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German Pages 688 Year 2022
Andreas Schmidt Erzählen von Macht: Narratologische Studien zur Færeyinga saga
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold
Band 131
Andreas Schmidt
Erzählen von Macht: Narratologische Studien zur Færeyinga saga
ISBN 978-3-11-077493-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077497-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077502-0 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2022939966 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dieses Buch verdankt sich einem fünfjährigen Gespräch mit Daniela Hahn
Vorwort Føroyar, mín móðir, títt signaða navn í hjartanum rúnarrist stendur. Títt sorgblíða bros títt mjørkaloft dró, tín son sjálvt við sólgyltu strendur. Um tú var alt bjart, sum eg hugsa mær kann, ein blóma frá paradís strondum, ein perla mót øllum í heiminum var, ja, valdaði ríkjum og londum, tá kvað eg tær kanska eitt stoltari lag, eitt kvæði av brimdun og toru, men kundi ei elskað teg hægri enn nú, mítt friðlýsta heim móti norði. (Poul F. Joensen, Føroyar, mín móðir. Varðin 5, 1925, S. 100)
Als ich Anfang August 2014 auf die Färöer aufbrach, um am Sommersprachkurs der dortigen Universität teilzunehmen, wusste ich noch nicht, was mir dieser Aufenthalt im Nirgendwo des Nordatlantiks später bedeuten sollte. Es wäre verfehlt, die Erfahrung meiner Reise dorthin als die eines vom Alltag befreienden Urlaubs bestimmen zu wollen, und noch viel weniger war sie lediglich eine akademische Bildungsreise im Rahmen eines Doktorandenlebens. Heute, fast acht Jahre später, hüllen sich die dortigen Ereignisse für mich in einen fast mythisch anmutenden Schleier des Gewesenen und zeitlos Gültigen, aber kaum mehr Fassbaren. Im Angesicht der Natur, die ich dort sah, wirkte ein Menschenleben fast unwirklich, sei es der Wind, der mich bei Fàmjin fast über den Rand der Welt zu wehen drohte, die Klippen von Nólsoy, auf denen wir umherkletterten, der Wasserfall bei Gásadalur kurz hinter dem Tindhólmur, oder die Besuche von Svínoy, Skúvoy und Gøta. Im Angesicht der alltäglichen Bezugnahme dieser Kultur auf Elemente des Textes, über den ich meine Dissertation schrieb, schien dieser Text alles andere als nur literarisch, und doch die Geschichte alles andere als wirklich. Im Angesicht der hoch wandelbaren und sich wandelnden Sprache schienen meine Vorkenntnisse aus dem strikten und stringenten (Alt-)Isländisch schnell relativ. Und angesichts der Verbindung zwischen der Naturkulisse und dem Geist der dortigen Kultur, der sich alsbald auch auf uns Kursteilnehmer auszubreiten begann, wurde mir klar, dass hier nichts unmöglich, aber doch alles relativ sein konnte. Ich wandelte durch ein Land, in dem die Welt logisch eingerichtet, das Leben wenig bemerkenswert und doch alles fast verzaubert erschien. Dieses Inselreich zeigte mir, dass kein noch so bestimmter Gedanke so fest war wie das ewig unbestimmte »Kanska«, das das Wesen der Färöer ist. So war ich als interessierter, erste Gehversuche machender Doktorand auf die Färöer gekommen und ging als veränderter Mensch. Der Aufenthalt dort lehrte mich, dass selbst Zeit eine relative Angelegenheit und Tatsächlichkeit eine sehr perhttps://doi.org/10.1515/9783110774979-201
VIII
Vorwort
sönliche Größe ist. Dafür, diese Erfahrung gemacht haben zu dürfen, danke ich allen, die sie ermöglicht haben, insbesondere dem Fróðskaparsetur Føroya und dem Institut für Nordische Philologie der LMU München für ihre großzügige finanzielle Unterstützung. Die dort gemachte Erfahrung schlug sich, so glaube ich, nicht zuletzt in der Arbeit an der nun vorliegenden Studie nieder, die vor meinem Aufenthalt auf den Färöern als gänzlich anderes Buch intendiert war. Sie wurde 2018 als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität unter dem Titel Erzählung und Macht. Narratologische Studien zur Færeyinga saga angenommen und für die Veröffentlichung überarbeitet. Für seine Betreuung, Führung und Unterstützung über meine gesamte Studienzeit bis zum erfolgreichen Abschluss dieses Unterfangens danke ich Wilhelm Heizmann. Den Herausgebern der Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde sei gedankt für die Aufnahme in diese Reihe und den Mitarbeitenden des de Gruyter-Verlags für die freundliche und angenehme Betreuung der Publikation. Ebenso bin ich der Studienstiftung des Deutsches Volkes für ihre großzügige Unterstützung dankbar, die es mir erst ermöglichte, dieses Projekt zu verfolgen, sowie meinem Zweitgutachter Klaus Böldl, meinem Disputationsdrittprüfer Jörg Schwarz und meiner Drittgutachterin Stefanie Gropper, die mir die ersten Schritte einer akademischen Karriere in Tübingen möglich gemacht hat und mir seither stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Der