Kulturelles Handeln | Macht | Mobil: Interdisziplinäre Studien zur gender- und musikbezogenen Mobilitätsforschung [1 ed.] 9783412526115, 9783412526092


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Kulturelles Handeln | Macht | Mobil: Interdisziplinäre Studien zur gender- und musikbezogenen Mobilitätsforschung [1 ed.]
 9783412526115, 9783412526092

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Maren Bagge, Nicole K. Strohmann (Hg.)

KULTURELLES HANDELN | MACHT | MOBIL Interdisziplinäre Studien zur gender- und musikbezogenen Mobilitätsforschung

MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Dorle Dracklé Florian Heesch Dagmar von Hoff Nina Noeske Carolin Stahrenberg Band 20

Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare M ­ usik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdiszipli­näre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissenschaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu­rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.

K U LT U R E L L E S H A N D E L N | MACHT | MOB IL Interdisziplinäre Studien zur gender- und ­musikbezogenen Mobilitätsforschung herausgegeben von Maren Bagge und Nicole K. Strohmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen (von oben nach unten): Abgebildet sind Ausschnitte der folgenden Quellen aus dem Archiv des Forschungszentrums Musik und Gender Hannover (fmg) To welcome mirth & harmless glee the favorite duett sung by Mrs. Bland & Miss Leak [um 1800], Foto: Karina Seefeldt, Rara/FMG NO Devonshire,G (21).1 Postkarte des 1. Harzer Damen-Orchesters, Dir. Herm. Ernst, Rara/FMG Postkarten.458 Auf der Reise. Gedicht v. Bechstein für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte componiert […] von Josephine Lang [ca. 1860], Foto: Anne Fiebig, Rara/FMG NO Lang, J (320).1 Lilli Lehmann als Irene in Richard Wagners Rienzi, aus: R. Wagners Frauengestalten. Neun Costümportraits berühmter Wagner-Sängerinnen in Lichtdrucken von Naumann & Schröder [1884], Rara/FMG Wagner,R.1 Brief der Sängerin Henriette Sontag an Monsieur du Plantis, Paris 1826, Rara/FMG Sontag,H.4 Visualisierung der Mobilität zweier Sammelalben, Abbildung mittels Palladio erstellt anhand der mit Ortsangaben versehenen Albumeinträge von Maren Bagge mit den Unterschriftenalben Rara/FMG Musikhandschriften.100 und Rara/FMG Musikhandschriften.101 Korrektorat: Julia M. Nauhaus, Lübeck Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52611-5

Inhalt

Maren Bagge (Hannover) und Nicole K. Strohmann (Hannover/Graz) Kulturelles Handeln | Macht | Mobil. Einführende Überlegungen zur ­ gender- und musikbezogenen M ­ obilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Mobilität | Reflexion | Erkenntnis Nicole K. Strohmann (Hannover/Graz) Musik | Gender | Mobilität. Grundlegende Überlegungen zur musikbezogenen ­Mobilitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Krista Warnke (Hamburg) Digitale Mobilität und Erkenntnisprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Bewegung, Flexibilität, andere Formen von Mobilität Berthold Over (Greifswald) Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit. Mobilität und Migration von Musikerinnen und Musikern in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Anja Herrmann (Bielefeld) Im Zug, im Kopf, im Text, im Bild. Oder: Was und wen Marie Bashkirtseff bewegte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Anna Ricke (Detmold/Paderborn) Flexibilitätsgeprägte Biografien als methodische ­Herausforderung. Das Beispiel der Musikerin Smaragda Eger-Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Lilli Mittner (Tromsø), Lena Haselmann-Kränzle (Weimar) und Janke Klok (Berlin/Groningen) Akademische Möglichkeitsräume im Spiegel k­ ulturellen Handelns norwegischer Künstlerinnen. Praktische und theoretische Perspektiven zur Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

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Inhalt

(Nationale) Rückbindungen mobiler Musiker*innen Sabine Meine (Köln) und Henrike Rost (Berlin) Zuhause im Europa des 19. Jahrhunderts. (Rück-)Bindungen mobiler Eliten durch Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gesa zur Nieden (Greifswald) Mobilität, Gesang, Klang. Sängerinnen mit deutschsprachiger Ausbildung in den Pariser Concerts Colonne um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Statuspassagen und Mobilität Susanne Rode-Breymann (Hannover) Statuspassagen in Lebensläufen von Frauen in der Frühen Neuzeit . . . . . 131 Katerina Piro (Mannheim) Ehe macht mobil. Bürgerliche Heirat, räumliche Mobilität und Geschlecht im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Viola Herbst (München) »Und so heißt es dann – aber das weiß eben noch ­niemand – wieder weiter ziehen.« Zur residentiellen Mobilität der Musikschriftstellerin Elise Polko (1823–1899) in ihrer Witwenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Orts- und Institutionenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Maren Bagge (Hannover) und Nicole K. Strohmann (Hannover/Graz)

Kulturelles Handeln | Macht | Mobil Einführende Überlegungen zur gender- und musikbezogenen ­Mobilität

Mobilität ist ubiquitär und Forschungen auf diesem Gebiet haben mittlerweile Einzug in sämtliche Wissenschaftsdisziplinen gehalten. War Mobilitätsforschung beziehungsweise das Forschungsfeld der Mobility Studies zunächst vor allem in den Sozialwissenschaften mit einem Fokus auf gegenwärtige Mo­bi­ lität(en) angesiedelt, so wenden sich in den letzten Jahren vermehrt auch kulturund geisteswissenschaftliche Disziplinen aktuellen und vergangenen (kulturellen) Mobilitäten zu.1 Beispielsweise wurde der Eintrag zum Schlagwort »Mobilität« in der Enzyklopädie der Neuzeit Online um Artikel zum Thema »Mobilität in den Künsten« zunächst zur Literatur (2017) und zuletzt zur Bildenden Kunst und Musik (beide 2020) ergänzt.2 Derzeit laufen zudem mehrere musikwissenschaftliche Projekte, bei denen die Kategorien »Mobilität« und/oder »Migration« im Zentrum stehen.3 Mobilität wird dabei in erster Linie als Bewegung im Raum (geografische Mobilität) sowie zwischen sozialen Schichten (soziale 1

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Siehe z. B. den im Rahmen der Forschungsplattform Mobile Kulturen und Gesellschaften. Interdisziplinäre Studien zu transnationalen Formationen entstandenen Sammelband Alexander Ganser und Annegret Pelz (Hrsg.), Mobile Kulturen und Gesellschaften/Mobile Cultures and Societies, Göttingen 2021 sowie die interdisziplinäre Publikationsreihe Vernetzen – Bewegen – Verorten, die sich der Bewegung von Menschen, Dingen und Praktiken in kulturellen Räumen widmet. Jan Lucassen und Leo Lucassen, Artikel »Mobilität«, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern hrsg. von Friedrich Jaeger, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_312393, abgerufen am 28.07.2022. Victoria Gutsche, Annette Kranen und Gesa zur Nieden, »Mobilität in den Künsten«, in: ebd., http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_397585, abgerufen am 28.07.2022. Siehe etwa das interdisziplinäre Projekt Music, Migration and Mobility: The Legacy of Migrant Musicians from Nazi-Europe in Britain (Ltg. Norbert Meyn, Royal College of Music London, Peter Adey, Royal Holloway University of London, Nils Grosch, Paris Lodron Universität Salzburg) sowie die interuniversitäre Forschungsinitiative Musik und Migration (www.musik-und-migration.at/en), aus der eine Publikationsreihe hervorgegangen ist. Vgl. Wolfgang Gratzer und Nils Grosch (Hrsg.), Musik und Migration (= Musik und Migration 1), Münster und New York 2018. Siehe auch die angekündigte Publikation Musik und Migration: Ein Theorie- und Methodenhandbuch. Bereits 2017 erschien zudem eine Ausgabe der Österreichischen Musikzeitschrift mit dem Themenschwerpunkt »Mobilität und Musik«.

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Maren Bagge, Nicole K. Strohmann

Mobilität) verstanden.4 In den Blick genommen werden (Wander-)Bewegungen und Migration von Personen, aber auch Bewegung, Zirkulation und Transfer von Objekten, Konzepten und Ideen.5 Da Mobilität stets an individuelle wie soziokulturelle und politische Prämissen geknüpft ist, eröffnet sich ein weites Feld an kulturwissenschaftlichen Analyseansätzen (Schlagworte: Gender Studies, Identitätstheorien, Biografieforschung, Raum-Konzepte, Machtdiskurse, Kultur­ theorien etc.). Zudem gilt es, Verflechtungen unterschiedlichster Art zu berücksichtigen, etwa den Zusammenhang von Bewegungsfähigkeit (Motilität) und der tatsächlich realisierten Mobilität oder etwa die Veränderung von Menschen, Objekten und Konzepten durch Mobilität. Augenfällig ist, dass verschiedene Vorstellungen, (soziale und mediale) Inszenierungen und Wertungen von Mobilität bestehen. Mobil zu sein bedeutet in der Regel, flexibel und anpassungsfähig zu agieren, und stellt ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften dar. Dabei findet Mobilität – sofern sie nicht erzwungen ist – überwiegend als positiv besetzter Begriff Verwendung, während Immobilität nicht selten mit Stillstand assoziiert und negativ konnotiert wird. Gleichzeitig sind mit Mobilität verbundene Prozesse stets als (ver)geschlechtlicht beziehungsweise vergeschlechtlichend zu begreifen. Nicht für jede oder jeden ist Mobilität in gleichem Maße möglich, da intersektionale In- und Exklusionsmechanismen vorliegen. (Im)Mobilität findet in Machtstrukturen statt und (re)produziert Ungleichheit in Bezug auf Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Alter, Nationalität, Sexualität etc., wie insbesondere in aktuelleren sozialwissenschaftlichen Studien mit einem Fokus auf gegenwärtigen Phänomenen untersucht wird.6 4 Mobilitätsforschung knüpft damit also (auch) an Raumforschung an. Raum wird über Bewegung erfahrbar, Bewegung (er)öffnet neue Räume, andere gehen verloren. 5 Siehe z. B. die Beiträge im Sammelband Annika McPherson, Barbara Paul, Sylvia Pritsch et al. (Hrsg.), Wanderungen. Migrationen und Transformationen aus geschlechtswissenschaftlicher Perspektive, Bielefeld 2013. Anknüpfend an den Begriff der kulturellen Mobilität werden u. a. musikalische Phänomene untersucht. Vgl. Stephen Greenblatt, Ines Županov, Reinhard Meyer-Kalkus et al., Cultural Mobility. A Manifesto, Cambridge 2010 sowie z. B. Marie-Anne Kohl, »Von Umm und umma. Kulturelle Mobilität am Beispiel Arabs Got Talent«, in: Musik und Migration (= Musik und Migration 1), hrsg. von Wolfgang Gratzer und Nils Grosch, Münster und New York 2018, S. 151– 165. 6 Siehe dazu Alexandra Ganser und Annegret Pelz, »Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptionalisieren«, in: Mobile Kulturen und Gesellschaften/Mobile Cultures and Societies, hrsg. von dens., Göttingen 2021, S. 9–31, hier: S. 18–20 und Petra Dannecker und Birgit Sauer, »Gender und Mobilität oder Mobilität und Gender? Programmatische Überlegungen zu einem komplexen Zusammenhang«, in: ebd., S.  87–102. Zum Zusammenhang von Mobilität und Geschlech­t(er­ zuschreibungen) siehe beispielsweise Bente Knoll, »Gender & Mobilität. Herausforderungen und Grenzen beim Messen des Unterwegs-Seins von Menschen aus Gender-Perspektive«, in: Gleichstel-

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Inwiefern spiegelt sich dies auch in individuellen Biografien kulturell handelnder Personen wider? Wie sahen und sehen Mobilitätsprozesse aus und wie äußert(e) sich die Notwendigkeit der Mobilität in bestimmten Statuspassagen? Wie beweg(t)en sich Personen als Akteur*innen in und zwischen verschiedenen kulturellen Handlungsfeldern? Inwiefern lässt sich von einer geschlechtsspezifischen Mobilität sprechen? Welche Veränderungen und Entwicklungen in den letzten Jahrhunderten lassen sich diesbezüglich feststellen? Welche Rolle spielt Mobilität für unser (kulturelles) Denken und Handeln als (Geistes- und Kultur-)Wissenschaftler*innen? Mit diesen einerseits epistemologisch ausgerichteten, andererseits auf breiter Quellenbasis und typologisch an Einzelbeispielen aufgezeigten Fragestellungen beschäftigt sich der vorliegende Band. Dieser Band ist Teil 1 der Printpublikationen, in denen Forschungsergebnisse zum Projekt Erschließen, Forschen, Vermitteln: Identität und Netzwerke / Mobilität und Kulturtransfer im musikbezogenen Handeln von Frauen zwischen 1800 und 2000 veröffentlicht werden. Dieses Projekt wurde im Oktober 2015 von Maren Bagge, Anne Fiebig, Viola Herbst, Susanne Rode-Breymann, Nicole K. Strohmann (wissenschaftliche Leitung) und Katharina Talkner in der Programmlinie »Stärkung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und des wissenschaftlichen Diskurses in Niedersachsen; Kulturelles Erbe – Sammlungen und ­O bjekte« von PRO*Niedersachsen beantragt und vom 1. Oktober 2016 bis 30. September 2019 gefördert. Das Projekt, das aus eigenen Mitteln des Forschungszentrums Musik und Gender (fmg) an der Hochschule für Musik, ­Theater und Medien bis jetzt fortgesetzt wird, verbindet eine detaillierte wissenschaftlich-formale Erschließung der Sammlung mit der quellenbasierten Erforschung der kulturellen Teilhabe von Frauen in Europa zwischen 1800 und 2000 unter den Parametern Identität und Netzwerk, Mobilität und Kulturtransfer. Zu Mobilität fanden 2017 drei interdisziplinäre Veranstaltungen statt: Unter Leitung von Maren Bagge und Viola Herbst thematisierte der 7. Workshop des interdisziplinären Arbeitskreises Biografie und Geschlecht am 9. und 10. Juni 2017 das Thema Biographie – Geschlecht – Mobilität. Auf diesen Workshop gehen die hier publizierten Beiträge von Viola Herbst, Anja Herrmann, Katerina Piro, Anna Ricke und Susanne Rode-Breymann zurück. Das von Nicole K. Strohmann und Susanne Rode-Breymann geleitete Symposium der Fachgruppe Frauen- und Genderstudien im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für lung messbar machen: Grundlagen und Anwendungen von Gender- und Gleichstellungsindikatoren, hrsg. von Angela Wroblewski, Udo Kelle und Florian Reith, Wiesbaden 2017, S. 129–148 sowie Elina Penttinen und Anitta Kynsilehto, Gender and mobility: a critical introduction, London und New York 2017.

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Musikforschung stand im September an der Universität Kassel unter dem Titel Musik – Gender – Mobilität und bot dem fmg-Projektteam die Gelegenheit, erste Forschungsergebnisse öffentlich zu präsentieren und zu diskutieren. Die Beiträge von Sabine Meine und Henrike Rost, Berthold Over, Nicole K. Strohmann und Gesa zur Nieden entstanden für dieses Symposium. Am 5. und 6. Oktober 2017 folgte einer der Expert*innenworkshops im Rahmen des Forschungsprojekts (ebenfalls zum Thema »Mobilität«) im fmg. Die hier publizierten Beiträge von Krista Warnke sowie Lilli Mittner, Lena Haselmann-Kränzle und Janke Klok nahmen von diesem Expert*innenworkshop ihren Ausgang und wurden zum Teil (insbesondere der Beitrag von Lilli Mittner, Lena Haselmann-Kränzle und Janke Klok) erheblich fortgeschrieben. Von der Antragstellung 2015 über das Jahr der Tagungen und Workshops zur Mobilität 2017 bis zur Publikation 2023 sind mehr Jahre ins Land gegangen als üblich. Dies ist der Pandemie mit dem vollkommenen Aussetzen von körper­ lichem Mobilsein geschuldet. Diese Welterfahrung klingt in einigen Beiträgen an oder wird, etwa von Krista Warnke, thematisiert und durchdacht. Lebenswege und Wege des Forschens (vgl. dazu Lilli Mittner, Lena Haselmann-Kränzle und Janke Klok) änderten sich in dieser Zeit, so dass nur ein Teil der Beiträge aus den drei Veranstaltungen 2017 in den vorliegenden Band Eingang fanden: Er versammelt Beiträge, die unter der übergeordneten Trias »(Musik-)Kulturelles Handeln, Gender und Mobilität« zusammengefasst werden können. Sie beschäftigen sich mit vielfältigen Formen, Entwürfen und Repräsentationen von Mobilität aus verschiedenen Perspektiven. So nimmt der Band neben der räumlich-geografischen Mobilität auch soziale und mentale Formen in den Blick und präsentiert neben Studien aus der Musikwissenschaft auch solche aus den Literatur-, Kunst- und Geschichtswissenschaften. Anhand zahlreicher Originalquellen analysieren die Aufsätze exemplarisch unterschiedliche Mobilitätsformen von (musik-)kulturell handelnden Personen des 17. bis 21. Jahrhunderts. Zudem werden epistemologische Fragen artikuliert und dabei die ursprünglich vorwiegend in den Sozialwissenschaften angesiedelte Mobilitätsforschung auf geistesund kulturwissenschaftliche Fächer übertragen. Eröffnet wird der Band mit zwei Textbeiträgen in der Sektion »Mobilität – Reflexion – Erkenntnis«, die sich der (musikbezogenen) Mobilitätsforschung und Erkenntnisprozessen im Zusammenhang mit Mobilität widmen. Der Grundlagentext von Nicole K. Strohmann verfolgt das Ziel, die Relevanz der Kategorie »Mobilität« und Mobilitätsforschung für die historische Musikwissenschaft auszuloten. Ausgehend von einem Forschungsüberblick zur historischen und musikbezogenen Migrationsforschung, konturiert er die Termini »Migration« und »Mobilität« und verbindet sie mit musikspezifischen Phänomenen. Es werden Forschungsperspektiven diskutiert, die an den Schnittstellen

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beziehungsweise im ›Zusammen-denken‹ von »Musik«, »Gender« und »Mobilität« entstehen. Dabei plädiert die Autorin für die Verwendung des Begriffes »Mobilität«, da er räumlich-geografische Mobilität (Reisen von Musiker*innen) ebenso inkludiert wie eine Mobilität im sozialen, kulturellen und mentalen Sinne. Krista Warnke widmet sich in ihrem Text den Zusammenhängen zwischen digitaler Mobilität und Erkenntnisprozess. Wie kommen wir zu Erkenntnis? Wie unterscheiden sich analoge und digitale Erfahrung? Und welche Wirkungen hat Mobilität auf den Erkenntnisprozess? Warnke arbeitet mit einem mehrdimensionalen Mobilitätsbegriff, der nicht nur lokale Bewegung im Raum erfasst, sondern auch extensiv unter kognitivem und psychosozialem Blickwinkel zu verstehen ist. Ihre Definition von Mobilität umfasst demnach den Wechsel zwischen Orten und Positionen in geografischen, kognitiven, physischen, psychischen, sozialen und virtuellen Räumen. Die anschließenden vier Texte thematisieren anhand unterschiedlicher Fallbeispiele verschiedene Formen von Mobilität (Bewegung, Flexibilität und andere Formen). Berthold Over untersucht die Mobilität und Migration von ­Musikerinnen und Musikern in der Frühen Neuzeit und extrahiert kollektiv­ biografisch Typen, die exemplarisch die Bandbreite von Migration und Mobilität aufzeigen. Anders als in der heutigen Wahrnehmung einer eher statischen Gesellschaft gehörten Migration und Mobilität zur Lebenswirklichkeit des frühneuzeitlichen Europas dazu. Auch wird am Beispiel des Münchner Hofes manifest, dass bestimmte Rahmenbedingungen Migration und Mobilität verhindern können. Die geografische Mobilität war ein zentrales Moment im Leben der russischen Künstlerin und Tagebuchautorin Marie Bashkirtseff. Anja Herrmanns Beitrag behandelt ihre europaweiten Reisen und Wohnortwechsel, die sie nach Öster­reich, Spanien, Deutschland, in die Schweiz sowie in ihre Wahlheimat Frankreich führten. Bewegungsfreiheit und das damit imaginierte unbeobachtete Beobachten des Großstadttreibens (v)erklärt Bashkirtseff als Voraussetzung von Kunstschaffen. Herrmann lotet am Beispiel dieser Künstlerin Potenziale und Grenzen von Mobilität aus und analysiert dabei die überlieferten Quellen wie Bashkirtseffs Tagebuch, ihre künstlerischen Arbeiten, ihre Briefwechsel und Fotografien als Erinnerungs- und Selbstermächtigungsprojekt. Anna Ricke widmet sich am Beispiel der Pianistin und Korrepetitorin Smaragda Eger-Berg flexibilitätsgeprägten Biografien und diskutiert an dieser Form von Mobilität die mit ihr verknüpften methodischen Herausforderungen. Bleibt Eger-Bergs geografische Mobilität überschaubar, so zeigt sie sich beruflich umso mobiler: Sie changierte zwischen verschiedenen Gattungen (ihr Repertoire war vergleichsweise breit), und in Krisenzeiten ab Mitte der 1930er-Jahre war ihre

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musikbezogene Mobilität geradezu existenziell. Musikhistoriografisch indes wurde ihr diese Flexibilität zum Verhängnis: Gemäß der zu ihrer Zeit in der Biografieschreibung idealisierten kohärenten Lebenserzählung passte Eger-Berg mit ihrem nicht geradlinigen Karriereweg nicht in die ›Normalbiografie‹. Damit werden in diesem Beitrag auch momentbezogenes musikkulturelles Handeln und Musikhistoriografie problematisiert. Lilli Mittner, Lena Haselmann-Kränzle und Janke Klok nähern sich dem Thema »Mobilität« aus verschiedenen Perspektiven. Sie stellen einerseits ihr Projekt zur Mobilität von norwegischen Musikerinnen, Schriftstellerinnen und bildenden Künstlerinnen und deren Verhältnis zu Berlin als »Ort der Moderne« im 19. Jahrhundert vor. Quellenbasiert erörtern sie etwa Fragen nach der Motivation für die geografische Mobilität und entwickeln den Begriff »Dramatische Montage« für eine Art von mehrdimensionaler biografischer Methode. Andererseits reflektieren sie das kollaborative Arbeiten und den kreativ-produktiven akademischen Austausch zur Wissensgenerierung im digitalen 21. Jahrhundert am Beispiel ihrer interdisziplinären (Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Musikpraxis) und internationalen (Norwegen, Deutschland, Niederlande) Forschungsgruppe RESCAPE, wobei Mobilität in diesem Kontext als »Denken in Bewegung« verstanden wird. Beiden Gruppen – den kulturell Handelnden im 19. Jahrhundert wie auch dem Wissenschaftlerinnen-Künstlerinnen-Kollektiv des 21. Jahrhunderts – ist gemein, dass sie sich neue Räume und Formen von Mobilität erschlossen, um ihre je spezifischen musik- und kunstbezogenen Handlungsräume auszuschöpfen. Dabei wurde damals wie heute Mobilität als Beschleunigung erfahren. Um (nationale) Rückbindungen mobiler Musiker*innen geht es in den beiden Texten von Sabine Meine und Henrike Rost sowie von Gesa zur Nieden. Dass geografische Mobilität nicht zwangsläufig neue musikalische Horizonte eröffnet, sondern auch vom Wunsch getragen sein kann, in der Fremde vertraute Musik zu erleben, zeigen Sabine Meine und Henrike Rost am Beispiel der römischen Salons von Natalia Obreskov, Nadine Helbig und Marie von Hatzfeldt, die die Autorinnen als Orte der (Rück-)Bindungen mobiler Eliten im 19. Jahrhundert deuten. Mit Maria Szymanowska und Wilhelmine Schröder-Devrient werden zudem zwei professionelle Musikerinnen einbezogen. Ihr Wirken ist dokumentiert in Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungsliteratur und in Stammbüchern respektive Albumeinträgen, deren Potenziale Meine und Rost für die Musikgeschichtsschreibung exemplarisch aufzeigen. Eine geografische wie künstlerische Mobilität lässt sich auch den Sängerinnen mit deutscher Ausbildung zuschreiben, die in den Pariser Concerts Colonne um 1900 auftraten. Gesa zur Nieden geht in ihrem Aufsatz der Frage nach, in welchem Verhältnis die oftmals von Wien ausgehenden Karrieren der Sängerin-

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nen Elise Kutscherra, Henriette Mottl-Standhartner, Pauline Strauss-De Ahna, Lilli Lehmann, Emmy Destinn, Ernestine Schumann-Heink, Ida Paulina Ekman, Felicie Kaschowska, Martha Leffler-Burckard, Marie Wittich und Lula Mysz-Gmeiner und ihre internationale Mobilität zu den Rezeptionsbedingungen der Pariser Sinfonieorchester standen, da jene Programme entsprechend den Idealen der Dritten Republik auf »popularisation de la musique« zielten. Zur Nieden zeigt anhand einer exemplarischen Analyse des Repertoires der Pariser Concerts Colonne im Zeitraum von 1874 bis 1914 sowie der zeitgenössischen Presse, wie eng gender-spezifische Beurteilungen des Stimmklangs der deutschsprachigen Sängerinnen und ihre Einordnung in politisch tragbare Repertoireerweiterungen mit der Rezeption gerade auch des instrumentalen Konzertrepertoires verbunden waren. Die letzten drei Beiträge des Bandes lassen sich unter der Überschrift »Status­ passagen und Mobilität« zusammenfassen. Susanne Rode-Breymann fragt nach Unterschieden von männlicher und weiblicher Mobilität in der Frühen Neuzeit. Anhand der Betrachtung von Statuspassagen in Lebensläufen von adeligen Frauen im 17.  Jahrhundert arbeitet sie verschiedene Formen geschlechtsspe­ zifischer frühneuzeitlicher Mobilität heraus und untersucht zudem mit den Übergängen einhergehendes musikkulturelles Handeln sowie anlassbezogene Gelegenheitskompositionen wie etwa Funeralkompositionen. Als zentrale Statuspassagen wählt sie für ihre Ausführungen die Heirat, den Eintritt in den Witwenstand sowie das Sterben von Familienangehörigen, die jeweils in unterschiedlicher Weise mit Mobilität verbunden sind. Die Statuspassage der bürgerlichen Heirat nimmt Katerina Piro aus Sicht der historischen Familien- oder Eheforschung in den Blick. Unter der Fragestellung, wie die heiratsbedingte Mobilität von Männern und Frauen im 19. Jahrhundert erlebt und beschrieben wurde und welche Handlungsspielräume sich beiden Geschlechtern eröffneten, lotet Piro die räumliche Mobilität am Beispiel von vier bürgerlichen Eheschließungen aus und beleuchtet ausgehend von Ego-Dokumenten (Tagebücher und Briefe) insbesondere gender-spezifische Ähnlichkeiten oder Unterschiede in der kurzen, aber äußerst mobilen Zeitspanne zwischen Verlobung und Heirat. Mit Einsetzen der Witwenschaft – einer weiteren Statuspassage – beginnt eine hohe geografische Mobilität der Musikschriftstellerin Elise Polko. Mit dem Tod ihres Ehemanns verliert sie die gemeinsame Dienstwohnung. Es folgen bis zu ihrem Tod mehrere Wohnortwechsel, die Viola Herbst nachzeichnet. Polko selbst, so zeigen ihre Briefe, empfand die mit ihrer Witwenschaft verbundene Entscheidungsfreiheit über ihre geografischen Ortswechsel durchaus als Privileg. Der Dank der Herausgeberinnen gilt zuvorderst den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die die Kategorie »Mobilität« auf ihr Forschungsthema trans-

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feriert haben und auf diese Weise die oben genannten Veranstaltungen in jeder Hinsicht bereichert sowie ihre Beiträge für die hier vorliegende Schriftfassung überarbeitet haben. Jan-Gideon Schulze danken wir sehr herzlich für die sorgfältige redaktionelle Unterstützung und die Erstellung des Registers, bei der auch Janica Dittmann dankenswerter Weise mitgearbeitet hat. Susanne RodeBreymann sei herzlich für ihre stets wohlwollende und geduldige Begleitung während des Entstehungsprozesses sowie für wertvolle inhaltliche Impulse und ihre aufmerksame Lektüre gedankt. Ebenso sehr möchten wir dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der Mariann Steegmann Foundation für die finanzielle Unterstützung des Forschungsprojekts und der in Verbindung damit durchgeführten eingangs genannten Veranstaltungen danken. Nicht zuletzt gebührt unser Dank den Herausgeber*innen von Musik – Kultur – Gender für die Aufnahme dieses Bandes in ihre Reihe, in welcher er thematisch bestens aufgehoben ist. Für die kompetente Betreuung während der Druck­ legung sei dem Böhlau-Verlag, hier insbesondere Pascale Mannert, Julia M. Nauhaus und Laura Röthele, herzlich gedankt. Hannover, im Juli 2022 Die Herausgeberinnen

Mobilität | Reflexion | Erkenntnis

Nicole K. Strohmann (Hannover/Graz)

Musik | Gender | Mobilität Grundlegende Überlegungen zur musikbezogenen ­Mobilitätsforschung

Bis zur Covid-19-Pandemie, die die Welt zum Stillstand zwang, dominierte ein kollektives Gefühl des ›Ständig-in-Bewegung-seins‹, welches Zygmunt Bauman auf die Formel »nowadays we are all on the move«1 brachte. In direkter Anknüpfung an die cultural turns2 der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften proklamierten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen 2006 den mobility turn und novellierten somit die Art und Weise, wie man Mobilität denkt.3 Seit dieser Zeit wenden sich vermehrt auch die geistes- und kulturwissenschaftlichen ­Disziplinen dem Themenkomplex »Mobilität« zu. Ziel der vorliegenden Ausführungen ist es, die Kategorien »Musik«, »Gender« und »Mobilität« zusammenzudenken und die daraus für das Fach Musikwissenschaft erwachsenden Forschungsperspektiven und Herausforderungen zu diskutieren. Angestrebt ist ein ›Sichtbarmachen‹ der Korrelation von Gender und Mobilität im musikbezogenen Handeln von Musikerinnen und Musikern.4

1 Zygmunt Bauman, Globalization. The Human Consequences, Cambridge 1998, S. 77. 2 Erste Neuorientierungen in den Geisteswissenschaften gehen von anglo-amerikanischen Wissenschaftlern (u. a. von dem Kulturanthropologen Clifford Geertz) aus und reichen in die 1960er- und 1970er-Jahre zurück. Einen umfassenden Überblick über diese ›Wenden‹ liefert u. a. Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2014. 3 So u. a. John Urry, Mobilities, New York 2007 und Kevin Hannam, Mimi Sheller und John Urry, »Editorial: Mobilities, Immobilities and Moorings«, in: Mobilities 1 (2006) 1, S. 1–22. 4 Musikerinnen und Musiker werden im vorliegenden Aufsatz im denkbar weitesten Sinne verstanden und inkludieren sämtliche künstlerische Berufssparten: Komponist*innen, Regisseur*innen, Choreograf*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen, Schauspieler*innen, Musikmäzen*innen etc. Für den anregenden Gedankenaustausch zum Thema »Mobilität« danke ich sehr herzlich Susanne Rode-Breymann sowie den Diskutant*innen des Workshops »Musik – Gender – Mobilität«, der im Rahmen des Forschungsprojektes Erschließen, Forschen, Vermitteln: Identität und Netzwerke, Mobilität und Kulturtransfer im musikbezogenen Handeln von Frauen zwischen 1800 und 2000 im Oktober 2017 am Forschungszentrum Musik und Gender in Hannover unter meiner Leitung stattfand.

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Nicole K. Strohmann

Zur Migrations- und Mobilitätsforschung: Ein Überblick

Die zunächst stark sozialhistorisch geprägte und auf Integrationsprozesse blickende historische Migrationsforschung entwickelte sich zu einem integrativen Teilbereich der Geschichtswissenschaft, insbesondere zahlreicher National- aber auch moderner Globalgeschichten.5 Nach zahlreichen Einzelstudien entstanden seit dem ersten Dezennium des neuen Jahrtausends erste Großdarstellungen, die sich vor allem mit Bewegung als omnipräsenten historischen Phänomen beschäftigten. Paradigmatisch sei die von Klaus J. Bade herausgegebene Enzyklopädie Migration in Europa: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart genannt.6 So sind in den letzten Jahren zahlreiche Sammelbände, zunehmend auch deutschsprachige erschienen, die sich explizit inter- und transdisziplinär mit mobilities beziehungsweise Mobilitäten beschäftigen.7 Noch 1995 schien der Begriff offenbar wenig erklärungsbedürftig zu sein, denn das Lexikon zur Soziologie8, also der Wissenschaftszweig, in dem Mobilitäten seit jeher stark beforscht wurden, wies keinen eigenen Eintrag zu »Mobilität« auf. Lediglich mit 16 Komposita wurde versucht, dem Begriff »Mobilität« etwas mehr Kontur zu verleihen. Dies hat sich zwischenzeitlich grundlegend geändert: In den allgemeinen Nachschlagewerken wird Mobilität abgeleitet vom lat. Begriff »mobilitas« häufig als »Bewegung« oder »Beweglichkeit« definiert. Diese wird dann geknüpft an Menschen, Güter und Dienstleistungen im sozialökonomischen Alltagsleben. Dominierend sind Definitionen aus den Disziplinen, in denen Mobilität klassischerweise beforscht wird, wie in der Finanzwirtschaft und Ökonomie, die sich mit der Zirkulation von Werten und Waren beschäftigen, den Verkehrswissenschaften, deren Erkenntnisziele in der transporttechnischen Erschließung von Distanzen und in Erreichbarkeitsoptimierungen liegen, der Migrations- oder Tourismusforschung sowie der Medizin, in der der Terminus technicus der »Motilität« das Artikulationspotential des körperlichen Bewegungsapparates bezeichnet. Mobilitäten können demnach zunächst einmal alles sein, was je nach Perspektive als Bewegung, Veränderung oder Wandlungsfähigkeit auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene wahrgenommen wird. 5

Einführend siehe u. a. Jan Lucassen und Leo Lucassen (Hrsg.), Migration, Migration History, History: Old Paradigms and New Perspectives, Bern 2005; Patrick Manning, Migration in World History, New York 2005; Jochen Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt 2017. 6 Klaus J. Bade (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. unveränd. Aufl., Paderborn 2008. 7 Reinhard Johler, Max Matter und Sabine Zinn-Thomas (Hrsg.), Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung, Münster, New York, München et al. 2011. 8 Werner Fuchs-Heinritz (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, 3. völlig neu bearb. und erw. Aufl., durchges. Nachdr. Opladen 1995.

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In der Musikwissenschaft haben sich Musikhistorikerinnen und Musikhistoriker reisenden Musikerinnen und Musikern oder Transferprozessen von Musik gewidmet, allerdings Mobilität nicht immer explizit zur Analysekategorie ihrer Studien erhoben. Einen wichtigen Impuls für die deutschsprachige Musikwissenschaft setzte der mehrsprachige, 2003 von Christian Meyer herausgegebene Band Le musicien et ses voyages: pratiques, réseaux et représentations.9 Dass das Thema auch hinsichtlich der damit einhergehenden musikalischen Transferprozesse von Relevanz ist, zeigt etwa die Dissertation »How chances it they travel?« Englische Musiker in Dänemark und Norddeutschland 1579–1630 von Arne ­Spohr.10 Das Thema »Mobilität und Migration« wurde 2010 im Rahmen einer Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung in einem Symposium unter dem Titel Mobilität und musikalischer Wandel. Musik und Musikforschung im internationalen Kontext aufgegriffen und diskutiert, woraus dann unter Berücksichtigung einiger weiterer Beiträge der von Silke Leopold und Sabine EhrmannHerfort herausgegebene Band Migration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der Musikgeschichte11 entstand. In ihren Überlegungen zur Musikwissenschaft und Migrationsforschung verweist Silke Leopold auf die Problematik, dass Komponisten und Komponistinnen, die sich nicht eindeutig »nationalen oder konfessionellen Zuständigkeitsbereichen« zuordnen ließen, lange durch das Raster der nationalen Musikgeschichtsschreibung fielen.12 Sie plädiert dafür, zukünftig »den Migranten unter den Komponisten größere Aufmerksamkeit [zu] schenken« und das »Migrantendasein nicht als defizitär, sondern als musikalische Identität zu begreifen«.13 Nur ein Jahr später, 2011, folgten gleich drei Aufsatzsammlungen, die sich Reisen von Musikerinnen und Musikern widmeten: der von Christoph-Hellmut Mahling herausgegebene Band Musiker auf Reisen: Beiträge zum Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert14, die von Ulrich Bartels herausgegebene Schriftensammlung Der Musiker und seine Reisen15 sowie die von Freia Hoffmann herausgegebenen Reiseberichte von Musikerinnen des   9 Christian Meyer (Hrsg.), Le musicien et ses voyages: pratiques, réseaux et représentations (= Musical Life in Europe 1600–1900: circulation, institutions, representation), Berlin 2003. 10 Arne Spohr, »How chances it they travel?« Englische Musiker in Dänemark und Norddeutschland 1579–1630 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 45), Wiesbaden 2009. 11 Sabine Ehrmann-Herfort und Silke Leopold (Hrsg.), Migration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der Musikgeschichte (= Analecta musicologica 49), Kassel, Basel, London et al. 2013. 12 Silke Leopold, »Musikwissenschaft und Migrationsforschung. Einige grundsätzliche Überlegungen«, in: ebd., S. 30–39, hier: S. 36. 13 Ebd., S. 38 und S. 39. 14 Christoph-Hellmut Mahling (Hrsg.), Musiker auf Reisen. Beiträge zum Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert, Augsburg 2011. 15 Ulrich Bartels (Hrsg.), Der Musiker und seine Reisen, Hildesheim, Zürich und New York 2011.

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19. Jahrhunderts16. Desgleichen standen europäische Musikerinnen und Musiker, ihre Motive für Reisen, ihr künstlerisches Schaffen sowie ihr Austausch im 17. und 18. Jahrhundert im Zentrum des Projektes »Musicisti europei a Venezia, Roma e Napoli (1650–1750)«17 unter der Leitung von Anne-Madeleine Goulet und Gesa zur Nieden. Auf europäischer Ebene setzt das internationale HERAProjekt Music Migrations in the Early Modern Age: the Meeting of the European East, West and South (MusMig) unter der Leitung von Vjera Katalinić (Zagreb) Maßstäbe.18 Frühneuzeitliche Musik und Mobilität sowie deren Potential für Kulturaustausch werden ferner in dem Konferenzband Musik und Vergnügen am Hohen Ufer19 sowie in der Habilitationsschrift der Autorin20 in den Blick genommen, in deren Fokus die Beziehungen zwischen Venedig und europäischen Zentren nördlich der Alpen stehen und in diesem Zusammenhang auch generell die Bedeutung von Adels-Mobilität gewürdigt wird. Im Oktober 2016 stellte die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft das Thema Musik und Migration auf ihr Programm. Die Schriftfassung der Beiträge ist unter dem modifizierten Titel Mobilität und Musik21 in der Österreichischen Musikzeitschrift erschienen. Könnten an dieser Stelle noch weitere Projekte und Publikationen genannt werden, so wird erstens ersichtlich, dass in den genannten Publikationen Mobilität zumeist im Sinne einer geografischen Ortsveränderung verstanden wird und zweitens, dass die deutschsprachige Musikforschung seit geraumer Zeit musikbezogenen Migrationsphänomenen eine musikhistorio­ grafische Bedeutung beimisst. 16 Freia Hoffmann (Hrsg.), Reiseberichte von Musikerinnen des 19. Jahrhunderts: Quellentexte, Biographien und Kommentare, Hildesheim, Zürich und New York 2011. 17 Neben der Printpublikation Anne-Madeleine Goulet und Gesa zur Nieden (Hrsg.), Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel (1650–1750) (= Analecta musicologica 52), Kassel, Basel, London et al. 2015 ging aus dem Projekt eine Datenbank hervor: http://www.musici.eu/index.php?id=3, abgerufen am 26.07.2022. 18 Erste Forschungsergebnisse wurden auf einem Projektsymposium im Jahre 2014 präsentiert und unter Hinzunahme weiterer Aufsätze publiziert in Gesa zur Nieden und Berthold Over (Hrsg.), Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges, Bielefeld 2016; siehe hierzu auch Berthold Over und Torsten Roeder, »MUSICI und MusMig. Kontinuitäten und Diskontinuitäten«, in: Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities, hrsg. von Constanze Baum und Thomas Stäcker 2015 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften 1), http://www.zfdg.de/sb001_017, abgerufen am 26.07.2022. 19 Sabine Meine, Nicole K. Strohmann und Tobias C. Weißmann (Hrsg.), Musik und Vergnügen am Hohen Ufer. Fest- und Kulturtransfer zwischen Hannover und Venedig in der Frühen Neuzeit, Regensburg 2016. 20 Nicole K. Strohmann, Europäische Musik- und Festkultur in Hannover: Höfische Mobilität, Identität und Kulturtransfer unter Herzog Ernst August und Sophie von der Pfalz, Stuttgart (Druck in Vorb.). 21 Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (Hrsg.), Österreichische Musikzeitschrift: Mobilität und Musik 72 (2017) 2.

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Dies gilt nicht uneingeschränkt für den Konnex »Gender« und »Migration«: Während die englischsprachige Forschung jene Verschränkung vergleichsweise früh in den Blick nahm – erste Studien entstanden bereits in den frühen 1970erJahren wie die Herausgeberinnen des im Jahr 2000 erschienen voluminösen Bandes Gender and Migration22, der den Forschungsstand jener Schnittstelle gewissermaßen zur Jahrtausendwende bündelt, berichten – zog die deutschsprachige Literatur 2012 mit einer allgemeinen Einführung in die historische Migra­tionsforschung nach, in der die Autorin Sylvia Hahn die Kategorie »Gender« als integrativen Teil in ihre Darstellung einbindet und selbst auf die bis dato virulente Leerstelle der Kategorie »Gender« in der historischen Migrationsgeschichte verweist.23 Untersuchen die genannten Bände primär »räumliche Bevölkerungsbewegungen unterschiedlicher Größenordnung auf den verschiedenen sozialen und räumlichen Ebenen«24, so inkludieren die im inter- und transdisziplinär angelegten Band Wanderungen. Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven versammelten Aufsätze25 auch die Migra­ tion und Transformationsprozesse kultureller Artefakte, Ideen und Konzepte und untersuchen deren Effekte in Bezug auf Geschlechterverhältnisse. Weitet man nun den Terminus von »Migration« auf »Mobilität«, so sind freilich auch Disziplinen wie etwa die Verkehrsplanung zu nennen, die Mobilität aus Genderperspektive beforschen.26 Terminologische Herausforderungen oder: Was wir von den ­Geschichtswissenschaften lernen können

Die vorangegangene Literaturübersicht deutet bereits auf allgemeiner Ebene eine derzeit auch in der Musikwissenschaft virulente und unbefriedigende terminologische Problematik an, die sich wie folgt darstellt: In der historischen Musikwissenschaft werden die Termini »Migration« und »Mobilität« zuweilen recht unreflektiert verwendet27, was möglicherweise der Tatsache geschuldet ist, 22 Katie Willis und Brenda Yeoh (Hrsg.), Gender and Migration (= The International Library of Studies on Migration), Cheltenham, UK, und Northampton, MA, USA 2000. 23 Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt am Main 2012. 24 Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart (wie Anm. 5). 25 Annika McPherson, Barbara Paul, Sylvia Pritsch, et al. (Hrsg.), Wanderungen. Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven, Bielefeld 2013. 26 Nennenswerte Forschungen und Publikationen auf diesem Gebiet legte u. a. Bente Knoll vor, da­ runter: Gender Planning. Grundlagen für Verkehrs- und Mobilitätserhebungen, Saarbrücken 2008 und dies., »Gender und Mobilität«, in: Blätter für Technikgeschichte (2014), S. 87–108. 27 Die terminologische Unschärfe ist jedoch ebenso in anderen historischen Disziplinen zu beobach-

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dass musikbezogene Untersuchungen bislang weitestgehend geografische Ortsveränderungen von Musikerinnen und Musikern und deren Auswirkungen untersuchten, während Mobilität mit der Einführung, Weiterentwicklung und Verbreitung moderner Transportmittel und digitaler Medien wie Computer, Mobilfunkgeräte und Internet sowie deren Zugang nicht nur für weite Teile der Bevölkerung ebenso unausweichlich wie in allen Bereichen des Alltags allgegenwärtig geworden zu sein scheint, sondern auch im aktuellen Wissenschaftsdiskurs als ein »Spezifikum spätmoderner Daseinsform verhandelt und damit zum Signet einer Epoche erhoben«28 wird. Demgegenüber wurde in der historischen Migrationsforschung das Phänomen der Migration bereits sehr genau definiert. Jochen Oltmer hat den Terminus »Migration« unter Bezug auf antike, frühneuzeitliche und humanistische Darstellungen29 sehr eindrücklich in einer seiner jüngsten Publikationen etymologisch hergeleitet und definiert: Er spricht von individuellen und kollektiven »Wanderungen« und »Wanderungsprozessen«, die temporäre Bewegungen ebenso einschließen wie die dauerhafte Niederlassung in einem Zielgebiet.30 Überträgt man diese Definition auf musikbezogene Forschungsfelder, sind mithin temporäre wie langfristige Wanderbewegungen von Musikerinnen und Musikern ebenso wie das große Feld der Reisen unter dem Begriff der »Migration« zu fassen. Zweifelsohne stellen Reisen und physische Wanderungen nicht nur einen wesentlichen Bestandteil im Prozess der Professionalisierung des Musikers beziehungsweise der Musikerin dar, sondern sie dürfen auch als zentraler Motor zur Entwicklung von Musikkultur und Musiktransfer gelten. Insofern liegt es nahe, zunächst einmal die geografische Mobilität von Musikerinnen und Musikern mit all ihren Implikationen zu untersuchen. Wenn wir die Migrationshintergründe und Motive, die Oltmer31 benennt, mit den spezifischen Reiseanlässen und Beweggründen, die Ulrich Konrad32 für Musiker*innen herausgearbeitet hat, vergleichen, so gehen Konrads sieben Typen der Musiker-Reisen (Ausbildungs-, Fortbildungs-, Bewerbungs-, Werbe-

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ten: Nicht selten sind Projekte oder Publikationen mit Mobilität betitelt, inhaltlich werden hingegen migrationsbezogene Sachverhalte erörtert. Silke Göttsch-Elten, »Mobilitäten – Alltagspraktiken, Deutungshorizonte und Forschungsperspektiven«, in: Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung, hrsg. von Reinhard Johler, Max Matter und Sabine Zinn-Thomas, Münster 2011, S. 15–29, hier: S. 16. Darunter Tacitus’ Germania in der Übersetzung von Johann Eberlin von Günzburg 1526 sowie Einträge in Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste 1731–1754 und Jacob Grimms und Wilhelm Grimms, Deutsches Wörterbuch; siehe Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart (wie Anm. 5), insbes. S. 9–12. Ebd., S. 13 und passim. Ebd., S. 20–24. Ulrich Konrad, »Der Musiker und seine Reisen«, in: Musiker auf Reisen: Beiträge zum Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling, Augsburg 2011, S. 9–22.

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reise, Tournee, Geschäfts- und Forschungsreise) allesamt in den Zielen auf, die Oltmer in den folgenden Worten zusammenfasst: Demnach streben Migranten danach, durch den temporären oder dauerhaften Aufenthalt andernorts Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungsoder Heiratschancen zu verbessern und sich neue Chancen durch eigene Initiative zu erschließen.33

Es lohnt sich, Konrads Ansatz fortzuführen und ihn anhand weiterer Einzelbeispiele zu verifizieren, zu differenzieren und epochal auszuweiten.34 Allerdings bieten musikhistorische Untersuchungsfelder mehr Potenzial. Dieses soll im kommenden Unterkapitel exemplarisch diskutiert werden. Gender, Mobilität und Grenzen: Zum Potenzial des sozial konnotierten und ­gendersensiblen Mobilitätsbegriffs in Bezug auf Musiker*innen

Selten bis nie beschäftigte oder beschäftigt man sich mit musikbezogener Mobilität im übertragenen Sinne, also mit einer ›sozial‹ konnotierten Dimension von Mobilität, welche Flexibilität, Anpassungsfähigkeit usw. impliziert. Dabei stellen jene Formen von mentaler, kultureller, intellektueller, kompositorischer, sängerischer usw. Mobilität erkenntnistheoretisch eine äußerst ergiebige Ebene dar, die es gilt, sinnvoll mit den Paradigmen »Musik« und »Gender« zu verknüpfen. Auf diese Weise gelangen sämtliche nur denkbare Facetten von Mobilität in den Blick: von der rein mentalen Beweglichkeit bei gleichzeitiger physischer Immobilität über Repertoire- und Gattungswechsel bis hin zu einem Changieren zwischen Musikpraktiken (kulturelle Mobilität), um nur einige zu nennen. Es ist meines Erachtens aber erforderlich, »Gender« als integrale Analysekategorie mit mobilitäts- und musikbezogenen Fragen zu verschränken. Gender­ sensible Mobilitätsforschung lenkt den Blick sowohl auf Frauen als auch auf Männer und Kinder35. Sie alle müssen befragt werden nach ihren je eigenen 33 Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart (wie Anm. 5), S. 22. 34 Siehe hierzu den in diesem Band abgedruckten Beitrag von Berthold Over, »Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit. Mobilität und Migration von Musikern in der Frühen Neuzeit«, der ebenfalls eine Typologie entwirft und diese am Beispiel von frühneuzeitlicher Musikermobilität erörtert. 35 Nachdem Kindern in der Geschichtsschreibung lange Zeit eine inferiore Rolle zukam (siehe u. a. die Frühneuzeitforschung, die Kinder als geschlechtslos auffasste), widmen sich jüngere Forschungen erfreulicherweise diesem Themengebiet, darunter der Prinzen- und Prinzessinnenerziehung, die vorsah, dass adelige Kinder bis etwa zum 6. Lebensjahr gemeinsam erzogen wurden und anschließend eine geschlechtsspezifische Ausbildung folgte. Siehe Sophie Ruppel, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln, Weimar und Wien 2006.

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genderbedingten Prämissen und Rahmenbedingungen, die Motilität und Mobilität ermöglichen oder verhindern, wie diese sich konkret ausgestalten, welchen »Dispositive[n] der Macht«36 sie unterworfen sind und welche (musik)kulturellen Auswirkungen – individuell und gesamtgesellschaftlich – daran geknüpft sind und/oder zu welchem Ziel sie führen. Und da diese Prozesse eben immer auch vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Prozesse sind, kommen wir nicht umhin, »Gender« im Querschnitt zu denken.37 Gleichwohl sind neben der Kategorie »Gender« auch die Kategorien »Alter«, »sozialer Status« und nicht zuletzt das individuelle künstlerische Potential entscheidend, ob und welche spezifischen Formen musik- und kulturbezogener Mobilität generiert werden können. Welche Gründe für die Mobilität vorliegen und ob diese temporär oder dauerhaft ist, wird nicht ohne Bezug auf die Biografieforschung sowie auf Identitätstheorien diskutiert werden können. Künstlerische Identitäten konstituieren sich an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. Identität entsteht als fortwährender Konstruktionsprozess, der von jedem und jeder Einzelnen am Schnittpunkt zwischen individueller Biografie und gesellschaftlicher Interaktion immerzu hergestellt werden muss. Peter Straub definiert »Identität« als spezifisches modernes Subjektverhältnis, das geformt sei durch die Erfahrung, »daß nichts feststeht und niemals ein für allemal festgestellt werden kann, wer jemand ist, sein will, sein kann.«38 Und da sich Prozesse sui generis durch Bewegung beziehungsweise Beweglichkeit auszeichnen, ist auch jeder künstlerischen Identitätskonstruktion ein Moment von Mobilität inhärent. Wiewohl Identitätskonstruktionen immer im Abgleich mit der ›Wirklichkeit‹ erfolgen, so wird die musikbezogene Mobilität/Immobilität einzelner Musiker*innen­bio­ grafien entlang zeitgenössischer gesellschaftlicher, politischer, kultureller und 36 In Anlehnung an Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. 37 Die Gender Studies brachten innovative Fragen und Forschungsfelder in die musikwissenschaftliche Disziplin ein, regten zur kritischen Selbstreflexion der eigenen Fachgeschichte an und trugen zu einem Paradigmenwechsel – von einer Werk- bzw. Kompositionshistoriografie hin zu einer Geschichte des musikbezogenen bzw. künstlerischen Handelns – bei. Zur allgemeinen Orientierung siehe Musik und Gender. Grundlagen – Methoden – Perspektiven (= Kompendien Musik 5), hrsg. von Rebecca Grotjahn und Sabine Vogt, Laaber 2010; Nina Noeske, Susanne Rode-Breymann und Melanie Unseld, Artikel »Gender Studies«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. Supplement, hrsg. von Ludwig Finscher, 2. Aufl., Kassel 2008, Sp. 239–251 sowie genderbezogene Publikationen wie das Jahrbuch Musik und Gender, hrsg. vom Forschungszentrum Musik und Gender und der Fachgruppe Frauen- und Genderstudien in der Gesellschaft für Musikforschung, Hildesheim, Zürich und New York 2008ff. 38 Peter Straub, »Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs«, in: Identitäten, hrsg. von Aleida Assmann und Heidrun Friese, Frankfurt am Main 1998, S. 73–104, hier: S. 88.

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geografischer Grenzen analysiert und diskutiert werden müssen. Der Begriff der »Grenze« ist in diesem Zusammenhang zentral – zumal hinsichtlich der Mobilität/Immobilität von Musikerinnen und Musikern –, werden hieran doch Ausbildungs-, Professionalisierungs- und Reisemöglichkeiten im Kontext von Raum-Konzepten und Machtdiskursen offensichtlich. Vergegenwärtigen wir uns die essenzielle Bedeutung der geografischen Ortsveränderung im Professionalisierungsprozess eines Musikers beziehungsweise einer Musikerin39 und halten das etwa im europäischen Raum bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durch bürgerliche Rollenvorstellungen idealisierte Bild der möglichst ›immobilen Frau‹ dagegen, so wird in letzter Konsequenz der vergleichsweise geringe Anteil an professionellen Musikerinnen (im weitesten Sinne des Wortes, inkludiert auch Dirigentinnen und andere künstlerische Berufe) evident. Wenn Frauen nicht den gleichen Zugang zum Reisen haben wie Männer, werden sie an zentralen musikalischen Bildungserfahrungen und Selbstpräsentationsmöglichkeiten ob­ struiert, infolgedessen sie es im Professionalisierungsprozess mit ihren männlichen Kollegen nicht aufnehmen können. Somit reduziert sich in gleicher Weise ihr Zugang zur professionellen Musikszene. Clara Schumann (1819–1896) etwa hatte die Konsequenzen aus einer allein, ohne ihren Mann getätigten, künstlerisch jedoch sehr erfolgreichen Konzertreise nach Dänemark zu tragen: Robert Schumann (1810–1856) wollte weitere Alleinreisen unterbinden, sah aber zum damaligen Zeitpunkt von Reisen ab, sodass Clara Schumann befürchtete, als Pianistin in Vergessenheit zu geraten.40 Gendersensible Forschungen zu Frauen auf Reisen haben gezeigt, dass diese mit enormen organisatorischen und fi­ nanziel­len Aufwendungen verbunden waren, da nicht nur eine ideale Reisebegleitung gefunden, sondern für diese stets zudem Unterkünfte, Transport, Verpflegung usw. arrangiert werden musste.41 Ähnlich karrierekonstitutiv ist die Mobilität von Sängerinnen beziehungsweise Bühnenkünstlerinnen insgesamt einzuschätzen: Auch sie weisen allein aufgrund ihrer teils nur saisonweise ge39 Zu denken ist etwa an den Unterricht bei renommierten Lehrer*innen in einer anderen Stadt oder einem anderen Land oder zur Kenntnisnahme neuer Kompositionen, Stile, Gattungen etc. – über Jahrhunderte mussten sich Menschen entweder selbst in Bewegung setzen oder, je nach monetären und statusrelevanten Voraussetzungen, Musiker*innen, Instrumente, Partituren etc. in Bewegung setzen lassen. 40 Vgl. hierzu Tagebucheinträge und Briefe, darunter Clara Schumann, Brief an Pauline Viardot-García, Düsseldorf, 05.06.1852, F-Pn, NAF 16273, f.106–107. Siehe auch Beatrix Borchard, »Die Regel und die Ausnahmen. Reisende Musikerinnen im 19. Jahrhundert«, in: Le musicien et ses voyages: pratiques, réseaux et représentations (= Musical Life in Europe 1600–1900: circulation, institutions, representation), hrsg. von Christian Meyer, Berlin 2003, S. 173–201. 41 Stellvertretend Gabriele Habinger, Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006.

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schlossenen Theaterverträge eine äußert hohe physische Mobilität auf und wirken damit dem Ideal der ›immobilen Frau‹ entgegen. Da sich Sängerinnen und Tänzerinnen aufgrund ihrer bezahlten Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit ohnehin am moralischen Limit beziehungsweise bereits außerhalb gesellschaftlicher Konventionen bewegten42, war ihnen vermutlich eine repressionsfreiere Mobilität möglich. Daran schließt sich die Frage an, inwiefern eine räumliche Mobilität seitens der Bühnenkünstlerinnen gegebenenfalls karrierestrategisch eingesetzt wurde und damit der Inszenierung der eigenen künstlerischen Identität diente? Eine hohe geografische Mobilität in Form von Konzertreisen oder Theaterengagements impliziert schließlich in Künstler*innenkreisen eine hohe Nachfrage, während das Ab- und Vergleichen der eigenen musikalischen/kompositorischen Identität mit ›der Konkurrenz‹ zusätzlich Mobilität generiert. Mobilität versucht, Grenzen zu überwinden, ist zuweilen grenzüberschreitend und arbeitet sich an Grenzen ab. Sich innerhalb dieser zu bewegen oder gerade jene zu überschreiten, lässt sich an zahlreichen, musikbezogenen Phänomenen diskutieren: Frauen, die entgegen den ihnen zugeschriebenen ›kleinen‹ Gattungen Symphonien und Opern schrieben oder Männer, die statt der ›Königsdisziplin‹ der Oper das Komponieren von populären Chansons bevorzugten. Eine erhellende Fragestellung ist demnach, zu welcher Zeit Vertreter*innen welcher musikbezogenen Berufssparten wie viel Mobilität zugestanden beziehungsweise abverlangt wird und wie Einzelbeispiele vor den jeweils gültigen gesellschaftlich geprägten Geschlechterrollen einzuordnen und zu bewerten sind? Physische Mobilität, insbesondere Reisen in andere Kulturen, impliziert noch eine weitere Form von Mobilität: die kulturelle Mobilität, die auf das eigene musikbezogene Handeln direkt zurückwirkt. Inwieweit Interpret*innen, Mäze­ n*innen, Musiksammler*innen, Konzertorganisator*innen im Ausland Erfolg haben, zeigt sich auch an der Fähigkeit, den ästhetischen und musikpraxeologischen Konventionen sowie nicht zuletzt dem Publikumsgeschmack in der jeweils anderen Kultur zu entsprechen. Gewiss konnten landestypische Verhaltensregeln schon reisevorbereitend mithilfe panegyrischer Literatur studiert werden, lokalspezifisch musikbezogene Konventionen offenbarten sich jedoch meist erst vor Ort.43 In diesem Zusammenhang ist auch interessant, inwiefern 42 Eine aufschlussreiche Überblicksstudie zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Musike­ r­innen im 19. Jahrhundert liefert Nancy B. Reich, »Women as Musicians: A Question of Class«, in: Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship, hrsg. von Ruth Solie, Berkeley, Los Angeles und London 1993, S. 125–146 und Rebecca Grotjahn, »Frauenberuf Sängerin. Ein Thema musikwissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung«, in: Rheinische Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Eine Dokumentation in Wort und Ton, hrsg. von Thomas Synofzik und Susanne Rode-Breymann, Kassel 2003, S. 25–33. 43 Siehe hierzu u. a. die Untersuchung von Gesa zur Nieden, »Mobilität, Gesang, Klang: Sängerinnen

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sich – etwa bei angenommener Reiserückkehr – Mobilität konkret im kulturellen Handeln von Akteuren und Akteurinnen äußert. Welche Eindrücke hinterlässt physische Mobilität, wie werden Reiseerfahrungen verarbeitet? Inwiefern finden sie Niederschlag in Kompositionen, in literarischen Texten, Tagebüchern, Memoiren oder Briefen? Musikbezogene Mobilität korreliert mit dem Lebensalter und Lebensphasen: So scheint es für Wunderkinder ein ebenso schweres Unterfangen gewesen zu sein, in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter die bis dato erfolgreiche Karriere fortzuführen, wie für eine Bühnenkünstlerin, die nach Beendigung ihrer aktiven Bühnenkarriere entweder als Konzertsängerin agierte oder sich anderen künstlerisch-kreativen Tätigkeiten zuwendete. Solche Übergänge erfordern eine besondere Anpassungsfähigkeit. Auch Heirat44 oder Eintritt in den Witwenstand sind mit Susanne Rode-Breymann gesprochen »Statuspassagen«45, die zweifelsohne ein erhöhtes Maß an ›sozialer‹ und ›künstlerischer‹ Mobilität freisetzen. Die am Königlichen Hoftheater in Hannover engagierte Altistin Amalie Joachim (1839–1899) wandte sich nach ihrer Heirat mit Joseph Joachim (1831– 1907) 1863 dem Konzertfach zu. Auch nach ihrer Scheidung setzte sie ihre Karriere als Konzertsängerin fort und eröffnete in späteren Jahren eine Gesangsschule in Berlin.46 Die in New York geborene Sängerin Minnie Hauk (1852– 1929) etwa publizierte nach ihrer internationalen Gesangskarriere mit Engagements am Royal Opera House in London und Auftritten in Brüssel, Paris, Moskau, St. Petersburg und Berlin in späteren Jahren in der Neuen Freien Presse47 und veröffentlichte 1925 ihre Erinnerungen Memories of a Singer.48 Desgleichen ver-

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mit deutschsprachiger Ausbildung in den Pariser Concerts Colonne um 1900«, publiziert im vorliegenden Band. Heirat und Schwangerschaft konnten ein Kündigungsgrund bestehender Theaterverträge sein. Vgl. § 5 des Vertrages vom 07.05.1874 der Schauspielerin Emilia Hennies, D-HVsa Hann. 132 Acc. 2004/041 Nr. 51. Susanne Rode-Breymann hat jüngst das von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss entworfene Konzept (vgl. Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss, Status passage, Chicago 1971) in musikbezogene Kontexte transferiert und deren Bedeutung für kulturell handelnde Frauen in der Frühen Neuzeit aufgezeigt. Siehe Susanne Rode-Breymann, »Statuspassagen von Frauen in der Frühen Neuzeit«, Vortrag im Rahmen des Workshops Musik – Gender – Mobilität, Forschungszentrum Musik und Gender, Hannover, 05.–06.09.2017, publiziert im vorliegenden Band. Grundlegend zu Amalie und Joseph Joachim: Beatrix Borchard, Stimme und Geige – Amalie und Joseph Joachim: Biographie und Interpretationsgeschichte (= Wiener Veröffentlichungen zur Musik­ geschichte 5), Wien, Köln und Weimar 2005. Minnie Hauk, »Aus meiner Wiener Opernzeit. An der Hofoper«, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt, 28.04.1916, S. 1–4 und 02.05.1916, S. 1–3 und dies., »In Rußland, vor meiner Wiener Opernzeit«, ebd., 22.08.1916, S. 1–4. Minnie Hauk, Memories of a Singer, London 1925.

