwerke und anderer kerntechnischer Einrichtungen, BT-Drucksache 11/1632 vom 13. Januar 1988; Bericht der Bundesregierung zur Entsorgung der Kernkraftwerke und anderer kerntechnischer Einrichtungen, BTDrucksache 10/327 vom 30. August 1983. Sowie die Ausführungen der Preußenelektra zu dieser Thematik: Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 12. Mai 1977, S. 20, E.ON-Archiv München, EEA 608; Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 16. Mai 1979, S. 5, E.ON-Archiv München, EEA 608. 163 Gersten, W., Kernenergie in der Meinung der Öffentlichkeit, in: Atomwirtschaft, Februar 1972, S. 125–126, hier S. 125. 164 Müller, Wolfgang D., Kernenergie und Öffentlichkeit, in: Atomwirtschaft, Februar (1972), S. 18–20, hier S. 20. 165 Schneider, Klaus / Coninx, Christof, Zielgruppenorientierte Öffentlichkeitsarbeit für die Energiewirtschaft, in: EWT 34 (1984) 3, S. 206–208.
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dann in aller Klarheit formulierte, nämlich dass Kernenergiegegner für die Branche zu „einem gesellschaftlich relevanten Faktum“166 geworden waren. Eine der öffentlichkeitswirksamsten Maßnahmen der Stromwirtschaft zu Beginn der 1970er-Jahre war die auflagenstarke Werbekampagne mit dem Titel Zum besseren Verständnis der Kernenergie – 66 Fragen, 66 Antworten.167 Diese von den HEW und der NWK gemeinsam entwickelte Kampagne setzte sich in einer Broschüre erstmals ausführlich mit den Argumenten der Kernenergiekritik auseinander. In acht Themenblöcken versuchte die Stromwirtschaft die verschiedenen Argumente gegen die Kernenergie sachlich zu entkräften. Konzeptionell wurden dabei prägnante Fragen gestellt, wie zum Beispiel „Warum werden Kernkraftwerke gebaut?“ oder „Sind Kernkraftwerke sicher?“, die dann ebenfalls möglichst einfach und schlüssig beantwortet wurden. Ein Großteil der Fragen bezog sich auf die Befürchtungen, die die meisten Bürgerinnen und Bürger mit der Kernenergie verbanden, also die gesamte Umweltproblematik, radioaktive Abfälle, Wärmeabgabe an Flüsse, Radioaktivität und Strahlendosis sowie Reaktorsicherheit. Auf die militärische Herkunft der Kernenergie wurde ebenso eingegangen wie auf die Frage, ob „Kernenergiekritiker echte, wissenschaftliche Argumente vorzuweisen“ hätten, wenn sie kritisierten.168 Freilich fasste die Schrift im Großen und Ganzen bereits bekannte Auffassungen der Stromwirtschaft zur Kernenergie zusammen. In Verbindung mit der entsprechenden Fernsehwerbung erzielte sie jedoch eine bisher unbekannte Breitenwirkung der Kernkraftbefürworter. Seit Beginn der 1970er-Jahre wurde zusehends intensiver um Verständnis dafür geworben, dass Kernkraftwerke gebaut werden müssten. Zuschauerbefragungen hatten ergeben, dass diese Werbung durchaus positive Effekte auf das öffentliche Bild der Kernenergie hatte. Auch in überregionalen Tageszeitungen war die Branche mit ganzseitigen Anzeigen vertreten. Dabei sollte verdeutlicht werden, dass „Kraftwerke, die wir heute nicht bauen, uns morgen keinen Strom liefern“ könnten, so der Titel der entsprechenden Serie. Auch die Ausweitung der Zielgruppe für die Bewerbung der Kernenergie zeigte zumindest in Ansätzen ihre Wirkung. Alters- und zielgruppengerechte Publikationen, Vorträge und Exkursionen zu Kernkraftwerken wurden in Schulen und Volkshochschulen angeboten und gern in Anspruch genommen.169 Jedoch zurück zu den 66 Fragen und 66 Antworten, die weit mehr Aufsehen erregten, als die Stromwirtschaft sich dies vorgestellt hatte. Eine Gruppe von Kernenergiekritikern versuchte mit einer Art Gegenexpertise, bewusst einen Kontrapunkt zu dieser Veröffentlichung zu setzen. Mit der Publikation Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie war der Studiengruppe an der Universität Bremen 166 Rückkehr zum energiepolitischen Grundkonsens, Januar 1987, S. 2, E.ON-Archiv München, EEA 2819. 167 Hamburger Elektrizitätswerke AG/Nordwestdeutsche Kraftwerke AG, Zum besseren Verständnis der Kernenergie – 66 Fragen, 66 Antworten, Hamburg 1971. Die verschiedenen Auflagen umfassten insgesamt ca. 200.000 Exemplare und wurden kostenlos verteilt. 168 Ebd., S. 37. 169 Geschäftsbericht der DVG des Jahres 1972, S. 12, HKR, DVG ab 1. Januar 1973 bis 31. Mai 1973, 6033.
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durchaus ein Coup gelungen.170 Für die Preußenelektra war die Studiengruppe, die sich mit der „Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz und in der Industrieregion Unterweser“ beschäftigte, ein Ärgernis ersten Ranges, mit der sich in zahlreichen Gremiensitzungen auseinandergesetzt wurde. Mit der erstmals 1975 veröffentlichten Gegenschrift verfolgte die Gruppe das Ziel, Argumente gegen den Bau von Kernkraftwerken zu sammeln und diese, wissenschaftlich fundiert aufbereitet, der Kernkraftwerksgegnerschaft zur Verfügung zu stellen. Bei den führenden Köpfen der Gruppe handelte es sich um renommierte Wissenschaftler, insbesondere um Physiker und Juristen. Daher nahm die Gruppe für sich in Anspruch, sich für die Folgen ihrer eigenen Arbeit zu interessieren und damit aktiv an der politischen Auseinandersetzung teilzunehmen.171 Von der Preußenelektra wurden diese Ziele fast rituell in Zweifel gezogen, zumal sie die Bremer Gruppe zu denjenigen Kernkraftwerksgegnern zählte, die „mit der Verhinderung des Baues von Kernkraftwerken das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik zerstören woll[t]en“.172 Diese Einschätzung des Stromkonzerns war jedoch überzogen, selbst wenn die Gruppe eindeutig dem linksalternativen Milieu zuzurechnen war. Die Wissenschaftler versuchten, alle Argumente der Stromwirtschaft zu entkräften und plausible anderslautende Antworten zu geben. Die Publikation erwiderte daher alle 66 Antworten der Stromwirtschaft und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Sicherheitsaspekte von Kernkraftwerken, die seit Mitte der 1970erJahre ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt waren.173 In ihrer Argumentation stützten sich die Autoren insbesondere auf Studien der amerikanischen Atomenergiekommission (AEC) sowie auf den nach dem Leiter der Studie benannten Rasmussen-Report.174 Letzterer hatte neue wahrscheinlichkeitstheoretische Verfahren zur Beurteilung der Sicherheit von Kerntechnik ermittelt. Der Report war mit seinen 18 Bänden ein Monumentalwerk und seine Methoden waren später Vorbild für weitere Studien der bundesdeutschen Kerntechnikindustrie sowie für die Deutsche Risikostudie für Kernkraftwerke (DRS) der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), die jeweils 1979 und 1989 erschienen.175 Wenngleich gerade die amerikanischen Studien, und hierbei vor allem der Rasmussen-Report, für ihre Me170 Bätjer, Klaus u. a., Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie: 66 Erwiderungen. Kritik des Reklamehefts 66 Fragen, 66 Antworten: zum besseren Verständnis der Kernenergie, Berlin 1975. Im Verlauf der 1970er-Jahre erreichte die Schrift mit 100.000 Exemplaren einen vergleichsweise hohen Verbreitungsgrad. 171 Bätjer, Klaus u. a., Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie: 66 Erwiderungen. Kritik des Reklamehefts 66 Fragen, 66 Antworten: zum besseren Verständnis der Kernenergie, Berlin 1975, S. 9. 172 Keltsch, Erhard, Vortrag vor dem Verwaltungsausschuss der Preußenelektra am 8. Oktober 1974, S. 4. 173 Auf die intensive und facettenreiche Sicherheitsdiskussion in Bezug auf Kernkraftwerke kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Für weitere Informationen siehe Laufs, Paul, Die Entwicklung der Sicherheitstechnik für Kernkraftwerke im politischen und technischen Umfeld der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 1955, Diss. Univ. Stuttgart 2006. 174 United States Nuclear Safety Commission (NRC) (Hg.), Reactor Safety Study. An Assessment of Accident Risks in US Commercial Nuclear Power Plants, Washington D. C. 1975. 175 Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) (Hg.), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke. Eine Untersuchung zu dem durch Störfälle in Kernkraftwerken verursachten
3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft
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thodik Kritik176 einstecken mussten, so räumten sie – zwar mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit und nur unter bestimmten Bedingungen, aber immerhin – die Möglichkeit einer Kernschmelze und die Freisetzung von Radioaktivität ein. Der Rasmussen-Report hielt den „größten anzunehmenden Unfall“ (GAU) alle 17.000 Jahre für möglich, während die Werbebroschüre von einer Wahrscheinlichkeit von 1:1 Milliarde Jahren ausging.177 Auch jenseits der Sicherheitsdiskussion um die Kernenergie war es für die Stromwirtschaft nicht einfach, verlorengegangenes Vertrauen in der Bevölkerung zurückzuerlangen. Keine Schwierigkeiten hatte die Stromwirtschaft hingegen mit der Werbung für Strom, die seit der Entstehung der Branche in den 1880er-Jahren zu ihrem Kerngeschäft gehörte. Seit der „Erweckung des Stromhungers“178 war das Bewerben des wichtigsten Produkts der Energieversorger, der Elektrizität, ein zentrales Anliegen. Während die Stromwirtschaft bei der Werbung für Strom auf einen weitreichenden Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte, war dies bei der Öffentlichkeitsarbeit nicht der Fall. Nicht zuletzt deshalb rang die Branche so intensiv um die konzeptionelle Ausrichtung ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Die Verunsicherung innerhalb der Stromwirtschaft darüber, wie die eigene Öffentlichkeitsarbeit zu gestalten sei, stieg in den 1970er-Jahren noch zusätzlich an. Dies war auf den Umstand zurückzuführen, dass sich Öffentlichkeit und vor allem die Stromverbrauchenden verstärkt für die Frage interessierten, was denn eigentlich hinter der Steckdose passierte und wie Elektrizität zu ihnen gelangte. Die Energieerzeugung geriet dabei zusehends in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wie erwähnt, betrieb die Stromwirtschaft bis zu diesem Zeitpunkt eine eher unauffällige Öffentlichkeitsarbeit, und viele Energiekonzerne besaßen, wenn überhaupt, relativ kleine Abteilungen für diese Zwecke. Dabei ist innerhalb der Branche zwischen den Unternehmen und dem Verband der Elektrizitätswirtschaft zu unterscheiden. Während die VDEW als übergeordnete Interessenvertretung schon immer eine gewisse Form der überregionalen Öffentlichkeitsarbeit betrieben hatte, war dies bei den Unternehmen so nicht der Fall. Die EVU konzentrierten sich auf überwiegend regionale und in dieser Hinsicht auf ihr jeweiliges Versorgungsgebiet begrenzte Risiko, Köln 1979; Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke (Hg.), Phase B: Eine zusammenfassende Darstellung, Köln 1989. 176 Hippel, Frank von, Looking Back on the Rasmussen Report, in: The Bulletin of the Atomic Scientists, February 1977, S. 42–47. 177 Bätjer, Klaus u. a., Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie: 66 Erwiderungen. Kritik des Reklamehefts 66 Fragen, 66 Antworten: zum besseren Verständnis der Kernenergie, Berlin 1975, S. 107; Hamburger Elektrizitätswerke AG/Nordwestdeutsche Kraftwerke AG, Zum besseren Verständnis der Kernenergie – 66 Fragen, 66 Antworten, Hamburg 1971, S. 26. 178 Siehe Döring, Peter / Weltmann, Christoph, Die „Erweckung des Stromhungers“-Elektrizitätswerbung im 20. Jahrhundert, in: Wessel, Horst A. (Hg.), Das elektrische Jahrhundert. Entwicklung und Wirkungen der Elektrizität im 20. Jahrhundert, Essen 2002, S. 93–108; Horstmann, Theo, Es wird sofort eine großzügige Propaganda in Angriff genommen – Frühe Gemeinschaftswerbung für Elektrizität in Deutschland am Beispiel der Geschäftsstelle für Elektrizitätsverwertung, in: Feldenkirchen, Wilfried / Hilger, Susanne / Rennert, Cornelia (Hg.), Geschichte – Unternehmen – Archive. Festschrift für Horst A. Wessel zum 65. Geburtstag, Essen 2008, S. 341–364; Horstmann, Theo / Weber, Regina (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“. Werbung für Strom 1890 bis 2010, Essen 2010.
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Öffentlichkeitsarbeit. Erst als die Energiefrage seit den 1970er-Jahren vermehrt ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt war, änderte sich dies. Mit dem vielgestaltigen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wurde die öffentliche Stromversorgung vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Für die Stromwirtschaft insgesamt war dabei sowohl eine quantitative Ausweitung als auch eine qualitative Veränderung der Öffentlichkeitsarbeit zu verzeichnen. Dies bedeutete, dass in den Unternehmen sowie bei der VDEW die entsprechenden Abteilungen ausgebaut wurden. Vor allem hinsichtlich der Konzeptualisierung von Öffentlichkeitsarbeit betrieb die Branche seit Ende der 1970er-Jahre einen höheren Aufwand. Auf der Ebene der Branchenkommunikation gab es für die Stromwirtschaft ebenfalls Handlungsbedarf. Dabei rückte auch die organisatorische Frage ins Zentrum, welche Aufgaben der Verband und welche die einzelnen EVU übernehmen sollten. Dieses Problem führte regelmäßig zu Konflikten. Die Unternehmen machten bei unzureichender externer Kommunikation häufig den Verband für eine verfehlte Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich, selbst wenn mögliche Fehler nur auf Missverständnissen und Kommunikationsproblemen zwischen den Agierenden beruht hatten. Bei dieser Gelegenheit stellten die EVU meist auch die Qualität, Organisation und Konzeption der Öffentlichkeitsarbeit der Branche insgesamt infrage. Mit der Gründung der Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft (IZE) am 5. Juni 1972 wurde der Versuch unternommen, die Aufgaben und Leistungen der öffentlichen Stromversorgung stärker als bisher in der Öffentlichkeit darzustellen.179 Die Mitglieder in der IZE waren neben der VDEW die drei weiteren maßgeblichen Verbände der Energiewirtschaft, die DVG, die ARE und der VKU. Die drei letztgenannten Verbände vertraten jeweils entsprechend die überregionalen, regionalen und kommunalen Anliegen ihrer Mitglieder in der IZE. Mit der Schaffung der Informationszentrale war auch der Versuch verbunden, die verschiedenen Aktivitäten der Elektrizitätswirtschaft in puncto Öffentlichkeitsarbeit zu bündeln, „mit einer Stimme der Öffentlichkeit gegenüberzutreten“.180 Mit Publikationen wie „StromTHEMEN“, „StromBASISWISSEN“ und „StromDISKUSSION“ wurden von der IZE in den 1970er-Jahren in regelmäßigen Abständen, zum Teil sogar monatlich, energiepolitische und -wirtschaftliche Probleme diskutiert. Neben der Produktion von Broschüren, Filmen, Schriften und Nachschlagewerken veranstaltete die IZE auch Tagungen, Fotowettbewerbe, Ausstellungen und Seminare. Durch die IZE wollte die Stromwirtschaft bei „Multiplikatoren“ ein positives Bild erzeugen. Neben Informations- und Werbefilmen erstellte die IZE auch Schul- und Unterrichtsmaterialien. Mittels dieser breiten Palette der Öffentlichkeitsarbeit warb die Informationszentrale für eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz der Stromwirtschaft. Die beiden Hauptaufgaben der IZE fanden mit den Geschäftsbereichen „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Produktinforma-
179 Die 698 im RWE-Archiv befindlichen Akteneinheiten zur IZE konnten aufgrund des Umzugs der Bestände leider nicht hinzugezogen werden. 180 Schulte, Richard, Tagesfragen der Elektrizitätswirtschaft, in: VIK-Mitteilungen 3 (1972), S. 55.
3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft
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tion“ auch organisatorisch ihren Niederschlag.181 Innerhalb der Stromwirtschaft versuchte man, die Zuständigkeiten der verschiedenen Verbände für den Kontakt zur Öffentlichkeit neu zu strukturieren und damit eine klare Trennung der Aufgabenbereiche zu schaffen. Die VDEW sollte sich vorwiegend um die energiepolitische Vertretung der Branche gegenüber Massen- und Fachmedien kümmern. Zu diesem Zweck wurde die Informationsabteilung des Verbandes seit 1978 ausgebaut und mit einem modernen Informationssystem unter dem kryptischen Namen „slstrom-linie“ ausgestattet.182 Die IZE hatte schon 1973/74 eine mittelfristige Strategie für ihre Öffentlichkeitsarbeit entwickelt, die sich im Wesentlichen mit den energiepolitischen Zielen der VDEW deckte.183 Im Rahmen ihrer Arbeit bediente sich die IZE wissenschaftlich fundierter Analysen und vor allem der immer populärer werdenden Demoskopie. Eine wichtige Orientierungsfunktion nahm dabei die in regelmäßigen Abständen vom Allensbach-Institut durchgeführte Meinungsumfrage zur „Einstellung der Bevölkerung zur Elektrizitätswirtschaft und zu Kernkraftwerken“ ein. Diese bereits seit Ende der 1950er-Jahre erhobenen Umfragen veranschaulichten sehr genau den Wandel der Bevölkerungseinstellung gegenüber der Branche insgesamt und zur Kernenergie im Besonderen.184 Langfristige Tendenzen in der Einstellung zur Kernenergie auszumachen war jedoch sehr schwierig. Denn selbst nach Großereignissen, wie Harrisburg und Tschernobyl, war nicht immer zweifelsfrei zu klären, ob derartige Ereignisse nicht einen schon vorher eingetretenen Einstellungswandel zur Kernenergie noch zusätzlich verstärkt hatten oder ob diese der direkte Auslöser für bestimmte Entwicklungen waren.185 Darüber hinaus sind demoskopische Erhebungen zur Kernenergie, was die verwendete Methodik angeht, mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, da eine Unterteilung der Befragten in „Befürworter eines
181 Hoss, Peter, Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft, in: Haedrich, Günther / Barthenheier, Günter / Kleinert, Horst (Hg.), Öffentlichkeitsarbeit. Dialog zwischen Institutionen und Gesellschaft. Ein Handbuch, Berlin u. a. 1982, S. 267–278. 182 Ebd. 183 Dies waren vor allem die Förderung und Einführung zukunftsorientierter Energietechnologien, der verstärkte Einsatz elektrischer Energie zur Wärmeversorgung sowie im Rahmen des Energiesparprogramms der Bundesregierung die Substitution von Erdöl und sinnvoller Umweltschutz im Kraftwerksbereich. Am wichtigsten war jedoch „die Festigung der Struktur der öffentlichen Elektrizitätsversorgung als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Sicherung der künftigen Stromversorgung“. Gerade dies kann als Wahlspruch der Öffentlichkeitsarbeit der Branche verstanden werden. Er sollte vor allem Politikern vor Augen führen, dass eine Änderung des Ordnungsrahmens (geschlossene Versorgungsgebiete etc.) nicht absehbare Folgen für die Sicherheit der Stromversorgung haben könnte. 184 Dube, Norbert, Die öffentliche Meinung zur Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland 1955–1986. Eine Dokumentation, Berlin 1988; Noelle-Neumann, Elisabeth, Die Kernenergie und die öffentliche Meinung, Dokumentation des Beitrags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juli 1987, Allensbach 1987, S. 3. 185 Für Harrisburg belegen verschiedene Erhebungen, dass schon vor den Ereignissen von Three Mile Island die relativ hohen Zustimmungsraten zur Kernenergie von über 60 % rückläufig waren. Pligt, Joop van der, Nuclear Energy and The Public, Oxford 1992, S. 2 f.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
Ausbaus der Kernenergie“, in „Befürworter eines Weiterbetriebs auf aktuellem Niveau“ und den „strikten Gegnern der Technologie“ nicht immer trennscharf war.186 Unterschiedliche Auffassungen gab es in der Stromwirtschaft vor allem zu der Frage, welche Rolle die IZE im Gesamtkonzept der Öffentlichkeitsarbeit der Branche einnehmen sollte. Vor allem in der VDEW wurde seit Mitte der 1970er-Jahre immer wieder über die angeblich mangelnde Professionalität der IZE diskutiert. Aus den Quellen lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei klären, von welchen Stromversorgern diese Kritik ausging. Die Unternehmen waren mit der Arbeit der IZE unzufrieden, sodass sich einzelne von ihnen darauf verlegten, ihre Öffentlichkeitsarbeit wieder stärker allein zu betreiben. Die VDEW reagierte auf die Kritik aus den Unternehmen mit zwei Gutachten, die sie über die zukünftige Rolle der IZE anfertigen ließ, um „die Öffentlichkeitsarbeit der Elektrizitätswirtschaft [künftig] wirkungsvoller zu organisieren“.187 Ohnehin stand die kollektive Produktinformation der Branche auf dem Prüfstand. Und eine Einstellung dieser gemeinsamen Maßnahme wurde von der Mehrheit der Mitgliedsunternehmen im VDEW-Vorstandsrat ebenso befürwortet wie von der IZE selbst. Die IZE wirkte indes nicht nur nach außen, sondern erfüllte auch eine gewisse Servicefunktion zur Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit der EVU. So regte beispielsweise der Vorstand der EVS, Heinz Lilienfein, an, dass die IZE den Mitgliedsunternehmen für die Zusammenarbeit mit der Industrie weiterhin Material als Argumentationshilfe an die Hand geben solle.188 Die Unzufriedenheit der Mitgliedsunternehmen mit der Arbeit der IZE bezog sich daher vorwiegend auf die konzeptionelle Ausrichtung der externen Öffentlichkeitsarbeit. Diese bedürfe einer grundlegenden Überarbeitung. So wurde von den EVU gefordert, „umgehend von Fernsehspots und Zeitungsanzeigen auf eine Beeinflussung der meinungsbildenden Persönlichkeiten und Institutionen in Politik und Wirtschaft“ umzuschalten. Erhard Keltsch schlug, wie andere Vorstände auch, vor, ein Gremium aus Persönlichkeiten des Wirtschaftszweiges zu bilden, das ad hoc zu tagesaktuellen energiewirtschaftlichen Fragen Stellung nehmen könne.189 Die Stromwirtschaft wollte zwar weiterhin Fernsehspots und Zeitungsanzeigen schalten, aber eine gezielte Beeinflussung der Politik hielten die Verbundunternehmen für wesentlich wirkungsvoller. Bei den Themen „Energierechtsreform/EnWG“ und „Drittes Verstromungsgesetz“ habe sich dies bereits exemplarisch gezeigt, so die Meinung. Die laufenden Bemühungen und die Kooperation mit dem BDI hätten dazu geführt, so die Interpretation der DVG, dass man den Entwurf eines neuen EnWG selbst im BWMi nicht mehr in dem Umfang unterstütze wie früher. Gerade dieses Beispiel zeige, dass, wenn eine Anzeigenkampagne in den Massenmedien
186 Kitschelt, Herbert, Kernenergiepolitik. Arena eines gesellschaftlichen Konflikts, Frankfurt/M. 1980, S. 192 ff. 187 Niederschrift der Vorstandsratssitzung der VDEW am 18. April 1977, S. 7 f., HKR, VDEWVorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 188 Ebd. 189 Ebd., S. 14.