zahlreichen Begleiter und Helfer auf meinem Weg hierher, denen ich mich zutiefst verpflichtet fühle und den herzlichsten Dank entgegenbringe, sind es zu viele, um ihnen auch nur annähernd die Würdigung entgegenbringen zu können, die ihnen gebührt. Unter allen am meisten schulde ich Wilhelm Heizmann, ohne dessen unermüdliches Vertrauen, Ermutigung, offene Ohren und Ratschläge in fachlicher wie menschlicher Hinsicht sowie Engagement bei der Öffnung aller Türen seit meinem ersten Besuch in einer seiner Vorlesungen im Jahre 2008 ich nicht wäre, wer ich heute bin. Du hast mir all das ermöglicht, und ich bin stolz und geehrt, Dich nicht nur den besten Lehrer und weisesten Freund, sondern im wahrsten Sinne des Wortes so treffend meinen Doktorvater nennen zu dürfen! All meinen Lehrerinnen und Lehrern in München, besonders Alessia Bauer und Katharina Schubert, bin ich ebenso dankbar wie den Studierenden, die ich selbst unterrichten durfte, den vielen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die mich in meinen Seminaren, auf Festen und Exkursionen begleitet haben, sowie all meinen Co-Doktorandinnen und -Doktoranden und den Gästen unserer Oberseminare. Spezieller Dank gebührt Johann Levin, Josef Juergens, Alexander Schulz, Sebastian Thoma, Sophia Feigenbutz, Sophie Fendel und Andreas Fischnaller, die mich in je (fast) all diesen Rollen und weit über das universitäre Leben hinaus begleitet haben. So gilt mein besonderer Dank dem Institut für Nordische Philologie der LMU und all jenen, die die Freude haben, sich ihm zugehörig fühlen zu dürfen. Ja, am Institut, da geht es uns gut! Hervorheben möchte ich Annegret Heitmann, die mir den Besuch auch ihres Oberseminars ermöglicht hat und mir so den Zugang zum theore-
Vorwort
IX
tischen Schlüssel meiner Arbeit bereitstelle, sowie ihren Nachfolger Joachim Schiedermair, der mich unterstützt hat, seitdem er nach München zurückkehrte. Für meine Zeit in Tübingen danke ich herzlichst Stefanie Gropper, Rebecca Merkelbach, Kieran Tsitsiklis, Anna Katharina Heiniger, den Sekretärinnen des Deutschen Seminars und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es war schön, ein Teil von Euch sein zu dürfen! Besonderer Dank gilt meinem Freund Alex Wilson für die vielen Stunden und Gespräche. Ob auf den Färöern, in England oder am Telefon: Elisabeth Magin und die noch viel längeren Stunden im Gespräch mit ihr möchte ich nie mehr missen müssen! Nichts war auf dem Weg zu diesem Unterfangen so gewinnbringend und cool wie die Gruppe um die Bad Guys and Wicked Girls Marion Poilvez, Yoav Tirosh, Anita Sauckel, Rebecca Merkelbach und all die anderen, die ich nach 2015 auch zu Unwanted (2018) in München begrüßen durfte. Für all die weiteren inspirierenden Diskussionen über die Sagas, das Erzählen, die Götter, die Färöer und das Leben bin ich den vielen Kolleginnen und Kollegen dankbar, die meinen Weg begleitet haben. Für die vielen Stunden der Entlastung und Ablenkung in den Fußballstadien Münchens, Bayerns und der Welt danke ich meinen treuen Begleitern, wie auch jenen, mit denen ich meine Begeisterung für ›Lärm‹ als Musikform teilen kann, allen voran Michael Bergler, Timo Galmbacher sowie Stefan und Martin Schöpf. Für ihre gewissenhaften Korrekturlektüren meiner vielen Zeilen danke ich Johann Levin, Alex Wilson und Courtney Burrell im Englischen, und Manuella Wöhrner, Manfred Kunoth, Basti Thoma, Florian Deichl und Alex Schulz, Michael Bergler, Florian Borst, Katharina Müller und Barbara Schmidt dafür, dass sie dieses Buch mit ihren aufmerksamen Augen besser gemacht haben. Vielen Dank! In all dem mehr, als ich je ausdrücken könnte, verdanke ich den vier Säulen meines Lebens: Daniela Hahn, Florian Deichl, Manfred Kunoth und Manuella Wöhrner, die jede und jeder für sich und alle gemeinsam sowohl die Nacht als auch das Licht in mein Leben gebracht haben. Dafür, dass ihr immer und in allen Lebenslagen für mich da seid, ob zum Lachen oder Weinen, zum Feiern oder Ausruhen, bin ich euch auf ewig dankbar! Wohin mein Weg mich auch führt, ihr seid mein Zuhause. Ohne Fundament steht auch der schönste Traumpalast nicht, und so danke ich zuletzt meiner wundervollen Familie dafür, mich immer bedingungslos unterstützt und ermutigt zu haben. Euer Zuspruch und Interesse sind es, die mich alles erreichen lassen. München, im März 2022
Andreas Schmidt
Inhalt Vorwort 1 1.1 1.2 1.2.1
1.2.1.1 1.2.1.2 1.2.2
1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 2 2.1 2.1.1