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fasste die Sängerin Agnese Schebest (1813–1870) zunächst ihre Autobiografie und später das Lehrwerk Rede und Geberde (1861), während die Wagner-Sängerin Hedwig Materna (1867–1939) unter dem Titel Richard Wagners Frauen­ gestalten 1903 eine Sammlung von Rollenporträts sämtlicher großen WagnerPartien vorlegte.49 Ein Blick in das Lexikon Musik und Gender im Internet50 bestätigt die mannigfaltigen Tätigkeitsfelder, denen sich Frauen zuwendeten und damit eine erhöhte musikbezogene Mobilität aufwiesen: Selten bis nie ist nur eine einzige Tätigkeit verzeichnet. Frauen komponierten, musizierten, unterrichteten, sammelten, kopierten und edierten Musik. Jedoch war diese Form von Mobilität (sicher wie auch das Reisen selbst) nicht a priori positiv konnotiert: So bemängelt die im späten 19. Jahrhundert in Paris renommierte Komponistin Augusta Holmès (1847–1903), dass sich die sozial konstituierten Geschlechterrollen und Geschlechterunterschiede geradewegs auf ihre beruflichen Lebensumstände auswirkten: Während sie, als Frau, zusätzlich durch Unterrichten und andere Tätigkeiten (die nicht im Einzelnen genannt sind) ihren Lebensunterhalt verdienen müsse, hätten ihre männlichen Kollegen die Freiheit, sich allein ihren Kompositionen zu widmen: If the composer is obliged to live by her music, for how rarely can she live by it. She, who would be able, if circumstances were not unduly hard, to devote all her time the Muse, is obliged to give lessons, to bother about fees, and, harried and tired out with this occupation, from which she can seldom withdraw herself, is further expected to produce a work! What a profession! I have never known a woman […] who could lead these two lives simultaneously […].51

Holmès selbst hätte sich gerne ausschließlich dem Komponieren gewidmet, wie verschiedene Egodokumente belegen, und konnotierte demnach diese Form der Mobilität für sich als negativ.52 Inwiefern ihre Ansicht auch auf die ihrer kom49 Ausführlicher zu Bühnenkünstlerinnen, darunter auch zu Agnese Schebest und Hedwig Materna, siehe Nicole K. Strohmann und Antje Tumat (Hrsg.), Bühnenrollen und Identitätskonzepte. Karrierestrategien von Künstlerinnen im Theater des 19. Jahrhunderts, Hannover 2016, darin: Thomas Seedorf, »›Fee des Gesangs‹. Agnese Schebest (1813–1869)«, S. 209–221 und Ursula Kramer, »›Ungesund – gesund – kerngesund‹. Die Sängerin als Autorin. Hedwig Materna (*1867) und ihre Interpretation der Wagner’schen Frauengestalten«, S. 223–244. 50 Beatrix Borchard und Nina Noeske (Hrsg.), Musikvermittlung und Genderforschung: MusikerinnenLexikon und multimediale Präsentationen, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff., https://mugi.hfmt-hamburg.de, abgerufen am 06.12.2022. 51 Jean Bernac, »Interview with Mademoiselle Augusta Holmès«, in: The Strand Musical Magazine 5 (1897), S. 136–139, hier: S. 139. 52 Nicole K. Strohmann, Gattung, Geschlecht und Gesellschaft im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Studien zur Dichterkomponistin Augusta Holmès (= Musikwissenschaftliche Publikationen 36), Hildesheim, Zürich und New York 2012.

Musik | Gender | Mobilität

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ponierenden Zeitgenossinnen – darunter Sophie Gail (1775–1819), Loïsa Puget (1810–1889), Louise Farrenc (1804–1875), Clémence (Vicomtesse de) Grandval (1828–1907) und Cécile Chaminade (1857–1944) – zutrifft oder ob und inwiefern in anderen Fällen ein ausgeprägtes Interesse an der Vielfalt musikbezogener Wirkungsfelder bestand, die Frauen dazu beflügelte, mehrere Tätigkeiten wie Komponieren, Musizieren, Unterrichten, Musik sammeln und kopieren (unter Umständen gleichzeitig) auszuüben, kann nur eine differenzierte Analyse des Einzelfalls unter Zuhilfenahme von Theorien zu Identitätskonstruktionen und zur Emotionsforschung zeigen. Mobilität versus Immobilität: von nicht unternommenen Reisen und ­›exotischen‹ Klängen – ein Schlussplädoyer

Zur Immobilität möchte ich abschließend folgende Reflexionen anstoßen: Nicht ganz abwegig erscheint mir der Gedanke, dass eine eingeschränkte physische Mobilität beziehungsweise völlige Immobilität gleichsam eine intensive mentale Mobilität freisetzt. Die Rezeption von Reiseberichten und -literatur im eigenen Zuhause ermöglicht es, fremde Länder, Sitten und Musikkulturen vom heimischen Schreibtisch aus kennenzulernen. Kein Fuß muss vor die Tür gesetzt werden, um mittels Briefen an den Reiseeindrücken und Fremdheitserfahrungen Dritter teilzuhaben. Die literarische Form der ›Zimmerreise‹53, für die paradigmatisch Sophie von La Roches Mein Schreibtisch (1799)54 und die darin von der Autorin imaginierten und schließlich niedergeschriebenen Erfahrungen einer Italienreise, die sie im realen Leben nie unternahm, steht, könnte auf musikbezogener Ebene unter anderem das Format der Musikstücke entsprechen, welche exotische Sujets und/oder außereuropäische Klänge verarbeiten beziehungsweise das, was aus europäischer Perspektive als ›exotisch‹ imaginiert wurde/wird55, ohne dass ihre Autor*innen jemals Länder bereisten, in denen sie Zeugen jener Klänge hätten werden können. Reisen durch das eigene Zimmer stehen auch für solche entlang des eigenen ›Ichs‹. Ein signifikanter Unterschied besteht jedoch: Während die feministische Literaturwissenschaft Zimmerreisen »als spezifische Form weiblichen Schreibens«56 deklariert, lässt sich dies für die oben genannten Musikstücke nicht konstatieren: Hier dürfte aufgrund der höheren Anzahl kom53 Grundlegend hierzu Annegret Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln, Weimar und Wien 1993, S. 46–67. 54 Sophie von La Roche, Mein Schreibtisch, 2 Bde., Karben 1997, Reprint der Ausgabe Leipzig 1799. 55 Grundlegend dazu Edward W. Said, Orientalism, New York 1978. 56 Bernd Stiegler, Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum, Frankfurt am Main 2010, S. 44.

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ponierender Männer eher der umgekehrte Fall vorliegen, wenngleich auch Komponistinnen wie Augusta Holmès reisten und – um beim obigen Beispiel zu bleiben – in ihrer Musik auf Exotismen zurückgriffen.57 Nun ist Musik per se in all ihren Dimensionen Mobilität – auf der Ebene der Produktion, Reproduktion und Rezeption: Der Akt des Komponierens ist ein Prozess physischer Bewegung, die notierten Klänge schreiten voran und bewegen sich, mal schneller, mal langsamer, in einem vorgesehenen Zeitrahmen58, Menschen bewegen sich beim Musizieren, sie bewegen sich zur Musik und/oder zeigen sich bewegt beim Hören eines Stückes. Wenn Frauen aufgrund gesellschaftlicher Konventionen das Ergreifen des Berufes der Komponistin, der Regisseurin und/oder der Dirigentin erschwert wird, wenn das Ausführen einiger Instrumentengruppen (Violoncello, Blasinstrumente etc.) untersagt ist, weil ihre Bewegungen beim Spielen des Instruments nicht den zeitgültigen ästhetischen Normen entsprachen59, wenn sie nicht selbstständig, das heißt ohne Begleitung, kulturelle Veranstaltungen besuchen können, werden sie in ihrem Mobilitäts­ radius eingegrenzt. Dies in mobilitätsorientierten Studien in Anschlag zu bringen ist ebenso wünschenswert wie die dezidierte Berücksichtigung des sozial konnotierten Mobilitätsbegriffs, scheinen doch Frauen insbesondere unter jenem erkenntnisleitenden Fokus sichtbar zu werden. Insofern ist eine Musik­ geschichtsschreibung zu begrüßen, die postdisziplinär und unter Einbezug kulturwissenschaftlicher Perspektiven die Kategorien »Mobilität« und »Gender« weiterhin an musikbezogenen Phänomenen erprobt und mit Fokus auf dem Prozessualen möglichst Brüche, Kanten und Diskontinuitäten, die jedes musikkulturelle Handeln flankieren, in den Blick nimmt.

57 Exemplarisch für die Exotismusmode im Paris des 19. Jahrhunderts: Léo Delibes, Lakmé. Opéra en trois actes, Partitur, Paris [1883] und Augusta Holmès, La Montagne noire. Drame lyrique en quatre actes et cinq tableaux, Partitur, Paris [1995]. 58 Selbst bei Stücken wie 4’33” von John Cage ist die Bewegung zeitweise ›nur‹ auf die Rezipienten­ ebene verlagert. 59 Siehe hierzu grundlegend Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1991.

Krista Warnke (Hamburg)

Digitale Mobilität und Erkenntnisprozess

Elektronische Medien bieten uns heute ein ständig präsentes und ein ebenso ständig wachsendes Informationsangebot. Wir schaffen es nicht, die Fülle des Angebots zu nutzen. Folge der Datenbeschleunigung und Informationsfülle ist eine Steigerung unserer digitalen Mobilität. Die zukünftige Entwicklung wird diesen Prozess weiter vorantreiben. Digitalisierung ist in unseren Zeiten zum Credo geworden. Ohne selbst mobil zu sein, erfahren wir global und ohne zeitliche Verzögerung – oft ganz nebenbei – von Naturkatastrophen, Politspektakeln, Kriegswirren, Technikentwicklungen, Kulturerlebnissen und ähnlichem. In das digitale Informationsangebot ist unsere berufliche und private Kommunikations- und Beziehungssphäre nahezu umfassend eingebunden. Es stellt sich die Frage, wie die vermehrte Nutzung der digitalen Angebote unsere kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten verändert und weiter verändern wird. Ich komme aus dem Bereich der systematischen Musikwissenschaft/Musikpsychologie. In meinem Beitrag richte ich den Blick auf den Zusammenhang zwischen digitaler Mobilität und Erkenntnisprozess. Ich verstehe Mobilität umfassend: Nicht nur als lokale Bewegung im Raum, sondern auch extensiv unter kognitivem und psychosozialem Blickwinkel. Meine Definition von Mobilität umfasst also den Wechsel zwischen Orten und Positionen in geografischen, kog­ nitiven, physischen, psychischen, sozialen und virtuellen Räumen. Jeder Wechsel von Orten und Positionen, seien es geografische, psychosoziale oder virtuelle, verändert Wahrnehmung und Erleben, mithin den Erkenntnisprozess. Mit einigen dieser Zusammenhänge zwischen Mobilität und Erkenntnisprozess möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Zuvor ein Beispiel für die analoge und digitale Annäherung an ein Forschungsthema. Es handelt von der Recherche über eine spezielle Operninszenierung im Wien der 1920er-Jahre, mit Einsichtnahme in den diesbezüglichen Briefwechsel zweier Protagonistinnen. Die Quellen sind analog nur im Theatermuseum am Lobkowitzplatz in Wien einsehbar, liegen aber auch digital vor. Physische, geografische und soziale Mobilität ist heute für wissenschaftliches Forschen in vielen Bereichen nicht mehr erforderlich. Virtuelle Mobilität liefert per digitaler Medien Informationen ›frei Haus‹. Das Motto analoger Forschung ›ich reise zu den Quellen‹ wandelt sich durch die digitale Forschung hin zu ›die Quellen kommen zu mir‹.

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Analoge Erfahrung

Ich reise mit einer Kollegin nach Wien. Wir erleben gemeinsam die Stadt und nehmen deren kulturelle Besonderheiten wahr. Im Archiv muss ich mein Handy lautlos stellen. Ich spreche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich bin zunächst frustriert, weil ich an die Quellen nicht gleich herankomme. Der Sachbearbeiter ist ein ›Grantler‹ nach Wiener Art. In der Zeit des Wartens auf die Dokumente gehe ich durch eine laufende Ausstellung. Ich bekomme Anregungen für mein Thema, stöbere in der Präsenzbibliothek und erweitere meine Perspektive. Das Wetter ist miserabel, aber meine Kollegin und ich ergötzen uns bei Demel an einer wunderbaren Esterhazyschnitte. Ich erzähle ihr dort von meinen ersten Eindrücken bei der Recherche. Digitale Erfahrung

Ich sitze irgendwo allein an einem Schreibtisch und fahre den Rechner hoch. Die Quellendatei lässt sich mit dem Zugangscode zum Glück schnell finden und öffnen. Ich habe alle Zeit der Welt, mich in die Quellen zu vertiefen: in die Bilder von Wien, in die Inszenierung, in die Briefe. Ich lese nebenbei eine Vielzahl der zur Verfügung stehenden Texte zu ähnlichen Themen. Dadurch erweitert sich mein Blickwinkel. Ich zappe durch Bilder von anderen Inszenierungen, springe von Schlagwort zu Schlagwort, von Link zu Link. Ständig poppen irgendwelche Themen auf, die mir ›angeboten‹ werden. Nebenbei checke ich noch schnell meine eingehenden Mails. In beiden Prozessen des Quellenstudiums befinde ich mich in einer Gemengelage aus unterschiedlichen Gefühlen, Denkanregungen und Beziehungskonstellationen, die meine Arbeit beeinflussen. Bereicherung, Anregung, Ausweitung, Ablenkung, Verzettelung, Verunsicherung … sind bei der analogen versus der digitalen Erfahrung von unterschiedlicher Qualität. Dies fließt in meinen Forschungsprozess ein, ohne, dass es mir unmittelbar bewusst werden muss. Zum Beispiel ist es etwas völlig anderes, die teilweise bereits vergilbten Briefe mit Handschuhen in den Händen zu halten, als am Schreibtisch deren digitale Ablichtung zu betrachten. Nicht nur die optischen, olfaktorischen, auch die akustischen Reize unterscheiden sich. Nun zu meinen theoretischen Erörterungen über Zusammenhänge zwischen digitaler Mobilität und Erkenntnisprozess. Die möglichen Betrachtungswinkel

Digitale Mobilität und Erkenntnisprozess

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und Argumentationsansätze ergeben eine Fülle an Fragen. Drei sind mir besonders wichtig. Ich will ihnen im Folgenden ansatzweise nachgehen:1 1. Wie kommen wir zu Erkenntnis? Erkenntnisprozess und Affektlogik 2. Wie unterscheiden sich analoge und digitale Erfahrung? Analoge und digitale Sinnlichkeit 3. Welche Wirkungen hat Mobilität auf den Erkenntnisprozess? Bereichernder und hemmender Aspekt der Mobilität Ad 1: Wie kommen wir zu Erkenntnis? Erkenntnisprozess und Affektlogik

Jedem Erkenntnisprozess, jedem Wahrnehmen, Erleben, Erfahren, Verstehen und ähnlichem liegt ein verwobener Prozess von Fühlen und Denken zugrunde: ein affektlogischer Prozess.2 In den ausgehenden Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in der neurowissenschaftlichen Forschung der enge Zusammenhang zwischen Fühlen und Denken bestätigt und untermauert.3 Es gibt kein Denken ohne Fühlen, kein Fühlen ohne Denken. Denken und Fühlen, Emotion und Kognition sind beim Wahrnehmen, Erleben, Erfahren sowie Verstehen ständig und untrennbar miteinander verwoben. Den Gefühlen kommt dabei eine besondere Funktion zu. Sie haben organisatorische und integratorische Wirkung auf das Denken:4 1. Gefühle bestimmen ständig den Fokus der Aufmerksamkeit. Was drängt sich in den Vordergrund? Was wird aus der Fülle der Reize bevorzugt behandelt? 2. Gefühle öffnen und schließen Gedächtnisspeicher. Was wird vergessen? Was bleibt in Erinnerung? 3. Gefühle verbinden Denkinhalte zu größeren Gedankengebäuden. Welches Narrativ dominiert meine Sichtweise?

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Die wichtige Frage nach grundlegenden Veränderungen in unserer Beziehungskultur streife ich nur. Sie scheint mir umfassend und braucht eine eigene Erörterung. 2 Vgl. Luc Ciompi, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, Stuttgart 1982; ders., Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik, 2. Aufl., Göttingen 1999; ders. und Elke Endert, Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen von Hitler bis Obama, Göttingen 2011. 3 Vgl. Antonio R. Damasio, Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin 2006; Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Berlin 2001; Ciompi, Affektlogik (wie Anm. 2); ders., Die emotionalen Grundlagen (wie Anm. 2), S. 94. 4 Ciompi, Die emotionalen Grundlagen (wie Anm. 2), S. 94.

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4. Gefühle leiten die Reduktion von Komplexität. Was drängt sich mir als wichtig auf ? Wie bewältige ich die Vielfalt?5 Neugier und wertschätzende Zuwendung gestalten unsere kognitiven Prozesse auf völlig andere Weise als Ängste und Ablehnung. Dies erscheint auf den ersten Blick einleuchtend, sogar banal. Es wird jedoch in alltäglichen bis hin zu wissenschaftlich fundierten Erkenntnisprozessen viel zu wenig berücksichtigt. Maßgeblicher Stellenwert wird nach wie vor dem Denken zugemessen. Gefühle werden als Störfaktoren gewertet, die es zu vernachlässigen oder gar zu unterdrücken gilt. Zu Erkenntnis gelangen wir aber immer nur durch das Zusammenwirken von Fühlen und Denken, von Emotion und Kognition, mithin durch Affekt­ logik. Die oben genannten organisatorischen und integratorischen Wirkmechanismen der Gefühle auf das Denken machen deutlich, dass ein reflektierendes Umgehen mit unseren Gefühlen, mit unserer emotionalen Verfasstheit, wichtig ist. Der ›skeptische Blick nach außen‹ muss ergänzt werden um den ›skeptischen Blick nach innen‹. Der ›skeptische Blick nach außen‹ – Kann das sein? Wie hängt das zusammen? Ist das schlüssig? – muss ergänzt werden um den ›skeptischen Blick nach innen‹ – Wieso nehme ich das so wahr? Warum reagiere ich in dieser Weise? Was macht das mit mir? Ad 2: Wie unterscheiden sich analoge und digitale Erfahrung? Analoge und digitale Sinnlichkeit

Mit der voranschreitenden Entwicklung digitaler Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten in den letzten 30 Jahren sind die beiden Begriffe »analog« und »digital« ganz selbstverständlich in unseren Sprachgebrauch eingegangen. Grundsätzlich handelt es sich bei jeder Verschlüsselung von Information durch Zeichen bereits um Digitalisierung.6 Das schließt neben unserer Sprache zum Beispiel auch unsere musikalische und mathematische Zeichensprache ein. Als analog bezeichnen wir die Vermittlung von Information über Gestik, Mimik, Blick, Tonfall usw. Bei jeder akustischen und körpersprachlichen Kommunikation benutzen wir einen digitalen (verbalen) und einen analogen (gestischen) Anteil. 5 6

Vgl. Luc Ciompi, Gefühle, Affekte, Affektlogik. Ihr Stellenwert in unserem Mensch- und Weltverständnis (= Wiener Vorlesungen im Rathaus 89), Wien 2002. Die Herkunft des Wortes »digital« verweist auf den lateinischen Begriff »digitus« Finger und dieser wiederum auf das Zählen mit den Fingern. Im übertragenen Sinne also auf das, was sich zeichenund zahlenmäßig darstellen lässt.

Digitale Mobilität und Erkenntnisprozess

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Wir haben uns angewöhnt, den Begriff »digital« für die technische Komprimierung von Information in Daten sowie für deren elektronische Aufbereitung und Nutzung zu verwenden. Unter diesem datenkomprimierenden elektronischen Aspekt benutze ich den Begriff »digital« in meinen weiteren Ausführungen. Analog ist für uns die ›alte Welt‹ der unmittelbaren Anschaulichkeit: Das vergilbte Foto, die Uhr mit Zeigern, das Lächeln im Gesicht meines realen Gegenübers, die unmittelbare Umarmung zwischen zwei Menschen. Analoge Signale liefert die Natur. Analoge Signale gehen stufenlos ineinander über und können (theoretisch) unendlich genaue Information geben.7 Sie sind an die Orte gebunden, an denen sie auftreten. Sie sind mit all unseren Sinnen wahrnehmbar. Ich kann alle meine Sinne als Prüfinstanz nutzen und die Abfolge der Reize selbst dirigieren. Dabei bin ich abhängig vom mich umgebenden realen Angebot. Digitale Signale sind losgelöst von ihrem Erscheinungsort. Sie sind abhängig von ihrer Verschlüsselungsart. Sie werden von (meist) unbekannten Personen ausgewählt. Ihr Ursprung ist den Nutzenden nicht zugänglich. Die Möglichkeit zum Fälschen ist groß, die Prüfung der Echtheit oft eine Herausforderung. Digitale Signale können beliebig kopiert, ohne Informationsverlust verschickt und an fast jedem Ort dieser Welt genutzt werden, vorausgesetzt, die technische Infrastruktur und die entsprechenden Endgeräte stehen zur Verfügung. Als Hauptsinne werden Auge und Ohr angesprochen. In unserem alltäglichen Handeln vermischen sich analoge und digitale Erlebnisräume immer mehr. Grenzen verschwimmen. Auch im Bereich der menschlichen Begegnung glauben wir, ohne große Veränderungen zwischen analog und digital wechseln zu können. Der ›digitale Schub‹ im Miteinander, den wir derzeit durch Corona erleben, macht die Unterschiede zwischen analoger und digitaler Kommunikation offensichtlich. Die Corona-Einschränkungen der letzten Monate zeigen deutlich, dass Begegnungen im digitalen Raum allein nicht ausreichen, um unsere sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Im analogen Raum begegne ich meinen Mitmenschen real, kann sie anfassen, nehme sie mit allen Sinnen wahr. Ein wichtiger Faktor für Kommunikations­ prozesse. Erst durch die Feinabstimmung der nonverbalen mit den verbalen Anteilen kann ich mein Gegenüber erfassen. Dies ist für die Bildung von Vertrauen besonders wichtig. In einer analogen Begegnung ist es eher möglich, die Beziehungsqualität einzuschätzen und zu gestalten. 7

Der Kybernetiker und Physiker Heinz von Foerster verweist in seinem Buch Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder Heinz Foersters Tanz mit der Welt, Heidelberg 2007, mit humorvollem Blick auf den Zusammenhang der Länge einer Küstenlinie mit dem angewendeten Maßstab. Messe man Sandkorn für Sandkorn, werde sie unendlich.

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Beim Chatten im digitalen Raum sind Menschen virtuelle ›Schattenwesen‹. Kenne ich sie bereits aus dem analogen Raum, fällt es mir leicht Beziehung zu ihnen aufzunehmen. Begegne ich meinem Gegenüber hingegen lediglich virtuell, ist ein differenziertes Erfassen der Person schwer möglich. Zu wenig fokussiert ist der Blick, nur ausschnitthaft der Eindruck, wenig erfassbar Gestik und Mimik. Unter affektlogischem Gesichtspunkt ist nämlich ein Faktor besonders wichtig: die unmittelbare Körperlichkeit. Laut Luc Ciompi ist der Körper »das Organ der Gefühle«.8 Antonio Damasio nennt den Körper »die eigentliche Bühne der Gefühle«.9 Fehlt die Körperlichkeit, fehlt eine wesentliche Erkenntnisquelle. Worin bestehen nun Hauptunterschiede zwischen analogen und digitalen Erfahrungen? »Was wir am Bildschirm sehen oder hören, sind analoge Signale, die aus digitalen Prozessen nach bestimmten Algorithmen transformiert werden.«10 Im digitalen Erlebnisraum kann ich Angeboten folgen, die mir der analoge Erlebnisraum nie bieten könnte. Wahrnehmung und Verarbeitung der digitalen Reize geschieht jedoch analog – solange wir nicht durch elektronische Chips gesteuert werden. Digital aufbereitete Informationen verändern unser Erleben und Erfahren indem sie erweitern, überschwemmen, bereichern oder auch irritieren. Das Erleben selbst jedoch bleibt analog. Letztlich muss jeder Mensch seine individuellen kognitiven, psychischen, physischen und sozialen Fähigkeiten ins Spiel bringen, um im digitalen Angebot Wichtiges von Unwichtigem, Gefälschtes vom Authentischen, Verantwortbares von Unverantwortlichem zu unterscheiden. Ad 3: Welche Wirkung hat Mobilität auf den Erkenntnisprozess? ­ Bereichernder und hemmender Aspekt der Mobilität

In seinem Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft11 benennt Niklas Luhmann im Zusammenhang mit dem Phänomen Mobilität zwei Aspekte, die er auf die Ausdifferenzierung von Gesellschaftsschichten anwendet. Einerseits kann Mo 8 Ciompi, Die emotionalen Grundlagen des Denkens (wie Anm. 2), S. 68.   9 Zit. n. Krista Warnke und Berthild Lievenbrück, Momente gelingender Beziehung. Was die Welt zusammenhält, Basel, Beitz und Weinheim 2015, S. 23. 10 Rudolf Preuss, Digitale und analoge Prozesse und Verfahren in der Kunstpädagogik, Köln 2020, https://www.academia.edu/31847300/Digitale_und_analoge_Prozesse_und_Verfahren_in_der_ Kunstpädagogik_Digitale_Sinnlichkeit, abgerufen am 18.09.2020. 11 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main 1997.

Digitale Mobilität und Erkenntnisprozess

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bilität »Aufstieg«12, im Sinne von Zugewinn bedeuten. Andererseits kann zu viel Mobilität als »Gefährdung [des] Differenzierungsmodus«13 empfunden werden. Darauf wird dann mit »Abschottung«14 und einem Zurückfallen in herkömmliche Muster reagiert. Ich nehme diesen Gedanken der Polarität (Aufstieg/Abschottung) auf und übertrage ihn auf meine Frage nach dem Einfluss von Mobilität auf Erkenntnisprozesse: Mobilität – eine größere geografische, kognitive, psychophysische, soziale und virtuelle Beweglichkeit – kann zu Erkenntnisgewinn führen (Aufstieg). Dies ist unmittelbar nachvollziehbar: Je mehr ich erfahre, erlebe, kognitiv angeregt werde, desto differenzierter und vielschichtiger wird meine Erfahrung. Anders bei zu viel Mobilität. Eine zu große Anzahl an Auswahlmöglichkeiten und Angeboten verwirrt und führt zu Abwehr (Abschottung). Ein Rückzug in das Vertraute, in einfache Erklärungsmuster ist die Konsequenz.15 Ein Übermaß an Information führt zu Desorientierung und Verunsicherung. Es wird schwierig, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Desorientierung und Verunsicherung rufen Gefühle von Angst, von Missbehagen bis hin zu Wut hervor. Diese negative Stimmungslage beeinflusst Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse wie Aufmerksamkeit, Erinnern/Vergessen, Denkprozesse in größeren Zusammenhängen und die Reduzierung von Komplexität.16 Damit schließt sich der Kreis zu meinem ersten Aspekt: Erkenntnisgewinn und Affektlogik. Zusammenfassung

Eine rasch wachsende digitale Mobilität wird unsere Erkenntnisprozesse zunehmend und nachhaltig verändern. Bereicherung und Verunsicherung sind die Folgen. Ohne digitalen Einfluss wären viele der erkenntnis- und gesellschaftsverändernden Impulse nicht machbar, nicht denkbar. Weltweite Vernetzung, globale Informationsteilhabe, ständige digitale Präsenz bergen Chancen und Risiken, Vorteile und Nachteile. Das Wechselspiel von ›und–auch‹ zwingt uns zur Posi­ tionierung. Ein ›Und–Auch‹ lebt von einem anderen kognitiven, emotionalen und sozialen Fließgleichgewicht als ein ›Entweder–Oder‹. 12 Ebd., S. 705. 13 Ebd., S. 706. 14 Ebd. 15 Dies erleben wir derzeit in einigen sozialen und politischen Bewegungen. 16 Zu den organisatorischen und integratorischen Wirkmechanismen des Fühlens auf das Denken, vgl. Ciompi, Gefühle, Affekte, Affektlogik (wie Anm. 5), S. 26.

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Ad 1: Wie kommen wir zu Erkenntnis? Sowohl bei der digitalen als auch der analogen Aufnahme von Reizen findet ein affektlogischer Prozess statt. Gefühle sind die Organisatoren von Denken und Handeln. Vermittlungsform und Inhalte digitaler Reize sprechen Gefühle in besonderem Maße an.17 Das macht es umso notwendiger, Professionalisierung im Umgang mit unseren Gefühlen zu lernen und zu üben. Der ›skeptische Blick nach innen‹ hilft dabei. Ad 2: Wie unterscheiden sich analoge und digitale Erfahrung? Wir leben in digitalen und analogen Erlebnisräumen. Das Erleben bleibt jedoch analog. Digitale Angebote haben allerdings großen Einfluss auf unser analoges Erleben. Sie verändern es bis hin zur Inversion der Wirklichkeit.18 Im analogen Leben werden immer stärker digitale Bildwelten und Verhaltensweisen erwartet. Nicht nur mehr Digitalisierung, sondern auch mehr Auseinandersetzung mit Digitalisierung ist deshalb angebracht. Ad 3: Welche Wirkung hat Mobilität auf den Erkenntnisprozess? Übermäßige digitale Mobilität führt nicht unbedingt zu mehr Erkenntnis. Zu viel kann zu Desorientierung und Verunsicherung führen. Deshalb ist es notwendig, zwischen Chancen und Risiken die Balance zu halten. Der ›skeptische Blick nach innen‹ und der ›skeptische Blick nach außen‹ helfen, das Fließgleichgewicht zu regulieren.

17 Shoshana Zuboff spricht von »Verhaltensüberwachung«. »Die Nutzer sind die Quelle eines kostenlosen Rohstoffs für einen neuartigen Produktionsprozess«. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main 2018, S. 145. 18 Günther Anders nutzt in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, 3. Aufl., München 1984, S. 252, den Begriff »invertierte Imitation«: »Wir bilden unsere Welt den Bildern der Welt nach.«

Bewegung, Flexibilität, andere Formen von Mobilität

Berthold Over (Greifswald)

Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit Mobilität und Migration von Musikerinnen und Musikern in der Frühen Neuzeit

Anders als in der heutigen Wahrnehmung einer eher statischen Gesellschaft gehörten Migration und Mobilität zur Lebenswirklichkeit des frühneuzeitlichen Europas dazu. Obwohl Typologisierungen von migrierenden und mobilen Musikerinnen und Musikern an der Tatsache zu scheitern scheinen, dass Migration und Mobilität die unterschiedlichsten Wege, Motivationen und Ausprägungen erfahren können, die sich vielleicht einer Typologisierung widersetzen, werden im vorliegenden Beitrag kollektivbiografisch Typen extrahiert, die exemplarisch die Bandbreite von Migration und Mobilität aufzeigen. Ausgehend vom Münchner Hof wird auch manifest, dass bestimmte Rahmenbedingungen Migration und Mobilität verhindern konnten. Migration und Mobilität in der historischen Forschung

In der Frühen Neuzeit gab es zahlreiche Formen von Mobilität und Migration, die von der historischen Forschung bereits klassifiziert und typologisiert wurden. Neben den ›klassischen‹ Migrationstypen – Arbeits-, Glaubens- und Fluchtmigration – finden wir jedoch viele weitere wie Bildungs-, Heirats- und Armutsmigration. Während in der historischen Forschung Migration meist neutral als ›Ortswechsel‹ zum Zwecke einer sozialen, ökonomischen oder religiösen Statusverbesserung und Statussicherung verstanden wird, ist Mobilität umfassender und umschreibt die grundsätzliche Bewegung und Bewegungsbereitschaft von Personen und Personengruppen.1 Migration impliziert das Überschreiten von territorialen Grenzen, die allerdings in der Frühen Neuzeit gerade im Heiligen Römischen Reich zahlreich und engmaschig waren, aber auch das Überschreiten 1

Rainer S. Elkar, »Migration und Mobilität – ein Diskussionsbericht«, in: Migration in der Feudalgesellschaft (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft 8), hrsg. von Gerhard Jaritz, Frankfurt am Main und New York 1988, S. 371–385, hier: S. 380; anders: Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 17–21.

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Berthold Over

politischer, sozialer und kultureller Grenzen, was in der Geschichtswissenschaft als cross-community bezeichnet wird.2 Auch die Wanderung vom Land in die Stadt entspricht nach dem cross-community-Konzept der Migration. Dabei fokussiert die Forschung gemeinhin Migration in eine Zielrichtung: Auf Emigration aus dem Heimatland folgt Immigration in ein Zielland. Insgesamt wird in der historischen Forschung die Schwierigkeit der Typologisierung von Migrationsphänomenen betont.3 Das liegt daran, dass Mobilität und Migration an Einzelfälle und Einzelschicksale gebunden sind und Motive (die sich im Laufe der Migration verändern können), Zeitpunkte, Dynamiken (z. B. Kettenmigration) und Muster (z. B. Integrationsstrategien) teilweise sehr voneinander differieren. Trotzdem ist eine Typenbildung sinnvoll und lohnend, um im Sinne einer Kollektivbiografik Muster und Patterns beschreiben zu können, die zum Verständnis der frühneuzeitlichen Gesellschaft beziehungsweise (bezogen auf die Musik) der Musikkultur beitragen können. Dabei werden im vorliegenden Beitrag mikrohistorisch vor allem Musikerinnen und Musiker des Münchner Hofs und insgesamt der Wittelsbacher Dynastie (neben Bayern Pfalz-Neuburg, Pfalz-Sulzbach und Pfalz-Zweibrücken) im 17. und 18. Jahrhundert in den Blick genommen. Aufgrund der Aktenlage, die in der Regel in der von Männern dominierten Gesellschaft der Frühen Neuzeit den männlichen Musiker fokussiert, kann hier allerdings weniger konkret auf Musikerinnen eingegangen werden. Arbeitsmigration – Musikerinnen und Musiker an Institutionen

Musikerinnen und Musiker kamen teilweise aus weit entfernten Territorien, um eine Anstellung an einem Hof anzunehmen. Ein Dienerbuch aus dem Herzogtum Pfalz-Zweibrücken von 1724 beispielsweise notiert die Herkunftsorte der sieben angestellten Musiker, die, da sie Bläser sind, wohl allesamt militärische und vielleicht auch höfische Aufgaben hatten beziehungsweise Funktionen erfüllten. Daraus kann man entnehmen, dass nur der Trompeter-Schüler Thomas Bock aus dem zweibrückischen Territorium, nämlich aus Wissembourg (Kleinweissenburg) im Elsass, stammte. Die weiteren sechs Musiker kamen aus Bonn, Fulda, Tübingen, der Oberpfalz, der Wetterau und sogar aus Wien.4 2 Vgl. Jan Lucassen und Leo Lucassen, »The Mobility Transition Revisited, 1500–1900: What the Case of Europe Can Offer to Global History«, in: Journal of Global History 4 (2009) 3, S. 347–377. 3 Vgl. Sigrid Wadauer, »Historische Migrationsforschung. Überlegungen zu Möglichkeiten und Hindernissen«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008) 1, S. 6–14, hier: S. 6f. 4 Bonn: Jacob Bellinghausen, Pauker; Fulda: Johann Dietrich Wagner, Oboist; Tübingen: Johann Jacob Schmidt, Oboist; Oberpfalz: Georg Jacob Adler, Trompeter; Wetterau: Hieronymus Schüler,

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Charakteristisch für Hofmusiker (weniger für Hofmusikerinnen, da sie gegebenenfalls durch Heirat in ihrer Mobilität eingeschränkt waren) ist, dass Mobilität und Migration Vorstufen und Voraussetzungen für Sesshaftigkeit waren. Ziel der Reisen und Wanderungen war, eine feste Position zu erhalten.5 Ist dieses Ziel in einer Anstellung als Hofmusiker erreicht, blieb ein Musiker in den meisten Fällen in seiner Position, die ohnehin relativ sicher und durch die Aussicht auf eine Pension auch finanziell attraktiv war. Persönliches Karrierestreben und professionelle Weiterentwicklung durch den Wechsel in andere, möglicherweise prestigeträchtigere musikalische Institutionen oder lukrativere Positionen spielten im Leben eines Hofmusikers meist keine Rolle. Statt Eigeninitiative finden wir häufig die Abwerbung durch einen Arbeitgeber.6 So ist es mehr als bezeichnend, dass 1715, nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, 70 % der 1706 durch die österreichische Okkupation entlassenen Münchner Hofmusiker wiederangestellt werden konnten. Anstatt eine neue Position zu suchen, hofften die Musiker offensichtlich auf die Restitution der alten politischen Ordnung und die Rückkehr des Hofes. Bezeichnend ist weiterhin, dass die alten Anstellungsdekrete, die vor der Auflösung erlassen wurden, weiterbestanden. Nur die neu aufgenommenen Musiker erhielten neue Dekrete. Dies ist ein Zeichen dafür, dass einerseits die Auflösung durch die Österreicher in den Augen des bayerischen Hofes nicht wirksam war und dass andererseits die Dekrete eine quasi überzeitliche Wirkung entfalteten. Lösbar waren sie nur durch den Tod des Fürsten oder den Tod des Musikers.7 Oboist; Wien: Wilhelm Muth, Trompeter. Vgl. Erwin Friedrich Schmidt (Hrsg.), Dienerbuch des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken (= Schriften zur Bevölkerungsgeschichte der pfälzischen Lande 4), Ludwigshafen 1969. 5 Gesa zur Nieden, »Roads ›which are commonly wonderful for the musicians‹ – Early Modern Times Musicians’ Mobility and Migration«, in: Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early ­Mo­dern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges (= Mainz Historical Cultural Sci­­ ences 33), hrsg. von ders. und Berthold Over, Bielefeld 2016, S. 11–31. 6 Ein Beispiel mag der Kastrat Filippo Balatri sein, der 1715 am Münchner Hof angestellt wurde. Trotz seiner atemberaubenden Migrationsgeschichte – Balatri war zehn Jahre im Moskau Zar Peters des Großen, kam bis zu den Tataren, war später in Wien und befand sich gerade nach einem Aufenthalt in London über Düsseldorf und München auf dem Rückweg nach Florenz – blieb er in Diensten des Großherzogs von Toskana, Cosimo III. de’ Medici. Erst nach einigen Verhandlungen konnte er in München engagiert werden. Jan Kusber, Matthias Schnettger, »The Russian Experience: The Example of Filippo Balatri«, in: Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges (= Mainz Historical Cultural Sciences 33), hrsg. von Gesa zur Nieden und Berthold Over, Bielefeld 2016, S. 241–253; Berthold Over, »From Munich to ›Foreign‹ Countries and Back Again. Relocation of the Munich Court and Mi­gration of Musicians (c. 1690–1715)«, in: ebd., S. 91–133, hier: S. 109–111. 7 Vgl. Berthold Over, »Employee Turnover in Hofkapellen of the Wittelsbach Dynasty: Types and

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Trotzdem sind selbstverständlich Fälle bekannt, in denen Hofmusiker entlassen wurden. Als Karl Philipp von der Pfalz 1716 die Sukzession seines Bruders Johann Wilhelm antrat, machte die Fusion der Düsseldorfer und Innsbrucker Hofkapellen Entlassungen notwendig. Die entlassenen Musiker fanden jedoch teilweise in der eigenen Pfalz-Neuburger Dynastie eine Wiederanstellung, so dass dynastische Verbindungen im Sinne eines Patronage- und Klientelsystems ein quasi ›soziales Netz‹ konstituierten, in dem anstellungslose Musiker aufgefangen werden konnten.8 Ähnliche Mechanismen finden wir auch, wenn entlassene Musiker durch Suppliken eine Wiederanstellung erlangten, wie es zum Beispiel beim Amtsantritt Kurfürst Clemens Augusts in Bonn geschah, was keinen Einzelfall darstellt.9 In gewisser Weise fühlte sich der Hof verantwortlich gegenüber seinem Personal – wie ein Patron gegenüber seinen Klienten –, auch wenn er Gehälter kürzte oder teilweise nicht auszahlte, was wiederum einerseits nicht dazu führte, dass sich Musiker in großem Stile wegbewarben, und andererseits Klagen und nachträgliche Zahlungen hervorrief, da die Gehälter per Dekret festgeschrieben waren.10 Als städtischer Musiker bekleidete man ebenfalls eine Lebensstellung. Gerade in protestantischen Gebieten bot das Kantorat, in größeren Städten das Amt eines Musikdirektors der Hauptkirchen, eine prestigeträchtige Position, die als Ziel der Sesshaftigkeit angestrebt wurde. Aber auch hier lassen sich Patterns erkennen: Sowohl Johann Sebastian als auch Carl Philipp Emanuel Bach waren an Höfen angestellt, bevor sie Musikdirektoren in Leipzig und Hamburg wurden. Auch Georg Philipp Telemann wirkte an den Höfen von Sorau und Eisenach, wurde dann Musikdirektor in Frankfurt am Main und schließlich in Hamburg. In diesem Falle müssen die Höfe als ›Sprungbrett‹ betrachtet werden, um eine lukrative städtische Position zu erhalten.11 Andere Verhältnisse herrschten demgegenüber um 1700 in Rom. Die dortigen Adels- und Kardinalshöfe beschäftigten nur eine geringe Anzahl an Musi-

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Reasons of (Impeded) Migration (1715–1725)«, in: Music Migrations in the Early Modern Age: People, Markets, Patterns and Styles, hrsg. von Vjera Katalinić, Zagreb 2016, S. 143–163, hier: S. 150. Vgl. Berthold Over, »Düsseldorf – Zweibrücken – Munich. Musicians’ Migrations in the Wittelsbach Dynasty«, in: Music Migration in the Early Modern Age. Centres and Peripheries – People, Works, Styles, Paths of Dissemination and Influence, hrsg. von Jolanta Guzy-Pasiak und Aneta Markuszewska, Warschau 2016, S. 65–86, hier: S. 76–80. Vgl. Over, »Employee Turnover« (wie Anm. 7), S. 150. Ebd., S. 150f. Dies lässt sich insbesondere im Falle Carl Philipp Emanuel Bachs ablesen, dessen Tätigkeit am Hof als Ausweis seiner Befähigung offenbar genügte. Vgl. Joachim Kremer, Das norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 43), Basel, Kassel, London et al. 1995, S. 131.

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kerinnen und Musikern, um sich für größere Aufführungen eines Pools an Komponisten, Instrumentalisten, Sängerinnen und Sängern zu bedienen, die auf einem flexiblen Arbeitsmarkt ihr Auskommen bei vielen verschiedenen Auftraggeberinnen und Auftraggebern sichern mussten.12 Ähnlich, fast prekär waren Anstellungsverhältnisse bei Institutionen, die über keine geregelten Einkünfte verfügten, beziehungsweise deren begrenzte Ressourcen eine ständige Evaluierung der musikalischen Aktivitäten notwendig machte. So wurde etwa an den venezianischen Ospedali jährlich über die Weiterbeschäftigung des Kapellmeisters und der Musiklehrer abgestimmt.13 Mobilität kann bei diesen beiden Beispielen in der Flexibilität gesehen werden, die Musikerinnen und Musiker in der ständigen professionellen Neuorientierung aufweisen mussten. Arbeitsmigration – Spezialistinnen und Spezialisten

Musikerinnen und Musiker, die über stilistisches und technisches Know-how verfügten, sind generell eine hochmobile Gruppe. Gerade die italienische Oper erforderte eine hohe Zahl an Expertinnen und Experten, die in puncto Stil, Gesangs- und Spieltechnik, Bühnenbild, Inszenierung und Maschinentechnik Spezialwissen besaßen. Doch auch französische Musikerinnen und Musiker wurden wegen ihres Wissens um den französischen Stil oder – mit Blick auf französische Tanzmeister, Tänzerinnen und Tänzer – wegen ihrer Kenntnis einer wichtigen Vergnügungsform soziabler Zusammenkünfte engagiert, deren Erlernung in der 12 Vgl. etwa die Listen der angestellten und angeheuerten Musiker in: Ursula Kirkendale, »The Ruspoli Documents on Handel«, in: Journal of the American Musicological Society 20 (1967), S. 222–273; dies., Antonio Caldara. Life and Venetian-Roman Oratorios. Revised and translated by Warren Kirkendale (= Historiae musicae cultores 114), Florenz 2007; Franco Piperno, »Francesco Gasparini ›virtuoso dell’Eccellentissimo Sig. Principe Ruspoli‹: contributo alla biografia gaspariniana (1716–1718)«, in: Francesco Gasparini (1661–1727). Atti del primo convegno internazionale (= Quaderni della Rivista Italiana di Musicologia 6), hrsg. von Fabrizio Della Seta und Franco Piperno, Florenz 1981, S. 191– 214; Hans Joachim Marx, »Die Musik am Hofe Pietro Kardinal Ottobonis unter Arcangelo Corelli«, in: Studien zur italienisch-deutschen Musikgeschichte (= Analecta musicologica 5), hrsg. von Friedrich Lippmann, Köln 1968, S. 104–177; Stefano La Via, »Il Cardinale Ottoboni e la musica. Nuovi documenti (1700–1740), nuove letture e ipotesi«, in: Intorno a Locatelli. Studi in occasione del tricentenario della nascita di Pietro Antonio Locatelli (1695–1764) (= Speculum musicae 1), hrsg. von Albert Dunning, Lucca 1995, S. 319–526; Hans Joachim Marx, »Die ›Giustificazioni della casa Pamphilj‹ als musikgeschichtliche Quelle«, in: Studi musicali 12 (1983), S. 121–187; Alexandra Nigito, La musica alla corte del Principe Giovanni Battista Pamphilj (1648–1709) (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento/Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 1), Kassel 2012. 13 Vgl. Berthold Over, Per la Gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 91), Bonn 1998, S. 23.

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adligen Gesellschaft unabdingbar war. Durch das Engagement italienischer wie französischer Musikerinnen und Musiker konnte man einerseits eine kulturelle (und politische) Orientierung zur Schau stellen und sich andererseits in kulturelle Umfelder integrieren. Der Münchner Hof ist ein Paradebeispiel für das Engagement von italienischen und französischen Kräften. In der 1654 eröffneten ersten fest etablierten Hofoper Deutschlands ließ der Münchner Kurfürst italienische Opern aufführen und benötigte dazu das entsprechende Bühnenpersonal. In den folgenden mehr als 150 Jahren bildeten insbesondere italienische Sängerinnen und Sänger einen festen Bestandteil der Münchner Hofkapelle. Französische Musikerinnen und Musiker wurden hingegen vor allem unter Kurfürst Max Emanuel angestellt, der damit einerseits seinen persönlichen musikalischen Präferenzen Rechnung trug – er bevorzugte französische Bläser – und andererseits seine kulturelle Orientierung zur Schau stellte. Schon in den 1680er-Jahren schickte er Musiker der Münchner Hofkapelle oder deren Söhne zur Ausbildung nach Paris.14 Als Max Emanuel, der 1685 eine Tochter Kaiser Leopolds I. geheiratet hatte, 1692 Kaiserlicher Statthalter der Spanischen Niederlande wurde und bis 1701 in Brüssel residierte, gelangte er in die unmittelbare kulturelle Nachbarschaft und unter die kulturelle Dominanz Frankreichs. Anstatt hier – was ganz im Sinne Habsburgs gewesen wäre – einen kulturellen Gegenpol zu setzen, etablierte er mit dem Théâtre du quai au Foin und später mit dem Théâtre de la Monnaie Pflegestätten des französischen Musiktheaters, indem er Opern Jean-Baptiste Lullys aufführen ließ.15 In München etablierte sich bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts das System der Gastsängerinnen und Gastsänger, meist internationale ›Stars‹, die Zeitverträge erhielten und für eine oder mehrere Spielzeiten neben den Mitgliedern der Hofkapelle in der Oper auftraten. So kamen in dieser Zeit unter anderem Margherita Durastante,16 Faustina Bordoni,17 Carlo Broschi (Fa­ri­nelli),18 später Gaetano Guadagni19 nach München, um bei Opernaufführungen mitzuwirken. Ohnehin ist das Stagione-System der Opernhäuser vor allem in Italien und 14 Die Brüder Johann Anton Franz, Felix Emanuel Cajetan und Sigmund Joseph Victor Amadee, Söhne des Hofmusikers Wolfgang Deibner/Teybner/Teubner, sowie Dominique/Dominikus Mayr. Vgl. Over, »From Munich« (wie Anm. 6), S. 94f. 15 Manuel Couvreur und Jean-Philippe van Aelbrouck, »Gio Paolo Bombarda et la creation du Grand Théâtre de Bruxelles«, in: Le théâtre de la Monnaie au XVIIIe siècle, hrsg. von Manuel Couvreur, Brüssel 1996, S. 1–27. 16 L’amor d’amico vince ogni altro amore (1721). 17 Edipo (1729). 18 Nicomede (1728), Edipo (1729). 19 Orfeo ed Euridice (1773, 1775).

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England ein Grund für mobile Sängerinnen und Sänger, die von einem Engagement zum nächsten reisten. ›Arbeitsmobilität‹20 – Musikerinnen und Musiker im Gefolge

Eine weitere Form des Ortswechsels ist unmittelbar mit der Person des Fürsten und seiner Familie verbunden und lässt sich nur bedingt mit den gängigen Migrationsbegriffen klassifizieren: Musikerinnen und Musiker begleiteten die Mitglieder der fürstlichen Familie in deren Entourage oder als Funktionsträger*innen. Allenfalls der Begriff der »Arbeitsmobilität« könnte dieses Phänomen treffend umschreiben. Um 1700 verlagerte der Münchner Hof mehrmals seinen Sitz. Als Max Emanuel 1692 seine Residenz nach Brüssel verlegte, ließ er einige Musiker aus München kommen, um die dortige Kapelle zu verstärken. Andere rekrutierte er unter lokalen Kräften, wobei diese neu engagierten Musiker auf das Münchner Hofbudget angestellt wurden, so dass sie formell Münchner Hofmusiker wurden. Als Max Emanuel 1701 aufgrund der Wirren des Spanischen Erbfolgekriegs wieder nach München zurückkehrte, folgten ihm die meisten der in Brüssel tätigen Musiker nach. Darunter befanden sich auch Peter Le Vray, Remy Normand und Toussain Poulain, die aufgrund ihrer Münchner Verträge die Chance einer Übersiedlung nutzten.21 Während des Kriegs musste die kurfürstliche Familie München verlassen, Bayern wurde von Österreich okkupiert. Max Emanuel ging zurück in die Spanischen Niederlande und später nach Frankreich; Therese Kunigunde nahm Exil in Venedig; die kurfürstlichen Kinder wurden nach Klagenfurt und Graz exiliert. Bei allen Familienmitgliedern finden wir Musiker, die mit den Regenten reisten, ihnen nachreisten oder – im Falle der Prinzen – von der Okkupationsmacht angestellt wurden, um eine standesgemäße Hofhaltung und Musikerziehung zu gewährleisten. Die meisten Musiker finden wir 1715 im Münchner Hofstaat wieder. Dazu gehören auch solche, die von Therese Kunigunde in Venedig rekrutiert wurden, unter anderem hatte sie aus diesem Grund Kontakt zu Antonio Vivaldi.22 20 Der Begriff der »Arbeitsmobilität« entstammt nicht der historischen Forschung und wird zur Bezeichnung des im Folgenden beschriebenen Phänomens verwendet. 21 Vgl. dazu Over, »From Munich« (wie Anm. 6), S. 99. 22 Andrea Zedler, »Alle Glückseligkeit seiner Education dem allermildesten Ertz-Hause Oesterreich zu dancken. Hofstaat, Bildung und musikalische Unterweisung des bayerischen Kurprinzen Karl Al­ brecht in Graz (1712–1716)«, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), S. 337–366; Over, »From Munich« (wie Anm. 6), S. 100–107; ders., »›… sotto l’ombra della Regina di Pennati‹. Antonio Vivaldi, Kurfürstin Therese Kunigunde von Bayern und andere Wittelsbacher«, in: Italian Opera in

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Was sich hier abzeichnet, ist eine enge Abhängigkeit der Musikerin und des Musikers vom Fürsten und seiner Familie. Auslöser für Mobilität und Migra­ tionen von Musikerinnen und Musikern ist der Fürst (beziehungsweise seine Familie) und seine Reisen, Feldzüge und politisch motivierten Bewegungen und nicht ein persönliches Karrierestreben, das als Motiv weitgehend in den Hintergrund rückt. Im 17. und 18. Jahrhundert etablierte sich die als Grand Tour bekannte Ausbildungsreise von Adligen, die auf ihrer Reise durch verschiedene Teile Europas nicht nur andere Länder, Kulturen und politische Systeme kennenlernten, sondern sich auch in Diplomatie üben, Zeremonielle praktizieren, Netzwerkpflege betreiben sowie neue Kontakte knüpfen konnten. Die Ausbildungsreise diente somit nicht nur der Edukation der Weltgewandtheit, sondern verfolgte auch den Zweck, sich auf dem politischen Parkett zu profilieren. Zur eigenen Profilierung und Repräsentation führten Fürstensöhne oftmals Musiker in ihrem Gefolge. Karl Albrecht von Bayern, dessen Grand Tour ihn 1715–1716 nach Italien führte, hatte vier Musiker in seiner 70-köpfigen Suite, die für Kammermusiken und zur Jagd benötigt wurden.23 Wichtig ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass nicht nur Karl Albrecht unter anderem neue kulturelle Erfahrungen machen konnte, auch die ihn begleitenden Musiker konnten im vorliegenden Falle italienische Musik in allen ihren Facetten (Kompositionen, Stil, Gesangs- und Spieltechnik usw.) unmittelbar und authentisch rezipieren und diese Erfahrung für die eigene musikalische Tätigkeit nutzbar machen. Als Motor von Migration rückt das Militär in der historischen wie in der musikhistorischen Forschung oftmals zu wenig in den Blickpunkt. Bezogen auf die Musik erfüllten Trompeter, Pauker und Oboisten spezifische Funktionen in Regimentern. Die Hof- und Feldtrompeter, wie sie in den Münchner Akten bezeichnet werden, sowie die dazugehörigen Pauker verfügten über eine spezifische Signalkompetenz, denn die militärischen Signale unterschieden sich von Territorium zu Territorium.24 Central Europe 1614–1780, Bd. 3: Opera Subjects and European Relationships (= Musical Life in Europe 1600–1900. Circulation, Institutions, Representation), hrsg. von Norbert Dubowy, Corinna Herr und Alina Żórawska-Witkowska, in Zusammenarbeit mit Dorothea Schröder, Berlin 2007, S. 251–297. 23 Zur Grand Tour Karl Albrechts vgl. Andrea Zedler, »Reiselust und Reisefrust; Kurprinz Karl Al­ brechts Aufenthalt in Venetien«, in: Prinzenrollen 1715/16. Wittelsbacher in Rom und Regensburg, hrsg. von ders. und Jörg Zedler, München 2016, S. 63–92; dies., »Opernlogen und Menuett. Bayern und Sachsen im Netz der (musikalischen) Symbolpolitik Venedigs«, in: Prinzen auf Reisen. Die Italienreise von Kurprinz Karl Albrecht 1715/16 im politisch-kulturellen Kontext (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 86), hrsg. von ders. und Jörg Zedler, Köln, Wien und Weimar 2017, S. 189–211. 24 Vgl. Detlef Altenburg, Untersuchungen zur Geschichte der Trompete im Zeitalter der Clarinblaskunst (1500–1800) (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 75), 3 Bde., Regensburg 1973, Bd. 1, S. 88–93.

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Militärmusiker sind an Truppenbewegungen gebunden und aus dem Spanischen Erbfolgekrieg sind einige Beispiele bekannt, die den Aktionsradius von ihnen aufzeigen. Drei Münchner Trompeter begleiteten Max Emanuel in sein Exil in die Spanischen Niederlande und Frankreich.25 Mindestens fünf weitere wurden im Exil angestellt. Sie stammten jedoch, wie uns die deutschen Namen verraten,26 nicht aus der geografischen Region, in der sich Max Emanuel aufhielt, sondern kamen wohl von seinen dort aktiven bayerischen Truppen. Als 1715 der Münchner Hof nach der Exilzeit der Regenten zurückkehrte und die Hofkapelle reorganisiert wurde, wurden einige neue Trompeter am Hof angestellt, die während des Kriegs in den Regimentern der Grafen von Arco und von Taufkirchen aktiv waren.27 Arbeitsmigration – nomadisierende Musikerinnen und Musiker

Nomadisierende Musikerinnen und Musiker sind bis jetzt für die Frühe Neuzeit lediglich rudimentär erforscht. Das liegt daran, dass sie nur sehr wenige aktenmäßige Spuren hinterlassen haben. Die Forschungen von Rashid-S. Pegah haben einen Musiker zutage gefördert, der paradigmatisch das Schicksal eines nomadisierenden Musikers aufzeigen kann. Jonas Friederich Boenicke, ein Sänger (Tenor) und möglicherweise Komponist, wurde wahrscheinlich um 1700 in Gröningen bei Halberstadt geboren und taucht zwischen 1723 und 1732 hauptsächlich an den mitteldeutschen Höfen in Köthen, Eisenach, Gotha und Weißenfels, aber auch im hessischen (Bad) Homburg vor der Höhe auf.28 1733 scheint er in Polen gewesen zu sein, im Jahr darauf in Italien. 1735 ist er auf der Rückreise aus Italien im bayerischen Memmingen nachweisbar, wo er mehrmals im dortigen Collegium musicum auftrat, um anschließend wieder im mitteldeutschen Raum aktiv zu sein. 1737 ist er letztmalig in Gotha belegt. Man weiß von Boenicke nur durch Gratifikationen, die er für seine Auftritte erhielt, durch Reisegelder, durch Empfehlungsschreiben und durch die Akten des Memminger Collegium musicum. Aus Letzteren erfährt man auch, dass er verheiratet 25 Abraham Ebenpöck (angestellt seit mindestens 1690), Franz Ories (seit mindestens 1690), Dominikus Zehetner (seit 1704). Vgl. Over, »From Munich« (wie Anm. 6), S. 100. 26 Matthias Anton Fink, Johann Caspar Burger, Hyacinth Hochpain, Cornelius Gerbl, Franz Xaver Lorenz. Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd., S. 104. 28 Vgl. Rashid-S. Pegah, »›… und bißhero mein Glück in der Welt zu suchen …‹ – Notes on the Biography of Jonas Friederich Boenicke«, in: Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges (=  Mainz Historical Cultural Sciences 33), hrsg. von Gesa zur Nieden und Berthold Over, Bielefeld 2016, S. 227–240.

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war, was zeigt, dass seine nomadisierende Profession durchaus ein Auskommen sicherte, mit dem er eine Familie ernähren konnte. Dieses Auskommen erzielte er vor allem in Mitteldeutschland, wo er an den Höfen offenbar gerne gesehen war, da er sie in vielen Fällen über Jahre hinweg aufsuchte.29 Trotzdem gelang es ihm nicht – oder vielleicht wollte er es auch nicht –, eine feste Anstellung an einem der Höfe zu erhalten und somit sesshaft zu werden. Nomadisierende Musiker und Musikerinnen wie Boenicke sowie von einem zum anderen Engagement reisende Sängerinnen und Sänger scheinen Prototypen der von Stadt zu Stadt reisenden Virtuosinnen und Virtuosen zu sein, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im europäischen Musikleben etablierten und zu einer festen Größe des sich institutionalisierenden Konzertwesens wurden, das unmittelbar mit gesellschaftlichen Veränderungen einhergeht: Die sich öffnenden Höfe ›teilten‹ ihr musikkulturelles Engagement mit der Stadt; das wirtschaftlich und politisch erstarkende Bürgertum fokussierte sein musikkulturelles Interesse unter anderem auf den Konzertsaal. Gerade umherreisende Virtuosinnen und Virtuosen aber machten durch ihre Mobilität neue kulturelle Erfahrungen, die sich auf stilistischer oder spieltechnischer Ebene, aber auch auf Elemente landestypischer Volksmusik erstreckten.30 Auch Boenicke machte sich seine Italienerfahrung zunutze und präsentierte in Memmingen »Seyne Eygene Stück, Welsch«,31 womit entweder Eigenkompositionen auf italienische Texte im italienischen Stil oder italienische Kompositionen aus seinem Besitz gemeint sein dürften. Mobilität bedeutete immer auch Horizonterweiterung, Professionalisierung und Kulturtransfer. Selbstverständlich dürfen bei den nomadisierenden Musikerinnen und Musikern wandernde Operntruppen nicht unerwähnt bleiben. Ihr Geschäftsmodell implizierte die ständige Verlagerung der musikalischen Produktionsstätte mit einem mehr oder weniger festen Ensemble an Komponisten, Librettisten, Ins­ trumentalisten, Sängerinnen, Sängern und Bühnenbildnern. Um Opern aufzuführen, blieb eine Truppe in der Regel mehrere Monate an einem Ort, den sie oft 29 Er wurde offenbar nicht als vagabundierender Musiker betrachtet, der obrigkeitliche Repressalien zu befürchten gehabt hätte. Vgl. dazu Harald Kleinschmidt, Migration und Integration. Theoretische und historische Perspektiven (= Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 24), Münster 2011, S. 104f. 30 Vgl. etwa Vjera Katalinić, »Zu einigen Popularthemen in Jarnovick’s Violinkonzerten«, in: International Review of Aesthetics and Sociology of Music 18 (1987), S. 19–30; dies., »Routes of Travels and Points of Encounters Observed Through Musical Borrowings: The Case of Giovanni Giornovichi (Ivan Jarnović), an 18th-Century Itinerant Violin Virtuoso«, in: Music Preferred: Essays in Musicology, Cultural History and Analysis in Honour of Harry White, hrsg. von Lorraine Byrne Bodley, Wien 2018, S. 701–716. 31 Pegah, »›… und bißhero mein Glück« (wie Anm. 28), S. 235.

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nach dem Kriterium der potenziellen Publikumsfrequenz auswählte. So wurden Opern häufig in Leipzig zu Messezeiten oder in Frankfurt am Main zu Kaiserkrönungen gegeben. Andere Orte wiesen einen hohen Anteil von adligem Publikum auf wie Graz oder Ljubljana (Laibach), Hauptstädte von Kärnten und Krain. Truppen wie die von Antonio Maria Peruzzi, Pietro und Angelo Mingotti, Antonio Denzio, Sante Lapis oder Giovanni Battista Locatelli sowie die »Piccoli Hollandesi« trugen das italienische Opernrepertoire mit seinen spezifischen stilistischen und gesangstechnischen Charakteristika in solche Gegenden des Heiligen Römischen Reichs und darüber hinaus, in denen die Etablierung einer festen Oper aus ökonomischen Gründen keinen Sinn gemacht hätte.32 Und mit der Truppe von Eustachio Bambini haben wir ein Paradebeispiel für einen Kulturtransfer, denn durch den Parisaufenthalt der Truppe wurden bahnbrechende musikalische Entwicklungen ausgelöst: Bambini führte dort 1752 Giovanni Battista Pergolesis Serva padrona auf, was bekanntlich die »Querelle des Bouffons« mit ihren heftigen Diskussionen um die traditionelle französische Tragédie lyrique à la Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau auslöste.33

32 Um nur wenige Studien zu nennen: Berthold Over, »Debts and Destiny: New Findings on Antonio Maria Peruzzi and the Origin of His Opera Touring Business«, in: Operatic Pasticcios in 18thCentury Europe: Contexts, Materials and Aesthetics (Mainz Historical Cultural Sciences 45), hrsg. von dems. und Gesa zur Nieden, Bielefeld 2021, S. 241–269; Erich Müller von Asow, Angelo und Pietro Mingotti. Ein Beitrag zur Geschichte der Oper im XVIII. Jahrhundert, Dresden 1917; Rainer Theobald, Die Opern-Stagioni der Brüder Mingotti 1730–1766. Ein neues Verzeichnis der Spielorte und Produktionen, Wien 2015; Daniel E. Freeman, The Opera Theater of Count Franz Anton von Sporck in Prague, Stuyvesant 1992; Rudolf Rasch, »Italian Opera in Amsterdam 1750–1756: The Troupes of Crosa, Giordani, Lapis, and Ferrari«, in: Italian Opera in Central Europe (Musical Life in Europe 1600–1900. Circulation, Institutions, Representation), Bd. 1: Institutions and Ceremonies, hrsg. von Melania Bucciarelli, Norbert Dubowy und Reinhard Strohm, Berlin 2006, S. 115–146; Tatiana Korneeva, »Il baule dell’impresario. Un caso di circolazione dei repertori operistici tra Venezia e Mosca«, in: MLN – Modern Language Notes 135 (2020) 1, S. 125–151; Iolanda Tambellini, »Opera Pantomima«. La Compagnia dei Piccoli Hollandesi (1742–1774), Diss. Università degli Studi Milano 2018/2019. Vgl. auch das Projekt an der Universität Bayreuth Die Opera buffa als europäisches Phänomen. Migration, Mapping und Transformation einer neuen Gattung, http://operabuffa.unibayreuth.de/#/home, abgerufen am 09.01.2023. 33 Vgl. u. a. Alessandro di Profio, »Projet pour une recherche: Le répertoire de la troupe Bambini«, in: La Querelle des Bouffons dans la vie culturelle française du XVIIIe siècle (Sciences de la musique), hrsg. von Andrea Fabiano, Sylvie Bouissou und Gérard Loubinoux, Paris 2005, S. 91–115; David Charlton, Opera in the Age of Rousseau: Music, Confrontation, Realism, Cambridge 2013.