3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft
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nicht den gewünschten Erfolg bringe, eben verstärkt „der direkte Weg zu den Meinungsbildern gefunden werden“ müsse.190 Die EVU konnten nicht zuletzt deshalb so viel Druck auf die VDEW und die IZE ausüben, weil sie letztlich die Geldgeber der verbandsmäßigen Öffentlichkeitsarbeit waren. Die Mitgliedsbeiträge der Unternehmen an die IZE richteten sich nach einem kWh-Schlüssel, wonach jedes Unternehmen nach Höhe seiner Energieerzeugung einen Beitrag zum Haushalt der IZE leistete. Der Gesamtetat wies 1978 eine Höhe von knapp 8 Mio. DM auf und wuchs während der 1980erJahre auf knapp 10 Mio. DM an.191 Auch in der Stromwirtschaft waren das keine kleinen Summen. Vor allem aber wollten die verschiedenen Verbände der Branche, und hierbei insbesondere die DVG, ihren Einfluss auf die strategische Ausrichtung einer unternehmensübergreifenden Öffentlichkeitsarbeit geltend machen. Die DVG war eine Interessenvertretung der neun großen Verbundunternehmen. Um ihren „überwiegenden Einfluss“ auf die IZE-Öffentlichkeitsarbeit zu sichern, nahmen zwei Vorstände zentrale Positionen in der IZE ein: zum einen Schnell (EVS) den Vorsitz im Beirat „Öffentlichkeitsarbeit“, zum anderen Hermann Krämer, Vorstandsvorsitzender der Preußenelektra, für die Verbundunternehmen in der IZEMitgliederversammlung.192 Doch auch abgesehen von diesen einflusssichernden Maßnahmen beschäftigten sich die EVU weiter mit konzeptionellen und finanziellen Fragen die IZE betreffend. Dies hatte vor allem mit dem Umstand zu tun, dass die VDEW für ihre Pressearbeit immer wieder finanzielle Mittel aus dem IZE-Etat abzweigte.193 Neben einer konzeptionellen Neuausrichtung der IZE-Aufgaben wurden auch personell neue Wege beschritten. Für die Öffentlichkeitsarbeit sollte ein hochqualifizierter Fachmann eingestellt werden, der dem VDEW-Vorstand direkt unterstellt war. Diese Überlegungen kamen auf, weil die organisatorischen Probleme bei der Zusammenführung der Öffentlichkeitsarbeit der Elektrizitätswirtschaft in den Unternehmen erhebliche Unzufriedenheit ausgelöst hatte. Diese wurden bei den Verbundunternehmen zusätzlich genährt, weil das Bild der Branche in der Öffentlichkeit weiterhin negativ besetzt blieb. Für dieses Problem machten die EVU vor allem die IZE verantwortlich. Die Unternehmen hatten die IZE aber gerade deshalb gegründet, weil die Produktinformation sowie die Öffentlichkeitsarbeit aus einer Hand erfolgen sollten. Mit der Produktinformation waren die EVU zufrieden, auf die Öffentlichkeitsarbeit traf dies aber nicht zu. Das hatte neben gesellschaftlichen Faktoren vor allem mit der mangelnden Koordination zwischen VDEW und IZE sowie den dazugehörigen Pressestellen zu tun, die eine enge Abstimmung bei wichtigen Fragen versäumt hatten. Der Eindruck einer zweigleisigen Öffentlichkeitsarbeit der Stromwirtschaft war die Folge. Um dem entgegenzuwirken und der Öffent190 Niederschrift über die Mitgliederversammlung der DVG am 27. März 1974 in Heidelberg, S. 1–9, hier S. 5, HKR, DVG, 1. Vorsitzender 1. Januar 1974 bis 30. September 1974, 6035. 191 Ebd.; Transkript des Interviews mit Klaus Kocks am 6. Februar 2009 in Berlin. 192 Geschäftsbericht der DVG vom 1. Januar bis 31. Dezember 1978, S. 1–37, hier S. 3, HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, 6040. 193 Niederschrift über die Mitgliederversammlung der DVG am 29. November 1978, S. 1–10, hier S. 8, HKR, DVG ab 15. Juli 1978 bis September 1979, 6040.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
lichkeitsarbeit der Branche eine einheitliche Ausrichtung zu geben, wollte die VDEW beides zusammenführen.194 Mit der Einstellung von Georg-Volkmar Graf Zedtwitz-Arnim, dem früheren Direktor der Stabsabteilung „Information“ des Essener Krupp-Konzerns und Autor des unter PR-Leuten als Klassiker firmierenden Buches Tu Gutes und rede darüber,195 wurde tatsächlich ein anerkannter Fachmann mit der Gesamtleitung der stromwirtschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit beauftragt. Auch wenn von Zedtwitz mit einigen umstrittenen Publikationen196 hervorgetreten war, hielt mit ihm doch eine Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit Einzug in die Stromwirtschaft. Ganz im Sinne des VDEW-Vorsitzenden Heinrich Freiberger und auf eine Art Baukastenprinzip aufbauend, wurde nun die Belegschaft der entsprechenden Abteilungen der Energieversorger sowie der VDEW turnusmäßig in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit weitergebildet und geschult. Mit einem umfangreichen Konzept und einem Etat von 3,5 Mio. DM sollte vor allem die „kurzfristige Öffentlichkeitsarbeit“ der Branche überdacht werden.197 Das Konzept Graf Zedtwitzʼ lief im Kern darauf hinaus, das Meinungsbild der Öffentlichkeit zu analysieren und es zum Positiven hin zu verändern. Dabei ging es dem Verband vor allem darum, „die emotionale Urangst der Bevölkerung vor der Kernkraft durch systematische Aufklärung zu ‚rationalisieren‘ und den Zusammenhang zwischen Energieversorgung einerseits und Lebensstandard, Beschäftigung und Freiheit andererseits nachzuweisen“.198 Konzeptionell angegangen werden sollte dieses Problem durch die Errichtung eines Stabsbereiches „Öffentliche Angelegenheiten“, der entsprechend schnell auf mögliche Ereignisse reagieren könne. Auch in den Unternehmen richtete man seit Mitte der 1970er-Jahre „Krisenstäbe“ ein, die entsprechend zügig auf kurzfristige Ereignisse reagieren sollten.199 Seit den 1970er-Jahren schenkte die Stromwirtschaft der empirischen Sozialforschung als Methode zur Analyse der öffentlichen Meinung größere Aufmerksamkeit. Gerade die Durchführung von Sofortmaßnahmen sollten durch die Nutzung eines „sozialwissenschaftlichen Unterbaus“, bestehend aus Psychologie, Soziologie und Politologie, und der Zusammenarbeit mit den entsprechenden wissenschaftlichen Beratern vorbereitet werden.200 Mit der Inanspruchnahme der empiri194 Niederschrift über die außerordentliche Sitzung des Vorstandsrats der VDEW am 7. Juli 1977, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1.3. 1977, 2930. 195 Zedtwitz-Arnim, Georg-Volkmar Graf, Tu Gutes und rede darüber. Public Relations, Frankfurt/M. 1961. 196 Siehe u. a. Zedtwitz-Arnim, Georg-Volkmar Graf, Ein Ruf wie Donnerhall: Deutschenspiegel, Düsseldorf 1978; ders., Degen gegen Maschinenpistole? Oder Voltaire gegen den missverstandenen Rousseau. Ein Essay über Veränderungen in Grundlagen und Bedingungen von Theorie und Instrumentarien der Public Relations seit den fünfziger Jahren, 2., revid. Aufl., Düsseldorf 1982. 197 „Exposé über meinungsbildende Maßnahmen für die VDEW“ vom 25. April 1977, HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 198 Ebd., S. 6. 199 Bildung eines Krisenstabes, Notiz von der Vorstandsratssitzung am 8. Dezember 1975, HKR W8/1, S. 5. 200 Siehe u. a. Röglin, Hans-Christian, Sozialpsychologische Aspekte der Kernenergie, in: Atomwirtschaft, Januar (1977), S. 20–23; Bauer, Leopold, Energiewirtschaft in einer Vielfalt von Risiken. Psychogramm der Energiewirtschaft, in: EWT 33 (1983) 4, S. 223–229.
3.2 Öffentlichkeitsarbeit in der Stromwirtschaft
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schen Sozialforschung verbanden die EVU nicht zuletzt die Hoffnung, Erkenntnisse über die aus ihrer Sicht unverständliche Ablehnung der Kernenergie zu gelangen. Dazu wurden von der Stromwirtschaft Untersuchungen in Auftrag gegeben und dann intensiv in verschiedenen Firmengremien diskutiert. Auch der Aufbau von Netzwerken mit „Solidar-Interessenten“ sollte künftig stärker in die Öffentlichkeitsarbeit einbezogen werden. In der Bevölkerung wie bei Medien und politischen Entscheidungsträgern wollte die Branche damit auf die Entwicklung eines „Energie-Bewusstseins“ hinarbeiten und den Informationsstand ihres Adressatenkreises zu Energiefragen kontinuierlich verbessern. Neben einem dialogischen Vorgehen sollten jedoch die „unvernünftigen Kräfte“ in den Reihen der Bürgerinitiativen isoliert werden.201 Die Schwerpunkte einer künftigen Öffentlichkeitsarbeit der Branche lassen sich daher mit den Schlagwörtern „Zentralisierung“ und „wissenschaftliche Professionalisierung“ beschreiben, deren erklärtes Ziel es war, die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Stromwirtschaft zu erhöhen. Öffentlichkeitsarbeit sollte daher „nicht als Propaganda, sondern als vertrauensvolle Aufklärungsarbeit“202 betrieben und verstanden werden. Die Energieunternehmen hatten erkannt, dass Medien wichtige Multiplikatoren und gesellschaftliche Trendverstärker sein konnten und waren entsprechend bestrebt, Kontakte zu politischen Redaktionen aufzubauen.203 Die Unternehmen gelangten allmählich zu der Einsicht, dass die Stromwirtschaft als Branche immer stärker politisiert werde. Die RWE wollten Ende der 1970er-Jahre sogar die Ergebnisse anstehender Wahlen, wichtige energierechtliche Entscheidungen, die Rechtsentwicklung beim Umweltschutz und den Genehmigungsverfahren abwarten, bevor sie die Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens daran anpassen würden. Dass die EVU beim Einsatz und Ausbau der Kraftwerke auf die Unterstützung von Regierungen, politischen Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, der Industrie und auch der Massenmedien angewiesen waren, wurde den Unternehmen in der Stromwirtschaft immer klarer.204 Der RWE-Vorstand wollte das öffentliche Eintreten für die Kernenergie reduzieren, da alles andere, so die Auffassung des Unternehmens, zulasten der RWE gehe.205 Unternehmerische Imagepflege bedeutete seit den 1980er-Jahren die Teilnahme an Fernseh- und Radiodiskussionsrunden zur Energieproblematik, wobei hier meist die Kernenergie im Mittelpunkt stand. Eine intensive Diskussion wurde dabei in der legendären Radiosendung „Hallo Ü-Wagen“ geführt. Darin fuhr die Moderatorin Carmen Thomas mit einem Übertragungswagen im WDR-Sendegebiet umher und befragte Hörerinnen und Hörer zu ihrer Meinung. Im weiteren Verlauf der Sendung kamen diese dann mit Fachleuten ins Gespräch. Im November 1986 fragte die 201 Niederschrift über die Vorstandsratssitzung der VDEW am 18. Oktober 1977, HKR, VDEWVorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 202 Niederschrift über die außerordentliche Sitzung des Vorstandsrats des VDEW am 7. Juli 1977, S. 4 f., HKR, VDEW-Vorstandsrat ab 1. März 1977, 2930. 203 Notiz über die Vorstandsratssitzung am 20. Januar 1978, HKR W8/2. 204 Notiz über das Vorstandsgespräch mit Friedrich Wilhelm Christians (Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank) am 7. Juli 1978, HKR W8/2. 205 Notiz über die Vorstandsratssitzung am 6. März 1978, HKR W8/2, S. 3.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
Moderatorin innerhalb des Sendebeitrags die Bürgerschaft: „Wenn morgen die 19 Atomkraftwerke der Bundesrepublik abgeschaltet würden, was wäre Ihnen das wert, was wären Sie bereit, dafür auf sich zu nehmen, was denken Sie, würde sich dadurch verändern?“206 In der Sendung wurden noch andere Themen der Energieversorgung angesprochen und Bürger hatten Gelegenheit, mit den eingeladenen Experten zu sprechen. Die Expertenrunde war mit Gerhard Rittstieg, Klaus Traube, Ulrich Engelmann, Robert Jungk, Friedhelm Farthmann, Reimut Jochimsen, Lutz Mez, Julius Busch (Betriebsratsvorsitzender KWU) prominent besetzt. Sie vereinte Vertreter aus der sogenannten Protestszene, aus Gemeinden, mit verschiedenen Wissenschaftlern, mit Befürwortern und Gegnern der Kernenergie. Unter den Experten entwickelte sich ein regelrechter Schlagabtausch über Sicherheitsfragen der Kernenergie und mögliche Ausstiegsszenarien, die nach Tschernobyl wieder besonders aktuell geworden waren. Die Sendung verdeutlicht exemplarisch, dass die Stromwirtschaft, hier vertreten durch Gerhard Rittstieg (RWE), sich der öffentlichen Diskussion stellte und ihre Argumente einer öffentlichen Prüfung unterziehen musste. Rittstieg argumentierte in der Sendung, dass Kernenergie nach wie vor unschlagbar billig sei, und vor allem die deutsche Industrie aufgrund ihrer Exportorientierung nicht darauf verzichten könne.207 An den Aussagen Rittstiegs in dieser Sendung wurde jedoch auch deutlich, dass spätestens seit Tschernobyl auch in der Stromwirtschaft selbst unterschiedliche Auffassungen zur künftigen Rolle der Kernenergie in der Stromversorgung gegeben waren. Denn nicht ganz ohne Ironie zitierte der zum Kernenergiekritiker gewandelte Klaus Traube in der Radiosendung den VEBA-Vorstandsvorsitzenden und Aufsichtsrat der Preußenelektra, Rudolf von Bennigsen, der die Kernenergie bereits im Jahr 1986 als „Übergangsenergie“208 bezeichnet und den Bau weiterer Kernkraftwerke bis 2000 nahezu ausgeschlossen hatte. Diese Aussagen waren brisant, bestand doch der Kraftwerkspark der Preußenelektra mehrheitlich aus Kernkraftwerken. Doch die Aussagen von Bennigsens stellten damals noch eine, wenn auch mächtige, Minderheitenmeinung in der Branche dar. Gerade im eigenen Unternehmen, und hierbei vorrangig bei den Vorständen der Preußenelektra, war man mit den Äußerungen von Bennigsens überhaupt nicht einverstanden.209 Mit den Aussagen des PreußenelektraAufsichtsratsvorsitzenden war jedoch öffentlich wahrnehmbar geworden, dass selbst in der Stromwirtschaft unterschiedliche Auffassungen zur Kernenergie existierten. Doch wie versuchte die Stromwirtschaft angesichts dieser Situation wieder mehr Vertrauen in der Öffentlichkeit zu gewinnen?
206 Carmen Thomas Ü-Wagen über RWE am 20. November 1986, HKR 12430. 207 Ebd. 208 „Die Organe der VEBA hätten die Kernkraft von Anfang an als eine Übergangslösung für die Deckung des Energiebedarfs angesehen“, so von Bennigsen am 30. Mai 1986 in Die Welt. Oder drei Jahre später im Spiegel: „Ich habe ja selbst schon vor Tschernobyl davon gesprochen, daß Kernenergie nur eine Übergangsenergie ist. Ich habe die Übergangszeit damals auf etwa 50 Jahre geschätzt“. Der Spiegel, Nr. 16, 17. April 1989, S. 31. 209 Transkript des Interviews mit Dr. Hermann Krämer am 8. Mai 2008 in Hamburg-Seevetal.
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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3.3 NEUE KONZEPTE UND NEUES SELBSTVERSTÄNDNIS? DER KAMPF DER STROMWIRTSCHAFT GEGEN DEN AKZEPTANZVERLUST Die Ereignisse von Tschernobyl blieben nicht ohne Wirkung auf das Ansehen der Stromwirtschaft. Die Unternehmen merkten bald, dass es bei der Erklärung der Vorfälle in dem sowjetischen Reaktor nicht nur darum gehen könne, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass ein derartiger Unfall in bundesdeutschen Kernkraftwerken technisch ausgeschlossen sei.210 Insbesondere die Kernkraftwerksbetreiber sahen sich in der Pflicht.211 Die Diskussion um die Kernenergie wurde nun zusehends von Sicherheits- und Gesundheitsfragen dominiert.212 Die ohnehin schon weitverbreitete Skepsis gegenüber der Kernenergie drohte sich zu einer Akzeptanzkrise innnerhalb der Mehrheit der Bevölkerung auszuweiten. Nach Auffassung der Unternehmen hätte dies den energiepolitischen Grundkonsens insgesamt gefährden können. Daher beschlossen die Energiekonzerne – hierbei war die Preußenelektra federführend – über „neue Wege in die Öffentlichkeit“ nachzudenken und damit eine Rückkehr zum energiepolitischen Grundkonsens anzustreben. Zu diesem Zweck wurden in den Vorstandsetagen der Stromwirtschaft zum Jahreswechsel 1986/1987 entsprechende Papiere angefertigt, um diesem Ziel eine konzeptionelle Gestalt zu geben. Tschernobyl, hieß es im Papier Plädoyer für eine neue Akzeptanzstrategie. Grundzüge ihrer Formulierung und ihrer Verwirklichung, bilde den Ausgangspunkt der Betrachtungen. Dazu werde grundsätzlich festgestellt, dass „zwischen dem sowjetischen Reaktor und unseren Anlagen keine Parallelitäten“ bestünden, dass „aber Tschernobyl die Landschaft des politisch-gesellschaftlichen Umfeldes um die Kernenergie verändert“ habe.213 Dem sei Rechung zu tragen, vor allem durch die „Neuformulierung einer Strategie“, mit der das „verloren gegangene Vertrauen der Mitbürger“ wiederhergestellt werden müsse. Die Kluft zwischen der Bevölkerung auf der einen Seite sowie Industrie und Wirtschaft auf der anderen Seite müsse überwunden werden, da „ein menschen- und umweltbewusster Industriestaat auf Dauer mit dieser Kluft nicht leben könne“.214 Zur bisherigen Kernenergiekritik meinte die Stromwirtschaft, dass dieses vielschichtige Problem und „[dessen] Verstehen eine fundamentale Bedeutung für die
210 Siehe u. a. Schmitt, Dieter / Schneider, Hans K. / Schürmann, Jürgen, Nach Harrisburg und Teheran: eine energiepolitische Bestandsaufnahme, in: ZfE (1979) 2, S. 93–103, hier S. 99, S. 103. 211 Niederschrift der Sondersitzung des VDEW-Fachausschuss „Kernenergie“ am 3. März 1988; Niederschrift der 75. Sitzung des VDEW-Fachausschuss „Kernenergie“ am 27. April 1988. 212 Radkau, Joachim, Angstabwehr und Atomtechnik, in: Kursbuch 85 (1986), S. 27–53; ders., Szenenwechsel in der Kernkraftkontroverse, in: Neue Politische Literatur 28 (1983) 1, S. 5–56. 213 Plädoyer für eine neue Akzeptanzstrategie. Grundzüge ihrer Formulierung und ihrer Verwirklichung, Januar 1987, S. 1, E.ON-Archiv München, EEA 2819. Theo Sommer sprach in seinem Jahresrückblick auf das Jahr 1986 von einer „Havarie der Expertenkultur“. Das Papier wurde mit einem Verweis auf den Zeit-Artikel eingeleitet; siehe Sommer, Theo, Wenn die Welt in den Angeln knarrt, in: Die Zeit, 2. Januar 1987. 214 Plädoyer für eine neue Akzeptanzstrategie. Grundzüge ihrer Formulierung und ihrer Verwirklichung, Januar 1987, S. 1, E.ON-Archiv München, EEA 2819.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
EVU“ besäße.215 Tschernobyl habe nicht nur die technischen Gefahren in das Bewusstsein der Bevölkerung gerückt, sondern sei „seinem Wesen [nach] nicht technisch, sondern politisch und gilt den Grundlagen und Entwicklungen der Industriegesellschaft“.216 Damit identifizierten die Energiekonzerne die Kritik an der Kernenergie auch als Kritik an der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft. Als einen der „geistigen Väter der Kernenergiekritik“217 hatten die Energieunternehmen den amerikanischen Physiker und Umweltaktivisten Amory B. Lovins ausgemacht.218 Dieser hatte mit seinen auflagenstarken Schriften zum soft energy path ein anderes Energiekonzept aufgezeigt, das im Unterschied zu traditionellen Formen der Energieerzeugung vermehrt auf regenerative und weniger auf fossile und nukleare Primärenergieträger setzte. Sein Konzept bewegte sich damit im klaren Widerspruch zur deutschen Stromwirtschaft. An der Seite von Lovins wähnten die Energieversorger in Deutschland etwa Erhard Eppler und Klaus Michael MeyerAbich. Diese hätten als „Symbolfiguren des Kernenergieprotests“ vor allem die Entwicklung der SPD hin zu einer kernenergiekritischen Partei befördert.219 Freilich galt die Sorge in den Unternehmen nicht den alternativen Konzepten von Lovins und anderen an sich, sondern vor allem deren Wirkung auf die deutsche Bevölkerung. Mehr noch schien die Stromversorger aber die Erkenntnis umzutreiben, dass man den Fehler begangen habe, die Kernenergiekritik von Anfang an „ausschließlich als eine Herausforderung [der eigenen] technisch-wissenschaftlichen Kompetenz zu verstehen und entsprechend gehandelt“ habe.220 In der Stromwirtschaft, so die kritische Selbsteinschätzung, habe lange der Grundsatz gegolten: „Die politische Komponente des Kernenergiestreits ist Sache der Politik.“221 Damit habe sich die Branche in die Rolle des Lieferanten technisch-wissenschaftlicher Argumente begeben und sich auf diese Weise „zu [einem] Statisten [in] dieser Auseinandersetzung gemacht“.222 Vor diesem Hintergrund wäre es falsch, den bisherigen Weg fortzusetzen. Vielmehr müsse man aus der Defensive herauskommen und für die politische Auseinandersetzung eine „Botschaft“ entwerfen. Diese könnte nach Ansicht der Stromwirtschaft eine „Gesellschaftsphilosophie sein, die auf allgemein akzeptierten Positionen aufbaut und den Sinn [der] Industriegesellschaft in Gegenwart und Zukunft plausibel begründet“.223
215 216 217 218 219
220 221 222 223
Ebd., S. 2. Ebd. Ebd. Lovins, Amory B., Energy Strategy: The Road Not Taken?, in: Foreign Affairs, 55 (1976) 1, S. 65–96. Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie. Grundzüge einer künftigen Strategie, 29. Januar 1987, E.ON-Archiv München, EEA 2819; Neue Wege in die Öffentlichkeit. Ausgangslage, Ziele, Programmvorschläge, 28.01.1987, E.ON-Archiv München, EEA 2819. Plädoyer für eine neue Akzeptanzstrategie. Grundzüge ihrer Formulierung und ihrer Verwirklichung, Januar 1987, S. 2, E.ON-Archiv München, EEA 2819. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4.
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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Bei den Energieversorgern – vor allem bei der Preußenelektra – war man davon überzeugt, dass die Mehrheit der Deutschen nach wie vor „bürgerlich“ denke und fühle; folglich müssten die grundsätzlichen Thesen dieser Gesellschaftsphilosophie nicht neu erfunden werden. Die Beschreibung der bürgerlichen Lebensweise, etwa durch konkrete Wertüberzeugungen, blieb jedoch relativ vage und unspezifisch.224 Wichtig schien der Stromwirtschaft vor allem zu sein, dass mit dem neuen Konzept der Öffentlichkeitsarbeit in erster Linie eine gesellschaftspolitische Antwort auf die Kernenergiekritik gegeben werde. Eine Kernbotschaft „müsse eine Verantwortungsethik für Industrie und Wissenschaft beinhalten und deshalb Antworten auf das Wozu und Wohin unserer Industriegesellschaft geben können“.225 Damit war in erster Linie die Weiterentwicklung der Industriegesellschaft, die untrennbar mit der Entwicklung der Kernenergie verbunden war, gemeint. Mit diesem Konzept wollte sich die Stromwirtschaft deutlich von anderen Positionen, die ein „Zurück-zur-Natur“ und einen Ausstieg aus der westlichen Zivilisation – nicht nur aus der Kernenergie – propagierten, abgrenzen. Durch diese Gegenposition müsse deutlich werden, dass diese Wege nicht „sanft“ und gefahrlos, sondern „rückwärtsgewandt“ seien und daher die industriegesellschaftliche Entwicklung behinderten.226 Alles in allem, so ließe sich zusammenfassend formulieren, wollte die Stromwirtschaft mit dieser Strategie die Debatte um die Kernenergie wieder stärker bestimmen und nicht der Kernenergiekritik die Deutungshoheit sowie die mediale Arena überlassen. Die Stromwirtschaft wollte sich als fortschrittliche Wahrerin des Wohlstands präsentieren, während die Kernenergiekritik als rückwärtsgewandt gelten sollte, weil ihre Konzepte ins Abseits und weg vom Wohlstand führten.227 Das Problem an dieser Strategie war nur, dass ein Teil der bundesdeutschen Bevölkerung die Kernenergie tatsächlich als Element eines mächtigen, unkontrollierbaren „Atomstaats“ empfand. Viele Bürgerinnen und Bürger hegten darüber hinaus Bedenken gegenüber der Sicherheit der Atomkraft. Dies hatte auch damit zu tun, dass das Vertrauen in Experten, die mit technischen Argumenten versuchten, die Sicherheit der Kernenergie zu erklären, erheblich gesunken war. Das war wiederum darauf zurückzuführen, dass in der kernenergiekritischen Szene mittlerweile eine ernstzunehmende Gegenexpertise entstanden war. Aus heutiger Perspektive wird dabei gern übersehen, wie unübersichtlich das Problemfeld der Kernenergie in den 1970er-Jahren war. Von der Vielzahl von Sicherheitsfragen, über allerlei technische Zusammenhänge, wie unterschiedliche Reaktortypen, bis hin zur Wirtschaftlichkeit und zum bis heute ungelösten Entsorgungsproblem war die Debatte in ganz unterschiedliche komplexe Themenfelder und Wissensgebiete zersplittert.228 Nicht 224 Dazu wurden sehr allgemeine Aussagen gemacht, dergestalt, dass die Ziele zu einer bürgerlichen Lebensweise, „das Streben nach Selbstbestimmung der Lebensform genauso dazu gehöre wie der Erhalt und die Erweiterung der persönlichen Freiheit und des Wohlstandes, wie der Erhalt und das klare Bekenntnis zur Umwelt, der Wille zur Erhaltung des europäischen Kulturraumes und die wachsende Übernahme von Verantwortung für die Dritte Welt“. Siehe ebd. 225 Ebd., S. 5. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Radkau, Joachim, Szenenwechsel in der Kernkraftkontroverse, in: Neue Politische Literatur 28 (1983) 1, S. 5–56; ders., Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur. Phasen und Di-
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
zuletzt die thematische Vielfalt der Kernenergie hatte unter anderem bewirkt, dass es der Protestszene anfangs schwerfiel, sich auf den verschiedenen Feldern einzuarbeiten, um mit den etablierten Experten auf Augenhöhe diskutieren und ihnen Argumente entgegensetzen zu können. Die Energieversorger betrachteten seit etwa Mitte der 1980er-Jahre die Ablehnung der Kernenergie auch als ein Ergebnis ihrer fehlgeschlagenen Kommunikationsstrategie. Nicht ganz zufällig erhofften sich die Unternehmen durch die Inanspruchnahme von Agenturen und Kommunikationsberatern eine Verbesserung und zunehmende Professionalisierung ihrer Öffentlichkeitsarbeit.229 Doch auch durch hauseigene konzeptionelle Überlegungen versuchte die Stromwirtschaft, ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der öffentlichen Meinung und der Energiepolitik spielte dabei eine entscheidende Rolle. Nicht zuletzt beeinflusst durch die Ereignisse von Tschernobyl, wurde diese Problematik von der Stromwirtschaft seit Mitte der 1980er-Jahre verstärkt thematisiert. Die Diskussionen in internen Sitzungen und daraus hervorgegangene Konzeptpapiere dokumentieren diese Erkenntnis. Ein Beleg für die erhöhte Aufmerksamkeit der Stromwirtschaft stellt beispielweise ein Hintergrundpapier mit dem Titel Energiepolitik und Öffentlichkeit dar. Dieses kursierte zuerst innerhalb des Vorstandes der Preußenelektra und analysierte die Wirkung der Energiepolitik auf die Öffentlichkeit sowie die öffentliche Meinung zur Stromerzeugung und Kernenergie.230 Die Preußenelektra zeigte sich vor allem darüber besorgt, dass anhand der Umfragezahlen zur Kernenergie keine positive Trendwende auszumachen war. Während nach Zahlen des Allensbach-Institutes und der Forschungsgruppe „Wahlen Mitte“ 1981 noch 36 % der Bevölkerung für den weiteren Ausbau der Kernenergie votierten, waren es 1987 nur noch 7 %. Und ebenfalls 36 % waren 1981 für einen Weiterbetrieb, aber gegen den Ausbau der Kernenergie, im Jahr 1987 stellten diese jedoch mit 51 % die Mehrheit.231 „Das eigentlich Beunruhigende für die Stromwirtschaft [so die Analyse der Preußenelektra] musste die ab Mitte 1981 zu beobachtende Trendwende im Meinungsbild sein. Ihre Ursachen [lagen] offensichtlich nicht im Bereich der Wahrnehmung negativ empfundener betrieblicher Ereignisse, denn die Kernenergie hat[te] gerade in dieser Zeit ihre größten Erfolge aufzuweisen, die uns damals veranlasst hatten anzunehmen, die Kernenergie sei auf dem Wege zur Normalität.“232
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mensionen einer neuen Aufklärung, in: Hermann, Armin / Schumacher, Rolf (Hg.), Das Ende des Atomzeitalters? Eine sachlich-kritische Dokumentation, München 1987, S. 307–334. Inanspruchnahme einer Kommunikationsberatung 1986, E.ON-Archiv München, EEA 2819; Kocks, Klaus, Imagekorrektur in der Energiewirtschaft. Anmerkungen zu einer Informationsserie der RAG, in: Jahrbuch der Werbung, Marketing-Kommunikation in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 22 (1985), S. 55–58. Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29.1.1987, E.ONArchiv München, EEA 2819. Ebd., S. 3. Ebd.