VII 1 Einleitung Einführung: Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas invenimus. Die Färöer und ihre Saga 1 7 Forschungsbericht Quelle zur Geschichte »ferner Inseln« oder ideologisches Manifest des 13. Jahrhunderts auf Island? Hauptlinien bisheriger Analysen 7 der Færeyinga saga Die Færeyinga saga im Spiegel historischer 7 Erkenntnisinteressen Erzählfreude vs. Ideologie: Eine Saga im Spannungsfeld mittelalterlicher Diskurse 16 Bruchstück größerer Erzählungen oder Einzeltext in weitem Rahmen? Zur überlieferten Gestalt der Færeyinga saga und ihrer 28 Bewertung Die Überlieferungsträger der Færeyinga saga und die Rekonstruktion 28 eines verlorenen Gesamttextes Ansichten der Færeyinga saga als Teil von Óláfs sögur 34 und Flateyjarbók Zur relativen Datierung der *Færeyinga saga und ihrer 41 Berechtigung Eine politische Saga oder der weiße Schimmel: Zur Gattungsfrage 46 der Færeyinga saga »This tale grew in the telling …« Zu Zielsetzung und Ausrichtung dieser Arbeit 50 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen: Narratologie 57 und Færeyinga saga 2022 57 Zu Zielsetzung und jüngerer Entwicklung der Narratologie Unbestimmtheit als Grundzug einer Erzähltheorie: Albrecht 61 Koschorkes erweiterte Kultursemiotik (2013) Vorteile von Koschorkes Ansatz im Vergleich zu bisherigen Lesarten 65 der Færeyinga saga 69 Zur weiteren Vorgehensweise Narrative Raumsemantiken 71 Geographische Räume und ihre literarische Bedeutung: Gedanken 71 zu räumlicher Semantik Konzipierungen von Räumlichkeit in Wissenschaft und Færeyinga 71 saga
XII 2.1.2 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.3 2.4
3 3.1
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.5 3.6 3.6.1
Inhalt
Jurij Lotmans Semiosphäre 75 Exkurs: Die Färöer im altnordischen Korpus 80 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga 95 95 Island und Norwegen – Die Färöer und Island Färöische Raumsemantiken 100 Isländische Perspektiven? Die Færeyinga saga und der isländische Identitätsdiskurs 100 Paradigmen von Innen und Außen: Die literarische Darstellung 105 der Färöer und Norwegens in der Færeyinga saga Die Räume der Færeyinga saga in Lotmans Semiosphären127 Modell Sujet und Hintergrund: Noch einmal Island 132 Einige Worte zur Begründung des weiteren Vorgehens über die Figurenanalyse 138 142 Þrándr í Gǫtu Biographische Spannweiten, politische Macht und Saga-Konventionen. Þrándr im Spannungsfeld des Rezeptionsverständnisses: Antagonist, 142 Listenschmied, Antiheld Þrándrs Persönlichkeit 147 ›Unmännlichkeit‹ als Genealogie-Ersatz? Þrándr im Zusammenhang seiner Familiengeschichte 147 »The shifty red-headed man of the medieval proverbs«? Þrándrs 155 Figureneinführung und physiognomische Beschreibung ›Hér eru menn mjǫk ráðlausir‹. Þrándr auf dem Markt 164 von Haleyri 174 Þrándrs Methode 181 Réð nú einn ǫllu: Þrándrs Herrschaft auf den Färöern Slœgr ok ráðugr. Þrándrs Intelligenz und Rhetorik auf dem Weg der Macht 181 Ódæll ok illgjarn við alþýðu, blíðmæltr við hina meiri menn. Þrándrs 186 Langzeitstrategie im Konflikt mit Sigmundrs Vorherrschaft ›Þar er vér eigum meir en helming við þik‹. Die Ausschaltung von 189 Sigmundr, der Weg zurück an die Macht und ihre Sicherung ›En skattr sá, er þeir hafa mér heitit, þá kemr ekki fram.‹ Der Eingriff 191 Óláfrs des Heiligen und The Man Who Would Be King Folgenschwere Fehlkalkulationen: Die Desintegration von Þrándrs 204 Herrschaftsmacht Aufstieg und Niedergang, Moral und Politik – Þrándr, der Erzähler 207 der Færeyinga saga und die Implikationen der Macht 216 Magie und Heidentum? Zu Þrándrs Glauben Der halsstarrige Heide? Þrándrs Religiosität im Konflikt 218 mit Sigmundr
Inhalt
3.6.2 3.6.3
4 4.1 4.2 4.2.1
4.2.2
4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
4.4 4.5 4.5.1
4.5.2 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2
XIII
›Ok er slíkt eigi á eina lund rétt‹ – Þrándrs kredda im Gesamtkontext 224 der Færeyinga saga Þrándrs magische Fähigkeiten zwischen dämonischer Kunst, komplexer Darstellung und narrativer Offenheit 231 Sigmundr Brestisson 245 Der strahlende Held als blasser Verlierer? Sigmundrs Figurenzeichnung im Kontrast zu Þrándr í Gǫtu 245 Sigmundrs Persönlichkeit 247 Sohn eines Lehnsmannes und einer Norwegerin: Sigmundrs Eltern und gedoppelte Figureneinführung – Grundmatrizen einer ›höfisierten‹ Gestaltung 247 ›Nema vér reynim oss framar‹, oder Leben und Sterben im Hier und Jetzt: Die Momenthaftigkeit des Kriegers und sein Blick auf das ›Schicksal‹ – Grundmatrizen ›heroischer‹ Figurengestaltung 259 Das Kind und der Ächter. Sigmundrs Jugend im Dovrefjell 269 Der Weg des Kriegers: Sigmundr in Hákons hirð 279 »Den ubrugelige hero«: Sigmundrs Herrschaft 293 Sigmundr im Widerstreit divergierender Erzählkonzepte 294 Der ›Narrative Outlaw‹: Norwegische Identität und Ortslosigkeit als erzählerischer Urgrund von Sigmundrs Scheitern 303 Die Kurzsichtigkeit des Kriegers: Abstraktes Recht, Fremdgebundenheit und Kampftaktik als Grundpfeiler der politischen Niederlage 312 Macht und Ohnmacht. Sigmundr im Gesamtzusammenhang der Politik in der Færeyinga saga 326 Sigmundrs Glauben und Tod 331 ›Mátt minn ok megin‹: Sigmundrs defizitäres Christentum und die Marginalisierung der Religionsthematik in der Færeyinga saga 331 Der Ring und Sigmundrs Tod 345 356 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr Untäter ohne eigene Handlungsmacht? Þrándrs Neffen in Saga und Forschungsansicht 356 Þrír menn eru nefndir til sǫgunnar – Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten 357 Allir váru þeir miklir menn ok sterkir: Eine typisierte Figureneinführung 357 Hann var enn frændi þeira – Gautr der Rote, eine Schattenfigur 360