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Glaubensmigration – vertriebene Religionsgemeinschaften

Migrantinnen und Migranten, die am ehesten unseren heutigen Vorstellungen von Migration als Konsequenz von Vertreibung, Verfolgung und ökonomischer Perspektivlosigkeit entsprechen, finden wir unter religiösen Gruppen, das heißt vor allem Hugenotten, die ihr Land verlassen mussten, um sich in einem toleranten religiösen Umfeld eine neue Existenz aufzubauen. Die Hugenotten gehörten der reformierten protestantischen Glaubensrichtung an und waren in der Regel bestrebt, ihre Traditionen in ihrem neuen Lebensumfeld aufrecht zu erhalten. So etwa unterhielten sie beispielsweise in der 1617 gegründeten Exulantenstadt Glückstadt eine eigene Schule, in der die Kinder auf Französisch unterrichtet wurden. Für den Gottesdienst gab es einen Kantor, der jedoch nicht unter lokalen Kräften ausgewählt, sondern eigens im Ausland in französisch-reformierten Gebieten angeworben wurde.34 Gründe dafür dürften darin gelegen haben, dass der Kantor auch den Schulunterricht zu besorgen hatte, daher schieden lokale Kräfte a priori aus. Außerdem dürfen die Berührungsängste zum norddeutschen Protestantismus, der lutherisch orientiert war, nicht unterschätzt werden. Bildungsmigration

Ausbildungsreisen sind wohl die bekannteste Form von Musikermobilität und -migration. Viele der ›großen‹ Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts bildeten sich im Ausland fort. Das Ziel solcher Ausbildungsreisen muss im Kontext einer Professionalisierungsstrategie gesehen werden, die insbesondere die Italien­ erfahrung in den Vordergrund stellte. Doch auch weniger bekannte Musikerinnen und Musiker wurden zur Ausbildung ins Ausland geschickt. Die Brüder Johann Anton Franz, Felix Emanuel Cajetan und Sigmund Joseph Victor Amadee Deibner sowie Dominikus Mayr, die sich in Paris vervollkommneten, wurden bereits genannt. Vom Münchner Hof reisten auch Frauen zu Ausbildungszwecken in entferntere Länder. In Vene­dig finden wir etwa die »Ca[m]mer Portiers Tochter« Anna Kopoltin/Kopoldin, die ab 1754 zur »erlehrnung der Singkunst« Unterricht bei einem »Lehr­ maister« nahm, der vom Hof dafür und für Kost und Logis bezahlt wurde.35 34 Vgl. Gesa zur Nieden, »Fortuna: The Musical Life of Glückstadt in the 17th and 18th Centuries«, in: Music Migrations in the Early Modern Age: People, Markets, Patterns and Styles, hrsg. von Vjera Katalinić, Zagreb 2016, S. 205–218. 35 D-Mhsa, Kurbayern Hofzahlamt 1756. Ab dem Hofkalender 1759 finden wir unter den »Churfürstl. Virtuosinnen« nicht Anna, sondern Maria Adelheit Koppoltin.

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Zudem ließen verschiedene Höfe Sängerinnen an den für ihre Gesangskünste berühmten venezianischen Ospedali ausbilden. Dazu gehört auch Maria Magdalena Lipp, die spätere Ehefrau Michael Haydns.36 Ausbildungsreisen unternahmen weiterhin Handwerksgesellen im Vorfeld ihrer Meisterprüfung. Ihre Wanderungen resultierten aus den in den Zunftordnungen festgelegten Ausbildungswegen, die eine mehrjährige Wanderung in einem bestimmten Radius vorschrieben. Musikalisch relevant sind die Wanderungen der Instrumentenbauer, die wohl auch die Ursache dafür sind, dass deutsche Instrumentenbauer im Ausland nachweisbar sind. Ein frühes Beispiel dafür ist die Familie Tieffenbrucker aus Füssen, deren Familienmitglieder sich in Lyon, Venedig und Padua als Lautenbauer etablierten.37 Fluchtmigration

Die Flucht von Musikerinnen und Musikern aus ihrem Dienst war oftmals selbst verschuldet. Meist hatten sie Schulden oder provozierten durch skandalöses Verhalten ihre Entlassung. Ein Beispiel aus dem Umkreis des Münchner Hofs soll hier herausgegriffen werden. Der Kastrat Valeriano Pellegrini, der auch unter Georg Friedrich Händel sang (unter anderem war er der Nerone in der Agrippina von 1709), war ursprünglich ein Sänger der Cappella Sistina in Rom und wurde von Kardinal Alderano Cybo protegiert. Aufgrund einiger skandalöser Vorfälle – er stritt sich 1692 mit einem anderen Kastraten über das Vorrecht, eine Motette singen zu dürfen, was bei einer Begegnung auf der Straße in einem Duell endete, und weigerte sich im Januar 1693, eine Arie im Teatro di Tordinona zu wiederholen, so dass die Aufführung abgebrochen werden musste, was einer Beleidigung des adligen Publikums gleichkam – wurden seine Rechte in der Cappella Sistina beschnitten und sein Honorar gekürzt. Im April 1693 quittierte er seinen Dienst und ging nach Neapel, um über Hannover (1695), Wien (1699), Mantua (1700), Genua und Piacenza (1701) 1702 nach München in den Dienst Max Emanuels zu kommen.38 36 Vgl. Over, Per la Gloria di Dio (wie Anm. 13), S. 24f.; Caroline Giron-Panel, »Présences musicales étrangères dans les hôpitaux romains et vénitiens. État d’une recherche en cours«, in: Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel (1650–1750) (= Analecta musicologica 52), hrsg. von AnneMadeleine Goulet und Gesa zur Nieden, Basel, Kassel, London et al. 2015, S. 442–464. 37 Vgl. Stefano Toffolo, Antichi strumenti veneziani. 1500–1800. Quattro secoli di liuteria e cembalaria, Venedig 1987, S. 50–51 und S. 89–97. 38 Vgl. Over, »Düsseldorf – Zweibrücken – Munich« (wie Anm. 8), S. 69f.

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Berthold Over

Strukturen für Non-Mobilität

Wie bereits mehrfach angedeutet wurde, existierten gerade in Hofkapellen einige strukturelle Hindernisse für Mobilität. Fürstliche Verfügungsgewalt über die Hofbediensteten, die Prinzipien von Klientelismus und Patronage (die treue und loyale Dienerinnen und Diener erforderten), die gesicherte Lebensstellung machten Hofkapellen zu eher statischen innerhöfischen Korporationen, die sich oftmals zum großen Teil aus den eigenen Reihen durch die Anstellung von Verwandten und Kindern erneuerten. Auch in München privilegierte das Rekrutierungssystem eindeutig Musikerinnen und Musiker, deren Verwandte bereits Kontakte zum Hof hatten, das heißt in der Hofkapelle oder im Hofdienst angestellt oder bereits für eine gewisse Zeit als unbezahlte Akzessisten in der Hofkapelle tätig gewesen waren.39 Während derartige Strukturen einerseits die üblichen Integrationsstrategien von Hofbediensteten widerspiegeln, die versuchten, Familienmitglieder am Hof zu positionieren,40 und andererseits die Etablierung von Musikerdynastien begünstigten und ursächlich mit diesem Phänomen verbunden sind, verhinderten sie für den Durchschnittsmusiker und die Durchschnittsmusikerin eher Mobilität, als dass sie diese förderten. Denn in der Regel erhielten ausschließlich Musikerinnen und Musiker, die bereits in München sesshaft waren, eine Position. Mobilität zeigt sich hingegen in anderer Hinsicht, nämlich als soziale Mobilität. Einige Musikerinnen und Musiker nutzten ihre Stellung, um in der Hofhierarchie aufzusteigen, weitere Positionen neben einer Stelle als Hofmusikerin beziehungsweise Hofmusiker einzunehmen oder ein Adelsprädikat zu erlangen.41 Die unmittelbare Nähe zum Kurfürsten, zum Machtzentrum, sowie zur Kurfürstin, die insbesondere ein Kammerdienst ermöglichte, wie ihn Kammermusikerinnen und -musiker versahen, ließ sich für eigene Status- und Karriereziele nutzen. Die Münchner Kapellordnung aus dem Jahre 1750 zeigt zudem, dass Hofmusikerinnen und Hofmusikern Mobilität bisweilen nur zögerlich zugestanden 39 Vgl. Over, »Employee Turnover« (wie Anm. 7). Eine ambivalente Situation lässt sich in Bezug auf das Kantorat feststellen. Während einerseits Probekantaten auf ein kompetitives System hindeuten, gab es andererseits Ämterkauf und Strategien zur Beeinflussung der Entscheidungsträger. Vgl. Kremer, Das norddeutsche Kantorat (wie Anm. 11), S. 122–133. 40 Vgl. Britta Kägler, »Competition at the Catholic Court of Munich. Italian Musicians and Family Networks«, in: Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges (= Mainz Historical Cultural Sciences 33), hrsg. von Gesa zur Nieden und Berthold Over, Bielefeld 2016, S. 73–90. 41 Vgl. etwa die Musikerfamilie Kröner am Münchner Hof, ebd., S. 83–85. Ein weiteres berühmtes Beispiel für eine Musikerdynastie ist die Familie van Beethoven am Bonner Hof, an dem Großvater (Ludwig), Vater ( Johann) und der junge Ludwig wirkten.

Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit

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wurde. Während es in allen Versionen der Ordnung Regelungen gibt, wie »fremb­den virtuosen« zu begegnen ist, gibt es in früheren zunächst keine, die Konzertreisen der Hofmusikerinnen und Hofmusiker geregelt hätte. Erst in einer späteren Version wird diesen erlaubt zu reisen, wenn der Intendant in Abstimmung mit Kapellmeister und Kammermusikdirektor zugestimmt hat.42 Dies, so scheint es, wurde gänzlich anders in der Mannheimer Hofkapelle praktiziert. Dort gibt es zahlreiche Beispiele von Musikern, die nach Paris reisten und dort im Concert spirituel auftraten, Kompositionen veröffentlichten und sich fortbildeten.43 Sie trugen so mittels ihrer musikalischen Exzellenz den Ruhm des Kurfürsten Karl Theodor weit über die Landesgrenzen hinaus. Das taten im Übrigen ebenfalls mobile Sängerinnen und Sänger, die in Libretti ihre Anstellung sowie ihre Protektorinnen und Protektoren bekannt gaben.

42 Vgl. D-Mhsa, Kriegsarchiv, F 41; Geheimes Hausarchiv, Hofhaushaltsakten 581; Richard Schaal, »Dokumente zur Münchner Hofmusik 1740–1750«, in: Die Musikforschung 26 (1973), S. 334–341. 43 Vgl. Berthold Over, »›Voyage de Paris‹. Christian IV. von Zweibrücken zwischen Akkulturation und Kulturtransfer«, in: Musical Migration: Crossroads of European Musical Diversity (= Studia musicologica labacensia 1), hrsg. von Jernej Weiss, Ljubljana 2017, S. 53–83.

Anja Herrmann (Bielefeld)

Im Zug, im Kopf, im Text, im Bild Oder: Was und wen Marie Bashkirtseff bewegte

Mobilität nimmt einen zentralen Stellenwert im Leben und in den Arbeiten der russischen Künstlerin und Tagebuchautorin Marie Bashkirtseff (1858–1884) ein: So bereiste sie nicht nur viele europäische Städte wie Paris, Nizza, St. Petersburg, Madrid oder Baden-Baden per Kutsche und mit dem neuen Transportmittel, der Eisenbahn. Auch den Wohnort wechselte sie häufig: In Russland geboren verbrachte sie Zeit in Österreich, der Schweiz, Spanien, Deutschland und vor allem in ihrer Wahlheimat Frankreich. Im Tagebuch und in Artikeln beschreibt sie erlebte Einschränkungen aufgrund ihres Geschlechts und formuliert eine Sehnsucht nach (Bewegungs-)Freiheit: Ich beneide die Leute um die Freiheit, allein spazieren gehen zu dürfen, sich auf die Bänke des Gartens der Tuilerien und besonders des Luxembourg setzen zu dürfen und vor den Schauläden der Kunstanstalten stehen zu bleiben, in die Kirchen und Museen hineinzugehen und des Abends in den alten Straßen herumzulaufen. Ja, darum beneide ich sie, und das ist die Freiheit, ohne die man kein wahrer Künstler werden kann. Glaubt ihr, man habe Nutzen von dem, was man sieht, wenn man immerfort in Begleitung ist, und wenn man, um in den Louvre zu gehen, auf den Wagen, auf seine Gesellschafterin warten muß? O verflucht! Dann rase ich darüber, daß ich ein Weib bin.1

Bewegungsfreiheit und das damit imaginierte unbeobachtete Beobachten des Großstadttreibens (v)erklärt sie zur Voraussetzung von Kunst(-schaffen). Damit folgt sie prominenten literarischen Figuren des 19.  Jahrhunderts wie Edgar Allan Poes Mann der Menge (1840). Parallelen lassen sich auch bei Walter Benjamins an Charles Baudelaire geschultem Flaneur, den er im Schritttempo einer Schildkröte in den Passagen promenieren lässt, erkennen. Die so harmlos erscheinende langsame Gangart birgt jedoch ein Dilemma:2 Schlendern bringt 1

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Marie Bashkirtseff, Tagebuch der Maria Bashkirtseff, aus dem Franz. von Lothar Schmidt, hrsg. von Gottfried M. Daiber, gekürzte Ausg., Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1983, S. 67. Die Originalausgabe der kompletten Tagebücher wurde erst später durch einen Freundeskreis veröffentlicht: Marie Bashkirtseff, Mon Journal, 16 Bde., hrsg. von Cercle des Amis de Marie Bashkirtseff, Paris 1995–2005. Vgl. Edgar Allan Poe, »The Man of the Crowd«, in: Burton’s Gentleman’s Magazine, Dezember 1840,

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Anja Herrmann

Frauen im öffentlichen Raum des 19. Jahrhunderts in den Verdacht der Prostitution. George Sands berühmt gewordener Kleidertausch der hyperfemininen Frauenmode gegen einen uniformierenden schwarzen Anzug ist ein subversives und zugleich privilegiertes Beispiel einer Adeligen, sich diese Teilhabe zeitweilig zu verschaffen: Es schien mir, als könne ich um die Welt gehen. Und außerdem, ich mußte mich nicht um meine Kleidung sorgen. Ich lief in jeder Art von Wetter hinaus. Ich kam zu jeder Stunde nach Hause, ich saß im Theatergraben. Keiner achtete auf mich, und keiner erriet meine Verkleidung […]. Keiner erkannte mich, keiner sah mich an, keiner kritisierte mich; ich war ein Atom, das in der riesigen Masse verschwindet.3

Mobilität und deren Grenzen werden in Marie Bashkirtseffs Leben, Fotografien, Tagebuch und Kunst zu Sinnbildern, denen dieser Beitrag kursorisch nachgeht. Die von der Künstlerin eingesetzten Medien geben einen verlebendigenden Eindruck davon, wie bereits im Zweiten Kaiserreich Bewegung vielfältig konturiert, konnotiert und mit Fragen nach Kunstschaffen und Geschlecht beispielhaft verknüpft wurde sowie auch davon, welche politischen Implikationen sie aufgrund gesellschaftlicher Restriktionen mit und nach sich führte. Mit dem titelgebenden Vierschritt – im Zug, im Kopf, im Text, im Bild – stelle ich zunächst Marie Bashkirtseff vor, um im Anschluss exemplarisch ihre textuellen und visuellen Arbeiten in den Blick zu nehmen. Im Zug, oder: Zur bewegten Biografie der »Notre-Dame du Sleeping-car«

Bashkirtseffs Biografie ist gekennzeichnet von Ortswechseln, wie ein kurzer Blick auf einige Stationen ihres Lebens verrät: Sie wird nach offizieller Lesart4 am 24. November 1858 in Gavronzi (heutige Ukraine) als erstes Kind von Marie, geb. Babanine, und Constantin Bashkirtseff in eine Familie des niederen Adels o. S.; Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1983, S. 532. Einige Autorinnen und Autoren wie Anne Friedberg erklären deshalb das Warenhaus zum Ort der Flaneurin. Vgl. Anja Herrmann, Das Fotoatelier als Ort der Moderne. Zur fotografischen Praxis von Marie Bashkirtseff und der Gräfin von Castiglione, Saarbrücken 2016, S. 88. 3 George Sand zitiert nach Rita Täuber, »Einleitung«, in: Femme Flaneur. Erkundungen zwischen Boulevard und Sperrbezirk, Katalog zur Ausstellung im August Macke Haus Bonn, 24.09.– 12.12.2004 und in der Kunstsammlung Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum Bremen, 16.01.–03.04.2005 (= Schriftenreihe Verein August Macke Haus Bonn 47), hrsg. von ders., Bonn 2004, S. 4–20, hier: S. 10. 4 Das Geburtsdatum wurde von Marie Bashkirtseff an einigen Stellen ›beschönigt‹, deshalb diese sperrige Bezeichnung.

Im Zug, im Kopf, im Text, im Bild

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geboren. Ein Jahr später kommt ihr Bruder Paul auf die Welt und die Mutter verlässt den Ehemann. Mit der Trennung nimmt die Reisezeit ihren Anfang. Bis 1870 lebt die Familie weiterhin in Russland, bevor sie sich nach Aufenthalten in Wien, Baden-Baden, Genf und München in Nizza niederlässt. Im Jahr 1873 beginnt Bashkirtseff, die heute als eine der maßgeblichen Diaristinnen des 19. Jahrhunderts gilt, mit dem Schreiben eines Tagebuchs. Zwei Jahre später wird ihr Tuberkulose diagnostiziert. Ihr Traum von einer Ausbildung zur Sängerin endet somit jäh. Am 2. Oktober 1877 tritt sie in die gleichnamige, von dem Maler Rodolphe Julian 1868 gegründete Privatakademie in Paris ein, die als erste Kunstinstitution auch Frauen ein Studium ermöglichte. In ihrem Journal reflektiert sie erst über die erfahrene Ungleichheit von Frauen und Männern im Alltag sowie im Atelier, bevor sie 1881 unter dem Eindruck zeitgenössischer Publikationen wie etwa Alexandre Dumas’ (der Jüngere) Les femmes qui tuent et les femmes qui votent (1880), Emile de Girardins L’Egale de l’homme (1881) oder Emile Zolas L’Assommoir (1879) Kontakt zur entstehenden Frauenbewegung aufnimmt.5 Auf frauenpolitischen Veranstaltungen macht sie unter anderem die Bekanntschaft der Autorin und frühen Feministin Hubertine Au­ clert (1848–1914), deren 1876 gegründetem Verein Le Droit des Femmes sie beitritt und deren Zeitschrift La Citoyenne (Die Bürgerin) sie unterstützt. Bashkirtseff engagiert sich im Geheimen in der Frauenbewegung, ohne Wissen oder Einverständnis der Familie. Für den Besuch frauenpolitischer Veranstaltungen wählt sie verschiedene Maskeraden: Eine ist die der Figur einer in Frankreich aufgewachsenen Engländerin namens Pauline Orell. Unter diesem Pseudonym verfasst sie 1881 auch zwei Artikel: In Les femmes artistes, der am 20. Februar 1881 in La Citoyenne erscheint, fordert sie gleiche Ausbildungsmöglichkeiten in der Kunst für Frauen wie für Männer und klagt knapp 100 Jahre vor Linda Nochlins richtungsweisendem kunstwissenschaftlichen Aufsatz Why Have There Been No Great Women Artists?6 die herrschende Doppelmoral an: Man fragt uns mit nachsichtiger Ironie, wie viele große Künstlerinnen es gegeben hat. Aber, meine Herren, es hat sie gegeben, und das ist erstaunlich, bedenkt man die enormen Schwierigkeiten, auf die sie gestoßen sind.7

Als besonders diskriminierend beschreibt sie den Ausschluss von Frauen vom Prix de Rome, der den Preisträgern einen Aufenthalt in Rom ermöglichte sowie 5 Vgl. Ada Raev, Russische Künstlerinnen der Moderne (1870–1930). Historische Studien, Kunstkonzepte, Weiblichkeitsentwürfe, München 2002, S. 123; Vgl. Sabine Voigt, Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff von 1877–1884, 1. Aufl., Dortmund 1997, S. 128. 6 Deutsche Übersetzung von Linda Nochlins Text, in: Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, hrsg. von Beate Söntgen, Berlin 1996, S. 27–56. 7 Zitiert nach Voigt, Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff (wie Anm. 5), hier: S. 151.

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Anja Herrmann

häufig mit staatlichen Gemäldeankäufen einherging. In den 1880er-Jahren beginnt sich für Bashkirtseff langsam der künstlerische Erfolg einzustellen. Einige ihrer Arbeiten, darunter L’Atelier de femme dirigé par M. Julian und Le Meeting, werden im Salon ausgestellt, zum Teil mit Medaillen bedacht und in Zeitungen wie Le Gaulois, Le Voltaire und Le Journal des Arts besprochen.8 Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend. Der letzte Tagebucheintrag erfolgt am 20. Oktober 1884 und beschreibt den Besuch ihres Lehrers aus der Académie, Jules Bastien-Lepage (1848–1884), der wie sie kaum noch imstande ist zu gehen. Die Immobilität beider Künstler*innen parallelisiert Bashkirtseff – mittlerweile schon zu schwach, Treppen zu steigen – im letzten Eintrag.9 Als sie elf Tage später an Tuberkulose stirbt, nimmt sich die Mutter zügig der Nachlassverwaltung an. Bereits 1885 organisiert die Union des femmes peintres et sculpteurs eine posthume Ausstellung mit einem Catalogue des œuvres de Mlle Bashkirtseff. Marie Bashkirtseff ist eine der wenigen Künstlerinnen, deren Arbeiten Eingang ins Musée National du Luxembourg, dem Museum für zeitgenössische Kunst im 19. Jahrhundert, fanden.10 Wenn Bewegung nicht nur als Lage- oder Ortsveränderung verstanden wird, sondern zusätzlich als Aktion und Handlung, dann lässt sich ›im Zuge‹ des ersten Abschnitts beobachten, dass Bashkirtseff einerseits viele Städte mit Hilfe moderner Technik bereiste und eine Touristin avant la lettre genannt werden kann. Andererseits wird deutlich, dass sie trotz – oder wegen – massiver gesundheitlicher Probleme, die häufig Bettruhe erforderten, und familiär-gesellschaftlicher Restriktionen aktiv an zeitgenössischen politischen Bewegungen teilnahm und damit über ihren Tod hinaus Wirkung erzielte.

  8 Vgl. Dominique Rochay, »Biographie«, in: Marie Bashkirtseff. Peintre et Sculpteur, Katalog zur Ausstellung im Musée des beaux-arts Jules Chéret, le Musée d›art et d›histoire et la Bibliothèque du chevalier de Cessole, 01.07.–29.10.1995, hrsg. von Musée des Beaux-Arts Jules Chéret, Nizza 1995, S. 10–23, hier: S. 22.   9 Vgl. Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 16, S. 311. 10 So zählt Georg Voss 1895 elf Künstlerinnen im Musée National du Luxembourg: Rosa Bonheur, Marie Bashkirtseff, die Genremalerin Demont-Bréton, Eugenie Parmentier, N. de Rothschild, Elodie La Vilette, Jeanne Herbelin, Eva Gonzalés, Eleonore Escallier und Berthe Morisot. Vgl. Georg Voss, »Frauen in der Kunst (1895)«, in: Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855–1945, hrsg. von Carola Muysers, Amsterdam und Dresden 1999, S. 272–282, hier: S. 276.

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Im Kopf, oder: Wie ein Tagebuch ansteckend wirkt

In seiner Hommage 1890 an die jung verstorbene Künstlerin, La Légende d’une Cosmopolite, hatte der französische Schriftsteller und Politiker Maurice Barrès Bashkirtseff als »Notre-Dame du Sleeping-car« bezeichnet.11 Für ihn spiegelten sich in ihren Persönlichkeitsfacetten und ihrer Unrast das Lebensgefühl des modernen Menschen. Wie war eine solch prominente Würdigung einer bis zu ihrem Lebensende nahezu unbekannten Künstlerin sechs Jahre nach ihrem Tod möglich? Die Frage lässt sich mit der Publikation des Tagebuchs beantworten. Das Tagebuch umspannt den Zeitraum von 1873 bis zum 20. Oktober 1884 und füllt insgesamt 105 Hefte, später Bücher mit 200 bis 250 Seiten.12 Nach Bashkirtseffs Tod übergab ihre Mutter 103 Hefte der Bibliothèque Nationale de France, die sie später in 84 Bänden der Öffentlichkeit zugänglich machte. Die erste stark gekürzte und zensierte Edition des Tagebuchs erscheint bei G. Charpentier et Cie. 1887 unter dem Titel Le Journal intime. Zwischen 1887 und 1891 verkaufen sich in Frankreich über 8.000 Exemplare, und Übersetzungen unter anderem ins Deutsche oder Englische werden angefertigt.13 Massive Kürzungen ganzer Tagebuchpassagen haben zur Folge, dass wesentliche Teile der Aufzeichnungen wegfallen und ein holzschnittartiges Bild der Künstlerin überliefert wird.14 Die anschließende – hauptsächlich literaturwissenschaftliche – Rezeption bezieht sich fast ausschließlich auf die Person, selten auf ihr Werk und noch seltener auf ihre Fotografien. Mit den Übersetzungen des Tagesbuchs beginnt die internationale Rezeption Bashkirtseffs von Autorinnen und Autoren wie Laura Marholm oder Hugo von Hofmannsthal (s. Abb. 1).15 Bashkirtseffs Tagebuch ist aber nicht nur für die 11 Vgl. Maurice Barrès, »La Légende d’une Cosmopolite«, in: Huit Jours chez M. Renan. Trois Stations de Psychothérapie. Toute Licence sauf contre l’Amour, hrsg. von dems., Paris 1923, S. 87–174. 12 Vgl. Voigt, Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff (wie Anm. 5), S. 48f. 13 Vgl. Louly Peacock Konz, Marie Bashkirtseff ’s Life in Self-Portraits (1858–1884). Woman as Artist in the 19th Century France (= Studies in art history 12), Lewiston 2005, S. 14. 14 Erst Doris Langley Moore liest für ihre Biografie Marie & the Duke of H. The Daydream Love Affair of Marie Bashkirtseff, London 1966, wieder in den Originalen nach so wie nach ihr in den 1990erJahren Colette Cosnier, Marie Bashkirtseff. Ich will alles sein. Ein Leben zwischen Aristokratie und Atelier, Berlin 1994. Diese kritischen Studien haben langfristig das große Tagebuchprojekt des Marie-Bashkirtseff-Freundeskreises initiiert, das zwischen 1995 und 2005 in 16 Bänden ediert wurde. Vgl. Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1) 15 Vgl. Laura Marholm, »Die Tragödie des jungen Mädchens«, in: dies., Das Buch der Frauen. Zeitpsychologische Porträts, 2. Aufl., Paris und Leipzig 1895, S. 2–38; Hugo von Hofmannsthal, »Das Tagebuch eines jungen Mädchens. ›Journal de Marie Bashkirtseff‹«, in: Reden und Aufsätze I. 1891–1913, hrsg. von Herbert Steiner, Frankfurt am Main 1979, S. 163–173.

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Anja Herrmann Abb. 1: Marie Bashkirtseff auf dem Titelbild von Laura Marholms Das Buch der Frauen, 2. Aufl., Paris und Leipzig 1895.

frauenpolitische oder literarische Rezeption mobilisierend, auch innerhalb der Kunstgeschichte besetzt es eine wichtige Position – wie unter anderem Renate Berger oder Ellen Spieckernagel früh herausgestellt haben. So war Bashkirtseffs Tagebuch bei jungen Künstlerinnen wie Paula Becker, Vally Wygodzinski, Katharine Mansfield, Julie Manet oder Franziska von Reventlow, die allesamt Tage­ buchautorinnen waren, nahezu Pflichtlektüre.16 Paula Becker etwa notierte in das eigene Tagebuch: Tagebuch der Marie Bashkirtseff. Es interessiert mich sehr. Ich werde ganz aufgeregt beim Lesen. Die hat ihr Leben so riesig wahrgenommen. […] Ihre Gedanken gehen in mein Blut über und machen mich tief traurig. Ich sage wie sie: wenn ich erst etwas könnte! So ist es eine schmähliche Existenz.17

Die Barrès’sche Titulierung als »Notre-Dame du Sleeping-Car« verselbstständigte sich in der Folge und wurde zum geflügelten Wort für Künstlerinnen, die 16 Vgl. Renate Berger, Paula Modersohn-Becker. Paris – Leben wie im Rausch, Bergisch Gladbach 2007, S. 14 und S. 22. 17 Paula Modersohn-Becker, In Briefen und Tagebüchern, hrsg. von Günter Busch und Liselotte von Reinken, Frankfurt am Main 1979, S. 141–145.

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sich auf ihrem Weg nach Paris befanden und gleichsam ›im Schlafwagen‹ ein Bild von der dortigen Lebens- und Arbeitssituation bekamen.18 Wie verschiedene Forscherinnen und Forscher für Bashkirtseffs Tagebuch konstatiert haben, steht ihr Schreiben jedoch weniger in der Tradition elterlicher Anleitung beziehungsweise weiblich-moralischer Disziplinierung, sondern ganz im Zeichen subjektiver Erfahrung und Selbstdarstellung.19 Für Margot Brink besitzt das Tagebuch nicht mehr nur die Funktion, Gedanken und Gefühle auszudrücken, sondern das Schreiben selbst in den Mittelpunkt zu rücken und so »die problematische Suche nach der eigenen Subjektivität unter den Bedingungen der Moderne«20 zu entwickeln. Bashkirtseffs Tagebuch, künstlerische Arbeiten, Briefwechsel (etwa mit Guy de Maupassant) und Fotografien sind Teil eines großen Erinnerungs- und Selbst­ ermächtigungsprojektes. Alle zum Einsatz kommenden Medien eröffnen ihr unter Berücksichtigung spezieller Bedingungen einen Raum, ihr Leben zu imaginieren und sich selbst zu entwerfen. Ziel sind (posthume) Berühmtheit und Anerkennung. Dass diesen Entwürfen neben dem Wunsch nach Repräsentation immer auch ein Mangel, ein Verfehlen oder eine Enttäuschung inhärent sind, wird im Tagebuch nicht verschwiegen. Während Margot Brink Bashkirtseffs »Photo-Text-Graphien«21 als Entfremdung bewertet und im Anschluss an Laura Mulveys mittlerweile kanonischen Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema dem männlich konnotierten Blick beziehungsweise Betrachter zuordnet,22 schreibt sich Bashkirtseff mit ihren Einträgen zur Fotografie in den Diskurs des 19. Jahrhunderts ein, demnach eine Fotografie ein Abbild von Wahrhaftigkeit und Authentizität darstelle. Im April 1876 verschränkt sie diesen Gedanken emphatisch in der Synthese von Fotografie und Tagebuch als einmalige und neuartige Attraktion: Tous les livres qu’on lit sont des inventions, les situations y sont forcées, les caractères faux, tandis que ceci c’est la photographie de toute une vie. Ah! Me direz-vous, mais cette photographie est ennuyeuse tandis que les inventions sont amusantes! Si vous dites cela vous me donnez une bien petite idée de votre intelligence. Je vous offre ici ce qu’on a encore jamais vu.23 18 Vgl. Anja Herrmann, »Notre-Dame der Schlafwagen oder die Maskeraden der Marie Bashkirtseff (1858–1884)«, in: Paris, Paris! Paula Modersohn-Becker und die Künstlerinnen um 1900, hrsg. von Renate Berger und Anja Herrmann, Stuttgart 2009, S. 39–58, hier: S. 40. 19 Vgl. z. B. Margot Brink, Ich schreibe, also werde ich. Nichtigkeitserfahrungen und Selbstschöpfung in den Tagebüchern von Marie Bashkirtseff, Marie Lenérue und Catherine Pozzi, Königstein im Taunus 1999, S. 46. 20 Vgl. ebd., S. 53. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. ebd., S. 107. 23 Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 7, S. 272. »Alle Bücher, die wir lesen, sind Erfindungen,

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Anja Herrmann

Dieser Eintrag vom 19. April 1876 gibt eine Idee davon, was die Künstlerin mit ihren fotografischen Bildern verband. Mit ihrer Vorstellung, dass das Tagebuch die Fotografie ihres gesamten Lebens sei, verweist sie auf strukturelle Ähnlichkeiten dieser beiden verlebendigenden und sich gegenseitig ansteckenden ›Erinnerungsmedien‹. Ansteckende und damit mobilisierende Wirkung hatte die Veröffentlichung des Tagebuchs auf die frühe Frauenbewegung, für zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, für die Bashkirtseff zur Denkfigur des »modernen Menschen« wurde, sowie für Künstlerinnen, die sich motiviert durch die Lektüre zum Kunststudium auf den Weg in die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts machten, wie Walter Benjamin Paris im Passagen-Werk nannte24. Im Text, oder: Das Tagebuch als Ort des radikal Gegenwärtigen

Wie viele andere Autorinnen und Autoren von Tagebüchern beansprucht auch Bashkirtseff Authentizität und Wahrheit für ihr Tagebuch. Susan Rubin Suleiman bezeichnet diesen gewissermaßen dokumentarischen und damit bezeugenden Gestus als »›being there‹-ness«, letztlich einer indexikalischen Referenz – ähnlich derjenigen einer Kamera.25 Diese beglaubigende Haltung rechtfertigte lange Zeit in den Kunst- und Literaturwissenschaften die Verwendung des Tagebuchs als verlässliche Quelle. Wie aber nicht nur wissenschaftliche Arbeiten zum Tagebuch gezeigt, sondern Tagebuchautor*innen auch selbst immer wieder bemerkt haben, wird die Re-Lektüre des eigenen Textes als häufig weniger beglückend denn schmerz- oder sogar schamvoll empfunden.26 Angesichts einer dieser Lektüren beschreibt Bashkirtseff, wie sie sich später vor Scham auf dem Boden wälzte: J’avais quatorze ans! Et qu’on dise après cela que je ne savais pas ce que je voulais. A cet âge deux ans sont beaucoup. Je finis, je finis, je suis si agitée, si furieuse et désespérée que die Situationen sind erzwungen, die Figuren gefälscht, während dies das Foto eines ganzen Lebens ist. Ah! Sie mögen mir sagen, aber diese Fotografie ist langweilig, aber die Erfindungen machen Spaß! Wenn Sie dies sagen, vermitteln Sie mir einen kleinen Eindruck Ihrer Intelligenz. Ich biete Ihnen hier etwas an, was Sie noch nie zuvor gesehen haben.« (Übers. Jan-Gideon Schulze und Anja Herrmann). 24 Benjamin, Das Passagen-Werk (wie Anm. 2), S. 45. 25 Susan Rubin Suleiman, »Diary as Narratives, Theory and Practice«, in: The Search of a New Alphabet. Literary Studies in a changing world, hrsg. von Harold Hendrix, Joost Kloek, Sophie Levie et al., Amsterdam und Philadelphia 1996, S. 252–264, hier: S. 235. 26 Vgl. u. a. Philippe Lejeune, Les Brouillons de soi, Paris 1998; ders., Le Moi des demoiselles. Enquête sur le journal personnel, Paris 1993; Nicole Seifert, Von Tagebüchern und Trugbildern. Die autobiographischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath, Berlin 2008.

Im Zug, im Kopf, im Text, im Bild

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je ne sais plus ce que j’écris. Oh! Mon Dieu! J’ai caché ce malheureux journal, il me torture et pourtant j’ai envie de continuer à lire, je me suis arrêtée au milieu d’un jour. Mais si je lis je me roulerai encore par terre et mordrai les coussins, il vaut mieux cesser. Je serais curieuse de savoir si chaque fois que je lirai il m’arrivera la même chose. Essayons, je suis un peu plus tranquille. J’ai relu, je ne pleure pas encore mais il me semble que je brûle, ma tête devient lourde et se penche de côté, j’ai rongé mes malheureux ongles.27

Der Text offenbart seiner Autorin eine vergessene Seite der eigenen Person, die sie nur schwer erträgt. Eine ähnliche Ambivalenz thematisiert sie auch gegenüber ihrer fotografischen Praxis. So kommentiert sie den Besuch bei einem italienischen Fotografen, wahrscheinlich Ferreti in Neapel, mit den Worten: Je pose souvent pour que dans l’édition de mon Journal on puisse intercaler des photographies qui sont parfaitement d’accord et représentent exactement mon humeur et mon état du moment.28

Einerseits findet sich hier der Gedanke der Veröffentlichung eines illustrierten Tagebuchs, die Bashkirtseff während des Schreibens und offensichtlich auch während des Fotografierens im Blick hatte. Andererseits spricht sie davon, dass die Bilder ihre momentane Stimmung reflektierten. Wieder einige Zeit später formuliert sie Unbehagen angesichts der Porträts, die neben ihrem derzeitigen Zustand auch ihre intimen Gedanken preisgäben: Je hais tellement mon passé que les photographies qui sont devant moi au nombre de trente-cinq peut-être et dont chacune retrace une impression ou une pensée intime, m’irritent, je voudrais les déchirer.29

27 Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 12. »Ich war vierzehn! Und im Nachhinein sei gesagt, dass ich nicht wusste, was ich wollte. In diesem Alter sind zwei Jahre eine Menge. Ich beende, ich beende, ich bin so aufgewühlt, so wütend und verzweifelt, dass ich nicht mehr weiß, was ich schreibe. Oh, mein Gott! Ich habe dieses unglückliche Tagebuch versteckt, es quält mich, und trotzdem will ich weiterlesen, ich habe mitten am Tag aufgehört. Aber wenn ich lese, werde ich mich immer noch auf dem Boden wälzen und in die Kissen beißen, es ist besser, damit aufzuhören. Ich wäre neugierig zu erfahren, ob mir jedes Mal, wenn ich lese, dasselbe passieren wird. Versuchen wir es, ich bin etwas ruhiger. Ich habe wieder gelesen, ich weine noch nicht, aber es scheint mir, dass ich brenne, mein Kopf wird schwer und neigt sich seitwärts, ich habe an meinen unglücklichen Nägeln genagt.« (Übers. Jan-Gideon Schulze). 28 Ebd., Bd. 10, S. 111. »Ich posiere oft, damit man in die Ausgabe meines Tagebuchs Fotos einfügen kann, die vollkommen übereinstimmen und genau meine momentane Stimmung und Gemütsverfassung wiedergeben.« (Übers. Jan-Gideon Schulze). 29 Ebd., Bd. 10, S. 234. »Ich hasse meine Vergangenheit so sehr, wie die vor mir liegenden, vielleicht fünfunddreißig Fotos, von denen jedes einen Eindruck oder einen intimen Gedanken wiedergibt, mich irritieren, ich möchte sie zerreißen.« (Übers. Jan-Gideon Schulze).

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Damit spricht sie ein Vermögen der Fotografie an, das Walter Benjamin später mit dem Begriff des »Optisch-Unbewussten« in seinem Kunstwerk-Aufsatz benennen wird. Ähnlich wie sie sich zeitweilig für ihre Tagebuchaufzeichnungen schämt und mit der Zerstörung beziehungsweise dem Löschen einzelner Passagen liebäugelt, enthüllt sich dieser Wunsch nach Zerstörung auch angesichts der historisch gewordenen Selbstporträts. Im Tagebuch finden sich jedoch auch Einträge, die das Geschriebene nachträglich milder und weniger dramatisch beurteilen. So kommentiert sie zum Beispiel im April 1873 ihre vermeintliche Gottgläubigkeit, mit der sie hoffte, den von ihr angeschwärmten Herzog Hamilton für sich zu gewinnen, mit: »Ce sont des belles idées pour une enfant. J’aime à les relire.«30 Bashkirtseff ist zugleich Protagonistin, Autorin, Leserin, strenge Kritikerin und Freundin ihrer Tagebuch-Wiedergängerin, mit der sie sich konstant auseinandersetzt. So kommentiert sie nicht allein ihre Gedanken, sondern auch die Entwicklung ihres (Schreib-)Stils: Dans mon deuxième journal le style est beaucoup meilleur. Mais je ne me comprends pas. Seulement à la page 68, [Bd. 1] je me retrouve.31

Der Familie war die Praxis des Tagebuchschreibens bekannt, dennoch las Marie Bashkirtseff weder daraus vor, noch übergab sie ihre Hefte zum Lesen. An vielen Stellen adressiert sie ihre spätere Leser*innenschaft oder erzählt die Eindrücke so, dass sie für Außenstehende nachvollziehbar werden. Wiederholt betont sie den Wert ihres Tagebuchs für Nachgeborene mit Einträgen wie »Jeunes miserables, lisez-moi!«32 Diese und ähnlich lautende Passagen verdeutlichen jedoch noch einmal das Dilemma, einem vergangenen und vor allem im Tagebuch verdichteten Selbstbild gegenüberzustehen. So kommentiert sie etwa ihren Eintrag zum Tagebuch als Fotografie ihres gesamten Lebens später als Übertreibung und ermüdende Romantik.33 Das Beteuern von Aufrichtigkeit sowie die eigene Erfahrung der Scham, Übertreibung oder Entfremdung angesichts des im Tagebuch beschriebenen Selbst bilden zwei Seiten derselben Medaille. Diese Erfahrung der Irritation beim Anblick älterer Selbstporträts löst in ihr den Wunsch aus, diese ähnlich wie Stellen im Tagebuch zu zerstören.34 Auch wenn das Tagebuch eher als die Foto30 Ebd., Bd. 1, S. 117. »Das sind schöne Ideen für ein Kind. Ich lese sie gerne wieder.« (Übers. JanGideon Schulze). 31 Ebd., Bd. 3, S. 242. »In meinem zweiten Tagebuch ist der Stil viel besser. Aber ich verstehe mich nicht. Erst auf Seite 68, [Bd. 1] finde ich mich wieder.« (Übers. Jan-Gideon Schulze). 32 Ebd., Bd. 11, S. 59. »Junge Elende, lest mich.« (Übers. Anja Herrmann). 33 Vgl. ebd., Bd. 7, S. 272. 34 Vgl. ebd., Bd. 10, S. 234.

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grafie vermuten lässt, aufrichtig oder authentisch zu sein, weil es vermeintlich stärker von Affekten gesteuert wird, vermitteln beide Medien den Leserinnen und Lesern – einmal durch das Betrachten von Fotos, einmal durch die Lektüre – relativ schnell ein Bild der Autorin, das von den Betrachtenden als wahr und lebensecht angenommen wird. Nicole Seifert plädiert aus diesem Grund dafür, das Tagebuchschreiben als Praxis zu begreifen, also den prozessualen Akt des Schreibens stärker in den Mittelpunkt zu rücken.35 Für die Diaristin mag der sich sukzessiv fortbewegende Prozess des Schreibens häufig eine größere Bedeutung haben als der dabei entstehende Text. Dies zeigt auch ein Eintrag Marie Bashkirtseffs, die auf die Frage ihrer Tante nach der täglich produzierten Textmenge einen Einblick in ihre Schreibpraxis gibt: »En effet j’ai l’air d’écrire, mais non, je pense, je rêve, je lis puis j’écris deux mots et comme cela toute la journée.«36 Für Seifert steht die Autor-Funktion im Tagebuch generell zur Disposition, weil der Prozess des Schreibens stärker als das Ergebnis im Vordergrund stehe. Die vielfach – auch von Bashkirtseff – beschworene Authentizität des Tagebuchs kann als Effekt des Genres verstanden werden.37 Daran knüpft sich der generelle Zweifel, ob das Tagebuch als authentische Quelle dienen kann, was viele Forscher*innen seit Philippe Lejeune zurückweisen.38 Bashkirtseff bemerkt hellsichtig zu dieser Frage, dass die Frau, die schreibt, und die, die sie beschreibt, zwei seien.39 Oder sie berichtet von ihrem Versuch und Scheitern, andere spüren zu lassen, was sie im Moment des Schreibens gefühlt habe.40 Durch die Lektüre des eigenen Textes macht sie stetig die Erfahrung der Uneinholbarkeit beziehungsweise Unbeschreibbarkeit von Gefühlen, die immer von den Konventionen einer Sprache abhängig sind und derer sie nie vollständig habhaft werden kann. Ebenso wie im Tagebuch lassen sich auch durch Fotografien Gefühle darstellen, die aber in ihrer Darstellung ebenso abhängig von ihrer Medialität sind. Authen35 Nicole Seifert, »Tagebuchschreiben als Praxis«, in: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, hrsg. von Renate Hof und Susanne Rohr, Tübingen 2008, S. 39–60. 36 Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 335. »In der Tat sehe ich aus, als würde ich schrei­ ben, aber nein, ich denke, ich träume, ich lese und schließlich schreibe ich zwei Worte und das den ganzen Tag lang.« (Übers. Jan-Gideon Schulze). 37 Seifert, »Tagebuchschreiben als Praxis« (wie Anm. 35), S. 40f. 38 Philippe Lejeune verwirft in seinem Buch Les Brouillons de soi (Paris 1998, wie Anm. 26), S. 114, den Gedanken, dass das Tagebuch eine »écriture de premier jet« [»Erstentwurf« (Übers. Anja Herrmann)] sei. Das Tagebuch sei vielmehr eine Verdichtung von Tageseindrücken und Gedanken, den oder die Diaristin nennt er deswegen einen »Widerkäuer«. Vgl. Seifert, Von Tagebüchern und Trugbildern (wie Anm. 26), S. 140. 39 Vgl. Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 10, S. 193; vgl. Voigt, Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff (wie Anm. 5), S. 46f. 40 Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 10, S. 267.

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tizität ließe sich so als Effekt beschreiben, der beiden Medien strukturell gemein ist und den es jeweils zu problematisieren gilt.41 Obwohl die Entstehungsbedingungen von Fotografien und Tagebuchtexten gewiss unterschiedlich sind, bildet das Moment des Fragmentarischen eine weitere Gemeinsamkeit: Beide Medien leben vom Einzelbild respektive dem Einzeleintrag. Dabei entwickelt der Eintrag erst im Verbund mit anderen sein narratives Potenzial oder eine zusammenhängende Struktur. Konstituierendes Element beider ist überdies die Ausschnitthaftigkeit. Für Lejeune bezeichnet dies eine charakteristische Erfahrung des Tagebuchschreibens.42 Einen Eintrag zu schreiben, bedeute, das niederzulegen, was sich während des Tages gebildet beziehungsweise abgelagert habe. Dass dieses Nachbild nicht vollständig sein kann, ist einleuchtend. Situationen größter Traurigkeit oder höchsten Glücks fehlen häufig ebenso in Tagebüchern und liefern auf diese Weise ein ›verzerrtes Bild‹, was wiederum dem Umstand geschuldet ist, dass die Praxis des Tagebuchschreibens von der Lust am Schreiben abhängig ist.43 Für die Fotografie ließe sich Ähnliches formulieren. Auch hier kommt es zu einer Ablagerung und Verdichtung mentaler (Vor-)Bilder, die sich dann im konkreten Einzelbild materialisieren und im Foto ablagern. In beiden Fällen entwickelt sich bei den Betrachtenden und der Leser*innenschaft durch den Akt des Schreibens beziehungsweise Fotografierens ein Gefühl von Nähe und vielleicht auch Authentizität. Dieser Effekt, der beiden Medien gemein ist, funktioniert über formale Aspekte wie die genaue Datierbarkeit und das referenzielle Verhältnis zur Autorin. So entsteht eine Bewegung, die dazu führt, dass Autorinnen und Autoren von Tagebüchern und Fotografien die Kontrolle über die Rezeption ihrer Erzeugnisse an die Leserinnen und Leser abgeben und sie sich, wie hier Bashkirtseff, auf den Bildern nicht mehr ›wiedererkennen‹, also selbst zu Leserinnen und Lesern sowie Kritikerinnen und Kritikern avancieren. Bashkirtseffs Thematisierung der Spaltung in einerseits Autorin, andererseits Rezipientin kann angesichts der anfänglichen Erforschung zum physischen Apparat und Unbewussten Ende des 19. Jahrhunderts als wahrlich radikal und modern angesehen werden. Im Bild, oder: Zum Habitus der Bilder

Meine letzte Überlegung referiert, wie Fotografien oder Gemälde anderer Personen, Künstlerinnen und Künstler, Bashkirtseff zu neuen, eigenen Inszenierun41 Vgl. Seifert, »Tagebuchschreiben als Praxis« (wie Anm. 35), hier: S. 47. 42 Vgl. Lejeune, Les Brouillons de soi (wie Anm. 26), S. 321. 43 Vgl. Seifert, »Tagebuchschreiben als Praxis« (wie Anm. 35), S. 42.

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gen inspiriert haben: Am 26. August 1873 beschreibt Bashkirtseff, wie sie während eines Spaziergangs in Paris die Fotografien einer Halbweltdame, der Geliebten des von ihr umschwärmten Herzogs Hamilton, entdeckt und sich die Adresse des Fotografen nennen lässt. Dort angekommen, steigt sie in die erste Etage und findet in einem kleinen Salon eine Reihe käuflicher Fotografien vor, die die Kurtisane in unterschiedlichen Porträt-Posen zeigen. Eine Fotografie der unbekannten Frau mit geöffneter Korsage, ohne allerdings die Brust zu enthüllen, affiziert die junge Bashkirtseff besonders. Unter diesem Eindruck begegnet sie dem Fotografen Waléry,44 der ihr verschiedene Posen vorschlägt, die ihr aber nicht gefallen und die sie als »trop chiffonnées«45 beschreibt.46 Insgesamt werden acht Aufnahmen während dieser ersten Sitzung gemacht. Das Posieren vor der Kamera ist unvertraut, weswegen die ersten drei nicht recht gelingen wollen: »J’ai posé pour la quatrième fois en me disant: Eh bien si cette fois cela réussit, il … je me comprends.«47 Das Atelier verlässt sie mit dem Kommentar: »Voyons ce qu’on fera de moi. Paul [ihr Bruder] qui pose après moi, me dit que ça va bien!«48 Die Beschreibung der Aufnahmesituation, das Nachstellen der vorgegebenen Posen sowie die Beruhigung durch den Bruder, dass die Bilder gut werden, geben einen Eindruck von Bashkirtseffs anfänglicher Unsicherheit vor der Kamera. Wie jede Praxis muss auch das Posieren geübt werden. Anders als bei ihren sogenannten »Photo-Text-Graphien«49, mit denen sie sich scheinbar objektiv, aber vor allem selbstbewusst ihren Leserinnen und Lesern im Tagebuch zu sehen gibt, sind ihre fotografischen Porträts, in hohem Maße abhängig von der technischen Apparatur, den Fähigkeiten des Fotografen, ihrem Agieren vor der Kamera und der Qualität des Abzugs, weniger kalkulier- und kontrollierbar. Bis zur Ankunft der Porträts betrachtet Bashkirtseff immer wieder die Fotografien der Kurtisane, deren Posen und vor allem deren selbstsicherer Blick ihr während des Bewunderns Schauer verursachen.50 Diese Bilder faszinieren, und sie lässt sich von einer Freundin bestätigen, dass es nicht die ›natürliche‹ Schönheit, sondern die des fotografischen Bildes sei, die sie beeindrucke und auf die sie

44 Stanisław Julian Ignacy Ostroróg (1830–1890) betrieb unter dem Künstlernamen Waléry ein Fotoatelier. 45 Ebd., S. 28. »Sehr zerknittert.« (Übers. Jan-Gideon Schulze). 46 Ebd. 47 Ebd. »Ich posierte zum vierten Mal und dachte: Na, wenn es diesmal gelingt, er … Ich verstehe mich.« (Übers. Jan-Gideon Schulze). 48 Ebd. »Mal sehen, was sie aus mir machen. Paul [ihr Bruder], der nach mir posiert, sagt mir, dass es gut wird.« (Übers. Anja Herrmann). 49 Vgl. Brink, Ich schreibe, also werde ich (wie Anm. 19), S. 53. 50 Vgl. Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 29.

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ebenfalls hoffe.51 Als das Paket mit den Porträts von Waléry eintrifft, ist sie allerdings vom Ergebnis enttäuscht: Les deux poses à genoux sont affectées surtout celle des yeux baissés. Je ne suis pas très contente. Le défaut principal ou le seul défaut plutôt c’est que les cheveux devant sont mal groupés, trop ensemble, et il y a en a trop, ce qui donne de la vulgarité. Celle des mains est la meilleure.52

Gefielen ihr an den fremden Porträts gerade die unterschiedlichen Posen, die angedeutete Erotik und der Blick, empfindet sie die eigenen als gekünstelt und letztlich gewöhnlich. Die Fotografie, die an anderer Stelle im Tagebuch als das objektive Aufzeichnungsmedium par excellence gefeiert wurde, erfüllt in diesem konkreten Fall nicht Bashkirtseffs repräsentatives Bedürfnis. Zu sehr fallen ihre ungelenken Posen ins Auge und wollen für ihren kritischen Blick kein perfektes Ensemble – ähnlich dem Vorbild – bilden. Der unausgesprochene Anspruch an ihre fotografischen Porträts war demnach nicht nur ein schönes, sondern ein ihren (Wunsch-)Vorstellungen gemäßes Porträt wie im Tagebuch zu erstellen. Einem Anspruch, dem sie letztlich – nach ihrem Eintritt in die Académie Julian 1877 – mit zwei Selbstporträt-Gemälden begegnet. Das Porträt sei ein Genre, das ihr wunderbar stehe, notiert sie zu anderer Gelegenheit im Tagebuch.53 Das Posieren als ein antizipierendes Sich-zumBild-machen funktioniert mit zunehmender Übung immer besser, aber ein Ablichten im Akt bleibt ihr dennoch versagt. Im Tagebuch kann sie sich diesen Wunsch sprachlich erfüllen. Diese mittlerweile berühmte, minutiöse und intime Aktbeschreibung ihres Körpers sublimiert einerseits ihren Wunsch, sich unbekleidet als schöne Helena oder Venus malen zu lassen beziehungsweise als solche aufzutreten, andererseits den Mangel an Farbe in ihren fotografischen Porträts: Je suis de taille moyenne, j’ai des cheveux d’or me venant jusqu’à la ceinture […]. J’ai la poitrine extrêmenent haute, blanche et veinée de bleu, comme les bras et les épaules. […] L’endroit que je n’ose pas nommer est si opulent que l’on me croit toujours en grande tournure. […] En somme je suis, je puis le dire sans me vanter, admirablement bien faite. J’ai partout la peau blanche, fine, veloutée. J’ai encore un grain de beauté sur la jambe droite mais près d’un endroit qu’on ne peut nommer.54 51 Vgl. ebd., S. 33. 52 Ebd., S. 46. »Beide knienden Posen sind gekünstelt, insbesondere diejenige mit den gesenkten Augen. Ich bin nicht sehr zufrieden. Der Hauptfehler oder vielmehr der einzige Fehler ist, dass die Haare vorne schlecht drapiert sind, zu viele hängen zusammen, und es sind zu viele, was zu Vulgarität führt. Das von den Händen ist das beste.« (Übers. Anja Herrmann). 53 Vgl. ebd., Bd. 5, S. 229. 54 Vgl. das geschriebene Selbstporträt im Akt ebd., Bd. 5, S. 52f., den Wunsch im Bild der Helena oder Venus dargestellt zu werden sowie zur Farbe S. 251. »Ich bin mittelgroß, ich habe goldenes Haar,

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Dass im Tagebuch anders als im Fotostudio eine solch radikal-intime Selbstbeschreibung möglich ist, zeichnet das Tagebuch als modernen Ort aus, wenn Moderne mit Transgression und Sexualisierung verstanden wird. Der Tabubruch ist möglich und straffrei. Nichtsdestotrotz vergleicht Bashkirtseff die eigenen Porträts Weihnachten 1883 mit jenen von Schauspielerinnen und klagt darüber, dass ihre Familie sie nicht von diesen Inszenierungen abgehalten habe: Il y a quelques années de cela cette rage que j’ai eu de me photographier en mille costumes différentes … Les miens m’ont laissé faire … ils n’y voyaient aucun mal, Marie est ravissante, elle se costume et s’habiller, ça l’amuse et allez donc! Tous ceux qui voient ces photographies les prennent pour celles d’une actrice … et le photographe lui-même a dû penser de drôles de choses … […] Oh! mes amis perdez tout mais gardez les apparences! Enfin ces infimes misères me rendent profondément malheureuse. Je ne sais que depuis peu ce qui est tout à fait convenable, et c’est la faute de ma famille.55

Schauspielerinnen waren im 19. Jahrhundert allgemein schlecht beleumundet.56 Bashkirtseffs Appell »Oh! meine Freunde verlieren Sie alles, aber wahren Sie den Schein!«57 fasst deshalb ihr durch die Kunstausbildung in der Académie Julian verändertes Verständnis des Porträts zusammen. Vorfotografische und eher weiblich besetzte Traditionen wie das Tableau vivant oder Darstellungen von Attitüden finden ihre Transformation eher in Fotografien als in Gemälden. Da in beiden vorfotografischen Medien Frauen einen aktiveren Part einnehmen als Männer, erstaunt es nicht, dass Frauen auch im Medium Fotografie stärker auf das mir bis zur Taille reicht […]. Meine Brust ist extrem hoch, weiß und blau geädert, wie meine Arme und Schultern. […] Der Ort, den ich nicht zu nennen wage, ist so opulent, dass die Leute mich immer in großer Tournüre [Polster unter dem Rock, das das Gesäß betont] glauben. […] Kurz gesagt, ich bin, das kann ich ohne Prahlerei sagen, bewundernswert gut gewachsen. Meine Haut ist überall weiß, fein, samtig. Ich habe immer noch ein Muttermal auf meinem rechten Bein, aber an einer Stelle, die nicht benannt werden kann.« (Übers. Jan-Gideon Schulze und Anja Herrmann). 55 Ebd., Bd. 16, S. 108f. »Vor ein paar Jahren besaß ich diese Raserei, mich selbst in tausend verschiedenen Kostümen zu fotografieren … Meine Familie ließ mich machen … sie sahen nichts Schlimmes darin, Marie ist reizend, sie verkleidet und zieht sich an, es amüsiert sie und komm schon! Alle, die diese Fotos sehen, halten sie für die einer Schauspielerin … und der Fotograf selbst muss seltsame Dinge gedacht haben … […] Oh! meine Freunde verlieren Sie alles, aber wahren Sie den Schein! Kurzum, diese unbedeutenden Miseren machen mich zutiefst unglücklich. Ich habe erst kürzlich erfahren, was salonfähig ist, und das ist die Schuld meiner Familie.« (Übers. Jan-Gideon Schulze und Anja Herrmann). 56 Vgl. u. a. Renate Möhrmann, Die Schauspielerin. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main und Leipzig 2000 oder auch Abigail Solomon-Godeau, »Die Beine der Gräfin«, in: Weiblichkeit als Maskerade, hrsg. von Liliane Weissberg, Frankfurt am Main 1994, S. 90–147. 57 Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 16, S. 109.

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diese Bildtraditionen rekurrieren. Während Bashkirtseff in ihren fotografischen Porträts häufig auf populäre, berühmte oder erotisch-konnotierte Bilder von (Halbwelt-)Frauen zurückgreift, die sie auch in den Alben der besuchten Fotografenateliers gesehen haben mag, haben diese Vorbilder für ihre Selbstporträts im Medium Malerei ausgedient. Mit dem Medienwechsel ändern sich die Vorbilder. In ihren gemalten Selbstporträts avanciert das Bild des (männlichen) Künstlers à la Rembrandt zum Vergleichsparameter und Leitbild.58 Den Wunsch, sich mit Hilfe von Porträts in andere Rollen, Abenteuer und Leben zu imaginieren, erfüllt sie sich erst mit den Fotografien als elegante Salondame, Bäuerin oder Mignon und später mit ihren gemalten Selbstporträts in der Pose des ›großen Künstlers mit Palette‹. Während der Wunsch in beiden Medien derselbe bleibt, ändert sich mit dem Medienwechsel der Bezug der Bildtradition. Speisen sich die Foto-Porträts aus Bildern weiblicher Provenienz, so verschwindet all das in ihren gemalten Selbstporträts. Mangels Kenntnis weiblicher Vorbilder in der Geschichte der Malerei eignet sich Bashkirtseff die klassischen Insignien der Malerei (Pinsel und Palette) an und lässt ihren auf den Fotografien immer sehr präsenten Körper in einem schwarzen, zugeknöpften Kostüm verschwinden, das, ähnlich dem bürgerlich-männlichen schwarzen Anzug, die Betonung des Kopfes und der Hände als Ausdruck von Ratio und Tatkraft legt (s. Abb. 2). Bashkirtseffs letzter negativer Kommentar zu ihren Fotografien gibt darüber hinaus Auskunft über die Rolle und den Anteil des Fotografen an ihren Selbstinszenierungen. Indem sie sich fragt, was der Fotograf angesichts ihrer Maskeraden vor der Kamera wohl gedacht haben mag, verweist sie ihn einerseits auf den Platz eines Gehilfen und schreibt sich selbst die auktoriale Position zu. Andererseits fürchtet sie auch den (wenig wertschätzenden) Blick des Anderen. Bewegung charakterisiert Leben und Arbeiten Marie Bashkirtseffs: Die Trennung der Eltern hat zunächst häufige Ortswechsel zur Folge. Dazu kommen zahlreiche Reisen und (un-)begleitete Ausflüge in den Stadtraum, unter anderem zu politischen Veranstaltungen, in Museen, Theater und Fotoateliers. Dies markiert eine im 19. Jahrhundert für eine Frau außerordentliche physische Mobilität. Bewegung in einem erweiterten Sinn als Aktion oder Praxis verstanden ist vor allem in Bashkirtseffs kreativen Erzeugnissen beobachtbar geworden. Ihr Tagebuch entfaltet sukzessiv eine bis zum 19. Jahrhundert nicht gekannte individuelle, breit facettierte und dazu weibliche Biografie im Nacheinander des Einzeleintrags, die sich durch die Veröffentlichung wie eine Geschichte oder eine 58 Vgl. dazu Konz, Marie Bashkirtseff ’s Life in Self-Portraits (wie Anm. 13), S. 118.

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Abb. 2: Marie Bashkirtseff, Selbstporträt mit Palette, 1880, Öl auf Leinwand, in: https://de.wikipedia.org/wiki/ Marie_Bashkirtseff#/media/ Datei:Bashkirtseff.jpg, abgerufen am 05.01.2021.

»Fotografie eines ganzen Lebens«59 liest. Diese Selbstentwürfe werden durch fotografische und malerische Porträts mit verschiedenen Intentionen weitergetrieben. Interessiert sie an der Fotografie das Schlüpfen in populäre, jedoch zuweilen schlecht beleumundete weibliche Rollenvorbilder, so wählt sie für ihre Künstlerinnenselbstbildnisse den ernsthaften Habitus des arrivierten männlichen Künstlers. Bashkirtseffs lebenslang betriebene und publizierte Notizen wirk(t)en auf bildende wie schreibende Künstlerinnen und Künstler ansteckend und motivierend zu eigenen Arbeiten, wie das 2020 initiierte Projekt sowie 2013/14 realisierte Arbeiten des Liechtensteiner Künstlers Manfred Naescher zu Marie Bashkirtseff zeigen.60 Posthum hat sich also Marie Bashkirtseff lebenslang gehegter Wunsch, etwas zu erreichen und nicht vergessen zu werden, realisiert.

59 Bashkirtseff, Mon Journal (wie Anm. 1), Bd. 7, S. 272. 60 Vgl. die Homepage des Künstlers: https://manfrednaescher.com/, abgerufen am 04.01.2023.

Anna Ricke (Detmold/Paderborn)

Flexibilitätsgeprägte Biografien als methodische ­Herausforderung Das Beispiel der Musikerin Smaragda Eger-Berg

Flexibilität im Arbeitsleben wird üblicherweise als die mentale Fähigkeit verstanden, sich auf geänderte Anforderungen und Bedingungen einer Situation einzustellen, Veränderungen aufgeschlossen gegenüberzustehen, anpassungsfähig und veränderungsbereit zu sein. Flexibilität, so könnte man folgern, ist damit etwas überwiegend Positives, das für den flexiblen Menschen einen Gewinn, insbesondere im beruflichen Bereich, bereithält. Der Soziologe Richard Sennett nimmt die Eigenschaft der Flexibilität und ihre Auswirkungen auf Biografien jedoch kritisch in den Blick. In seinem Buch Der flexible Mensch beschreibt Sennett die Folgen des Flexibilität einfordernden Kapitalismus. Hierzu ruft er unter anderem die Unterscheidung zwischen einer Karriere und einem Job auf. »Karriere«, so Sennett, »bedeutete ursprünglich eine Straße für Kutschen, und als das Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen.«1 Hingegen bezeichnete das Wort »job« im Englischen des 14. Jahrhunderts »einen Klumpen oder eine Ladung, die man herumschieben konnte.«2 In einem flexibilitätsgeprägten Arbeitsleben würden die Menschen keiner Karriere nachgehen, sondern »Arbeiten wie Klumpen, mal hier, mal da«3 verrichten. Nach Sennett biete diese auf den Moment ausgerichtete Lebensführung dem flexiblen Menschen, der kurzfristige Arbeitsverhältnisse bevorzuge, statt sich auf eine klassische Laufbahn zu fokussieren, zwar (scheinbar) größere Freiheiten in der Lebensgestaltung. Ebendiese Freiheiten bergen jedoch auch immer gewisse Unwägbarkeiten und Risiken.4 Kurzfristige Arbeitsverhältnisse, freiheitliche Lebensgestaltung sowie Präsenz von Risiko und Unsicherheit – überträgt man die Thesen Sennetts trotz des zeit1

Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus [The Corrosion of Character 1998], aus dem Amerikanischen übers. von Martin Richter, 3. Aufl., Berlin 1998, S. 10. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd., S. 11.