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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Die Analyse der Meinungsumfragen ließ in der Branche unterschiedliche Auffassungen über deren Bewertung offen zutage treten. Während das Deutsche Atomforum, also die Interessenvertretung der Kernenergie, an den Befragungen vom Juli 1986 vor allem positiv herausstellte, dass eine Mehrheit der Deutschen nach wie vor für die friedliche Nutzung der Kernenergie eintrete, wurden diese in der Stromwirtschaft zum Teil gänzlich anders interpretiert. Die Preußenelektra wollte diesen Meinungstrend gründlicher analysiert wissen, insbesondere „hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen technologischen und politischen Entwicklungen auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ihrer Darstellung auf der anderen Seite“.233 Die Kritik der Unternehmen der Stromwirtschaft an ihren Verbänden zeigte sich beispielhaft an den Äußerungen der Preußenelektra zur Auswertung des Atomforums, die der Energiekonzern als oberflächlich einschätzte. Für die Unternehmen der Branche waren ihre Verbände und Interessenvertretungen wesentlich mit dafür verantwortlich, dass die Stromwirtschaft in der Öffentlichkeit kein positives Image mehr hatte. Die Deutlichkeit und Intensität, mit der Auffassungsunterschiede über die Öffentlichkeitsarbeit nun thematisiert und analysiert wurden, stellt eine neue Qualität in der Diskussionskultur der Stromwirtschaft dar. Diese veränderte Tonlage hatte, so interpretierten auch die Energieunternehmen diese Entwicklung, nicht zuletzt mit einer veränderten energiepolitischen Situation im Allgemeinen und der Einstellung zur Kernenergie im Besonderen zu tun. Die Energieversorger versuchten demnach wirklich zu verstehen, wie es zu dieser für sie unerklärlichen, breiten gesellschaftlichen Ablehnung der Kernenergie hatte kommen können. Noch 1955 habe es, so hieß es im Hintergrundpapier der Preußenelektra, eine „einschränkungslose Zustimmung aller Parteien und des DGB“234 zur friedlichen Nutzung der Kernenergie gegeben. An dieser Position habe sich bis in die 1970er-Jahre hinein „sichtbar wenig geändert“, wenngleich sich seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre „wichtige Veränderungen, zunächst im Wissenschaftsbereich“, ergeben hätten. „Damals entwickelte sich ein ‚Zeitgeist‘, der sich von den Segnungen der Wissenschaft und Technik lossagte und deren überwältigende Erfolgsbilanz nicht mehr zur Kenntnis nahm.“235 Die Analyse der Stromversorger macht das Aufkommen des neuen Zeitgeistes an bestimmten Personen fest, die seine Verbreitung maßgeblich befördert hätten. Mit den Namen Jürgen Habermas, Hans Mohr, Amory B. Lovins und der Veröffentlichung von Grenzen des Wachstums sei das Aufkommen dieser neuen Denkweise verknüpft. Mit dieser Einschätzung bewerteten die Stromkonzerne die Situation seit den 1970er-Jahren ganz ähnlich wie die von ihnen kritisierten Atomkraftgegner. Zumindest sahen beide Seiten die 1970er-Jahre als historische Zäsur,236 wenngleich deutliche Auffassungsunterschiede darüber vorherrschten, wie es zu dieser Entwicklung gekommen sei und mit welchen Konzepten diese anzugehen sei. Die Kernenergie-Opposition weise – nach Ansicht der Energiekonzerne – durchaus eine 233 234 235 236
Ebd., S. 3 f. Ebd., S. 4. Ebd. Siehe u. a. Eppler, Erhard, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart u. a. 1975, S. 19.
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„klare intellektuelle, ja bürgerliche Orientierung“237 auf, wie sich beispielsweise in Wyhl gezeigt habe.238 Nach Meinung der Preußenelektra dauere es jedoch nicht mehr lange, „bis diese konservative, aus dem Geist der Naturerhaltung herrührende Anti-Kernenergie- und Umweltschutzbewegung von radikalen Gruppen des linken politischen Spektrums majorisiert“ werde.239 Für das Unternehmen waren die Auswirkungen der Protestbewegung durchaus problematisch: „Bereits die ersten großen Demonstrationen gegen Brokdorf ließen eine Art Aktionsallianz zwischen den Bürgerinitiativen und diesen radikalen Gruppen entstehen, denen sich auch Teile der deutschen Sozialdemokraten – etwa der Jungsozialisten – anschlossen.“240 Tatsächlich hatte sich innerhalb der SPD seit 1976/77 eine ständig stärker werdende Position gegen die Kernenergie etabliert. Diese Entwicklung war nicht nur an den Beschlüssen der Jungsozialisten auf Bundesebene erkennbar, sondern auch anhand der Landesparteitage der SPD in Hamburg, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg. Die Analyse der Preußenelektra kam zu dem Ergebnis, dass sich eine gemeinsame Protestbewegung aus bürgerlichen und eher linksorientierten Demonstrierenden konstituiert habe. Diese beiden Gruppen, die sich – eher widerwillig – zu einer Koalition gegen die Kernenergie zusammengefunden hätten, handelten jedoch aus völlig unterschiedlichen Motiven heraus. Als gemeinsamen Nenner identifizierte der Stromkonzern die Auseinandersetzung „um die zukünftige Entwicklung der Industriegesellschaft“.241 Es sei wiederum Amory B. Lovins gewesen, der hierfür bereits 1976 die Initialzündung geliefert habe, indem der führende „amerikanische Kernenergie-Kritiker“ unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, „dass die Kernenergiefrage keine technische, sondern eine politische“ sei.242 Auch die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der SPD seien davon nicht unberührt geblieben 237 Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 4, E.ON-Archiv München, EEA 2819. 238 Dass die Protestbewegung in Wyhl durchaus einen bürgerlichen Kern aufwies, ist in der Forschung schon seit den 1980er-Jahren nachgewiesen; siehe Rucht, Dieter, Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung, München 1980, S. 81 ff.; Rusinek, Bernd-A., Wyhl, in: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 652–666. Das bürgerliche und national konnotierte Erbe der Naturund Umweltschutzbewegung ist mittlerweile ebenfalls sehr gut erforscht. Siehe Oberkrome, Willi, Kontinuität und Wandel im deutschen Naturschutz 1930 bis 1970. Bemerkungen und Thesen, in: Brüggemeier, Franz-Josef (Hg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt/M. u. a. 2005, S. 23–37; Engels, Jens Ivo, Naturpolitik in der Bundespolitik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn u. a. 2006; Engels, Jens Ivo, Von der Heimat-Connection zur Fraktion der Ökopolemiker. Personale Netzwerke und politischer Verhaltensstil im westdeutschen Naturschutz, in: Karsten, Arne (Hg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006, S. 18–45. 239 Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 5, E.ON-Archiv München, EEA 2819. 240 Ebd. 241 Ebd. 242 Ebd.
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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und verstärkten sich folgerichtig in dem Maße, indem sich im politischen Spektrum der Bundesrepublik Bürgerinitiativen für mehr Umweltschutz und gegen Kernenergie einsetzten und sich daraus die Grünen bzw. deren Vorläuferorganisationen entwickelten.243 Die Analyse der Protestbewegung durch den Stromversorger und ihr Niederschlag in der Parteienlandschaft stimmten mit den tatsächlichen politischen Entwicklungen seit Beginn der 1980er-Jahre im Wesentlichen überein. Freilich kommt die Ansicht des Stromkonzerns an einigen Stellen jedoch recht einseitig daher und die verschiedenen Facetten der Protestbewegung werden sehr verkürzt dargestellt. Dies dürfte einerseits mit der Darstellungsform eines Hintergrundpapiers zu tun haben und andererseits der eindeutigen Haltung der Stromversorger zu bestimmten Themen geschuldet sein. Nicht ohne Grund jedenfalls spielte Amory B. Lovins als geistiger Vater der Protestbewegung eine zentrale Rolle in den Erinnerungen befragter Zeitzeugen.244 Jedoch war, so hat mittlerweile die historische Forschung nachgewiesen, die ökologische Protestszene mehrheitlich ganz und gar nicht technikfeindlich eingestellt.245 Diese Einschätzung hielt sich jedoch in der Stromwirtschaft hartnäckig, ungeachtet der Tatsache, dass Leitfiguren der Öko-Szene, wie zum Beispiel Amory Lovins, vielfach selbst Ingenieure, Techniker oder Naturwissenschaftler waren und entsprechend den Ausweg aus der ökologischen Krise zu einem Gutteil mittels technischer Lösungen, wie mehr energetischer Effizienz, Energiesparen oder einem sanfteren bzw. nichtfossilen Weg der Energieversorgung suchten.246 Für die Preußenelektra war die Analyse der Protestmotive gegen die Kernenergie damit aber noch nicht abgeschlossen. Vielmehr zeigte sich das Unternehmen verwundert darüber, dass „es bis heute keine umfassende wissenschaftlich fundierte Analyse der Motive dieses Protests und zwar weder der tatsächlichen, noch der vorgeschobenen Motive“247 gebe. Dies beruhe, so das Unternehmen weiter, offensichtlich in der Stromwirtschaft wie in der Politik auf der Auffassung, die Proteste gegen die Kernenergie würden mehr oder weniger von allein ihre politische Relevanz verlieren und verschwinden. Allein die Existenz sowie die Diskussion um Strategiepapiere durch die Stromversorger zeigen jedoch, dass diese der Auffassung waren, dass man dieses Problem in einem ersten Schritt intensiv analysieren und in einem zweiten aktiv, etwa durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, angehen müsse. Die Energieunternehmen unterschätzten dabei keineswegs die Dynamik und den Einfluss der Protestbewegung, denn diese war ihnen durch den öffentlichen Meinungsumschwung, Probleme bei Genehmigungsverfahren und zahlreiche Klagen gegen Kernkraftwerke vor Augen geführt worden. Dennoch glaubte die Bran243 244 245 246 247
Siehe ebd. Siehe u. a. Transkript des Interviews mit Hermann Krämer am 8. Mai 2008. Radkau, Joachim, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, S. 307. Ebd. Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 10 f., E.ON-Archiv München, EEA 2819.
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che daran, dass die Auseinandersetzung um die Kernenergie aufseiten der Protestierenden vielfach eine Projektionsfläche für andere übergeordnete Probleme sei und es sich hierbei nur um eine sachliche Vermengung handele. Nach dieser Lesart war die Zuspitzung der Kernenergiekontroverse gewissermaßen eine Art Missverständnis, was jedoch keineswegs zutraf. Sicher ist diese Analyse auch nicht gänzlich falsch, dennoch verdeutlicht die Vielzahl der wechselnden Protestszene-Themen, bei denen es um Sicherheit, Proliferation, Entsorgung, Sozialverträglichkeit und nicht zuletzt um die Entscheidung zwischen einem „sanften“ und einem „harten“ Weg in der künftigen Energieversorgung ging, dass diese Fragen einen ernsten Hintergrund besaßen.248 Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Protestbewegung bestimmte Themen bewusst oder unbewusst gegenüber der Öffentlichkeit instrumentalisierte. Dennoch spiegelten die Proteste reale Ängste der Bevölkerung wider, die der Kernenergie skeptisch gegenüberstand. Dies hatten auch die Stromkonzerne, vor allem nach den Ereignissen von Tschernobyl, verstanden. In selbstkritischer Manier identifizierte die Preußenelektra nun die Versäumnisse der Stromwirtschaft in der Auseinandersetzung um die Kernenergie. „Die Elektrizitätswirtschaft hat – dies muss aus heutiger Sicht, wenn auch mit Vorbehalten, gesagt werden – in dieser gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung teilweise ohne Erfolg agiert. Sie hat das hinter allen Sachfragen stehende politische Moment erkannt, sich aber, von Ausnahmen abgesehen, unpolitisch verhalten. Damit ist sie immer mehr in die Defensive geraten, je klarer der politische Aspekt des Kernenergiestreits vor allen Sachfragen in den Vordergrund getreten ist.“249 Aus Sicht der EVU ist diese Fehleranalyse folgerichtig. Denn tatsächlich bestand ein großes Versäumnis der Unternehmen darin, die Proteste als insgesamt politisch abzutun und sie daher lange zu ignorieren. In ähnlicher Weise fassten die Stromversorger ihr übriges Handeln auf. Dies ist umso missverständlicher, als Energieversorgung seit ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem ein politisches Geschäft gewesen ist. Der Kontakt zur Politik war durch die intensive Regulierung der Branche, die vertragliche Verquickung mit Gemeinden über Konzessionsverträge und Genehmigungsverfahren sowie die vielfältigen anderen Berührungspunkte eher der Regelfall als die Ausnahme. Sicherlich bestand ein wesentliches Versäumnis der EVU darin, den Faktor Öffentlichkeit für ihr Geschäft lange Zeit unterschätzt zu haben, was nicht zuletzt der Weltsicht von Technikern und Ingenieuren geschuldet sein dürfte, die in den Vorstandsetagen der Unternehmen bis weit in die 1980er-Jahre hinein den Ton angaben.250 Zu Beginn der 1970er-Jahre, als die Öffentlichkeitsarbeit noch weniger professionell war, galt es in der Stromwirtschaft, wie gesagt, sogar als Verschwendung, einen Ingenieur – der in den Augen der Stromversorger eigentlich eine an248 Vgl. ebd. 249 Ebd., S. 6. 250 Dieses Argument wurde schon von anderen Autoren beschrieben: Kogon, Eugen, Die Stunde der Ingenieure. Technologische Intelligenz und Politik, Düsseldorf 1976; ders., Der Ingenieur und die Politik, in: VDI-Nachrichten vom 24. Juni 1970, S. 10; Engels, Jens Ivo / Hertzog, Philipp, Die Macht der Ingenieure. Zum Wandel ihres politischen Selbstverständnisses in den 1970er-Jahren; in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 43 (2011), S. 19–38.
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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spruchsvolle technische bzw. energiewirtschaftliche Arbeit verrichtete – für die Öffentlichkeitsarbeit abzustellen. Um die Vorteile der Kernenergie herauszustellen, galt es in den Führungsetagen der Unternehmen lange Zeit als ausreichend, gegenüber der Öffentlichkeit die technisch-sachlichen Argumente der Kernenergie zu betonen. Auf diese Weise, so die Überzeugung der meisten Branchenvertreter, würden sich die Vorteile der Kernenergie von selbst erschließen und die Technologie an Akzeptanz gewinnen. Erst langsam setzte sich bei den Unternehmen die Erkenntnis durch, dass auch das Feld der Öffentlichkeitsarbeit professionalisiert werden musste.251 Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil die Bedeutung dieses Bereiches für die Außendarstellung und Legitimation der Energieversorger immer wichtiger wurde. Auch ein Teil des Unternehmenserfolgs hing immer mehr von diesem Faktor ab. Wie Genehmigungsverfahren und Gerichtsentscheidungen gefällt und Strompreise bei den Behörden verhandelt wurden, all dies war mit dem Image der Branche in der Öffentlichkeit und Politik direkt oder indirekt verknüpft. Die Preußenelektra diagnostizierte in dem genannten Hintergrundpapier 1987 als eine Ursache für gesellschaftliche Veränderungsprozesse einen „Wertewandel“, der sich jedoch nicht auf den Umweltschutz allein beschränke. Vielmehr stecke dahinter ein vielschichtiger Transformationsprozess, den das Unternehmen folgendermaßen beschrieb: „Die kritische junge Generation entwickelte aus ihrer Position einer gesicherten Existenz und ohne die Gemeinschaftsaufgabe des Wiederaufbaus neue Wertvorstellungen für Lebensqualität und technologischen Fortschritt. Es wird daher bis heute auf unserer Seite der Fehler gemacht, diese Veränderung geistiger Lebensziele einer neuen Generation als pure Ablehnung von Industrie und Technik, als linksintellektuellen bloßen Protest ohne Inhalt oder als Pessimismus an sich hinzustellen.“252 Der Kern dieser Entwicklung, so die Analyse der Preußenelektra, sei also nicht ausschließlich im Umweltgedanken zu suchen, sondern vielmehr im Wertewandel der Bevölkerung zum technischen Fortschritt insgesamt. Die Deutschen seien nach Auffassung der Preußenelektra seit Beginn der 1970er-Jahre „von Bewunderern der Technik zu Bürgern geworden, die abwägen, die Vor- und Nachteile sehen“.253 Daher erachtete es die Stromwirtschaft als wichtig, die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge zu erkennen, unter denen die Protestbewegung zustande gekommen war. Die politische Analyse des Unternehmens zieht dabei eindeutige Schlüsse: „Die linken Ideologen haben das politische Potential dieser Bewegung schnell erkannt und für sich genutzt. Man sieht es an den Grünen. Viele ihrer Führer haben eine Vergangenheit im Linksextremismus. Ihre Anhänger (Wähler) dagegen, in Hamburg fast 100.000, können sich unmöglich alle aus dieser Richtung rekrutieren. 251 Fuchs, Reimar, Bessere Öffentlichkeitsarbeit durch Erfolgskontrolle, in: EWT 33 (1983) 1/2, S. 23–29. 252 Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 6 f., E.ON-Archiv München, EEA 2819. 253 Ebd., S. 7. Siehe zu dieser Problematik auch: Blackbourn, David, The Conquest of Nature: Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, London 2006.
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Viele von uns kennen es aus eigenem Erleben: Die Jugend votiert ‚grün‘, weil sie glaubt, die Grünen wollten die Erneuerung von Staat und Gesellschaft, und diese Erneuerung halten viele für ‚fällig‘. Tatsächlich stimmt es eben auch: Industrie und das bürgerliche Lager taten und tun sich schwer, eine Philosophie zu entwickeln, die den Weg der Bundesrepublik für die nächsten Jahrzehnte glaubwürdig und schlüssig darlegt. Man kann es schon am Buchangebot sehen: Eine ‚Gesellschaftsphilosophie des Industriestaates Bundesrepublik‘ gibt es nicht, linke Anti-Kernenergie-Literatur dagegen gibt es im Überfluß. Hierin sind letztlich die Ursachen zu sehen, dass sich in der Bundesrepublik – in nur 10 Jahren – ein starker Wandel in der Bewertung von Industrie, Technik und stellvertretend dafür der Kerntechnik, ergeben hat.“254 Nach Ansicht der Preußenelektra habe die etablierte Politik, wie auch sie selbst, lange Zeit diese Protestszene nicht verstanden oder diffamiert.255 Bei der Auslotung künftiger Möglichkeiten, durch eine gezielte Strategie wieder mehr Zustimmung in puncto Energiepolitik und Kernenergie zu erreichen, zeigte sich die Preußenelektra Ende der 1980er-Jahre eher pessimistisch. Eine Meinungsveränderung zur Kernenergie könne auch nach der anstehenden Bundestagswahl nur erreicht werden, so die Auffassung des Unternehmens, wenn auf einen weiteren Ausbau der Kernenergie verzichtet werde.256 Ein derartiges Entgegenkommen hielten weite Teile der Branche jedoch nicht für ratsam. Für viele in der Stromwirtschaft war das „Rad der Geschichte“ nicht mehr zurückzudrehen. Denn im Gegensatz zur Situation gegen Ende der 1970er-Jahre hatten sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der SPD zu Ungunsten der Kernenergienutzung entwickelt, und die Befürworterinnen und Befürworter eines gänzlichen Ausstiegs waren seit dieser Zeit auf dem Vormarsch.257 Die Überlegungen der Stromwirtschaft zu Kompromisslösungen waren jedoch durch negative Erfahrungen geprägt. Diese hatten fast durchweg keinen Bestand gehabt oder stellten sich am Ende für die Unternehmen der Stromwirtschaft als nachteilig heraus: So hätten unter anderem die Entsorgungsbeschlüsse des Jahres 1979 und der Formelkompromiss der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik keinen wirklichen Bestand gehabt, so zumindest die Analyse der Preußenelektra.258 Dass die Beschlüsse der Enquete-Kommission Zukünftige Kern254 Ebd., S. 7. 255 Ebd., S. 8. 256 Hier ergeben sich gewisse Anknüpfungspunkte zur Situation in den Jahren 2000/2002, als erstmals zwischen Bundesregierung und Stromwirtschaft über einen Ausstieg aus der Kernenergie verhandelt wurde. Die Analogien beziehen sich dabei insbesondere auf die Strategie der Stromwirtschaft. 257 Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 8 f., E.ON-Archiv München, EEA 2819. 258 Am 16. Mai 1979 hatte der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ und den Aufbau einer Wiederaufarbeitungsanlage in Niedersachsen abgelehnt. Wenngleich erst im Mai 1989 endgültig klar war, dass eine Wiederaufarbeitung scheitern würde, war es schon vorher zu erheblichen Schwierigkeiten mit der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf gekommen. Für die Details, wie es zu diesen Entscheidungen kam, siehe Tiggemann, Anselm, Die „Achillesferse“ der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsor-
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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energie-Politik jedoch, langfristig betrachtet, durchaus ihre Wirkung auf die energiepolitische Diskussion entfaltet haben, vernachlässigt diese Argumentation. In der Forschung wird gar argumentiert, dass die Kommission ihrer Zeit voraus gewesen und damit zu früh gekommen sei.259 Freilich war die Debatte um die künftige Entwicklung der Energieversorgung für die EVU in den 1970er-Jahren keinesfalls uneingeschränkt positiv, da diese einen alternativen Entwicklungsweg jenseits der fossilen und nuklearen Realität aufzeigte und damit erheblich von den Vorstellungen der Stromwirtschaft abwich. Bezüglich der Entsorgungsfrage war es tatsächlich so, dass die getroffenen Beschlüsse praktisch keinerlei Bestandskraft hatten. Ein Charakteristikum der Energiediskussion in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren war ihre Ausrichtung an grundsätzlichen und fundamentalen Fragen. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die Diskussion um die Kernenergie, die durch ihre Zuspitzung und Polarisierung zum Teil Züge eines Glaubenskampfes annahm. Nicht zuletzt deshalb wurden die Auswirkungen von Kompromisslösungen in der Stromwirtschaft als zum Teil fatal eingeschätzt. Dies galt vor allem für den Ausbau der Kernenergie und damit verbundene Zugeständnisse. In der Öffentlichkeit – so die Befürchtung der Preußenelektra – hätte durch Kompromisse der Eindruck entstehen können, dass die bisherige Nutzung der Kernenergie falsch und die Stromwirtschaft selbst auf der Suche nach Alternativen sei.260 Schon 1987 befürchtete das Unternehmen, dass in Gestalt des SNR 300 (Schneller Natriumgekühlter Reaktor) – besser bekannt als der „Schnelle Brüter“ von Kalkar – durch Kompromisse ein „Anti-Kernenergie-Denkmal“ entstehen könne. Tatsächlich ereilte den nach langjähriger Bauzeit 1985 fertiggestellten, aber durch wiederkehrende Genehmigungsprobleme nie ans Netz gegangenen Reaktor am 20. März 1991 das endgültige Aus.261 Eine Kompromisslösung bei der Kernenergiefrage wäre nach Auffassung der Stromwirtschaft auf beiden Seiten mit einem Verlust an Glaubwürdigkeit verbunden gewesen: „Die Lösung der Akzeptanzfrage [der Kernenergie] könnte durch einen auf Kompromissen aufgebauten Konsens nicht herbeigeführt werden, weil die Befürchtungen, die die Bevölkerung wirklich bewegen, nicht ausdiskutiert werden.“262 Trotz aller Zweifel schätzte die Preußenelektra wie die Stromwirtschaft insgesamt die Möglichkeiten zukünftiger Kernenergienutzung nicht allzu schlecht ein, unabhängig von der Frage, ob man sich mit den Kernenergiegegnern einigen könne oder nicht. Vielmehr würden es viele in der Branche für wahrschein-
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gung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004, S. 662 ff.; 713 ff. Siehe auch Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 10 f., E.ON-Archiv München, EEA 2819, S. 18. Altenburg, Cornelia, Kernenergie und Politikberatung. Die Vermessung einer Kontroverse, Wiesbaden 2010, S. 290. Ebd. Keck, Otto, Der Schnelle Brüter. Eine Fallstudie über Entscheidungsprozesse in der Großtechnik, Frankfurt/M. 1984, S. 188 ff., 289 ff. Ein Hintergrundpapier, Energiepolitik und Öffentlichkeit. Versuch einer Analyse des öffentlichen Meinungsbildes zu Fragen der Stromerzeugung und der Kernenergie, 29. Januar 1987, S. 19, E.ON-Archiv München, EEA 2819.