XIV 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.5 7 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2
Inhalt
Sigmundr Brestissons insgeheimer Nachfolger? Der Krieger Sigurðr Þorláksson 361 Þórðr Þorláksson, der weitsichtige Unterstützer 368 Ok váru þó heima með Þrandi – Þrándrs Neffen, Þrándrs Werkzeuge 372 372 Das Ende des Machtkampfes zwischen Þrándr und Sigmundr Die Fahrt nach Norwegen und der Mord an Þórálfr Sigmundarson 373 Die Sendfahrt Karls von Møre und das Desaster der Königspartei 384 auf den Färöern Der Untergang von Sigurðr, Þórðr und Gautr 390 Nicht länger benötigte Werkzeuge und die Auswirkungen 390 des Bruderstreits: Þrándrs Trennung von seinen Neffen Leikr illt orð á Sigurði ok ǫllum þeim frændum: Der Aufstieg von Þrándrs Neffen und seine Rezeption 393 Sigmundr Brestisson der Zweite: Sigurðr Þorláksson und seine 400 Mängel im Rahmen der Færeyinga saga 407 Leifr Ǫzurarson Der unauffällige Sieger: Leifr als Alleinherrscher am Ende 407 des Konflikts Sá maðr er Leifr heitir ok er Ǫzurarson – Leifrs Abstammung 409 und ungewöhnliche erzählerische ›Geburt‹ Von Þrándrs ultimativer Schachfigur zu des Königs treuem Diener – Leifr Ǫzurarsons Wechsel der Zugehörigkeit 415 Leifrs Persönlichkeit im Kontext der Figurenkonstellation 424 Keine Gegner fürs Leben: Leifr und die Familie seines Ziehvaters 424 Ein ungewöhnliches Echo des ›Helden‹? Leifr als Mitglied 429 von Sigmundrs Familie »Þránds Gerissenheit und Sigmunds Tatenkraft« – Leifr als Werkzeug der Frauen 434 440 Gottgewollt. Leifr als letztendlicher Herrscher 446 Nebenfiguren 447 Flache ›stock figures‹: Nebenfiguren in der Færeyinga saga Der ›gute Outlaw‹ im Rahmen der ›Folktale‹ – Þorkell ›Úlfr‹ 456 Þurrafrost Frauenfiguren 471 Realität und Literatur: Misogynie oder Bewunderung? – Old Norse 472 Scholars’ Images of Women Bloße Namen und eine untreue Ehefrau: Weibliche Figuren außerhalb des narrativen Fokus 474
Inhalt
7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 7.5
7.5.1 7.5.2 7.5.3 8
XV
›Wahre Weibsbilder‹: Die kampftaugliche Matrone und Þrándrs Albtraum 477 Die nominelle Macht im Hintergrund. Norwegische Herrscher – Nebenfiguren oder Haupthandlungsträger? 493 Geschichte als Referenzrahmen. Norwegische Herrschaftszeiten im Plot der Færeyinga saga 494 Jarl Hákon Sigurðarson – Rex iustus und ›Lichtgestalt‹ der heidnischen Zeit 496 Der große Missionskönig: Óláfr Tryggvason als entrückte 505 Hauptfigur 515 Óláfr Haraldsson, der scheiternde Polit-›Heilige‹ Variierte Spiegelbilder des Hauptakteurs: Die norwegischen Herrscher und Þrándr 523 Der Fokusfigur beigestellt. Das ›Zwei-Brüder‹-Motiv und seine Funktion zur Charakterisierung von Hauptfiguren in der Færeyinga 525 saga 525 Þórir Beinisson, Sigmundrs unterlassene Möglichkeit 531 Weitere ›Brüder‹-Paare in der Færeyinga saga 533 Gilli und Þórálfr Sigmundarson
Vielseitigkeit in Einheit. Zur narrativen Struktur der Færeyinga saga 537 538 8.1 Handlungskreise und Erzählabschnitte 542 8.2 Verbindende Elemente des Gesamthandlungsgangs 8.2.1 Das semantische Feld um Þrándr als Strukturachse 542 der Narrationsentwicklung 8.2.2 Wiederholung und Spiegelung als strukturelle Bindeglieder 544 der Erzählabschnitte 8.2.3 Binarismen und Kontraste als notwendige Strukturelemente des Erzählgangs 551 8.3 Erweiternder Exkurs: Multiple Erzählebenen in der Færeyinga 554 saga 8.3.1 »Skaldic prosaics«: Die Sagaliteratur und der vielschichtige 554 Textsinn 561 8.3.2 Þrándr und der heidnische Mythos 561 8.3.2.1 Óðinn, Þrándr und Þórr 571 8.3.2.2 ›Phantastische Erzählung‹ in Mittelalter und Færeyinga saga 8.3.3 Sigmundr, der Ring der Þorgerðr und die mythische 578 Textebene 8.3.4 Fazit: Der Sinn der zusätzlichen Erzählebene für die Handlung 593 und ihre Interpretation 8.4 Heimlichkeit, Verbrechen und die Wirksamkeit des Mythos: 596 Eine ›semantische‹ Gliederungsebene der Færeyinga saga
XVI 8.5 8.5.1 8.5.2 9 9.1 9.2
9.2.1 9.2.2
9.2.3
Inhalt