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lichen Abstands auf die Biografie der Musikerin Smaragda Eger-Berg (1886– 1954), so zeigen sich unübersehbare Parallelen. Smaragda Eger-Berg, heute – wenn überhaupt – nur als die Schwester des Komponisten Alban Berg bekannt, arbeitete als Korrepetitorin und Musikpädagogin, war Mitglied der Künstlerkreise der Wiener Moderne und lebte betont nonkonform sowie spätestens nach dem Scheitern einer achtmonatigen Ehe offen homosexuell und promiskuitiv.5 Ihr Handeln, soweit es historiografisch dokumentiert ist, war dezidiert auf den Moment ausgerichtet und folgte keinem Karriereplan. Für eine Frau ihrer Generation konnte sie allem Anschein nach überdurchschnittlich viel Freiheit leben, hatte jedoch auch die Konsequenzen des Risikos zu tragen. Die enorme Flexibilität, die sich in Biografien wie der ihren widerspiegelt, stellt wiederum Biografinnen und Biografen vor methodische Hürden, die es zu überwinden gilt. Ein Ansatz, der die Kategorie der Mobilität für die Biografik von Musikerinnen und Musikern nutzbar macht, kann – so die These des vorliegenden Artikels – dabei helfen, flexibilitätsgeprägte Biografien besser fassen und einordnen zu können. Flexibilität und Mobilität bei Smaragda Eger-Berg

Wird der Begriff der Mobilität nicht nur in seiner geografischen Dimension, sondern auch in seinen sozialen, mentalen und kulturellen Facetten genutzt,6 impliziert er – als eine Art ›umbrella term‹ – zugleich (berufliche) Flexibilität. Im Hinblick auf Biografien wie die Smaragda Eger-Bergs kann eine Analyse der verschiedenen Dimensionen von Mobilität helfen, die große Bandbreite ihrer Tätigkeitsfelder, aber auch die Unstetigkeit und Ungeradlinigkeit ihres Lebens zu beschreiben. Im Hinblick auf die geografische Dimension blieb Smaragda Eger-Bergs Mobilität im Vergleich zu anderen Künstlerinnen und Künstlern der Zeit eher überschaubar: Zwar wohnte und arbeitete die Musikerin kurzzeitig in Paris und München sowie etwa acht Jahre in Berlin; Orientierungs- und Lebensmittel5 Zur Biografie Smaragda Eger-Bergs vgl. Anna Ricke, Artikel »Smaragda Eger-Berg«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 17.04.2018, https://mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Smaragda_Eger-Berg.html, abgerufen am 23.12.2019; dies., Smaragda Eger-Berg. Bohemienne – Musikerin – Schwester (1886–1954). Bedingungen künstlerischer Emanzipation in der Wiener Moderne (= Musik – Kultur – Geschichte 14), Würzburg 2021. 6 Zum Potenzial der so verstandenen Kategorie der Mobilität für die historische Musikwissenschaft vgl. den Beitrag von Nicole K. Strohmann im vorliegenden Band.

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punkt waren jedoch stets Wien und ihr Wiener Netzwerk, in dem sie sich beispielsweise auch in ihrer Berliner Zeit bewegte. Hinzu kamen Reisen durch Westeuropa, die sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin May Keller unternahm – ab Ende der 1920er-Jahre auch mit dem Auto, das den Frauen eine erhöhte Mobilität ermöglichte.7 Beruflich lassen sich zwei Aspekte festhalten, die Smaragda Eger-Bergs Flexibilität und künstlerische Mobilität zeigen: Zum einen war sie nicht auf ihren musikalischen Beruf der Korrepetition festgelegt und erwog in finanziell schwierigen Zeiten andere musikalische, aber auch ›unkünstlerische‹ Einnahmequellen (wie die Arbeit als Gesellschafterin oder den Betrieb einer Pension, s. u.). Zum anderen agierte sie als Korrepetitorin stilistisch flexibel, wie ihre Arbeitszeugnisse dokumentieren.8 Das Repertoire, das sie mit Sänger*innen erarbeitete, reichte von Wagner-Partien über Oratorien und deutsche Kunstlieder bis hin zu Chansons. Die Gruppe ihrer Auftraggeber*innen war alles andere als homogen und umfasste sowohl namhafte Sänger*innen als auch Gesangspädagog*innen (unter anderem Anna Bahr-Mildenburg, Frida Leider, Lula Mysz-Gmeiner oder Wilhelm Grüning). Darüber hinaus arbeitete sie nicht nur mit professionellen Musiker*innen zusammen, sondern begleitete ambitionierte Laiensänger*innen wie die Porträtmalerin und Villenbesitzerin Edith Czizek-Stengel.9 Neben der geografischen und künstlerischen Mobilität ist jedoch auch der Aspekt der sozialen Mobilität in Smaragda Eger-Bergs Biografie relevant. War die Musikerin durch ihre Hochzeit 1907 mit Adolf Freiherr von Eger sozial gesehen noch aufgestiegen, tätigte sie Ende der 1920er-Jahre mit ihrer Lebensgefährtin May Keller just zum Einbruch der Weltwirtschaftskrise diverse Investitionen, die zu eminenten finanziellen Verlusten und schließlich zu ihrer Verarmung führten. Hinzu kam die Emigration großer Teile ihres jüdisch geprägten Netzwerkes in den 1930er-Jahren, die zu ihrer sozialen Isolation führten. Nach ihrem Tod wurde die Musikerin in ihrer Verlassenschaftsabhandlung schlicht »als ›Gelegenheitsarbeiterin, ehemals Korrepetitorin, Befürsorgte‹ bezeichnet«.10 Ihre letzten zwanzig Lebensjahre lassen sich, ihrer Jugend gegenübergestellt, daher durchaus als eine Art sozialer Abstieg lesen.

  7 Zur Relevanz von räumlicher Mobilität für Emanzipation siehe auch Roman Sandgruber, »›Frauen in Bewegung‹. Verkehr und Frauenemanzipation«, in: Die Frauen der Wiener Moderne, hrsg. von Emil Brix und Lisa Fischer, Wien 1997, S. 53–63.   8 Vgl. hierzu u. a. die Arbeitszeugnisse Smaragda Eger-Bergs im Anhang ihres Briefes an Joseph Marx, 22.03.1938, A-Wn, Autogr. 812/1-1 Han.   9 Vgl. ebd. 10 Herwig Knaus und Wilhelm Sinkovicz, Alban Berg. Zeitumstände – Lebenslinien, St. Pölten 2008, S. 431.

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Anna Ricke

Mobilität – Flexibilität – Gender

Inwiefern sind diese mobilitäts- und flexibilitätsspezifischen Aspekte in der Biografie Smaragda Eger-Bergs mit ihrem Geschlecht oder möglicherweise mit ihrer sexuellen Orientierung verbunden? Ihr sozialer Abstieg war sichtlich auch bedingt durch die Versorgungsnöte, mit denen sich alleinstehende beziehungsweise in Frauengemeinschaften lebende Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft konfrontiert sahen, zumal im Falle von Krankheit und Alter. Dieser Umstand betraf Smaragda Eger-Berg besonders ab Mitte der 1930er-Jahre: Nach dem Tod der Eltern und der dadurch wegfallenden finanziellen Unterstützung, ohne Ehemann, ohne Kinder, mit Brüdern, die entweder verstorben oder ebenfalls verarmt waren, gab es niemanden, der für ihre Versorgung hätte aufkommen können; die Erwirtschaftung des eigenen Unterhalts stellte sich aufgrund der geschlechtsspezifischen Umstände und der allgemein schlechten wirtschaftlichen Lage als herausfordernd dar. In dieser Lebenssituation waren die Bereitschaft zur Improvisation und damit berufliche Flexibilität unabdingbar. Dies lässt sich beispielsweise Mitte der 1930er-Jahre beobachten: Als sich ihre finanzielle Lage verschlimmerte, schrieb sie an ihren Bruder Alban Berg, dass sie sich nicht auf das Korrepetieren und Unterrichten vor Ort beschränken würde, sondern auch zum Einstudieren mit Sänger*innen in die Sommerfrische gehen oder schlecht bezahlte Arbeiten wie das »Einpauken« übernehmen würde; sie ginge auch »als Klavierspieler in eine Kapelle, in Tanzschulen«.11 Schon kurz zuvor hatte sie ihre Bereitschaft zur Flexibilität erklärt: »[I]ch kann[,] wie Du weißt[,] correpetieren, könnte als Gesellschafterin zu einer Dame gehen mit Musik, Englisch, Deutsch[,] Französisch (dh. nicht Unterricht[,] Vorlesen[,] aber Conversation geht schon)«.12 Insbesondere in späteren Jahren betonte sie immer wieder die Notwendigkeit zum »[D]urchhalten« und zur Improvisation.13 Zudem veränderte sich ihre Anspruchshaltung. Noch 1919 hatte sie Alban Berg angewiesen, seinen eigenen Flügel aus Wien auf das Familiengut Berghof am Ossiacher See transportieren zu lassen, da sie ihm den ihren nicht borgen könne: Sie und ihre Partnerin bräuchten ihn selbst sehr viel und außerdem sei sie, wenn es um ihr Klavier gehe, »rein ekelhaft!! – Du weißt ja unter welchen 11 Smaragda Eger-Berg, Brief an Alban Berg, 25.07.[1934], A-Wn, F21.Berg.681/103; vgl. auch Herwig Knaus, Alban Berg. Briefwechsel mit seiner Familie (=  Taschenbücher zur Musikwissenschaft 167), Wilhelmshaven 2016, S. 215 sowie Herwig Knaus und Thomas Leibnitz (Hrsg.), Alban Berg. Briefentwürfe, Aufzeichnungen, Familienbriefe, Das ›Bergwerk‹ (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte 35), Wilhelmshaven 2006, S. 225. Hervorhebungen hier und im Folgenden im Original. 12 Smaragda Eger-Berg, Brief an Alban Berg, 08.07.1934, A-Wn, F21.Berg.681/83; vgl. auch Knaus, Alban Berg. Briefwechsel mit seiner Familie (wie Anm. 11), S. 213. 13 Vgl. hierfür insbesondere ihre Briefe an Elga Ludwig von 1948/49, D-Mb, A: Ludwig 83.295/1–4.

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Opfern […] wir dieses […] uns erstanden haben u. wenn Du ›zu kräftig‹ komponieren würdest –«.14 Rund zehn Jahre später, als sie die Hälfte ihres Kapitals verloren hatte und nun Zimmer in ihrer Wiener Wohnung sowie in ihrem Landhaus in Küb am Semmering untervermieten wollte, um Geld zu verdienen, erklärte sie gegenüber ihrem Bruder: »Zimmer in Wien & Küb eventuell mit Klavierbenützung«.15 Dass diese veränderte Haltung durch die schlichte Not bedingt war, ist offensichtlich. Ihre nicht auf die Musik beschränkte berufliche Flexibilität zeugt damit zudem von der Notwendigkeit, der Situation angemessene Zugeständnisse zu machen, um im (beruflichen) Leben bestehen zu können. Dass sich diese Notwendigkeit im Alter verschärfte, wird anhand eines späten Berichts über die Korrepetitorin deutlich. Die Sängerin Lydia Stix bereitete sich bei Smaragda Eger-Berg auf die Rolle der Lulu in Alban Bergs gleichnamiger Oper vor, die sie 1949 bei der Biennale di Venezia sang. Ihre autobiografischen Erinnerungen vermitteln ein augenfälliges Bild der Verarmung Smaragda EgerBergs, die – so Lydia Stix – Schuhe aus alten Fahrradreifen trug, eine abgewetzte Fahne des österreichischen Kaiserreichs als Bettdecke nutzte und nur aus einem einzigen Glas trank.16 Diese Armut, die vermutlich auch dadurch bedingt war, dass sie für ihre Unterrichtsstunden »eine lächerliche Bezahlung«17 verlangte, erschwerte die musikalische Arbeit: Bei ihrem Flügel kamen »einige Tasten […], wenn man sie angeschlagen hatte, nicht mehr hoch, aber das kümmerte Smaragda nicht, denn sie hatte sich daran gewöhnt, sie mit einem freien Finger schnell wieder anzuheben.«18 Smaragda Eger-Berg schien noch im Alter ihren Verdienst mit anderen, nichtkünstlerischen Tätigkeiten aufzubessern, wie Stix berichtete: »Nachts lief die arme Smaragda mit einem Paket Abendzeitungen unter dem Arm herum, um sie in den Cafés und Nachtlokalen zu verkaufen und sich so ein bißchen Geld für Brötchen und Würstel zu verdienen.«19 Mit dieser Flexibilität und mentalen Mobilität war Smaragda Eger-Berg kein Einzelfall; bereits mit Blick auf ihr direktes Umfeld finden sich viele Frauen, die ähnlichen Willen zur Improvisation zeigten. Exemplarisch lässt sich dies für Marya Delvard (1874–1965) ausführen, mit der Smaragda Eger-Berg mehrere 14 Smaragda Eger-Berg, Brief an Alban Berg, 16.12.1919, A-Wn, F21.Berg.681/35; vgl. auch Knaus und Leibnitz (Hrsg.), Alban Berg. Briefentwürfe (wie Anm. 11), S. 212. 15 Smaragda Eger-Berg an Alban Berg, 16.07.1930, A-Wn, F21.Berg.681/74; vgl. auch Knaus, Alban Berg. Briefwechsel mit seiner Familie (wie Anm. 11), S. 197. 16 Lydia Stix: Die andere Lulu. Das bewegte Leben einer Künstlerin in unserer Zeit, Zürich 1980, S. 178– 184. Herzlichen Dank an Juana Zimmermann für den Hinweis. 17 Ebd., S. 183. 18 Ebd., S. 182. 19 Ebd., S. 183.

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Jahre lang zusammenarbeitete und der sie zugleich amourös verbunden war. Die Chansonnière und Diseuse Marya Delvard war zur Jahrhundertwende gefeiertes Mitglied des Münchner Ensembles der Elf Scharfrichter sowie der Wiener Kabarette Nachtlicht und Fledermaus und galt als eine »Ikone des Genres«.20 Rund dreißig Jahre später trat Marya Delvard immer noch in Wien auf. Im Neuen Wiener Journal wurde beispielsweise über einen Konzertabend am 18. März 1934 berichtet, dass der Name Marya Delvard »die Erinnerung an die längst verrauschten Zeiten des Wiener künstlerischen Kabaretts«21 erwecke, und das Publikum es ihr dankte, »daß sie für einen kurzen Abend wieder die Erinnerung an echte Kabarettkunst aufleben ließ.«22 Diese Formulierung weist schon auf das Offensichtliche hin: Die großen Zeiten des Wiener Kabaretts waren ebenso wie die Erfolgszeit Marya Delvards lange vorbei. Ihr Geld verdiente die Diseuse damit, als reisende Musikerin durch kleine Orte und Kurorte (beispielsweise Gallspach, Gmunden oder Bad Ischl) zu ziehen, Konzerte zu geben und durch die Einnahmen ihre Reise- und Lebenshaltungskosten zu decken.23 Ähnlich wie Smaragda Eger-Berg gab sie noch bis ins hohe Alter Unterricht.24 Künstlerische Selbstverwirklichung und Ansprüche scheinen in den Hintergrund gerückt zu sein – die Option auf kurzfristigen und flexiblen Geldverdienst gewann an Relevanz. Historiografische Überlegungen

Flexibles Handeln war für Musikerinnen wie Smaragda Eger-Berg, Marya Delvard und viele andere nötig, um ihre schiere Existenz aufrechtzuerhalten. Ihr der jeweiligen Situation angepasstes Handeln und ihre Vielseitigkeit reichten ihnen 20 Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos, »Chansons, Grotesken, Vorträge. Die Literatur und deren Interpreten im Kabarett Fledermaus«, in: Fledermaus Kabarett. 1907 bis 1913. Ein Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätte. Literatur. Musik. Tanz, Katalog zur Ausstellung im Museum Villa Stuck München, 18.10.2007–27.01.2008, hrsg. von Michael Buhrs, Barbara Lesák, Thomas Trabitsch et al., Wien 2007, S. 99–117, hier: S. 99. Zu Marya Delvard vgl. auch Roger Stein, Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht, Köln 2006, S. 140–144. 21 Neues Wiener Journal, 19.03.1934, S. 4. Bei diesem Konzert übernahm Smaragda Eger-Berg die Klavierbegleitung. 22 Ebd. 23 Smaragda Eger-Berg arbeitete mit Marya Delvard auch bei einigen dieser Reisen zusammen, beispielsweise bei einem Abend im Gasthaus Tirolerhof in Gallspach; vgl. u. a. Knaus und Sinkovicz, Alban Berg (wie Anm. 10), S. 386. 24 Siehe u. a. ihre Bemerkung in einem Brief aus dem Jahre 1953, vorübergehend nur wenig Schülerinnen und Schüler zu haben – im Alter von 78 Jahren; vgl. Marya Delvard, Brief an Smaragda EgerBerg, 16.05.1953, A-Wst, Handschriftensammlung, H.I.N. 204549.

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historiografisch jedoch eher zum Nachteil.25 Bezüglich Smaragda Eger-Berg lässt sich hier ihre fehlende Spezialisierung festhalten sowie ihr fehlender Fokus auf Erfolg: Ambitionen, die über Engagements zur finanziellen Absicherung hinausgingen, lassen sich nicht feststellen; Smaragda Eger-Berg brach sogar lohnenswerte Korrepetitionszusammenarbeiten zum Bedauern der Sängerinnen und Sänger ab, teils wegen privater Angelegenheiten, teils auch, um zu reisen.26 Dieses – man könnte es fast ›Desinteresse‹ an einer Karriere nennen – hing jedoch maßgeblich mit ihrer Lebenseinstellung sowie mit ihrer Vorstellung von einer künstlerischen Existenz zusammen. Als Bohemienne hatte sich Smaragda Eger-Berg einem Verständnis von Kunst und Kultur verschrieben, in der sich ›Künstlerin‹ zu sein weniger darauf bezog, erfolgreich als eine solche zu arbeiten, sondern im Leben von künstlerischen Impulsen geleitet zu werden.27 Mit dieser Sichtweise des Künstlertums hing einerseits eine ablehnende (oder: notgedrungen akzeptierende) Haltung gegenüber einem Broterwerb zusammen,28 andererseits auch eine geradezu programmatische Erfolgsverachtung.29 Die Planung einer (erfolgreichen) Karriere hätte demnach nicht dem Verständnis der Boheme-Künstler*innen von einer künstlerischen Existenz entsprochen30 – hierzu passte viel mehr, um auf das eingangs herangezogene Bild Richard Sennetts zurückzukommen, die Gelegenheitsarbeit, das Verrichten von ›jobs‹. Diese momentbezogene, rein dem Geldverdienst dienende und nicht auf ein Ziel oder eine Laufbahn orientierte Form von Arbeit ist biografisch jedoch nicht unproblematisch zu fassen. In der Biografik dominiert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die männliche ›Normalbiografie‹, die, wie Melanie Unseld zusammenfasst, das nach außen gerichtete, in der Öffentlichkeit stattfindende Leben und Handeln in den Blick nahm und dabei das chronologische Erzählen als biographisches Grundmuster 25 Zur historiografischen Wahrnehmung von Smaragda Eger-Berg vgl. Anna Ricke: »Zwischen ›geistig höchststehender Lesbierin‹ und ›verelendeter Geschwitz‹. Zur Wahrnehmung der Musikerin Smaragda Eger-Berg«, in: Musik und Homosexualitäten. Tagungsbericht Musikwissenschaftliche Homosexualitätenforschung, Bremen 2017 und 2018, hrsg. von Kadja Grönke und Michael Zywietz, Hamburg 2021, S. 153–164. 26 Vgl. hierzu die Arbeitszeugnisse Smaragda Eger-Bergs (wie Anm. 8). 27 Vgl. Helmut Kreuzer, Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968, S. 15. 28 Vgl. ebd., S. 256. 29 Vgl. ebd., S. 245. 30 Dies bestätigt auch der Eindruck Lydia Stix’, die nach eigener Aussage den ungewöhnlichen Lebensstil Smaragda Eger-Bergs zunächst »eher ihrem wunderlichen Bohémien-Charakter« zuschrieb, bevor sie von der tatsächlichen Armut der Musikerin erfuhr. Stix, Die andere Lulu (wie Anm. 16), S. 183.

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etablierte, das mit der Vorstellung eines sich entwickelnden fortschreitenden Lebensrhythmus, eines linearen Karrieremodells einhergeht.31

Eine solche ›Normalbiografie‹ als chronologische und stringente Darstellung von Biografien greift bei weiblichen Biografien häufig nicht. Denn: »[S]ystematischer Fortschritt«, so Melanie Unseld, war »bis in die Moderne weder für die Bildung und Ausbildung junger Frauen, noch für deren beruflichen und/oder künstlerischen Fortschritte überhaupt intendiert«.32 Ähnlich ließe sich das auch bei Smaragda Eger-Berg sehen: Nur wenigen Pianistinnen gelang eine Konzertkarriere; stattdessen boten sich gerade für alleinstehende Musikerinnen der Klavierunterricht oder die Korrepetition an, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dementsprechend ist auch für Musikerinnen der These Angelika Schasers zuzustimmen, dass sich gerade in Frauenbiografien Bildung und Ausbildung »meist als kurvenreiche Hindernisläufe ab[zeichnen]«.33 Das Private, das in biografischen Darstellungen über Männer im Normalfall kaum eine Rolle spielt, erweist sich bei ihnen demgemäß »nicht selten als Dreh- und Angelpunkt ihres Lebensweges, das öffentliches Wirken und beruflichen Erfolg verhindern, behindern oder aber erst ermöglichen kann.«34 Aus einem fehlenden oder nicht erkennbaren Karriereweg folgt jedoch für die Biografien musikkulturell Handelnder häufig nur die Konstatierung von Defiziten: Was, wenn jede Erzählung immer darin mündet, dass der Handelnde nicht komponiert hat, keine erfolgreiche Bühnenkarriere vorzuweisen hat, keine musikpädagogische Schule begründet oder auch keinen wesentlichen Einfluss auf das Musikleben seiner Zeit hatte? Während also in der Lebensrealität von Künstlerinnen wie Smaragda Eger-Berg mit ihrem hohen Maß an Freiheit und Eigenständigkeit Flexibilität und Improvisation unabdingbar waren und ihr Verzicht auf eine Karriere (oder gar deren Ablehnung) für ihr Selbstverständnis als Bohemienne womöglich sogar ganz wesentlich war, folgte aus exakt diesem Fehlen einer Karriere ihre geringe historiografische Berücksichtigung sowie die Herausforderung, ihr Leben jenseits eines klassischen Karrieremodells biografisch zu fassen.

31 Melanie Unseld, »(Auto-)Biographie und musikwissenschaftliche Genderforschung«, in: Musik und Gender. Grundlagen – Methoden – Perspektiven (= Kompendien Musik 5), hrsg. von Rebecca Grotjahn und Sabine Vogt, Laaber 2010, S. 81–93, hier: S. 84. 32 Ebd., S. 85. 33 Angelika Schaser, »Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft«, in: Biographisches Erzählen (= Querelles 6), hrsg. von Irmela von der Lühe und Anita Runge, Stuttgart und Weimar 2001, S. 137–152, hier: S. 143. 34 Ebd.

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Wenn Sennett also die These aufstellt, dass Flexibilität und momentbezogenes Handeln eine Karriere und damit eine kohärente Lebenserzählung ausschließen,35 ist aus Genderperspektive meines Erachtens zu fragen, ob es für die meisten Frauen der Generation Smaragda Eger-Bergs überhaupt die Möglichkeit einer langfristigen Karriereplanung gab: Für eine auf ein Ziel ausgerichtete Lebensführung ist es zuvorderst notwendig, dass dieses wie auch immer geartete Ziel dem Handelnden offensteht, dass er/sie die Möglichkeit einer Karriere sieht, wahrnimmt und Wege kennt, diese zu verwirklichen, ganz abgesehen von den alltäglichen Lebensrealitäten wie Geld und Versorgung. Immerhin ist und war das Gelingen einer Karriere immer auch davon abhängig, sich auf diese konzentrieren zu können, was bei der im beginnenden 20. Jahrhundert körperlich anstrengenden und zeitaufwendigen Hausarbeit für als Musikerinnen arbeitende Frauen wie Smaragda Eger-Berg selbst mithilfe des obligatorischen Dienstmädchens ungleich schwieriger gewesen sein dürfte, als für arbeitende Männer wie ihren Bruder Alban Berg, dessen Frau Helene Berg sich um einen funktionierenden Alltag kümmerte und ihm damit, wie Willi Reich es formuliert, »den Frieden und die Behaglichkeit eines gemütlichen Heims und damit die zu ungestörtem Schaffen notwendige Ruhe [schenkte]«.36 Diese Perspektive führt mich zu der Überlegung, dass vor dem Hintergrund geschlechtsbedingter Umstände und der Diversität künstlerischer Lebenskonzepte die Mobilität und Flexibilität sowohl in beruflicher als auch geistiger Hinsicht das eigentliche Charakteristikum darstellen könnte, das Biografien wie die von Smaragda Eger-Berg auszeichnen. Vielversprechender als eine Reduktion einer solchen, durchaus auch ambivalenten Biografie auf eine kohärente Erzählung, scheint dabei, aus interdisziplinärer, kulturwissenschaftlicher Perspektive gezielt nach Brüchen, Abweichungen und Beweglichkeiten zu suchen. Der Blick auf die verschiedenen Dimensionen von Mobilität, das heißt berufliche Flexibilität, geografische Bewegungen, aber eben auch soziale Ab- oder Aufstiege beziehungsweise Statuspassagen, kann hier einen Ansatzpunkt liefern, um flexibilitätsgeprägte Biografien besser fassen zu können. Die fehlende Karriere – ob nun verhindert, misslungen oder womöglich auch gar nicht angestrebt – kann durch die Offenlegung der Motivationen und Hintergründe sowie der dadurch bedingten flexiblen oder mobilen Handlungen aufschlussreiche Einsichten zu den Handlungsräumen musikkultureller Akteure und Akteurinnen in ihrer Zeit und ihrem Umfeld bieten.

35 Vgl. Sennett, Der flexible Mensch (wie Anm. 1), S. 165. 36 Willi Reich, Alban Berg. Leben und Werk, Zürich 1963, S. 33.

Lilli Mittner (Tromsø), Lena Haselmann-Kränzle (Weimar) und Janke Klok (Berlin/Groningen)

Akademische Möglichkeitsräume im Spiegel ­kulturellen Handelns norwegischer Künstlerinnen Praktische und theoretische Perspektiven zur Mobilität1

Einleitung

»Dat soll auch nicht jehen, dat soll fahren«2, notierte die norwegische Schriftstellerin Camilla Collett (1813–1895) 1863 in ihrem Essay Berlins Gader (Die Straßen von Berlin) und zitierte damit die ›Berliner Schnauze‹ einer mit Kohlenpfanne, Korb und Huhn beladenen Marktfrau, die gerade versuchte, in einen Pferde-Omnibus einzusteigen. Ein älterer Herr, dem Anschein nach ein Literat, hatte ihr – vergeblich – den Zutritt zu dem damals hochmodernen Transportmittel mit den Worten, dass das Huhn »wohl nicht mitgehen«3 solle, verwehren wollen. Das eingangs genannte berlinerische ›Beschleunigungszitat‹ aus dem 1

Dieser Artikel hat in sowohl räumlicher, zeitlicher als auch gedanklicher Hinsicht eine lange Reise hinter sich. Sie startete mit einem Dropbox-Ordner im Juli 2017 und Vorbereitungstreffen mit Prof. Dr. Katrin Losleben für einen Expert*innen-Workshop zum Thema »Musik – Gender – Mobilität« am 5. und 6. Oktober am Forschungszentrum Musik und Gender in Hannover. Die Grundidee, mobiles Handeln im wissenschaftlichen Kontext performativ vorzuführen, konnte zu dieser Gelegenheit nicht realisiert werden, da Zugausfälle in Folge eines Unwetters die geografische Mobilität der Referierenden verhinderten. Dies hatte zur Folge, dass der weitere wissenschaftliche Austausch innerhalb unserer Forschungsgruppe ins Digitale transferiert wurde. Seitdem hat der Text mehrere Bearbeitungsstufen durchlaufen, die ohne die hervorragende fachliche Begleitung der Herausgeberinnen Dr. Maren Bagge und Univ.-Prof. Dr. Nicole K. Strohmann nicht möglich gewesen wäre. Dafür sind wir sehr dankbar. 2 Hervorhebung durch die Autorinnen. Camilla Collett publizierte die Berichte über ihre Berliner Erlebnisse in der norwegischen Illustreret Nyhedsblad, eine der neu aufgekommenen illustrierten Zeitschriften, die damals in ganz Europa für ein breites Publikum publiziert wurden. Der Bericht Berlins Gader [Die Straßen von Berlin] erschien danach in Camilla Colletts Sidste Blade, 1ste Række (1868) und ist hier zitiert aus Camilla Collett, Samlede verker. Mindeudgave [Gesammelte Werke. Gedenkausgabe, Bd. 2], Kristiania und Kopenhagen 1913, S. 63–74. Er wurde 2019 erstmals von Johannes Sperling ins Deutsche übersetzt in »Dat soll auch nicht jehen, dat soll fahren …«. Norwegische Künstlerinnen in Berlin (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik 25), hrsg. von Lena Haselmann, Janke Klok und Lilli Mittner, Berlin 2019, S. 129–137, hier: S. 133. 3 Ebd., Hervorhebung durch die Autorinnen.

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Jahre 1863 sehen wir als Sinnbild für das kulturelle Handeln zahlreicher norwegischer Künstlerinnen im 19. Jahrhundert, die es nach Berlin zog, wo sie sich künstlerisch professionalisierten. Gleichzeitig steht der Ausspruch für eine Zeit voller Umbrüche, die sich in der Laufbahn dieser norwegischen Künstlerinnen widerspiegelten. Sie schlenderten nicht, sondern eilten durch die Straßen europäischer Städte, um sich neue Möglichkeitsräume zu erschließen. Es ist ein Sinnbild, das darüber hinaus gänzlich unserem Denken über akademische Mobi­ li­tät entspricht und folglich Titel eines binationalen multidisziplinären Projekts des Nordeuropa-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, der norwegischen Botschaft in Berlin sowie der Universität Tromsø – Norwegens Arktischer Universität wurde. Ziel des Projekts war es, anhand konkreten Materials (darunter eine Reihe erstmals ins Deutsche übersetzte Ego-Dokumente) aufzuzeigen, mit welcher Motivation norwegische Musikerinnen, Schriftstellerinnen und bildende Künstlerinnen im 19. Jahrhundert Berlin als kreativen Fluchtpunkt und inspirierenden Ausbildungsort aufsuchten, welche Rolle das Ausland für ihren künstlerischen Werdegang spielte und wie die Norwegerinnen Berlin als Ort der Moderne wahrnahmen. Expertinnen aus kunstbezogenen Forschungsgebieten wie Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte stellten die Schriftstellerin Camilla Collett, die Malerin Harriet Backer (1845–1932) sowie die Komponistinnen Agathe Backer Grøndahl4 (1847–1907), Mon Schjelderup (1870–1934) und Signe Lund (1868–1950) erstmals als Gruppe ins Scheinwerferlicht einer deutsch-norwegischen Kulturgeschichte.5 Mithilfe einer imaginären Begegnung zwischen Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl wurden künstlerische Ausbildung und Alltag sowie professionelle Praxis beleuchtet. Diese imaginäre Begegnung fand ihre Form in einem 4

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Die Komplexität der korrekten und angemessenen Namensnennung historischer Frauenpersönlichkeiten ist mit einer Reihe von Dilemmata verknüpft, die die historische Frauenforschung vor besondere Herausforderungen stellt. Zum einen geht es um die Frage der Notwendigkeit sprachlicher Redundanz, die das konsequente Mitführen von Vor- und Nachnamen verlangt. Zum anderen geht es um die Problematik der Doppelnamen und Ehenamen. So wurde beispielsweise die nach Berlin gereiste Agathe Backer später als Pianistin Agathe Backer Grøndahl weltberühmt. In zeitgenössischen Musikkritiken sowie innerhalb der Musikgeschichtsschreibung wurde sie aber auch als Agathe Grøndahl oder in der Schreibweise Agathe Backer-Grøndahl geführt. Siehe zur Kritik der Abkürzung von Frauennamen auch Anna Lindhjem, Kvinnelige komponister i Skandinavien, 2. Aufl., Gressvik 2011. Eine methodische Diskussion der lexikalischen Namensführung findet sich auch in Lena Haselmann, Janke Klok und Lilli Mittner, »Aufmerksamkeit für Berlin als Ort norwegischdeutschen Kulturaustausches«, in:  Norwegische Künstlerinnen in Berlin (wie Anm. 2), S. 9–22, hier: S. 11–12. Die Ergebnisse des Projektes wurden publiziert in Haselmann, Klok und Mittner (Hrsg.),  Norwegische Künstlerinnen in Berlin (wie Anm. 2).

Akademische Möglichkeitsräume im Spiegel kulturellen Handelns

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Dialog bestehend aus einer Montage von Ego-Dokument-Zitaten beider Künstlerinnen. Da wir den fiktiven Dialog mit performativen Elementen vorgetragen haben, entwickelten wir im Laufe des Entstehungsprozesses die Bezeichnung »Dramatische Montage« für diese Art von mehrdimensionaler biografischer Methode, bei der durch mehrere Erzählerstimmen, das Scheinwerferlicht auf historische Personen und ihr Handeln gerichtet und darüber hinaus ein neuartiger Zugriff auf historisches Wissen vermittelt wird.6 Seit 2017 entwickeln wir im Rahmen der Forschungsgruppe RESCAPE diese Methode performativer Geschichtsschreibung.7 Die Forschungsgruppe RESCAPE, ein Akronym für Research – Education – Sources – Creativity – Arts – Performances – Engagement, entwickelt innovative methodische, performative und didaktische Herangehensweisen im Umgang mit historischem Material.8 Mobilität, hier definiert als Denken in Bewegung,9 ist eine Grundvoraussetzung für das Experimentieren mit und Aneignen von neuen Ideen. Das gilt – so wird im Folgenden an konkreten Fallbeispielen gezeigt – sowohl für künstlerische als auch wissenschaftliche Tätigkeiten. Neben dem kulturellen Handeln norwegischer Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts prä6 Siehe dazu Janke Klok und Lena Haselmann, »Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl unterhalten sich in Berlin – ein Gespräch, das es nie gab. Dramatische Montage als akademische Praxis«, in: Norwegische Künstlerinnen in Berlin (wie Anm. 2), S. 91–123. 7 Bisher wurden in der Forschungsgruppe RESCAPE folgende Montagen erstellt und wissenschaftlich bearbeitet: »Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl unterhalten sich in Berlin«, Teil eines Themenabends mit Vorträgen und Konzertbeiträgen, Felleshus der Nordischen Botschaften, Berlin (14.02.2017) und im Oberseminar »Kreativität im wissenschaftlichen Arbeiten« von Prof. Dr. Stefanie von Schnurbein, Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin (03.07.2017); »Kunst som metode«, Workshop mit Studierenden des Konservatoriums für Musik, Universität Tromsø (15.10.2018); »Da Betzy møtte Agathe. Performance og workshop«, Nordnorwegisches Kunstmuseum, Tromsø (16.06.2019). Geplant sind des Weiteren »Das urbane Ausland als Möglichkeitsraum. Zur Entstehung und Erläuterung der Dramatischen Montage« (Arbeitstitel), Seminarbeitrag, Norwegische Nationalbibliothek Oslo sowie »Da Camilla Collett møtte Christiane Ritter«, Performance & Workshop am Polarmuseum, Tromsø (2022). 8 Siehe dazu Klok und Haselmann, »Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl unterhalten sich in Berlin« (wie Anm. 6). Außerdem: Lena Haselmann, Lilli Mittner und Janke Klok, »Autumn Talk and Ocean Songs: Dramatic Assemblage – Methods and Relevance of Performative Historiography«, in: Musikgeschichte auf der Bühne – Performing Music History (= Musikgeschichte auf der Bühne 2), hrsg. von Anna Langenbruch, Clémence Schupp-Maurer und Daniel Samaga, Bielefeld 2021, S. 375–398 sowie Lilli Mittner und Gabriele Wagner, »Den Norden Lesen. Erinnerungen, Wahrnehmungen und Bedeutungen im interdisziplinären Dialog«, in: Nordlit 46 (2020), S. 52–72. 9 Die Bedeutung von Mobilität für einen kreativen Prozess wird in den Translation Studies ausgiebig diskutiert und unter anderem von Hans G. Hönig und Paul Kußmaul beschrieben in Strategie der Übersetzung: ein Lehr- und Arbeitsbuch (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 205), Tübingen 1982, später überarbeitet/weiterentwickelt 1986, 1991 und 1996.

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sentiert der vorliegende Aufsatz das kulturelle Handeln der Forschungsgruppe RESCAPE. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit wird dabei ebenso relevant für gegenwärtiges kulturelles Handeln wie gegenwärtiges kulturelles Handeln die Wahrnehmung von Vergangenheit mitbestimmt. Auf theoretischer Ebene knüpfen die hier entwickelten Gedanken an Forschungsarbeiten von Peter Merriman an, der in seinem Buch Mobility, Space and Culture zeigt, welche Rolle physische und psychische Mobilität in Bezug auf das Herstellen von neuen Wissens- und Denkräumen spielen.10 Mobilität findet in RESCAPE auf dreifache Weise statt: (1) mit Blick auf deutsch-norwegischen Kulturtransfer, (2) auf der Ebene eines multidisziplinären11 Austauschs zwischen Musik-, Kunst- und Literaturgeschichte sowie (3) an der Schnittstelle zwischen ausübender Kunst und Wissenschaft. Die auf diese Weise entwickelten neuen Erkenntnisse wurden dabei bislang nicht nur in Form wissenschaftlicher Artikel und Publikationen vermittelt, sondern auch in öffentlichen Workshops,12 einer CD-Einspielung13 sowie einer projektbezogenen Internetseite einem breiteren Publikum vorgestellt.14 Dieser Artikel nimmt RESCAPE sowohl auf inhaltlicher als auch auf organisatorischer Ebene aus Mobilitätsperspektive unter die Lupe. Dabei geht es nicht nur darum, Mobilität in Bezug auf die behandelten historischen Personen und Quellen zu betrachten, sondern auch aktuelle Perspektiven auf akademische und künstlerische Mobilität zu gewinnen – um damit akademische Möglichkeitsräume des 21. Jahrhunderts im Spiegel kulturellen Handelns des 19. Jahrhunderts zu erforschen und umgekehrt.15 Zunächst richten wir den Fokus auf die Vergangenheit und präsentieren unsere Forschungsergebnisse zur Mobilität nor10 Peter Merriman, Mobility, Space and Culture, London 2012. 11 Während Interdisziplinarität auf das entstehende Wissen zwischen den Disziplinen (hier Musik, Literatur und bildende Kunst) abzielt, wird der Begriff Multidisziplinarität hier verwendet, um zu unterstreichen, dass im Verlauf der Zusammenarbeit disziplinäre Epistemologien und Wertesysteme bestehen bleiben. Siehe dazu auch Kate Maxwell und Paul Benneworth, »The construction of new scientific norms for solving Grand Challenges«, in: Palgrave Communications 4 (2018) Artikel-Nr. 52, S.  1–11, hier: S.  2, https://www.nature.com/articles/s41599-018-0105-9, abgerufen am 22.12.2022. 12 Siehe Anm. 7. 13 Rastlose Lieder. Agathe Backer Grøndahl – Signe Lund – Mon Schjelderup. Lieder, Klavier- und Kammermusikwerke norwegischer Komponistinnen, CD und Booklet (Einleitung und Übersetzung der Liedtexte von Camilla Hambro), betont: Label der Universität der Künste Berlin 2017, hrsg. von Janke Klok, Lena Haselmann und Lilli Mittner. 14 Für weitere Informationen siehe die Website von RESCAPE: http://site.uit.no/rescape, abgerufen am 28.02.2020. 15 Akademische Wissenschaft wird hier in Abgrenzung zu künstlerischer Wissenschaft (arts-based

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wegischer Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts. Anschließend richten wir den Blick auf unsere eigene Praxis angewandter akademischer und künstlerischer Mobilität. Abschließend machen wir einen Schnitt durch Raum-Zeit-Materie im Sinne Karen Barads16 und zeigen, wie wir neue Ideen diametral zu bestehenden Kategorien formieren können. Zur Untersuchung von Mobilität norwegischer Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts

Norwegische Künstlerinnen waren im 19. Jahrhundert auf vielfältige Weise mobil. Sie brachen mehrmals zu Studien-, Konzert- und Vortragsreisen durch ganz Europa auf, die von kurzen Begegnungen bis hin zu mehrjährigen Auslandsaufenthalten reichen konnten.17 Neben Kopenhagen, Paris und London war vor allem auch Berlin für Norweger und Norwegerinnen ein wichtiges Ziel zur weiterführenden Ausbildung.18 Nicht zuletzt auch deshalb, weil nationale Ausbildungsangebote vergleichsweise spät eingerichtet wurden. Ein Konservatorium in der norwegischen Hauptstadt öffnete beispielsweise erst 1899 seine Tore. In der deutsch-norwegischen Musikgeschichtsschreibung wird in der Regel Leipzig als Hauptreiseziel genannt, was daran liegen mag, dass in Leipzig bereits 1843 eine research) eingeführt. Siehe zur Methodologie kunstbasierter Forschung Patricia Leavy (Hrsg.), Handbook of Arts-Based Research, New York 2018. 16 Karen Barad: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham und London 2007. In unserem Zusammenhang enthält insbesondere folgende Textstelle ein Schlüsselmoment grundlegenden Umdenkens: »Memory does not reside in the folds of individual brains; rather, memory is the enfoldings of space-time-matter written into the universe, or better, the enfolded articulations of the universe in its mattering. Memory is not a record of a fixed past that can ever be fully or simply erased, written over, or recovered (that is, taken away or taken back into one’s possession, as if it were a thing that can be owned). And re-membering is not a replay of a string of moments, but an enlivening and reconfiguring of past and future that is larger than any individual. Re-membering and re-cognizing do not take care of, or satisfy, or in any other way reduce one’s responsibilities; rather, like all intra-actions, they extend the entanglements and responsibilities of which one is a part. The past is never finished. It cannot be wrapped up like a package, or a scrapbook, or an acknowledgment; we never leave it and it never leaves us behind.« Ebd., S. IX. 17 Im Rahmen der Forschung zu kulturellem Transfer erfahren internationale Reisen und Inspirationen eine hohe Aufmerksamkeit. Siehe zum Beispiel Petra Broomans (Hrsg.), From Darwin to Weil. Women as Transmitters of Ideas, Eelde 2009 oder auch Jenny Bergenmar, Åsa Arping, Yvonne Leffeler et al. (Hrsg.), Swedish Women’s Writing on Export. Tracing Transnational Reception in the Nine­ teenth Century, Göteborg 2019. 18 Vgl. Daniela Büchten (Hrsg.), »Jeg har en koffert i Berlin«. Nordmenn i Berlin rundt 1900 og 2000, (Utstilling i Nasjonalbiblioteket 2. november 2007 til 12. februar 2008) [»Ich habe einen Koffer in Berlin«. Norweger in Berlin um 1900 und 2000 (Übers. Lilli Mittner)], Oslo 2007.

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erste staatliche Musikhochschule eröffnet wurde, die zudem auch von Anfang an Frauen aufgenommen hat. Gleichzeitig ist diese Wahrnehmung aber wohl auch darauf zurückzuführen, dass die deutsch-norwegische Musikgeschichte lange Zeit von der Grieg-Rezeption dominiert wurde.19 Aus frauengeschichtlicher Perspektive war jedoch Berlin als Ausbildungsort besonders ab den 1860er-Jahren ein ebenso wichtiger Ausbildungsort für norwegische Musikerinnen und Musiker. Auf diese Weise fällt besonders Theodor Kullaks (1818–1882) Akademie der Tonkunst (1855), ein Privatinstitut, welches auf die Ausbildung von Pianistinnen und Pianisten spezialisiert war, in den Blick.20 Dorthin reisten die norwegische Virtuosin Erika Lie Nissen oder auch Agathe Backer Grøndahl. Mobil zu sein bedeutete für norwegische Künstlerinnen nicht nur einen entscheidenden Schritt in die produktive Entwicklung und Professionalisierung zu gehen, sondern vor allem auch gesellschaftliche, familiäre und persönliche Widerstände überwinden zu müssen, die einer Künstlerin, im folgenden Beispiel einer Komponistin, begegneten, wenn sie sich dafür entschied, jene Stationen zu begehen, die im Rahmen einer Professionalisierung von Komponisten erwartet wurden. Es zu können und nicht zu müssen – das ist das Beste. Gehen Sie den Weg, der für Frauen gedacht ist […]! Nehmen Sie Ihre Kunst als herrlichen Schmuck, mit dem Sie um sich herum strahlen können, aber verlassen Sie diesen Weg nicht, um Konzertpianistin zu werden!21

Das hatte 1866 Halfdan Kjerulf, Klavierlehrer von Agathe Backer Grøndahl (s. Abb. 1) in einem Brief an sie geschrieben, als es darum ging, ob sie eine professionelle Laufbahn als Pianistin einschlagen solle und dazu nach Berlin reisen wollte. Das Leben auf Reisen bot viele Herausforderungen und Überraschungen. Als die Malerin Harriet Backer gemeinsam mit ihrer Schwester Agathe Backer Grøndahl nach Italien reiste, berichtete sie von der Kehrseite des freien Reisens durch Europa:

19 Siehe dazu auch Lilli Mittner, »›Jetzt sind wir in vollem Gange…‹. Studienreisen norwegischer Komponistinnen nach Berlin«, in:  Norwegische Künstlerinnen in Berlin (wie Anm. 2), S. 71–89. 20 Vgl. ebd. 21 Halfdan Kjerulf, Brief an Agathe Backer Grøndahl, o.  O. [vermutlich Christiania], 09. und 12.01.1866, zit. n. Ole M. Sandvik, Agathe und O. A. Grøndahl 1847–1947. Et Minneskrift, Oslo 1948, S. 13–20. In der Übersetzung von Lena Haselmann in dies., Agathe Backer Grøndahl – von Norwegen nach Berlin. Professionelle Musikausbildung im 19. Jahrhundert, Münster und New York 2018, S. 145.

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Abb. 1: Agathe Backer Grøndahl als Kompositions- und Klavierstudentin in Berlin in den 1860er-Jahren. Fotografie M. Levinthal, Nationalbibliothek Oslo, Billedsamlingens portrettarkiv.

Im Juni 1871 reisten wir über Rom und Neapel nach Hause, alleine, zwei junge Mädchen im Alter von 20 Jahren. Keine von uns war sich der Gefahren, denen wir ausgesetzt waren, bewusst. Allerdings hatte meine Schwester einen Totschläger gekauft. Versteckt in der Tasche hielt sie die Hand um den geschmeidigen Stock und war bereit zuzuschlagen, falls ich angegriffen werden sollte.22

Während die Literatur in der Regel die ältere Schwester Harriet als Begleitung für die jüngere Agathe auf ihren Studienreisen nach Berlin angibt, macht dieses Zitat deutlich, wie sich auch die Jüngere um die Ältere und beide umeinander kümmerten. Das Reisen ins Ausland wurde als spannend und fremd empfunden und auch wenn sich Künstlerinnen und Künstler auf diese Weise neue Welten erschlossen, waren diese keineswegs ungefährlich. 22 Original: »Vi reiste hjem i juni 1871 over Rom og Napoli to unge piker i 20-aars-alderen alene. Ingen av oss forstod farerne vi utsatte os for. Riktignok hadde min søster kjøpt en totschläger, gjem i lommen holdt hun haanden om den smidige stok, og var viss paa, at hun vilde slå til, om jeg blev angrepet.« (Übers. Lilli Mittner). Aus den Lebenserinnerungen der Malerin Harriet Backer. Das Manuskript ist datiert auf den 10. April 1926 und befindet sich in der Norwegischen Nationalbibliothek in Oslo (UB Oslo, Ms. 8* 2022). Siehe auch Marit Lange, Harriet Backer, Kopenhagen 1995, S. 276.

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Ein weiteres Beispiel für die Herausforderungen, die sich mit künstlerischer Mobilität verbanden, kann aus den Erfahrungen der norwegischen Komponistin Signe Lund (s. Abb. 2) gezogen werden. Sie kam 1896 nach Berlin, um dort bei Ludwig Berger (1877–1939) zu studieren und beschrieb später in ihrer Autobiografie den vorangegangenen innerfamiliären Konflikt wie folgt: Es glich einer Rauferei, die Erlaubnis meines Mannes für die Umsetzung meiner Pläne zu bekommen, aber letztlich glückte es, und es wurde entschieden, dass ich schon im gleichen Herbst nach Berlin reisen sollte. Das war ’96. Unser jüngster Sohn war damals gerade mal 6 Monate alt, aber groß und stark, ein richtiger Wonneproppen. Ein so kleines Kind zu verlassen, kann etwas herzlos erscheinen und ich weiß, dass viele mich dafür verurteilten. Aber wäre ich nicht abgereist, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach ein weiteres Kleinkind hinzugekommen, und das hatte ich unheimlich satt. War ich nicht vor allem Musikerin? Bevor ich Ehefrau und Mutter wurde? […] Kurze Zeit später reiste ich ab […].23

Dies sind nur einige von zahlreichen Beispielen aus den Ego-Dokumenten des 19. Jahrhunderts, die zeigen, welche Barrieren verheiratete Künstlerinnen mit Familienverantwortung zu überwinden hatten, und zwar zusätzlich zu den rein praktischen Reisemodalitäten, die auch für Männer galten. Die Abhängigkeit von der Zustimmung der Familie, Familienplanung, die der Karriere zusätzlich im Weg stehen würde, die Frage nach dem Selbstbild und dem Priorisieren eines Berufs als Künstlerin oder Mutter: All das ergibt sich aus der Quellen-Lektüre. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, welche Hoffnungen mit einer künstlerischen Entwicklung verbunden waren. Signe Lund erzählt in ihrer zweibändigen Autobiografie von ihren Erlebnissen als Pianistin und Komponistin in Berlin, Paris, Chicago, New York und vielen weiteren Orten der Welt. Sich als Künstlerin (weiter) zu entwickeln, bedeutete nicht nur Zugang zur Professionalität, sondern für viele auch eine Legitimation für erweiterte Mobilität. Physische Mobilität – das Lernen an einer Institution, das Studieren und Konzertieren im Ausland – war im 19. Jahrhundert unabdingbare Voraussetzung für Künstlerinnen auf dem Weg zu einer Professionalisierung. Der Musikerberuf gilt als einer der ersten Frauenberufe. Dass ausgebildete Musiklehrerinnen gesucht wurden, diente in erster Linie der Wertsteigerung auf dem Heiratsmarkt und stellt eine Zusatzqualifikation für typisch weibliche pädagogische Tätigkeitsfelder dar.24 Eine Reihe von Frauen 23 Signe Lund, Sol Gjennem Skyer. Livserindringer, Bd. 1, hrsg. von Børre Ludvigsen, o. O. 2012. In Übersetzung von Katja Lobinski in: Haselmann, Klok und Mittner (Hrsg.),  Norwegische Künstlerinnen in Berlin (wie Anm. 2), S. 147–153, hier: S. 105. 24 Vgl. Harald Herresthal, Med spark i gulvet og quinter i bassen: musikalske og politiske bilder fra nasjo-

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Abb. 2: Signe Lund (1900) in dem Jahr, in dem sie über Kopenhagen nach Paris kam. Das Foto befindet sich in Privatbesitz und ist abgebildet in Signe Lund, Sol Gjennem Skyer. Livserindringer, Bd. 1, hrsg. von Børre Ludvigsen, o. O. 2012. CC BY-NC-ND 3.0

konnte in dieser Phase der Kulturgeschichte mit dem Musikerinnenberuf ihre Reisen ins Ausland legitimieren und damit ein erhöhtes Maß an Mobilität gewinnen. Von besonderer Bedeutung war Mobilität dabei für norwegische Musikerinnen, denn »[d]urch die Mobilität der KünstlerInnen stand Norwegen im engen Austausch mit den sogenannten ›kulturellen Zentren Europas‹, an deren Entwicklungen man sich orientierte, die als Maßstab galten.«25 Die physische Mobilität beziehen wir hier nicht nur auf reisende Frauen, sondern auch auf die Quellen und die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen. Der bewegliche Umgang beim Montieren erzeugt unterschiedliche Wahrnehmungen von Horizonterweiterung und Fremdsein. Sprachbarrieren, beschwerliche Reisemodalitäten, eine längerfristige Entfernung von der Familie oder Finanzierungsprobleme waren Einschränkungen und Hindernisse, von denen nalromantikkens gjennombrudd i Norge [Mit Gestampfe auf dem Boden und Quinten im Baß. Musikalische und politische Bilder vom Durchbruch der Nationalromantik in Norwegen (Übers. Lilli Mittner)], Oslo 1993, S. 195–227. 25 Lilli Mittner, Möglichkeitsräume: Studien zum kulturellen Handeln komponierender Frauen des 19. Jahrhunderts in Norwegen (= Beiträge aus dem Forschungszentrum Musik und Gender 4), ­Hannover 2016, S. 37.

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norwegische Musikerinnen und Musiker in ihren Studienjahren häufiger berichteten. Für Frauen kamen gesellschaftliche Erwartungen an die Rolle als Frau und Mutter hinzu. Ins Ausland zu reisen war für manche mit Distanz, Unsicherheit und Angst verbunden. Die Konstruktion einer dramatischen Montage ermöglicht im Falle Camilla Colletts und Agathe Backer Grøndahls beispielhaft die Einsicht in einen aufwändigen Alltag, der von immer wieder neuen finanziellen Herausforderungen geprägt war.26 Gleichzeitig wird deutlich, dass das Leben in der Fremde künstlerische Energien freisetzte. Agathe Backer Grøndahl komponiert ihr erstes Orchesterstück in Berlin und wird von der Presse gelobt.27 Camilla Collet erschafft als Auslandskorrespondentin in Berlin mit ihren urbanen Reisebriefen ein neues literarisches Genre.28 Die Beschäftigung mit dem historischen Material zeigt aus vielfältigen Perspektiven, wie Berlin als Beschleunigung, Ort des Aufbruchs aber vor allem auch als lebensspendende Energie wahrgenommen wurde. RESCAPE – Praxis angewandter akademischer und künstlerischer Mobilität

Ebenso wie Camilla Collett, Agathe Backer Grøndahl, Harriet Backer, Signe Lund und zahlreiche weitere norwegische Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts grenzüberschreitend tätig waren,29 müssen wir als Forscherinnen in RESCAPE vielfältige Weltenwechsel meistern, um mobil zu sein und uns zwischen verschiedenen Räumen, Netzwerken, Sprachen, Kulturen, künstlerischen Codes, epistemischen Systemen und Prämissen zu bewegen. Die Frage ist dabei in der Regel nicht primär, wie wir uns als Personen bewegen, sondern wie sich unsere Gedanken begegnen, gegenseitig inspirieren und kollektives Wissen generieren. Im Unterschied zu den Frauen des 19. Jahrhunderts können wir weitgehend ortsungebunden im virtuellen Raum Distanz überbrücken und gleichzeitig kollektiv arbeiten. In Zeiten der CoronaPandemie erhielt diese Arbeitsweise eine dringlichere Dimension. Das Verhältnis zwischen Bewegung und Standortgebundenheit muss dabei im Rahmen künstlerischer und akademischer Alltagspraxis immer wieder neu abgesteckt werden. Dabei schaffen die konkreten Formen von alltäglicher Mobilität 26 Siehe Klok und Haselmann, »Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl« (wie Anm. 6), S. 104 und S. 106f. 27 Siehe dazu auch Mittner, »Studienreisen« (wie Anm. 19), S. 79. 28 Janke Klok, »Revolutionary voices: Nordic women writers and the development of female urban prose 1860–1900«, in: Feminist Review 96 (2010), S. 74–88. 29 Vgl. Janke Klok, »Grenzüberschreitende Inspiration. Die ersten norwegischen Künstlerinnen in Berlin«, in:  Norwegische Künstlerinnen in Berlin (wie Anm. 2), S. 23–46.

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eine Vielzahl von Orten und Zeitverläufen, Rhythmen und Kräftemechanismen, die wiederum prägend für das gemeinsame Arbeiten sind.30 Durch die räumliche Trennung sind wir als Forscherinnen in RESCAPE, deren Wohn- und Arbeitsorte sich über drei Länder (Norwegen, Deutschland, Niederlande) erstrecken, darauf angewiesen, uns neue Kommunikationstechnologien zu erschließen und Arbeitsformen zu entwickeln, die ein gemeinsames Denken am konkreten Gegenstand sowohl synchron als auch diachron ermöglichen. Während regelmäßige Diskussionsrunden via Skype oder Zoom (s. Abb. 3) traditionellen Formen des fachwissenschaftlichen Austauschs in Form von A ­ rbeitstreffen in Präsenz ähneln, ermöglicht der zunehmende Gebrauch d ­ igitaler Textverarbeitung ein zeitversetztes (Weiter-)Denken in der Gruppe. Der Austausch von Gedanken, Ideen und Wissen wird auf diese Weise beschleunigt, so dass alle Beteiligten in ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Alltag an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Annäherungen dennoch gemeinschaftliche Ergebnisse kreieren. Vergleichbar ist dies mit traditionellen interdisziplinären akademischen Treffen, nur dass es mit den heutigen Kommunikationsmitteln zu einem schnelleren Ergebnis kommt und sich dies auch schneller miteinander verbinden lässt. Das Reisen entfällt. Hierin erkennen wir jedoch auch einen Nachteil: Reflexionen und gedank­ liche Vertiefungen, die man im Rahmen von Reisen generiert, finden nicht in gleichem Maße statt. Die Bearbeitung von Tatsachen im Unbewussten, die sonst zu plötzlichen Einsichten führen kann, ist weniger ausgeprägt. Das Unerwartete, das gerade dann eintritt, wenn wir uns nicht mit alltäglichen Tätigkeiten und gewohnten Abläufen und Aufgaben beschäftigen, geht verloren. Durch die starre Platzierung am Bildschirm verliert man darüber hinaus auch die physische Bewegung, die wiederum zum Denken und zu Kreativität inspiriert. Dieses Phänomen wird von Hans G. Hönig und Paul Kußmaul im Kontext von Strategien zu Übersetzungslösungen beschrieben. Sie haben erforscht, dass bei der Übersetzungarbeit die Kreativität durch spontanes Bewegen gefördert wird.31 In der Erkenntnis über den Verlust liegt nichtsdestotrotz der Anfang eines Entwicklungspotentials, das noch ausgeschöpft werden kann. So schreibt Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi 1788: Wenn man sich zu den Gegenständen selbst begibt, hält man nichts anderes eher für wahr als bis man es selbst angeschaut hat, so mag der Weg vielleicht langsamer sein, aber er ist auch sicherer und reizender und der Stoff des Nachdenkens ebenso unerschöpflich als die Menge der Gegenstände in der Natur.32 30 Vgl. dazu auch Merriman, Mobility, Space and Culture (wie Anm. 10), S. 1. 31 Hönig und Kußmaul, Strategie der Übersetzung (wie Anm. 9), S. 9–16. 32 Wilhelm von Humboldt, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, Göttingen, 17.11.1788, zit. n. Manfred Geier, Die Brüder Humboldt: Eine Biographie, Reinbek 2009, S. 93f.

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Auch wenn wir anerkennen, dass Zeit, Weg und Ort wichtige »Stoff[e] des Nachdenkens«33 sind, so könnten wir nicht an RESCAPE in gleichem Umfang teilhaben, wenn mehrere Reisen jährlich zu einem gemeinsamen Ort Grund­ voraussetzung gewesen wären. Hinzu kommen ökologische Fußabdrücke, die uns zunehmender bewusster werden und die es zu verkleinern gilt. An entscheidenden Momenten der Projektentstehung waren Treffen in Präsenz jedoch unabdingbar. Diese waren in der Regel geknüpft an konkrete Ereignisse, bei denen Teilergebnisse des Projektes präsentiert wurden, wie zum Beispiel im Rahmen der Abschlussveranstaltung der Henrik-Steffens-Vorlesungsreihe in der norwegischen Botschaft in Berlin 201734 oder bei einem Workshop am Nordnorwegischen Kunstmuseum 2019.35 Sich tatsächlich gegenüberzustehen, wahrzunehmen und Zeit miteinander zu verbringen, ergibt das notwendige Vertrauen und die Sicherheit, die das Arbeiten über die Distanz sowie ko-kreative Schaffensprozesse verlangen.36 Denn trotz bestehender Unterschiede und Hie­ rarchien, die sowohl auf akademischem Grad, Alter und Nation als auch auf künstlerischen Präferenzen, disziplinärer Verortung, technischer Kompetenz und kulturellem Umfeld basieren, bleibt RESCAPE doch ein gemeinsames Unternehmen, das ohne den Beitrag jeder Einzelnen weder denkbar noch möglich wäre. Mobilität verstanden als Flexibilität im multidisziplinären Raum ist damit eine grundlegende Voraussetzung für gemeinsames Denken in RESCAPE. Neben dem zeitversetzten Arbeiten in virtuellen Räumen hat das Arbeiten in drei Sprachen – Deutsch, Niederländisch und Norwegisch – Distanzen überbrückt und übergreifendes Denken ermöglicht. Zudem hat das kollektive Arbeiten zu ko-kreativen Prozessen geführt in dem Sinne, dass das große Ganze nicht ohne das je individuelle Expert*innenwissen hätte entstehen können.37 Die zu leistende Übersetzungsarbeit hält das Denken dabei auf eine andere Art und Weise in Bewegung als es individualisierte disziplinäre Expertenkulturen zu tun 33 Ebd., S. 94. 34 Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl unterhalten sich in Berlin, Themenabend mit Vorträgen und Konzertbeiträgen in den Nordischen Botschaften in Berlin am 14. Februar 2017. Siehe dazu auch Klok und Haselmann, »Camilla Collett und Agathe Backer Grøndahl unterhalten sich in Berlin« (wie Anm. 6). 35 Da Betzy møtte Agathe. Performance og workshop, Nordnorwegisches Kunstmuseum, Tromsø (16.06.2019). Siehe auch Haselmann, Klok und Mittner, »Autumn Talk and Ocean Songs« (wie Anm. 8). 36 Zum ko-kreativen Arbeiten im akademischen Raum siehe u. a. Kate Maxwell, Hanne Hammer Stien und Lilli Mittner, »A voyage into peer review«, in: Research Europe 2020, https://www.researchprofessionalnews.com/rr-news-europe-views-of-europe-2020-3-a-voyage-into-peer-review/, abgerufen am 18.12.2020. 37 Siehe dazu auch Kate Maxwell, Lilli Mittner und Hanne Hammer Stien, »Conceptualizing the North«, in: Nordlit 46 (2020), S. 1–11.

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Abb. 3: Das Arbeiten über die Distanz setzt Gedanken in Bewegung. Hier sind wir bei der Arbeit an und in RESCAPE über Zoom im Dezember 2020 (von links: Groningen, Frankfurt am Main, Ersfjordbotn). Screenshot: Lilli Mittner. CC BY 4.0.

vermögen. Der Bedeutungsverlust als grundlegende Herausforderung der Übersetzung38 kann dabei als eine Bedeutungsverschiebung verstanden werden. Dies gilt zum Beispiel, wenn kollektive Wissensgenerierung nicht mehr nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner im Sinne einer richtigen Lösung sucht, sondern vielmehr im post-strukturalistischen Sinne ein kreatives Nebeneinander von neu erdachten und aus der Übersetzung heraus entsprungenen Bedeutungsebenen enthält. Dass diese wiederum nicht beliebig sind, sondern an Materialität und Standort der Übersetzenden und des zu Übersetzenden gebunden sind, wird von neuen materiellen feministischen Theorien wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit akademischer Diskussion um Erinnerung, Wahrnehmung und Bedeutung gebracht.39 Auf diese Weise rücken neue Formen künstlerisch-wissenschaftlichen Handelns in den Fokus, die vielfältige Formen von Mobilität voraussetzen und ermöglichen.40 38 Elizabeth D. Pena: »Lost in Translation: Methodological Considerations in Cross-Cultural Research«, in: Child Development 78/4 (2007), S. 1255–1264. 39 Vgl. Mittner und Wagner, »Den Norden lesen« (wie Anm. 8). 40 Siehe dazu u. a. Vorgaben der Europäischen Union zu Mobilität von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen Clémentine Daubeuf, Theodora Pletosu, Phillippe Kern et al., Research for CULT Committee – Mobility of artists and culture professionals: towards a European policy framework:, Brüssel 2018, https://data.europa.eu/doi/10.2861/795639, abgerufen am 27.02.2020.