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lich halten, die Kernenergienutzung fortzuführen. Auch in weiten Teilen der Bevölkerung herrsche eine erhebliche Skepsis gegenüber einem Ausstieg, der möglicherweise die industrielle Zukunft der Bundesrepublik berühre.263 Gerade die letztgenannte Besorgnis sollte den Ankerpunkt für die Strategie der Stromwirtschaft in der öffentlichen Argumentation bilden, nämlich die langfristige Perspektive der Kernenergienutzung „in den Gesamtzusammenhang einer Energieund Gesellschaftspolitik zu stellen […] und den Rang dieser Energiepolitik für die Stellung und Zukunft des Landes darzulegen“.264 Namentlich solle diese Strategie mit dem Titel Die Gesellschaftsphilosophie des sozialen und umweltbewussten Industriestaates265 überschrieben werden. Diese Strategie solle im Wesentlichen eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zum Ausdruck bringen, wobei besonderer Wert auf die Rolle der Energiefrage sowie die „Rolle des Stroms für die Qualität der Industrieproduktion, für den Lebenskomfort etc.“266 gelegt werden sollte. Die Energieunternehmen seien in der Vergangenheit bei der medialen Vermittlung ihrer Ziele zu wenig auf die „emotionale Seite der Kernenergie-Ablehnung“267 eingegangen. Da die Stromwirtschaft seit Beginn der Kontroverse der Gesellschaft praktisch nichts entgegengesetzt habe, sei „die Öffentlichkeitsarbeit der Elektrizitätswirtschaft teilweise gescheitert“.268 Weil die Branche gewissermaßen den emotionalen Bereich des Widerstands gegen Atomkraft unterschätzt oder negiert habe, suche sie nun nach einer neuen Strategie, die sowohl einer neuen inhaltlichen Ausrichtung wie deren medialer Vermittlung bedürfe. Dabei sollten die Möglichkeiten im wissenschaftlichen Bereich (Sozialpsychologie und Demoskopie) ebenso ausgeschöpft werden wie die Erfahrungen der Medienkonzerne. Der letzte Schritt sollte darin bestehen, gesellschaftliche Gruppen zu identifizieren, um die Botschaften gewissermaßen zielgruppengerecht zu präsentieren: „Es darf nicht passieren, dass wir mit der gleichen Botschaft die konservativ-bürgerliche Führungsschicht und die Leserschaft von ‚Bild‘ erreichen wollen.“ „Schnelle Reaktion mit offensiver Argumentation“ sollte in Zukunft der Tenor sein, mit dem man der Öffentlichkeit entgegentreten wollte. „Politiker, die uns grundlos angreifen, direkt zu widersprechen, sie sichtbar zu korrigieren und Polemik (‚Höllenfeuer‘!) zurechtzurücken, erfordert Umdenken und Mut.“269 Die veränderte Öffentlichkeitsarbeit der Unternehmen versuchte auch die Ausgangslage in den politischen Parteien zu analysieren. Dabei spielte deren generelle energiepolitische Ausrichtung ebenso eine Rolle wie die Position zur Kernenergie. Neue Wege der Öffentlichkeitsarbeit bedeuteten eben auch, verstärkt Berührungspunkte mit den Parteien auszuloten und diese für sich zu nutzen. Allen voran die CDU habe – so die Einschätzung der Preußenelektra – bei der vergangenen Bundestagswahl (1987) ein Warnsignal durch die Wähler erhalten. „Mit einiger Wahr263 264 265 266 267 268 269
Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 24.
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scheinlichkeit [werde das die Partei] in größerer Vorsicht auf besonders kontroversen Feldern umsetzen“,270 worunter auch die Energiepolitik falle. Der Energieversorger zog daraus für die gesamte Regierungskoalition den Schluss, dass die CDU immer bei den Themen unterstützten werden sollte, wo sich Berührungspunkte mit den eigenen Zielen und Vorstellungen ergaben. Der Sozialdemokratie prognostizierte die Stromwirtschaft eine interne Auseinandersetzung über die Kernenergie, die an Heftigkeit gewinnen und sich zu Richtungskämpfen in der Partei auswachsen würde. Darüber hinaus spreche vieles dafür, „dass die kompromisslosen Befürworter eines Sofortausstiegs im Vormarsch sind“.271 Nach Auffassung der Preußenelektra dürfe nicht aus den Augen verloren werden, worum es bei diesem Richtungsstreit in Wirklichkeit gehe: „Kernenergie besitzt Symbolcharakter, ihre Beendigung ist das Zeichen der neuen Gesellschaft, für die die ideologische Linke innerhalb der SPD kämpft.“272 Ferner komme ein weiterer Punkt hinzu: „De facto geht es [in der SPD] um die Frage, ob zukünftig mit den Grünen zusammengearbeitet werden soll oder nicht.“273 Nach dieser Analyse des innenpolitischen Kräftespiels kam die Preußenelektra zu dem Ergebnis, „dass einer bürgerlichen Mehrheit, die in Zukunft eher zur Vorsicht tendieren wird, als Minderheit eine Linke gegenübersteht, in der ökosozialistische, ideologische und dogmatische Strömungen mit eher pragmatischen und konservativen um die zukünftige Richtung des linken Lagers kämpfen. Dieser politischen Landschaft steht eine Öffentlichkeit gegenüber, deren hohe Sensibilisierung für Umweltfragen aller Art auch in Zukunft ein politischer Faktor ersten Ranges bleibt.“274 Vor dem Hintergrund besitze die „Energiefrage einen höchstens mittelmäßigen Stellenwert, einen viel geringeren jedenfalls, als er allen Umweltfragen eingeräumt wird“.275 Diese Betrachtung des Energiekonzerns stellte Energie und Umwelt als unterschiedliche Problemfelder dar. Neben einer gezielten Interessenvertretung in der Politik sollten auch die Mitarbeitenden der Stromwirtschaft selbst für ein positives Image der Unternehmen in der Öffentlichkeit sorgen. Die bereits beschriebenen Ansätze des VDEW-Vorsitzenden Heinrich Freiberger zur Vertrauenswerbung aus dem Jahr 1961 erlebten daher in der Stromwirtschaft zu Beginn der 1980er-Jahre unter veränderten Vorzeichen eine Neuauflage: So führten beispielsweise die RWE für ihre eigene Belegschaft Veranstaltungen durch, die auf ganz ähnliche Methoden setzten, wie sie Freiberger bereits 20 Jahre zuvor propagiert hatte. Mit einem Vortrag des Soziologen Ortwin Renn, der damals für das Kernforschungszentrum Jülich tätig war, sollte vor allem den Führungskräften 1981 in der Hauptverwaltung des Unternehmens verdeutlicht werden, welch wichtige Rolle sie über ihre fachliche Aufgabe hinaus für ihr Unternehmen spielten. Der RWE-Führung schwebte vor, dass diese in ihrer Freizeit so270 Neue Wege in die Öffentlichkeit. Ausgangslage, Ziele, Programmvorschläge, 28. Januar 1987, S. 1, E.ON-Archiv München, EEA 2819. 271 Ebd. 272 Ebd. 273 Ebd. 274 Ebd., S. 3. 275 Ebd.
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wie bei ehrenamtlichen Tätigkeiten die Rolle des Multiplikators für den Konzern und seine Interessen übernehmen und auf diese Weise ein positives Bild des Stromversorgers vermitteln sollten. Mit dem „energiepolitischen Gespräch“, wie die RWE diese Veranstaltung nannten, sollte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diese Aufgabe nähergebracht und versucht werden, sie auf die „zunehmenden Berührungspunkte zwischen Vertretern der Politik und unserem Unternehmen“276 hinzuweisen. Dabei war es das Ziel des Energieversorgers, größeren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu gewinnen. Im Eingangsstatement des RWE-Vorstands Günther Klätte wurde angemahnt, dass durch eine fehlende Repräsentanz der Wirtschaft – und insbesondere der Stromwirtschaft in den letzten Jahren – die Belange der Branche zu wenig zur Geltung gekommen seien. Für die RWE, seit 1906 zu großen Teilen in kommunaler Hand, könne es zur Wahrnehmung der eigenen Interessen durchaus von Vorteil sein, wenn sich die eigene Belegschaft in Kommunal- und Landesparlamenten politisch engagierte. Die Veranstaltung diente auch dazu, den bisher schon politisch Engagierten für ihre Tätigkeit zu danken und sicherzustellen, dass ihnen durch ihre Tätigkeit keine beruflichen Nachteile entstünden. Im Hauptvortrag referierte Renn über die „Wahrnehmung und Akzeptanz technischer Risiken“. Er bezog sich vor allem auf die Akzeptanzkrise der Kernenergie und sollte, neben den Schulungen im Schulungszentrum der RWE, den „Mitarbeitern und Führungskräften Verständnis und Fingerspitzengefühl für mögliche politische Auswirkungen ihres Handelns sowohl für übergeordnete unternehmerische Entscheidungen als auch für zahlreiche betriebliche Maßnahmen mit regionalen Auswirkungen“ vermitteln.277 Dabei wollten die RWE vor allem Führungskräften verdeutlichen, dass es künftig nicht mehr genüge, „nur ein guter Fachmann im Beruf zu sein, sondern es muß gesellschaftspolitische Bildung und politisches Verständnis hinzukommen“.278 Auch die RWE hatten erkannt, dass es nichts nütze, politische Entscheidungen ausschließlich zu kritisieren – eine Erkenntnis, die die Stromwirtschaft lange Zeit nicht beherzigt hatte. Vielmehr müssten die Gegensätze zwischen Politik und Wirtschaft überwunden werden und es müsse zu einem Dialog kommen. Dazu gehöre auch, dass Sachverstand aus der Wirtschaft – eben durch das Einbringen der EVUAngestellten – in den politischen Entscheidungsprozess einfließe. Freilich wollte das Unternehmen verhindern, dass die politische Tätigkeit der RWE-Angestellten sich gegen die Interessen des Unternehmens richtete.279 Diese Gefahr schien nicht aus der Luft gegriffen, hatte das Unternehmen doch mit dem Buch von Werner Müller und Bernd Stoy Entkopplung. Wirtschaftswachstum ohne mehr Energie? durchaus ambivalente Erfahrungen mit dem Engagement von Führungskräften gemacht.280 Angesichts der Politisierung der Energiefrage seit den 1970er-Jahren 276 Energiepolitisches Gespräch in der RWE-Hauptverwaltung 1982, „Die Bedeutung des politischen Engagements der Mitarbeiter aus der Wirtschaft für unsere Gesellschaft“, S. 1, E.ONArchiv München, EEA 1618. 277 Ebd., S. 7. 278 Ebd. 279 Ebd., S. 8 ff. 280 Siehe dazu Kapitel 1.2.
3.3 Neue Konzepte und neues Selbstverständnis?
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wollte die Stromwirtschaft also die eigenen Mitarbeiter für diese Fragen sensibilisieren und darüber hinaus als Multiplikatoren für Unternehmensinteressen einsetzen. Nach Ansicht der Stromwirtschaft hatte zu ihrem unglücklichen Bild in der Politik entscheidend beigetragen, dass die Branche nicht eine einheitliche Position vertrat. Anhand der Beispiele Umweltschutzgesetzgebung (GfAVO) und Vierter Kartellgesetznovelle merkten die RWE deshalb an, dass die gemeinsame Interessenvertretung der Stromwirtschaft nicht optimal gelaufen sei.281 Neben den unterschiedlichen Rahmenbedingungen bei der Energiegewinnung innerhalb der Branche hatte dabei sicher auch eine Rolle gespielt, dass im politischen Bereich die Glaubwürdigkeit des Wirtschaftszweiges an sich infrage gestellt worden war. „Hier ist möglicherweise auch bedeutsam, dass es die EVU trotz ihrer wirtschaftlichen Potenz nicht verstanden haben, wenigstens einige Vertreter in den Landesparlamenten oder im Bundestag zu platzieren.“282 Aus dieser Analyse zogen die RWE den Schluss, dass in der Politik sowie auch in der Öffentlichkeit künftig dem Eindruck der „zersplitterten“ Stromwirtschaft entgegengewirkt werden müsse. Daher schlug das Unternehmen gerade für das Krisenmanagement vor, diese Aufgabe nicht allein den Verbänden zu überlassen, sondern in einer kleinen Gruppe mit weitreichendem Wirkungskreis eine möglichst effektive Strategie vorzubereiten. Diese Gruppe sollte aus den Verbundunternehmen Preußenelektra, RWE und Bayernwerk bestehen, da damit durch ihre Tochterunternehmen und Beteiligungen eine große Anzahl von regionalen Unternehmen erfasst wäre. Durch regelmäßige Vorstandstreffen dieser drei Unternehmen, der Bildung von Expertengruppen zu bestimmten Themen und der Erstellung einer Liste von Ansprechpartnern in den großen Parteien sollten bestimmte Probleme vom Energierecht über Wettbewerbsfragen bis hin zur Umweltproblematik auch ad hoc gezielt angegangen werden.283 Einige Köpfe in der Stromwirtschaft hatten bis weit in die 1970er-Jahre hinein ein vorwiegend reduktionistisches Bild von Politik und Öffentlichkeit. Wenngleich sich durchaus Vorstände fanden, die ein differenziertes Bild hatten, dominierte doch die Sichtweise, dass die Politik die Stromwirtschaft nicht bei der Ausübung ihres Geschäfts stören, sondern lieber vernünftige Rahmenbedingungen schaffen solle. Diese Ansicht wies nicht nur innere Widersprüche auf, sondern blendete viele Aspekte aus. Erst allmählich brach sich bei einzelnen Unternehmen wie in der Branche insgesamt die Erkenntnis Bahn, dass Meinungen und Emotionen in Politik und Öffentlichkeit nicht ausschließlich mit rationalen Kriterien zu erfassen oder gar zu beeinflussen seien. Dies erstaunt umso mehr, als dass die Stromwirtschaft schon in ihren frühen PR-Konzepten der 1950er- und 1960er-Jahre mit Kategorien, wie Vertrauen, operiert hatte. Letztlich haben aber erst die Proteste gegen die Kernenergie und die daraus erwachsenen geschäftlichen Schwierigkeiten dazu geführt, dass die Stromwirtschaft zu neuen Erkenntnissen in Bezug auf die Beeinflussung von Politik und Öffentlichkeit gelangte. Hinter der Neufassung der Öffentlichkeitsarbeit 281 Siehe Kapitel 3.1 sowie Kapitel 2.2. 282 RWE-Papier, Krisenmanagement und Frühwarnsystem vom 24. Juli 1986, HK E.ON Hannover, Preußenelektra, Vorstand, S. 3. 283 Ebd., S. 4.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
steckte jedoch kein gänzlich neues Bild von Politik und Öffentlichkeit, sondern vielmehr die Idee, diese mittels neuer Ansätze und anderer Methoden gezielter beeinflussen zu können. Auch die Massenproteste gegen die Kernenergie spielten in den Überlegungen der Stromwirtschaft für die Konzeptualisierung ihrer Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle. Sieht man von den heftigen Demonstrationen in Kalkar und Grohnde einmal ab, schien der Norden der Bundesrepublik ohnehin das Zentrum des Protests gegen die Kernenergie gewesen zu sein. Gerade die bürgerkriegsartigen Ereignisse in Brokdorf im Jahr 1977 trugen zu einer weiteren Zuspitzung und Polarisierung des Atomkonflikts bei.284 Besonders auf die Großstädte Hamburg und Bremen sowie das jeweilige Umland konzentrierten sich die Protestbewegungen, wie nicht zuletzt die Aktivitäten der evangelischen Kirche in beiden Städten sowie die Rolle bei den Großdemonstrationen in Brokdorf belegen.285 Aus Anlass der Proteste in Brokdorf hielt die VDEW eine Sondersitzung in Frankfurt am Main ab. Für die Stromwirtschaft markierte Brokdorf offensichtlich eine neue Stufe in der Auseinandersetzung um die friedliche Nutzung der Kernenergie, denn eine Sondersitzung veranstaltete der Verband meist nur nach markanten Ereignissen. Anlass zur Sorge böten aus Sicht der Branche vor allem „die Verlautbarungen aus verschiedenen Bundesministerien und öffentliche Erklärungen aus dem politischen Raum, die sich im Anschluß an die Vorkommnisse um das Kernkraftwerk Brokdorf […], in letzter Zeit mit dem weiteren Ausbau von Kernkraftwerken befaßt haben“.286 Die Stromwirtschaft befürchtete ganz offensichtlich einen negativen Trend in der politischen und öffentlichen Meinungsbildung, der den Ausbau der Kernenergie in Zukunft hemmen könnte. Die VDEW zog daraus den Schluss, dass man die eigene Position weiterhin deutlich machen und die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema „Kernenergieausbau“ dringend fortsetzen müsse. Diese Aufklärungsarbeit solle auf eine breitere Basis gestellt werden, so die Überzeugung des Verbandes, um damit alle Befürworter der Kernenergie – einschließlich der Gewerkschaften – durch sachkundige Informationen einzuspannen. Diese sollte jedoch so bewerkstelligt werden, dass das Verhältnis zur Steinkohlen-Branche nicht zusätzlich belastet würde.287 Hieran zeigt sich die doppelte Strategie der VDEW-Öffentlichkeitsarbeit sehr anschaulich: Einerseits sollten alle zentralen Gruppen für die Öffentlichkeitsarbeit 284 Siehe u. a., Rucht, Dieter, Anti-Atomkraftbewegung, in: Roth, Roland / ders. (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt/M. 2008, S. 245–266, hier S. 252; Mayer-Tasch, Peter Cornelius, Die Bürgerinitiativbewegung. Der aktive Bürger als rechts- und politikwissenschaftliches Problem, Hamburg 1981, S. 28; Reaktorsicherheit: Rückzieher vom Rasmussen-Report, in: Die Zeit, 9. Februar 1979. 285 Kroll, Thomas, Protestantismus und Kernenergie. Die Debatte in der Evangelischen Kirche der Bundesrepublik in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren, in: Ehrhardt, Hendrik / ders. (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 93– 115, hier S. 99. 286 Niederschrift über die Sondersitzung des Vorstandsrates der VDEW am 26. Januar 1977, S. 1–5, hier S. 3. Siehe auch HK RWE, VDEW-Vorstandsrat ab Januar 1976 bis 28.02.1977, 2929. 287 Ebd., S. 4.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
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der Stromwirtschaft mobilisiert werden, andererseits durfte dies nicht zulasten bereits vorhandener strategischer Partnerschaften, wie die mit dem Steinkohlebergbau, geschehen. Die Position wichtiger gesellschaftlicher Gruppen, wie der Kirche oder der Gewerkschaften, zur Kernenergie gestaltete sich indessen höchst ambivalent, zustimmende wie ablehnende Stimmen der Technologie waren überall zu finden.288 Insgesamt wurden von der Stromwirtschaft seit den 1970er-Jahren wichtige gesellschaftliche Gruppen mit hoher Deutungsmacht ebenso wie politische Entscheidungsträger als wichtige Größen in der Diskussion um die Kernenergie identifiziert. Die Öffentlichkeitsarbeit der Branche zielte daher unter Beachtung dieser Erkenntnisse wesentlich auf die Beeinflussung dieser Gruppen ab. Eine, wenn nicht die wichtigste strategische Partnerschaft war die Stromwirtschaft unter dem Slogan „Kohle und Kernenergie“ mit dem Steinkohlebergbau eingegangen. 3.4 DER KONSENS ZWISCHEN KOHLE UND KERNENERGIE ALS ERFOLGREICHER COUP DER STROMWIRTSCHAFT? „Kohle und Kernenergie sichern die Stromversorgung“289 – so oder ähnlich ließe sich die Auffassung der Stromwirtschaft zu den wichtigsten Quellen der Energieerzeugung zusammenfassen. Nicht nur in zahlreichen Werbeanzeigen trat diese Ansicht der Energieversorger zutage. Vielmehr noch zeichnete sich diese Partnerschaft von Anfang an durch ihre strategische Ausrichtung aus, wobei der Beginn dieser strategischen Allianz nicht zweifelsfrei auszumachen ist, war diese doch wenig institutionalisiert. Die ursprüngliche Idee zur Verbindung beider Energieträger stammt bereits aus den frühen 1960er-Jahren. Dabei sollte zunächst der Absatz der Steinkohle gestärkt werden und ihr durch die Verbindung zur Elektrizität zu einem besseren Image verholfen werden. Unter dem Titel Kohle über Draht sollte deutlich werden, welch zentrale Position Kohle bei der Sicherheit der Energieversorgung einnehme und dass diese „in Form der Edelenergie Elektrizität jedermann jederzeit und überall zur Verfügung und zu Diensten“290 stehe. Eine dazugehörige Broschüre 288 Zu den Kirchen siehe Kroll, Thomas, Protestantismus und Kernenergie. Die Debatte in der Evangelischen Kirche der Bundesrepublik in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren, in: Ehrhardt, Hendrik / ders. (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 93–115; Schüring, Michael, Jahre der Angst: Die Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und der Konflikt um die Atomenergie, in: Mitteilungen zur kirchlichen Zeitgeschichte 6 (2012), S. 185–195; Ruez, Waldemar, Die katholische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und die Auseinandersetzungen um die nicht-militärische Nutzung der Kernenergie, in: Hauff, Volker (Hg.), Bürgerinitiativen in der Gesellschaft. Politische Dimensionen und Reaktionen, Villingen 1980, S. 294–316; Zur Position der Gewerkschaften siehe Hallerbach, Jörg (Hg.), Die eigentliche Kernspaltung. Gewerkschaften und Bürgerinitiativen im Streit um die Atomkraft, Darmstadt 1978; Mohr, Markus, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001. 289 Werbung der Preußenelektra, in: EWT 32 (1982) 8, S. 639; vgl. auch Abbildung 3 im Anhang, Autoaufkleber aus den 1980er-Jahre dem Titel Sichere Energieversorgung: Kohle und Kernenergie. 290 Unternehmensverband Ruhrbergbau (UVR)/Rheinische Elektrizitätswerke (RWE)/Steinkohlen-Elektrizität AG (STEAG) (Hg.), Kohle über Draht, Essen 1963, S. 5; Schult, H., Die Stein-