Narrative Strategien der Komplexitätssteigerung 605 Pluralisierung als notwendige Modifikation des zweiten 605 Handlungskreises 610 Inversion als narrative Strategie Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. 615 Gesamtfazit und Ausblick 615 Fazit: Unbestimmtheit als Erzählprinzip Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext. Überlegungen zu Überlieferungssituation, Entstehungshintergrund 625 und literaturgeschichtlicher Stellung der Færeyinga saga Unterschiedliche Texte, unterschiedliche Sinngebungen: Zur Gestalt 626 der Færeyinga saga außerhalb der Flateyjarbók Ein offener Text mit mehrschichtiger Funktion: Zu den Aufbauprinzipien der Flateyjarbók in Hinblick auf die Færeyinga 629 saga Unbestimmtheit als Gattungsmerkmal? Die Færeyinga saga 633 im Horizont der Isländersagas
Abkürzungen, Siglen und Titelverweise
639
641 Bibliographie 641 Quellenverzeichnis 641 Ausgaben der Færeyinga saga 641 Übersetzungen der Færeyinga saga 641 Weitere Quellen und Übersetzungen 646 Literaturverzeichnis 670 Onlinequellen Quellenindex
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1 Einleitung 1.1 Einführung: Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas invenimus. Die Färöer und ihre Saga Sunt aliae insulae multae in septentrionali Brittanniae oceano, quae a septentrionalibus Brittanniae insulis duorum dierum ac noctium recta nauigatione plenis uelis assiduo feliciter uento adiri quaeunt. Aliquis presbyter religiosus mihi retulit quod in duobus aestiuis diebus et una intercedente nocte nauigans in duorum nauicula transtrorum in unam illam introiuit. Illae insulae sunt aliae paruulae, fere cunctae simul angustis distantes fretis; in quibus in centum ferme annis heremitae ex nostra Scottia nauigantes habitauerunt. Sed, sicut a principio mundi desertae semper fuerunt ita nunc causa latronum Normannorum uacuae anchoritis plenae innumerabilibus ouibus ac diuersis generibus multis nimis marinarum auium. Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas inuenimus.1 (There are many other islands in the ocean north of Britain which can be reached from the northern islands of Britain in a direct voyage of two days and nights with sails filled with a continuously favourable wind. A devout priest told me that in two summer days and the intervening night he sailed in a two-benched boat and entered one of them. There is […] [a] set of small islands, nearly all separated by narrow stretches of water; in these for nearly a hundred years hermits sailing from our country, Ireland, have lived. But just as they were always deserted from the beginning of the world, so now because of the Northman pirates they are emptied of anchorites, and filled with countless sheep and many diverse kinds of sea-birds. I have never found these islands mentioned in the authorities.2)
Die unbekannten, kleinen und unbewohnten Inseln, die der irische Mönch und Geschichtsschreiber Dicuil in diesem Abschnitt seines im Jahr 825 im Karolingischen Reich entstandenen Liber de mensura orbis terrae beschreibt, werden gemeinhin aufgefasst als erste Erwähnung der Inselgruppe der Färöer.3 Die 18 Basaltinseln vulkanischen Ursprungs befinden sich auf 62° nördlicher Breite und 7° westlicher Länge im Nordatlantik zwischen den schottischen Inseln, Norwegen und Island und werden heute von etwa 50.000 Einwohnern bewohnt.4 Damit stellen sie die kleinste der nordischen Kulturnationen dar. Nie habe er etwas über diese Inseln in den Schriften der auctores, der Gelehrten, geschrieben gefunden, gibt Dicuil zu Protokoll – eine Angabe, deren Kern auch heute, rund zwölf Jahrhunderte später, durchaus Bestand hat. Im Rahmen der Weltöffentlichkeit prä-
1 Dicuil, Liber, VII, 14–15, S. 74 u. S. 76. 2 Bieler (Übers.), in Dicuil, Liber, S. 75 u. S. 77. Der Beginn des zweiten Abschnitts wäre wohl indes am treffendsten mit »Some of those islands are small« wiedergegeben. 3 Die Identifizierung ist umstritten. Für eine aktuelle Besprechung ihrer Möglichkeiten und Grenzen samt einer genauen Textanalyse des entsprechenden Absatzes vgl. etwa Skårup 2009, S. 5–10. 4 Vgl. Werner 1994, S. 119. https://doi.org/10.1515/9783110774979-001
2
1 Einleitung
sentieren sich die »fernen Inseln«5 der Färöer weithin als eine moderne terra incognita. Der geringen Größe von Land und Bevölkerung mag es zu verdanken sein, dass die Färinger nicht allein als die kleinste, sondern auch als die unbekannteste nordische Nation betrachtet werden können. Der breiteren Öffentlichkeit ist der Name der Inselgruppe für gewöhnlich bestenfalls im Kontext der kontrovers diskutierten Tradition des Grindadráp ein Begriff, einer nicht-kommerziellen Form des Walfangs, nicht zuletzt dank massiver Kampagnen von Umweltschutzorganisationen während des letzten Jahrzehnts.6 Gelegentlich die Bühne der Weltöffentlichkeit betreten die Färinger anderweitig hauptsächlich im Rahmen des Volkssports Fußball.7 Selbst innerhalb der nordischen Welt bilden die Färöer ein randständiges Gebiet – die Beschäftigung mit den Inseln blieb und bleibt bis heute zum Großteil der einheimischen Bevölkerung selbst überlassen. Erste Werke ausländischer Gelehrter über den Archipel datieren so zwar bereits aus dem späten 17. Jahrhundert,8 doch blieben solcherlei Informationsmöglichkeiten stets viel mehr Ausnahme denn Regelfall. Selbst die Isländer, gewissermaßen das ›Brudervolk‹ der Färinger, scheinen, trotz ihrer bereits seit dem Mittelalter berühmten Schreiblust, an den benachbarten Inseln kein nennenswert großes Interesse entwickelt zu haben.9 Mit einer Ausnahme: Der einzig erhaltene, vormoderne Erzähltext über die Färöer