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Ein Schnitt durch Raum-Zeit-Materie

Mobilität als ein Mittel, um fremd zu werden, sich in ungewohnte Situationen zu bewegen, raus aus der Komfortzone und hinein in neue Welten – all das haben die norwegischen Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts in Berlin mit uns Forscherinnen des 21. Jahrhunderts in RESCAPE im Sinne von Georg Simmel gemeinsam: Der bewusst Fremde ist »der freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, mißt sich an allgemeineren, objektiveren Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch die Gewöhnung, Pietät und Antezedenzien gebunden«.41 Beide Gruppen sind darauf angewiesen, sich neue Räume und Formen von Mobilität zu erschließen, um kulturell handlungsfähig zu sein und dies auch zu bleiben. Es sind die Zwischenräume, die zum Beispiel Frauen suchen müssen, um in von Männern dominierten Handlungsräumen aktiv zu werden und die es immer wieder neu zu definieren gilt.42 Zwischenräume können nicht nur physische Räume wie beispielsweise der halb-öffentliche Raum oder das Theaterorchester (in Ermangelung des Zugangs zu einem Symphonieorchester)43 sein. Es konnten auch imaginäre Räume sein, die sich beispielsweise komponierende Frauen selbst schufen, in denen sie sich bewegen konnten und in denen sie handlungsfähig wurden, ohne sich selbst weder dem männlichen Raum des schöpferischen Komponistengenies zuzuordnen (von dem sie ohnehin qua Geschlecht ausgeschlossen waren), noch einem dezidiert weiblichen Raum, der in der Wahrnehmung der Zeitgenossen mit Liebhaber[ei] und Dilettantismus belegt war und mit dem sie sich als professionelle Komponist[i]nnen ja gerade nicht identifizieren wollten.44

So wie der moderne Schiffsverkehr und die Pferde-Omnibusse innerhalb Berlins die Fortbewegung zu Zeiten Agathe Backer Grøndahls, Camilla Colletts und Signe Lunds, den Verkehr und das Reisen enorm revolutioniert hatten, wurde die heutige Forschung durch die modernen Kommunikationstechnologien wie Konferenzsysteme (z. B. Skype, Zoom, Facetime) und Kurznachrichtendienste (z. B. Twitter, WhatsApp, Messenger) vergleichzeitigt. Kommunikationstechnologien des 21. Jahrhunderts haben die Möglichkeiten des Austauschs einmal 41 Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl, Berlin 1968, S. 510. 42 Vgl. Mittner, Möglichkeitsräume (wie Anm. 25), S. 68. 43 Siehe dazu Lilli Mittner, »Schauspielmusik als Möglichkeitsraum. Zur Schauspielmusikpraxis in Norwegen um 1900«, in: Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater – Bedingungen, Strategien, Wahrnehmungen (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften 16), hrsg. von Ursula Kramer, Bielefeld 2014, S. 217–246. 44 Vgl. Mittner, Möglichkeitsräume (wie Anm. 25), S. 69.

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mehr beschleunigt und neue Möglichkeitsräume für gemeinsames Arbeiten ›zwischen‹ den traditionellen Disziplinen, fachspezifischen Diskursen und nicht zuletzt Kunstformen geschaffen. Auch heute noch ist Berlin für viele Norweger und Norwegerinnen ein kreativer Fluchtpunkt. So schreibt beispielsweise die Jazz-Sängerin Tora Augestad 2014 über ihre Zeit in Berlin: »In Deutschland bekomme ich Chancen, die ich niemals in Norwegen bekommen würde.«45 Bei den hier vorgestellten Formen von Mobilität handelt es sich um ›weiße‹ Mobilität. Es sind gut situierte (weiße) Frauen, die die Möglichkeit des Reisens haben, für die galt – wie es Halfdan Kjerulf formulierte – »es zu können und nicht zu müssen«46. Während Mobilität in Wissenschaft und Kunst häufig als Chance zur persönlichen Weiterentwicklung wahrgenommen wird, gilt sie insbesondere für Frauen mit Familienverantwortung häufig aber auch als Herausforderung. Während Heike Jöns, Michael Heffernan und Peter Meusburger in Mobilities of Knowledge erörtern, dass »geographical mobility of people and (im)material things has impacted epistemic systems of knowledge in different historical and geographical contexts«47, haben wir am Beispiel von RESCAPE erlebt, dass Denken in Bewegung zunehmend unabhängig von bewegten Körpern und Materialien stattfinden kann. Zu physischen Formen von Mobilität sind digitale Formen hinzugetreten, die ein räumliches Versetzen von Körpern nicht mehr notwendigerweise voraussetzen. In Zeiten zunehmender Internationalisierung von Forschungspraktiken ist das Verflechten von Ideen in weltweiten Netzwerken gefordert, was wiederum mit unterschiedlichen Konsequenzen für Frauen und Männer verbunden ist.48 Für die Geisteswissenschaften, die zusätzlich zum internationalen Fachdiskurs in der Regel an einen spezifischen Sprachraum gebunden sind, bedeutet das einmal mehr, eine doppelte Strategie fahren zu müssen. Die Frauen- und Geschlechterforschung kann diese Doppeldeutigkeit mit der Methode des schielenden Blickes49 verstehen, analysieren und praktizieren. 45 Anne Myklebust Odland, Den utvandrede kabaretdronningen [Die ausgewanderte Kabarettkönigin (Übers. Lilli Mittner)], https://www.kontekst.no/den-utvandrede-kabaretdronningen/, abgerufen am 18.01.2023. 46 Halfdan Kjerulf, Brief an Agathe Backer Grøndahl, Christiania, 09.01.1866. »At kunne det, og ikke behøve det.« (Übers. Lena Haselmann-Kränzle). Vollständig wiedergegeben in Haselmann, Agathe Backer Grøndahl (wie Anm. 21), S. 149. 47 Heike Jöns, Michael Heffernan und Peter Meusburger, »Mobilities of Knowledge: An Introduction«, in: Mobilities of Knowledge (= Knowledge and Space 10), hrsg. von dens., Cham 2017, S. 1–19, hier: S. 1. 48 Lena Näre und Akhtar Parveen, »Gendered Mobilities and Social Change – An Introduction to the Special Issue on Gender, Mobility and Social Change«, in: Women’s Studies International Forum 47 (2014), S. 185–190. 49 Vgl. Sigrid Weigel, »Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis«, in: Die

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Das eigene Arbeiten in Zwischenräumen sowie die jeweiligen künstlerischen und akademischen Standpunkte der Forschenden wirken entscheidend auf die Formung von Geschichtsschreibung.50 Zwar bleibt die empirische Grundlage die gleiche, alle vier Künstlerinnen hielten sich zeitweise in Berlin auf und dokumentierten in Briefen, Tagebüchern und Kunstwerken ihre Erfahrungen und Erlebnisse der Großstadt sowie den Übergang von einem als peripher wahrgenommenen Norwegen in eines der sogenannten europäischen Zentren. Die Art und Weise, wie die Malerin Harriet Backer, die Schriftstellerin Camilla Collett und die Komponistinnen Agathe Backer Grøndahl, Mon Schjelderup und Signe Lund von uns in dem Projekt erforscht und dargestellt werden, ist entscheidend von unserem Standpunkt und unseren Arbeitstechniken in RESCAPE mitbestimmt: Während der biografische Bezug zum Land Norwegen, die weibliche Identität sowie Erfahrungen des Arbeitens in interdisziplinären Kontexten gemeinsame Schnittfläche sind, bieten ein unterschiedlicher Grad an künstlerischer Praxis, theoretischer Reflexion und nicht zuletzt auch der disziplinäre Hintergrund (Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und ausübende Musik) Möglichkeiten zum grenzüberschreitendem Denken und Arbeiten. Zusammenfassend können wir festhalten, dass multidisziplinäre Projekte wie RESCAPE an den Überschneidungsflächen verschiedener Kunstformen und Wissenspraktiken weniger physische Mobilität im Sinne von Ortsungebundenheit, als vielmehr ein hohes Maß an Mobilität als Denken in Bewegung fordert. Lisa Mooney Smith zufolge sind die geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Fächer besonders in der Lage, sich neue wissenschaftliche Praktiken anzueignen und diese sinnvoll umzusetzen.51 Interdisziplinarität über Ländergrenzen und Lebensphasen hinaus ermöglicht es, verschiedene Denkräume zusammenzubringen. In der Übersetzungsarbeit, die jede einzelne von uns zu dem Zeitpunkt der Begegnung leisten muss, werden unsere neuen Ideen – wie etwa die Entwicklung der Methode der dramatischen Montage – möglich. Die in diesem Aufsatz dargestellte Notwendigkeit des mobilen Handelns ist Grundvoraussetzung für gemeinsames Arbeiten, kreative Prozesse und auch nicht zuletzt für innovativen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.

verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft (= Literatur im historischen Prozeß 6), hrsg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel, Berlin 1983, S. 83–137. 50 Vgl. Klaus Füßmann, »Historische Formungen. Dimensionen der Geschichtsdarstellung«, in: Historische Faszination. Geschichtskultur heute, hrsg. von dems., Heinrich Theodor Grütter und Jörn Rüsen, Köln, Weimar und Wien 1994, S. 27–44. 51 Vgl. Lisa Mooney Smith, Knowledge Transfer in Higher Education. Collaboration in the Arts and Humanities, London 2012, insbes. S. 1–30.

(Nationale) Rückbindungen mobiler Musiker*innen

Sabine Meine (Köln) und Henrike Rost (Berlin)

Zuhause im Europa des 19. Jahrhunderts (Rück-)Bindungen mobiler Eliten durch Musik

Die Frage nach einem Zuhause in Europa ist heute aktueller denn je. In Politik und Gesellschaft ist sie eng mit dem Thema Mobilität verbunden – mit Mi­ grationsbewegungen, Ausgrenzung und Integration, aber auch mit der Bewegung von Kapital. Mobilität wird dabei begleitet von ideellen Prozessen der Identitäts- und Statusbildung, die aus vielfältigen Motivationen, zwischen Flucht und Tourismus, hervorgehen. Genderfragen sind dabei, wie in allen kultursoziologischen Bereichen, zentral und werden von musikbezogenen Prozessen – dem Hören, Komponieren, Ausüben oder Fördern von Musik – begleitet, wenn es um die Integration von Exil- und Fluchtgemeinschaften oder auch um ungezwungenes Reisen geht. Während das freiwillige Reisen heute kein Privileg der Oberschichten mehr ist, war es dies freilich noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Reisen müssen nicht immer neue musikalische Horizonte eröffnen. Denn gerade in einer fremden Umgebung kann vertraute Musik Menschen zu einer Gemeinschaft vereinigen, sie kann kulturelle Identität stiften und damit ein vom Raum unabhängiges ideelles Zuhause schaffen. Kennzeichnend für mobile gesellschaftliche Eliten im Europa des 19. Jahrhundert war die musikalische Rückbindung an ein Herkunftsland oder eine verbindende Kultur. Wie erstaunlich ähnlich ein musikalisches Zuhause in den Salons der bereisten Städte vor allem durch gesellschaftlich führende Frauen gestaltet und motiviert war, wie stereotyp oder individuell sie ihre musikkulturelle Identität in den Vordergrund stellten, wie retrospektiv oder weltoffen sie agierten, wird am konkreten Beispiel von Protagonistinnen diskutiert, die Europa zu ihrem Zuhause machten: Natalia Obreskov, Nadine Helbig und Marie von Hatzfeldt. Mit Maria Szymanowska und Wilhelmine Schröder-Devrient werden zudem zwei professionelle Musikerinnen einbezogen. Wie sich zeigen wird, gehörten alle diese Frauen zur gesellschaftlichen Elite, bewegten sich europaweit und identifizierten sich über Musik, die sie förderten oder ausübten. Mittels Musik stärkten sie ihren Status und ihre gesellschaftliche Anbindung. Ihr Wirken und Handeln ist dokumentiert in Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungsliteratur und in Stammbüchern bezie-

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hungsweise Albumeinträgen, deren Potenziale für die Musikgeschichtsschreibung im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.1 Prämisse: Zuhause im Europa der Frühen Neuzeit

Zunächst sei, mit Blick auf die weite zeitliche Spanne des Bandes, eine historische Prämisse gestattet: Dass Statusgewinn durch Musik für Frauen auch mobil funktioniert, wissen wir schon aus dem höfischen Kontext der Frühen Neuzeit. Bekannt ist die Mobilität von Musikern, die sich zur Lehre, Arbeitssuche oder zum Wissensgewinn durch Europa bewegten und Fürstinnen und Fürsten auf ihren Reisen begleiteten. Frauen, die nicht über eine eigene Kapelle und mit ihr verbundene Prestigemittel verfügten, mussten sich weniger aufwändige Tricks ausdenken, um Musik als Statussymbol einzusetzen: So ließ Markgräfin Isabella d’Este Gonzaga aus Mantua um 1500 zwar auch gerne ihre eigenen Solisten mitreisen. Zudem hatte sie aber mit einem besonderen ›Pausen-Emblem‹ nicht nur die Schwelle ihres ›studiolo‹ dekorieren lassen, durch das sie auswärtige Besucher und Besucherinnen mit ihren humanistischen Musikkenntnissen beeindrucken konnte. Dasselbe Emblem, das eine musikalische Pause als dekoratives Element in Szene setzt, hatte sie sich auch auf ein Kleid sticken lassen, so dass es mobil und reisekompatibel auf auswärtigen Festen vorzeigbar war.2 Maria Szymanowska: Auf Reisen im Europa des 19. Jahrhunderts

Die polnische Pianistin und Komponistin Maria Szymanowska (1789–1831) sammelte, wie ab Mitte der 1810er-Jahre zunehmend üblich, ihre Erinnerungen in Gestalt von Notenautografen in einem ›Album Musical‹, das ihre Reisen und Kontakte dokumentiert. Dabei ist zu beobachten, dass ihre Reisetätigkeit in den Widmungstexten der Notenautografe mit einem explizit europäischen Selbstverständnis verbunden wird. So verneigt sich der in St. Petersburg ansässige, polnischstämmige Graf Michel Wielhorski vor einem »talent aussi européen que / celui de Madame Szymanowska«.3 Ein italienischer Bewunderer richtet den Blick 1

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Für eine umfassende Auseinandersetzung mit musikbezogenen Stammbüchern, auf Grundlage eines Quellenkorpus von über 60 Alben aus dem Zeitraum von circa 1790 bis 1900, vgl. Henrike Rost, Musik-Stammbücher. Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts (= Musik – Kultur – Gender 17), Wien, Köln und Weimar 2020. Sabine Meine, Die Frottola: Musik, Diskurs und Spiel an italienischen Höfen 1500–1530 (= Collection »Épitôme musical«), Turnhout 2013, S. 76, Abb. 2. Maria Szymanowska, Album Musical de Maria Szymanowska, hrsg. von Renata Suchowiejko, Krakau

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auf die im Album zusammengetragenen Namen, die eine europäische Zusammengehörigkeit implizieren: »[…] quei gran’ Nomi che si Leggono in questo Libbretto / ammirati da tutta l’Europa divenuti ammiratori / del subblime, e brillante talento di Ma Szymanowska«.4 Im selben Album bezeichnet sich auch der französische Geiger Alexandre Boucher im Jahr 1823 als »artiste-cosmopolite«.5 Die Identifizierung mit einer europäischen Perspektive ist hier offensichtlich gebunden an die Mobilität, also das ständige Unterwegssein reisender Musike­ rinnen und Musiker. Zugleich überträgt sie sich aber auf die Kreise um diese Künstlerinnen und Künstler, die größtenteils selbst mobil waren. So machten diese häufig aristokratischen Eliten, die es sich leisten konnten, zu ihrem Vergnügen von Ort zu Ort zu reisen, Europa zu ihrem Zuhause. Natalia Obreskov: Die Gräfin O. und ihr Musik-Stammbuch

Die musikbegeisterte Comtesse Natalia Obreskov (1795–1862), gebürtig aus St. Petersburg, steht exemplarisch für Frauen der gesellschaftlichen Elite, die sich ganz der musikalischen Bewunderung männlicher Komponisten verschrieben und ihnen in ganz Europa auf den Fersen blieben. Sie förderte Frédéric Chopin maßgeblich, umschwärmte jedoch in Paris nicht nur ihn. So bezeichnete Ignaz Moscheles sie 1839 als »die Gräfin O. aus Petersburg, die uns Künstler en bloc anbetet«.6 Ende der 1830er-Jahre hatte sich Natalia Obreskov mit ihrem Mann in Paris einen Wohnsitz eingerichtet. Außerdem hielt sie sich regelmäßig in weiteren europäischen Großstädten auf, unter anderem in London und St. Petersburg. Dies lässt sich auch anhand der Einträge in ihrem dekorativen Musik-Stammbuch nachvollziehen.7 Das Album zeichnet sich besonders dadurch aus, dass Obreskov bestimmte männliche Protagonisten um mehrfache Einträge bat.8 Der Klavier­ und Paris 1999, S. 143. »[…] ein derart europäisches Talent wie das der Madame Szymanowska« (Übers. Henrike Rost). 4 Ebd., S. 340. »[…] diese großen Namen, von ganz Europa bewundert, die man in diesem Büchlein liest, [sind] die Bewunderer des erhabenen und brillanten Talents der Madama Szymanowska geworden« (Übers. Henrike Rost). 5 Ebd., S. 336. »Künstler-Kosmopolit« (Übers. Henrike Rost). 6 Charlotte Moscheles, Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern herausgegeben von seiner Frau, Bd. 2, Leipzig 1872/73, S. 39. 7 Album der Comtesse Natalia Obreskov, D-Dl, Mus. 1-B-524. Das Album, dessen Noteneinträge bei RISM im Detail erfasst sind, ist komplett digitalisiert online einsehbar: https://digital.slubdresden.de/werkansicht/dlf/63842/1, abgerufen am 04.01.2023. 8 Zum Album und insbesondere zu den darin enthaltenen Beiträgen mit Chopin-Bezug vgl. JeanJacques Eigeldinger, »Chopiniana inconnus dans un album de Natalia Obreskoff«, in: Revue de Musicologie 96 (2010) 1, S. 189–200. Vgl. auch Rost, Musik-Stammbücher (wie Anm. 1), S. 108–112.

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virtuose Theodor Döhler (1814–1856) trug sich gleich dreimal in das Buch ein: 1838, 1841 und 1845. Während der erste Eintrag Döhlers in London noch recht unpersönlich und kurz ausfällt (s. Abb. 1),9 zeugt die Zeile »Paris, nach dem Abschiedsdiner, 29. April 1841«10 unter einem achttaktigen Andante immerhin von einem gemeinsamen Essen (s. Abb. 2). Beim letzten Eintrag in St. Petersburg füllte Döhler schließlich mit einer umfänglichen Komposition zwei ganze Albumseiten und lieferte einen individuelleren Begleittext (s. Abb. 3).11

Abb. 1: Album der Comtesse Natalia Obreskov: Eintrag von Theodor Döhler, London 1838, SLUB Dresden (Mus.1-B-524, S. 19), digital.slub-dresden.de/id36035047X/23 (Public Domain Mark 1.0).

Abb. 2: Album der Comtesse Natalia Obreskov: Eintrag von Theodor Döhler, Paris 1841, SLUB Dresden (Mus.1-B-524, S. 46), digital.slub-dresden.de/id36035047X/50 (Public Domain Mark 1.0).

  9 Album der Comtesse Natalia Obreskov (wie Anm. 7), S. 19 (Nr. 23). 10 Ebd., S. 46 (Nr. 45). 11 Ebd., S. 50f. (Nr. 49). Der Text in französischer Sprache lautet: »Pour la troisième – et j’espère pas la dernière fois / St. Petersbourg, 13 Juin, 1845. / Votre toujours devoué Th. Döhler / Vous rappelerez vous de votre discours le 15 Juin à 8 heures de soir?« – »Zum dritten – und ich hoffe nicht zum letzten Mal / St. Petersburg, 13. Juni 1845. / Ihr immer ergebener Th[eodor] Döhler / Werden Sie sich an Ihre Worte am 15. Juni, acht Uhr abends, erinnern?« (Übers. Henrike Rost).

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Abb. 3: Album der Comtesse Natalia Obreskov: Eintrag von Theodor Döhler, St. Petersburg 1845, SLUB Dresden (Mus.1-B-524, S. 50f.), digital.slub-dresden.de/id36035047X/54 und 55 (Public Domain Mark 1.0).

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Die Einträge von Döhler scheinen dabei besonders durch den jeweils neuen Ort der Begegnung motiviert worden zu sein. Obreskov und Döhler trafen im Zeitraum von acht Jahren in den Musikmetropolen London, Paris und St. Petersburg wiederholt bei Gesellschaften aufeinander. Dabei entwickelte sich eine zunehmende Vertrautheit zwischen Künstler und Salondame, die sich auch im Umfang der Einträge widerspiegelt. Wie das Beispiel Obreskov zeigt, bewegten sie und ähnliche Protagonistinnen sich ebenso wie die reisenden Virtuosen und Virtuosinnen durch Europa und schufen sich einen Bezugsraum und ein Zugehörigkeitsgefühl in der Musik. Zuhause in exklusiven Gemeinschaften

Da sich die hier betrachteten Protagonistinnen und Protagonisten immer wieder an denselben Orten in Europa trafen, sind Zweifel angebracht, ob es ihnen um Reisen im Sinne einer Horizonterweiterung durch Unbekanntes ging und nicht vielmehr um die Teilhabe an einer in sich geschlossenen Gesellschaft, für die Mobilität vor allem mit sozialer Überlegenheit und Abgrenzung einherging – und nicht, wie man meinen könnte, mit Interesse an Neuem und Anderem, das man fern seiner Herkunft hätte kennenlernen können. Diese These möchten wir am Beispiel von zwei Frauen stützen, die sich ihr Zuhause in Europa an herausgehobenen Orten einrichteten, supranationale Kreise zu sich einluden und exklusive Gemeinschaften um sich sammelten, die sie vor allem über die Rückbindung an neudeutsche Musik, konkret an die Musik von Franz Liszt und Richard Wagner, zelebrierten: Nadine Helbig und Marie von Hatzfeldt. Nadine Helbigs Salon in Rom: Supranationale Erhabenheit

Der elitäre Kreis um Nadine Helbig in Rom zeichnete sich durch eine, in der ›Ewigen Stadt‹ besonders naheliegende, vergangenheitsorientierte und idealisierte Haltung aus, an die selbst die neudeutsche Musik Liszts und Wagners angepasst wurde.12 Mit Blick auf dieses exklusive deutsch-römische Milieu, das 12 Zu Nadine Helbig und ihrem Musiksalon vgl. auch Sabine Meine, »›Âme parsifalienne‹. Blicke auf die Salonnière Nadine Helbig«, in: »Dahin! …« Musikalisches Reiseziel Rom. Projektionen und Realitäten (= Jahrbuch Musik und Gender 4), hrsg. von Sabine Meine und Rebecca Grotjahn, Hildesheim 2011, S. 89–99; dies., »Liszt am Kapitol. Der Musiksalon Nadine Helbigs – eine deutsch-römische Idylle des späten 19. Jahrhunderts«, in: Rom – Nabel der Welt. Macht, Glaube, Kultur von der Antike bis heute, hrsg. von Jochen Johrendt und Romedio Schmitz-Esser, Darmstadt 2010, S. 155–

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im Musiksalon Helbigs zusammenkam, ist von einer »Aristokratie des Geistes«13 zu sprechen. Nadina Šahoskaja, 1847 im Moskauer Adel geboren, ließ sich nach Stationen in Deutschland 1865 in Rom nieder und heiratete den deutschen Archäologen Wolfgang Helbig. Als Pianistin, die unter anderem von Clara Schumann unterrichtet worden war, lud sie bald zu musikalischen Geselligkeiten in ihr Haus auf dem sogenannten ›deutschen Kapitol‹, bei denen regelmäßig auch Franz Liszt zu Gast war, der ihr inbrünstig verehrtes Vorbild, ihr Freund und Lehrer wurde. Mit seiner Musik und der Wagners wurde sie in Rom assoziiert. Auch wenn ihr Repertoire deutlich breiter war, blieb es klar der deutschen Tradition verpflichtet. So spielte sie vor allem Werke von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Robert Schumann, Franz Schubert usw. Helbigs Salon, der zum »carrefour nel cuore dell’Europa«14 stilisiert wurde, macht klar, warum wir von Rückbindungen sprechen, da es offensichtlich in einer spezifischen supranationalen Elite üblich war, fern der Heimat die Bindung an das Herkunftsland über Musik zum Ausdruck zu bringen. Diese Bindung an ein musikalisches Woher geht einher damit, sich erhaben zu fühlen über die im 19. Jahrhundert so ausgeprägten nationalen Zuordnungen. Und zugleich ist das Selbstverständnis dieser Elite kein offenes, das Reisen zur Horizonterweiterung nutzen würde. Vielmehr suchte man am herausgehobenen Ort seines Gleichen, um sich von der Masse abzuheben, was im Falle Helbigs von römischen Hügeln aus besonders eindrucksvoll geschah. Dass man sich dabei gemeinsam an neudeutsche Musik band, dokumentiert die für das 19. Jahrhundert kennzeichnende und politisch aufgeladene Umfunktionierung von deutscher Musik als Nationalund Universalkultur,15 die mit der expliziten Konnotation mit überlegenen 172; dies., »Perspektiven aus deutsch-römischen Idyllen. Zur Rekonstruktion des Musiksalons Nadine Helbigs«, in: Die Tonkunst 4 (2010) 1, Der Musiksalon (Themenheft), S. 22–36. 13 Ebd., S. 34. 14 Franco Onorati, »Nadine Helbig e il suo salotto di Villa Lante«, in: Intorno a Villa Sciarra. I Salotti internazionali sul Gianicolo tra Ottocento e Novecento (= Studi Germanici, nuova serie 44), hrsg. von Carla Benocci, Paolo Chiarini und Giuliana Todini, Rom 2007, S. 219–240, hier: S. 222. »Kreuzung im Herzen Europas« (Übers. Sabine Meine). 15 Bernd Sponheuer folgend »[lassen sich] in der Musik seit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zwei Denkfiguren des Deutschen finden, die miteinander um die Vorherrschaft im europäischen Nationendiskurs ringen: zum einen das Deutsche als das Universelle, als die große, alles umfassende Synthese, daneben aber auch eine Vorstellung vom Deutschen in schroffer Abgrenzung gegen alles Nichtdeutsche und seine pointierte Bestimmung als Tiefsinn, Arbeit und Gründlichkeit. Beide Vorstellungen haben ihren Ursprung im 18. Jahrhundert, lösen einander aber nicht ab, sondern laufen seitdem in unterschiedlicher Ausprägung nebeneinander her.« – So Hermann Danusers und Herfried Münklers Resümee zu Bernd Sponheuers Text im Vorwort zu Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, hrsg. von Hermann Danuser und Herfried Münkler

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männlichen Komponistenhelden durch entsprechende Bewunderungsstrategien und der ästhetischen und sozialen Ausgrenzung anderer Musik und ganzer Kulturen einhergeht. Vielfach ist dazu in den letzten Jahren, auch aus Genderperspektive, und mit Fokus auf Mobilität gearbeitet worden.16 Marie von Hatzfeldt, Wagner und Goethe in Venedig

Wie Nadine Helbig verbrachte auch Gräfin Marie von Hatzfeldt (1820–1897, geb. Nimptsch) viele Jahre ihres Lebens in Italien. In Venedig residierte sie im Palazzo Malipiero. Etwa ab den 1880er-Jahren lassen sich dort Salonaktivitäten in der Erinnerungsliteratur nachweisen. Zu den einschlägigen Gästen des Palazzo Malipiero gehörten Franz Liszt, Richard und Cosima Wagner und deren Töchter.17 Nicht zufällig handelt es sich bei der 1842 in Rom geborenen Marie ›Mimi‹ Schleinitz (1842–1912), die als Berliner Salonnière und Wagner-Förderin bekannt ist, um eine Tochter Marie von Hatzfeldts aus erster Ehe.18 Cosima Wagner erwähnt sie mehrmals im Rahmen von Besuchen und Geselligkeiten im Palazzo Malipiero in ihren Tagebüchern.19 Nähert man sich anhand von Cosima Wagners Tagebuchaufzeichnungen dem musikalischen Repertoire des Hatzfeldt’schen Salons, ist die zentrale Rolle von Richard Wagners Musik wenig überraschend. Gespielt wurde aus den Meistersingern, aus Tristan und Isolde, aber

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in Zusammenarbeit mit der Staatsoper Unter den Linden, Schliengen 2001, S. 9. Vgl. dazu Bernd Sponheuer, »Über das ›Deutsche‹ in der Musik. Versuch einer idealtypischen Rekonstruktion«, in: ebd., S. 123–149, insbes. S. 128–143. Vgl. Sabine Meine und Rebecca Grotjahn (Hrsg.), »Dahin! …« Musikalisches Reiseziel Rom. Projektionen und Realitäten (=  Jahrbuch Musik und Gender 4), Hildesheim 2011; Cornelia Bartsch (Hrsg.), Der »männliche« und der »weibliche« Beethoven. Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin (= Schriften zur Beethoven-Forschung 18), Bonn 2003; Rebecca Grotjahn (Hrsg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation. Vorträge der Ringvorlesung am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn (= Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik 1), München 2009. Zu den musikalischen Geselligkeiten im Palazzo Malipiero, insbesondere den »›Donnerstage[n]‹ der Fürstin Hatzfeldt« während Liszts Venedig-Aufenthalt 1882/83, vgl. Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern, Bd. 6 (1877–1883), Leipzig 1911, S. 728f., S. 737, hier: S. 729; Henry Perl, Richard Wagner a Venezia, hrsg. von Quirino Principe (deutsch-italienische Ausgabe), Venedig 2000, S. 196f.; Giuseppe Norlenghi, Wagner a Venezia, Venedig 1884, S. 172–174; vgl. auch Cosima Wagner, Tagebücher, hrsg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, Bd. 2, München und Zürich 1976, z. B. S. 1035, S. 1081. Vgl. Petra Wilhelmy, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 73), Berlin und Boston 1989, S. 820–829. Vgl. z. B. Wagner, Tagebücher (wie Anm. 17), S. 612.

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ebenso Musik von Bach und Mozart.20 Bemerkenswert ist, wie die Rückbindung an die deutsche Kultur außerdem in einer kleinen Theaterdarbietung zelebriert wurde. So ist im Palazzo Malipiero eine szenische Aufführung von Johann Wolfgang von Goethes Die Geschwister unter Mitwirkung von Daniela von Bülow, Cosima Wagners ältester Tochter aus der Ehe mit Hans von Bülow, nachweisbar.21 DIE GESCHWISTER Ein Schauspiel in einem Act von Goethe Personen Wilhelm Ada Pinelli Marianne (seine Schwester) Daniela Bülow Fabrice Adolphe Fiers Briefträger Franz Ruben Ein Kind Isidoro. Palazzo Malipiero 10. Dec. 1882.22

Augenscheinlich spielte in Hatzfeldts Salon die italienische Kultur, die nur wenige Fußminuten entfernt, beispielsweise im Fenice-Theater, gepflegt wurde, keine Rolle. Ebenso bezeichnend ist, dass diese spannende musikhistorische Facette des in Venedig bekannten Palazzo erst im Wagner-Jahr 2013 bekannt wurde und bislang kein Thema für die italienischen Kulturwissenschaften ist.23 20 Vgl. ebd., S. 612, S. 1035, S. 1069. 21 Vgl. ebd., S. 1066. 22 Norlenghi, Wagner a Venezia (wie Anm. 17), S. 172. 23 Anlass erster Recherchen zum Salon Hatzfeldt war Gianni Di Capuas (†) Dokumentarfilm Diario veneziano della sinfonia ritrovata, Venedig 2013, in dessen Zentrum die Aufführung von Wagners Jugendsinfonie in C-Dur am Weihnachtsfest 1882 steht, wenige Wochen vor dem Tod des Komponisten. Für diesen venezianischen Beitrag zum 200. Geburtstag Richard Wagners rekonstruierte Regisseur Gianni Di Capua die Wirkungsstätten des Komponisten in der Stadt und filmte dabei u. a. im ehemaligen Salon der Gräfin Hatzfeldt im Palazzo Malipiero an San Samuele, wo die Familie Wagner/Liszt auch Kontakte zur Musikgesellschaft Benedetto Marcello geknüpft hatte. Für einen Bericht in italienischer Sprache, mit Fotogalerie und Trailer, vgl. http://www.ilcorrieremusicale.it/2014/04/16/il-diario-veneziano-di-wagner-a-milano/, abgerufen am 04.01.2023. Sabine Meine brachte den Salon Hatzfeldt in die italienische Musikwissenschaft ein durch ihren Beitrag »Storiografia della musica tra quotidianità e immaginario: il wagnerismo a Venezia e Roma«, in: Musiche e musicisti nell’Italia dell’Ottocento attraverso i quotidiani (= Atti del convegno »Articoli musicali nei quotidiani italiani dell’Ottocento: una banca dati – ARTMUS«), hrsg. von Adriana Guarnieri Corazzol, Fiamma Nicolodi und Ignazio Macchiarella, Ariccia 2017, S. 317–330.

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›Zuhause in Europa‹ bedeutet(e) eben auch immer wieder die Koexistenz hermetischer Parallelwelten. Wilhelmine Schröder-Devrient: Eine deutsche Sängerin in London

Abschließend soll die deutsche Sopranistin Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860) im Fokus stehen, die im Rahmen ihrer ersten internationalen Konzerttournee 1831/32 in Paris und London gastierte – also wiederum eine reisende Musikerin, die sich, wie wir aus ihrer Haltung zu den Revolutionsjahren 1848/49 ableiten können,24 der ›deutschen Sache‹, also dem Streben nach einem deutschen Einheitsstaat, verpflichtet fühlte und sich in erster Linie als Deutsche verstanden haben dürfte.25 Bei ihrem Aufenthalt in der britischen Hauptstadt schloss sie sich einem geselligen Kreis deutschsprachiger Künstler und Künstlerinnen an. Dazu gehörten neben Ignaz Moscheles und Carl Klingemann, beide in London ansässig, Felix Mendelssohn Bartholdy, die Schauspielerin Amalie Haizinger, deren Mann, der Tenor Anton Haizinger, und der Bariton Franz Xaver Hauser.26 Hauser und Haizinger gastierten gemeinsam mit Wilhelmine Schröder-Devrient mit Beethovens Fidelio in der Stadt. Zum Abschied, kurz vor Schröder-Devrients Abreise, komponierte Moscheles für die Sängerin ein Impromptu für ihr Stammbuch.27 Das Albumblatt datiert vom 27. Juli 1832.28 Um seine Musikerkollegin zu ehren, integrierte er darin Melodien aus ihren wichtigsten Rollen: Agathes Leise, leise, fromme Weise aus Carl Maria von Webers Freischütz und Leonores O namenlose Freude aus Beethovens Fidelio. Das Stück schließt mit dem ersten Takt aus Joseph Haydns Kaiserlied.29 Neben der Bezugnahme auf die für Schröder-Devrients Karriere zentralen Bühnenrollen scheint sich hier zugleich ein musikalischer Kanon widerzuspiegeln, der gerade im Ausland auf eine bewusste Profilierung einer gemeinsamen kulturellen Identität gezielt haben mag. 24 Hierzu vgl. Alfred Freiherr von Wolzogen, Wilhelmine Schröder-Devrient. Ein Beitrag zur Geschichte des musikalischen Dramas, Leipzig 1863, S. 323–325. 25 Zur Biografie und zum Forschungsbedarf vgl. Juliette Appold, Artikel »Wilhelmine Schröder-Devrient«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff. Stand vom 25.04.2018. https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000745, abgerufen am 04.01.2023. 26 Vgl. Moscheles, Aus Moscheles’ Leben (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 249f. 27 Für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Stammbuch von Wilhelmine Schröder-Devrient vgl. Rost, Musik-Stammbücher (wie Anm. 1), S. 76–85. 28 D-WRgs, GSA 25/W 366, f.10r. Abgebildet in: Rost, Musik-Stammbücher (wie Anm. 1), S. 275. 29 Hob. XXVIa:43; komponiert 1796/97; Text: »Gott erhalte Franz, den Kaiser«.

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Fazit

Auf Grundlage der hier zusammengetragenen Beispiele ist Folgendes zu resümieren: Wagner und Liszt, Chopin, Beethoven und von Weber sind musikalische Fixpunkte der kulturellen Identität, die das Selbstverständnis der fokussierten mobilen Eliten kennzeichnet. Der für das 19. Jahrhundert bekannte (von Männern dominierte) Kanon bleibt also mit erstaunlicher Homogenität unbeeindruckt von weiteren Einflüssen, die die Mobilität hätte mit sich bringen können. Der Kanon ist zugleich europäisch beziehungsweise supranational verankert und belegt die besagte Verflechtung eines Überlegenheitsanspruchs der deutschen Tradition und der ästhetischen Ausgrenzung oder fehlenden Erinnerung anderer Musik. Auffällig bei Obreskov, Helbig und Hatzfeldt ist weiterhin die auf bestimmte Protagonisten gerichtete Bewunderung beziehungsweise Verehrung von weiblicher Seite. Diese schließt im Falle von Obreskov auch andere Namen von Virtuosen ein wie Moscheles und Döhler. Die sich dabei andeutende ›musikalische Heroenbindung‹ wird nicht zuletzt als Versicherung der Zugehörigkeit zu einer gemeinschaftsbildenden ›Aristokratie des Geistes‹ fungiert haben, für die Mobilität vor allem eine Statusversicherung gewesen zu sein scheint. Der Konnex von Mobilität im Kulturraum Europa und die identitätsstiftende Rückbindung durch Musik wurde offensichtlich und ist weiter zu untersuchen.

Gesa zur Nieden (Greifswald)

Mobilität, Gesang, Klang Sängerinnen mit deutschsprachiger Ausbildung in den Pariser Concerts Colonne um 1900

25 Jahre vergingen nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, bis an der Pariser Opéra erstmals wieder eine Sängerin mit deutschsprachiger Ausbildung in einer Wagner-Produktion auftrat. Im Jahr 1896 übernahm die Coburger Kammersängerin Elise Kutscherra de Nyß dort die Rolle der Sieglinde in Richard Wagners Walküre.1 Obwohl zwischen dem Krieg und diesem Auftritt ein Vierteljahrhundert lag, tut sich in den Rezensionen ein tiefer Graben auf zwischen den der deutschsprachigen Kultur gegenüber offenen Wagnerianer*innen und den der französischsprachigen Kultur anhängenden Pariser Kritiker*innen, Konzertveranstalter*innen und Musikrezipient*innen. Dass sich die Beurteilung Kutscherras dabei lediglich auf ihre Entsprechung des französischen Künstlerinnenbildes, ihre Gewandtheit in der Deklamation unterschiedlicher Sprachen und ihre musikalische Ausdruckskraft bezog und so gut wie gar nicht in klar nationalpolitischen Termini verhandelt wurde, war einer ausgedehnten Vorbereitung ihres Auftritts geschuldet.2 Zum einen war Kutscherra seit 1895 über die 1

Vgl. Henri de Curzon, L’Œuvre de Richard Wagner à Paris et ses interprètes (1850–1914), Paris o. D. [1920], S. 69. Zur Aufführung von Wagners Musikdramen an der Grand Opéra vgl. Martine Kahane und Nicole Wild, Wagner et la France, Paris 1983, S. 167–173. 2 Der Musikkritiker Henri de Curzon beschreibt die stetig steigende Anzahl an Engagements von Sängerinnen und Sängern mit deutschsprachiger Ausbildung für die Aufführung von Werken Richard Wagners in Paris 1920 folgendermaßen: »On a remarqué que, depuis une dizaine d’années déjà, sans résistance apparente du public, l’usage s’était établi de faire entendre, non plus seulement un air ou un lied par hasard, mais des scènes entières de l’œuvre wagnérienne, en allemand et par des artistes allemands. Sauf pour les quelques pages qui nous ont été vraiment révélées ainsi, – par Amalia Materna spécialement, et encore Lilli Lehmann, – on ne peut dire que ces auditions aient notablement servi la cause de Wagner à Paris.« De Curzon, L’Œuvre de Richard Wagner à Paris (wie Anm. 1), S. 29f. (»Seit etwa zehn Jahren ist ohne große Gegenwehr des Publikums der Usus festzustellen, nicht nur eine zufällig ausgesuchte Melodie oder ein Lied zu Gehör zu bringen, sondern ganze Szenen aus Wagners Werk, auf Deutsch und von deutschen Künstlern. Außer einigen Stellen, die vor allem von Amalia Materna, aber auch von Lilli Lehmann geradezu enthüllt wurden, kann man nicht gerade sagen, dass diese Vorträge der Sache Wagner in Paris besonders gedient hätten.«, Übers. Gesa zur Nieden). Während de Curzon hier explizit zwei Sängerinnen und nicht Sänger für

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Pariser Sinfoniekonzerte, in denen sie mit Beethoven-, Berlioz- und WagnerRepertoire auftrat, und deren wagneraffinem Publikum in die Pariser Musikwelt integriert worden.3 Zum anderen ließ die Pariser Musikkritik dank des Parteienstreits zwischen Wagnerianer*innen und Nicht-Wagnerianer*innen in den ersten Jahren von Kutscherras Opern- und Konzertauftritten in Paris nicht nach, französische sowie deutsche, musikalische sowie soziale Autoritäten als Motoren für Kutscherras Integration in Paris festzuschreiben. Sie reichten von der Familie Richard Wagners bis hin zu Kutscherras Änderung ihres sozialen Status nach ihrer Heirat im Jahr 1897. Im Folgenden möchte ich einen Überblick über die Auftritte von Sängerinnen mit deutschsprachiger Ausbildung in den Pariser Concerts Colonne von 1895 bis 1914 geben, um daran punktuelle sowie langfristige geografische und soziale Mobilitätsfaktoren von internationalen Sängerinnenkarrieren aufzuzeigen.4 Meine These ist, dass Sängerinnen um 1900 vor allem durch gattungs- und stimmfachüberschreitende musikalische Praxen unterschiedliche künstlerische, soziale und geografische Mobilitäten generierten. Eng damit zusammenhängend lässt sich zudem die These aufstellen, dass aufgrund der Vergleiche zwischen einzelnen europäischen Musikkulturen im ausgehenden ›langen‹ 19. Jahrhundert künstlerische Geschlechterdichotomien in den Hintergrund rückten, sozi-

die Vermittlung von Wagners Werken durch Interpreten und Interpretinnen aus dem deutschsprachigen Raum nennt, waren es vor allem belgische Sänger, die in Wagner-Rollen große Erfolge im Pariser Musikleben feierten. Einen – wenn manchmal auch fehlerhaften – Überblick über die Engagements von Sängerinnen und Sängern mit deutschsprachiger Ausbildung für die Aufführung von Wagner-Repertoire in den Pariser Sinfoniekonzerten findet sich in: Kahane und Wild, Wagner et la France (wie Anm. 1), S. 158–165. Hier stechen vor allem Amalie Materna und Lilli Lehmann in den Concerts Lamoureux hervor, vgl. ebd., S. 160f. 3 Elise Kutscherra sang vor ihrem Auftritt in der Opéra als Sieglinde in Wagners Walküre in den Concerts Colonne u. a. Auszüge aus dem ersten Akt von La Prise de Troie von Hector Berlioz (08.12.1895, 03.04.1896), ein »Air de Fidelio« von Ludwig van Beethoven (15.12.1895), das Lied Träume von Richard Wagner (15.12.1895, 23.02.1896, 01.03.1896), die Brünnhilde im dritten Akt der Götterdämmerung von Richard Wagner (23.02.1896), das Lied Der Fischerknabe von Franz Liszt (22.03.1896) sowie die letzte Szene aus Tristan und Isolde (03.04.1896). F-Pap, Archives de l’Association des Concerts Colonne, V3S/16. Zur Integration der Werke Richard Wagners in das Pariser Musikleben über die Pariser Sinfonieorchester siehe Manuela Schwartz, Wagner-Rezeption und französische Oper des Fin de siècle: Untersuchungen zu Vincent d’Indys »Fervaal« (= Berliner Musikstudien 18), Sinzig 1999, S. 19–24. 4 Die Konzerte der Concerts Colonne von 1895 bis 1914 und darüber hinaus sind durch die Rapports du Secrétaire du Comité des Concerts Colonne als mit Details angereicherte Programme überliefert, d. h. mit Orchesteraufstellungen, der Angabe von Zusatzmusikerinnen und -musikern, Berichten über außergewöhnliche Vorkommnisse, der Auflistung der gegebenen Zugaben sowie der Gesamtdauer des Konzerts. F-Pap, Archives de l’Association des Concerts Colonne, V3S/14–V3S/36.

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Diagramm 1: Anzahl der Konzerte pro Jahr der Pariser Association des Concerts Colonne unter Beteiligung von Sängerinnen mit deutschsprachiger Ausbildung im Zeitraum von 1895 bis 1914.

ale Geschlechterdichotomien aber aktiv für die Generierung von Mobilität genutzt wurden. Im Verlauf der folgenden Ausführungen werde ich die Makroperspektive einer europäischen und transatlantischen Mobilität deutschsprachiger Sängerinnen immer weiter auf die Mikroperspektive ihrer Engagements und Aktivitäten im Paris um 1900 fokussieren, um daran anschließend auf die Aussagekraft internationaler Karrierestationen in Bezug auf die Dimensionen und Funktionsweisen von Mobilität rückzuschließen.5 Zwischen 1895 und 1907 sowie 1911 und 1914 (also mit einer Lücke zwischen 1907 und 1911) traten insgesamt elf Sängerinnen mit deutschsprachiger Ausbildung in durchschnittlich zwei und bis zu vier Konzerten des Orchestre Colonne auf, das jeden Sonntag im Théâtre du Châtelet unter seinem Dirigenten Édouard Colonne, später dann unter Gabriel Pierné spielte.6 5

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Einen Überblick über Ansätze der Mobilitätsforschung, die Mikro- und Makroperspektiven kombinieren, geben Sarah Panter, Johannes Paulmann und Margit Szöllösi-Janze, »Mobility and Biography: Methodological Challenges and Perspectives«, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte/European History Yearbook 16 (2015), S. 1–14, insbes. S. 7–9. Zu den Concerts Colonne im Allgemeinen vgl. Jann Pasler, »Building a public for orchestral music: Les Concerts Colonne«, in: Le concert et son public: Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), hrsg. von Hans Erich Bödeker, Patrice Veit und Michael Werner, Paris 2002, S. 209–240; Gesa zur Nieden, »Konzertreihen als kulturelle Institution. Architektursoziologische Annäherungen an die Pariser Concerts Colonne (1873–1914)«, in: Bericht des internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung Leipzig 2008, hrsg. von Gilbert Stöck, Leipzig 2011, S. 532–545. Zum Repertoire vgl. das Grundlagenwerk von Élisabeth Bernard, Le concert symphonique à Paris entre 1861 et 1914: Pasdeloup, Colonne, Lamoureux, 4 Bde., Diss. Université Paris I-Sorbonne Paris 1976.

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Alle Sängerinnen hatten internationales Renommee, das sich unter anderem in ihren Dauerengagements an wichtigen Opernhäusern wie der Königlichen Oper Berlin, der Hofoper Dresden oder der Wiener Hofoper sowie in ihren Engagements bei den Bayreuther Festspielen spiegelte.7 Bei Colonne wurden dabei vor allem Sängerinnen engagiert, die sich auf die Werke Wagners spezialisiert hatten.8 Sowohl Lilli Lehmann als auch Ernestine Schumann-Heink, Felicie Kaschowska, Martha Leffler-Burckard oder Lula Mysz-Gmeiner waren vor ihren Auftritten in den Concerts Colonne zudem schon an der Metropolitan Opera New York aufgetreten beziehungsweise gaben regelmäßig Gastspiele in Brüssel, London oder Amsterdam. Jenseits dieser vergleichbaren geografischen Mobilität lassen sich die bei den Concerts Colonne aufgetretenen Sängerinnen zwar in unterschiedliche Stimmfächer und Repertoires zwischen Oper und Konzert (z. B. Lula Mysz-Gmeiner, Ida Ekman oder Pauline Strauss-De Ahna) sowie zwischen einer von jeweils mehr durch Wolfgang Amadeus Mozart (z. B. Lilli Lehmann), Wagner (z. B. Martha Leffler-Burckard) oder zeitgenössischen Komponisten wie Richard Strauss (z. B. Marie Wittich oder Ernestine Schumann-Heink als Sängerinnen der Salome und der Klytämnestra bei den Dresdener Uraufführungen von Salome und Elektra) geprägten Repertoireauswahl einteilen, eine Übersicht über das gesungene Repertoire in den Pariser Konzerten (s. Diagr. 2) zeigt jedoch zweierlei: erstens eine recht durchgängige Präsenz von Werken Wagners, Strauss’ und Franz Schuberts im Repertoire der Sängerinnen, zweitens aber auch eine Anpassung an die lokalen Charakteristiken des französischen Sinfonieorchester7 Biografische Informationen zu Ausbildungs- und Karrierestationen der bei Colonne auftretenden Sängerinnen mit deutschsprachiger Ausbildung finden sich in den einschlägigen Internetportalen wie dem Bayerischen Musiklexikon (www.bmlo.de), der Deutschen Biographie (www.deutsche-biographie.de) bzw. weiterer Nationalbiografien unter www.biographie-portal.eu, dem Lexikon Musik und Gender im Internet (www.mugi.hfmt-hamburg.de) sowie einschlägigen Lexika wie Die Musik in Geschichte und Gegenwart (2. Aufl.) oder Karl J. Kutsch und Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, Bern 1999. 8 Die Geschichte des Wagner-Gesangs ist höchst aufgefächert und orientiert sich angefangen bei einer Auswertung von Wagners Maximen in Bezug auf die gesangliche Interpretation seiner Werke bis hin zur Analyse seiner musikästhetischen Konzepte in Bezug auf die Darstellungen von Frauenfiguren an unterschiedlichsten Parametern, vgl. Martin Knust, »›… eine tüchtige Stimme und ergreifendes Spiel…‹ Die ersten Bayreuther Sänger«, in: wagnerspectrum 3 (2007) 2, S. 115–137 oder Stephan Mösch, »Singendes Sprechen, sprechendes Singen – Aspekte des Wagner-Gesangs um 1900«, in: wagnerspectrum 8 (2012) 1, S. 9–29 gegenüber Susanne Vill, »›Das Weib der Zukunft‹. Frauen und Frauenstimmen bei Wagner«, in: »Das Weib der Zukunft«. Frauengestalten und Frauenstimmen bei Richard Wagner, hrsg. von Susanne Vill, Stuttgart und Weimar 2000, S. 6–33. Einen Überblick auch über die Sängerinnen und Sänger gibt Jens Malte Fischer, »Sprachgesang oder Belcanto: Zur Geschichte des Wagner-Gesangs« (Drei Folgen), in: Opernwelt 4 (1986), S. 54–57; 5 (1986), S. 56–60; 6 (1986), S. 57–62.

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Diagramm 2: Gesungenes Repertoire der deutschsprachigen Sängerinnen in den Concerts Colonne von 1895 bis 1914 nach Komponisten.

repertoires, das seit Beginn der Dritten Republik 1870 stark auf die sogenannte ›popularisation de la musique‹ ausgelegt war und eine Propagierung von Werken Ludwig van Beethovens und Hector Berlioz’ bei einem breiten Publikum verfolgte. In Diagramm 2 ist zu erkennen, dass, wann immer Berlioz gesungen wurde, von den Sängerinnen auch Beethoven interpretiert wurde – und dies ist in schöner Regelmäßigkeit der Fall: 1896, 1900, 1905 und 1911. Ein detaillierterer Blick auf das Debüt von Lilli Lehmann und Elise Kutscherra in den Jahren 1891 und 1895 macht deutlich, wie stark auch Akteure und Akteurinnen der Pariser Musikwelt auf Beethoven und Berlioz rekurrierten, unter anderem, um den beiden Wagner-Sängerinnen den Weg eventuell bis in die Académie de Musique zu bahnen. Mit Bezug auf die Concerts Lamoureux äußerte sich 1891 ein Kritiker unter dem Pseudonym Queen Mab in der Revue d’histoire contemporaine de Paris mit einem ironischen Kommentar zur Verbindung von Fidelio, Oberon und Tristan, die anscheinend ganz im Zeichen einer französischen Ästhetik stand: Après la Noce villageoise de Goldmark, cousine germaine des trop nombreuses »suites d’orchestre«, nées en France depuis vingt-cinq ans (j’aime mieux Beethoven) – paraît Mme Lilli Lehmann, au prénom enfantin cher à Goethe, et avec la sobre expression du grand Art (quelle riche parure, qu’une belle voix!) la blonde compatriote de la Materna, très applaudie, fait resplendir le grand air de Fidelio – l’amour conjugal, si noble! le grand

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air d’Obéron – l’amour chevaleresque, si fringant! et Rêves, petite esquisse vaporeuse de R. Wagner pour son œuvre de dilection: Tristan et Yseult! l’amour moderne exquisément maladif comme un soleil d’automne, comme un nocturne de Verlaine: »Sang du cœur, vin des sens âcre et délicieux!«9

Auch Romain Rolland, der 1906 eine kurze biografische Einführung zu Wagner aus Anlass eines Wagner-Abends von Elise Kutscherra an der Pariser Université Populaire in den dazugehörigen Cahiers de l’Université Populaire publizierte, begann und schloss seinen Beitrag mit einer Referenz auf Beethoven. Während Wagner von Beginn seiner Karriere an von Beethoven fasziniert gewesen sei, käme ihm heute der Stellenwert einer echten napoleonischen Persönlichkeit zu: La victoire de l’art wagnérien, retardée en France par des raisons patriotiques, devint absolue et indiscutable après la mort du maître. Wagner a régné d’une façon souveraine sur la musique européenne jusqu’à ces dernières années, où commence à se faire sentir une réaction contre cette dictature de l’art. Il a été une des forces les plus colossales et les plus despotiques de la musique, – une personnalité napoléonienne.10

Romain Rollands Kommentar ist 1906 bereits als Stellungnahme zum Erfolg des Wagnerianer-Publikums in Paris zu werten, zumal Elise Kutscherra ihre Karriere seit ihrem teils erfolgreichen, teils stark kritisierten Debüt an der Opéra 1896 kontinuierlich über eigene Konzerte sowie Kontakte zu französischen Komponisten ausgebaut und gegen 1912 dann auch eine eigene Schülerschaft in Paris etabliert hatte. Zu Beginn war dabei vor allem ihre künstlerische wie kulturell-geografische Herkunft entscheidend gewesen. Während das Feuilleton des Journal des Débats 9 Queen Mab, »Musique«, in: Revue d’histoire contemporaine (Paris), 08.02.1891, S. 700. »Nach der Ländlichen Hochzeit von Goldmark, einer deutschen Cousine der viel zu zahlreichen ›Orchester­ suiten‹, die in Frankreich seit 25 Jahren aus dem Boden sprießen (Beethoven gefällt mir besser) – erscheint Frau Lilli Lehmann, mit dem kindlichen Vornamen, den Goethe so mochte, und mit dem schlichten Ausdruck großer Kunst (welche Aufmachung, welch schöne Stimme!) bringt die blonde Landsmännin der Materna unter großem Applaus die große Arie des Fidelio zum Leuchten – eheliche Liebe, so edel! die große Arie des Obéron – ritterliche Liebe, so spritzig! und Träume, die kleine neblige Vorzeichnung Richard Wagners für sein geliebtes Werk: Tristan und Isolde! moderne Liebe, die auf so elegante Weise kränkelt wie eine Herbstsonne, wie eine Nocturne von Verlaine: ›Herzblut, stechender und köstlicher Wein der Sinne!‹« (Übers. Gesa zur Nieden). 10 Romain Rolland, »Richard Wagner«, in: Cahiers de l’Université populaire. Revue mensuelle, Oktober 1906, S. 531. »Der Sieg der Kunst Wagners, der in Frankreich aus patriotischen Gründen hinausgezögert wurde, wurde absolut und unbestreitbar nach dem Tod des Meisters. Wagner hat über die europäische Musik bis in die vergangenen Jahre hoheitlich regiert, als schließlich eine Reaktion gegen diese Diktatur der Kunst spürbar wurde. Er war eine der kolossalsten und despotischsten Kräfte der Musik – eine napoleonische Persönlichkeit.« (Übers. Gesa zur Nieden).

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am 21. Juni 1896 noch vorwurfsvoll konstatierte, Mademoiselle Elise Kutscherra sei unlängst in den Concerts Colonne mit einem Programm aus Beethoven, Berlioz und Wagner erschienen, »sans qu’on sût d’où elle venait ni où elle avait déjà chanté et qui se faisait appeler tout de go la ›grande chanteuse wagnérienne‹«,11 hatte die europaweit erscheinende Zeitschrift L’Europe Artiste am 29. März 1896 schon eine rundum positive Präsentation der Sängerin vorgelegt, indem sie den Leitartikel »Mademoiselle Elise Kutscherra« widmete, ihre Biografie darstellte und auf ihre Rezeption im Pariser Konzertleben einging.12 Letztere wird vom Autor des Artikels, Armand Castel, einerseits als eine »Überraschung« eingestuft und mit ihrer überragenden Künstlerinnenpersönlichkeit begründet, welche durch das unparteiische Pariser Publikum anerkannt würde. Konkret werden aber drei Eingliederungsmomente vorangestellt: (1) Elise Kutscherras Ausbildung bei Albert Wagner, dem Bruder Richards (eine nicht nachweisbare Angabe), (2) ihr Kontakt zu der in Berlin tätigen Gesangslehrerin Désirée Artôt de Padilla, die 1858 an der Pariser Opéra angestellt war und 1889 von Berlin nach Paris zurückging und (3) den Tod ihrer Mutter, nach dem Édouard Colonne der erfolgreichen Wagner-Sängerin ein Konzert im Théâtre du Châtelet angeboten haben soll. Während die familienbezogene Auswahl der Integrationsmomente der Sängerin in Paris einen wagnerianischen Hang aufweist, ist in den Kritiken zu Kutscherras Debüt an der Opéra tatsächlich ein Zwiespalt zwischen pro-deutschen Wagnerianer*innen und französisch-orientierten Nicht-Wagnerianer*innen zu beobachten, gespiegelt durch die politischen Ausrichtungen der einzelnen Zeitungen und Feuilletons zwischen der auf das französische Repertoire fokussierten Musikzeitschrift Le Ménestrel und dem aristokratisch-bürgerlich-konservativen, aber mondänen Le Figaro – Journal non politique. Während Le Figaro nicht aufhörte, Kutscherras Ruf als Wagner-Sängerin zu betonen und sie zu ermutigen, in den Pariser Konzerten auf Deutsch zu singen, da ihre französische Diktion noch nicht ausgereift sei,13 fuhren die anderen Zeitschriften fort, Kutscherra 11 Adolphe Jullien, »Revue Musicale«, in: Journal des Débats Politiques et Littéraires, 21.06.1896, S. 1. »ohne dass man gewusst hätte, woher sie kam oder wo sie bereits gesungen hatte und die sich von Beginn an die ›große Wagnersängerin‹ nannte« (Übers. Gesa zur Nieden). Ernest Reyer konstatierte zwei Wochen später in derselben Zeitschrift, dass Elise Kutscherra nur wegen ihrer Wagner-Auftritte an der Opéra engagiert worden sei und dort zu Unrecht bereits etablierte Sängerinnen wie Gabrielle Krauss verdrängen würde. Gabrielle Krauss war zuvor noch nicht in Wagner-Rollen aufgetreten. Ernest Reyer, »Revue Musicale«, in: Journal des Débats Politiques et Littéraires, 05.07.1896, S. 2. 12 Vgl. Armand Castel, »Silhouettes Contemporaines. Mademoiselle Elise Kutscherra«, in: L’Europe Artiste. Journal théâtral, littéraire et artistique 44/12, 29.03.1896, S. 133f. 13 Z. B. Alfred Bruneau, »Concerts. Concert Colonne«, in: Le Figaro. Journal non politique, 02.03.1896,

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für ihre »übertriebenen« Gesten und ihren Akzent im Französischen zu kritisieren. Bestenfalls konnte Amédée Boutarel 1905 in Le Ménestrel festhalten, dass die gesungenen Worte in der französischen Wagner-Interpretation sowieso nicht so wichtig seien, und daher auch spontane Wechsel vom Deutschen ins Französische oder umgekehrt nicht unangenehm auffielen.14 Im Vergleich mit weiteren Kritiken zu Auftritten deutschsprachiger Sängerinnen in Paris ist zu erkennen, dass Elise Kutscherra mit ihren »übertriebenen« Gesten dem genderübergreifenden deutschen Künstler*innenbild entsprach, das in Frankreich als repräsentativ, aber nicht unbedingt vorteilhaft für die Interpretation Wagner’scher Werke angesehen wurde. Dies zeigt sich vor allem in den Wagner-feindlichen Kritiken zu Felix Mottl, »venu tout exprès de Carlsruhe, – mit Frau« (»extra aus Karlsruhe angereist – mit Frau«) wie ihn 1899 Henri Gauthier-Villars unter seinem Pseudonym »L’ouvreuse du Cirque d’été Willy« (»die Platzanweiserin des Cirque d’été Willy«) ankündigt.15 Seine »gymnastique tumultueuse« (»tumulthafte Gymnastik«) und die »grands coups saccadés« (»großen ruckartigen Schläge«) seiner Arme am Pult, die dem Kritiker von La Presse am 19. Januar 1897 zufolge nicht gerade für die musikalische Übersetzung der »vraie pensée du grand maître allemand« (»des echten Gedanken des großen deutschen Meisters«) stehen,16 sind durchaus vergleichbar mit Beurteilungen von Kutscherras Gestik als »exagéré en le prodiguant à tout propos« (»übertrieben, indem sie um jeden Preis ausgeführt werden«) oder »exagéré, sous prétexte d’ampleur, et violent sans autorité« (»übertrieben, unter dem Vorwand der Tragweite und gewaltsam ohne Berechtigung«). Elise Kutscherra tue gut daran, »de modeler son jeu sur celui de ses camarades français« (»ihr Spiel an demjenigen ihrer französischen Kollegen auszurichten«).17

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S. 4: »Il faut adresser aussi les plus vifs éloges à Mlle Kutscherra, que son interprétation du rôle de Brunnhilde place au premier rang des tragédiennes lyriques de son temps. Sans doute prononce-telle assez mal le français et ne met-elle pas très bien en valeur le texte de M. Ernst, mais avec quelle force expressive, quel juste sentiment du drame, quelle humanité douloureuse elle dessine son personnage! […] Mlle Kutscherra a eu bien tort de ne pas chanter en allemand comme elle le fit à une précédente séance […].« (»Auch Mlle Kutscherra gebühren die lebhaftesten Elogen, die durch ihre Interpretation der Rolle der Brünnhilde in der vordersten Reihe der dramatischen Opernsängerinnen ihrer Zeit angesiedelt werden muss. Das Französische spricht sie zweifellos recht schlecht aus und sie deutet auch den Text von Text von Herrn Ernst nicht sehr gut aus, aber mit welch ausdrucksstarker Kraft, welch richtigem Gefühl für das Drama, welch schmerzvoller Menschlichkeit zeichnet sie ihre Figur! […] Mlle Kutscherra war im Unrecht, nicht auf Deutsch zu singen wie sie es bei einer der vorherigen Aufführungen getan hatte […].«, Übers. Gesa zur Nieden). Vgl. Amédée Boutarel, »Revue des Grands Concerts«, in: Le Ménestrel 71/18, 30.04.1905, S. 140. L’Ouvreuse du Cirque d’Été (Willy), La colle aux quintes, Paris 1899, S. 118. Charles Formentin, »La scène«, in: La Presse 64/1697, 19.01.1897, S. 3. Arthur Pougin, »Bulletin théâtral«, in: Le Ménestrel, 21.06.1896, S. 194; Léon Garnier, »Soirées

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Während Gestik und Mimik für die Pariser Kritiker zudem in einem engen Bezug zur abgehackten deutschen Sprache stand, war es vor allem Kutscherras soziales Auftreten als Operndiva, das ihr den Eintritt in die Pariser Musikwelt zunächst erschwerte. Aus einer Notiz des Generalsekretärs der Concerts Colonne über das Konzert vom 21. März 1897 geht hervor, dass Kutscherra vor allem die Verhaltens-Gepflogenheiten im Konzert missachtete, sich dort als Opernsängerin präsentierte und somit die Bedeutung der instrumentalen Interpretation der Werke Beethovens und auch Wagners negierte. Der Generalsekretär zeigte sich irritiert darüber, dass die Sängerin den eigentlich Édouard Colonne zugedachten Applaus des Publikums neben dem Maestro entgegennehmen wollte. Auch beklagte er sich darüber, dass Frau Kutscherra nach dem Ende ihrer Partie immer gleich ihre Partitur zuschlage, sodass das Publikum denke, das ganze Konzert sei bereits vorüber. L’accueil fait à l’exécution de Siegfried marquera sa place parmi nos plus grands succès; pendant plus de dix minutes la salle entière n’a cessé d’acclamer et applaudir. Quoique cette manifestation s’adressant visiblement à lui, Mr Colonne a tenu à reporter sur les interprètes du chant d’abord et aux musiciens de l’orchestre ensuite peu part de bravos. Ces derniers ont été invités à se lever et saluer. L’exécution de cette manœuvre a été moins brillante que celle de Siegfried. Chacun craignant de n’être pas suivi de son voisin hésitait à se lever le premier. Ce sera facile à régler et à convenir d’un signe à la rép.on de samedi prochain. Ce qui sera beaucoup plus difficile, ce sera de faire comprendre à Mme Kutscherra que lorsque la salle acclame le nom »Colonne« cela ne veut pas dire Kutscherra. Il m’aurait fallu une équipe d’hommes vigoureux et déterminés pour l’empêcher de courir intempestivement se placer à vos côtés lorsque vous croyiez enfin pouvoir vous rendre seul aux appels si persistants dont vous étiez l’objet. Au sujet de cette artiste dont le talent il faut le reconnaître est bien supérieur à sa modestie, permettez-moi encore une observation: Depuis très longtemps nous vous entendons faire aux choristes cette très importante recommandation à la fin de chaque répétition »ne bougez pas les cahiers avant que tout soit terminé. Sinon le public croira que c’est fini et s’en ira.« Attitude à observer par Mme K. car hier sa dernière note lancée elle s’est empressée à saluer le public provoquant ses applaudissements, paraissant lui dire »J’ai fini. Vous n’avez plus rien à entendre …«. De fait on n’a pu entendre la fin et c’était grand dommage. Je secrétaire du Chant E. Bougeot18 Parisiennes. Opéra et Opéra-Comique«, in: L’Europe Artiste. Journal théâtral, littéraire et artistique 44/22, 21.06.1896, S. 252. 18 F-Pap, Archives de l’Association des Concerts Colonne, V3S/18: 23e année (1896–1897), Comptes-

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Zeitgleich und in den Folgejahren bis zum Ende ihrer Pariser Wirkungszeit ist in der Presse zu beobachten, wie sich Elise Kutscherra an die Bedingungen der Pariser Musikwelt anpasste – und damit gleichzeitig ihren Status als anerkannte Wagner-Sängerin wahren beziehungsweise beim Publikum der NichtWagnerianer*innen durchsetzen konnte: Zum einen versuchte sie, ihre dramatischen Interpretationen von Liedrepertoire wie Schuberts Erlkönig durch musik­ historische Expertise zu untermauern – was ihr jedoch nur bedingt gelang, zu groß waren die musikalischen Autoritäten der Pariser Dirigenten.19 Zum anderen – und dies war eher von Erfolg gekrönt – pochte sie auf ihre geografische und zugleich soziale Mobilität. Am 5. Dezember 1896 berichtete Le Monde Illustrée, dass Elise Kutscherra für ein Konzert bei Colonne mit dem dritten Akt der Götterdämmerung extra aus Brüssel angereist sei, nachdem man ihr die Aufnahme an der Pariser Opéra nach ihrem Debüt nicht zuerkannt habe.20 La Vie théâtrale vom Mai 1897 wirft danach die Frage auf, warum man Kutscherra vor der amerikanischen Sängerin Lillian Nordica nicht den Vorzug gegeben habe, zumal sie sich an der Opéra in der Walküre bereits bewiesen habe.21 Am 11. Ferendus des Concerts (Soli et Chœurs), Rapport du Secrétaire du Chant (Hervorhebung im Original). »Der Empfang, der der Aufführung von Siegfried zuteil wurde, wird ihren Platz unter den größten Erfolgen markieren; mehr als zehn Minuten hörte der gesamte Saal nicht auf zu rufen und zu applaudieren. Obwohl die Beifallsbekundung offensichtlich an ihn gerichtet war, war es Herrn Colonne daran gelegen, einige Bravos zunächst den Interpreten des Gesangs und dann dem Orchester zu übertragen. Letzteres wurde aufgefordert, sich zu erheben und sich zu verbeugen. Die Ausführung dieses Manövers war weniger glanzvoll als diejenige des Siegfried. Jeder fürchtete, dass sein Nachbar nicht mit aufstehen würde und zögerte, sich als erster zu erheben. Das wird leicht zu regeln sein, indem in der Probe nächsten Samstag ein Zeichen verabredet wird. Was sehr viel schwieriger sein wird, ist Frau Kutscherra klar zu machen, dass der vom Publikum gerufene Name ›Colonne‹ nicht Kutscherra bedeutet. Es hätte eine ganze Mannschaft aus kräftigen und entschlossenen Männern gebraucht, um sie davon abzuhalten, sich unerwünschter Weise an Ihre Seite zu stellen, als Sie glaubten, sich endlich allein den so nachhaltigen Rufen des Publikums an Sie zuwenden zu können. Erlauben Sie mir zu dieser Künstlerin, deren Talent mehr anzuerkennen ist als ihre Bescheidenheit, noch eine weitere Bemerkung: Seit langer Zeit hören wir am Ende jeder Probe von Ihnen die sehr wichtige Anweisung an die Choristen, ›dass sie nicht die Notenhefte zuschlagen, bevor nicht alles beendet sei. Ansonsten glaubt das Publikum, alles sei zu Ende und geht.‹ Diese Haltung ist auch von Frau K. zu beachten, da sie sich gestern nach ihrer letzten Note sofort vom Publikum verabschiedet und einen Applaus erzwungen hat, indem sie ihm vermeintlich sagte ›Ich bin fertig. Ab jetzt gibt es nichts mehr zu hören …‹ In der Tat war das Ende nicht mehr zu hören, was überaus schade war. Gez. der Sekretär des Gesangs, E. Bougeot. « (Übers. Gesa zur Nieden). 19 Vgl. Amédée Boutarel, »Concerts Colonne«, in: Le Ménestrel 75/52, 25.12.1909, S. 412. Vgl. dazu auch schon den Bericht über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zum Erlkönig in Le Ménestrel, 75/34, 21.08.1909, S. 271. 20 Vgl. A. Boisard, »Chronique Musicale«, in: Le Monde Illustré 40/2071, 05.12.1896, S. 370. 21 »Histoire au Jour le Jour de l’Opéra et de l’Opéra-Comique«, in: La Vie Théâtrale, 05.05.1897, S. 255.