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war bereits 1963 vom Unternehmensverband Ruhrbergbau, den RWE und der STEAG herausgegeben worden. Wenngleich die Verbindung zur Kernenergie nur an einer Stelle der Broschüre explizit thematisiert wird, so war damit in der Energiewirtschaft doch erstmals die Idee formuliert worden, verschiedene Energieträger strategisch miteinander zu verknüpfen, um ihre Leistungsspektren besser erklären zu können.291 Die eindeutige Ausformulierung des Konsenses zwischen Kohle und Kernenergie ließ allerdings noch einige Zeit auf sich warten. Als Ausgangspunkt kann aber spätestens der sogenannte Jahrhundertvertrag aus dem Jahr 1977 ausgemacht werden. Dabei ist zu beachten, dass gerade im Entstehungsprozess des Vertragswerkes gegenseitiges Störfeuer zwischen Energieversorgern und Steinkohlebergbau durchaus an der Tagesordnung war.292 Der Verbund zwischen Kohle und Kernenergie bildete schließlich die Grundlage für den in Kapitel 1.4 schon näher untersuchten Jahrhundertvertrag. Im Entstehungsprozess des Vertrags nutzte vor allem die IGBE den Zusammenhang zwischen Kohle und Kernenergie als strategisches Argument, um ihre Ziele für höhere Verstromungsmengen gegenüber der Stromwirtschaft durchzusetzen. Mit diesem Vorgehen war die Stromwirtschaft überhaupt nicht einverstanden und erteilte der Steinkohlevorrangpolitik der IGBE eine klare Absage. In der Vorstellung der Gewerkschaft kam beiden Energieträgern eine gleichwertige Bedeutung zu, sie sollten folglich gleichwertig zur Deckung des Energiebedarfs herangezogen werden. Nicht zuletzt diese Position trug dazu bei, dass es in der Bundesrepublik zu einer relativ breiten Akzeptanz der Kohlesubventionspolitik kam. Kernenergiebefürworter hatten, vor allem in der Etablierungsphase der Atomkraft, deshalb keinen Grund, sich über zu hohe Subventionen der Kohle zu beschweren. Denn ohne staatliche Unterstützung und einen damit künstlich hochgehaltenen Kohlepreis wären die Aussichten für die kommerzielle Nutzung der Technologie, insbesondere zur Stromerzeugung, deutlich schlechter ausgefallen.293 Kohle und Kernenergie schien also ein gemeinsames Band zusammenzuhalten. Dieses erfuhr mit der Entwicklung des sogenannten Hochtemperaturreaktors (HTR) eine zusätzliche Festigung. Dieser Reaktortyp, so wies Ulrich Kirchner bereits zu Beginn der 1990er-Jahre eindrücklich nach, bot eine ganz Reihe von Vorteilen, vor allem gegenüber dem sonst üblichen Leichtwasserreaktor. Der im Forschungszentrum Jülich – und damit mitten im Kohlerevier – von Rudolf Schulten entwickelte Reaktortyp konnte im Gegensatz zu anderen Typen Wärme bis zu 1.000 °C erzeugen. Die so erzeugte Prozesswärme konnte damit nicht nur zur Stromerzeugung genutzt werden, sondern eröffnete auch die Aussicht, damit Kohlevergasung durch-
kohle in der Elektrizitätswirtschaft. Der Anteil der Steinkohle an der Stromerzeugung – „Kohle über Draht“ – Mehr Strom aus Steinkohle, in: EWT 10 (1960/61) 92, S. 355–357. 291 Siehe Kapitel 1.4. 292 Siehe „Vorstoß der Ruhrkohle“ in der Presse (Handelsblattartikel), Vorstandsratssitzung am 11. Oktober 1976, HKR W8/1, S. 2. 293 Radkau, Joachim, Fragen an die Geschichte der Kernenergie – Perspektivwandel im Zuge der Zeit (1975–1986), in: Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie – Politik – Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 101–126, hier S. 111.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
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zuführen.294 Auch die Revierpresse feierte den Verbund von Kohle und Kernenergie auf Basis des HTR mehrere Jahre.295 In Insiderkreisen galt die technische Möglichkeit der Prozesswärme jedoch als reine Zukunftsmusik, die kaum etwas mit der Realität zu tun habe. Vor allem die technischen Probleme, die Kohlevergasung mittels Kernenergie zu ermöglichen, galten dabei als unüberbrückbar.296 Selbst optimistische Protagonisten der Szene, wie RWE-Vorstand und „Atompapst“ Heinrich Mandel, rechneten frühestens Ende der 1990er-Jahre mit der Einführung der Hochtemperaturprozesswärme.297 Doch es lag nicht nur am kaum funktionierenden HTR, dass das technische Fundament des Kohle-Kernenergie-Verbundes im Verlauf der 1980er-Jahre immer brüchiger wurde. Daher wurde seitens der Kernenergiebefürworter wie auch der Kohlelobby versucht, stärker argumentativ gegenzuhalten und die Einigkeit der beiden Energieträger öffentlich zu dokumentieren. Angesichts der frühen AntiAKW-Proteste in den 1970er-Jahren vereinbarten beide Seiten, nicht auf die Umweltschädlichkeit des jeweils anderen hinzuweisen. Dabei spielte der Gedanke eine Rolle, dass seit den Protesten gegen die Kernenergie nicht mehr Öl der „gemeinsame Gegner“ sei, sondern vielmehr die Umweltschutzbewegung.298 Auch die Umweltschutzgesetzgebung konnte dem Konsens zwischen beiden Energieträgern nicht ernsthaft etwas anhaben, selbst wenn von den Ausgangsbedingungen her alles danach aussah. Vereinfacht ausgedrückt, war Kohle der ‚schmutzige‘ schadstoffemittierende Energieträger, während die Kernkraft, von der Endlagerung abgesehen, lange Zeit ihr Image als ‚grüne‘ Energieform pflegen konnte. Kleine Haarrisse hatte die Umweltschutzfrage, und insbesondere die Diskussion um GfAVO und TA-Luft, dennoch bewirkt: So äußerte die Geschäftsführung der VDEW in einem Schreiben an den Vorsitzenden des Innenausschusses des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit der Festlegung von Schwefeldioxidund Stickstoffgrenzwerten folgende Auffassung: „Die deutsche Elektrizitätswirtschaft steht loyal zu ihrer Aussage, Kohle und Kernenergie als Energieträger für die Stromerzeugung einzusetzen. Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß ein angemessener Ausbau der Kernenergie eine ganz entscheidende Entlastung bei den Emissionen luftfremder Stoffe mit sich bringt.“299 294 Kirchner, Ulrich, Der Hochtemperaturreaktor: Konflikte, Interessen, Entscheidungen, Frankfurt/M. 1991. 295 Radkau, Joachim, Fragen an die Geschichte der Kernenergie – Perspektivwandel im Zuge der Zeit (1975–1986), in: Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie – Politik – Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 101–126, hier S. 111. 296 Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 127. 297 Mandel, Heinrich, Die Kernenergie im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Nutzung und öffentlicher Billigung, Opladen 1978, S. 16. 298 Radkau, Joachim, Fragen an die Geschichte der Kernenergie – Perspektivwandel im Zuge der Zeit (1975–1986), in: Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie – Politik – Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 101–126, hier S. 111. 299 Schreiben der VDEW an den Vorsitzenden des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 26. Oktober 1983, in: Innenausschuss Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode 1983, Protokoll über die öffentliche Anhörung zu Fragen des Umweltschutzes am Montag, dem 24. Ok-
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Im Klartext wies der Verband damit den Energieträgern eine eindeutige Position in Sachen Umweltschutz zu: Kernenergie sei demnach wesentlich umweltfreundlicher als Kohle. Diese Position war ohnehin hinlänglich bekannt, nur wurde bisher – um den Konsens nicht zu gefährden – auf derartig eindeutige Äußerungen verzichtet. Um die Meinung des Verbands noch zu untermauern, wurde darauf verwiesen, dass die französische Stromwirtschaft festgestellt habe, dass sich durch den Ausbau der Kernkraft die SO2-Emissionen kurzfristig um 80 % reduzieren ließen.300 Zweifel an der Richtigkeit dieser These scheinen jedoch durchaus angebracht, zumal es sich dabei keinesfalls um ein neues Argument handelte. Vielmehr warben Kernkraftbefürworter bereits seit Beginn der 1970er-Jahre mit der angeblich umweltfreundlichen Atomkraft. Neu war hier vor allem, dass die VDEW ihre Position damit untermauerte, dass Kernenergie zum Umweltschutz beitrage, während Kohlekraftwerke das nicht täten. Trotz dieser Eindeutigkeit war die Stromwirtschaft nicht bereit, den Konsens zwischen Kohle und Kernenergie über die Umweltschutzfrage zu opfern. Der Branche war bewusst, dass der Konsens insgesamt weiterhin große Vorteile bot und die künftige Rolle der Kernenergie nicht zuletzt vom Wohlwollen und dem Einfluss des Steinkohlebergbaus auf die Politik abhing. Auch wenn der immer wieder bekundete Konsens zwischen Kohle und Kernenergie in der Öffentlichkeit stabil zu sein schien, so lässt sich anhand der Quellen doch ein differenziertes Bild zeichnen. Der These von Joachim Radkau, dass es vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren einen verhinderten Konflikt zwischen Kohle- und Kernenergie gegeben habe, kann grundsätzlich zugestimmt werden. Der Konsens zwischen Kohle- und Kernenergie bekommt vor allem dann Risse, wenn die Äußerungen einiger Energieversorger sowie der Briefwechsel zwischen VDEW und dem Gesamtverband des Deutschen Steinkohlebergbaus zugrunde gelegt werden. So lassen sich in den Vorstands- und Aufsichtsratsprotokollen der Preußenelektra seit Beginn der 1970er-Jahre kontinuierlich Beschwerden darüber finden, dass die Verstromung der deutschen Steinkohle schlichtweg zu teuer sei.301 Darüber hinaus erhebt der Energiekonzern die Forderung, verstärkt Kernenergie einzusetzen, da sonst die revierfernen Unternehmen gegenüber anderen (vor allem den RWE) zu stark benachteiligt würden. Flankiert wurde diese Forderung mit dem Bekunden, vermehrt (preiswerte) Importkohle einzusetzen, was unternehmensseitig mit der Erkundung von Gebieten in den USA und Australien offensiv angegangen wurde. Selbst wenn alle Unternehmen der Stromwirtschaft öffentlich die Stromerzeugung mittels Kohle- und Kernenergie propagierten, waren die Preußenelektra wesentlich mehr von der Kernenergie überzeugt als die RWE.302 Die Energiepolitik wurde durch den Konsens bereits seit Mitte der 1960erJahre einigen Bewährungsproben unterzogen: So führten unter anderem die weitgetober und Dienstag, dem 25. Oktober 1983, Bonn, Bundeshaus, Innenausschuss-Protokoll Nr. 8 und Nr. 9, Teil I, S. 418–422, hier S. 422. 300 Ebd. 301 Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Krise, Hamburg 1983, S. 123 f. 302 Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 14. Mai 1982, S. 24, E.ON-Archiv München, EEA 608.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
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henden Forderungen des Ruhrkohlebergbaus im Zusammenhang mit der Kohlekrise in den Jahren 1958/59 zur Mobilisierung revierferner Branchen und Regionen. Eine Vielzahl von Interessengruppen, angeführt von privaten Energiekonsumenten und der Industrie über Stadtwerke bis hin zum Bund der Steuerzahler, machte gegen die Kohleschutzpolitik mobil. Sowohl bezüglich einer Ölsteuer als auch eines Kohlezolls wurde massiv an die Bundesregierung appelliert, diese Abgaben nicht durchzusetzen. Doch auch die Interessenpolitik des Ruhrbergbaus konnte in der Folge das Ansteigen des Ölverbrauchs nicht verhindern, während sich bis 1964 der Absatz der Steinkohle stabilisierte.303 Vor allem in der Kohlekrise Mitte der 1960er-Jahre zeigte sich Bayern als Sprecher der revierfernen Bundesländer, um gegen die Interessenpolitik des Ruhrkohlebergbaus vorzugehen.304 Angesichts dieser Situation verwundert es wenig, dass die revierfernen Länder Bayern und Niedersachsen in den 1970er-Jahren am stärksten auf Kernkraft zur Stromerzeugung setzten. Auch die Gewerkschaften spielten im Konsens zwischen beiden Energieträgern eine wichtige Rolle. Mit ihren Pro-Kernenergie-Bekundungen trugen sie wesentlich zu dessen Stabilität bei. Für die Kohleseite war vor allem die IGBE zuständig. Doch auch die positive Einstellung einzelner Gewerkschaften zur Kernenergie musste gewissermaßen erst organisiert werden, auch wenn sie in Ansätzen schon auszumachen war, als angesichts der Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk Brokdorf Angestellte der NWK eine Kundgebung gegen die „professionellen Demonstranten“ abhielten und für den Erhalt sowie die Schaffung weiterer Arbeitsplätze im Kernkraftwerk demonstrierten.305 Trotz der zum Teil bürgerkriegsähnlichen Zustände in Brokdorf hoffte der IGBE-Vorsitzende Adolf Schmidt, dass in Zukunft eine „vernünftige Ehe zwischen Kernkraft und der Kohle zustande kommen [würde], und zwar bei einer Weiterentwicklung des Verfahrens der Kohlevergasung mittels der Prozeßwärme aus Hochtemperatur-Reaktoren“.306 Doch die Gewerkschaften standen keinesfalls so eindeutig zur Kernenergie, wie die geschilderte Episode vermuten lässt. So belegt unter anderem das Ausschlussverfahren gegen Heinz Brandt aus der IG Metall, dass Gewerkschaften in dieser Frage durchaus gespalten waren.307 Brandt war als Redakteur der Gewerkschaftszeitung und Mitbegründer des Aktionskreises Leben durchaus einflussreich innerhalb der Gewerkschaft. Der Aktionskreis Leben war eine innergewerkschaftliche Gruppe, die sich kritisch mit dem Umgang der Gewerkschaft mit „Atomlobby und Atomfilz“ auseinandersetzte. Brandt hatte sich darüber hinaus relativ früh mit 303 Nonn, Christoph, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen 2001, S. 96–139. 304 Deutinger, Stephan, Eine „Lebensfrage für die bayerische Industrie“. Energiepolitik und regionale Energieversorgung 1945 bis 1980, in: Schlemmer, Thomas / Woller, Hans (Hg.), Bayern im Bund, Bd. 1: Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001, S. 33–118, hier S. 70. 305 Mohr, Markus, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001, S. 50. 306 IG Bergbau ist für die Kernkraft, in: Handelsblatt, 24. November 1976. Zit. nach Mohr, Markus, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001, S. 54. 307 Siehe Hallerbach, Jörg (Hg.), Die eigentliche Kernspaltung. Gewerkschaften und Bürgerinitiativen im Streit um die Atomkraft, Darmstadt 1978.
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der Anti-AKW-Bewegung solidarisiert. Eine Rede von ihm auf einer Gewerkschaftsveranstaltung in Itzehoe im Frühjahr 1977 war der Anlass, gegen ihn ein Verfahren einzuleiten, das schließlich zum Gewerkschaftsausschluss führte.308 Insbesondere die Betriebsräte der Kraftwerksbranche, also der Herstellerindustrie und Stromwirtschaft, sorgten dafür, dass die Kernkraft die Unterstützung der Gewerkschaften erhielt. Überhaupt erachteten nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Politik, wie zum Beispiel Staatssekretär Günther Hartkopf im Bundesinnenministerium, die Bildung von Bürgerinitiativen für Kernenergie als das beste Mittel, um gegen die Anti-AKW-Stimmung vorzugehen. Mit dem Aktionskreis Energie taten die Betriebsräte der Energiebranche den ersten Schritt in diese Richtung, der durchaus als Massenbewegung pro Kernenergie angesehen werden kann.309 Auch der umtriebige PR-Manager Alfred Schaller bekleidete in diesem Prozess eine wichtige Funktion, wenngleich sein Wirken nicht bei allen Gewerkschaftsmitgliedern und insbesondere nicht in der IG-Metall auf große Gegenliebe stieß.310 Nichtsdestoweniger begrüßte Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in seiner eigenen Partei genügend Probleme mit den widerstreitenden Ansichten zur Kernenergie hatte, die Aktivitäten der Betriebsräte. Öffentliches Aufsehen erregte der Betriebsrätekongress am 10. November 1977 mit ca. 40.000 Teilnehmenden in der Dortmunder Westfalenhalle: Transparente mit Aufschriften, wie „Kernkraft und Kohle – heißt die Parole“, vermittelten den Eindruck, als ob tatsächlich alle Anwesenden geschlossen hinter der Kernenergie stünden. Die Mobilisierung allein war deshalb schon ein Erfolg der Veranstaltung. Viel wichtiger jedoch war, dass die Veranstaltung in Dortmund unter der Schirmherrschaft der fünf stärksten Gewerkschaften des Deutscher Gewerkschaftsbunds (DGB) stand und auf diese Weise eine nie zuvor dagewesene Einigkeit der Gewerkschaften in der Kernenergiefrage dokumentiert wurde.311 Wenngleich sich innerhalb der Gewerkschaften durchaus Widerspruch gegen das Zustandekommen sowie die Ziele der Dortmunder Veranstaltung regten, fassten die Gewerkschaften dennoch einen eindeutigen Beschluss, der ein klares Votum für die Kernenergie und zur Wiederaufarbeitung darstellte. Auch dass die Veranstaltung in Dortmund ganz wesentlich von der Energiewirtschaft finanziert worden war, änderte daran nichts. Spätestens seit dem Herbst 1977 befürworteten wesentliche Teile der Gewerkschaften den Weiterbetrieb und den Ausbau der Kernenergie – vor allem wegen des Arbeitsplatzarguments.312 Adolf Schmidt, einer der führenden Köpfe im Einigungsprozess der Gewerkschaften und ehemaliger Vorsitzender der IGBE (1969–1985), bewertete die Situation in der Rückschau folgendermaßen: „Und auf der anderen Seite gab’s die bedingungslosen Gegner der Kernenergie und wir standen dazwischen. Wir mussten halt sehen, dass das ein Mittel war, wo wir unseren Kollegen ein bisschen mehr Sicherheit bieten konnten und wollten. […] Und das hieß zu308 Mohr, Markus, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001, S. 64 ff. 309 Ebd., S. 75. 310 Die Pro-Lobby: „Kernkraft – ja bitte“, in: Der Spiegel 51 (1978), S. 52–60, hier S. 60. 311 Mohr, Markus, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001, S. 82 ff.; Gewerkschaften für Kernkraftwerke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. November 1977. 312 Mohr, Markus, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001, S. 86 ff.