5 Dieser Begriff stammt von dem dänisch-stämmigen Juristen Carl Julian Graba, der damit – nach allgemeiner Auffassung fälschlich – den Begriff »Färöer« übersetzt (Graba 1830 [Vorbemerkung ohne Seitenzahl]). Auch wenn der Name im Skandinavischen recht durchsichtig eigentlich »Schafinseln« bedeutet, bietet sich der Begriff doch an, um das Wesen der Färöer aus dem Blick der modernen Weltöffentlichkeit zu beschreiben. Als Übersicht über ältere (und abgewiesene) Vorschläge der Übersetzung von »Färöer« siehe Matras 1959. 6 Siehe etwa Weiß 2009. Aktuelle Dokumentationen zu dieser Thematik finden sich auf dem Videoportal YouTube. Das von der Firma Vice Media betriebene Online-Magazin motherboard.tv nimmt sowohl die Walfangpraxis selbst, als auch die Auswirkungen der Präsenz der Umweltorganisation Sea Shepherd auf den Inseln ins Auge: Motherboard 2015 [zuletzt abgerufen am 31.08.2021]. 7 Siehe beispielsweise Bock 2013. 8 Als Pionierarbeit gilt dabei der Bericht des dänischen Amtmanns Lucas Jacobsøn Debes von 1673. Die Beschreibung der Färöer des in Rostock gebürtigen Dänen Thomas Tarnovius datiert bereits vier Jahre früher, war allerdings bis zu ihrer modernen Edition nicht veröffentlicht. Die erste färöische Geschichte legte der isländische Gelehrte Þormóður Torfason (latinisiert als Thormodus Torfæus) 1695 in lateinischer Sprache vor, wofür er hauptsächlich altnordische Quellen übersetzte, vgl. hierzu Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 85–105. Im späten 18. Jahrhundert folgen erste Reiseberichte wie der Jens Christian Svabos (herausgegeben erst 1959), deren Zahl allerdings erst im 19. Jahrhundert zunimmt. 9 Vgl. auch die Studie von Turið Sigurðardóttir 2005, die erweist, dass die Färöer auf Island bis in die Literatur des letzten Jahrhunderts insbesondere im (impliziten oder expliziten) Vergleich zu Island selbst aufgegriffen und verhandelt werden.
1.1 Einführung: Die Färöer und ihre Saga
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stammt aus Island; es ist die sogenannte Færeyinga saga, die Geschichte der Färinger.10 Doch auch dieser Text offenbart sich als eine terra incognita, umgeben von einer geheimnisvollen Aura. Diese Beobachtung ergibt sich bereits aus dem Befund, dass ein Text unter diesem Namen streng genommen gar nicht existiert bzw. erst seit seiner Editio princeps im Jahre 1832 als solcher verfügbar ist. Was heute unter dem Namen Færeyinga saga firmiert, ist in keiner einzigen überlieferten Handschrift als zusammenhängender Gesamttext enthalten und nie explizit so bezeichnet. Die sogenannte Saga ist eine moderne Rekonstruktion verschiedener Bruchstücke, die in anderen, mittelalterlichen Texten überliefert wurden. In ihrer Gesamtheit ist diese Rekonstruktion einzig an verschiedenen, nicht unmittelbar zusammenhängenden Stellen der Großkompilation Flateyjarbók (GKS 1005 fol.) vom Ende des 14. Jahrhunderts enthalten, als Interpolation in und um die dort versammelten Óláfs saga Tryggvasonar en mesta und Óláfs saga helga; in weiteren Manuskripten existieren mitunter stark anders geartete, kürzere Textversionen. Doch nur diese Überlieferungsbruchstücke erzählen die Geschichte jener nicht in den Büchern der auctores erwähnten Inseln, die Dicuil beschreibt. Selbst die isländischen auctores und ihre Sagas bleiben somit recht wortkarg. Und nicht allein sie: Zwar ist die Saga mehrfach herausgegeben und übersetzt und im Vergleich mit anderen Texten der Sagaliteratur durchaus nennenswert studiert worden, jedoch schienen die Inseln und ihre Saga auch in den Schriften der modernen, wissenschaftlichen Gelehrten eher grundsätzlich bekannt denn bis in die Tiefe ihres Wesens durchdrungen. Auf den ersten Blick erscheint dies nur folgerichtig: Ereignisse auf den Färöern dürften mit Ausnahme der direkt Betroffenen kaum Bedeutung von Weltrang haben. Der Archipel, bestehend aus wenig mehr als Felsformationen, gedeckt mit weiten Grasflächen und umspült von den meist reißenden Wassern des Nordatlantik, wirkt wie ein ideales Refugium gerade der Tierwelt, die schon Dicuil beschreibt (innumerabil[es] ou[es] ac diuers[a] gener[a] […] marinarum auium), doch nur bedingt geeignet für menschliche Interaktion oder Sinnzuschreibung.11 »[T]he natural scenery is