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bruar 1897 hatte das Journal des Débats Politiques et littéraires ein Konzert Elise Kutscherras als »la Patti tchèque« (»die tschechische Patti«) zusammen mit Marcel Herwegh angekündigt, nicht ohne die Reichweite des letzteren bis zu den »principales capitales de l’Europe et au Brésil« (»wichtigsten Hauptstädten Europas und Brasiliens«) zu unterstreichen.22 Die geografische Flexibilität, der ständig bevorstehende, von Motilität gekennzeichnete Absprung aus Paris in die globale Welt wurde von Elise Kutscherra mit ihrer durch ausgesuchte Pressemitteilungen bekanntgemachten Hochzeit in Brüssel verbunden. Maßgeblich hierfür war das Presseorgan Le Figaro, das wagneraffine Kritiken über sie gedruckt hatte. Während die Zeitung in einer ersten Mitteilung vom 31. August 1897 suggeriert hatte, dass Kutscherra ihre Karriere nach der Heirat aufgeben wolle, konterte die Sängerin damit, dass sie danach nur noch in festen Engagements singen werde und derzeit bereits in Gesprächen mit Theaterdirektoren in Frankreich, Deutschland und Belgien sei.23 Doch auch die Nicht-Wagnerianer*innen wurden von Elise Kutscherra bedient, indem sich die »tschechische Patti« mehr und mehr auch dem Konzertrepertoire und den interpretatorischen und selbstpräsentierenden Gepflogenheiten des Konzertlebens fügte. Durch zahlreiche selbst organisierte Konzerte erarbeitete sie sich ein Renommee als Liedsängerin und eine dazugehörige Schüler*innenschaft.24 Dass der Impuls für diese Ausrichtung auf das Konzert­ repertoire schon direkt nach ihren ersten Auftritten bei Colonne und noch vor ihrem Debüt an der Opéra eingesetzt hatte, zeigen die negativen Kritiken ihrer Interpretation der Sieglinde in der Opéra Garnier: Ihre Stimme sei zu schwach für den großen Opernsaal gewesen und trotz der schlechten Akustik im Théâtre du Châtelet besser für Konzerte geeignet.25 Dies spricht dafür, dass die musik22 »Courrier des théâtres«, in: Journal des Débats politiques et littéraires, 11.02.1896, S. 3. 23 »Courrier des Théâtres«, in: Le Figaro, 31.08.1897, S. 4. 24 Vgl. hierzu z. B. Serge Basset, »Courrier des théâtres«, in: Le Figaro. Journal non politique, 21.01.1906, S. 4 oder ders., »Courrier des théâtres«, in: Le Figaro. Journal non politique, 04.04.1906, S. 4. 25 »Mlle Kutscherra a sans doute fait une étude approfondie des œuvres du maître allemand; on s’en était aperçu lors de son passage aux Concerts Colonne, dans le Crépuscule des Dieux, l’organe, qui portait assez bien aux Concerts, malgré la mauvaise sonorité et la salle du Châtelet, est insuffisant à l’opéra. La voix paraît dure, et les efforts, imposés par cette musique impitoyable, ont déjà à moitié détruit le médium et assourdi le timbre, au point qu’en certains passages le son, émis par la nouvelle Sieglinde, n’arrive pas jusqu’à l’auditeur.« Léon Garnier, »Soirées Parisiennes. Opéra et Opéra-Comique«, in: L’Europe Artiste 44/22, 21.06.1896, S. 252. (»Mlle Kutscherra hat ohne Zweifel ein gründliches Studium der Werke des deutschen Meisters hinter sich; das war bei ihrem Auftritt in den Concerts Colonne in der Götterdämmerung zu bemerken, ihr Organ, das in den Konzerten trotz des schlechten Klangs des Saals des Châtelet recht gut trug, ist für die Oper nicht ausreichend. Die Stimme scheint hart, und die Kraftanstrengungen, die durch diese schonungslose Musik auferlegt werden, haben sie als Medium bereits halb zerstört und auch das Timbre dermaßen betäubt,

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theatrale Wagnerinterpretation in Paris aufgrund der dort angebrachten spezifischen sozialen und künstlerischen Mobilität deutschsprachiger Sängerinnen sehr von der konzertanten Interpretation beeinflusst war, also zwischen der politischen und aufführungskonventionellen Wichtigkeit des Orchesters im Konzert (man bedenke die Trias Berlioz – Beethoven – Wagner) und seiner sekundären Rolle in der Oper angesiedelt war. Auf diese Weise ergibt sich eine Verflechtung von Mobilität, Gesang und Klang, wobei die genaue Erforschung der hier aufgezeigten gattungsübergreifenden Interpretationspraxen in Bezug auf gesangstechnische Ausprägungen in spezifischen akustischen Räumen noch aussteht. Welche Exemplarität besitzt das Fallbeispiel von Elise Kutscherras Pariser Auftritten aber nun aus der Makroperspektive für das Pariser Konzert- und Opernleben insgesamt und für internationale Karrieren deutschsprachiger Sängerinnen? Eine Charakterisierung der Integrationsmodi deutschsprachiger Sängerinnen, die zwischen 1895 und 1914 in den Concerts Colonne auftraten, ergibt eine Abfolge aus Ehefrauen namhafter Dirigenten und Komponisten (Henriette Mottl-Standhartner, Pauline Strauss-De Ahna, 1897–1900), Allrounderinnen mit Mozart-, Wagner- und Strauss-Repertoire (Lilli Lehmann, Ernestine Schumann-Heink, 1900–1911) und fest in Bayreuth engagierten Sängerinnen (Martha Leffler-Burckard, Marie Wittich, 1913–1914).26 Vor allem durch den Bezug auf oder zu Richard Strauss – so scheint es – wurde eine Vielseitigkeit zwischen dramatischem Gesang und dem Liedfach stetig fortgeschrieben, unterstützt durch tschechisch- und finnisch-stämmige Sängerinnen mit einer deutschsprachigen Ausbildung wie Emmy Destinn und Ida Ekman, die bei Colonne Lied- und Opernkompositionen aus Tschechien und Finnland beziehungsweise Schweden vortrugen.27 Eine Schlüsselrolle nehmen Lilli Lehmann und Ernestine Schumann-Heink ein, deren Stimmen eine gewisse Langlebigkeit durch ihre Vielseitigkeit und ihren nicht forcierenden Stil attestiert wurde.28 dass der von der neuen Sieglinde ausgegebene Klang in einigen Passagen nicht bis zum Zuhörer gelangte.«, Übers. Gesa zur Nieden). 26 Vgl. hierzu das Diagramm 1. 27 Emmy Destinn trat 1901 in den Concerts Colonne mit Stücken von Zdeněk Fibich, Bedřich Smetana, Antonín Dvořák und Lud Prochazka auf (neben weiteren Werken von Camille Saint-Saëns und Jules Massenet). Ida Paulina Ekman sang am 2. Februar 1902 einen »Chant populaire finlandais« sowie später in den Jahren 1904 und 1907 Repertoire von Jean Sibelius und Edvard Grieg. F-Pap, Archives de l’Association des Concerts Colonne, V3S/14–V3S/36 (wie Anm. 4). 28 Zu Lilli Lehmann vgl. Pierre Lalo, »La Musique«, in: Le Temps, 20.04.1911, S. 3; Ut Majeur, »Chronique Musicale«, in: Journal Amusant, 15.04.1911, S. 13; Amédée Boutarel, »Revue des Grandes Concerts«, in: Le Ménestrel, 22.02.1891, S. 61. Zu Ernestine Schumann-Heink vgl. R. Prieur, »Concerts, premières représentations et Informations«, in: Revue Musicale 6/6, 15.03.1906, S. 153.

Mobilität, Gesang, Klang

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­Lilli Lehmanns Pariser Konzerte erlangten auf diese Weise einen Lehrstatus am Pariser Konservatorium;29 gleichzeitig wurde die Sängerin zusammen mit Felix Weingartner als Autorität in der Diskussion über die Striche in einzelnen Akten aus Wagners Werken für die konzertanten Aufführungen wahrgenommen.30 Genau wie Ernestine Schumann-Heink gelang es Lilli Lehmann den Kritikern zufolge sogar, über eine schlechte Repertoireauswahl von Mozarts Arie der Königin der Nacht und Beethovens Ah! Perf ido hinwegzutäuschen, die nunmehr wie Wagners Rienzi als altbacken und zu Italienisch eingestuft wurden.31 Es ist gut möglich, dass sich Elise Kutscherra in ihrer langen Pariser Konzerttätigkeit bis 1914 an diesen beiden Sängerinnen orientierte.32 Was die beiden Ehefrauen von Felix Mottl und Richard Strauss anbelangt, stand ihre zierliche Körpergestalt, aber auch ihr im Vergleich zu ihren Dirigenten-Ehemännern zurückgenommenes Wesen im Vordergrund der Kritiken, also genau das, was von Sängerinnen in den Pariser Konzerten in Absetzung von der Tradition der italienischen Operndiven erwartet wurde.33 Auch wenn Henriette Mottl-Standhartner und Pauline Strauss-De Ahna nur punktuell in Paris auftraten, bei Auftritten, die unter anderem von Alfred Ernst, dem französischen 29 Vgl. Georges Pioch, »Au conservatoire«, in: Comœdia, 12.04.1911, S. 4. 30 Vgl. Pierre Lalo, »La Musique«, in: Le Temps, 12.01.1909, S. 3. 31 Zu Schumann-Heink vgl. Amédée Boutarel, »Concerts Colonne«, in: Le Ménestrel, 15.11.1903, S. 365. Zu Lilli Lehmann vgl. Pierre Lalo, »La Musique«, in: Le Temps, 20.04.1911, S. 3. 32 Vgl. hierzu auch Georges Pioch, »Madame Lilli Lehmann«, in: Gil Blas, 06.04.1911, S. 3: »Très respectueusement, il convient d’admirer. Et la vie de Mme Lilli Lehmann abonde, elle aussi, en précieux exemples, dont peu de chanteuses françaises pourraient faire leur profit et, surtout, leur loi. Il est notoire que sa simplicité s’accroit, sans cesse, de son obstination à parfaire un art réputé si parfait.« (»Man muss sie auf respektvolle Weise bewundern. Und auch das Leben der Mme Lilli Lehmann selbst ist so reich an kostbaren Beispielen, aus denen nur wenige französische Sängerinnen ihren Gewinn ziehen können und vor allem ihr Gesetz. Es ist offenkundig, dass ihre Schlichtheit sich durch ihre Entschlossenheit, eine als so perfekt gerühmte Kunst zu vervollkommnen, ohne Unterlass steigert.«, Übers. Gesa zur Nieden). 33 »[…] Mme Strauss de Ahna, aussi petite que son mari est grand, aussi calme qu’il semble agité, cantatrice excellente qui s’est illustrée, paraît-il, sur le théâtre de Bayreuth.« H. Barbedette, »Revue des Grands Concerts«, in: Le Ménestrel, 05.12.1897, S. 388. »Frau Strauss de Ahna, die genauso klein ist wie ihr Mann groß ist, genauso ruhig wie er unruhig scheint, eine exzellente Sängerin, die anscheinend auf der Bühne Bayreuths aufgefallen ist.« »Elle [Henriette Mottl-Standhartner] est mince, la tête portée sur un cou gracile, le menton un peu saillant, la bouche, quoique grande, faite pour le sourire, le teint blond dans la chevelure blonde. La voix déliée comme celle d’un oiseau mais plus vibrante: Une telle créature ne sait parler et doit toujours s’exprimer par des chants.« PaulBenjamin Feuillaire, »Les Mottl«, in: La Justice, 05.03.1899, S. 2. (»Sie ist schmächtig, trägt den Kopf auf einem grazilen Hals, das Kinn hat einen leichten Vorsprung, der wenn auch große Mund ist für das Lächeln gemacht, der blonde Teint in ihrem blonden Haar. Die Stimme löst sich wie diejenige eines Vogels, aber leidenschaftlicher: Eine solche Kreatur weiß nicht zu sprechen und muss sich immer durch Gesang ausdrücken.«, Übers. Gesa zur Nieden).

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Übersetzer der Werke Wagners, organisatorisch und in der Presse vorbereitet worden waren,34 zeichneten also auch sie in gewisser Weise die Ausprägung einer gattungsübergreifenden Integration von deutschsprachigen Sängerinnen in Paris vor. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die internationale Mobilität von Sängerinnen nur über eine Kombination von Makro- und Mikroperspektive verstanden werden kann, gepaart mit einem Blick auf netzwerkartig miteinander verbundene Orientierungspunkte für die Perfektion des eigenen Künstlerinnenbildes, das lokal funktionieren musste, sich aber aus Erfahrungen verschiedener überregional tätiger Sängerinnen speiste. In dieser Blickrichtung treten nationale Pointierungen auch für das sehr national konturierte ausgehende 19. Jahrhundert hinter gattungsübergreifende musikalische Praktiken zurück und geben die Sicht frei auf die vornehmlich sozialen und nicht künstlerischen Dimensionen von geschlechterpolarisierenden Mobilitätsmaßnahmen. Eine Erforschung, inwiefern die in vielerlei Hinsicht mobile Praxis deutschsprachiger Sängerinnen im Paris um 1900 auf die musiktheatrale Interpretation der Werke Wagners in einer Langzeitperspektive, wie sie sich bei Elise Kutscherra zeigt, auswirkte, steht noch aus.

34 Vgl. z. B. Alfred Ernst, »Félix Mottl & Mlle Henriette Mottl«, in: Le Figaro, 16.01.1897, S. 1.

Statuspassagen und Mobilität

Susanne Rode-Breymann (Hannover)

Statuspassagen in Lebensläufen von Frauen in der Frühen Neuzeit Auf den schnellen Blick scheint Mobilität vor allem für männliche Lebensläufe, nicht jedoch für weibliche Lebensläufe typisch. Die Hamburger Psychologin Martha Muchow untersuchte in den 1930er-Jahren den Lebensraum von Großstadtkindern und kam zu dem Ergebnis, »ausschweifendes Verhalten in der Stadt«1 sei nur bei Jungen zu beobachten, während die Mädchen ihrem »Heimatbezirk eng verbunden«2 blieben. Die Frage, warum Mädchen sich nicht so expansiv wie Jungen durch die Stadt bewegen, beantwortete sie sozial-biologisch mit der Annahme, den Mädchen liege das ›Herumstromern‹ »wesensmäßig nicht so […] wie den Jungen«3. Martina Löw referiert in ihrer Raumsoziologie Martha Muchows Forschungen und verweist auf die nachfolgende Forschungsgeschichte, die den »Befund des größeren Aktionsradius von Jungen […] durch unterschiedlichste empirische Erhebungen bestätigt«4 habe: Bis heute gelte es als »gesicherter Befund«5, dass Mädchen »eher wohnungsnahe Spielorte«6 aufsuchen. Gründe dafür scheinen die stärkere Einbeziehung von Mädchen in Hausarbeiten […], die Sexualisierung des weiblichen Körpers mit der realen und phantasierten Bedrohung in städtischen Räumen sowie die im Handeln immer noch wirksam werdende symbolische Verknüpfung von öffentlichen Räumen mit Männlichkeit.7

Martina Löw hält diesen Studien Ergebnisse der feministischen Stadtforschung entgegen, die gezeigt haben, »daß Frauen im Durchschnitt in ihrem Alltag viel mehr Wege zurücklegen und viel mehr Orte an einem Tag miteinander verknüpfen müssen als Männer«8. Die Schärfung des Blicks auf die Mobilität eines männlichen Nur-Erwerbsarbeit-Alltags zwischen Wohnung und Arbeitsort und 1 2

Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 246. Martha Muchow, Der Lebensraum des Großstadtkindes (= Ertrag der Hamburger Erziehungsbewegung 2), postum hrsg. von ihrem Bruder Hans Heinrich, Hamburg 1935, S. 28. 3 Ebd., S. 16. 4 Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 1), S. 247. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 248. 8 Ebd., S. 249.

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auf die Mobilität eines weiblichen Gesamt-Arbeits-Alltags zwischen Wohnung, Kita und Schule, Arbeitsort und Einkauf9 gibt Anlass, auch für frühere Jahrhunderte genauer nach den Unterschieden von männlicher und weiblicher Mobilität im Lebenslauf zu fragen. Das ist Anliegen dieses Beitrags, der das Feld »Mobilität – Lebenslauf – Geschlecht« historisch-exemplarisch für das 17. Jahrhundert untersucht und sich diesem Feld theoretisch über den Begriff und das Konzept der Statuspassage nähert, anknüpfend an den US-amerikanischen Soziologen Anselm L. Strauss, der trocken zusammenfasst: »Die Lebensläufe von Männern und Frauen können – zumindest theoretisch – als eine Serie von Statusübergängen registriert werden.«10 »The phenomena of status passages«11, so Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser 1971, were enduringly called to the attention of social scientists by Arnold van Gennep’s Les rites de passage. In that book, the French scholar remarked [1909] on various types of passages between what, in modern vocabulary, are termed statuses. Mainly he analyzed such passages as those which occur between age-linked statuses, such as birth and childhood, adolescence and adulthood, and being unmarried and married. Those kinds of passages have, of course, been much studied since van Gennep’s day, especially by an­­ thropo­logists. Sociologists have also expended considerable effort studying status pas-­ sages that occur within occupations (careers and socialization, for instance) and within ­organizations (mobility, for instance). Such passages may entail movement into a different part of a social structure; or a loss or gain of privilege, influence, or power, and a changed identity and sense of self, as well as changed behavior.12

Mit Statuspassagen haben sich die Sozialwissenschaften »unter verschiedenen Begriffen (Karriere, Berufsbiografie, Sozialisationsprozess, Identitätswandel, Identitätskrise, Krankheitsverlauf )«13 beschäftigt. Dabei galt ihr Augenmerk im Anschluss an Glaser und Strauss den Verlaufsformen, »die von einem Status zu einem andern führen«14 und den Beziehungen zwischen demjenigen, der eine Statuspassage

  9 Vgl. ebd., S. 250. 10 Anselm L. Strauss: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität [Mirrors and Masks. The Search for Identity 1957], aus dem Amerikanischen übers. von Heidi Munscheid, Frankfurt am Main 1968, S. 116. 11 Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss, Status Passage [1971], New Brunswick 2010, S. 1f. 12 Ebd. 13 Anon., Artikel, »Statuspassage«, in: Wirtschaftslexikon.co, Impressum Jean-Paul Hüsli, aktual. Ausgabe, 2015, http://www.wirtschaftslexikon.co/d/statuspassage/statuspassage.htm, abgerufen am 28.12.2020. 14 Ebd.

Statuspassagen in Lebensläufen von Frauen in der Frühen Neuzeit

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durchläuft (passagee), und de[m]jenigen, der diesen Prozess anleitet, berät, prüft, beurteilt, also für die Einhaltung der ›normalen‹ Ablaufform einsteht (agent of control). Beispiele: Schüler und Lehrer, Patient und Arzt bzw. Pflegepersonal.15

Aufgegriffen wurde dabei auch Glasers und Strauss’ Typologie von Statuspassagen, wie dem Erwünschtheitsgrad, der Umkehrbarkeit, der Wiederholbarkeit, der Übersichtlichkeit, der Freiwilligkeit und anderen.16 Anknüpfend an diese grundlegenden soziologischen Überlegungen wurde ›Statuspassage‹ zum Zentralbegriff des von 1987 bis 2001 von Walter R. Heinz geleiteten Sonderforschungsbereich 186 Statuspassagen und soziale Risiken im Lebensverlauf an der Universität Bremen17: In einer pointiert auf das Verhältnis von Institutionen und individuellen Akteuren bezogenen Forschungsperspektive ging es [in diesem SFB] um die gesellschaftliche Organisation von Lebensverläufen sowie die individuelle Koordination von Lebensbereichen und biographischen Übergängen.18

Begriff und Konzept der Statuspassage sind seit dieser Zeit in der Bildungsforschung fest verankert und haben auch in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden. So heißt es zum Beispiel in der Zeit vom 13. Juli 2000 bezogen auf weibliche Lebensverläufe: Sobald sie ihre »Statuspassagen«, etwa Konfirmation und Balldebüt, hinter sich hatten, tauchten die jungen Frauen in die Gesellschaft ein, reisten umher, feilten rastlos an Bildung und Manieren – und lauerten unauffällig auf die passende Partie.19

Man tut in seinem Leben viele Dinge irgendwann zum ersten Mal: Wer zum ersten Mal Alkohol trinke oder zum ersten Mal küsse, so Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker in Lebenslaufereignisse, Statuspassagen und biograf ische Muster in Kindheit und Jugend, der vollzieht eine – vielleicht nur kleine – Statuspassage. Er bewegt sich vom Status des unerfahrenen Trinkers, Küssenden […] zu einem, der zur Gemeinde der Erfahrenen und 15 Ebd. 16 Vgl. Glaser und Strauss, Status Passage (wie Anm. 11), S. 4f. 17 Vgl. Walter R. Heinz und Johann Behrens, Statuspassagen und soziale Risiken im Lebensverlauf (Arbeitspapier/SFB 186, 13), Universität Bremen, SFB 186 Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf, 1991, https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/4482, abgerufen am 28.12.2020. 18 Universität Bremen, Sonderforschungsbereich 186, Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf (Hrsg.), Das Forschungsprogramm für die Abschlussphase 2000–2001, www.sfb186.uni-bremen. de, abgerufen am 28.12.2020. 19 Dorion Weickmann, »Zarte Frauen«, in: Die Zeit, 13.07.2000, Nr. 29.

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Eingeweihten gehört – wenn auch nur im Status eines Anfängers. Solche Statuspassagen vollziehen wir ein Leben lang. Manche sind geradezu verpflichtend und unvermeidbar [etwa die Einschulung], andere Passagen vollziehen nur wenige. Einige sind strikt institutionell geregelt, andere bleiben […] der Entscheidung des Einzelnen anheimgestellt.20

Begriff und Konzept der Statuspassage lassen sich auch bezogen auf die Frühe Neuzeit fruchtbar machen, allerdings weniger in Bezug auf kleine (individuelle) Statuspassagen, die sich aufgrund der Quellenlage (mit immer nur sehr spärlichen Ego-Dokumenten) nicht greifen lassen. Greifbar sind jedoch zentrale Statuspassagen wie Heirat, Eintritt in den Witwenstand und Sterben von Familienangehörigen, also das, was Anselm L. Strauss als »geregelten Statusübergang«21 thematisiert. Diesen Statuspassagen und den mit ihnen einhergehenden anlassbezogenen Gelegenheitskompositionen22 wird sich dieser Beitrag im Weiteren zuwenden. Hierbei lassen sich Überlegungen der Grundschulpädagogin Ursula Carle zur Entwicklung von Übergangskompetenz aufgreifen: Sie fasst Statuspassagen als Übergänge und Schaltstellen in Biografien, in denen eine sozial und individuell inszenierte Rhythmik der persönlichen Entwicklung Ausdruck findet. Solchen Lebensübergängen kommt laut Carle eine Mittlerfunktion »zwischen der zurückliegenden, strukturbestimmenden und der z. T. strukturoffenen und daher prinzipiell unvorhersagbaren zukünftigen Lebensphase«23 zu; dabei verbinden sich soziale mit persönlichen Erwartungen und institutionelle mit persönlichen Poten­ tialen zu einem bestenfalls schubartigen aber nachhaltigen Entwicklungssprung bzw. schlimmstenfalls zu einem unwiederbringlichen Rückschritt.24

20 Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker, »Lebenslaufereignisse, Statuspassagen und biografische Muster in Kindheit und Jugend«, in: Jugend ’92. Lebenslagen, Orientierungen und Entwicklungsperspektiven im vereinigten Deutschland, Bd. 2: Im Spiegel der Wissenschaften, hrsg. von Jürgen Zinnecker für das Jugendwerk der Deutschen Shell, Opladen 1992, S. 127–143, hier: S. 127f. Imbke Behnken baute gemeinsam mit dem 2011 verstorbenen Jürgen Zinnecker das Siegener Zentrum für Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung (SiZe) auf. 21 Vgl. Anselm L. Strauss, »Geregelter Statusübergang«, in: ders.: Spiegel und Masken (wie Anm. 10), S. 107–117. 22 Vgl. Joachim Kremer, Artikel »Gelegenheitskomposition«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4: Friede – Gutsherrschaft, hrsg. von Friedrich Jaeger im Auftrag des kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit Fachwissenschaftlern, Stuttgart und Weimar 2006, Sp. 362–367. 23 Ursula Carle, Entwicklung von Übergangskompetenz, http://www2.ibw.uni-heidelberg.de/wisskoll/ pdf/carle.pdf, abgerufen am 28.12.2020. 24 Ebd.

Statuspassagen in Lebensläufen von Frauen in der Frühen Neuzeit

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Statuspassage ›Heirat‹ – Mobilität und Motor für Kulturtransfer

»Viele Statusübergänge«25, so Anselm L. Strauss, seien »hoch institutionalisiert, so daß die Individuen sie in bestimmter Ordnung passieren«26, darunter »die normale Reihenfolge von Braut, Frau, werdender Mutter und Kindererzieherin«27, ein weiblicher Lebenslauf als »geregelte Kette der Statusprogression«28, in dem Frauen »auf das Kommende vorbereitet«29 und »sich der Nähe des nächsten Übergangs bewußt«30 seien. Ein idealtypisches Beispiel dafür ist Robert Schumanns Liederzyklus Frauenliebe und Leben (op. 42) auf Gedichte von Adelbert von Chamisso: Im ersten Lied (»Seit ich ihn gesehen«) setzt die erste Begegnung mit dem Mann dem Spiel des Mädchens mit den Schwestern ein Ende. Es folgen zwei Statuspassagen-Lieder der Braut, eines, das innig und lebhaft die selige Verliebtheit in Erwartung der Ehe schildert (»Er, der Herrlichste von allen«), eines, das mit Leidenschaft antizipiert, er »habe gesprochen: ›Ich bin auf ewig dein‹« (»Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben«). Im vierten Lied (»Du Ring an meinem Finger«) ist die Ehe vollzogen, im fünften Lied (»Helft mir, ihr Schwestern«) wird der Abschied von der Mädchenzeit reflektiert. Es folgt ein Lied der Frau über die innige Verbindung mit dem Mann, schon in Erwartung einer Wiege neben dem Bett (»Süßer Freund, du blickest«), ein Lied über das Mutterglück (»An meinem Herzen, an meiner Brust«) und schließlich ein Lied der Witwe über die Tragik des letzten Abschieds (»Nun hast du mir den ersten Schmerz gethan«). Fokussiert sei nun der frühneuzeitliche Statusübergang der fürstlichen Braut zur Frau – ein in jeder Hinsicht institutionalisierter Statusübergang, für den gilt, was Glaser und Strauss folgendermaßen zusammenfassen: These passages are governed by fairly clear rules concerning when the change of status should be made, by whom and by whose agency. There are also prescribed sequences of steps the person must go through to have completed the passage and regularized actions that must be carried put by various relevant participants in order that the passage actually be accomplished. Scheduling, regularization, and prescription are integral to so many status passages that current analyses naturally have included descriptions of the rituals which tend to accompany at least certain phases of those changes of status.31

25 Strauss, Spiegel und Masken (wie Anm. 10), S. 108. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 109. 29 Ebd., S. 108. 30 Ebd. 31 Glaser und Strauss, Status Passage (wie Anm. 11), S. 3.

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Es war die Regel, nicht die Ausnahme, dass die Fürstinnen in der Frühen Neuzeit ›mobil‹ waren: Mit ihrer Heirat verließen sie ihren Herkunftshof, mussten also im unmittelbaren Sinne mobil sein und absolvierten zum Teil lange Brautfahrten mit einer Reihe von Festlichkeiten wie zum Beispiel Eleonora Gonzaga: Sie wurde am 21. November 1621 in Mantua ›per procuram‹ getraut, trat am 21. Januar 1622 in Begleitung eines ihrer Brüder die Reise über Roverto, Trient und Brixen an, überquerte den Brenner und kam am 2. Februar in Innsbruck an, wo sie von ihrem Gatten Kaiser Ferdinand II. empfangen wurde. Es ist ein Beispiel für eine Brautfahrt, die Raum gibt für das, was Anselm L. Strauss als »tatsächliche und symbolische Vorbereitung«32 des Aufbruchs und als »Ritual der Verabschiedung«33 benennt. An allen Orten gab es Musik, in Mantua vor der Abreise, in Trient, im Brixener Dom. Es war ein Reigen von Kirchenmusik, Musiktheater, Jesuitendrama, Ballett. Am 6. Februar reiste man schließlich von Innsbruck ab, die Mantuaner zurück nach Italien, das Kaiserpaar mit Hofstaat und einer Hofmusik mit 22 Sängern, 14 Instrumentalisten und 18 Kapellknaben nach Wien, wo man nach fast dreiwöchiger Weiterreise am 26. Februar 1622 eintraf. Auch hier wurde das Kaiserpaar mit Musik empfangen – einer Festmotette und einem Te Deum im Dom, gefolgt von weiteren Aufführungen am folgenden Tag. Oft waren die musikalischen Aufführungen während der Brautfahrten – wie in diesem Fall – der Anfang eines kulturellen Austausches, an dem sich die kulturelle Identität eines Hofes verschieben oder neu konturieren konnte: Dies gilt für die Hochzeit von Kaiser Ferdinand II. und Eleonora Gonzaga 1622. Sie war Impuls für einen kulturellen Wandel des Wiener Kaiserhofs durch eine Öffnung hin zur ›fremden‹ italienischen Kultur: Der Wiener Hof zelebrierte dabei einerseits »Übergabe und Transformation«, also »Inszenierungselemente, welche das Trennende zwischen den beiden Dynastien« betonten, andererseits wurde in der Festfolge insbesondere in Innsbruck ein »Grenzübertritt, verbunden mit einem […] Vollzug von Abschied und Willkommen«34 inszeniert, der die Außenbindung des Habsburger Hofes deutlich machte. Als diejenigen, die mit der Hochzeit an einen anderen Hof wechselten, wurden die Fürstinnen des europäischen Adels, die das an ihre neuen Lebensorte mitbrachten, was sie an ihren früheren Lebensorten kulturell kennengelernt hatten, zu Initiatorinnen und Schlüsselfiguren kulturellen Transfers in der Frühen 32 Strauss, Spiegel und Masken (wie Anm. 10), S. 111. 33 Ebd., S. 110. 34 Daniel Schönpflug, »Verhandlung, Inszenierung und Erleben kultureller Unterschiede: Die ›europäischen‹ Heiraten der Hohenzollern 1767–1817«, in: Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Dorothea Nolde und Claudia Opitz, Köln, Weimar und Wien 2008, S. 17–37, hier: S. 28.

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Neuzeit. Diesem Themenfeld hat sich das HERA-Projekt Marrying Cultures. Queens Consort and European Identities 1500–1800 gewidmet und dynastische Heiraten als Motor für kulturellen Transfer untersucht: Two or more European cultures meet whenever a king or prince takes a bride from an­­ other country. She often speaks a different language to that of her new court, professes a different version of Christianity, and has been brought up in a different court culture. Transported as she is to her new capital city and court, rarely or never to return home, she can either integrate by changing her beliefs and learning the language and ways of her new territory or she can become a source of friction, retaining an aura of »foreignness«, arousing hostility and even becoming a focus for conspiracy theories. In all cases she effects a transformation by her very presence, for she is usually accompanied by ladies-inwaiting, maids and grooms, often a chaplain, sometimes artists, craftspeople, musicians and actors. She brings with her books, art objects, clothes, jewellery, and furniture, objects that are still to be found in Europe’s museums and libraries. If she is interested in opera or theatre, she is often instrumental in establishing these art forms in her new country. She may also bring with her less tangible intellectual baggage too, such as religious, politi­ cal, philosophical or scientific ideas and influences. The foreign consort often maintains an extensive correspondence with her birth family, which sometimes attempts to direct her actions from afar. If her sisters have also married into foreign courts, the network of transnational communication is further extended.35

Die Habsburger Kaiser holten über vier aufeinanderfolgende Generationen ihre Frauen aus Italien, das heißt aus den Fürstenhäusern der Medici und der Gonzaga. Die ›mobilen‹ Frauen kamen also aus einem kulturellen Umfeld, in dem es üblich war, dass sie dem Hof – wie Baldassare Castiglione es in Libro del Cortegiano36 beschreibt – Glanz verliehen. Musik und Tanz, Malerei und Literatur zählten zu den Eigenschaften, die Castiglione der Hofdame zur Erfüllung dieser Aufgabe anempfahl. Es liegt auf der Hand, dass auf diese Weise sozialisierte Frauen kulturelle Gepflogenheiten ihres Herkunftshofes an den Wiener Hof mitbrachten und kulturell als Netzwerkerinnen »zwischen den Herrschaftsräumen zweier Dynastien«37 handelten. Eine Reihe von Forschungen38 hat diese 35 Marrying Cultures. Queens Consort and European Identities 1500–1800, Internationales Forschungsprojekt der University of Oxford, der Lund University, des German Historical Institute, Warsaw, und der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, Faculty of Medieval and Modern Languages, University of Oxford 2016, www.marryingcultures.eu/about, abgerufen am 28.12.2020. 36 Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance [Il Libro del Cortegiano 1537], aus dem Italienischen übers. von Albert Wesselski, 2. Aufl., Berlin 2004. 37 Daniel Schönpflug, »Verhandlung, Inszenierung und Erleben kultureller Unterschiede« (wie Anm. 34), S. 27. 38 Herbert Seifert, »Die Musiker der beiden Kaiserinnen Eleonora Gonzaga«, in: Festschrift Othmar

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Eheschließungen, die auch den Aneignungsprozess der italienischen Oper am Wiener Hof wesentlich beförderten, als Beispiele von Kulturtransfer thematisiert. Unter diesen Frauen aus Italien nahm Eleonora  II., 1630 als Tochter von Carlo II. Gonzaga, Herzog von Rethel, und Maria Gonzaga geboren, am Wiener Hof eine Schlüsselrolle für den Kulturtransfer ein. Seit 1651 mit Ferdinand  III. verheiratet, war sie bis zur Eheschließung ihres Stiefsohnes Kaiser Leopold I. 1666 Initiatorin der musikalisch oder musiktheatralisch begangenen Festlichkeiten etwa »zu den kaiserlichen Geburtstagen«39. Neben dieser Tätigkeit als ›Opernintendantin‹, die zahlreiche Opern in Auftrag gab, übernahm sie umfangreiche Aufgaben als ›Kulturattaché‹, indem sie etwa Sänger und Instrumentalisten aus Italien an den Wiener Hof holte40, wobei ihre kulturellen Kontakte nach Mantua über all die Jahre sehr lebendig blieben41, was eine große Mobilität italienischer Musiker in den Norden nach sich zog. Eleonora II. hat diesbezüglich für den Wiener Hof eine kulturelle Aufgabe übernommen, wie sie Martin Warnke in seinem Hofkünstler als höfische Form frühneuzeitlicher »Kunst- und Künstlervermittlung«42 beschrieben hat. Er hat dabei auf die Mittlerrolle der Gesandten hingewiesen, die »bei der Suche nach Künstlern im Ausland zunehmend«43 an Bedeutung gewannen. »Von Anfang an scheint die Beobachtung auch der Kunstszene zu den Aufgaben der Gesandten gehört zu haben.«44 Diese, »von denen die Traktate zur Diplomatie bald auch Kunstkenntnisse verlangten, haben zuerst so etwas wie eine auswärtige Kulturpolitik entwickelt, lange bevor diese dann durch Kulturattachés institutionalisiert wurde.«45 Eleonora II. lässt sich in diese Gruppe einfügen: Sie verfügte über umfangreiche kulturelle Erfahrung, die sie von ihrem Herkunftshof mitbrachte und die am Wiener Hof wirksam wurde. Um auf Ursula Carle zurückzugreifen: Eleonoras persönliches Potential führte zur schubartigen kulturellen Entwicklung am Wiener Hof. Wesseley zum 60. Geburtstag, hrsg. von Manfred Angerer, Eva Diettrich, Gerlinde Haas et al., Tutzing 1982, S. 527–554; ders., Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 25), Tutzing 1985; Linda Maria Koldau, Frauen – Musik – Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar und Wien 2005, S. 82–102; Susanne Rode-Breymann, Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677 bis 1705, Hildesheim, Zürich und New York 2010. 39 Seifert, Die Oper am Wiener Kaiserhof (wie Anm. 38), S. 43. 40 Vgl. Rode-Breymann, Musiktheater eines Kaiserpaars (wie Anm. 38), S. 91. 41 Vgl. Seifert, Die Oper am Wiener Kaiserhof (wie Anm. 38), S. 533–551. 42 Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985, S. 11. 43 Ebd., S. 134. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 135.

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Eleonora II. dichtete46 und rief 1667 ebenfalls nach italienischem Vorbild, die Accademia degli Illustrati am Wiener Hof ins Leben, in der sie »namhafte Italiener«47 versammelte und die Geschlechtergespräche etablierte, wie sie von Elisabetta Gonzaga überliefert sind. Die von Eleonora gestellten Themen können als Seitenstücke zu dem betrachtet werden, was in den Libretti der seinerzeit am Wiener Hof aufgeführten Opern verhandelt wurde: Es geht um Liebe und Freundschaft, um Einsamkeit und Tod, um die Frage, ob Veranlagung oder Erziehung wichtiger sei oder um die Frage, ob Männer oder Frauen der Antike die Beständigeren gewesen seien.48 Eleonora  II., auf deren Initiative wohl auch die bauliche Erweiterung der Wiener Hofburg zurückging, an der sie sich »finanziell wie von der Planung her«49 beteiligte, war eine kulturelle Schlüsselfigur des Wiener Hofes und dementsprechend geachtet. Johann Basilius Küchelbecker lobte sie als »eine Höchst verständige […] Dame« von »sonderbahre[r] Klugheit«50. Dass auch Kaiser Leopold I. seine Stiefmutter hochschätzte, ist angesichts ihrer beider Vorliebe für die Oper und aufgrund der musikalischen Förderung, die sie ihm hatte zuteilwerden lassen, nicht verwunderlich. Vielleicht dankte er seiner Stiefmutter auch ihre anhaltend integrative Arbeit am Hof, auf die sich auf der Grundlage eines Briefs von Leopold I. vom 11. Mai 1667 schließen lässt: Leopold I. führt darin verschiedene Ereignisse an, die für allseitiges Wohlbefinden gesorgt hatten, und erwähnt, dass am Vortag »auch die verwitibte Kaiserin ein Fest gehalten« habe, »wobei mein Schatz«, also seine spanische, am Wiener Hof sich eher fremd fühlende Gattin Margarita Teresia, »lustig gewest. Schaue halt, sie lustig zu erhalten, dass sie allen Content habe.«51 Feste boten Gelegenheiten zu agieren: Eleonora II. ergriff die Initiative und übernahm damit »Führung und Beratung«52 für den Statusübergang ihrer spanischen (Stief-)Schwiegertochter, indem sie ihr im 46 Vgl. dazu Michael Ritter, »Man sieht der Sternen König glantzen«. Der Kaiserhof im barocken Wien als Zentrum deutsch-italienischer Literaturbestrebungen (1635 bis 1718) am besonderen Beispiel der Libretto-Dichtung, Wien 1999, S. 43: »Eleonora war aber auch selbst dichterisch tätig. Handschriftlich ist von ihr ein kleines Gedicht überliefert«. 47 Ebd. 48 Vgl. Seifert, Die Oper am Wiener Kaiserhof (wie Anm. 38), S. 199. 49 Katrin Keller, Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts, Wien, Köln und Weimar 2005, S. 119. 50 Johann Basilius Küchelbecker, Allerneueste Nachricht vom Römisch=Kayserl. Hofe. Nebst einer ausführlichen historischen Beschreibung der Kayserlichen Residentz=Stadt Wien, und der umliegenden Oerter, Hannover 1730, S. 152f. 51 Leopold I., Brief an Franz Eusebius von Pötting, 11.05.1667, in: Privatbriefe Kaiser Leopold I. an den Grafen F. E. Pötting 1662 bis 1673 (= Fontes Austriacarum 2, Abt. 57), hrsg. von Alfred Francis Pribram und Moritz Landwehr von Pragenau, Teil 1, Wien 1903, S. 299. 52 Strauss, Spiegel und Masken (wie Anm. 10), S. 117.

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Fest eine Chance zu zeremonialisierter Kommunikation und damit eine Möglichkeit eröffnete, am neuen, noch fremden Hof Lebensraum zu erobern – also eine Möglichkeit zur Post-Mobilitäts-Integration in der für Margarita Teresia, um es mit den Worten von Ursula Carle zu sagen, »strukturoffenen und daher prinzipiell unvorhersagbaren zukünftigen Lebensphase«53 am Wiener Hof. Statuspassage ›Eintritt in den Witwenstand‹ – Freiheiten des Handelns

Die Statuspassage des Eintritts in den Witwenstand ist, die typologischen Dimensionen von Glaser und Strauss aufgreifend, in aller Regel unerwünscht und absolut unumkehrbar – eine Statuspassage, bei der man im ersten Moment eher an Trauer denkt als an Mobilität. In der Frühneuzeit war jedoch auch diese Statuspassage mit Mobilität im direkten Sinn wie mit Mobilität im Sinne eines Identitätswandels verbunden. Der Tod der Männer zog in aller Regel eine innerhöfische Mobilität der Frauen nach sich, da sie die zuvor bewohnten Räumlichkeiten verlassen und dem neuen Herrscherpaar überlassen mussten. Am Wiener Hof bezogen die Kaiserwitwen andere Etagen/Bereiche der Hofburg oder übersiedelten ganz, wie Amalia Wilhelmine, die Gattin von Kaiser Joseph I., die ihre Witwenjahre von 1722 bis 1742 in dem von ihr 1717 gegründeten Salesianerinnenkloster auf dem Rennweg in Wien, verbrachte. Und sie erhielten eigene Witwen-Sommerresidenzen, wie zum Beispiel die Favorita (das heutige Theresianum im 4. Bezirk), die zunächst der Sommerwitwensitz von Eleonora II. war. Auch diese Statuspassage war also eine ›mobile‹ Phase, in der sich äußerer und innerer Raum von Frauen änderte – und dies begleitet durch ein umfangreiches Reglement ohne individuelle Entscheidungsspielräume. »Zu den wichtigsten Verhaltensvorschriften«54 für frühneuzeitliche Witwen zählten »die Aufrechterhaltung der Ehre«55, wobei »weibliche ›Ehre‹ […] mit einem Leben […] ohne Sexualität gleichgesetzt«56 wurde; nach dem Tod des Ehemannes sollten sie sich »zur Wahrung ihrer Ehre aus dem öffentlichen Leben zurückziehen« und insbesondere ältere Witwen »sollten allein bleiben« und »in Demut und Armut leben.«57 Barbara Welzel hat in ihrem Aufsatz Die Macht der Witwen. Zum Selbstverständnis niederländischer Statthalterinnen das Ineinandergreifen dieser Identitäts53 Ursula Carle, Entwicklung von Übergangskompetenz (wie Anm. 23). 54 Sylvia Hahn, Artikel »Witwe/r«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15: Wissen – Zyklizität, hrsg. von Friedrich Jaeger, Stuttgart und Weimar 2012, Sp. 182–189, hier: Sp. 184. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd., Sp. 185.

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konstruktion mit der Porträtikonografie58 thematisiert – und das lässt sich auch am Beispiel von Eleonore Magdalena59, der dritten Gattin von Kaiser Leopold I., zeigen: Wie die niederländischen Statthalterinnen legte auch sie im Moment des Todes ihres Gatten den »gesamten textilen und preziosen Reprä­sen­ tationsapparat«60 mit dem Ziel ab, sich als Witwe »eine eigene Identität«61 zu schaffen: »Diese wurde zugleich am Körper gestaltet und […] in den Porträts repräsentiert«62, das heißt die »in der Performanz konstruierte Identität«63 wird »im Bildnis medial verfestigt«64, verbreitet und der Nachwelt überliefert. Nur auf diese Weise konnten Fürstinnen im Witwenstand eine eigenständige Rolle außerhalb der ›Vormundschaft‹ ihres Vaters oder Ehemannes für sich in Anspruch nehmen. […] Rückhalt fand diese Rolle in einem mit hohem Prestige ausgestatteten moralisch-ethischen Konzept, das seit der Kirchenväterliteratur regelmäßig dem Witwenstand zugeschrieben wird. […] Die Texte zum Witwenstand heben hervor, dass die Witwe durch ihre herausragende moralische Position zu besonderer Tugendhaftigkeit und Stärke befähigt sei. […] Fürstliche Witwen sind in besonderer Weise dazu berufen, ihrem Volk zu dienen – gegebenenfalls auch Krieg zu führen, um das Land der Dynastie zu erhalten.65

Diesen die Identität verändernden Schritt von Eleonore Magdalena in den Witwenstand hat Franz Wagner in Leben / und Tugenden Eleonorae Magdalenae Theresiae, Römische Käyserin detailreich beschrieben: Sie habe sich nach dem Tod von Kaiser Leopold I. »aller Seiden=Zeug«66 entschlagen, habe alle Tiere abgeschafft, die sie lediglich gehabt habe, weil »der Kayser bey überhäufften Kriegund Reichs-Sorgen dergleichen Zeitverkürzungen zu einer Gemüths-Erringerung bedürfftig ware«67, und auch die Musik betreffend sei der Schritt in den Witwenstand ein Einschnitt gewesen: 58 Barbara Welzel, »Die Macht der Witwen. Zum Selbstverständnis niederländischer Statthalterinnen«, in: Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit (= Residenzenforschung 11), hrsg. von Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini, Stuttgart 2000, S. 287–309, hier: S. 290. 59 Die Ausführungen zu Eleonore Magdalena gehen zurück auf Susanne Rode-Breymann, Musiktheater eines Kaiserpaars (wie Anm. 38), S. 47–58. 60 Welzel, »Die Macht der Witwen« (wie Anm. 58), S. 297. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 300 und S. 302. 66 Franz Wagner, Leben / und Tugenden Eleonorae Magdalenae Theresiae, Römischen Käyserin. Von einem der Gesellschaft Jesu Priestern zusamm getragen, Wien 1721, S. 175. 67 Ebd., S. 82.

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Sie ware auch in der Sing=Kunst / und Music nicht unerfahren; nach dem Todt Leopoldi aber enthielte sie sich derselben / und wollte hinführo kein andere Music anhören / als / welche zu dem Lob Gottes / und dessen Heiligen angestimmet wurde; wann es sich nun zugetragen / dass in der Nähe von weltlichen Dingen etwas gesungen / oder gespielet wurde / pflegte sie alle Fenster zu zuschließen […]; sie aber selbst beliebte / absonderlich die letzte Jahr hindurch die Psalmen Davids in Teutschen Reimern ausgesetzt / vor dem Schlaff alleinig zu einiger Gemüts=Erquickung abzusingen.68

Haben wir es hier mit Images zu tun, mit Konstruktionen von Erinnerung, durch die ein panegyrisch überhöhtes Herrscherinnenbild generiert wurde? Eleonore Magdalena überlebte ihren Gatten um 15 Jahre und starb am 19. Januar 1720. Dass es auch im Fall von Eleonore Magdalena so schwierig ist, einen Blick hinter das für die Memorik konstruierte Herrscherinnenbild zu tun, resultiert zum einen (wie bei Leopold I.) aus der Imagepolitik des Hofes, zum andern aus der von Eleonore Magdalena demonstrativ gelebten Witwenidentität, die ihre frühere Identität regelrecht überschrieben hat (s. Abb. 1 und 2). Am deutlichsten wird das am Thema »Aufputz« als Ausdruck von Eitelkeit. So schreibt zum Beispiel Volker Press in Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, Eleonore Magdalena »bevorzugte einen sparsamen Stil und mied jeden Prunk«69 – und das unmittelbar neben dem Gemälde des österreichischen Hofmalers, das – wie viele weitere Porträtstiche aus der Zeit vor dem Witwenstand – etwas ganz Anderes vermittelt. Eleonore Magdalena hat offenbar einiges an einer möglichst kompletten Überschreibung gelegen, denn sie vernichtete, wie Franz Wagner berichtet, gezielt Quellen eines ihr nahen Zeitzeugen: Nach einem letzten Besuch bei ihrem sterbenden Beichtvater Pater Müller, der sie 34 Jahre in dieser Funktion begleitet hatte, vernichtete sie alle seine Aufzeichnungen über sie. Gezielt vernichtete Quellen erschweren den Blick hinter konstruierte Herrscherinnen-Images. So lässt sich auch über die Diskontinuität musikbezogenen Handels von Frauen an den Höfen wenig Präzises sagen. Vor der Eheschließung war das Komponieren für adlige Frauen an den Höfen möglich, an denen wie in Wien aus Italien übernommene humanistische Traditionen weiterwirkten und ein Milieu boten, in dem Frauen Bildung erlangen konnten und ihnen eine Entfaltung ihrer musikalischen Begabung ermöglicht wurde. Anders trat dann die Gemahlin im höfischen Akteurssystem in Erscheinung: Sie rekrutierte oder empfahl Musiker, hatte also Einfluss auf Musikerbiografien und die Zusammen68 Ebd., S. 78. 69 Volker Press, Artikel »Eleonore Magdalena«, in: Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von Brigitte Hamann, 2. Aufl., Wien 1988, S. 80.

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Abb. 1: Eleonore Magdalena, Kupferstich 1690, in: Johann Probst: Königliche Ungarische Krönung der Allerdurch­ leuchtigsten / Großmächtigsten Fürstin und Freuen Eleonora Magdalena Teresia / RömischeKayserin / auch zu Ungarn und Böheimb Königin / Ertz=Hertzogin zu Oesterrich […], Wien 1683, nach Textende. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Gm 4° 739 [2]).

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Abb. 2: Eleonore Magdalena als Witwe, in: Eucharius Gottlieb Rinck: Josephs des Sieghafften Röm. Kaysers Leben und Thaten. In zwey theile abgefasset, und mit bildnißen gezieret, Köln 1712, zwischen S. 6 und 7. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Gl 4016).

setzung von Klangkörpern, sie gab Werke in Auftrag und prägte so die musikalische Kultur. Es war dies ein kulturelles Handeln, das ohne musikalische Kenntnisse nicht denkbar ist. Der Witwenstand ging mit einem wiederum anderen musikkulturellen Handeln einher: Es gehörte zu den Gepflogenheiten, dass die Kaiserinnen nach dem Tod ihrer Männer eigene Hofmusikkapellen unterhielten: Die nach dem Tod von Ferdinand II. 1637 eingerichtete Hofmusikkapelle von Eleonora I., der der »Geiger Carlo Farina und der Komponist Vinzenz Fux«70 angehörten, zählte 24 Musiker. Pietro Andrea Ziani oder Antonio Draghi waren Musiker in der Hofkapelle von Eleonora II., die Kaiser Leopold I. »nach dem Tod Eleonoras« 1686

70 Elisabeth Hilscher, Mit Leier und Schwert. Die Habsburger und die Musik, Graz, Wien und Köln 2000, S. 120.

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zum Teil »in seine Hofmusikkapelle«71 übernahm. Amalia Wilhelmine engagierte für die ihr nach dem Tod Josephs I. zustehende Hofkapelle »1713 Johann Joseph Fux als Kapellmeister«, der »gleichzeitig Vizekapellmeister der kaiserlichen Hofmusikkapelle Karls VI.« war und »damit einer der wenigen, die im Hofstaat des Kaisers wie der Kaiserin-Witwe – zwei streng voneinander getrennten Institutionen – beschäftigt waren.«72 Statuspassage ›Sterben‹ – Funeralkompositionen

Die dritte zentrale Statuspassage, an der sich unter Genderperspektive frühneuzeitliche Mobilität und anlassbezogenes Komponieren exemplifizieren lassen, sind Tod und Beisetzung. Leichenüberführungen und Leichenprozessionen waren Momente von Mobilität, was – veranlasst durch die Opulenz der Quelle73 (s. Abb. 3) – am Beispiel eines Mannes, Johann Friedrich, Herzog und Erbprinz zu Württemberg und Teck, exemplifiziert sei. Er verstarb am 2. August 1659 in London und wurde nach Stuttgart überführt, wo am 24. September sein Begräbnis, verbunden mit einer ausgreifenden Leichenprozession, stattfand. Die gedruckte Leichenpredigt schildert Überführung und Prozession, also eine Mobilität, die räumlich, zeitlich und performativ extrem aufwändig war. Die Leiche wurde per Schiff über Rotterdam nach Utrecht gebracht, dann per Wagen nach Köln, von dort wiederum per Schiff nach Mainz, danach über weitere Landstationen bis nach Stuttgart, wo die Leiche des Fürsten am 23. September ankam und von denen anwesenden Grafen / Herrn und vom Adel in einer Procession vor dem Garten=Thor empfangen / biß für die Hof=Capell geführt / allda von denen vom Adel 71 Ebd., S. 119. 72 Otto Biba, »Kaiserin Wilhelmina Amalia und die Musik«, in: Österreichische Musikzeitschrift 45 (1990) 2, S. 66–73, hier: S. 71. 73 »Beschreibung der Ordnung und Procession / wie es bey Weiland deß Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Johann Fridrichen / Hertzogen und Erb=Printzens zu Würtemberg und Teck […] gehalten worden«, in: Drey Christliche Leich-Predigten Uber dem seligen Ableiben Deß Weiland […] Herrn Johann Friderichen/ Hertzogen zu Würtemberg und Teck […] Erb- Printzens […] Dessen Fürstl. Gn. […] den 2. Augusti, Anno 1659. […] zu Londen in Engelland/ auff Dero Peregrination […] entschlaffen/ Dero […] Leichnam aber […] den 24. Septembris dises Jahrs […] in die […] Residentz-Stadt Stuttgarten gebracht/ und folgenden Sambstags in das Fürstl. Gewölb der Stiffts- Kirchen daselbsten/ mit gewohnlichen Fürstl. Ceremonien, und hochansehenlicher höchsttrauriger Procession/ beygesetzet worden: Sampt angehängter Historischer Beschreibung Ihrer Fürstl. Gnaden […] Leich-Procession und Begräbnuß. Leichenpredigt, Stuttgart 1660, S. 19, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Stolberg 23321.

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Abb. 3: »Christliche Leichenpredigt […]« und »Beschreibung der Ordnung und Procession wie es bey deß Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Johann Fridrichen / Hertzogen und Erb=Printzens zu Würtemberg und Teck […]«. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Leichenpredigt Stolberg 23321).

hinein getragen / für den Altar gestellet / mit dem Leich=Sammet bedeckt / und von Laqueyen und Trabanten biß auff [den] folgenden Tag / an welchem der Fürstlich Leich=Conduct angestellet gewesen / verwachet worden.74

Auf den folgenden zwölf Druckseiten wird die Ordnung für das Begräbnis mitgeteilt, das heißt (teils namentlich) wer sich an welchem Ort versammelt hat (Ritterstube, Saal, Schlosshof usw.) und wer in welcher Reihenfolge Teil der Prozession war, bis man in der Kirche ankam und nach einer ebenfalls dargelegten Ordnung die Plätze einnahm: So bald man nun in diser Ordnung in die Kirche kommen / hat man auffgehört zu leuten. Die Fürstl. Leich ist gerad vor der Thür deß Gewölbs / da solche beygesetzt werden sollen / nidergstellt worden / vor deren bey dem Altar / die so die Fahnen geführt / damit stehen blieben / die aber / welche die Fürstl. Leich getragen / und die Pferde gefürt / haben sich in den Chor begeben.75

Die räumlichen Aspekte von Trauer, die Anselm L. Strauss thematisiert, werden hier sehr greifbar: »tiefe Trauer« werde »nur an bestimmten Orten angemessen 74 Ebd., S. 21. 75 Ebd., S. 35.

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ausgedrückt – vor dem Sarg, am offenen Grab, in der Zurückgezogenheit des eigenen Schlafzimmers.«76 Der Funeraldruck für Johann Friedrich Herzog und Erbprinz zu Württemberg und Teck schließt mit einer vergleichsweise kurzen Beschreibung von Predigt und Musik. Wir erfahren, dass Lieder gesungen wurden (Mitten wir im Leben sind und Mit Fried und Frewd ich fahr dahin vor der Predigt und Herr Jesu Christ wahrer Mensch und Gott, Darauf nun laßt uns den Leib begraben und Ich hab mein Sach Gott heimgestellt nach der Predigt) und ebenfalls »ein Traurstück / allein mit lebendigen Stimmen zu einem stillen Positiv / von den Hof=Musicis«77 vor und ein Trauerstück nach Predigt, Gebet und Segen. Solche Angaben sind in vielen Funeraldrucken enthalten, manchmal sind jedoch auch Notendrucke78 beigegeben: Die Sammlung der Gräfin Sophie Eleonore zu Stolberg-Stolberg79, das Herzstück der Leichenpredigtsammlung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel etwa, umfasst 20.000 Drucke. Etwa 1,7 % dieser Leichenpredigten enthalten Musikalien. Erstaunlicherweise wurde immer von Neuem Musik für Begräbnisse komponiert, und diese Musik wurde für so überliefernswert angesehen, dass sie in die zum Teil sehr aufwändigen Leichenpredigt-Drucke Eingang fand – und dies, egal ob die Musik von einem herausragenden Komponisten, einem einfachen Kantor oder einem Dilettanten aus dem familiären Umfeld der Verstorbenen stammt. Musikalien finden sich fast zu gleichen Prozentanteilen für Männer und Frauen. Ungefähr ein Drittel entstand für Adelige, zwei Drittel für Bürgerliche80, wobei sich diese beiden Gruppen keineswegs in große höfische und kleine 76 Strauss, Spiegel und Masken (wie Anm. 10), S. 136. 77 »Beschreibung der Ordnung und Procession […] Herrn Johann Fridrichen / Hertzogen und Erb=Printzens zu Würtemberg und Teck« (wie Anm. 73), S. 36. 78 Die hier publizierten Ausführungen zur Funeralmusik für Frauen gehen auf den Workshop des Arbeitskreises Biographie und Geschlecht im Juni 2017 zurück. Sie wurden unter emotionshistorischer Perspektive weitergeführt für die Festschrift für Jill Bepler; vgl. Susanne Rode-Breymann, »Funeralmusik für Frauen im 17. Jahrhundert. Ein emotionshistorischer Versuch«, in: Frauen – Bücher – Höfe: Wissen und Sammeln vor 1800. Essays in honor of Jill Bepler, hrsg. von Volker Bauer, Elizabeth Harding, Gerhild Scholz Williams et al., Wiesbaden 2018, S. 411–429. Teile beider Aufsätze sind identisch. 79 Vgl. Jill Bepler, »Der erbauliche Tod. Die Sammlung der Gräfin Sophie Eleonore zu StolbergStolberg. Kabinettausstellung in der Herzog August Bibliothek«, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 22 (1995), S. 139–141; Jill Bepler und Cornelia Niekus Moore, »Zur Erinnerung und Erbauung. Sophie Eleonore Gräfin zu Stolberg-Stolberg (1669–1745) und ihre Leichenpredigtsammlung«, in: Stolberg 1210–2010. Zur achthundertjährigen Geschichte des Geschlechts, hrsg. von Philipp Fürst zu Stolberg-Wernigerode und Jost-Christian Fürst zu Stolberg-Stolberg, Dößel (Saalekreis) 2010, S. 172–187. 80 Vgl. Katrin Eggers, »Musik in Funeraldrucken«, in: Verklingend und ewig. Tausend Jahre Musikge-

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städtische Kompositionen teilen. Vielmehr weisen auch die für städtische Honoratioren und ihre Gemahlinnen komponierten Funeralmusiken ein weites Spektrum von Dimensionen, Besetzungen und Gattungen auf: Auf der einen Seite dieses Spektrums stehen einfache Strophenlieder, auf der anderen Seite kontrapunktisch großdimensionierte (achtstimmige) Motetten. Der Druck von Musikalien in Leichenpredigten ist Ausweis für einen besonderen repräsentativen Anspruch, aber die Musik belegt nicht nur den sozialen Rang, sondern kann auch an individuelle Gefühle der Trauernden heranführen, denn es wurden mit sehr verschiedenen Musiken sehr verschiedene Klangräume des trauernden Innehaltens konstituiert. Sie gaben dem Gedenken an den Verstorbenen oder die Verstorbene Raum und ermöglichten eine Abschied-nehmende Zwiesprache mit dem oder der Verstorbenen. Musik ist in besonderer Weise in der Lage, einen Zeit-Raum zu öffnen – und diesbezüglich ist die Vielzahl der Strophen, die viele dieser Kompositionen haben, bemerkenswert wirkungsvoll, denn das ›vor sich Hin‹-Singen von vielen Strophen gibt Gelegenheit für jeden, sich einzuschwingen und eigene Gefühle innerlich aufzurufen und unhörbar vor Gott auszusprechen. Werfen wir schließlich einen Blick auf die Funeralmusik für Herzogin Sibylla Ursula von Schleswig-Holstein-Sonderburg von Kaspar Förkelrath, in der die Betrübnis über den Tod und die Gewissheit des ewigen Lebens ein Integral bilden. Sibylla Ursula von Schleswig-Holstein-Sonderburg, Tochter aus der zweiten Ehe von Herzog August d. J. von Braunschweig und Lüneburg, verstarb am 12. Dezember 1671 nach der Geburt ihres vierten Kindes im Alter von 43 Jahren »bey andächtigem Gebet und hertzlichen Seufzen von dem allgewaltigen Gott durch ein sanfftes und seliges Ende aus diesem Mühseligen in das ewige Leben gefordert«81, wie es auf dem Titelblatt des Funeraldrucks Gedächtniß=Seule (Abb. 4) heißt. Für das Begräbnis am 6. Februar 1672 komponierte der Flensburger Organist Kaspar Förkelrath eine dialogische Komposition für zwei Solostimmen, Chor und Streicherbegleitung. Nach einer Streicher-Symphonia ruft Jesus (Bass) zur Überwindung auf82: sich selbst und alles in der Welt Widerstreitende müsse man überwinden, um das weiße Kleid der Herrlichkeit zu erlangen. Die von einem dächtnis 800–1800 (= Herzog August Bibliothek: Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 94), hrsg. von Susanne Rode-Breymann und Sven Limbeck, Wiesbaden 2011, S. 271–284. 81 Fürstl. Schleszwig=Holstein=Glücksburgische Gedächtniß=Seule der […] Frauen Sibyllen Ursulen […], Hamburg 1672, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Leichenpredigt Stolberg 6936; darin enthalten: »Christlich Sterb=Lied […]. Nachmahls durch Casparum Förckelrath / in die Music gebracht«. 82 Notenbeispiel in Rode-Breymann, »Funeralmusik für Frauen« (wie Anm. 78), S. 424.