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nächst, wir durften nicht diametral gegen die eine oder die andere Seite sein. Und so erklärt sich unsere Verhaltensweise zur Kernenergie: Wir waren nicht dagegen! Wir wollten ein Energieprogramm, das uns Helmut Schmidt auch versprochen hatte. Es gab ja das erste Energieprogramm, und die Fortschreibungen wurden dann in Sachen Bergbau immer ein wenig problematischer.“313 Die demonstrative Einigkeit zwischen Gewerkschaften und Stromwirtschaft soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, wie brüchig der Konsens zwischen beiden Parteien war. Exemplarisch verdeutlicht dies ein Briefwechsel zwischen VDEW und GVSt Ende der 1980er-Jahre. Darin wird vor allem vor einer Aufweichung des Konsenses gewarnt. Anlass hierfür war eine Anzeigenaktion des Informationskreises Kernenergie, einer Organisation des Deutschen Atomforums, der mit einer breit angelegten Kampagne unter dem Titel Bundeskanzler: Kein Zurück zur fossilen Energie den GVSt gehörig aufschreckte. In einem Brief an die VDEW äußerte der Steinkohleverband seine „außerordentliche Betroffenheit und Enttäuschung“314 über diese Kampagne. Dabei unterstellt der GVSt, dass zwar nicht die gesamte Elektrizitätswirtschaft, aber gerade der Informationskreis Kernenergie „seit Jahren eine teils deutlich erkennbare, teils unterschwellige Propaganda gegen die Verstromung von Steinkohle betreibe“.315 Der GVSt hatte die VDEW offensichtlich schon zu einem frühen Zeitpunkt aufgefordert, seine Einflussmöglichkeiten auf dieses Gremium zu nutzen, damit künftig Aktionen unterblieben, die als gegen die Kohle gerichtet empfunden wurden, was offenbar nicht erfolgt war.316 Daher resümierte der GVSt: „Das Verhältnis zwischen Stromwirtschaft und Steinkohlebergbau wird hierdurch außerordentlich belastet und eine Wiederfindung des energiepolitischen Konsenses zusätzlich erschwert. Für den Bergbau würde es immer schwieriger, seine Zurückhaltung bei der öffentlichen Erörterung kritischer Fragen, die die Kernenergie betreffen, zu rechtfertigen.“317 Der GVSt hatte erkannt, dass nicht die gesamte Stromwirtschaft – mit dem Atomforum jedoch ein nicht unbedeutender Teil – versuchte, gegen die Kohle zu mobilisieren. Angesichts dieser Situation hielt die Steinkohleseite einen energiepolitischen Konsens für schwierig. Darüber hinaus beschrieb der GVSt gerade mit dem letzten Satz seine Position in Bezug auf die Kernenergie relativ eindeutig und deutete an, dass er nicht bedingungslos bereit sei, zu dieser zu stehen. Der Konsens war also im Jahr 1986 ernsthaft in Gefahr. Doch beide Seiten waren daran interessiert, die Wogen wieder zu glätten. Die vom GVSt als „kohlefeindlich“318 empfundene Kampagne des Informationskreises Kernenergie führte nämlich dazu, dass VDEW und GVSt eine Erklärung mit dem Titel Elektrizitätswirtschaft und Bergbau bekennen sich zum Grundsatz Kohle 313 Transkript des Interviews mit Adolf Schmidt am 7. März 2008 in Bochum-Wattenscheid. 314 Brief des Gesamtverbands des Deutschen Steinkohlebergbaus an die VDEW vom 15. Oktober 1986, HK E.ON Hannover, Preußenelektra, Vorstand. 315 Ebd. 316 Siehe ebd. 317 Ebd. 318 So Heinz Horn (Vorstandsvorsitzender der Ruhrkohle AG) in einem Brief an Peter F. Heidinger (Vorsitzender der VDEW) vom 15. Oktober 1986, HK E.ON Hannover, Preußenelektra, Vorstand.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
und Kernenergie319 herausgaben. Darin wurden noch einmal die bekannten Argumente aus den 1970er-Jahren wiederholt, weshalb Kohle- und Kernenergie in puncto Versorgungssicherheit, der Passgenauigkeit in verschiedenen Lastbereichen und für den Umweltschutz eine wichtige Funktion erfüllten.320 Aus Sicht der Energiewirtschaft war die Erneuerung des gemeinsam Bekenntnisses vor allem deshalb notwendig geworden, weil es in der Diskussion von Pro- und Contra- Kernenergie bzw. Kohle zu einigen Missverständnissen gekommen war, die zu „einer zunehmend sensibleren Reaktion vonseiten des Bergbaus geführt hatten“.321 Mit der gemeinsamen Erklärung betrachtete die Stromwirtschaft den Konsens jedenfalls als wiederhergestellt. Das kooperative Verhalten der Stromwirtschaft verdeutlicht, dass die Mehrheit der Akteure in der Stromwirtschaft nicht gewillt war, den Konsens zwischen Kohle und Kernenergie ernsthaft zu gefährden, selbst wenn einige in der Branche das Verhalten des Atomforums befürworteten. Doch auch der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie benötigte für seine Beständigkeit institutionalisierte Formen. Schon im bereits geschilderten Jahrhundertvertrag hatten beide Seiten eine Art Friedensformel vereinbart, die garantieren sollte, „etwaige Meinungsverschiedenheiten auszuräumen und sich vor öffentlichen Erklärungen abzusprechen, mit dem Ziel, Kontroversen in der Öffentlichkeit zu vermeiden“.322 Freilich hatten sich beide Parteien seit dem Bestehen des Vertragswerkes nicht immer an diese Vereinbarung gehalten. Vielmehr gab es schon kurze Zeit nach Vertragsabschluss von beiden Seiten kritische Stimmen zur Übereinkunft. Aufgrund der heterogenen Interessen innerhalb der Elektrizitätswirtschaft kann dies kaum verwundern. Dennoch bemühte sich die VDEW, die Vorwürfe des GVSt aus der Welt zu schaffen, wenngleich es intern hieß, dass diese „sachlich fundiert gewesen“323 seien. In einem Schreiben forderte die VDEW ihre Mitgliedsunternehmen jedenfalls dazu auf, die nun langfristig erreichte stabile Lösung der Verstromungsfrage nicht mehr durch öffentliche Erklärungen zu gefährden, so berechtigt diese auch sein mochten. Der Verband befürchtete, dass eine öffentliche Konfrontation der Stromwirtschaft mit dem Steinkohlebergbau letztlich Nachteile für die eigenen Unternehmen bringen würde. Diese freiwillige Mäßigung bedeutete jedoch keineswegs einen Meinungsumschwung in der Stromwirtschaft. Denn nach wie vor waren Verband und Unternehmen der Ansicht, dass es berechtigte Einwände gegenüber einem verstärkten Einsatz von Steinkohle zur Stromerzeugung gebe. Nur empfahl der 319 Gemeinsame Presseerklärung der VDEW und des GVSt „Elektrizitätswirtschaft und Bergbau bekennen sich zu dem Grundsatz Kohle und Kernenergie“ vom 24. Oktober 1986, HK E.ON Hannover, Preußenelektra, Vorstand. 320 Ebd., S. 1 f. 321 Sprechzettel für Rudolf von Bennigsen für die Aufsichtsrats- und Beiratssitzung am 13./14. November 1986, HK E.ON Hannover, Preußenelektra, Vorstand, S. 6. 322 Vereinbarung zwischen VDEW und GVSt vom 10. Mai 1977, HKR, VDEW Verschiedenes ab September 1975 bis 31. Juli 1979, 2916; die RWE sprechen in einer Vorstandsratssitzung sogar von einer „Wohlverhaltensklausel“. Siehe Notiz über die Vorstandsratssitzung am 9. Mai 1977, HKR W8/2, S. 5. 323 Schreiben der VDEW an ihre Mitgliedsunternehmen vom 30. Juni 1978, VDEW Verschiedenes ab September 1975 bis 31. Juli 1979, HKR 2916.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
255
Verband seinen Mitgliedsunternehmen diese Argumente künftig dosierter einzusetzen, um das Verhältnis zum Steinkohlebergbau zu stabilisieren und um die eigene Position in künftigen Verhandlungen nicht unnötig zu schwächen.324 Die Stromwirtschaft bemühte sich trotz der Kritik an der Steinkohleseite darum, die Allianz zwischen Kohle und Kernenergie nicht zu gefährden. Dennoch führten die Kürzungen von Kohlelieferungen Mitte der 1970er-Jahre bei der Preußenelektra dazu, dass Teile des Vorstands die Verlässlichkeit des Primärenergieträgers Kohle infrage stellten. Gleichwohl attestierten selbst Verfechter der Kernenergie, wie der Vorstandsvorsitzende der Preußenelektra, Erhard Keltsch, dieser ein „gewisses technisches Risiko“.325 Die Schlussfolgerungen aus technischen Risiken bei der Kernenergie und Lieferschwierigkeiten bei der Kohle waren jedoch eindeutig: „Die Marschrichtung dürfe daher nicht heißen, Kohle statt Kernenergie, sondern Kohle und Kernenergie, wobei man die technischen Risiken in Kauf nehmen und überwinden müsse.“326 Die Preußenelektra war zu Beginn der 1980er-Jahre sogar dazu bereit, ihre Abnahmeverpflichtungen für die Steinkohle zu erhöhen, weil sich das Unternehmen davon eine höhere Akzeptanz der Kernenergie versprach. Diese Vorstellung mag zunächst etwas überzogen anmuten, doch die Stromwirtschaft hatte dem Jahrhundertvertrag vor allem aus zwei Gründen zugestimmt oder wie es der Preußenelektra-Vorstand Ulrich Segatz ausdrückte: „Die deutsche Elektrizitätswirtschaft hat diesem Kompromiss [Jahrhundertvertrag] zugestimmt, weil sie hierin den einzigen Weg sieht, zwei andere Ziele, nämlich die Ausweitung des Importkohlekontingentes für die Elektrizitätswirtschaft und die politische Akzeptanz der Kernenergie zu erreichen.“327 Die Zugeständnisse an die Steinkohleseite waren also vor allem strategischen Überlegungen geschuldet. Gleichwohl war die Steinkohleseite von den Plänen der Stromwirtschaft zur Ausweitung des Importkohlekontingents wenig begeistert. Adolf Schmidt (IGBE), einer der stärksten Befürworter des Konsenses zwischen Kohle und Kernenergie, sprach sich strikt gegen den Import von Kohle aus Drittländern aus. Er meinte, dass Deutschland mit Kernenergie und heimischer Kohle ausreichend versorgt sei.328 Überhaupt gab es gerade zwischen dem GVSt und dem Verein Deutscher Kohleimporteure erhebliche Differenzen über die preisliche Bewertung und die Subventionspolitik der deutschen Kohle.329 Auch die IGBE schaltete sich in die Diskussion
324 Ebd. 325 Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsausschusses der Preußenelektra am 19. November 1974, E.ON-Archiv München, EEA 3277. 326 Ebd., S. 15. 327 Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsauschusses der Preußenelektra am 16. Mai 1980, S. 3 f., E.ON-Archiv München, EEA 608. 328 Protokoll der Vorstandsratssitzung des Vereins Deutscher Kohleimporteure am 3. Mai 1982, Interview von Adolf Schmidt mit der Wochenzeitung Die Zeit im April 1982, E.ON-Archiv München. Vorstandssitzungen des Vereins Deutscher Kohleimporteure 3. Mai 1982 bis 29. November 1985, E.ON-Archiv München, EEA 1852. 329 Siehe Diverse Briefwechsel zwischen der GVSt und dem Verein Deutscher Kohleimporteure im August/September 1982, E.ON-Archiv München, EEA 1852.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
zwischen den beiden Verbänden ein und bezog Stellung für die deutsche Steinkohle, indem sie die Verringerung des Einsatzes von Importkohle forderte.330 Die Stromwirtschaft hatte bereits Ende der 1970er-Jahre erkannt, dass die Gewerkschaften – und insbesondere die IGBE – eine entscheidende Rolle beim Erhalt des Konsenses zwischen Kohle und Kernenergie spielten. So lobte beispielsweise RWE-Vorstand Günther Klätte das Verhalten der IGBE in diesem Prozess: „Auch die Gewerkschaften [neben Bundeskanzler und Bundeswirtschaftsminister] haben schon früh deutlich gemacht, daß sie für Fragen der Kernenergie offen sind, wobei dem Vorsitzenden der IGBE, Adolf Schmidt, hoch anzurechnen sei, daß er trotz der Kohlenmisere immer erklärt hat, nur Kohle und Kernenergie gemeinsam seien in der Lage, die Energiepolitik der Zukunft zu lösen.“331 Doch die Stromwirtschaft lobte das Vorgehen der IGBE nicht zuletzt deshalb, weil die Branche einige Vorteile aus diesem strategischen Bündnis zog. Überhaupt ging die Stromwirtschaft gezielt auf die Gewerkschaften zu, wenn es darum ging, gemeinsame Interessen durchzusetzen. Exemplarisch hierfür war das Vorgehen der Branche bezüglich der Pläne des BMWi vom Juli 1973 zur Änderung der Subventionen für den sogenannten Kohlepfennig, dessen geplante Erhöhung negative Auswirkungen für die Stromwirtschaft wie für die Gewerkschaften mit sich gebracht hätte.332 Im Jahr 1979 stellten auch die Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU-Fraktion einen Antrag, „Kohle und Kernenergie“ weiterhin als Verbundkonzept für die Energiepolitik zu verfolgen. Darunter verstanden die Abgeordneten damals ein Forschungsprogramm für die Kohle, in dessen Rahmen Kohleveredelungsverfahren erforscht werden sollten. In Zukunft wollte die Bundesregierung damit unabhängiger vom Mineralöl werden und einen Substitutionsprozess zugunsten von Kohle und Kernenergie herbeiführen, was auch die Erforschung zukunftsträchtiger Reaktormodelle (insbesondere des HTR) und deren Nutzung für den Wärmemarkt beinhaltete.333 In diesem Prozess spielte sicher auch der zweite Ölpreisschock 1979 eine Rolle, bei dem nun schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit der Ölpreis in die Höhe geschnellt war. Daher wurde das Programm zur Kohleveredelung parteiübergreifend akzeptiert und entsprechend von der Politik öffentlich beworben. Insbesondere Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und Bundesforschungsminister Volker Hauff gingen hier in Position.334 Die Bundesregierung spielte eine eminent wichtige Rolle beim Erhalt des Konsenses. Trotz kontinuierlicher Bewährungsproben kann der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie als erstaunlich stabil und krisenresistent bezeichnet werden. Sowohl nach dem Ölpreisschock 1973/74 als auch nach den Ereignissen von Harris330 IGBE: Importe verringern, in: Handelsblatt, 2. September 1982. 331 Niederschrift des Aufsichtsrats und des Beirats der Preußenelektra am 5. Juli 1979, S. 13, E.ON-Archiv München, EEA 608. 332 Brief von Klätte an Adolf Schmidt vom 20. August 1973 sowie Papier der VIK, HKR W5/2720. 333 Antrag der Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU-Fraktion zum Verbundkonzept „Kohle und Kernenergie“ vom 3. August 1979, BT-Drucksache 8/3090. 334 Siehe Brief von Graf Lambsdorff und Volker Hauff an die Fraktionsmitglieder der FDP und SPD vom 31. Januar 1980; Gemeinsame Pressekonferenz zum Kohleveredelungsprogramm von Graf Lambsdorff und Volker Hauff Nr. 13/80 am 30. Januar 1980, HKR, Gemischte Kommission VDEW/BDI/VIK ab Februar 1980, 2909.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
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burg 1979 und Tschernobyl 1986 blieb der Konsens zwischen den Lobbygruppen der beiden Energieträger in der Bundesrepublik bestehen. Mehr noch führte der Ölpreisschock von 1973/74 zur intensiveren Erforschung von Anwendungsmöglichkeiten der Kohle, etwa in Form von Verflüssigung und Vergasung, sowie zum verstärkten Ausbau der Kernenergie. Einige Akteure attestierten dem Konsens gar eine gewisse Symbiosehaftigkeit, etwa indem das Zurückdrängen von Kernenergie zu dramatischen Verknappungen auf dem Kohlemarkt führen würde.335 Die Schlussfolgerung lautete dann meist „Kohle plus Kernenergie“, wobei verlässliche Rahmendaten für die Ausbauplanung beider Primärenergieträger sowie den dazugehörigen Kraftwerken gefordert wurden. Das Handeln der einzelnen Stromwirtschaftsunternehmen zum Erhalt des Konsenses wies durchaus Unterschiede auf. Da alle Energiekonzerne über ein diversifiziertes Primärenergieangebot in ihrem Portfolio verfügten, hatten sie alle – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – ein Interesse an der heimischen Steinkohle. Als es im Jahr 1989 um die Anpassung der Steinkohleverstromungsmenge ging, betrieb die Elektrizitätswirtschaft intensive Lobbyarbeit im BMWi.336 Letztlich wurde die Verstromungsmenge nach einer Übereinkunft zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und den Ministerpräsidenten Johannes Rau und Oskar Lafontaine am 24. August 1989 nicht angehoben, sondern bei 40,9 Mio. t SKE belassen.337 Intern machte sich die Stromwirtschaft jedoch Gedanken darüber, wie der Konsens mit der Steinkohle erhalten werden könne. Vor allem der VEBA-Vorstandsvorsitzende und Aufsichtsratsvorsitzende der Preußenelektra, Rudolf von Bennigsen, hielt aufgrund der auseinanderdriftenden Energiepolitik zwischen Bund und Landesregierungen den Konsens zwischen Kohle und Kernenergie für stark gefährdet. Nach seiner Auffassung bilde dieser jedoch die Grundlage der nationalen Energiepolitik, die nun nicht mehr existiere und in deren Vakuum nun die Bundesländer – etwa in Gestalt des niedersächsischen Wirtschaftsministeriums – mit je eigenen Interessen hineindrängen würden.338 Das Nachdenken in der Stromwirtschaft kam auch in einem Papier der Preußenelektra mit dem Titel Nationaler Konsens für die heimische Kohle zum Ausdruck: Darin wurde bemängelt, dass sich bei Kohle und Kernenergie die energiepolitischen Grundsatzkonzeptionen „heute konträr gegenüberstehen. Dies hemmt dringend erforderliche Konsenslösungen in der Gesamtenergiepolitik.“339 In dem Papier argumentierte die Preußenelektra ferner, dass die Konzentration auf den 335 Schmitt, Dieter / Schneider, Hans K. / Schürmann, Jürgen, Nach Harrisburg und Teheran: eine energiepolitische Bestandsaufnahme, in: ZfE (1979) 2, S. 93–103, hier S. 99. 336 Siehe Kapitel 1.4 sowie Informationsgespräch beim BMWi zur Novelle zum Dritten Verstromungsgesetz am 25. September 1989, E.ON-Archiv München, Kohleverstromung 1987 bis 1990, EEA 2969. 337 Telefax der VDEW an seine Mitgliedsunternehmen vom 6. September 1989, E.ON-Archiv München, Kohleverstromung 1987 bis 1990, EEA 2969. 338 Rudolf von Bennigsen, Nationale contra regionale Energiepolitik – Wenn Bund und Länder auseinanderdriften, Vortrag am 3. November 1988, Hannover 1988, S. 5 f. 339 Entwurf „Nationaler Konsens für die heimische Kohle“, versandt von VEBA-Chef Rudolf von Bennigsen an Hermann Krämer (Preußenelektra) am 23. Juni 1989, E.ON-Archiv München, Kohleverstromung 1987 bis 1990, EEA 2969.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
„Problemkreis Kohle – Kernenergie“ nicht zu einer Lösung führen würde, da beide „kontroverse energiepolitische Grundsatzpositionen“340 enthielten. Damit wurde in der Stromwirtschaft erstmals formuliert, was seit dem Aufkommen der Kernenergie in der Luft lag: nämlich, dass beide Energieträger in einem Verdrängungswettbewerb zueinander standen. Die Autoren des Papiers gingen jedoch auch für die Zukunft davon aus, dass die heimische Steinkohle einen nennenswerten Beitrag zur Energieversorgung leisten würde.341 Doch welche Aussagen wurden in dem Papier zum zweiten Teil des Konsenses – der Rolle der Kernenergie – gemacht? Erstaunlicherweise wird dort die Kernenergie erstmals in der Geschichte der Stromwirtschaft explizit als „Übergangsenergie“342 bezeichnet. Als Begründung heißt es, dass die „Kernenergie wegen ihres immanenten Risikopotentials nur eine zeitlich befristete Übergangsenergie“343 sein könne. Ebenso gehe der politische Streit nur noch „um die Dauer dieser Übergangszeit. Auch die Klimadebatte könne nicht zu einem Austausch fossiler Brennstoffe durch Kernenergie führen.“344 Das war erstaunlich, hatte doch noch in den frühen 1970erJahren einer der energischsten Verfechter der Atomkraft, RWE-Vorstand Heinrich Mandel, die Kernenergie im Vergleich zu anderen Energieformen als endlich nutzbar bezeichnet. Doch angesichts der vielen Ausstiegsszenarien ging das Papier nun weiter: Kernenergie als Übergangsenergie repräsentiere selbst Ende der 1980erJahre in der Stromwirtschaft eine – wenn auch mächtige – Minderheitsmeinung. Insbesondere Rudolf von Bennigsen war davon überzeugt und vertrat das auch öffentlich.345 Gleichwohl begegneten viele andere Vorstände in der Branche den Vorschlägen von Bennigsens mit Skepsis und beschuldigten dessen persönlichem Assistenten und späteren Bundeswirtschaftsminister Werner Müller, dass dieser seinem Vorgesetzten die Idee gewissermaßen eingeflüstert habe.346 Teile der Stromwirtschaft waren der Auffassung, dass der energiepolitische Grundkonsens bereits zerbrochen sei, und es einer Umkehr bedürfe: In einem Konzeptpapier des Preußenelektra-Vorstands mit dem Titel Rückkehr zum energiepolitischen Grundkonsens wurde genau diese Forderung erhoben.347 Ab Mitte der 1970er-Jahre, so wird im Papier rückblickend analysiert, lag dem Ausbau der Kernenergie der „überparteiliche Konsens unter der Formel Kohle und Kernenergie zu Grunde: Kernenergie zur Deckung der Grundlast, deutsche Steinkohle zur Deckung 340 341 342 343 344 345
Ebd., S. 3. Siehe ebd., S. 5 f. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. „Die Organe der VEBA hätten die Kernkraft von Anfang an als eine Übergangslösung für die Deckung des Energiebedarfs angesehen“, so von Bennigsen am 30. Mai 1986 in Die Welt. Oder drei Jahre später im Spiegel: „Ich habe ja selbst schon vor Tschernobyl davon gesprochen, daß Kernenergie nur eine Übergangsenergie ist. Ich habe die Übergangszeit damals auf etwa 50 Jahre geschätzt“. Der Spiegel, Nr. 16, 17. April 1989, S. 31. 346 Siehe Müller, Werner, Einige energiepolitische Überlegungen zum Ergebnis der KernenergieEnquete-Kommission. Beitrag zur Tagung des Deutschen Atomforums am 26. Juni 1980, S. 4. 347 Rückkehr zum energiepolitischen Grundkonsens, Januar 1987, E.ON-Archiv München, EEA 2819.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
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der Mittellast. […] Der Kernenergiekonsens umfasste die Preiswürdigkeit, die Versorgungssicherheit und die Betriebssicherheit konventioneller Kernkraftwerke ebenso wie die Erprobung fortgeschrittener Reaktorlinien, das Schließen des Brennstoffkreislaufes und das Entsorgungskonzept. Der Kohlekonsens umfasste die Kohleverstromungsgesetze sowie eine darin eingebettete Verpflichtung der Stromwirtschaft zur Abnahme einer jährlich wachsenden Verstromungsmenge deutscher Kohle, der sogenannte Jahrhundertvertrag. Zwischen beiden Konsensen konnte lange Zeit ein Gleichgewicht gewahrt werden.“348 Aus Sicht der Preußenelektra waren beide Konsense nun hinfällig. Folglich machte sich der Energieversorger darüber Gedanken, welche Folgen dieses Zerbrechen für die Branche Ende der 1980er-Jahre haben könne. Er befürchtete vor allem eine Polarisierung der energiepolitischen Standpunkte zwischen den Parteien, zwischen Bund und Ländern und zwischen den Bundesländern.349 Hierbei darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es jenseits des bestehenden Konsenses sowohl zwischen Bund und einzelnen Bundesländern als auch zwischen den Bundesländern schon immer höchst unterschiedliche energiepolitische Konzepte und Vorstellungen gegeben hatte, und zwar was die jeweilige Einsatzmenge bestimmter Primärenergieträger wie auch den ordnungspolitischen Rahmen der Energieversorgung betraf.350 Diese hatten durchaus das Potenzial, den Konsens ernsthaft zu beschädigen. Darüber hinaus befürchtete die Preußenelektra, dass das Thema „Kohle und Kernenergie“ zum Dauerbrenner bei künftigen Wahlen werden würde. Sei der Grundkonsens erst einmal dahin, führe das zu einem Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen und Bürgern, energiepolitische Kompetenz ginge verloren. Damit aber seien die Rahmenbedingungen für Energieinvestitionen nicht mehr kalkulierbar.351 Nichts fürchtete die Preußenelektra also so sehr, wie die politischen Folgen des zerbrochenen Konsenses und dessen negative Wirkungen für den Handlungsspielraum der Stromwirtschaft. Eine neue Konsensfindung müsse sich daher durch Kompromisse auszeichnen und nicht „die kompromisslosen Forderungen der krassen Kernenergiegegner berücksichtigen“.352 Nur unter dieser Voraussetzung könne auch der Konsens zur Kohlepolitik und zur Verstromung der Steinkohle wiederhergestellt werden. „Aus Sicht der Steinkohle ist die Stromwirtschaft der größte und wichtigste Abnehmer, aus der Sicht der Stromwirtschaft und der Stromverbraucher ist die deutsche Steinkohle auch längerfristig erheblich teurer als Weltmarktkohle. Bisher haben die Kernenergie-Befürworter darauf Rücksicht genommen, dass die heimische Steinkohle der wirtschaftlich schwächere Partner ist. Für die künftigen Mengenfestlegungen der Steinkohleverstromung wird nicht ohne Einfluss bleiben, wie Befürworter und Gegner des Kernenergieausstiegs miteinander umgehen werden.“353 348 349 350 351
Ebd., S. 1. Ebd. Siehe Kapitel 1.4 sowie Kapitel 2.2. Rückkehr zum energiepolitischen Grundkonsens, Januar 1987, S. 2, E.ON-Archiv München, EEA 2819. 352 Ebd., S. 3. 353 Ebd.
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3 Umwelt und Öffentlichkeit in der Stromwirtschaft
Die Preußenelektra war der Auffassung, dass vor allem der Staat, und namentlich die Bundesregierung, am meisten dafür tun könne, dass es wieder zu einem „Gleichgewicht von Kohle- und Kernenergiekonsens“ komme. Dies sei insbesondere davon abhängig, wie der Staat sich zur „Mischpreisbildung“ aus kostengünstiger Kernenergie, teurer einheimischer Steinkohle und zum Kohlepfennig positioniere.354 Diese Argumentation ist charakteristisch für die Stromwirtschaft. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die Volkswirtschaft war die Branche in der Lage, einen derartigen Ausgleich der verschiedenen Primärenergieträger zu fordern. Nicht zuletzt weil politische Entscheidungsträger auch Ende der 1980er-Jahre noch „Kohlevorrangpolitik“ im Sinne spezifischer Wählerschichten betrieben, fiel es der Stromwirtschaft nicht schwer, dies wiederum in einen Vorteil für die Kernenergie umzumünzen. Der Konsens selbst war seit seinen Anfängen ohnehin durch und durch politisch gewesen, und dieses Faktum zahlte sich Ende der 1980er-Jahre für beide Seiten aus. Wenngleich der Entschluss der SPD, aus der Kernenergie auszusteigen, schon eine Trendwende auf politischer Seite darstellte, genossen doch alle bestehenden Kernkraftwerke Bestandsschutz. Um die Situation für die Kernenergie zu verbessern, nahm die Preußenelektra daher auch die Politik ganz dezidiert in die Pflicht, den Grundkonsens zwischen Kohle und Kernenergie mit neuem Inhalt wiederherzustellen.355 Die Initiative dazu sollte von den Gewinnern der Bundestagswahl kommen. Die Preußenelektra war davon überzeugt, dass angesichts der Debatte bei der SPD ein Kompromiss, insbesondere zwischen Energieversorgern und SPD, unerlässlich sei und dieser für den Fall der Ablehnung durch die Partei dieser nur Nachteile bringen würde. Dazu hieß es von der Preußenelektra: „Sollten SPD und Gewerkschaften das Entgegenkommen der Bundesregierung und der Energiewirtschaft (einerseits Konservieren bzw. Verschieben von Kalkar und Wackersdorf; andererseits Fortführung des Bestandes) ablehnen, so schwächen sie ihre eigenen Positionen in der öffentlichen Diskussion.“356 Vielmehr komme es nach Auffassung des Unternehmens darauf an, dass „regierungsamtliche Energiepolitik und Energiewirtschaft ihre Bereitschaft erklären, dem kernenergiekritischen Teil der Bevölkerung Rechnung zu tragen“.357 Die Lage gestalte sich jedoch deshalb schwierig, weil die SPD nicht dazu bereit sei, „ihre Position einer sachlichen und sorgfältigen Prüfung zu unterziehen, [sondern] viel mehr opportunistisch der öffentlichen Diskussion und dem ideologischen Druck aus den eignen Reihen folgt. In diesem Fall sollte die bisherige Energiepolitik entsprechend der im Energiebericht der Bundesregierung vom September 1986 dargelegten Linien fortgesetzt werden.“358
354 Ebd., S. 3 f. 355 Rückkehr zum energiepolitischen Grundkonsens, Januar 1987, S. 4, E.ON-Archiv München, EEA 2819. 356 Ebd. 357 Ebd. 358 Ebd. Die Bundesregierung bezeichnete in ihrem Energiebericht vom September 1986 die weitere Nutzung der Kernenergie als „weiterhin verantwortbar“. Siehe BT-Drucksache 10/6073, S. 3 ff.
3.4 Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie
261
In der Tat konnte man Ende der 1980er-Jahre den Eindruck gewinnen, dass die SPD gerade auf dem Feld der Energiepolitik und der Kernenergie opportunistisch vorging. Dies hatte nicht zuletzt mit der Veränderung der Parteienlandschaft zu tun: Mit dem Aufkommen der Grünen zu Beginn der 1980er-Jahre war im linken Teil des politischen Spektrums ein starker Konkurrent hinzugekommen, der im Bereich der Energiepolitik eindeutige Positionen vertrat.359 Zusätzlich zu diesem parteipolitischen Faktum konnte die SPD offenbar immer noch nicht in Gänze verstehen, weshalb der für politisch und intellektuell unbegabt gehaltene Helmut Kohl immer noch an der Macht sei. Deshalb suchte man auf allen Politikfeldern nach Unterscheidungsmerkmalen zur CDU, während es innerparteilich alles andere als einen Konsens über die Energiepolitik gab.360 Der alte SPD-Witz aus den 1970er-Jahren „mit Helmut Schmidt und Erhard Eppler für und gegen die Kernenergie“,361 spiegelte noch immer einen Teil der energiepolitischen Wirklichkeit innerhalb der SPD wider, wenngleich die parteiinterne Kritik gegen die Kernenergie seit dem Hamburger Parteitag 1977 erheblich an Boden gewonnen hatte und mit dem Nürnberger Parteitag im September 1986 der stufenweise Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen worden war. Trotz der vermehrten Kritik an Steinkohle und Kernenergie aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zeigte der Konsens auch Ende der 1980er-Jahre eine bemerkenswerte Stabilität. Dies lag nicht zuletzt daran, dass der GVSt bis 1989 seine Loyalität gegenüber der Kernenergie immer wieder dokumentiert hatte.362 Für den Jahrhundertvertrag waren der Slogan „Kohle und Kernenergie“ sowie dessen inhaltliche Bedeutung ohnehin unerlässlich. Doch vor allem die Konsens-Partnerschaft sorgte – trotz zahlreicher Störfeuer – dafür, dass der Konsens bis Ende der 1980er-Jahre stabil blieb. Dies geschah, obwohl ein großes Unternehmen der Stromwirtschaft den Konsens als beendet betrachtete, jedoch für dessen Wiederherstellung eintrat. Auch der Ausstiegsbeschluss der SPD zur Kernenergie und schwierige „Kohlerunden“ hatten den Konsens und die an ihm beteiligten Akteure unter erheblichen Druck gesetzt. Die jeweiligen Interessenvertretungen beider Energieträger traten jedoch füreinander ein, denn durch den Konsens waren sie ohnehin voneinander abhängig. Ohne ihn hätte der Steinkohlebergbau Ende der 1980erJahre kaum vergleichsweise gut dagestanden. Mit dem Konsens war es der Stromwirtschaft gelungen, ihre Handlungs- und Entscheidungsspielräume weiter auszubauen.