10 Die Grundlage der vorliegenden Studie bildet die kritische Edition Ólafur Halldórssons von 1987. Sämtliche angegebenen Übersetzungen der Færeyinga saga sind meine eigenen. Sie basieren auf einer Arbeitsübersetzung, für die die sprechenden altnordischen Ortsnamen und ähnliche Bezeichnungen auf Deutsch übertragen wurden (Austrey also als »Ostinsel« u. dgl. m.; daneben wurden Wörter wie Þing als »Thing« der deutschen Schreibung angeglichen). Norwegische Ortsbezeichnungen wurden hingegen in ihr modernes Äquivalent übertragen. Diese Elemente der Übersetzung werden hingegen im Rahmen der Analyse nicht verwendet. Im Verlauf dieser Arbeit wurden daneben drei Übersetzungen des Textes konsultiert, namentlich angefertigt von Felix Niedner 1929 ins Deutsche, George Johnston 1975 ins Englische und Bo Almqvist 1992 ins Schwedische. Die zweite deutsche Übersetzung von Klaus Kiesewetter 1987 erwies sich als unbenutzbar (vgl. auch Werner 1994, S. 124). Eine Auswahlübersicht weiterer Übersetzungen bietet Ólafur Halldórsson 2006, S. LXXIX–LXXX. 11 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 368–369.
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1 Einleitung
abrupt, awesome and beautiful«,12 doch gerade wegen der naturgegebenen Fulminanz und Abgeschiedenheit dieser Inseln kann es geradezu widersinnig erscheinen, hier nach den Spuren menschlicher Kultur oder für diese bedeutsamer Ereignisse Ausschau halten zu wollen. Die Färöer sind von Natur aus fern, unnahbar und unzugänglich, noch heute Inseln am Rande von Welt und Zeit. Entsprechend sind verfügbare Quellen menschlicher Interaktion mit und auf ihnen spärlich, umso mehr für die mittelalterliche Zeit, als die Distanz in Raum und Zeit zwischen den »fernen Inseln« und der Welt noch nicht per Flugzeug zu überbrücken war. Welche Botschaft, welche Geschichte sollten diese fast verlassenen und halb vergessenen »fernen Inseln« der Welt außerhalb ihrer selbst also schon zu vermitteln haben? Doch trotz ihrer scheinbaren Sinnwidrigkeit finden sich immer wieder Texte, die die Färöer behandeln oder wenigstens erwähnen und die nicht allein zum Ziel haben, Curiosa oder Fußnoten der Weltgeschichte zusammenzustellen. Die Reiseberichte des späten 17. bis frühen 20. Jahrhunderts zeugen, gerade wenn sie auf die Färöer führen, von der gleichen Sehnsucht nach dem in seiner Wildheit und nichtmondänen Natur interessanten Unbekannten, das die Reiseberichtliteratur in diesem Zeitalter insgesamt prägt und das Interesse für abgelegene Länder und unverdorbene Grenzen auch innerhalb Europas maßgeblich begründet.13 Auch der eingangs zitierte Dicuil erwähnt die Färöer insbesondere deshalb, um von ihrem menschenleeren Wesen causa latronum Normannorum zu berichten, einer Angelegenheit, die im von den Wikingern wiederholt heimgesuchten Frankenreich des 9. Jahrhunderts sicherlich eine eigene Virulenz besaß. Den gleichen Parametern unterliegen auch die Færeyinga saga und ihre Erforschung. In größeren Übersichtswerken zur altnordischen Literatur und ihrer Geschichte meist bestenfalls beiläufig erwähnt,14 wurde sie bisher lediglich in kleineren Einzelstudien erforscht, auf den
12 Johnston 1975, S. 7. 13 Als Überblick zum Exotismus der Reiseliteratur im Generellen einschließlich einer Zusammenfassung postkolonialer Theorie vgl. Oxfeldt 2010, S. xi–xxvii. Zum Skandinavienbild insbesondere der frühen Reiseliteratur, die sich auch in den Färöer-Berichten aufspüren lässt (v. a. als »biggest nature reserve and archaeological ›museum‹ in Europe«) siehe Klitgaard Povlsen 2007 (Zitat S. 13). Zur Reflexion gängiger, europäischer Muster in den ersten Landesbeschreibungen der Färöer vgl. Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 94–105 u. S. 150–158. Zu bemerken ist, dass bei den färöischen Reiseberichten der (natur)wissenschaftliche Impetus auch lange Zeit in die romantische Periode hinein anhält (etwa wenn Grabas Bericht von 1830 in der Hauptsache eine ornithologische Studie darstellt), der Exotismus sich also weniger als kulturell überformt denn hauptsächlich als Neugier nach der imposanten, anderweitig nicht erfahrbaren Natur der Inseln niederschlägt. Diese klingt selbst in Klaus Böldls sehr lyrischer Beschreibung von 2003 noch nach. 14 Bei Uecker 2004 wird die Færeyinga saga etwa lediglich an einer Stelle genannt (S. 114), ohne näher auf sie einzugehen. Einige wenige Male erwähnt wird sie bei McTurk (Hrsg.) 2007 im Zuge ihrer unklaren Gattungszuordnung. Im selben Zusammenhang weist Clunies Ross 2010 nur an einer Stelle auf sie hin (S. 86). Ebenso periphere Erwähnung findet die Saga bei Vésteinn Ólason 2011 und Ármann Jakobsson/Sverrir Jakobsson (Hrsg.) 2017. Immerhin die kurze Beschreibung des vermeintlichen Hauptthemas wird dem Text bei Jónas Kristjánsson 1988, S. 165–166 zuteil; am ausführlichsten (und dennoch knappgehalten) präsentiert sich hier de Vries 1999, II, S. 266–268.