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Susanne Rode-Breymann Abb. 4: Fürstl. Schleszwig=Holstein= Glücks­burgische Gedächtniß=Seule der […] Frauen Sibyllen Ursulen […]«. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Leichenpredigt Stolberg 6936).

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Knabensopran gesungene »siegende Seele«83 folgt seinem Appell und wird vom Engelschor im Himmel mit den Worten Sey siegende Seele willkommen im Himmel, willkommen vom irdischen Jammergetümmel, es ist dir benommen das sündliche Kleid, ein anders und weisses hat Jesus bereit.84

willkommen geheißen. Es folgen zwei Wiederholungen der gesamten Komposition mit weiteren Strophen von Jesus, siegender Seele und Engelschor, in denen an die Gedanken aus der jeweils ersten Textstrophe angeknüpft wird. Die Funeralmusik für Herzogin Sibylla Ursula lenkt den Sinn der Zuhörenden hin zur himmlischen Ordnung im Jenseits. Die Musik gibt ihnen viel Zeit dafür und vermittelt durch die dreimalige Wiederholung eindrücklich den neuen Ort der Verstorbenen innerhalb der himmlischen Ordnung zwischen Jesus und Engeln.

83 Notenbeispiel ebd., S. 425. 84 Ebd.

Katerina Piro (Mannheim)

Ehe macht mobil Bürgerliche Heirat, räumliche Mobilität und Geschlecht im 19. Jahrhundert

Zu Beginn meiner Überlegungen über Mobilität, Ehe und Geschlecht stehen prominente Beispiele aus dem europäischen Hochadel. Allgemein bekannt ist die Heirat der bayerischen Prinzessin Elisabeth mit dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. im Jahr 1854, insbesondere aufgrund der fiktionalisierten Medialisierung durch die eher kitschigen Filme von Ernst Marischka aus den 1950erJahren.1 Im ersten Sissi-Film fuhr Romy Schneider, alias Elisabeth in Bayern, in Begleitung von Mutter und Schwester zu einer Brautwerbung des jungen Kaisers nach Bad Ischl. Bei einem Spaziergang kamen sich die jungen Adeligen näher, bald folgte die Verlobung. Der Höhepunkt des ersten Films war die Reise der Braut auf einem Donaudampfer zu ihrer Hochzeit. Sie verließ die Heimat, um im Land und Schloss ihres Bräutigams die Ehe anzutreten.2 Im 18. und 19. Jahrhundert verging kaum ein Jahr, in dem nicht eine Prinzessin auf ähnliche Weise quer durch Europa geschickt wurde: Maria Antonia von ÖsterreichLothringen verwandelte sich 1770 auf der Reise nach Paris in die französische Prinzessin Marie Antoinette3; die bayerische Prinzessin Amélie von Leuchtenberg segelte 1829 sogar wochenlang nach Brasilien, um dort Kaiserin zu werden.4 Nicht immer reisten junge Frauen. Auch Prinz Albert von Sachsen-­Coburg und Gotha zog 1840 aus der fränkischen Provinz nach London, als er Königin Viktoria von Großbritannien heiratete.5 Die heiratsbedingte Mobilität in nichtadeligen Schichten war meist weniger glamourös, führte selten so weit weg und war doch facettenreich vorhanden. 1 2 3 4 5

Ernst Marischka, Sissi, Wien 1955; ders., Sissi – Die junge Kaiserin, Wien 1956; ders., Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin, Wien 1957. Vgl. Michael Budde, Sisis Hochzeit und das Elisabeth-Fest-Album, Petersberg 2011. Antonia Fraser, Marie Antoinette. The Journey, London 2001. Die Eheschließung hatte allerdings bereits in München stattgefunden – ohne den Bräutigam Kaiser Pedro I. von Brasilien. Siehe Heinrich Graf von Spreti und Suzane Freifrau von Seckendorff (Hrsg.), Das Reisejournal des Grafen Friedrich von Spreti. Brasilianische Kaiserhochzeit 1829, München 2008. Vgl. Stanley Weintraub, Uncrowned King. The Life of Prince Albert, New York, London, Toronto et al. 1997.

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Jochen Oltmer definierte die »Heirats- und Liebeswanderung« als »Wechsel des geografischen und sozialen Raumes wegen einer Heirat oder einer Lie­bes­ beziehung«.6 Diese Art der Mobilität wird in der Familien- oder Eheforschung meist vernachlässigt. Im Forschungsüberblick von Margareth Lanzinger und Ellinor Forster zählte die Mobilität nicht zu den Desiderata der Eheforschung, auch wenn der Titel ihres Aufsatzes, »Stationen einer Ehe«7, einen räumlichen Bezug hatte. Tatsächlich ist die Heirat sprachlich und metaphorisch eng mit Mobilität verknüpft: so wird die Ehe ›eingegangen‹ oder sprichwörtlich der ›Ehehafen angelaufen‹ und erst nach oder mit der Ehe wird man ›sesshaft‹ oder ›lässt sich nieder‹ im sogenannten ›häuslichen Glück‹. Begonnen wird die Ehe mit einer Hochzeitsreise, danach beginnt der ›gemeinsame Lebensweg‹. Studien über die Heiratsmigration fokussieren meist auf Umzüge vom Land in die Stadt8 oder in ferne Länder9 sowie die damit verbundenen institutionellen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Doch wie wurde die heiratsbedingte Mobilität von Männern und Frauen im 19. Jahrhundert erlebt und beschrieben, welche Handlungsspielräume boten sich beiden Geschlechtern? Nach Monika Wienfort gab es nicht den »[e]inen einheitlichen Entwurf der Ehe als Ge­ schlechterverhältnis«10. Wichtige Studien hierzu lieferten Anne-Charlott Trepp, Rebekka Habermas und Caroline Arni.11 Im Folgenden möchte ich anhand des

 6 Jochen Oltmer, Migration vom 19. bis zum 21.  Jahrhundert (=  Enzyklopädie deutscher Geschichte 86), 3. Aufl., Berlin und Boston 2016, S. 4.   7 Ellinor Forster und Margareth Lanzinger, »Stationen einer Ehe. Forschungsüberblick«, in: EheGeschichten. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 14 (2003) 1, S. 141–155.   8 Vgl. z. B. Rita Müller, Von der Wiege zur Bahre – Weibliche und männliche Lebensläufe im 19. und frühen 20. Jahrhundert am Beispiel Stuttgart-Feuerbach (= Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 85), Stuttgart und Leipzig 2000.  9 Vgl. Christoph Lorke, Liebe verwalten. ›Ausländerehen‹ in Deutschland 1870–1945 (= Studien zur historischen Migrationsforschung 37), Paderborn 2020; Monika Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014, S. 32f.; Lena Radauer und Maren Röger, »Mobilität und Ordnung. Eine Rechts- und Gesellschaftsgeschichte deutsch-russländischer Eheschließungen 1875–1926«, in: Ehe Imperial. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 31 (2020) 1, S. 69–86; Margareth Lanzinger und Annemarie Steidl (Hrsg.), Heiraten nach Übersee. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 25 (2014). 10 Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (wie Anm. 9), S. 8. 11 Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbstständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 123), Göttingen 1996; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850) (=  Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 14), Göttingen 2000; Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln, Weimar und Wien 2004.

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Mobilitätsaspekts Geschlechterpraktiken bei bürgerlichen Eheschließungen im ›langen‹ 19. Jahrhundert untersuchen.12 Während die historische Eheforschung zuletzt auf institutionelle Aspekte fokussiert war und Ehen häufig von ihrem Zerbrechen her untersucht wurden,13 möchte ich personenzentriert und praxeologisch zeigen, wie die räumlichen Aspekte der Paarwerdung während der Zeitspanne zwischen dem Kennenlernen und dem Einzug in einen gemeinsamen Haushalt ausgestaltet und wahrgenommen wurden. Als Quellen nutze ich Tagebücher und Briefe aus der oder über die Verlobungszeit, denn diese erlauben Rückschlüsse über konkrete Handlungen und Erfahrungen, ebenso wie die entsprechenden Wahrnehmungen und Deutungen der Menschen.14 Ausgewählt wurden acht Paare (siehe Tabelle 1), zu deren Verlobungszeit jeweils gedruckte oder archivalische Quellen vorliegen.15 Die Fälle sollen einen multi-perspektivischen Überblick darüber anbieten, welche Arten der Mobilität von Verlobten im ›langen‹ 19. Jahrhundert vorausgesetzt oder ausgehandelt wurden. Gesucht wird dabei nach gender-spezifischen Ähnlichkeiten oder Unterschieden. Die räumliche Mobilität von Paaren zwischen Kennenlernen und Heirat im 19. Jahrhundert

Während Kaspar von Greyerz noch für die Frühe Neuzeit konstatierte, insbesondere Männer seien gezielt auf Brautwerbung gegangen, so war dies im 19. Jahrhundert nicht mehr gebräuchlich.16 Viele Paare lernten sich bei Ver12 Zur Bürgertumsforschung siehe Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997) (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 18), Göttingen 2000; Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 75), München 2005; Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (= Geschichte kompakt), Darmstadt 2009. 13 Vgl. Lorke, Liebe verwalten (wie Anm.  9); Jana Osterkamp, »Familie, Macht, Differenz. Familienrecht(e) in der Habsburgermonarchie als Herausforderung des Empire«, in: Ehe Imperial. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 31 (2020) 1, S. 17–34; Arni, Entzweiungen (wie Anm. 11). 14 Zur Arbeit mit Ego-Dokumenten siehe Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996. Auch Kaspar von Greyerz nutzte für seine Studie über Lebenswege in der Frühen Neuzeit überwiegend Ego-Dokumente, siehe Kaspar von Greyerz, Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010. 15 Bei den nicht öffentlich bekannten Personen wurden die Nachnamen zwecks Anonymisierung gekürzt. 16 Vgl. Greyerz, Passagen und Stationen (wie Anm. 14), S. 147f.

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wandten oder Freunden kennen.17 Man bewegte sich also auf mehr oder minder bekanntem Terrain, und doch brachte bereits die Verlobungszeit die Paare aus ihren üblichen Kreisen und Räumen heraus. Eine hochmobile Phase im Leben der Menschen begann. Wurde sich das Paar einig, so folgte dem Kennenlernen die Verlobung und Verlobungszeit,18 während derer es viel zu bewältigen gab: das Kennenlernen wurde vertieft, hinzu kamen Einführungen in Familien- und Freundeskreise, offizielle Erledigungen bei Ämtern und Behörden standen ebenso an wie die Planung und Einrichtung des künftigen Heims des Paares sowie die Ausrichtung der Hochzeit. Thomas Mann fasste, kurz vor der Hochzeit mit Katia Pringsheim im Jahr 1905, die Verlobungszeit in einem Brief an seinen Bruder Heinrich Mann wie folgt zusammen:19 Die letzte Hälfte der Werbezeit – nichts als eine große seelische Strapaze. Die Verlobung – auch kein Spaß, Du wirst das glauben. Die absorbirenden Bemühungen, mich in die neue Familie einzuleben, einzupassen (soweit es geht). Gesellschaftliche Verpflichtungen, hundert neue Menschen, sich zeigen, sich benehmen.20

Die Braut Elisabeth N. war im Jahr 1894 ebenfalls überwältigt von der Fülle an Aufgaben vor der Hochzeit.21 Rückblickend schrieb sie in ihr Tagebuch: Nach all der vorhergegangenen Unruhe war ich ziemlich angegriffen und mußte meinem Mann nicht gerade den günstigsten Eindruck machen. Das schmerzte mich; er aber war von einer rührenden Geduld und Liebe zu mir.22

17 Vgl. Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982, S. 332f. 18 Die Dauer der Verlobungszeit variierte, sollte jedoch relativ kurz sein. Siehe Hanns BächtoldStäubli, Die Gebräuche bei Verlobung und Hochzeit. Mit besonderer Berücksichtigung der Schweiz (= Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 11), Bd. 1, Basel 1914, S. 224. 19 Zu diesem Paar siehe z. B. Kirsten Jüngling und Brigitte Roßbeck, Katia Mann. Die Frau des Zauberers, München 2003; Inge Jens und Walter Jens, Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim, Reinbek 2003. 20 Thomas Mann, Brief an Heinrich Mann, München, 23.12.1904, zit. n. Hans Wysling (Hrsg.), Thomas Mann. Heinrich Mann. Briefwechsel 1900–1945, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 102. Im Folgenden werden Zitate aus Ego-Dokumenten in der ursprünglichen Rechtschreibung angegeben. 21 Elisabeth C. hieß nach ihrer Heirat mit Nachnamen N. Um Verwechslungen mit einem anderen Paar (Hinrich und Agathe C., s. Anm. 42) zu vermeiden, wird sie durchgehend als Elisabeth N. bezeichnet. Zu diesem Paar siehe Elisabeth N., Tagebuch, Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, DTA-1517/1-3. 22 Elisabeth N., Tagebucheintrag, 06.05.1894, Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, DTA1517/1-3.

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Forschende haben insbesondere die Moderne mit Stress und Beschleunigung in Verbindung gebracht;23 allerdings scheint das ausgedrückte Stressgefühl von Thomas Mann oder Elisabeth N. weniger aus einem Lebensstil, als aus der Wahrnehmung einer besonderen Lebensphase entsprungen zu sein. Die Verlobungszeit war geprägt von Nähe und Distanz, insbesondere, wenn Paare nicht im selben Ort lebten oder zeitweise verreisten. Allerdings war das Reisen im 19. Jahrhundert von geschlechterspezifischer Differenz geprägt.24 Erwachsene Männer konnten sich freier bewegen als Frauen.25 So reiste der in Wien lebende Sigmund Freud mehrmals zu seiner Verlobten Martha Bernays nach Hamburg.26 Ihr Gegenbesuch wurde während der vierjährigen Verlobungszeit zwar mehrmals von ihr erwogen, aber nie realisiert.27 Als Sophie Isler im Jahr 1867 von Hamburg nach Braunschweig fuhr, um vor Ort die praktischen Vorbereitungen für ihre Ehe voranzutreiben, wurde sie von ihrer Mutter begleitet.28 Während Sigmund Freud seine Aufenthalte in Hamburg für entspannte Spaziergänge mit seiner Verlobten nutzte, liefen Sophie Isler und ihre Mutter geschäftstüchtig durch die Stadt,29 was bereits die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt nach der Heirat andeutete.30 Die Erwähnung der Mutter als Reisebegleiterin ist hier außerdem entscheidend: insbesondere unverheiratete bürgerliche Frauen wurden im 19. Jahrhundert selten allein gelassen und ständig behütet.31 23 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005. 24 Zu reisenden Frauen siehe Annegret Pelz, »Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?« Das reisende Frauenzimmer als Entdeckung des 18. Jahrhunderts (= Vorträge – Reden – Berichte 9), Oldenburg 1993; Gabriele Habinger, Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006. 25 Vgl. Habinger, ebd., S. 43f. 26 Zu diesem Paar vgl. Katja Behling, Martha Freud. Die Frau des Genies, Berlin 2002, S. 19f. 27 Zu unrealisierten Reisen vgl. Martha Bernays, Brief an Sigmund Freud, o. O., 19.03.1885, zit. n. Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller (Hrsg.), Sigmund Freud und Martha Bernays. Die Brautbriefe. Bd. 4: Spuren von unserer komplizierten Existenz. September 1884– August 1885, Frankfurt am Main 2019, S. 301. 28 Zu diesem Paar siehe Martina G. Herrmann, Sophie Isler verlobt sich. Aus dem Leben der jüdischdeutschen Minderheit im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2016, hier: S. 34f. 29 Vgl. Christine Bauhardt, »Feministische Ökonomiekritik: Arbeit, Zeit und Geld aus einer materialistischen Geschlechterperspektive«, in: Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung (= Geschlecht und Gesellschaft 65), hrsg. von Beate Kortendiek, Birgit Riegraf und Katja Sabisch, Wiesbaden 2019, S. 253–261. 30 Zu den Geschlechterrollen in der Ehe, die einerseits individuell verhandelbar waren, andererseits sozialen Normen entsprachen siehe Trepp, Sanfte Männlichkeit sowie Habermas, Frauen und Männer (wie Anm. 11). 31 Zur Erziehung von Mädchen im 19. Jahrhundert vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Frauenleben im

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Verlobungszeit als Vorbereitungszeit: Raum schaffen für die Ehe

Früh versuchten Paare einen gemeinsamen Raum auch gegenüber ihrem weiteren Umfeld zu kommunizieren. Ganz konkret diente dazu die sogenannte Verlobungsanzeige.32 Bereits Tage nach der Verlobung im Herbst 1849 verschickten Karl Hegel und Susanna Maria von Tucher eine gemeinsame Visitenkarte an Bekannte und Verwandte.33 Sie ließen drucken: »Suzette von Tucher / Professor Dr. C. Hegel / Verlobte / Nürnberg und Rostock«.34 Die Karte schuf Gemeinsamkeit, die Nennung der Orte unterstrich die bis zur Hochzeit herrschende räumliche Distanz zwischen den Verlobten, die noch zu überwinden war. Die Wohnungs- oder Residenzfrage des künftigen Ehepaares war eine zen­ trale Frage, die es während einer Verlobung zu klären galt. Juristisch betrachtet konnten Frauen im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) nicht selbst über ihren Wohnort bestimmen. Dies konnte lediglich ihr Vater oder Vormund, später der Ehemann. Nach dem geltenden Recht konnte »der Mann verlangen, die Frau solle zu ihm ziehen, die Frau dagegen nur, der Mann solle sie aufnehmen.«35

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19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit, München 1983, S. 108f.; Gunilla Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürger­ familien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 220f. Historische Untersuchungen zu Verlobungsanzeigen fehlen bislang. Vgl. Sandra Hölscher, Familien­ anzeigen. Zur Geschichte der Textsorten Geburts-, Verbindungs- und Todesanzeige, ihrer Varianten und Strukturen in ausgewählten regionalen und überregionalen Tageszeitungen von 1790 bis 2002 (= Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 23), Berlin 2011; Karin Hausen, »Die Ehe in Angebot und Nachfrage. Heiratsanzeigen historisch durchmustert«, in: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen (= L’Homme Schriften 10), hrsg. von Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Gabriella Hauch, Wien, Köln und Weimar 2005, S. 428–448. Zu diesem Paar siehe Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Brautbriefe Karl Hegels an Susanna Maria von Tucher. Aus der Verlobungszeit des Rostocker Geschichtsprofessors und der Nürnberger Patriziertochter 1849/50 (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 87), Wien, Köln und Weimar 2018; ders., Aus der Familiengeschichte der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher von Simmelsforf 1849/50 (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 97), Wien, Köln und Weimar 2022. Ein Bild dieser Verlobungskarte ist abgedruckt in Neuhaus, Brautbriefe Karl Hegels (wie Anm. 33), S. 15. Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914 (=  Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung 1), Köln, Weimar und Wien 2003. Duncker analysierte detailliert die verschiedenen, im ›langen‹ 19. Jahrhundert geltenden Rechtsformen in Deutschland. Zur Wohnortbestimmung durch den Ehemann (Paragraf 1354, BGB 1896), S. 721f. Abgelöst wurde dieses Gesetz erst mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1958. Siehe Bundesgesetzblatt, Teil 1 26 (1957), insbes. § 1, Nr. 5, S. 609.

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Doch eine feste Residenzregel gab es nicht.36 Frauen hatten also durchaus Verhandlungsmacht und nutzten diese bei Bedarf auch aus. Häufig halfen ihnen dabei ihre Eltern. So führte Ferdinand Beneke, ein gestandener Jurist von 33 Jahren,37 wenige Wochen nach seiner Verlobung im Jahr 1807 bereits »Debatten mit der SchwiegerMama über unsern künftigen WohnOrt.«38 Die Unterredung verärgerte ihn.39 Dass die Eltern des Mädchens die Verhandlungen mit dem Schwiegersohn führten, hatte pragmatische Gründe: Meistens waren die Frauen viel jünger als ihre Verlobten.40 Caroline von Axen war erst 18 Jahre alt, als ihre Mutter für sie die Verhandlerin gab. Mutter und Verlobter beschlossen, dass die Braut in das von ihm und seinen Verwandten bewohnte Haus ziehen sollte. Frau von Axen beaufsichtigte den Einzug.41 Ähnlich wie bei Benekes spielte auch bei Hinrich C. die Schwiegermutter eine wichtige Rolle bei der räumlichen Veränderung ihrer Stieftochter Agathe.42 Sie reiste wiederholt auch ohne diese zu ihrem zukünftigen Schwiegersohn, um vor der Hochzeit die Wohnung zu begutachten. Hinrich C. schrieb: »Nachmittags kommt Mama nach Emden zum Tee, um von hier Besorgungen zu machen. Unsere Einrichtung gefällt Mama sehr, sie hatte Fremden- und Schlafzimmer noch nicht gesehen.«43 Anne-Charlott Trepp nannte das Verhandeln während der Verlobungszeit, in dem es nicht immer um den Gegenstand selbst ging, sondern auch um ein Kräftemessen in der Beziehung, »[d]as Ringen um eine gemeinsame Basis.«44 Dass dieses »Ringen« oft in Verbänden stattfand und nicht nur zwischen Einzelnen, sollte beachtet werden.

36 Vgl. Tabea Häberlein, Artikel »Familie«, in: Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, hrsg. von Eike Bohlken und Christian Thies, Stuttgart und Weimar 2009, S. 324–328, hier: S. 324. 37 Zu diesem Paar siehe Frank Hatje, Ariane Smith, Juliane Bremer et al. (Hrsg.), Ferdinand Beneke (1774–1848). Die Tagebücher, Göttingen 2012ff. Alle folgenden Zitate aus Abteilung II (1802– 1810), erschienen 2019. 38 Ferdinand Beneke, Tagebucheintrag, 21.01.1807, ebd. 39 Über den Topos Schwiegermutter siehe Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (wie Anm. 9), S. 146f. 40 Zum Altersunterschied vgl. Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 17), S. 331; Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 11), S. 138f. 41 Vgl. z. B. Ferdinand Beneke, Tagebucheintrag, 06.06.1807, in: Hatje, Smith, Bremer et al. (Hrsg.), Ferdinand Beneke, Abteilung II (wie Anm. 37). 42 Zu diesem Paar siehe Hinrich C., Verlobungstagebuch, Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, DTA-683 sowie Jan Ringena, »Die Pastoren der evang.-reformierten Gemeinde Georgsdorf. Eine Material- und Datensammlung«, in: Emsländische und Bentheimer Familienforschung 10 (1999) 50, S. 121–161, hier: S. 131f. 43 Hinrich C., Tagebucheintrag, 22.08.1901, in: ders., Verlobungstagebuch (wie Anm. 42). 44 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 11), S. 160f.

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War die Distanz zwischen den Wohnorten sehr groß, wie im Falle von Susanna Maria von Tucher und Karl Hegel (Nürnberg – Rostock), mussten die Verlobungsparteien einander bei der Eheplanung vertrauen.45 Bei Tuchers zeigte man sich zuversichtlich: Schließlich war Karl Hegel ein Cousin der Braut, die Familien standen sich nahe.46 Dabei agierte Karl Hegel durchaus forsch und war sich bewusst, dass er die Verlobte und ihre Familie verunsichern könnte. Bereits wenige Wochen nach der Verlobung schrieb er nach Nürnberg: Du wirst erschrecken oder vielleicht lächeln und darauf sehr ernsthaft werden, wenn ich Dir erzähle, womit ich mich gestern und vorgestern beiläufig beschäftigt habe: – ich habe mich nach einer Wohnung für uns Beide erkundigt und auch schon in einigen Häusern danach umgesehen […].47

Wenig später war die Wohnung in Rostock angemietet, Karl Hegel nannte dies einen »wichtigen Schritt«.48 Ähnlich schnell handelte auch Otto Magnus, als er für sich und seine Braut eine Wohnung in Braunschweig suchte. Triumphierend schrieb er: »GEMIETET« und sie erwiderte: »Mutter hatte als ich es ihr sagte einen solchen Schreck, als trete ihr der Gedanke, mich ziehen zu lassen zum ersten Mal entgegen«.49 Mit der Schaffung des ehelichen Raums, scheinen Fakten geschaffen worden zu sein, die die Paarwerdung konkretisierten. Wie der Fall von Friedrich Rückert und seiner Verlobten Luise WiethausFischer zeigt, war es tatsächlich keine Gesetzmäßigkeit, dass die Verlobte zu ihrem Mann zieht.50 Nach der Hochzeit im Jahr 1821 bezogen sie eine Wohnung im Haus ihrer wohlhabenden Eltern.51 Für den Dichter war die Ehe mit einer vermögenden Frau ein Glücksfall, denn er hatte zu dieser Zeit keine feste Anstellung. Er schrieb der Verlobten:

45 Thomas Mann beschrieb als lediger junger Mann anhand des fiktiven Schicksals der Tony Buddenbrook, wie dieses Vertrauen missbraucht werden konnte. Siehe Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Frankfurt am Main 2004, Teil III und Teil IV. Die Erstveröffentlichung war 1901. 46 Neuhaus, Brautbriefe Karl Hegels (wie Anm. 33), S. 176. 47 Karl Hegel, Brief an Susanna Maria von Tucher, Rostock, 08.11.1849, zit. n. ebd., S. 23. 48 Karl Hegel, Brief an Susanna Maria von Tucher, Rostock, 01.12.1849, zit. n. ebd., S. 39. 49 Otto Magnus, Brief an Sophie Isler, o. O., 17.04.1867; Sophie Isler, Brief an Otto Magnus, o. O., 18.04.1867, zit. n. Herrmann, Sophie Isler verlobt sich (wie Anm. 28), S. 17 bzw. S. 19. 50 Zu diesem Paar siehe Ingeborg Forssman, Luise Rückert, geborene Wiethaus-Fischer, »Mein guter Geist, mein beßres Ich!«. Ein Lebensbild der Frau des gelehrten Dichters Friedrich Rückert (= Rückert zu Ehren 9), Würzburg 1997. 51 Vgl. Ingeborg Forssman (Hrsg.), »Liebster Rückert!« »Geliebte Luise!« Braut- und Ehebriefe aus den Jahren 1821 bis 1854 (= Rückert zu Ehren 12), Würzburg 2002, S. 52.

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Es ist mir zwar, um Dich zu lieben, wie Du weißt, unnöthig, daß Du schön seyst, so unnöthig, als daß Du reich seyest. Doch ist beides eine angenehme überflüssige Zugabe, die wir nicht verschmähen wollen, eben so wenig, als über ihren Verlust uns grämen.52

Ähnlich formulierte es Thomas Mann knapp 100 Jahre später, als er vor seiner Hochzeit über die Vermögensverhältnisse seiner künftigen Schwiegerfamilie schrieb: »Ich fürchte mich nicht vor dem Reichthum«.53 Auch das junge Ehepaar Mann zog in eine Wohnung, die Katia Manns vermögende Eltern ausgesucht und gemietet hatten. Die Schwiegermutter Hedwig Pringsheim schrieb einem Freund, während Thomas und Katia Mann auf Hochzeitsreise waren: […] nun muß sie [Hedwig Pringsheim meinte sich hier selbst] arbeiten im Schweiße ihres Angesichts, um das sogenannte Nest der jungen Leute zu ordnen und zu schmücken; und dann dem Kind [Katia Mann] beistehen – in seinen ersten Haushaltungs­ sorgen.54

Es sind sicherlich solche Kommentare, die dazu führten, dass die ›übergriffige Schwiegermutter‹ zu einem festen Topos in Ehebeziehungen geworden ist. Doch Friedrich Rückert und Thomas Mann gaben in ihren Briefen offen zu, dass sie trotzdem nicht ungern profitierten. Rebekka Habermas schrieb vom Dreiklang von »Liebe, Geld und Leidenschaft«55 in Ehebeziehungen. Wurde keine neue Wohnung angemietet, wie im Fall der Benekes, so konnte das künftige Ehepaar auch eine bestehende Familienwohnung übernehmen. Hinrich C. wurde mit der Hochzeit zum Geschäftsführer im elterlichen Geschäft und erbte sozusagen, ähnlich einer Hofübergabe, auch die Dienstwohnung.56 Die Wohnungssuche fiel in diesem Fall nicht dem Brautpaar, sondern Hinrich C.s Eltern zu. Doch die Wohnungsübergabe verlief nicht konfliktfrei. Hinrich C.s Eltern kritisierten die künftige Schwiegertochter Agathe H. wegen ihrer Ansprüche und Ausgaben. Hinrich C. schrieb: »Beim Tee geraten Vater

52 Friedrich Rückert, Brief an Luise Wiethaus-Fischer, Ebern, 09.08.1821, zit. n. ebd., S. 54. 53 Thomas Mann: Brief an Heinrich Mann, München, 27.02.1904, zit. n. Wysling, Briefwechsel 1900– 1945 (wie Anm. 20), S. 99. 54 Hedwig Pringsheim, Brief an Maximilian Harden, München, 15.02.1905, zit. n. Helga und Manfred Neumann (Hrsg.), Hedwig Pringsheim. Meine Manns. Briefe an Maximilian Harden 1900–1922, Berlin 2006, S. 30. 55 Habermas, Frauen und Männer (wie Anm. 11), S. 287. 56 Vgl. Christine Fertig, »Hofübergabe im Westfalen des 19. Jahrhunderts: Wendepunkt des bäuerlichen Familienzyklus?«, in: Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 197), hrsg. von Christoph Duhamelle und Jürgen Schlumbohm, Göttingen 2003, S. 65–92.

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und ich wegen der Baulichkeiten aneinander«.57 Karin Gottschalk und Margareth Lanzinger haben untersucht, dass die Mitgift und ihre Verwendung nicht nur für die Partnerwahl relevant war, sondern auch die Position der Frauen in der Partnerschaft und in der Schwiegerfamilie stärken konnte.58 So schien es im Fall von Hinrich C. und Agathe H. zu sein. Zumindest im Tagebuch verteidigte Hinrich seine Verlobte gegenüber dem Vater und distanzierte sich von seiner Herkunftsfamilie.59 Ankunft im ehelichen Raum

Das Hochzeitspaar, das gemeinsam über die Schwelle schreitet, wobei die Braut vom Bräutigam getragen wird, ist ein altes Klischee. Insbesondere, weil es andeutet, dass ein Ehepaar erst nach der Hochzeit und zwar gemeinsam in die neue Wohnung einzieht. Doch im 19. Jahrhundert gab es nicht den einen Einzug, sondern viele einzelne Etappen einer räumlichen Annäherung, die bereits vor der Hochzeit begann und nach Heirat und Hochzeitsreise vollendet wurde. Für Hinrich C. war es eine Zäsur, als seine Eltern aus der Wohnung auszogen. Er schrieb: »Heut hat der Möbelwagen den Umzug der Eltern vollendet, und ich bin somit Hausherr geworden.«60 Wenige Tage später nannte er die Wohnung bereits »mein Junggesellenheim«.61 Für ihn fielen mehrere Statuspassagen zeitlich eng zusammen: die Selbstständigkeit des jungen Erwachsenen, die berufliche Etablierung und die Familiengründung. Denn während er noch vom »Junggesellenheim« schrieb, zogen bereits die persönlichen Gegenstände seiner Braut in Form von Kleidung, Möbeln und Hausrat ein. Der symbolische Abschied vom »Junggesellenheim« vollzog sich wenige Tage vor der Hochzeit, als Hinrich C. und Agathe H. »den Leinenschrank zusammen einräum[ten]. Nach einem gemeinsamen Mittagessen haben Agathe und ich unsern Salon bezogen und haben uns über mancherlei ausgesprochen.«62 Hier schaffte die räumliche Eta­ blierung auch das nähere emotionale Zusammenrücken des Paares auf kommunikativer Ebene. Viele Paare unternahmen nach der Hochzeit zunächst eine Hochzeitsreise. Erstaunlicherweise fehlen historische Untersuchungen zur Hochzeitsreise, ob57 Hinrich C., Tagebucheintrag, 19.07.1901, in: ders., Verlobungstagebuch (wie Anm. 42). 58 Vgl. Karin Gottschalk und Margareth Lanzinger, »Editorial«, in: Mitgift. L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministisches Geschichtswissenschaft 22 (2011) 1, S. 7–14, hier: S. 9. 59 Hinrich C., Tagebucheintrag, 19.07.1901, in: ders., Verlobungstagebuch (wie Anm. 42). 60 Hinrich C., Tagebucheintrag, 30.07.1901, in: ebd. 61 Hinrich C., Tagebucheintrag, 14.08.1901, in: ebd. 62 Hinrich C., Tagebucheintrag, 24.08.1901, in: ebd.

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wohl sie mindestens seit dem 19. Jahrhundert zum Standardprogramm der bürgerlichen Verheiratung gehörte.63 Dauer, Reiseziel und Gestaltung der Reise waren in den hier betrachteten Fällen sehr unterschiedlich und scheinen keinem Muster zu folgen: Ferdinand und Caroline Beneke reisten für nur eine Nacht in ein Dorf außerhalb Hamburgs;64 Elisabeth und Rudolf N. verbrachten eine Woche in Baden-Baden, ebenfalls unweit ihres künftigen Wohnortes;65 Thomas und Katia Mann reisten für zwei Wochen von München über Augsburg nach Zürich;66 Hinrich und Agathe C. bereisten mehrere Wochen lang Hamburg, Lübeck, Kiel und Kopenhagen.67 Meistens schrieben die Menschen rückblickend über die Hochzeitsreise – und verklärten diese zu einem Idyll. Egal ob sie eine Nacht dauerte, wie bei Benekes, oder mehrere Wochen wie bei Hinrich und Agathe C., die Reisenden empfanden sie als zu kurz. Bei Elisabeth N. klang das so: Hier in dieser Einsamkeit und herrlichen Gottesnatur haben wir die ersten Tage unserer Ehe glückselig miteinander verlebt. Wir machten prächtige Waldspaziergänge und Fahrten, besahen die Stadt, kurz taten alles, wozu wir Lust hatten und ließen uns nichts abgehen […]. O, diese sonnigen Herbsttage, voll Glück und Frieden und jubelnder Dankbarkeit im Herzen, daß ich sie festhalten könnte! Gar zu bald nahmen sie ein Ende.68

Seltener sind Ego-Dokumente von der Hochzeitsreise selbst überliefert, die Beschreibung konnte dann durchaus weniger romantisch oder verklärt ausfallen, wie bei Thomas Mann, der an seinen Bruder Heinrich schrieb: »[ich] sehne mich nicht selten nach ein bischen mehr Klosterfrieden und … Geistigkeit.«69 Mit dem Ende der Hochzeitsreise begann der Alltag der Ehe, der hinausgezögert werden wollte. In einem Erinnerungsbuch für die gemeinsamen Kinder schrieb Hinrich C.: »Euer Mütterchen [Agathe C.] wollte nicht wieder nach 63 Vgl. Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (wie Anm. 9), S. 104f. Studien liegen bislang vor allem aus den Bereichen Soziologie und Ethnologie vor: Urs Keller, »›Nur du und ich‹. Schweizer Brautpaare auf Hochzeitsreise«, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 103 (2007) 1, S. 1–20; Kris Bulcroft, Linda Smeins und Richard Bulcroft, Romancing the Honeymoon. Consummating Marriage in Modern Society (= Understanding Families), Thousand Oaks, London und Neu Dehli 1999. 64 Vgl. Ferdinand Beneke, Tagebucheinträge, 09.06.1807 und 10.06.1807, in: Hatje, Smith, Bremer et al. (Hrsg.), Ferdinand Beneke, Abteilung II (wie Anm. 37). 65 Vgl. Elisabeth N., Tagebucheintrag, 06.05.1894, in: dies., Tagebuch (wie Anm. 21). 66 Vgl. Jens und Jens, Frau Thomas Mann (wie Anm. 19), S. 66f. 67 Vgl. Hinrich C., Tagebucheintrag, 27.08.1901, in: ders., Verlobungstagebuch (wie Anm. 42). 68 Elisabeth N., Tagebucheintrag, 06.05.1894, in: dies., Tagebuch (wie Anm. 21). 69 Thomas Mann, Brief an Heinrich Mann, Zürich, 18.02.1905, zit. n. Wysling, Briefwechsel 1900– 1945 (wie Anm. 20), S. 104.

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Hause, ihr graute etwas vor dem verantwortungsvollen Posten der Hausfrau.«70 Auch Ferdinand Beneke schrieb, dass die sehr kurze Hochzeitsreise »die zwey ersten Tage befreyen [sollte] von den lästigen Ceremonien etc. die auf den HochzeitTag in Hamburg folgen.«71 Nachdem ein großer Teil der Vorbereitungen bereits vor der Hochzeit getroffen worden war, vollendete sich der Zusammenzug der Eheleute nach der Heirat. Viele nahmen dies als emotionalen Moment wahr und hielten ihn in Tagebüchern fest. Ferdinand Beneke schrieb: »Wir langten in unserm Hause an. Unsre SchlafKammer von der zärtl. Mutter, und Schwester, freundlich dekorirt, nahm uns auf.«72 Zum einen deutet er an, dass er sich als Teil eines Paares wahrnahm, dem ein gemeinsames Haus gehörte. Juristisch war dies keineswegs der Fall.73 Die Erwähnung von Mutter und Schwester zeigt, dass er weiterhin dem ›ganzen Haus‹ oder dem ›erweiterten Haushalt‹ verpflichtet blieb.74 Auch Caroline Beneke blieb ihrer Ursprungsfamilie eng verbunden. So eng, dass sich ihr Mann in den ersten Ehetagen darüber echauffierte. Er schrieb: »Leider war C. schon wieder bey ihrer Mutter.«75 Auch Katia Mann besuchte in den ersten Jahren ihrer Ehe fast täglich ihre Eltern.76 Die bürgerliche ›Kernfamilie‹ des 19. Jahrhunderts sollte also keineswegs zu eng definiert werden. Denn keines der Ehepaare war nach der Heirat allein. Auch Elisabeth und Rudolf N. teilten sich eine Wohnung mit seiner ledigen Schwester.77 Zudem gab es Domestiken, die entweder ganz mit im Haushalt 70 Hinrich C., Tagebucheintrag, 27.08.1907, in: ders., Verlobungstagebuch (wie Anm. 42). 71 Ferdinand Beneke, Tagebucheintrag, 09.06.1807, in: Hatje, Smith, Bremer et al. (Hrsg.), Ferdinand Beneke, Abteilung II (wie Anm. 37). 72 Ferdinand Beneke, Tagebucheintrag, 08.06.1807, in: ebd. Benekes verbrachten die erste Nacht nach der Hochzeit daheim in Hamburg und reisten erst am folgenden Morgen in ihre kurzen Flitterwochen. 73 Rechtlich gesehen war der Mann in den meisten Fällen der Besitzer des Miet- oder Besitzvertrages. Der Ehefrau oblag die ›Schlüsselgewalt‹, um den Haushalt zu führen. Vgl. Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe (wie Anm. 35), S. 1028f. 74 Zu den verschiedenen Positionen rund um das ›ganze Haus‹ siehe Claudia Opitz, »Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ›Ganzen Hauses‹«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 20 (1994) 1, S. 88–98; Hans Derks, »Über die Faszination des ›Ganzen Hauses‹«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 22 (1996) 2, S. 221–242. 75 Ferdinand Beneke, Tagebucheintrag, 12.06.1807, in: Hatje, Smith, Bremer et al. (Hrsg.), Ferdinand Beneke, Abteilung II (wie Anm. 37). 76 Siehe Hedwig Pringsheims diverse Tagebucheinträge aus den Jahren 1905–1916, in: Cristina Herbst (Hrsg.), Hedwig Pringsheim. Tagebücher, Bd. 4: 1905–1910 und Bd. 5: 1911–1916, Göttingen 2015 und 2016. 77 Zu ledigen Verwandten im Haushalt siehe Bärbel Kuhn, Familienstand ledig. Ehelose Frauen und

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lebten oder für tägliche oder wöchentliche Arbeiten hinzukamen.78 Elisabeth N. hat im Tagebuch angedeutet, wie schwer es sein konnte, sich als junge Ehefrau im eigenen Haushalt zu etablieren. Sie schrieb über ihre »Magd […] eine ältere, perfekte, die schon bei meiner Schwiegermama gedient hatte. Aber gerade das machte mirs am Anfang etwas schwer, selbst Herrin zu werden.«79 Karl Hegel hatte versucht für solche Fälle bereits vor der Hochzeit vorzusorgen. Er hatte viel Mühe investiert, damit sich seine Braut in Rostock – weit weg von Familie, Freunden und Heimat – wohl fühlen sollte. Er hatte sie auf die räumliche Veränderung in ihrem Leben vorbereitet, indem er seinen Lebensstil, die Freunde und das Klima in seinen Briefen beschrieben hatte. Außerdem hatte er sie an seinen Entscheidungen, die Wohnsituation des Paares betreffend, trotz der Distanz, teilhaben lassen. Er hatte zudem bei befreundeten Damen Rat gesucht, als er die Wohnung einrichtete.80 Wenige Monate nach der Hochzeit soll Susanna Maria Hegel in einem Brief an ihre Eltern bestätigt haben: […] ich dachte nie, daß ich fern von Euch, von der Heimat, so glücklich sein könnte. Alles, die Menschen, die äußere Umgebung, die Verhältnisse, alles erscheint mir lieb und angenehm in der Liebe für meinen Karl, die alles durchdringt und beseelt.81

So beschrieben wirkte das junge Eheleben der Hegels, auch räumlich, wie ein ›Happy-End‹. Allerdings sind nur Quellen des Ehemanns aus der Ehezeit überliefert. Selbst der oben zitierte Brief seiner Frau bezieht sich auf eine von ihm überlieferte Abschrift in seinem später verfassten Gedenkbuch.82 Ob Susanna Maria Hegel die erste Zeit ihrer Ehe ähnlich positiv erinnert hätte, ist ungewiss. Für Frauen bedeutete im 19. Jahrhundert der Beginn der Ehe das Ende einer hochmobilen Phase im Leben. Sie sollten jetzt ›sesshaft werden‹ und die Ehe sollte zum »Fixpunkt im Leben«83 werden. Elisabeth N. drückte Unbehagen über die neue Situation aus, als sich ihr Mann wenige Tage nach der HochzeitsMänner im Bürgertum (1850–1914) (= L’Homme Schriften 5), Köln, Weimar und Wien 2000, S. 46f. 78 Siehe Dagmar Müller-Staats, Klagen über Dienstboten. Eine Untersuchung über Dienstboten und ihre Herrschaften, Frankfurt am Main 1987; Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin und Bonn 1987. 79 Elisabeth N., Tagebucheintrag, 06.05.1894, in: dies., Tagebuch (wie Anm. 21). 80 Vgl. Karl Hegel, Brief an Susanna Maria von Tucher, Rostock, 01.12.1849, zit. n. Neuhaus, Brautbriefe Karl Hegels (wie Anm. 33), S. 39. Die Skizzen sind auf S. 41 in ebd. abgebildet. 81 Zit. n. Helmut Neuhaus, Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar und Wien 2013, S. 168. 82 Zur einseitigen Überlieferung weiblicher Biographien durch Männer siehe Yvonne M. Ward, Censoring Queen Victoria. How Two Gentlemen Edited a Queen and Created an Icon, London 2013. 83 Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (wie Anm. 9), S. 125.

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reise »nicht länger [von der Arbeit] frei machen« konnte.84 Die Geschlechterrollen in der Ehe waren im 19. Jahrhundert normativ stark geregelt, auch was die Mobilität betraf. Nachdem die Verlobungszeit eine hochmobile Phase gewesen war, wurde die Ehe, insbesondere für Frauen, oft zum Gegenteil. Die Männer gingen nach der Hochzeit wieder ihrer Arbeit nach, häufig außer Haus, außerdem gingen sie auf Dienstreisen. Frauen hingegen reisten nach der Hochzeit seltener als Männer, mit Ausnahme von Reisen zur Kur oder in Familienangelegenheiten.85 Dabei hatte sich Martha Bernays gegen solch eine Entwicklung gesträubt. Sie schrieb ihrem Verlobten Sigmund Freud: »Was fällt Dir ein? Glaubst Du, ich lasse Dich allein reisen, wenn ich erst Deine Frau bin?«86 Vielleicht waren Caroline Benekes und Katia Manns häufige Besuche in ihren Elternhäusern kein Zeichen von mangelnder Ablösung vom Elternhaus nach der Hochzeit, sondern der Versuch in der Ehe einen Grad der Eigenständigkeit und Mobilität zu erlangen, die ihren Männern qua Geschlecht zustanden. Fazit

Mit dem gesellschaftlichen Wandel der Geschlechterrollen und der Ehe im 20.  Jahrhundert,87 änderten sich auch die Möglichkeiten von Männern und Frauen, mobil zu sein. Zwar bleibt das junge Erwachsenenalter eine Zeit, in der Menschen besonders mobil sind und sich räumlich verändern, doch hängt dies nicht mehr (unbedingt) mit einer Verlobungszeit oder Heirat zusammen. Auch der Topos des ›Sesshaft-werdens‹ hat einen Bedeutungswandel erlebt, seit Ehen häufiger geschieden werden und die Formen der Familie sich pluralisieren.88 Die Mobilität einer Paarbeziehung hat sich von der Verlobungszeit entkoppelt, le84 Elisabeth N., Tagebucheintrag, 06.05.1894, in: dies., Tagebuch (wie Anm. 21). 85 Vgl. Inge Jens und Walter Jens, Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. Die Südamerika-Reise der Hedwig Pringsheim 1907/08, Reinbek 2006; Annette C. Cremer, Anette Baumann und Eva Bender (Hrsg.), Prinzessinnen unterwegs. Reisen fürstlicher Frauen in der Frühen Neuzeit (= Bibliothek Altes Reich 22), Berlin und Boston 2018. 86 Martha Bernays, Brief an Sigmund Freud, o. O., 09.11.1884, zit. n. Fichtner, Grubrich-Simitis und Hirschmüller, Sigmund Freud und Martha Bernays (wie Anm. 27), S. 93. Es kam leider anders. Die Ehe der Freuds war nicht sonderlich glücklich und Sigmund Freud reiste häufig in Begleitung anderer. Vgl. Franz Maciejewski, Freud in Maloja. Die Engadiner Reise mit Minna Bernays, Berlin 2008. 87 Vgl. Rüdiger Peuckert, Das Leben der Geschlechter. Mythen und Fakten zu Ehe, Partnerschaft und Familie, Frankfurt am Main und New York 2015; Manfred Kersten, Ehe und Familie im Wandel der Geschichte. Wie sich die Institutionen Ehe und Familie in den Jahrhunderten verändert haben, Aachen und Heimbach Eifel 2012. 88 Vgl. Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8. Aufl., Wiesbaden 2012.

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diglich die Hochzeitsreise ist im Zusammenhang mit der Heirat als Anspruch und Mobilitätsmoment bestehen geblieben. Im 19. Jahrhundert stellte, das hat diese Untersuchung des Mobilitätsaspekts der Verheiratung gezeigt, die Verlobungszeit eine intensive mobile Phase im Leben beider Geschlechter dar. Beide Partner mussten flexibel und mobil sein, um eine Ehe einzugehen. Das konnte anstrengend sein, zu Unbehagen oder Streit führen, war aber zugleich aufregend, interessant und brachte beide Partner aus ihren Komfortzonen heraus und konnte räumliche sowie emotionale Nähe schaffen. Während die Verlobungszeit von vielen gesellschaftlichen Normen eingegrenzt war, so war die Ausgestaltung der heiratsbedingten räumlichen Veränderungen von Paar zu Paar verschieden. Frauen – junge Verlobte oder Mütter und Schwiegermütter – so das Fazit, wurden gesellschaftlich stark eingeschränkt, verfügten jedoch auch über Handlungsspielräume. Insbesondere der Funktion, der Wahrnehmung und den Praktiken der Schwiegermütter sollte in künftiger Eheforschung mehr Beachtung geschenkt werden. Tabelle 1 Vorstellung der untersuchten Paare (chronologisch nach Heiratsdatum) Ferdinand Beneke (1774–1848) und Caroline von Axen (1788–1865), Verlobung 1806, Heirat 1807 (beide Hamburg*) Friedrich Rückert (1788–1866) und Luise Wiethaus-Fischer (1797–1857), Verlobung und Heirat 1821 (Ebern, Coburg) Karl Hegel (1813–1901) und Susanna Maria von Tucher (1826–1878), Verlobung 1849, Heirat 1850 (Rostock, Nürnberg) Otto Magnus (1836–1920) und Sophie Isler (1840–1920), Verlobung und Heirat 1867 (Braunschweig, Hamburg) Sigmund Freud (1856–1939) und Martha Bernays (1861–1951), Verlobung 1882, Heirat 1886 (Wien, Hamburg) Rudolf N. (1864–1932) und Elisabeth C. (1869–1951), Verlobung und Heirat 1893 (Stuttgart, Cannstatt) Hinrich C. (1871–1945) und Agathe H. (1878–1906), Verlobung und Heirat 1901 (Emden, Loppersum) Thomas Mann (1875–1955) und Katia Pringsheim (1883–1980), Verlobung 1904, Heirat 1905 (beide München)

*Angegeben sind jeweils die Wohnorte der Verlobten (wenn beide in derselben Stadt lebten, ist diese nur einmal genannt); der nach der Heirat gewählte gemeinsame Wohnort ist unterstrichen. Quellen: Alle Angaben finden sich in den folgenden Anmerkungen: Benekes (Anm. 37), Rückerts (Anm. 50, 51), Hegels (Anm. 33, 81), Magnus’ (Anm. 28), Freuds (Anm. 26, 27), N.s (Anm. 21), C.s (Anm. 42), Manns (Anm. 19).

Viola Herbst (München)

»Und so heißt es dann – aber das weiß eben noch ­niemand – wieder weiter ziehen.«1 Zur residentiellen Mobilität der Musikschriftstellerin Elise Polko (1823–1899) in ihrer Witwenschaft

»Vor einer Woche verlor ich plötzlich, nach einer Krankheit von nur vier Tagen meinen Mann. Der Schlag hat mich fast betäubt.«2 Eduard Polko war am 5. Februar 1887 im Alter von 67 Jahren in Deutz verstorben. Seine Frau Elise Polko, mit der er fast 40 Jahre verheiratet war, blieb, wie der obige Briefauszug mitteilt, fassungslos und wie erstarrt zurück. Sie war von einem auf den anderen Tag zur Witwe geworden. Was bedeutete es, sich plötzlich im Status der Witwenschaft zu befinden, und welche Konsequenzen hinsichtlich ihrer Mobilität zog dieser Einschnitt mit sich? Aspekte der Witwenforschung: Neue Freiräume und veränderte Wohnsituationen

Die Witwenschaft ist in den vergangenen Jahren vermehrt zum Gegenstand historischer und kulturwissenschaftlicher Forschung geworden, wobei der zeitliche Fokus hierbei zumeist auf der Frühen Neuzeit liegt.3 Eine Ausnahme davon bilden die Studien von Ursula Machtemes die sich mit Bildungsbürgerlich[n] Witwen im 19. Jahrhundert beschäftigt, und von Ute Dieckhoff, die in ihren Un1 2

Elise Polko, Brief an Hans Bronsart von Schellendorf, Hannover, 25.10.1887, D-DM, Atg. 5900. Elise Polko, Brief an Julius Grosse, Deutz, 03.03.1887, D-WRgs, Personenakte Polko, Schillerstiftung, GSA 134/61,4, Blatt 13–21. Der Schriftsteller Julius Grosse war Generalsekretär der Schillerstiftung, bei der Elise Polko mit ihrem Schreiben um finanzielle Unterstützung bat. 3 Britta-Juliane Kruse, Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Berlin und New York 2007; Martina Schattkowsky (Hrsg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 6), Leipzig 2003; Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt am Main und New York 2006. Siehe auch Sylvia Hahn und Gesa Finke sowie Anna Langenbruch (Fachherausgeberin), Artikel »Witwe/r«, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hrsg. von Friedrich Jaeger, online veröffentlicht 2019, http://dx.doi.org/10.1163/23520248_edn_COM_384269, abgerufen am 08.01.2021.

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tersuchungen zur Geschichte der Witwenversorgung ebenfalls das späte 19. Jahrhundert und damit die für die Beschäftigung mit der Witwenschaft Elise Polkos relevante Zeit mit einschließt.4 Weitestgehend im 19. Jahrhundert, aber zeitlich durchaus auch darüber hinaus bewegt sich die musikwissenschaftliche Forschung zum Witwenstatus, die sich dabei vor allem in Einzelbetrachtungen für Witwen von Komponisten interessiert.5 Es liegt auf der Hand, dass Vergleiche zwischen unterschiedlichen Zeiten und Gesellschaftsformen nicht unproblematisch sind. So zeigt sich denn auch, dass sich allgemeingültige Aussagen über Witwen nur bedingt benennen lassen, oder wie Martina Schattkowsky es formuliert: Das Thema »Witwenschaft« sperrt sich hartnäckig gegen Typisierungsversuche: Je nach Zeit, Region, Rechtskultur, Sozialstatus, finanzieller Situation und persönlicher Prägung gestalten sich die Lebensumstände von Witwen trotz gemeinsamer Erfahrung des Todes des Ehemannes höchst unterschiedlich.6

Der von ihr herausgegebene Sammelband Witwenschaft in der Frühen Neuzeit widmet sich ausschließlich adeligen Witwen, doch selbst bei der Fokussierung auf diesen eingeschränkten Personenkreis und einen bestimmten Zeitabschnitt erweist sich die Witwenschaft als äußerst facettenreiches Phänomen. Auch Ulrich Konrad hält in seinem Artikel zu Komponistenwitwen fest, dass »Komponistenfrauen […] so verschiedenartig wie Komponisten [sind], sodass es ihrer jeweiligen Individualität zuwiderliefe, sie am Ende umstandslos auf einen Einheitstyp von Komponistenwitwe reduzieren und egalisieren zu wollen.«7 Gibt es dennoch generelle Aspekte, die sich in Bezug auf Witwenschaft formulieren lassen? Über die Grenzen eines Standes hinaus und gewissermaßen zu allen Zeiten war gerade die Frage nach der Existenzsicherung für viele Witwen eine äußerst dringliche und letztlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der man sich in den vergangenen Jahrhunderten auf unterschiedliche Weise stellte, 4 Ursula Machtemes, Leben zwischen Trauer und Pathos: Bildungsbürgerliche Witwen im 19. Jahrhundert, Osnabrück 2001; Ute Dieckhoff, Zwischen Almosen und Versicherung. Untersuchungen zur Geschichte der Witwenversorgung (1500–1900), Darmstadt 2017. 5 Siehe etwa Gesa Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten, Köln, Weimar und Wien 2013; »Thema – Komponistenwitwen«, in: Die Tonkunst 8 (2014) 4, S. 474–549; Daniel Ender, Martin Eybl und Melanie Unseld (Hrsg.), Erinnerung stiften. Helene Berg und das Erbe Alban Bergs, Wien 2018. 6 Martina Schattkowsky, »Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Einführung«, in: Witwenschaft in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 3), S. 11–32, hier: S. 11. 7 Ulrich Konrad, »Komponistenwitwen. Im Allgemeinen, und im Besonderen: Constanze Mozart«, in: Die Tonkunst 8 (2014) 4, S. 474–486, hier: S. 476.

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wie Ute Dieckhoff in ihrer Untersuchung zur Geschichte der Witwenversorgung darlegt.8 Dass eine Witwe »ausnahmsweise keiner männlichen Autorität unterstellt war«9, wie Gesa Finke konstatiert, kann ebenfalls als allgemeingültig verstanden werden. Witwen standen – auch hinsichtlich der Notwendigkeit ihrer Existenzsicherung – mitunter Handlungsspielräume offen, welche ledigen oder verheirateten Frauen verwehrt waren. So bringen die Biografien von adeligen Witwen in der Frühen Neuzeit ganz unterschiedliche Handlungsfelder zum Vorschein: Diese Witwen betätigten sich unter anderem als Vormundschaftsregentin, Herrin oder Verwalterin eines Witwenhofes.10 Zu den Witwenprivilegien nicht-adeliger Frauen dieser Zeit gehörte es, dass diese im Sinne ihrer verstorbenen Ehemänner vor allem handwerkliche Betriebe aufrechterhalten und als deren Stellvertreterinnen fungieren durften, wie Susanne Rode-Breymann am Beispiel der Nürnberger Druckerin Katharina Gerlach (ca. 1520–1591) beleuchtet.11 Einen Zugewinn an Handlungsspielräumen konnte auch Ursula Machtemes für die von ihr betrachteten bildungsbürgerlichen Witwen ausmachen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrem neuen Status arrangieren mussten: »In der rückblickenden Betrachtung der Lebenssituation bürgerlicher Frauen erscheint der Witwenstatus deshalb als befreiend«, so Ursula Machtemes, »da er prinzipiell die Möglichkeit barg, eigene Zielvorstellungen und Wünsche zu entwickeln, zu artikulieren und durchzusetzen.«12 Dass sich in der bürgerlichen Gesellschaft für Witwen neue Handlungsspielräume öffneten, die im Zusammenhang mit dem Beruf des Verstorbenen standen, ist auch dahingehend interessant, da die Eheleute dem bürgerlichen Ideal nach kein Arbeitspaar, sondern ein Liebespaar waren und Familie und Arbeit auch räumlich voneinander getrennt waren. Somit konnte die Witwe ihren verstorbenen Mann beruflich im Grunde nicht vertreten. Gerade das bürgerliche Ehemodell ermöglichte jedoch in einigen Fällen eine neue Form der Stellvertretung, wie auch Gesa Finke in ihrer Studie zur Komponistenwitwe Constanze Mozart (1762– 1842) darlegt. Letztlich legitimierte Constanze Mozart ihre Tätigkeit als Nachlassverwalterin über ihren Witwenstatus.13 Neben den juristischen Freiheiten und Handlungsspielräumen, die exklusiv Frauen in dieser Lebenssituation zustanden, gab es auch ganz konkrete Räume,   8 Vgl. Dieckhoff, Zwischen Almosen und Versicherung (wie Anm. 4), S. 13.  9 Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart (wie Anm. 5), S. 11. 10 Vgl. Schattkowsky, »Witwenschaft in der Frühen Neuzeit« (wie Anm. 6), Leipzig 2003, S. 21. 11 Vgl. Susanne Rode-Breymann, »Wer war Katharina Gerlach? Über den Nutzen der Perspektive kulturellen Handelns«, in: Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt (= Musik – Kultur – Gender 3), hrsg. von Susanne Rode-Breymann, Köln, Weimar und Wien 2007, S. 269–285. 12 Ursula Machtemes, Leben zwischen Trauer und Pathos (wie Anm. 4), S. 9. 13 Vgl. Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart (wie Anm. 5), S. 10.

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die Witwen vorbehalten waren. Der bereits erwähnte Begriff des Witwenhofes, auf dem eine adelige Witwe in der Frühen Neuzeit residierte, weist darauf hin, dass mit dem Eintritt in die Witwenschaft zumeist ein Wohnsitzwechsel oder zumindest eine Modifizierung der bisherigen Wohnsituation einherging. Für verwitwete Mütter, die nicht dem Adel angehörten, bot sich der Forschung zur Frühen Neuzeit zufolge die Altersversorgung durch ihre Kinder an. So übereignete manch eine Witwe ihren Kindern ihr Haus, behielt aber ein Wohnrecht inne, andere Witwen wurden in die Haushalte ihrer Kinder mit eingebunden – Arrangements, die zum Teil schon in den Eheverträgen festgelegt wurden.14 Ein Großteil der Witwen allerdings lebte zur Miete in der Stadt.15 Im Laufe des 19. Jahrhunderts war das Wohnen zur Miete gewissermaßen zum Normalzustand geworden, nicht nur für Witwen. Immer weniger Familien waren Eigentümer von Wohnraum, stattdessen wohnten sie gerade in den mittleren und größeren Städten zur Miete. Dabei waren es nicht nur Mitglieder der Arbeiterklasse, sondern auch des Bürgertums und darunter zum Beispiel Beamte und Beamtinnen, die eine Mietwohnung ihr Zuhause nannten.16 Elise Polko als Witwe: Berufliche Kontinuität und zwingender Umzug

Auch Elise und Eduard Polko lebten bis zum 5. Februar 1887 gemeinsam in einer Mietwohnung in Deutz. An diesem Tag musste der Portier Johann Joseph Sauerländer allerdings beim Standesamt einen Sterbefall anzeigen. Der zuständige Standesbeamte setzte daraufhin eine Sterbeurkunde auf, in der er festhielt, »daß der Eisenbahn-Betriebs-Inspector Eduard Polko, Ehegatte der zu Deutz wohnenden geschäftslosen Elise Polko […] verstorben sei.«17 Die Ehefrau des Verstorbenen war dem Dokument zufolge geschäftslos, das heißt »ohne feste berufliche Stellung, Aufgabe.«18 Diese Angabe war durchaus korrekt, verschleiert aber, dass Elise Polko während ihrer Ehe immer gearbeitet und Geld verdient hatte. Sie war das, was man heute als selbstständig bezeichnen würde. Bis zu 14 Vgl. Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 3), S. 128–137. 15 Vgl. Dieckhoff, Zwischen Almosen und Versicherung (wie Anm. 4), S. 14. 16 Vgl. Friederike Quaisser, Mietrecht im 19. Jahrhundert (= Rechtshistorische Reihe), Frankfurt am Main 2005, S. 21. 17 Personenstandsarchiv Rheinland-Pfalz, Personenstandsregister, Standesamt Deutz, Sterbefälle, 1887, Bd. 1, Nr. 0044. 18 Siehe hierzu Dorothee Schröter, Artikel »geschäftslos«, in: Goethe-Wörterbuch, Bd. 4 (Geschäft – inhaftieren), hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stuttgart u. a. 2004, Sp. 9.