359 Dazu wird gern die These vertreten, dass die Sozialdemokraten es nicht vermocht hätten, das „grüne Potenzial“ in ihre Partei zu integrieren. Siehe u. a. Markovits, Andrei S. / Gorski, Philip S., Grün schlägt rot. Die deutsche Linke nach 1945, Hamburg 1997. 360 Siehe u. a. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Parteitag Hamburg, Beschlüsse zur Energiepolitik, Bonn 1977; Meyer-Abich, Klaus Michael, Kurskorrektur in der politischen Wahrnehmung der Natur. Umwelt- und Energiepolitik im Wahlprogramm 1983 der SPD, in: Die neue Gesellschaft 30 (1983) 1, S. 48–55. 361 Zit. nach Faulenbach, Bernd, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 32. 362 Kernkraft verdrängt nicht die Steinkohle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. November 1989, S. 17.
SCHLUSSFOLGERUNGEN Das Handeln der Stromwirtschaft bewegte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren zwischen Beharrungsvermögen und Veränderungsdruck. Auffällig ist dabei vor allem, dass sich die Branche in dieser Zeit als erstaunlich krisenfest erwies. Sowohl die erste Ölpreiskrise 1973/74 als auch die zweite im Jahr 1979 beschäftigte die Stromversorgungsunternehmen zwar inhaltlich, das heißt, in Bezug auf mögliche Auswirkungen der jeweiligen Krisen für ihr eigenes Geschäft und die Energieversorgung insgesamt, jedoch gingen sie daraus meist gestärkt hervor. Insbesondere angesichts der ersten Ölpreiskrise konnten die Energiekonzerne in noch größerem Maße als zuvor eine stabile und leistungsfähige Energieversorgung als zentral für die Funktionsfähigkeit und das Wachstum westlicher Industrienationen präsentieren. Kohlewirtschaft und Kernkraftwerksbetreiber lassen sich sogar als Gewinner der ersten Ölkrise bezeichnen, weil diese sich, zum Teil durchaus überzeugend, als einzige „heimische“ – und damit als verlässliche – Energieträger darstellen konnten. Diese Entwicklung sollte in der Bundespolitik wesentlich das Zustandekommen des Programms „Weg vom Öl“ befördern, in dessen Folge auch die zu ehrgeizigen Kernenergieprogramme der 1970er-Jahre entstanden, die Forschungsprogramme für Kohle und Verstromungsvereinbarungen der Steinkohle sowie letztlich auch der Jahrhundertvertrag. Die vorliegende Studie widmet sich einem Zeitraum, der jüngst einer stärkeren Historisierung unterzogen wird. Im Zuge dessen sind mittlerweile zu verschiedenen Themen Überblicks- sowie zahlreiche Einzeldarstellungen erschienen.1 Die Mehrzahl der Gesamt- und Überblicksdarstellungen konstatiert der Bundesrepublik einen meist strukturell definierten Umbruchs- bzw. Veränderungscharakter seit den 1970er-Jahren. Dabei wird meist mit klaren Thesen operiert, häufig unterbleibt es jedoch, die eigenen Annahmen kritisch an den Quellen zu überprüfen. Zudem wird übersehen, dass dieser Wandel erklärungsbedürftig ist. Nur durch die Frage nach dessen Ursachen aber lässt sich feststellen, von welcher Qualität diese Veränderungen waren und auf welchen gesellschaftlichen Feldern sie stattfanden. Die Konjunktur von Gesamtdarstellungen zur deutschen Nachkriegsgeschichte suggeriert also einen Erkenntnisstand, der vor allem in der Breite, nicht aber in der Tiefe existiert. Die Bilanz der bisher tatsächlich geleisteten Forschung, in Form von quellengesättigten empirischen Einzelstudien, wächst zwar stetig, fällt aber längst noch nicht befriedigend aus.2 Nicht zuletzt deshalb konnte bisher keine verlässliche Antwort auf die Frage gegeben werden, wie die Zeit seit den 1970er-Jahren zu charakterisieren ist. Die vorliegende Studie stellte sich diesem Desiderat und hinter1 2
Siehe dazu die Anmerkungen in der Einleitung. Primel, Kim Christian, Industrieunternehmen, Strukturwandel und Rezession, in: VfZ 1 (2009), S. 1–31, hier S. 3 f.; Reitmayer, Morten / Rosenberger, Ruth (Hg.), Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er-Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008.
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Schlussfolgerungen
fragte auf drei Feldern, inwieweit für die deutsche Stromwirtschaft die These eines Bruchs in den 1970er-Jahren zutrifft. Dabei muss konstatiert werden, dass die Vertreter der Strukturbruch-These gerade keinen allumfassenden Wandel postulieren, sondern diesen als analytische Sonde verstehen, die diverse Ausgangspunkte, Qualitäten und unterschiedliche Zeitpunkte und -orte kennt und einbezieht.3 Die Erkenntnisse der vorliegenden Studie widersprechen insofern nicht denen von Lutz Raphael und Anselm DoeringManteuffel, sondern sind ein ergänzendes Puzzleteil zum Verständnis der Zeit nach 1970. Letztlich kann aus dieser Diskussion der Schluss gezogen werden, dass für die Stromwirtschaft kein Strukturbruch von besonderer Qualität vorliegt.4 Ganz im Gegenteil, war die Branche in eher geringem Maß von den Veränderungsprozessen dieser Zeit betroffen und reagierte bei vielen Themen erstaunlich veränderungsresistent. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass einige Fragen die Stromwirtschaft in dieser Zeit durchaus langfristig prägen und verändern sollten. Beispielhaft dafür genannt seien an dieser Stelle die verstärkte Diskussion um erneuerbare Energien, der Einfluss der Europäischen Union auf die energiepolitische Gesetzgebung und die Transformation des Energiesystems insgesamt. Die Energieversorgung ist sowohl aufgrund natürlicher und physikalischer Gegebenheiten als auch hinsichtlich gesellschaftlicher Rahmenbedingungen durch langfristige Entwicklungslinien gekennzeichnet. Das trifft auch auf die Energieversorgungsunternehmen zu. Transformationsprozesse vollziehen sich bei ihnen meist langsam oder bedürfen eines zeitlichen Vorlaufs, bevor sie tatsächlich sichtbar werden. Das wird vor allem im Vergleich mit den Dekaden direkt nach dem Krieg für das Verhältnis der Unternehmen zur Öffentlichkeit, zur Umweltproblematik sowie der Unternehmenskommunikation deutlich. Seit den 1970er-Jahren wurden Prozesse angestoßen, die im Grunde bis heute andauern und immer noch tiefgreifend wirken. Diese Veränderungsprozesse beinhalteten dabei jedoch meist ein strukturierendes Kontinuitätsmoment. In der vorliegenden Analyse konnte gezeigt werden, dass das stromwirtschaftliche Handeln der Energieversorgungsunternehmen seit den 1970er-Jahren einem erheblichen Veränderungsdruck unterworfen war. Allerdings war dies auf den untersuchten Problemfeldern unterschiedlich stark ausgeprägt: Das Handeln der Stromwirtschaft in Bezug auf Energiebedarfsfragen, ihr Verhältnis zur industriellen Kraftwirtschaft sowie zur Umwelt bzw. zur Öffentlichkeit war sowohl von Persistenz als auch von Wandel gekennzeichnet. Am schnellsten vollzogen sich Veränderungen bezüglich der Luftreinhaltung. Hier wurden die EVU innerhalb weniger Jahre durch Gesetzgebung und Öffentlichkeit zum Umdenken herausgefordert. Die Energiekonzerne hatten quasi keine andere Wahl, als den Vorgaben der Politik Folge zu leisten, auch wenn sie im Ausgleich dazu immer wieder Zugeständnisse in anderen Bereichen erwarten durften bzw. durchsetzen konnten. Mit der Strategie, sich als umweltfreundliche Stromver3 4
Raphael, Lutz / Doering-Manteuffel, Anselm, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., Göttingen 2012, S. 12 f. Ebd., S. 13. Zwar sprechen Raphael und Doering-Manteuffel in ihrer aktualisierten Publikation von einem „soziale[n] Wandel von revolutionärer Qualität“, gleichwohl beziehe ich diesen hier auf die unternehmerische Ebene.
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sorger zu präsentieren, stellten sich die Unternehmen äußerst geschickt dieser Herausforderung – wenn auch unter Veränderungsschmerzen. Auf den Feldern „Umwelt“ und „Öffentlichkeit“ können der größte Veränderungsdruck und die am stärksten ausgeprägte Entwicklungsdynamik in ihrem Handeln festgestellt werden, wie das dritte Kapitel gezeigt hat. Die Energiefrage war seit den 1970er-Jahren in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Das führte in der Stromwirtschaft spätestens in den 1980er-Jahren zu der Einsicht, dass es eines anderen Umgangs mit der Öffentlichkeit und damit einer neuen Öffentlichkeitsarbeit bedürfe. Durch die Auseinandersetzung rund um die Kernkraft und die politischen Begleiterscheinungen intensivierte und professionalisierte sich die Öffentlichkeitsarbeit der Branche, wenn auch bei den Unternehmen und den Verbänden zeitlich verzögert. Vor allem Ende der 1980er-Jahre setzte sich die Stromwirtschaft überraschend intensiv mit der Analyse und den Ursachen ihres schlechten Images, den Gründen für den Protest und der politischen Situation insgesamt auseinander. Stromkonflikte kamen nicht zuletzt auch deshalb auf, weil die Energieversorger meist hartnäckig am Status quo festhielten. Nur nach lang anhaltendem und beständigem Druck waren sie dazu bereit, gewisse Veränderungen – etwa im energierechtlichen Bereich – zuzulassen. Gleichwohl ist seit Ende der 1970er-Jahre und noch deutlicher in den 1980er-Jahren zu erkennen, dass die Stromwirtschaft durchaus aus strategischem Kalkül heraus zu Neuerungen bereit war. Meist kamen die Impulse dazu jedoch von außen und nur in Ausnahmefällen aus der Branche selbst. Während in den 1970er-Jahren die Kernenergiefrage dominierte, stand das Handeln der Stromwirtschaft seit Beginn der 1980er-Jahre ganz im Zeichen des Emissionsschutzes. Das verlangte von den Unternehmen zum einen gesellschaftliche Verantwortung und zum anderen ein erhebliches Maß an Investitionen. Die Umsetzung der Umweltgesetze durch die Stromwirtschaft zeigte, dass der Staat nach wie vor in der Lage war, regulierend auf die Branche einzuwirken. Dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass es der Stromwirtschaft bei anderen Themen erfolgreich gelungen war, ihre Interessen gegenüber dem Staat durchzusetzen, so konnten zum Beispiel weitgehend Regelungen zugunsten der energieerzeugenden Industrie verhindert werden. Welche Rolle hierbei die Gemischtwirtschaftlichkeit in der Stromwirtschaft spielte, wäre eine interessante Anschlussfrage und Gegenstand weiterer Forschung. Im Hinblick auf die Abschätzung des zukünftigen Energiebedarfs nahm die Stromwirtschaft seit Mitte der 1970er-Jahre zusehends eine kritische Haltung ein, wie das erste Kapitel gezeigt hat. Die bis dato vorherrschende Gewissheit, dass sich der Energiebedarf mit 7 % jährlicher Steigerungsrate innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, wurde damals sowohl von der Stromwirtschaft – wenn auch vorerst nur intern – als auch von neuen Akteuren auf dem Feld der Energiewirtschaft, etwa Umweltforschungsinstituten, hinterfragt. Die Energieversorgungsunternehmen sahen sich dabei jedoch mit einem Problem konfrontiert: Einerseits war die Branche qua Gesetz zur Versorgungssicherheit verpflichtet, andererseits konnte sie die veränderten Befunde der Energiebedarfsplanung nicht ignorieren. Da zudem schon Mitte der 1970er-Jahre eine Überkapazität an Kraftwerksleistung existierte, hätte eine geringfügige Verminderung oder zeitliche Streckung der Ausbauplanung mit-
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nichten zur Einschränkung der Versorgungssicherheit geführt, wie dies oft von der Branche behauptet wurde. Allerdings sah sich die Stromwirtschaft mit der Unsicherheit konfrontiert, dass sie ebenso wenig wie Politik und Öffentlichkeit Gewissheit darüber hatte, wie lange die geringeren Zuwachsraten beim Stromverbrauch anhalten oder ob neue Verbrauchsmuster bei Konsumenten und Industrie entstehen würden. Mit der Verfeinerung der Methoden für die Prospektion des Haushaltsstrombedarfs versuchte die Branche, sich Sicherheit über die künftige Entwicklung zu verschaffen. Ihre Planungssicherheit wurde darüber hinaus begünstigt von vorteilhaften ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, also geschlossenen Versorgungsgebieten, weitgehend sicheren Absatzmärkten und einer meist wohlwollenden Preisgenehmigungspolitik. Die Unternehmen konnten mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass selbst weitere Überkapazitäten über den Strompreis refinanziert würden. Insbesondere beim Bau neuer Kraftwerke oder bei der Frage, mit welcher primären Energiequelle diese betrieben werden sollten, lässt sich stromwirtschaftliches Handeln als fortwährender Aushandlungsprozess zwischen Energiekonzernen und Politik beschreiben. So war etwa das Verhältnis zwischen Steinkohlebergbau und Stromwirtschaft durchaus kooperativ, obwohl die Frage der Verstromung von Steinkohle alles andere als konfliktfrei war. Weil den Energieunternehmen oft preiswertere Alternativen zur Verfügung standen – im Fall der RWE Braunkohle oder Kernenergie bei der Preußenelektra –, wurde die Steinkohlefrage von der Stromwirtschaft zumeist pragmatisch gehandhabt. Gleichwohl reagierte die Branche empfindlich, wenn die Politik den Bau von Steinkohlekraftwerken einforderte. Die Stromwirtschaft betrachtete diesen Versuch als Einmischung in ihre unternehmerische Freiheit und damit als überzogen und unangebracht. Vor allem das ,freiwillige‘ Zustandekommen des Jahrhundertvertrags belegt, dass die Stromwirtschaft für ihre Bereitschaft, teure deutsche Steinkohle zu verstromen, Zugeständnisse von der Politik erwarten durfte, was sie nicht daran hinderte, sich immer wieder einmal über diesen Umstand zu beschweren. Nicht zuletzt die Ausgleichszahlungen des Vertrags selbst kompensierten die Verluste aus der Verstromung von Steinkohle. Auch die Zustimmung der Stromwirtschaft zum Konsens zwischen Kohle und Kernenergie belegt, dass die Energieversorger mehr Vor- als Nachteile aus der Kooperation mit der Steinkohlewirtschaft genossen. Schließlich waren es immerhin die Vertreter des Steinkohlebergbaus, die lange Zeit die Nutzung der Kernenergie mitbefürworteten. Der Konsens aus Kohle und Kernenergie stellte eine ideale Konstruktion dar, den Anliegen der jeweils anderen Seite in Politik und Gesellschaft Gehör zu verschaffen, selbst wenn es hinter den Kulissen nicht immer harmonisch zuging. Im zweiten Kapitel wurde der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die industrielle Kraftwirtschaft für die Energieversorger eine Marktmacht im Monopol darstellte. Ausgehend von einem Rückblick in die 1920er-Jahre, als die Industrie die größte Konkurrentin der Energiekonzerne war, wurde deutlich, wie die Stromwirtschaft immer wieder versuchte, die ,Konkurrenz‘ aus der Industrie in Schach zu halten. Seit diesem Zeitraum hatten es die Energieversorger durch eine Preisdifferenzierungsstrategie erfolgreich vermocht, zahlreiche Industrieunternehmen zur Aufgabe ihrer Eigenerzeugung zu bewegen. Ein ständiger Konfliktherd zwischen
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beiden Parteien war neben der Frage des Strompreises für die Industrie die Aufnahme industriellen Überschussstroms durch die Energieversorger sowie dessen Vergütung. Auch die Diskussion über eine mögliche Durchleitung elektrischer Energie zwischen den Werken von Industriebetrieben oder gar über Demarkationsgrenzen hinweg, war angesichts des Netzmonopols der EVU von zum Teil heftigen Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Auffällig ist dabei, dass diese Konflikte vor allem mit größeren Industriebetrieben – meist bilateral – für beide Seiten zufriedenstellend beigelegt wurden. Dies hatte sicherlich mit der Machtposition der großen Industrieunternehmen zu tun. Aufgrund ihrer Attraktivität als Stromkunden genossen Unternehmen, wie BASF, Hoechst und Bayer, Vorteile, weil deren Weg in die Eigenerzeugung für die EVU große Verluste bedeutet hätte. Kleinere Industriebetriebe wurden von den Energieversorgern hingegen weit weniger entgegenkommend behandelt. Doch die Energieunternehmen waren nicht grundsätzlich gegen die Durchleitung industriellen Stroms, solange diese in Einzelvereinbarungen geregelt wurde. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass zum Beispiel das Versorgungsgebiet der RWE durch die große Anzahl von Industriekunden – überspitzt formuliert – durchlöchert war wie ein Schweizer Käse. Die Einwände der Stromwirtschaft bezogen sich denn auch auf die grundsätzliche Möglichkeit der Durchleitung für alle, weil sie damit das Netzmonopol gefährdet sah und perspektivisch weitere Eingriffe in den ordnungspolitischen Rahmen befürchtete. Der ökonomische Erfolg der Stromkonzerne beruhte jedoch auf der Verbindung des Monopols im Netzbereich mit der Energieerzeugung. Daher war das Verhältnis zur industriellen Kraftwirtschaft durch den Willen zur Zusammenarbeit gekennzeichnet, selbst wenn große Industriebetriebe in der Lage waren, der Stromwirtschaft auf Augenhöhe zu begegnen. Trotz sinkender Industriestromerzeugung behaupteten damit vor allem größere Industrieunternehmen eine Marktmacht im Monopolsystem der Stromversorgung. Die industrielle Kraftwirtschaft versuchte, ihren Anliegen in erster Linie mittels energierechtlicher Reformen Gehör zu verschaffen. Durch das Argument einer rationelleren Energieausnutzung, die die Kraft-Wärme-Kopplung im Vergleich mit den Großkraftwerken der Stromwirtschaft ohne Frage leistete, bemühte sich die Industrie um eine bessere Vertretung ihrer Interessen in der Politik. Die guten Kontakte der industriellen Kraftwirtschaft führten jedoch nicht dazu, dass die Legislative energierechtliche Reformen zum Nachteil der Stromwirtschaft erließ. Letztlich scheiterten umfassende energierechtliche Reformen nicht am besseren Netzwerk der Stromwirtschaft, sondern auch am fehlenden Willen der Politik zu einer grundsätzlichen Neuordnung bestehender Strukturen. Ohne direkten Einfluss der Politik versuchten Stromwirtschaft und industrielle Kraftwirtschaft, ihre Konflikte in der Gemischten Kommission beizulegen. Diese war als Institution zur Konfliktaustragung und -beilegung eingerichtet worden, um direkt und unabhängig von der Politik miteinander zu verhandeln. Das gelang indes nur bedingt, da beide Seiten während der Verhandlungen engen Kontakt zum Bundeswirtschaftsministerium hielten. Die „Politikferne“ war generell in der Stromwirtschaft schwierig einzuhalten, in der Kommission am wenigsten, weil die Bun-
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desregierung die Energiekonzerne zu deren Einrichtung gedrängt hatte. Für den Fall, dass es keine Einigung mit der Industrie gäbe, drohte die Bundesregierung, selbst das Verhältnis zwischen beiden Parteien durch energierechtliche Reformen zu regeln. Eine wichtige Mittlerfunktion zwischen beiden Seiten nahm das Bundeskartellamt ein. Die Behörde hatte wiederholt die Preisfindung der Stromwirtschaft bei der Einspeisung von Überschussstrom aus der Industrie moniert. Doch die missbräuchliche Ausnutzung ihrer Marktmacht gegenüber der Industrie konnte, etwa den RWE, nicht nachgewiesen werden. Auch nach einem längeren kartellrechtlichen Verfahren veränderte das Energieunternehmen seine Haltung nur minimal. Gleichwohl wirkte das Verfahren, wie der gewachsene öffentliche Druck in puncto Einspeisevergütung, positiv auf die Verhandlungen im Rahmen der Gemischten Kommission. Trotz der Auseinandersetzungen zwischen Industrie und Stromwirtschaft zogen beide Seiten bei gemeinsamen Interessen an einem Strang. Dies belegt etwa die Debatte um die Verstaatlichung einzelner Bereiche der Energiewirtschaft in den 1970er-Jahren. Sowohl Stromwirtschaft als auch Industrie waren grundsätzlich gegen derartige Pläne. Die Symbiose reichte noch weiter: Die Elektrizitätswirtschaft war auf die stromintensive Industrie angewiesen, weil diese die wichtigste Kundin der Energiekonzerne, vor allem im Ruhrgebiet, war. Die meisten Industriekunden wiesen zudem für die Stromwirtschaft den unschätzbaren Vorteil auf, dass sie elektrische Energie zu allen Zeiten benötigten – auch nachts, wenn die Energieversorger ihre Kraftwerke eigentlich hätten zurückfahren müssen. Auf diese Weise trug die Industrie zum Ausgleich der Lastkurve und damit zur höheren Wirtschaftlichkeit der Energiekonzerne bei. Kohle und Kernenergie als die wichtigsten „heimischen“ Energieträger zur Stromerzeugung spielten für das stromwirtschaftliche Handeln in den 1970er- und 1980er-Jahren in verschiedenen Zusammenhängen eine maßgebliche Rolle. Auseinandersetzungen gab es wiederholt um die Frage, wie der Energiemix zwischen Steinkohle und Kernenergie aussehen solle und welcher Kraftwerkstyp künftig Vorrang habe. RWE und Preußenelektra waren hierzu unterschiedlicher Auffassung, was damit zu tun hatte, dass die Stromerzeugung bei beiden Unternehmen unterschiedlich stark von Kohle bzw. Kernenergie abhing. Die RWE hatten auf Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke gesetzt, und es war erst der RWE-Vorstand und ‚Atompapst‘ Heinrich Mandel, der die RWE auch kommerzielle Kernkraftwerke errichten ließ. Die norddeutschen Energieunternehmen dagegen hatten weit weniger Berührungsängste mit der Kernkraft. Vielmehr sahen sie in der Kernenergie eine Möglichkeit, sich den – durch die Nutzung der Braunkohle bedingten – niedrigen Strompreisen der rheinisch-westfälischen Konkurrenz anzunähern. Trotzdem konnte keines der Unternehmen auf einen bestimmten Kraftwerkstyp verzichten, da nur ein Mix eine wirtschaftliche Form der Versorgung gewährleistete. Kernenergie und Kohle boten sich gegenseitig auch ,Flankenschutz‘, indem durch den Jahrhundertvertrag die Zukunft beider Energieträger eng miteinander verflochten wurde. Der Steinkohlebergbau, und mit ihm eng verbunden die Gewerkschaft IGBE, setzte sich dabei ebenso entschieden für den „Konsens zwischen Kohle und Kernenergie“ ein wie die Stromwirtschaft. Dass dieser Konsens hinge-
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gen nicht so stabil war, wie dies in der Öffentlichkeit den Anschein hatte, belegen interne Dokumente. Die inhaltliche Schnittmenge war recht gering, was besonders durch die wachsende Rentabilität der Kernenergie seit Mitte der 1970er-Jahre verstärkt wurde: Beide Energieträger standen durchaus in einem gewissen Verdrängungswettbewerb zueinander. Zusammenfassend gesagt ist jedoch spätestens seit Ende der 1960er-Jahre ein Strukturbruch nicht gänzlich zu leugnen: Die Entdeckung der Energiefrage durch neue Akteure führte zu einem neuen gesellschaftlichen Bewusstsein bezüglich der Organisation der Energieversorgung. Die historische Wirklichkeit verlieh dieser Entwicklung durch die beiden Ölpreisschocks von 1973/74 und 1979 Nachdruck. Die Stromwirtschaft wurde zu einer Neukonzeptualisierung der Energiefrage und zur Überprüfung ihrer eigenen Positionen herausgefordert. In einigen Fällen kamen Impulse für neue Überlegungen sogar aus der Stromwirtschaft selbst. Dennoch haben die bisher kaum ausgewerteten Quellenbestände aus den 1980er-Jahren, wie auch die Interviews mit den Beteiligten aus Unternehmen und Politik, aufgedeckt, dass sich entscheidende Faktoren nicht änderten: Zum einen blieb der Ordnungsrahmen – und damit die Grundlage der Stromwirtschaft – im Wesentlichen erhalten. Zum anderen behaupteten die Energieversorgungsunternehmen ihre Monopolstellung auf dem deutschen Markt und konnten so ihre ökonomischen Interessen – trotz aller Auseinandersetzungen zwischen Kohle- und Kernenergieversorgern – stets gegenüber Dritten behaupten.