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ihrer Hochzeit im Juni 1848 war Elise Polko, geborene Vogel, Sängerin und hatte unter anderem Engagements am Leipziger Gewandhaus und einige Gastauftritte in der Oper in Frankfurt am Main. Diesen Beruf übte sie als Ehefrau nicht mehr aus, trat aber noch gelegentlich als Konzertsängerin in Erscheinung. Elise Polko machte sich stattdessen ab den 1850er-Jahren als Schriftstellerin einen Namen und erlangte vor allem mit ihren unterhaltsamen Texten wie den Musikalischen Märchen, Phantasien und Skizzen19 einen hohen Bekanntheitsgrad. Sie schrieb zahlreiche Romane, Novellen und biografische Skizzen und bearbeitete dabei hauptsächlich musik- und kunsthistorische Stoffe.20 Viele ihrer Texte veröffentlichte Elise Polko in der Presse wie etwa in der vielfach rezipierten Musikzeitschrift Signale für die musikalische Welt, für die sie zeitweilig auch von aktuellen Musikereignissen berichtete. Das öffentliche Vorlesen war ein weiteres Handlungsfeld, das Elise Polko sich erschließen konnte. Auch als Witwe ging Elise Polko diesen Tätigkeiten nach. Eine Stellvertreterinnenschaft für ihren verstorbenen Mann oder die Arbeit als Nachlassverwalterin, wie sie sich unter anderem für Komponistenwitwen anbot, kam dagegen nicht in Frage: Eduard Polko hatte, wie auch in der Sterbeurkunde vermerkt wurde, als Betriebsinspektor für die Bahn gearbeitet. Einen wie auch immer gearteten Nachlass – sei es in Form von Immobilien oder Wertgegenständen –, den Elise Polko hätte pflegen und unter ökonomischen Gesichtspunkten weiterverwerten können, gab es nicht. Nicht nur das: Eduard Polko vermachte seiner Frau Schulden und ließ sie gewissermaßen unversorgt zurück.21 Insofern musste Elise Polko auch als Witwe arbeiten beziehungsweise sie musste es sogar in erhöhtem Maße tun, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.22 Eine zwingende Veränderung hatte Elise Polko hinsichtlich ihrer Wohnsituation zu erwarten. Die Wohnung, welche sie mit ihrem Mann in Deutz gemietet hatte, war eine Dienstwohnung, die Eduard Polko durch seine Anstellung als Betriebsinspektor bei der Bahn zugestanden hatte. In dieser Wohnung durfte 19 Elise Polko, Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen, Leipzig 1852. 20 Siehe hierzu Sigrid Nieberle, Artikel »Polko, Elise«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart und New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 2005, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/27976, abgerufen am 14.12.2020; Viola Herbst, Artikel »Elise Polko«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hamburg 2003ff., http://mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Elise_Polko, Stand vom 17.04.2018, abgerufen am 14.12.2020. 21 Vgl. Elise Polko, Brief an Julius Grosse, Deutz, 03.03.1887 (wie Anm. 2). 22 Zum kulturellen Handeln unter sich verändernden Umständen und der Gestaltung alternativer Berufs- und Lebenswege siehe auch die Dissertation von Viola Herbst, »Mit losgebundenen Flügeln«. Zur Mobilität im Leben der Sängerin und Musikschriftstellerin Elise Polko (= Studien zu Musik und Gender), Berlin 2022.

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Elise Polko nach dem Tod ihres Mannes nur zwei weitere Monate bleiben.23 Wie und wo würde Elise Polko nun wohnen? Ihr einziger Sohn Walter Polko war wenige Jahre zuvor im Alter von 31 Jahren gestorben und hatte keine eigene Familie gegründet, zu der Elise Polko hätte ziehen können. Bei anderen Familienmitgliedern zu wohnen, kam für Elise Polko offensichtlich nicht in Frage. Die 64-jährige Witwe wollte sich eine eigene Wohnung zur Miete suchen.24 Zur residentiellen Mobilität bei Elise Polko als Tochter und Ehefrau

Was die Wahl ihres Wohnortes betraf, so standen Elise Polko als Witwe gewissermaßen alle Türen offen. Das war bislang nie der Fall gewesen: Elise Polko war die Tochter von Carl Vogel, der als Lehrer in einer Schule auf Wackerbarthsruhe bei Radebeul arbeitete und wohnte. Dort kam Elise Polko 1823 auf die Welt. Als die Schule aus finanziellen Gründen geschlossen werden musste, zog die Familie 1824 zunächst nach Torgau und 1825 nach Krefeld, wo Carl Vogel das Amt des Rektors der höheren Stadtschule bekleidete. 1832 übernahm er schließlich die Leitung der Bürgerschule in Leipzig. Hier befand sich bis zu ihrer Hochzeit im Sommer 1848 der Hauptwohnsitz von Elise Polko. Ihr Ehemann Eduard Polko arbeitete für die 1843 gegründete Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft, welche vor allem das Ruhrgebiet verkehrstechnisch erschloss und diesem dadurch zum wirtschaftlichen Aufschwung verhalf. Im Laufe seines Arbeitslebens wurde Eduard Polko mehrmals versetzt und musste mit seiner Familie umziehen: Das Ehepaar Polko lebte zunächst in Ruhrort bei Duisburg, zusammen mit dem Sohn Walter für viele Jahre in Minden, einige Zeit in Wetzlar und zuletzt in Deutz am Rhein. Es gab in Elise Polkos Leben seit ihrer Geburt bis zum Tod ihres Ehemannes demnach mehrere Wohnortwechsel. Diese Art der räumlichen Bewegung über eine Gemeindegrenze hinaus lässt sich unter den Begriff der residentiellen Mobilität fassen.25 In Abgrenzung dazu existiert der Begriff der zirkulären Mobilität: Dieser greift beispielsweise für Elise Polkos Aufenthalt in Paris, wo sie sich 23 »Die Dienstwohnung, ein liebes, künstlerisch ausgeschmücktes Heim, bewohne ich noch bis Mai«. Elise Polko, Brief an Julius Grosse, Deutz, 03.03.1887 (wie Anm. 2). 24 So erkundigte sich Elise Polko nach Mietpreisen in Weimar (siehe Elise Polko, Brief an Leontine Rohlfs, Hannover, [1887], Rohlfs-Archiv im Heimatmuseum Schloss Schönebeck, Bremen, 22.104) oder berichtete Hans Bronsart von Schellendorf nach dem Tod ihres Mannes von ihren Plänen (»Ich miethe mir eine Wohnung im Grünen u. bin fleißig«, Elise Polko, Brief an Hans Bronsart von Schellendorf, Hannover, 25.10.1887, D-DM, Atg. 5900). 25 Vgl. Gunter E. Zimmermann, Artikel »Räumliche Mobilität«, in: Handwörterbuch der Gesellschaft Deutschlands, hrsg. von Bernhard Schäfers und Wolfgang Zapf, 2. Aufl., Wiesbaden 2001, S. 529–

Zur residentiellen Mobilität der Musikschriftstellerin Elise Polko

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die ersten Monate des Jahres 1848 zu Studienzwecken befand. Ihr Hauptwohnsitz lag allerdings seinerzeit weiterhin in Leipzig, wohin sie im Anschluss an die Reise zurückkehrte. Der Streifzug durch die verschiedenen Wohnorte von Elise Polko macht folgendes deutlich: Die Umzüge bis zu ihrer Hochzeit hingen mit ihrem Vater beziehungsweise dessen Beruf zusammen. Auslöser für die Umzüge seit ihrer Hochzeit war der Beruf ihres Mannes. Gerade die Versetzungen von Eduard Polko belasteten sie mitunter sehr und es fiel ihr immer wieder schwer, sich mit ihren jeweiligen neuen Wohnorten anzufreunden. Als Witwe war Elise Polko nun erstmals keiner anderen (männlichen) Autorität unterstellt, von der abhängig war, wo sie leben sollte. Die Wahl des Wohnortes als Privileg der Witwenschaft von Elise Polko

Die Witwenschaft wurde für Elise Polko zu einer Zeit hoher Mobilität. Es gibt von ihr keinen zusammenhängenden Nachlass, jedoch sind viele Briefe erhalten, die Elise Polko einst verfasst hat und die sich heute verstreut in verschiedenen Archiven befinden.26 Anhand von Briefen, die Elise Polko direkt nach dem Tode ihres Mannes an unterschiedliche Adressatinnen und Adressaten schickte, lässt sich zeigen, dass sie begann, verschiedene Orte in die engere Wahl zu ziehen und auszuloten, um sich schlussendlich und für die heutigen Betrachterinnen und Betrachter überraschend für einen zuvor gar nicht erwähnten Wohnort zu entscheiden. Dort, wo Elise Polko zur Witwe wurde, wollte sie auf keinen Fall bleiben, »da ich es ja in Köln-Deutz, wo ich so Entsetzliches erlebt, nicht aushielt.«27 Es kamen verschiedene Städte für Elise Polko in Frage – in keiner dieser Städte hatte sie bisher gewohnt. Im März 1887 fasste sie Düsseldorf oder Dresden ins Auge: »Mein Plan ist für die nächste Zukunft mich in Düsseldorf oder Dresden niederzulassen«,28 wie sie Julius Grosse von der Schillerstiftung wissen ließ, ohne näher auszuführen, weswegen sie diese Städte ausgewählt hatte. Im April schien sie sich für eine andere Destination entschieden zu haben: »Ich siedle, so Gott will, nach Kassel über«29. Auch in diesem Fall begründete sie die Entscheidung

26 27 28 29

538; Michael Knoll, Rolf Kreibich, Roland Nolte et al., Mobilität und Wohnen (= Werkstattberichte IZT, Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung 61), Berlin 2003, S. 19f. Siehe hier z. B. die Einträge unter der Suchanfrage »Polko, Elise« im Kalliope-Verbundkatalog und eine Übersicht der Autografen im Anhang der Studie von Viola Herbst (wie Anm. 22). Elise Polko, Brief an Leontine Rohlfs, 1887, Heimatmuseum Schloss Schönebeck, Bremen, Archiv Gerhard Rohlfs (Nachlass), 22.104. Elise Polko, Brief an Julius Grosse, Deutz, 03.03.1887 (wie Anm. 2). Elise Polko, Brief an [Fräulein] Brassel/Brossel, Deutz, 22.04.1887, D-Sl, cod. hist. 4°678, 3 Kaps.

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nicht. Letztlich wurde es allerdings weder Düsseldorf, noch Dresden oder Kassel, sondern Hannover: Durch den so rasch erfolgten Tod meines Mannes in gewissen Sinne heimathlos geworden, bin ich, den Bitten lieber Freunde folgend, nach Hannover übergesiedelt, u. eben in der erschöpfenden Arbeit des Umzugs u. der Einrichtung meines neuen Heims.30

Dass sie sich letzten Endes für Hannover entschieden hatte, erklärte Elise Polko damit, dass ihr, wie sie im Brief anführt, verschiedene Freunde dazu geraten hätten, ohne näher darauf einzugehen, welche Gründe es diesen zufolge für einen Umzug nach Hannover geben könnte. Schon nach kurzer Zeit bekam sie offenbar Zweifel, ob sie mit diesem Wohnsitz eine gute Wahl getroffen hatte, wie sie ihrer Bekannten Leontine Rohlfs mitteilte. Womöglich hatte Elise Polko aber einen Mietvertrag über ein Jahr abgeschlossen,31 sodass sie noch abwarten musste, bevor sie weiterziehen konnte: Ich glaube aber nicht, daß ich es hier länger als ein Jahr aushalte – es ist ein unsagbar kaltes nüchternes großes Nest u. kein sympathischer Menschenschlag. Meine vier Wände habe ich mir freilich sehr behaglich u. künstlerisch aufgebaut. […] Wissen Sie, was ich ernstlich hin u. her überlege, Liebste, – nach Weimar überzusiedeln, wenn ich hier mein Jahr ›abgesessen‹ habe. Der liebe Bronsart, auf den ich bei meiner Übersiedlung hierher, mich so gefreut, zieht ja auch in die Musenstadt [Weimar].32

Als die Polkos zwischen 1852 und 1876 in Minden wohnten, war Elise Polko immer wieder mit dem Zug nach Hannover gefahren, nicht zuletzt, um dort ins Theater zu gehen und ihre Freunde, die Familie von Hans Bronsart von Schellendorf, zu treffen. Im selben Jahr, als Elise Polko nach Hannover übersiedelte, ging dieser allerdings nach Weimar, um dort die Generalintendanz des Hoftheaters zu übernehmen. Auch ihre Bekannten Gerhard und Leontine Rohlfs wohnten seinerzeit in Weimar, und so erkundigte sich Elise Polko im September 1887 von Hannover aus über die Wohnungslage in Weimar und erfragte, ob sich Leontine Rohlfs einmal für sie umschauen könne: Ich gebe unendlich viel auf meine vier Wände! Gas will ich nicht, nur Wasserleitung. In zweiter Etage, nicht höher, Balkon ersehnt. Blick in’s Grüne erwünscht. Sonst Garten – 30 Elise Polko, Brief an einen »unbekannten jungen Freund«, Hannover, o. D., D-HVs o. Sign. Hervorhebung im Original. 31 Es gab seinerzeit für die Dauer eines Mietverhältnisses keine gesetzliche Regelung. Mietverträge konnten sowohl auf eine bestimmte Laufzeit als auch auf unbefristete Zeit festgelegt werden. Mitunter wurde ein Jahresmietpreis vereinbart. Vgl. Quaisser, Mietrecht im 19. Jahrhundert (wie Anm. 16), S. 138 und S. 161. 32 Elise Polko, Brief an Leontine Rohlfs, Hannover, [1887] (wie Anm. 24). Hervorhebung im Original.

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oder Terrasse. Ist die Wohnung schön – dann ertrage ich alles. Nur um die Welt nicht niedrig! Abgeschlossener hübscher Vorplatz natürlich. Sogenanntes herrschaftliches Haus. Eine einsame Dame muss alles sehen. Also – Liebste, glauben Sie bis July – August – so etwas zu finden? Wir haben Zeit!33

Ende Oktober 1887 schrieb Elise Polko einen Brief an die Bronsarts nach Weimar. Allerdings war hier von einem möglichen Umzug ihrerseits nach Weimar keine Rede mehr: Bronsarts nicht mehr hier – auf die ich mich allein gefreut – – que faire alors?! – – Dazu kommt daß ich weder die 3 ½ Treppen Schwalbenthurms [so nannte Elise Polko ihre Wohnung in Hannover], noch das Klima hier – das äußere u. innere – vertrage. Und so heißt es dann – aber das weiß eben noch niemand – wieder weiter ziehen. Ich glaube, daß ich mein Schifflein in Potsdam vor Anker lege – im nächsten Juni – ich bin dann doch in der Nähe meines Bruder [Hermann Carl Vogel], – des hochgelehrten Directors des Astronomischen Instituts auf dem Telegraphenberge. Ich miethe mir eine Wohnung im Grünen u. bin fleißig. Berlin mit all den Freunden ist nahe, u. doch bin ich vor dem ruhelosen Treiben dort geschützt.34

Tatsächlich zog Elise Polko weder nach Weimar noch nach Potsdam, sondern siedelte nach Wiesbaden über, wo sie von 1889 bis 1894 lebte. Als die 71-Jährige Wiesbaden nach Ablauf ihres Mietvertrages verlassen konnte, wollte sie unbedingt diese Möglichkeit wahrnehmen, denn die Stadt war ihr zu teuer geworden. Dabei war sie offenbar noch unentschlossen, wohin sie gehen würde – »ob nach Frankfurt oder Karlsruhe, um an einem schönen billigeren Fleckchen mein Traumeckchen wieder einzurichten.«35 Schließlich zog sie im Oktober 1894 nach Frankfurt am Main: Ich wohne nun in dem großen Frankfurt, dem schönen Thor nach dem ersehnten Süden, u. bin glücklich, dem immer theurer werdenden, öden, klatschsüchtigen Wiesbaden entflohen zu sein. Ich werde still arbeiten hier wie immer, – ich bleibe überall die Einsiedlerin, aber ich kann hier zu jeder Zeit liebe Menschen haben, u. die Wellen der großen Stadt schlagen an meine Füße.36

33 Ebd. Hervorhebung im Original. 34 Elise Polko, Brief an Hans Bronsart von Schellendorf, Hannover, 25.10.1887, D-DM, Atg. 5901. Der im Brief erwähnte Bruder war der Astrophysiker und Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam Hermann Carl Vogel (1841–1907). 35 Elise Polko, Brief an Konsul Ott in Würzburg, Wiesbaden, 22.08.1894, D-DM, Atg. 4637. 36 Elise Polko, Brief an Familie Ferdinand Hiller, Frankfurt am Main, 23.10.1894, D-DM, Atg. 2586. Hervorhebung im Original.

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Elise Polko traf sich in Frankfurt unter anderem mit Jakob Friedrich Nicolas Manskopf, der eine große Sammlung von Musikalien und Manuskripten aus der Musikwelt angelegt hatte, welche Elise Polko zu neuen Geschichten inspirierte. Dennoch verflog ihre anfängliche Begeisterung für die Stadt mit der Zeit. Sie fühlte sich »so namenlos unglücklich«37 in Frankfurt, wo ihrer Erfahrung nach »nicht das Singen u. Proben, nicht die Kunst in allen Gestalten: – – einzig nur der Besitz in klingender Münze« einen Wert besaß.38 Und so plante Elise Polko nach drei Jahren in Frankfurt am Main ihren nächsten Umzug: Mit einer langjährigen, treuen Dienerin zieht sich die Idealistin zurück in ein Versteck in der Nähe Baden-Badens, um sich eine Arbeitszelle aufzubauen, mit ihrem unzerstörbaren Schönheitssinn, der nun einmal nichts Unharmonisches, weder an sich noch in der Umgebung, duldet.39

Die nächste Station im Leben Elise Polkos befand sich allerdings nicht in der Nähe von Baden-Baden, sondern in München. Im Juli 1898 stürzte sie im südlich von München gelegenen Ort Schliersee so schwer, dass sie auch ein halbes Jahr später »leider noch immer nur Reconvalescentin«40 war und demnach immer noch damit beschäftigt, sich von ihrem Sturz zu erholen. Elise Polko war zu dieser Zeit dennoch guter Hoffnung: Wenn aber irgendwo, so hoffe ich in der schönen Kunststadt meiner langjährigen Sehnsucht, dem lieben München, wohin ich endlich aus dem entsetzlich nüchternen, kalten Frankfurt übersiedeln durfte, wieder gesund zu werden.41

Wenige Monate, nachdem Elise Polko diesen Brief verfasst hatte, starb sie jedoch am 15. Mai 1899 in München an den Folgen des Unfalls. Resümee

Elise Polkos Leben war geprägt von wiederholter residentieller Mobilität, wie Abbildung 1 verdeutlicht. Auch in ihrer Witwenschaft, das heißt in den zwölf Jahren nach dem Tod ihres Mannes bis zu ihrem eigenen zog Elise Polko viermal um. Sie lebte in Hannover, Wiesbaden, Frankfurt am Main und München. Dass 37 Elise Polko, Brief an Hermann Sudermann, Frankfurt am Main, 26.03.[1898], D-MB, Cotta$Nachl. Sud.I6, Bl. 77. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Elise Polko, Brief an einen Professor, [München], 25.01.1899, D-Ngm, VII. Dichter und Schriftsteller. Hervorhebung im Original. 41 Ebd.

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für Elise Polko zwischendurch verschiedene andere Städte ebenfalls zur Debatte standen, mag für eine gewisse Unentschlossenheit oder auch Beliebigkeit bei der Wahl des Wohnortes sprechen. Die betrachteten Briefe von Elise Polko geben letztlich keine Auskunft darüber, warum sie sich für den einen Ort entschieden hatte und für den anderen nicht. Ein entscheidender Aspekt ist allerdings, dass sie überhaupt die Wahl hatte. Diese Freiheit wurde ihr erst als Witwe zuteil und steht der vorherigen Zwangsmobilität (hervorgerufen durch die Arbeitsmigration ihres Ehemannes) diametral gegenüber. Ein Zugewinn an Handlungsfreiheit kann im Allgemeinen als ein wesentliches Merkmal des Witwenstatus betrachtet werden – sofern sich die unterschiedlichen Lebensumstände von Witwen überhaupt vergleichen lassen. Anders als viele andere Frauen hatte Elise Polko schon während ihrer Ehe gearbeitet, sich als Schriftstellerin einen Namen gemacht sowie ein Netzwerk aufgebaut, auf welches sie später bei ihrer Wohnungssuche zurückgreifen konnte. Ein Vorteil dieser Arbeit lag darin, dass sie gewissermaßen ortsunabhängig war, was Elise Polko schon während ihrer Ehe und den durch die Arbeit ihres Mannes zwingenden Ortswechseln zugutegekommen war. Als »Einsiedlerin«42, wie Elise Polko sich als Witwe selbst bezeichnete, konnte sie im Grunde überall und nirgends ein »Versteck«43 finden und dort ihre »Arbeitszelle«44 beziehungsweise ihr »Traumeckchen«45 einrichten. Als Witwe hatte sie aber nun die Möglichkeit, selbst zu entscheiden und die Zelte wieder abzubrechen. »Und so heißt es dann – aber das weiß eben noch niemand – wieder weiter ziehen.«46

42 Elise Polko, Brief an Familie Ferdinand Hiller, Frankfurt am Main, 23.10.1894, D-DM, Atg. 2586. 43 Elise Polko, Brief an Hermann Sudermann, Frankfurt am Main, 26.03.[1898], D-MB, Cotta$Nachl. Sud.I6, Bl. 77. 44 Ebd. 45 Elise Polko, Brief an Konsul Ott in Würzburg, Wiesbaden, 22.08.1894, D-DM, Atg. 4637. 46 Elise Polko, Brief an Hans Bronsart von Schellendorf, Hannover, 25.10.1887, D-DM, Atg. 5900. Hervorhebung im Original.

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Abb. 1: Wohnorte von Elise Vogel (● 1. Wackerbarthsruhe, 1823, 2. Torgau, 1824, 3. Krefeld, 1825, 4./6. Leipzig, 1832, 5. Paris, Januar/Februar 1848), Elise Polko als Ehefrau (▲ 7. Ruhrort, 1848, 8. Minden, 1852, 9. Wetzlar, 1876, 10. Deutz, 1880) und Elise Polko als Witwe (■ 11. Hannover, 1887, 12. Wiesbaden, 1889, 13. Frankfurt am Main 1894, 14. München, 1898). [Bearbeiteter Ausschnitt einer Post- und Eisenbahn-Reisekarte mit dem eingefügten Umriss der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2021 zur besseren Orientierung. Quelle: Postund Eisenbahn-Reisekarte Deutschland, Holland, Belgien, die Schweiz, Italien bis Neapel, der größte Theil von Frankreich, Ungarn, Polen, etc. mit besonderer Rücksicht auf Eisenbahnen u. Seedampfschiffahrt, Originalzeichnung von Gustav Hanser, Nürnberg 1859. Elektronische Reproduktion, München: Bayerische Staatsbibliothek, 2018, Signatur: Mapp. VIII,55, https:// daten.digitale-sammlungen.de/~db/0008/bsb00082689/images/, abgerufen am 02.03.2021.

Personen- und Werkregister

Das Register enthält Namen aller im Text und in den Anmerkungen thematisierten Personen sowie die ihnen zugeschriebenen Werke, sofern sie nicht Teil bibliographischer Angaben sind. Ist der vollständige Name unbekannt oder bestehen Zweifel an einer eindeutigen Zuordnung, wurde, wenn möglich, der Beruf, den die genannte Person ausgeübt hat, hinzugefügt. Namen einer Familie werden zudem kenntlich gemacht. Mitglieder des Hochadels sind nach dem Vornamen eingeordnet. Die Werke werden kursiv unterhalb der jeweiligen Person ausgewiesen. Adler, Georg Jacob 42 Albert, Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha 151 Amalia Wilhelmine, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs 140, 144 Amélie, Leuchtenberg, Kaiserin von Brasilien 151 Anders, Günther 38 Die Antiquiertheit des Menschen 38 Anon. Darauf nun laßt uns den Leib begraben 146 Herr Jesu Christ wahrer Mensch und Gott 146 Ich hab mein Sach Gott heimgestellt 146 Mit Fried und Frewd ich fahr dahin 146 Mitten wir im Leben sind 146 Arni, Caroline 152 Auclert, Hubertine 59 Augestad, Tora 99 August d. J., Braunschweig-Lüneburg, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel 147 Axen Caroline von, siehe Beneke Luise von 157, 162

Babanine, Marie, siehe Bashkirtseff Bach Carl Philipp Emanuel 44 Johann Sebastian 44, 109, 111 Backer Agathe, siehe Backer Grøndahl Harriet 86, 90, 91, 94, 100 Backer Grøndahl, Agathe 86, 87, 90, 91, 94, 98, 100 Bade, Klaus J. 18 Enzyklopädie Migration in Europa 18 Bagge, Maren 9, 85 Bahr-Mildenburg, Anna 77 Balatri, Filippo 43 Bambini, Eustachio 51 Barad, Karen 89 Barrès, Maurice 61, 62 La Légende d’une Cosmopolite 61 Bartels, Ulrich 19 Der Musiker und seine Reisen 19 Bashkirtseff Constantin 58, 59, 72 Marie (junior, Pseud. Pauline Orell) 11, 57 – 73 L’Atelier de femme dirigé par M. Julian 60 Le Meeting 60 Les femmes artistes 59

180 Marie (senior) 58 – 61, 72 Paul 59, 69 Bastien-Lepage, Jules 60 Baudelaire, Charles 57 Bauman, Zygmunt 17 Becker, Paula 62 Beethoven Johann van 54 Ludwig van (junior) 54, 109, 112, 113, 116, 119 – 121, 123, 126, 127 Ah! Perf ido 127 Fidelio 112, 116, 119, 120 Ludwig van (senior) 54 Behnken, Imbke 133, 134 Lebenslaufereignisse, Statuspassagen und biograf ische Muster in Kindheit und Jugend (gem. mit Jürgen Zinnecker) 133 Bellinghausen, Jacob 42 Beneke Caroline 157, 159, 161, 162, 164, 165 Ferdinand 157, 159, 161, 162, 165 Benjamin, Walter 57, 64, 66 Das Passagen-Werk 64 Berg Alban 76, 78, 79, 83 Lulu 79 Helene 83 Smaragda, siehe Eger Berger, Ludwig 92 Berger, Renate 62 Berlioz, Hector 116, 119, 121, 126 La Prise de Troie 116 Bernays, Martha, siehe Freud Bock, Thomas 42 Boenicke, Jonas Friedrich 49, 50 Bonheur, Rosa 60 Bordoni, Faustina 46 Boucher, Alexandre 105 Bougeot, E. (Generalsekretär der Concerts Colonne) 123, 124 Boutarel, Amédée 122 Brink, Margot 63

Personen- und Werkregister

Bronsart von Schellendorf, Hans 172, 174, 175 Broschi (Farinelli), Carlo 46 Bülow Daniela von 111 Hans von 111 Burger, Johann Caspar 49 C.

Agathe 154, 157, 159 – 162, 165 Hinrich 154, 157, 159 – 161, 165 C., Elisabeth, siehe N. Capua, Gianni Di 111 Diario veneziano della sinfonia ritrovata 111 Carle, Ursula 134, 138, 140 Entwicklung von Übergangskompetenz 134 Carlo II., Gonzaga, Herzog von Nevers und Rethel 138 Castel, Armand 121 Castiglione, Baldassare 137 Libro del Cortegiano 137 Chaminade, Cécile 29 Chamisso, Adelbert von 135 Chopin, Frédéric 105, 113 Ciompi, Luc 36 Clémence, de Reiset, Vicomtesse de Grandval 29 Clemens August, Bayern, Kurfürst und Erzbischof von Köln 44 Collett, Camilla 85 – 87, 94, 98, 100 Berlins Gader [Die Straßen von Berlin] 85 Sidste Blade, 1ste Række 85 Colonne, Édouard 117, 118, 121, 123 – 126 Cosimo III., de’ Medici, Großherzog von Toskana 43 Cosnier, Colette 61 Marie Bashkirtseff. Ich will alles sein 61 Curzon, Henri de 115 Cybo, Alderano, Kardinal 53 Czizek-Stengel, Edith 77

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Personen- und Werkregister

Damasio, Antonio R. 36 Danuser, Hermann 109 Deibner/Teybner/Teubner Felix Emanuel Cajetan 46, 52 Johann Anton Franz 46, 52 Sigmund Joseph Victor Amadee 46, 52 Wolfgang 46 Delvard, Marya 79, 80 Demont-Bréton, Virginie 60 Denzio, Antonio 51 Destinn, Emmy, siehe Kittlová Dieckhoff, Ute 167 – 169 Untersuchungen zur Geschichte der Witwenversorgung 167 – 169 Döhler, Theodor 106 – 108, 113 Draghi, Antonio 143 Dumas, Alexandre (junior) 59 Les femmes qui tuent et les femmes qui votent 59 Durastante, Margherita 46 Dvořák, Antonín 126 Ebenpöck, Abraham 49 Eger Adolf, Freiherr von 77 Smaragda (auch Eger-Berg) 11, 12, 76 – 83 Ehrmann-Herfort, Sabine 19 Migration und Identität (gem. mit Silke Leopold) 19 Ekman, Ida Paulina 13, 118, 126 Eleonora I., Gonzaga, Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs 136, 143 Eleonora II., Gonzaga, Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs 138 – 140, 143 Eleonore Magdalena, Pfalz-Neuburg, Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs 141 – 143 Elisabeth, Wittelsbach, Kaiserin von Österreich (auch Sisi) 151 Elisabetta, Gonzaga, Herzogin von Urbino 139

Ernst, Alfred 122, 127 Escallier, Eleonore 60 Farina, Carlo 143 Farrenc, Louise 29 Ferdinand II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 136, 143 Ferdinand III., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 138 Ferreti (Fotograf*in) 65 Fibich, Zdeněk 126 Fiebig, Anne 9 Fiers, Adolphe 111 Finke, Gesa 169 Fink, Matthias Anton 49 Foerster, Heinz von 35 Förkelrath, Kaspar 147 Forster, Ellinor 152 Stationen einer Ehe (gem. mit Margareth Lanzinger) 152 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 151 Freud Martha 155, 164, 165 Sigmund 155, 164, 165 Friedberg, Anne 58 Fux, Johann Joseph 144 Fux, Vinzenz 143 Gail, Sophie 29 Gauthier-Villars, Henri 122 Geertz, Clifford 17 Gennep, Arnold van 132 Les rites de passage 132 Gerbl, Cornelius 49 Gerlach, Katharina 169 Girardin, Emile de 59 L’Egale de l’homme 59 Glaser, Barney G. 27, 132, 133, 135, 140 Goethe, Johann Wolfgang von 111, 119, 120 Die Geschwister 111 Goldmark, Karl 119, 120 Ländliche Hochzeit 119, 120

182 Gonzalés, Eva 60 Gottschalk, Karin 160 Goulet, Anne-Madeleine 20 Grandval, Clémence, siehe Clémence Greyerz, Kaspar von 153 Grieg, Edvard 90, 126 Grosse, Julius 167, 173 Grüning, Wilhelm 77 Guadagni, Gaetano 46 H., Agathe, siehe C., Agathe Habermas, Rebekka 152, 159 Hahn, Sylvia 21 Haizinger Amalie 112 Anton 112 Hamilton, Herzog 66, 69 Händel, Georg Friedrich 53 Agrippina 53 Haselmann-Kränzle, Lena 10, 12 Hatzfeldt, Marie, siehe Marie, Nimptsch, Gräfin von Hatzfeldt Hauk, Minnie 27 Memories of a Singer 27 Hauser, Franz Xaver 112 Haydn Joseph 112 Kaiserlied 112 Maria Magdalena, siehe Lipp Michael 53 Heffernan, Michael 99 Mobilities of Knowledge (gem. mit Heike Jöns und Peter Meusburger) 99 Hegel Karl 156, 158, 163, 165 Susanna Maria 156, 158, 163, 165 Heinz, Walter R. 133 Helbig Nadine 12, 103, 108 – 110, 113 Wolfgang 109 Herbelin, Jeanne 60 Herbst, Viola 9, 13 Herrmann, Anja 9, 11

Personen- und Werkregister

Herwegh, Marcel 125 Hochpain, Hyacinth 49 Hoffmann, Freia 19 Reiseberichte von Musikerinnen des 19. Jahrhunderts 19, 20 Hofmannsthal, Hugo von 61 Holmès, Augusta 28, 30 Hönig, Hans G. 87, 95 Strategie der Übersetzung (gem. mit Paul Kußmaul) 87 Humboldt, Wilhelm von 95 Isabella, d’Este Gonzaga, Markgräfin von Mantua 104 Isidoro (Darsteller*in in Goethes Die Geschwister, Venedig 1882) 111 Isler, Sophie, siehe Magnus Jacobi, Friedrich Heinrich 95 Joachim Amalie 27 Joseph 27 Johann Friedrich, Herzog und Erbprinz zu Württemberg und Teck 144 – 146 Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz 44 Jöns, Heike 99 Mobilities of Knowledge (gem. mit Michael Heffernan und Peter Meusburger) 99 Joseph I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 140, 144 Julian, Rodolphe 59 Karl III. Phillipp, Kurfürst von der Pfalz 44 Karl IV., Kurfürst von der Pfalz (als Karl II. Kurfürst von Bayern) 55 Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 144 Karl VII., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 47, 48 Karl Albrecht, Kurfürst von Bayern, siehe Karl VII.

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Personen- und Werkregister

Karl Philipp, siehe Karl III. Karl Theodor, siehe Karl IV. Kaschowska, Felicie 13, 118 Katalinić, Vjera 20 Keller, May 77, 78 Kittlová, Emilia Věnceslava Pavlína (Pseud. Emmy Destinn) 13, 126 Kjerulf, Halfdan 90, 99 Klingemann, Carl 112 Klok, Janke 10, 12 Konrad, Ulrich 22, 23, 168 Kopoltin/Kopoldin, Anna (später auch Maria Adelheit Koppoltin) 52 Krauss, Gabrielle 121 Kröner (Musiker*innenfamilie am Münchner Hof ) 54 Küchelbecker, Johann Basilius 139 Kullak, Theodor 90 Kußmaul, Paul 87, 95 Strategie der Übersetzung (gem. mit Hans G. Hönig) 87 Kutscherra de Nyß, Elise 13, 115, 116, 119 – 128 Langley Moore, Doris 61 Marie & the Duke of H. 61 Lanzinger, Margareth 152, 160 Stationen einer Ehe (gem. mit Ellinor Foster) 152 Lapis, Sante 51 La Roche, Sophie von 29 Mein Schreibtisch 29 Leffler-Burckard, Martha 13, 118, 126 Lehmann, Lilli 13, 115, 118 – 120, 126, 127 Leider, Frida 77 Lejeune, Phillipe 67, 68 Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 46, 138, 139, 141 – 143 Leopold, Silke 19 Migration und Identität (gem. mit Sabine Ehrmann-Herfort) 19 Lipp, Maria Magdalena 53 Liszt, Franz 108 – 111, 113, 116

Der Fischerknabe 116 Locatelli, Giovanni Battista 51 Lorenz, Franz Xaver 49 Losleben, Katrin 85 Löw, Martina 131 Raumsoziologie 131 Luhmann, Niklas 36 Die Gesellschaft der Gesellschaft 36 Lully, Jean-Baptiste 46, 51 Lund, Signe 86, 92 – 94, 98, 100 Machtemes, Ursula 167, 169 Bildungsbürgerliche Witwen im 19. Jahrhundert 167 Magnus Otto 158, 165 Sophie 155, 165 Mahling, Christoph-Hellmut 19 Musiker auf Reisen 19 Manet, Julie 62 Mann Heinrich 154, 161 Katia 154, 159, 161, 162, 164, 165 Thomas 154, 155, 158, 159, 161, 165 Mansfield, Katharine 62 Manskopf, Jakob Friedrich Nicolas 176 Marcello, Benedetto 111 Margarita Teresia, Spanien, Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs 139, 140 Marholm, Laura 61, 62 Das Buch der Frauen 62 Maria Antonia, siehe Marie Antoinette Maria, Gonzaga, Herzogin von Mantua 138 Marie Antoinette, Österreich-Lothringen, Königin von Frankreich 151 Marie, Nimptsch, Gräfin von Hatzfeldt 12, 103, 108, 110, 111, 113 Marie, Wolkenstein-Trostburg, Gräfin von Schleinitz 110 Marischka, Ernst 151 Sissi 151 Massenet, Jules 126

184 Materna Amalie 115, 116, 119, 120 Hedwig 28 Richard Wagners Frauengestalten 28 Maupassant, Guy de 63 Max Emanuel, siehe Maximilian II. Maximilian II. Emanuel, Kurfürst von Bayern 46, 47, 49, 53 Mayr, Dominique/Dominikus 46, 52 Meine, Sabine 10, 12, 111 Mendelssohn Bartholdy, Felix 112 Merriman, Peter 88 Mobility, Space and Culture 88 Meusburger, Peter 99 Mobilities of Knowledge (gem. mit Heike Jöns und Michael Heffernan) 99 Meyer, Christian 19 Le musicien et ses voyages 19 Michel, Graf Wielhorski 104 Mingotti Angelo 51 Pietro 51 Mittner, Lilli 10, 12 Morisot, Berthe 60 Moscheles, Ignaz 105, 112, 113 Mottl Felix 122, 127 Henriette (auch Mottl-Standhartner) 13, 126, 127 Mozart Constanze 169 Wolfgang Amadeus 109, 111, 118, 126, 127 Die Zauberflöte 127 Muchow, Martha 131 Müller, Pater (Beichtvater von Eleonore Magdalena) 142 Mulvey, Laura 63 Visual Pleasure and Narrative Cinema 63 Münkler, Herfried 109 Muth, Wilhelm 43 Mysz-Gmeiner, Lula 13, 77, 118

Personen- und Werkregister

N.

Elisabeth 154, 155, 161 – 163, 165 Rudolf 154, 161, 162, 165 Naescher, Manfred 73 Nissen, Erika Lie 90 Nochlin, Linda 59 Why Have There Been No Great Women Artists? 59 Nordica, Lillian 124 Normand, Remy 47 Obreskov, Natalia 12, 103, 105 – 108, 113 Oltmer, Jochen 22, 23, 152 Orell, Pauline, siehe Bashkirtseff Ories, Franz 49 Ostroróg, Stanisław Julian Ignacy (Pseud. Waléry) 69, 70 Over, Berthold 10, 11 Padilla, Désirée Artôt de 121 Parmentier, Eugenie 60 Patti, Adelina 125 Pedro I., Kaiser von Brasilien 151 Pegah, Rashid-S. 49 Pellegrini, Valeriano 53 Pergolesi, Giovanni Battista 51 Serva padrona 51 Peruzzi, Antonio Maria 51 Peter der Große, Russland, Zar und Kaiser 43 Pierné, Gabriel 117 Pinelli, Ada 111 Piro, Katerina 9, 13 Poe, Edgar Allan 57 Mann der Menge 57 Polko Eduard 167, 170 – 174, 176, 177 Elise 13, 167, 168, 170 – 178 Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen 171 Walter 172 Poulain, Toussain 47 Press, Volker 142 Die Habsburger 142

Personen- und Werkregister

Pringsheim Hedwig 159, 162 Katia, siehe Mann Prochazka, Lud 126 Puget, Loïsa 29 Queen Mab (Pseud. eines Kritikers) 119 Rameau, Jean-Philippe 51 Reich, Willi 83 Rembrandt, siehe Rijn Reventlow, Franziska von 62 Reyer, Ernest 121 Ricke, Anna 9, 11 Rijn, Rembrandt van 72 Rode-Breymann, Susanne 9, 13, 14, 17, 27, 169 Rohlfs Gerhard 174 Leontine 174 Rolland, Romain 120 Rost, Henrike 10, 12 Rothschild, N. de (Künstlerin) 60 Ruben, Franz 111 Rückert Friedrich 158, 159, 165 Luise 158, 165 Šahoskaja, Nadina 109 Saint-Saëns, Camille 126 Sand, George 58 Sauerländer, Johann Joseph 170 Schaser, Angelika 82 Schattkowsky, Martina 168 Witwenschaft in der Frühen Neuzeit 168 Schebest, Agnese 28 Rede und Geberde 28 Schjelderup, Mon 86, 100 Schleinitz, Marie ›Mimi‹, siehe Marie Schmidt, Johann Jacob 42 Schneider, Romy 151 Schröder-Devrient, Wilhelmine 12, 103, 112

185 Schubert, Franz 109, 118, 124 Erlkönig 124 Schüler, Hieronymus 42 Schumann Clara 25, 109 Robert 25, 109, 135 Frauenliebe und Leben 135 Schumann-Heink, Ernestine 13, 118, 126, 127 Seifert, Nicole 67 Sennett, Richard 75, 81, 83 Der flexible Mensch 75 Sibelius, Jean 126 Sibylla Ursula, Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzogin von Schleswig-HolsteinSonderburg 147 – 149 Simmel, Georg 98 Smetana, Bedřich 126 Smith, Lisa Mooney 100 Sophie Eleonore, Gräfin zu StolbergStolberg 146 Sperling, Johannes 85 Spieckernagel, Ellen 62 Spohr, Arne 19 »How chances it they travel?« 19 Sponheuer, Bernd 109 Stix, Lydia 79, 81 Straub, Peter 24 Strauss Pauline (auch Strauss-De Ahna) 13, 118, 126, 127 Richard 118, 126, 127 Elektra 118 Salome 118 Strauss, Anselm L. 27, 132 – 136, 140, 145 Strohmann, Nicole K. 9 – 11, 20, 85 Suleiman, Susan Rubin 64 Szymanowska, Maria 12, 103 – 105 Talkner, Katharina 9 Telemann, Georg Philipp 44 Therese Kunigunde, Polen, Kurfürstin von Bayern 47

186 Tieffenbrucker (Familie von Instrumentenbauer*innen) 53 Trepp, Anne-Charlott 152, 157 Tucher, Susanna Maria von (auch Suzette von Tucher), siehe Hegel Unseld, Melanie 81, 82 Verlaine, Paul 120 Viktoria, Kent, Königin von Großbritannien 151 Vilette, Elodie La 60 Vivaldi, Antonio 47 Vogel Carl 172, 173 Elise, siehe Polko Hermann Carl 175 Voss, Georg 60 Vray, Peter Le 47 Wagner Albert 121 Cosima 110, 111 Richard 28, 77, 108 – 111, 113, 115, 116, 118 – 128 Die Walküre 115, 116, 124 Götterdämmerung 116, 124, 125 Jugendsinfonie in C-Dur 111 Meistersinger 110 Rienzi 127 Träume (Lied) 116, 120 Tristan und Isolde 110, 116, 119, 120

Personen- und Werkregister

Wagner, Franz 141, 142 Leben/und Tugenden Eleonorae Magdalenae Theresiae, Römische Käyserin 141, 142 Wagner, Johann Dietrich 42 Waléry, siehe Ostroróg Warnke, Krista 10, 11 Warnke, Martin 138 Hofkünstler 138 Weber, Carl Maria von 112, 113 Freischütz 112 Oberon 119, 120 Weingartner, Felix 127 Welzel, Barbara 140, 141 Die Macht der Witwen 140, 141 Wielhorski, Michel, siehe Michel Wienfort, Monika 152 Wiethaus-Fischer, Luise, siehe Rückert Wittich, Marie 13, 118, 126 Wygodzinski, Vally 62 Zehetner, Dominikus 49 Ziani, Pietro Andrea 143 Zinnecker, Jürgen 133, 134 Lebenslaufereignisse, Statuspassagen und biografische Muster in Kindheit und Jugend (gem. mit Imbke Behnken) 133, 134 Zola, Emile 59 L’Assommoir 59 Zuboff, Shoshana 38 zur Nieden, Gesa 10, 12, 13, 20

Orts- und Institutionenregister

Das Register enthält im Text und in den Anmerkungen genannte Städte, Regionen, Länder, (Sub-)Kontinente und Institutionen, sofern sie nicht Teil bibliographischer Angaben sind. Institutionen werden kursiv unterhalb der jeweiligen Stadt ausgewiesen. Amsterdam 118 Augsburg 161 Baden-Baden 57, 59, 161, 176 Bad Homburg, siehe Homburg vor der Höhe Bad Ischl 80, 151 Bayern 42, 47 – 49, 151 Bayreuth 118, 126, 127 Bayreuther Festspiele 118 Belgien 125 Berlin 12, 27, 76, 77, 85, 86, 89 – 92, 94, 96, 98 – 100, 110, 118, 121, 175 Akademie der Tonkunst 90 Königliche Oper 118 Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität 86 Norwegische Botschaft 86, 96 Bonn 42, 44, 54 Bonner Hof 54 Brasilien 125, 151 Braunschweig 155, 158, 165 Bremen 133 Universität Bremen 133 Brenner 136 Brixen 136 Dom 136 Brüssel 27, 46, 47, 118, 124, 125 Kapelle 47 Théâtre de la Monnaie 46 Théâtre du quai au Foin 46 Cannstatt 165 Chicago 92

Coburg 115, 165 Dänemark 25 Deutschland 9 – 12, 19, 46, 57, 95, 99, 109, 125, 156 Gesellschaft für Musikforschung 9, 10, 19 Deutz 167, 170 – 173, 178 Dresden 118, 173, 174 Hofoper 118 Duisburg 172 Düsseldorf 43, 44, 173, 174 Hofkapelle 44 Ebern 165 Eisenach 44, 49 Elsass 42 Emden 157, 165 England 47 Ersfjordbotn 97 Europa 9, 11, 20, 25, 29, 41, 48, 50, 57, 85, 86, 89, 90, 93, 100, 103 – 105, 108, 109, 112, 113, 116, 117, 120, 121, 125, 136, 137, 151 Finnland 126 Flensburg 147 Florenz 43 Frankfurt am Main 44, 51, 97, 171, 175, 176, 178 Oper 171 Fränkische Provinz 151 Frankreich 11, 46, 47, 49, 57, 59, 61, 120, 122, 125 Le Droit des Femmes 59 Union des femmes peintres et sculpteurs 60

188 Fulda 42 Füssen 53 Gallspach 80 Gasthaus Tirolerhof 80 Gavronzi 58 Genf 59 Genua 53 Glückstadt 52 Gmunden 80 Gotha 49 Graz 47, 51 Groningen 97 Gröningen (bei Halberstadt) 49 Hamburg 44, 131, 155, 161, 162, 165 Hannover 9, 10, 17, 27, 53, 85, 174 – 176, 178 Forschungszentrum Musik und Gender 9, 10, 17, 85 Hochschule für Musik, Theater und Medien 9 Königliches Hoftheater 27 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 41, 51 Homburg vor der Höhe 49 Innsbruck 44, 136 Hofkapelle 44 Italien 29, 46, 48 – 50, 52, 90, 110, 136 – 139, 142 Karlsruhe 122, 175 Kärnten 51 Kassel 10, 173, 174 Universität Kassel 10 Kiel 161 Klagenfurt 47 Kleinweissenburg, siehe Wissembourg Köln 144, 172, 173 Kopenhagen 89, 93, 161 Köthen 49 Krain 51 Krefeld 172, 178 Küb am Semmering 79 Laibach, siehe Ljubljana Leipzig 44, 51, 89, 171 – 173, 178 Bürgerschule 172

Orts- und Institutionenregister

Gewandhaus 171 Liechtenstein 73 Ljubljana 51 London 27, 43, 89, 105, 106, 108, 112, 118, 144, 151 Royal Opera House 27 Loppersum 165 Lübeck 161 Luxemburg-Stadt 60 Musée National du Luxembourg 60 Lyon 53 Madrid 57 Mainz 144 Mannheim 55 Hofkapelle 55 Mantua 53, 104, 136, 138 Memmingen 49, 50 Collegium musicum 49 Minden 172, 174, 178 Mitteldeutschland 49, 50 Moskau 27, 43, 109 München 11, 41 – 43, 46 – 49, 52 – 54, 59, 76, 80, 161, 165, 176, 178 Elf Scharfrichter 80 Hofkapelle 46, 49 Hofoper 46 Münchner Hof 11, 41 – 43, 46, 47, 49, 52 – 54 Neapel 20, 53, 65, 91 New York 27, 92, 118 Metropolitan Opera 118 Niederlande 12, 95 Niedersachsen 9, 14 Nizza 57, 59 Norwegen 12, 86, 93, 95, 99, 100 Nürnberg 156, 158, 165, 169 Oberpfalz 42 Oslo 89, 91 Konservatorium 89 Nasjonalbiblioteket 91 Ossiacher See 78 Familiengut Berghof (Familie Berg) 78 Österreich 11, 20, 47, 57

Orts- und Institutionenregister

Österreichische Gesellschaft für Musikwissenschaft 20 Padua 53 Paris 12, 13, 27, 28, 46, 51, 52, 55, 57, 59, 61, 63, 64, 69 – 71, 76, 89, 92, 93, 105, 106, 108, 112, 115 – 128, 151, 172, 178 Académie de Musique 119 Académie Julian (auch Privatakademie Rodolphe Julian, Malerei) 59, 70, 71 Bibliothèque Nationale de France 61 Concerts Colonne 12, 13, 116 – 119, 121, 123, 125, 126 Concerts Lamoureux 116, 119 Concert spirituel 55 Conservatoire de musique 127 Jardin des Tuileries 57 Jardin du Luxembourg 57 Louvre 57 Opéra 115, 116, 120, 121, 124, 125 Théâtre du Châtelet 117, 121, 125 Université Populaire 120 Pfalz-Neuburg 42 Pfalz-Sulzbach 42 Pfalz-Zweibrücken 42 Piacenza 53 Polen 49 Potsdam 175 Rom 12, 20, 44, 53, 59, 91, 108 – 110 Cappella Sistina 53 Teatro di Tordinona 53 Rostock 156, 158, 163, 165 Rotterdam 144 Roverto 136 Ruhrgebiet 172 Ruhrort 172, 178 Russland 57, 59 Schliersee 176 Schweden 126 Schweiz 11, 57 Siegen 134 Siegener Zentrum für Kindheits-, Jugend- und Biograf ieforschung (SiZe) 134

189 Sorau 44 Spanien 11, 57 Spanische Niederlande 46, 47, 49 St. Petersburg 27, 57, 104 – 108 Stuttgart 144, 165 Torgau 172, 178 Trient 136 Tromsø 86, 96 Nordnorwegisches Kunstmuseum 96 The Arctic University of Norway (UiT) 86 Tschechien 126 Tübingen 42 Ukraine 58 Utrecht 144 Venedig 20, 45, 47, 52, 53, 110, 111 Palazzo Malipiero 110, 111 Teatro La Fenice 111 Wackerbarthsruhe bei Radebeul 172, 178 Weimar 174, 175 Hoftheater 174 Weißenfels 49 Westeuropa 77 Wetterau 42 Wetzlar 172, 178 Wien 12, 31, 32, 42, 43, 53, 59, 77 – 80, 118, 136 – 140, 142, 155, 165 Accademia degli Illustrati 139 Demel 32 Favorita (heute Theresianum) 140 Fledermaus 80 Hofburg 139, 140 Hofoper 118 Nachtlicht 80 Salesianerinnenkloster 140 Theatermuseum am Lobkowitzplatz 31 Wiener Hof 136 – 140 Wiesbaden 175, 176, 178 Wissembourg 42 Wolfenbüttel 146 Herzog August Bibliothek 146 Zürich 161

Autor*innen

Maren Bagge studierte Musik, Mathematik und Musikwissenschaften an der

Leibniz Universität Hannover und der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover am Forschungszentrum Musik und Gender. Ab 2016 hat sie dort auch im Forschungsprojekt Erschließen, Forschen, Vermitteln: Identität und Netzwerke / Mobilität und Kulturtransfer im musikbezogenen Handeln von Frauen zwischen 1800 und 2000 mitgearbeitet. Promotion zu populären englischen Songs des langen 19. Jahrhunderts (Favourite Songs. Populäre englische Musikkultur im langen 19. Jahrhundert, Olms 2022). Sie ist u. a. Mitglied in der Gesellschaft für Musikforschung, dem Arbeitskreis Biographie und Geschlecht sowie Initiatorin und Mitglied des Postdoc-Netzwerks Musik und Gender. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Musikgeschichtsschreibung, musikwissenschaftliche Genderforschung, Musik im Museum sowie kulturwissenschaftliche Fragestellungen zur Musikgeschichte, die sie u. a. mit Ansätzen aus der Netzwerkforschung und Biographik verknüpft. Lena Haselmann-Kränzle, 1983 Heidelberg. Engagements führen die deutsch-

norwegische Mezzosopranistin u. a. an die Staatsoper Berlin, die Mailänder Scala sowie die Opernhäuser in Göteborg, die dänische Nationaloper (Den Jyske Opera), das Hessische Staatstheater Wiesbaden, das Teatro Comunale Bologna. Besonderer Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit ist die Interpretation skandinavischer Liedkompositionen. Ihre Dissertation über die professionelle Musikausbildung im 19. Jahrhundert in Norwegen trägt den Titel Agathe Backer Grøndahl. Von Norwegen nach Berlin. CD-Produktionen sind u. a. Rastlose Lieder mit Werken norwegischer Komponistinnen sowie Durchlöcherte Tradition, die sich mit verfemter Kammermusik des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Lena Haselmann-Kränzle unterrichtete u. a. als Dozentin an der Hochschule für Musik Saar, als Professorin an der Hochschule Osnabrück und ist seit 2022 Professorin für klassischen Gesang an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Viola Herbst studierte zunächst Musik, Kunst und Mathematik für das Lehramt

an Grund-, Haupt- und Realschulen und später Musikforschung und Musikvermittlung mit dem Schwerpunkt Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Sie war Mitarbeiterin im Pro-

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Autor*innen

jekt Erschließen, Forschen, Vermitteln: Identität und Netzwerke / Mobilität und Kulturtransfer im musikbezogenen Handeln von Frauen zwischen 1800 und 2000, das sich dem Archivbestand des Forschungszentrums Musik und Gender widmete, und dort vor allem für die Erstellung von Transkriptionen und Beschreibungen der handschriftlichen Quellen sowie deren Codierung in TEI zuständig. 2021 schloss sie ihre Dissertation über die Sängerin und Musikschriftstellerin Elise Polko (1823–1899) ab, wobei sie ihre Biographie insbesondere vor dem Hintergrund unterschiedlicher Aspekte der Mobilität betrachtete. Derzeit ist Viola Herbst Mitarbeiterin im Projekt Erschließung, Digitalisierung und OnlinePräsentation des Historischen Archivs des Musikverlags Schott an der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Anja Herrmann ist Kunstwissenschaftlerin an der Universität Bielefeld. Berufli-

che Stationen: ZKM Karlsruhe, Universität der Künste Berlin, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Universität Wien, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Hochschule Hannover. Bis 2021 war sie Redakteurin bei der Online-Fachzeitschrift FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur sowie Teil des wissenschaftlichen DFG-Nachwuchsnetzwerks Fat Studies. Doing, Becoming and Being Fat. Publikationen: »Der Körper der Künstlerin. Kunstschaffen in der Intersektion von Fatness und Geschlecht«, in: Magdalena Füllenbach u. a. (Hrsg.): Widerspruch?! Medien, Praktiken und Räume des Widersprechens, Berlin: Reimer 2023; Hrsg., Fat Studies. Ein Glossar, Bielefeld: transcript Verlag 2022 (zus. mit Kim u. a.); Das Fotoatelier als Ort der Moderne. Zur fotograf ischen Praxis von Marie Bashkirtseff und der Gräf in von Castiglione, Saarbrücken 2016 (Diss.). Janke Klok, 1955 Eelde, (Henrik-Steffens-Professorin am Nordeuropa-Institut

der Humboldt-Universität zu Berlin 2014–2018) veröffentlichte umfangreich zu skandinavischer Literatur im Bereich Gender und interkulturelle Studien und übersetzte Romane und Gedichte klassischer und zeitgenössischer norwegischer Autor*innen. Ihr Forschungsinteresse richtet sich unter anderem auf die literarische Arktis, Urban und Gender Studies. Ihre Dissertationsschrift Det norske litterære Feminapolis 1880–1980. Skram, Undset, Sandel og Haslunds byromaner – mot en ny modernistisk genre erschien 2011. Zurzeit arbeitet sie an einer Biografie über Ebba Haslund (1917–2009). Rezente Publikationen sind: Kalte Kulturen und die arktische Ewigkeit (2017), Transit ›Norden‹ och ›Europa‹ (Hrsg.) (2018) und »Nobelpreisträgerin 1928: Sigrid Undset (1882–1949)«, in: Susanne Zepp und Claudia Olk (Hrsg.): Nobelpreisträgerinnen: 14 Schriftstellerinnen im Portrait (2019). Sie arbeitet als Gastforscherin an der Humboldt-Universität zu Berlin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Groningen.

Autor*innen

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Sabine Meine ist seit 2017 Professorin für Historische Musikwissenschaft an

der Hochschule für Musik in Köln; zuvor war sie Professorin an der Universität Paderborn/HM Detmold. Sie leitete das Deutsche Studienzentrums in Venedig, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Rom und an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Ihre Habilitation zur Frottola zielt auf Musik als Diskurs und Spiel in der Renaissancekultur Italiens, ihre Dissertation zu René Leibowitz diskutiert Zwölftonmusik als Übersetzungsphänomen der französischen Moderne. Meine ist Beirätin des Deutschen Historischen Instituts in Rom und der Gesellschaft für Musikforschung, Mitglied in den Wissenschaftsvereinen Deutsches Studienzentrum in Venedig und Villa Vigoni e.V. Lilli Mittner, 1983 Leipzig, studierte Musikwissenschaft und Medien- und Kom-

munikationswissenschaft an der Universität Göttingen und an der Universität Oslo. 2014 promovierte sie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover mit Studien zum kulturellen Handeln komponierender Frauen des 19. Jahrhunderts in Norwegen (Wehrhahn 2016). Anschließend lehrte sie am Musikkonservatorium Tromsø und arbeitete dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt Gender Balance in Art Education (2015–2018). Seit 2017 ist sie Post-Doc in feministischer Kunstinterventionsforschung am Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung an der UiT The Arctic University of Norway. Gemeinsam mit Prof. Dr. Lena Haselmann-Kränzle und Prof. Dr. Janke Klok initiierte sie 2018 die interdisziplinäre Künstlerforschergruppe RESCAPE, die seit 2022 im Rahmen des europäischen Projektes Voices of Women finanziell durch ERASMUS+ gefördert wird (www.voicesofwomen.eu). Berthold Over studierte Musikwissenschaft an der Rheinischen Friedrich Wil-

helms-Universität Bonn und wurde 1994 mit einer Dissertation über die venezianischen Ospedali promoviert. Derzeit erarbeitet er im Projekt Digitale Wege zu Telemann des Telemann-Zentrums Magdeburg ein digitales Werkverzeichnis. Davor war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ernst Moritz Arndt-Universität in Greifswald im deutsch-polnischen Projekt PASTICCIO. Ways of Arranging Attractive Operas. Bis 2019 war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität tätig, wo er in den Forschungsprojekten Die Kantate als aristokratisches Ausdrucksmedium im Rom der Händelzeit (ca. 1695– 1715) (Fritz Thyssen Stiftung) und Music Migrations in the Early Modern Age: the Meeting of the European East, West and South (HERA) mitarbeitete. Ihm gelangen bedeutende Autographenfunde von Kompositionen Antonio Vivaldis, Georg Friedrich Händels und Gustav Mahlers.

194

Autor*innen

Katerina Piro promoviert am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Uni-

versität Mannheim zur Familiengestaltung um 1900. Sie studierte Geschichte und Medienwissenschaften in Waterloo/Kanada, Heidelberg, Mannheim, Dijon und Kassel. Sie publizierte im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, sowie in einer Reihe von Sammelbänden zum Thema Kinderwunsch im Zweiten Weltkrieg. Außerdem untersuchte sie Ego-Dokumente von Pfarrehepaaren zur Familienplanung. Sie publizierte ebenfalls zur Briefkommunikation im Krieg. Anna Ricke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am musikwissenschaftlichen Se-

minar Detmold/Paderborn. Sie studierte Musiktheaterwissenschaft an der Universität Bayreuth (B.A.) und Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln (M.A.). 2020 promovierte sie sich mit der Arbeit Smaragda EgerBerg (1886–1954). Bohemienne – Musikerin – Schwester. Bedingungen künstlerischer Emanzipation in der Wiener Moderne, die mit einem Promotionsstipendium des Forschungszentrums Musik und Gender (fmg) Hannover gefördert wurde. Sie war 2018 Preisträgerin beim »Forum junger Autoren. Schreiben und Sprechen über neue Musik« und ist seit 2019 Mitglied des Beirats des Jahrbuch Musik und Gender. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Gender Studies, Schauspielmusik und Musiktheater. Susanne Rode-Breymann, seit 2010 Präsidentin der Hochschule für Musik,

Thea­ter und Medien Hannover, seit 2017 Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, studierte in Hamburg Alte Musik sowie Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Bayreuth und Bonn, lehrte nach der Habilitation 1996 in Hannover, dann 1999 bis 2004 als Ordinaria für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Köln. In gleicher Funktion wechselte sie 2004 an die Hochschule in Hannover und gründete dort 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender. Sie publiziert über Alte Musik, Neue Musik, Musiktheater (u. a. 2010: Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677 bis 1705) und Gender Studies (u. a. 2014 bei C.H. Beck: Alma Mahler Werfel. Muse. Gattin. Witwe), gibt verschiedene Jahrbücher und Reihen heraus und war Fachherausgeberin Musik der Enzyklopädie der Neuzeit. Neun der von ihr Promovierten und Habilitierten sind unterdessen Professor*innen in Deutschland, Österreich und den USA. Henrike Rost studierte Musikwissenschaft und Italianistik an der Humboldt-

Universität zu Berlin und wurde 2019 an der Hochschule für Musik und Tanz Köln promoviert. Ihre Dissertation Musik-Stammbücher. Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts (Böhlau 2020) ist die

Autor*innen

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erste größer angelegte Studie zum Thema, auf Grundlage eines Quellenkorpus von über 60 Alben aus dem Zeitraum von circa 1790 bis 1900. Gemeinsam mit Sabine Meine hat sie den Band Klingende Innenräume. GenderPerspektiven auf eine ästhetische und soziale Praxis im Privaten (Königshausen & Neumann 2020) herausgegeben. Nicole K. Strohmann ist seit 2022 Universitätsprofessorin für Historische Mu-

sikwissenschaft und Genderforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Zuvor war sie Vertretungsprofessorin und davor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, wo sie das interdisziplinäre Projekt Erschließen, Forschen, Vermitteln: Identität und Netzwerke / Mobilität und Kulturtransfer im musikbezogenen Handeln von Frauen zwischen 1800 und 2000 leitete. 2008 erhielt sie für ihre genderbezogenen Forschungen den Mariann Steegmann-Förderpreis History|Herstory. Promotion mit einer Arbeit zu Gattung, Geschlecht und Gesellschaft im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Studien zur Dichterkomponistin Augusta Holmès (Olms 2012) und Habilitation zum Thema Europäische Musik- und Festkultur in Hannover: Höfische Mobilität, Identität und Kulturtransfer unter Herzog Ernst August und Sophie von der Pfalz. Forschungsschwerpunkte: Europäische Musikgeschichte des 17. bis 21. Jahrhunderts, Oper und Musiktheater, Kulturgeschichte der Musik, Musikhistoriographie und Digital Humanities. Krista Warnke, geboren 1944 in Bruck/Mur (Österreich), studierte zunächst An-

glistik, Gesang und Klavier in Wien. 1965 legte sie die Staatsprüfung für das Lehramt an Grund- und Mittelschulen, Fach Englisch, in Klagenfurt ab. Danach studierte sie Musikwissenschaft sowie Psychologie in Hamburg. 1973 promovierte sie dort zum Dr. phil. Von 1979 bis 2009 lehrte sie als Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikpsychologie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg mit den Schwerpunkten Rezeptionsforschung sowie Frauen- und Geschlechterforschung. Ihre letzte Buchveröffentlichung beschäftigt sich mit dem Thema Beziehung: Momente gelingender Beziehung. Was die Welt zusammenhält, Beltz 2015. Gesa zur Nieden ist seit 2019 Professorin für Musikwissenschaft an der Univer-

sität Greifswald. Von 2019 bis 2021 vertrat sie zudem die Professur für historische Musikwissenschaft am Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Davor war sie Juniorprofessorin an der JGU Mainz, Gastprofessorin »Inter Artes« an der Universität zu Köln und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Musikgeschichtlichen Abtei-

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Autor*innen

lung des DHI Rom. Nach ihrer deutsch-französischen Promotion über das Pariser Théâtre du Châtelet in Bochum und Paris (EHESS) forschte Gesa zur Nieden zusammen mit Wissenschaftler*innen aus Frankreich, Italien, Kroatien, Polen und Slowenien in zwei Projekten zur frühneuzeitlichen Musiker*in­ nenmobilität (ANR-DFG Musici, 2008–2011, EU-HERA-Projekt MusMig 2013–2016) und zum Musiktransfer (DFG-NCN-Projekt Pasticcio, 2018– 2022). Derzeit leitet sie ein Teilprojekt des BMBF-Forschungsverbunds »Fragmentierte Transformationen« an der Universität Greifswald zur Oper als kulturel­les Erbe. Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte liegen auf der Wag­nerRezeption nach 1945 und auf der Intermedialität von Musik, Literatur und bildender Kunst.