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Anhang
INTERVIEWS Budde, Hans-Jürgen Dr., 5. November 2009, Berlin Büdenbender, Ulrich Prof. Dr., 4. Februar 2010, Dresden Bund, Karlheinz Dr., 22. September 2008, Essen Cramer, Heinz, 16. Oktober 2008, Hannover Dotzenrath, Wolfgang, 4. März 2010, Düsseldorf Engelmann, Ulrich Dr., 5. Juni 2009, Bonn Fabian, Hans-Ulrich Dr., 29. Juni 2009, Hannover Gaul, Hans-Michael Dr., 9. Januar 2009, Düsseldorf Grawe, Joachim, 17. Dezember 2009, Leinfelden-Echterdingen/Stuttgart Häfele, Wolf Prof. Dr., 8. Juli 2008, Solingen Harig, Hans-Dieter, 20. November 2008, Hannover Hlubek, Werner Dr., 25. August 2009, Essen Holzer, Jochen Dr., 25. März 2009, München Kienle, Friedrich Dr., 28. Mai 2008, Berlin Knizia, Klaus Prof., 6. März 2008, Herdecke Kocks, Klaus Prof. Dr., 6. Februar 2009, Berlin Krämer, Hermann Dr., 8. Mai 2008, Hamburg-Seevetal Kuhnt, Dietmar Dr., 31. August 2009, Essen Lochner, Gerd Dr., 19. August 2009 Müller, Werner Dr., 4. Juni 2009, Essen Nicolai, Patricia, 4. November 2009, Berlin Rittstieg, Gerhard, 10. März 2009, Essen Schierenbeck, Heinz-Peter, 23. April 2009, Berlin Schmidt, Adolf, 7. März 2008, Wattenscheid Segatz, Ulrich Dr.-Ing., 9. Oktober 2008, Gehrden/Hannover Soltwisch, Alfred, 16. Dezember 2008, Lübeck-Travemünde Stoy, Bernd Dr., 24. August 2009, Ratingen Tegethoff, Wilm Dr., 21. Juli 2009, Berlin Timm, Manfred Dr., 16. Dezember 2008, Hamburg Traube, Klaus, 23. September 2008, Oberursel
ABKÜRZUNGEN Abb. AEC AEG AG AKW APuZ ARE AR-Protokolle BAnz BASF BDI BEWAG BGBl BHKW BImSchG BImSchV
Abbildung Atomenergiekommission Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft AG Aktiengesellschaft Atomkraftwerk Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgemeinschaft Regionaler Energieversorgungsunternehmen Aufsichtsratsprotokolle Bundesanzeiger Badische Anilin- & Soda-Fabrik Bundesverband der Deutschen Industrie Berliner Kraft- und Licht AG Bundesgesetzblatt Blockheizkraftwerk Bundes-Immissionsschutzgesetz Bundes-Immissionsschutzverordnung
Abkürzungen BIP BKB BMBW BMF BMFT BMU BMWi BRD BSP BT-Drucksache CDU DGB DIW DM DPRG DRS DST DVG EAM EdF EnWG EU EVS EVU EWAG EWG EWI EWT FIPACE GAU GfAVO GRS GVSt GW GWB GWh GWth GWU HEW Hg. HKR HTR ICI IEA IGBE IZE KKW kW kWh KWK MAGS
Bruttoinlandsprodukt Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Forschung und Technologie Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesministerium für Wirtschaft Bundesrepublik Deutschland Bruttosozialprodukt Bundestagsdrucksache Christlich Demokratische Union Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Deutsche Mark Deutsche Public Relations Gesellschaft Deutsche Risikostudie für Kernkraftwerke Deutscher Städtetag Deutsche Verbundgesellschaft Elektrizitäts-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland Kassel Électricité de France Energiewirtschaftsgesetz Europäische Union Energieversorgung Schwaben AG Energieversorgungsunternehmen Elektrowerk AG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Energiewirtschaftliches Institut Köln Energiewirtschaftliche Tagesfragen Fédération Internationale des Producteurs Autoconsommateurs Industriels d’Électricité Größter anzunehmender Unfall Großfeuerungsanlagenverordnung Gesellschaft für Reaktorsicherheit Gesamtverband des deutschen Steinkohlebergbaus Gigawatt = Milliarden Watt Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gigawattstunde = eine Milliarde Wattstunden Gigawatt Thermie Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hamburger Electricitäts-Werke AG Herausgeber Historisches Konzernarchiv RWE Hochtemperaturreaktor Imperial Chemical Industries Internationale Energieagentur Industriegewerkschaft Bergbau und Energie Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft Kernkraftwerk Kilowatt = 1000 Watt Kilowattstunde Kraft-Wärme-Kopplung Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen
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308 mg/m3 Mio. Mrd. MW NPL NRW NW NWK OECD ÖTV Pf PR PREAG Preussag AG PWA REA RUSA RWE RWKS SKE SNR 300 SPD STEAG t TA-Luft TWh TWS UCPTE UNIPEDE VDEW VDN VEA VEBA VEW VfZ VGB VIAG VIK VKU VSt VSWG WWA ZfE ZfK
Anhang Milligramm pro Kubikmeter Million Milliarde Megawatt = Million Watt Neue Politische Literatur Nordrhein-Westfalen Neckarwerke Elektrizitätsversorgungs-AG Nordwestdeutsche Kraftwerke AG Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gewerkschaft Öffentliche Dienste Transport und Verkehr Pfennig Public Relations Preußenelektra AG Preußische Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft Papierwerke Aschaffenburg Rauchgasentschwefelungsanlage Ruhrsammelschiene Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke AG Rheinisch-Westfälisches Kohlen-Syndikat Steinkohleeinheit Schneller Natriumgekühlter Reaktor Sozialdemokratische Partei Deutschlands Steinkohlen-Elektrizität AG Tonnen Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft Terawattstunde Technische Werke der Stadt Stuttgart AG Union pour la Coordination de la Production et du Transport de l’Électricité Union Internationale des Producteurs et Distributeurs d’Énergie Électrique Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke Verband der Netzbetreiber Bundesverband Energieabnehmer Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks AG Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen AG Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vereinigung der Großkesselbesitzer e. V. Vereinigte Industrieunternehmungen AG Vereinigung Industrielle Kraftwirtschaft Verband kommunaler Unternehmen Vereinigte Stahlwerke AG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Westfälisches Wirtschaftsarchiv Zeitschrift für Energiewirtschaft Zeitung für kommunale Wirtschaft
309
Abbildungen und Tabellen
ABBILDUNGEN UND TABELLEN
Abbildung 1: Schema des Elektrizitätsmarktes (ohne Deutsche Bundesbahn) Quelle: Gröner, Helmut, Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Baden-Baden 1975, S. 29
20 18
Prozentualer Anteil
16 14 12 10 8 6 4 2 0 1945
1950
1955
1960
1965
Jahr
1970
1975
1980
1985
Abbildung 2: Anteil der industriellen Eigenproduktion an der Bruttostromerzeugung in der BRD 1945–1990; Quelle: eigene Darstellung
1990
310
Anhang
Abbildung 3: Vertrauenswerbung im Wirkungskreislauf zwischen E-Werk und Öffentlichkeit Quelle: Freiberger, Heinrich, Der Betrieb von Elektrizitätswerken, Berlin 1961, S. 95
Abbildung 4: Autoaufkleber aus den 1980er-Jahren Quelle: Autoaufkleber, „Karawane der Kalauer“, http://einestages.spiegel.de abgerufen am 26. August 2014, http://www.w123-hannover.de/cgi-bin/sticker/PO_053.jpg
311
Abbildungen und Tabellen Tabelle 1: Zuwachsraten im Stromverbrauch (Jahresdurchschnittswerte) Zeitraum
Durchschnittliche Zuwachsrate
1950–1958
+ 11,7 %
1958–1966
+ 9,2 %
1966–1974
+ 8,2 %
1975–1980
+ 3,9 %
1980–1985
+ 1,9 %
1985–1990
+ 1,8 %
Quelle: Entsprechende Jg. von: VDEW, Die öffentliche Elektrizitätsversorgung, Frankfurt; BMWi, Statistischer Jahresbericht des Referats Elektrizitätswirtschaft im Bundeswirtschaftsministerium; VIK, Statistik der Energiewirtschaft, Essen
Tabelle 2: Gegenüberstellung der Stromverbrauchsentwicklung in verschiedenen Zeiträumen Zeitraum
Nettostromverbrauch in TWh
Anstieg in %
Mittlere Jahreszuwachsrate in %
1913–1930
2,8–15,9
468
27,5
1961–1974
82–282
244
18,8
1974–1987
282–380
34,8
2,7
Quelle: Röder, Peter, Zielkonflikte bei der Preisbildung in der Elektrizitätsversorgung, BadenBaden 1991, S. 72
Tabelle 3: SO2- und Nox-Emissionen aus den Kraftwerken der öffentlichen Versorgung in der BRD, 1982–1990 1982
1983
1984
1985
SO2
1.550
1.500
1.390
1.240
NOx
740
750
750
700
1986
1987
1988
1989
1990
1.150
980
380
180
200
650
580
510
380
240
1.000 t
Quelle: Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke, entsprechende Jg.
312
Anhang Tabelle 4: Entwicklung der Grenzwerte für SO2-Emissionen aus Kohlekraftwerken, BRD 1974–1983
Jahr
SO2-Emissionsgrenzwert
Anzuwenden ab MWth
Bemerkungen
1974
1.150 mg/m3
ca. 1.100
TA-Luft vom 28. August 1974; Steinkohleerlass NW vom 11. Juni 1974
1977
850 mg/m3
ca. 1.100
Steinkohleerlass NW vom 2. August 1977
1980
650 mg/m3
ca. 470
Beschluss der UMK vom 11./12. Februar 1980
1982
400 mg/m3
400
Beschluss der Bundesregierung 1. September 1982; Beschluss der UMK vom 12. November 1982
1983
400 mg/m3
> 400
2.000 mg/m3
200–400
Beschluss der Bundesregierung vom 23. Februar 1983 (Entwurf GfAVO) Grenzwerte Alt- und Neuanlagen
Quelle: Davids, Peter / Lange, Michael, Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, Düsseldorf 1984, S. 8
PERSONENREGISTER Albrecht, Ernst 198, 240 Arendt, Walter 89 Axmann, Helmut 152 Bangemann, Martin 105, 107 Baur, Jürgen 133 Bennigsen, Rudolf von 46 f., 64, 77, 93 f., 107, 175, 230, 257 f. Bentele, Günter 213 Birnbaum, Hans 174 Blüm, Norbert 108 Brandt, Heinz 251 Brandt, Willy 176 Breuel, Birgit 143 Brocke, Wolfgang 154, 158 Budde, Hans-Jürgen 161, 306 Büdenbender, Ulrich 134, 150, 154, 306 Bund, Karlheinz 103 f., 306 Busch, Julius 230 Cramer, Heinz 198, 306 Dotzenrath, Wolfgang 57 Drasen, Edmund 152, 157, 167, 173 Emmerich, Volker 132 f. Engelmann, Ulrich 34, 163, 230, 306 Eppler, Erhard 57, 59, 209, 232, 261 Erhard, Ludwig 40, 122 Fabian, Hans-Ulrich 306 Farthmann, Friedhelm 203, 230 Filbinger, Hans 40 Fischer, Joschka 198 f. Franke, Jürgen 77 Freiberger, Heinrich 145, 214–216, 228, 310 Gaul, Hans-Michael 99, 306 Genscher, Hans-Dietrich 185 Gieske, Friedhelm 88 Grawe, Joachim 106, 306 Großmann, Jürgen 161 Habermas, Jürgen 235 Häfele, Wolf 65, 209, 306 Harig, Hans-Dieter 306 Hartkopf, Günther 252 Hasselmann, Wilfried 200 Hauff, Volker 256 Haussmann, Helmut 106–109 Heidinger, Peter F. 106 Heineman, Dannie 24 Heitzer, Hans 57 Hlubek, Werner 200, 210, 306
Holzer, Jochen 106, 306 Horn, Heinz 253 Hundhausen, Carl 212 Jochimsen, Reimut 230 Jungk, Robert 29, 230 Kartte, Wolfgang 170 Keltsch, Erhard 45, 47, 86, 219, 226, 255 Kienle, Friedrich 306 Kirchner, Ulrich 248 Klätte, Günther 44–46, 54–56, 64–67, 76, 94, 126–129, 134, 152–159, 181 f., 244, 256 Klaue, Siegfried 167 Knizia, Klaus 12, 306 Kocks, Klaus 227, 306 Kohl, Helmut 107–109, 257 Korte, Friedrich Hermann 214, 218 Koselleck, Reinhard 52 Krämer, Hermann 108, 227, 230, 237, 306 Küchler, Leopold 175 Kuhnt, Dietmar 138, 153, 155, 164, 306 Lafontaine, Oskar 257 Lambsdorff, Otto Graf 44 f., 142, 148, 256 Leussink, Hans 177 f. Lilienfein, Heinz 226 Lochner, Gerd 306 Lovins, Amory B. 232–237 Ludwig, Wolfgang 138, 143 Lupberger, Bernd 49, 159 Magerl, Horst 137 f., 145, 306 Mandel, Heinrich 37, 58, 72–76, 88, 177, 249, 259, 268 Matthöfer, Hans 55, 66 Menne, Wilhelm Alexander 175 Meyer-Abich, Klaus Michael 232 Meysenburg, Helmut 73–75, 83, 152, 158 Mez, Lutz 230 Miller, Oskar von 32 Mohr, Hans 235 Müller, Werner 54–65, 244, 258, 306 Nicolai, Patricia 218, 306 Obernolte, Wolfgang 136 Oeckl, Albert 212 Oliven, Oskar 24 Rau, Johannes 92, 257 Reitz, Heribert 48, 195 Renn, Ortwin 243 f. Riemer, Horst Ludwig 78, 87, 91, 159
314 Rinke, Werner 42, 139, 142–146, 179, 203 Rittstieg, Gerhard 173, 230, 306 Ronneberger, Franz 212 Sahl, Wilhelm 176 Sammet, Klaus 179 f. Schaller, Alfred 252 Schierenbeck, Heinz-Peter 306 Schmidt, Adolf 89–91, 182, 251–256, 306 Schmidt, Helmut 43, 89–92, 252–261 Schmitz, Ronaldo 178 Schulten, Rudolf 248 Segatz, Ulrich 43, 48, 100, 190, 195, 255 Soltwisch, Alfred 306 Spalthoff, Franz-Josef 88, 203 Stoltenberg, Gerhard 72 f.
Anhang Stoy, Bernd 54, 58–61, 65, 244, 306 Tegethoff, Wilm 57, 132, 163, 169, 306 Thomas, Carmen 229 f. Tietmeyer, Hans 48, 64, 76 Timm, Manfred 306 Traube, Klaus 78, 230 Viefhues, Dieter 77 Viel, Georges 24 Vögler, Albert 161 Wagner, Kurt-Dieter 43 Waigel, Theo 108 Winnacker, Karl 175 Würzen, Dieter von 108 Zedtwitz-Arnim, Georg-Volkmar Graf 228
SACHREGISTER Abschaltvorrichtungen 193 Abwanderung der Industrie 48 Aktionskreis Leben 251 Akzeptanzverlust 17, 43, 100, 196, 231–246 Allensbach-Institut 225, 234 Altanlagen 71, 76, 187–203, 210 Altanlagenverordnung 194 f., 208 Aluminiumindustrie 7, 74, 86, 144 f., 166, 172, 180 Anschlusspflicht 12, 114 f., 152, 183 Benzinpreis 175 Bestandsschutz 67, 140, 260 Brennstoffkosten 78, 83, 153, 181, 197 Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) 16 f., 186–205 Bundeskartellamt 91, 137, 141, 146, 154, 161–173, 268 Buschhaus-Affäre 197 Calcium-Gips-Verfahren 203 Dampf 115,128, 167, 173–176, 187 Demarkation 11, 78, 100–109, 118–120, 123–147, 180, 267 Demonstrationsanlage 202, 208 Drittes Verstromungsgesetz 42, 84, 86, 96, 108 f., 192, 226 Durchleitung 16, 78, 109, 120–165, 174, 180–183, 267 Eigenerzeugung 15 f., 75, 113–133, 149–174, 183, 266 f. Einspeisung 16, 117–124, 129, 135, 146–172, 183, 268 Emissionsgrenzwert 187 f., 202, 312 Endlager Gorleben 209 Energieaufsichtsbehörde 159, 183 Energiebedarfskennziffer 48 Energiebedarfsprognosen 12–15, 25, 31–76, 100–102, 110–112 Energielücke 25, 38, 40, 57, 70, 76 Energiemangel 45, 50, 68, 190 Energiemix 8, 15, 31, 100, 182, 268 Energiewirtschaftsgesetz 12, 28, 45, 67, 114, 126, 136 f., 152 f., 173, 183, 199, 226
Enquete-Kommission 33, 36, 62, 240 Entschwefelungsanlage 189, 195, 198 f., 201, 204 Entsorgung 39, 70, 78, 174, 238, 240 f., 259 Entsorgungsproblem 33, 209, 219 f., 233 Europäisches Umweltbüro 190 Fehlplanung 34 Filteranlagen 191, 202 Forschungszentrum Jülich 59, 243, 248 Fossile Kraftwerke 12, 28, 35, 46, 187, 203, 232 Fusionskontrolle 166 GAU 223 Gemischte Kommission 15, 115–117, 147–171, 181, 267 f. Gemischtwirtschaftlichkeit 9, 27, 124, 211, 265 Genehmigungsverfahren 41–44, 77, 176, 191, 203 f., 211, 229, 237–239 Gewerkschaften 81 f., 91 f., 104–106, 182, 191, 246–260, 268 Grenzwerte 16, 186–206 Großfeuerungsanlagen 202, 205 Großfeuerungsanlagenverordnung (GfAVO) 180, 186–189, 193–195, 199, 202–205, 210, 245, 249 Heizöl 71, 82–85, 101, 192 Hochtemperaturreaktor 248 f., 256 Immissionsschutz 16 f., 186–205 Jahrhundertvertrag 46 f., 76, 80–112, 182, 248–268 Kartellverbot 166 Kernenergie – Einführung der 11, 70–80, 93,107, 175 f. – Gegner, siehe Umweltschutzbewegung – und Umwelt 188, 209, 250 Kernenergiekritik 17, 25, 33, 36, 221, 231–247 Kernkraftwerk – Biblis 177 – Brokdorf 49, 236, 246, 251
316
Anhang
– Grohnde 44, 78, 246 – Harrisburg 17, 101, 209, 225, 257 – Kalkar 241, 246, 260 – Ludwigshafen 175–178 – Mülheim-Kärlich 178 – Tschernobyl 17, 110, 225, 230–238, 257 f. – Wyhl 236 Kohleverstromung 46 f., 62, 79–112, 180, 191–194, 257–259 Kommission zur Reinhaltung der Luft 185 Konzessionsabgaben 9, 105, 118, 125, 130–147, 182, 238 Kraft-Wärme-Kopplung 113–115, 126–130, 142, 156 f., 168–172, 183, 205, 267 Kraftwerk – Borken 49, 197–199 – Buschhaus 188, 197 f. – Fortuna 201 – Frimmersdorf 202 – Goldenberg 201, 203 – Helmstedter Revier 192 – Heyden 44, 47, 78, 93 – Ibbenbüren 44, 87, 91–93 – Neurath 202 f. – Niederaußem 202 – Offleben 197 – Robert Frank 47 – Staudinger 47, 192, 199 – Voerde 44, 91–93, 191 f. Kraftwerksüberkapazitäten 44–46, 58, 67–69, 79, 93, 134 f., 194, 265 f. Krisenstab 228 Leistungsfähigkeit 188, 193 f., 200 Lex RWE 203 Luftreinhaltung 62, 185 f., 191, 210, 264 Mineralöl 56, 82, 85, 91, 95, 256 Mischpreisbildung 260 Missbrauchsaufsicht 105, 130–141,160–173 Nachrüstung 16, 179, 189, 192–208 Nachtspeicher 50 f., 57 Nassentschwefelungsverfahren 201 Öffentlichkeitsarbeit 17, 55, 169, 191, 207–239, 242–247, 256 Ökobewegung, siehe Umweltschutzbewegung Ölpreis 85, 97, 101, 06, 256 f., 263 Ölpreisschock 10–17, 28, 83 f., 90, 101, 106, 136, 256, 269
Parallelbetrieb 150, 155, 164 Parallelfahrentgelt 150, 167–173 Preisdifferenzierungsstrategie 75, 121, 151, 171, 266 Preisfindung 165, 171, 268 Primärenergie 7–11, 15, 35–49, 63–100, 124–126, 169, 183, 232, 255–260 Prognose, siehe Energiebedarfsprognose Public Relations, siehe Öffentlichkeitsarbeit Rasmussen-Report 222 f. Rat von Sachverständigen für Umweltfragen 154, 188, 206 Rauchgasentschwefelung 179, 185–210 Rauchgasentschwefelungsanlage (REA) siehe Entschwefelungsanlage REA Borken 199 Reservestrom 114, 122, 164, 183 Salzkohle 192 Saurer Regen 200, 206 Schadstofffilter 208 Schneller Brüter 39, 241 Schul- und Unterrichtsmaterialien 224 Schwefeldioxid – Emission 311 – Grenzwerte 187, 202 f., 249, 312 – Reduzierung 200, 207 f., 210 Stickstoffoxid – Emission 311 – Grenzwerte 187, 249 – Reduzierung 207 Sondervertragskunden 16, 87, 125, 144 f., 172 f., 183 Spitzenverbrauch 38 Standortfragen 40, 48, 83, 91, 93, 175–178, 199 Stromverbrauchsentwicklung 57, 311 Substitution 37, 49–57, 86, 98, 108, 130, 225, 256 Substitutionseffekt 51, 63, 95 TA-Luft 186 f., 190–196, 202, 205, 249, 312 Trocken-Additiv-Verfahren 201, 203 Übergangsenergie 230, 258 Überschussstrom 21, 122, 131–135, 148, 152–161, 169–173, 183, 267 f. Umrüstung, siehe Nachrüstung Umweltbelastung 71, 190 Umweltbewegung, siehe Umweltschutzbewegung Umweltbilanz 208 f.
Anhang Umweltpolitik 185 f., 196, 198, 204, 210 Umweltschutz 138, 190–209, 239, 250, 254 Umweltschutzbewegung 46, 65, 112, 196, 220–223, 226, 230–247 Umweltschutzgesetzgebung 92, 180–199, 205, 229, 245, 249 Umweltschutzkosten 189, 194 f., 210 Unbestimmte Rechtsbegriffe 188, 195 Unternehmenskommunikation 210, 213, 217, 264 Uran 7, 59, 78, 81, 93, 175
Verstromungsmenge 89, 96 f., 102, 108, 248, 257–259 Vertrauenswerbung 215–220, 229, 243, 245, 310 Vierte Kartellgesetznovelle 78, 137–139, 142–147, 158–160, 245 Voerde-Urteil 92, 191 f. Vollstrombezug 129
Versorgungspflicht 12, 114 f., 152, 183 Verstromungsgesetz 80–89, 94, 98, 259
Zusatzstrom 117, 131, 151, 164, 169 Zuwachsrate 37–39, 44–67, 79, 89–91, 111, 157, 266
Waldsterben 187, 206 f. Werbefilme 224
317
v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e
Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0846
226. Yaman Kouli Wissen und nach-industrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956 2014. 319 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10655-9 227. Rüdiger Gerlach Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich Das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre 2014. 457 S. mit 28 Abb. und 42 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10664-1 228. Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte 2014. 289 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10857-7 229. Günther Schulz (Hg.) Arm und Reich Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte 2015. 304 S. mit 18 Abb. und 15 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10693-1 230.1 Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit. Bd. 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810–1869) 2015. 395 S., geb. ISBN 978-3-515-10850-8 230.2 Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit. Bd. 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhundert (1810–1869) 2015. 482 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10911-6 231. Gabriela Signori (Hg.) Das Schuldbuch des Basler
232.
233.
234.
235. 236.
237.
238.
Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) 2014. 126 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10691-7 Petra Schulte / Peter Hesse (Hg.) Reichtum im späten Mittelalter Politische Theorie – Ethische Norm – Soziale Akzeptanz 2015. 254 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10943-7 Günther Schulz / Reinhold Reith (Hg.) Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? 2015. 274 S. mit 8 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11064-8 Nina Kleinöder Unternehmen und Sicherheit Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie nach 1945 2015. 384 S. mit 28 Abb. und 30 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11129-4 in Vorbereitung Christopher Landes Sozialreform in transnationaler Perspektive Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914) 2016. 386 S., kt. ISBN 978-3-515-11304-5 Wolfgang König Das Kondom Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart 2016. 233 S., kt. ISBN 978-3-515-11334-2 Janis Witowski Ehering und Eisenkette Lösegeld- und Mitgiftzahlungen im 12. und 13. Jahrhundert 2016. 340 S. mit 2 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11374-8
Die Energiewirtschaft hat in den vergangenen knapp 50 Jahren einen fundamentalen Transformationsprozess durchlaufen. Hendrik Ehrhardt untersucht in dieser Studie die Anfänge und Herausforderungen dieses Prozesses seit den 1970er Jahren anhand bisher nicht ausgewerteter Unternehmens- und Verbandsquellen. Für die Bereiche Energiebedarf, Industrie sowie Umwelt und Öffentlichkeit analysiert er das Handeln der Stromwirtschaft, das sich seit den 1970er Jahren zwischen Beharrungsvermögen und Veränderungsdruck bewegte.
Welche Entscheidungsspielräume hatten die Unternehmen in diesen drei Bereichen? Wie formte das Handeln der Energieversorger das deutsche Energiesystem? Und wie veränderte deren Handeln ihr Bild in der Öffentlichkeit? Diese Fragen nach dem Wandel in der Energiewirtschaft wurden bisher weder wissenschaftlich hinreichend untersucht, noch von den Akteuren selbst ausreichend reflektiert. Die Ergebnisse dieses Bandes leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Anfänge der Energiewende.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11624-4