1.1 Einführung: Die Färöer und ihre Saga
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ersten Blick ihrer Einzigartigkeit Rechnung tragend.15 Dennoch behandeln sie die genannten Studien nicht als kontextloses Faszinosum, sondern attestieren ihr eine (auch literatur-) geschichtlich bedeutende Stellung,16 und/oder analysieren sie als Träger bedeutender Diskurse des isländischen Mittelalters.17 Eine terra incognita ist auch die Saga in den Schriften der auctores also insofern, als dass sie überwiegend alleinstehend betrachtet wurde und folglich keinen prominenten Platz in der altskandinavistischen Forschung einnimmt. Gegenläufiger Weise wird ihr jedoch das Potenzial bescheinigt, wichtige Elemente in die altnordische Literatur und durch ihre Analyse ebenso bedeutende Erkenntnisse in den altnordistischen Forschungsdiskurs einzuspeisen. Diese Erkenntnispotenziale ergeben sich aus ihrer gleichsam einzigartigen Position.18 Sie wird sehr früh datiert und steht der Mehrheit der Forschung nach im Spannungsfeld unterschiedlicher Diskursperspektiven des mittelalterlichen Islands. Dadurch könne sie tiefgehende mentalitätsgeschichtliche Einblicke in das Weltbild ihrer Entstehungszeit ermöglichen.19 Allerdings erscheint auch die Landkarte dieser potenziellen Analyseergebnisse wie eine terra incognita, da die vorderhand so übersichtlich gestaltete Erzählung diametral unterschiedliche Einschätzungen ihres ideologischen und diskursiven Gehalts auf sich gezogen hat.20 Zudem befindet sich die Saga, bedingt durch ihre Überlieferung, auch im Spannungsfeld mehrerer literarischer Gattungen. Damit besitze ihre Erforschung das Potenzial, Erkenntnisse über die Entwicklung der Sagaschreibung ebenso abzuwerfen wie Aufschlüsse über die Gattungsgenese im mittelalterlichen Island zu geben.21 So gibt Glauser an, u. a. sei »[e]ine eingehendere Analyse der intrikaten Verbindungen zw[ischen] F[æreyinga] s[aga] und Königssagas […] aufschlussreich« und »die literaturgeschichtl[iche] Stellung der F[æreyinga] s[aga] erst punktuell beschrieben«.22 Diese schwierige Forschungslage kommt nicht von ungefähr: Wie bereits angeführt, handelt es sich bei der Færeyinga saga einerseits um den einzigen Text, der die Frühzeit der Färöer behandelt, womit ein primär historisches Interesse am Quellenwert der Saga gleichsam aus sich selbst heraus gerechtfertigt erscheint. Auch ihre
15 Zur Behandlung der Færeyinga saga »bisher fast ausschließlich als isolierter Text« vgl. Glauser 1994, S. 115. 16 Vgl. etwa Ólafur Halldórsson 1967, S. x; Johnston 1975, S. 14; Berman 1985, S. 122. 17 So die Einschätzungen bei Skyum-Nielsen 1973; Guldager 1975; Harris 1986; Haugan 1987. Sie wollen der Ideologie des Textes vor dem Hintergrund der Eingliederung Islands ins norwegische Reich um 1262–1264 nachspüren. 18 Zu den hier genannten Spannungsfeldern, in denen sich der Text konstituiert, siehe den Forschungsbericht in Kap. 1.2. 19 Vgl. bes. etwa Berman 1985; Harris 1986. 20 Als Extrempole gegenläufiger Einschätzungen siehe Skyum-Nielsen 1973 und Guldager 1975. 21 Vgl. die Analyse der Entwicklung von Historiographie zu fiktionalisierter Erzählung bei Jesch 1993. 22 Glauser 1994, S. 115 u. S. 116.
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1 Einleitung
beinahe einzigartige Überlieferungssituation zieht, nicht zuletzt in diesem Zusammenhang, ein eigenes Interesse auf sich und erschwert zugleich eine unbeschwerte Miteinbeziehung in literaturgeschichtliche Überblicke, ebenso wie der scheinbar einzigartige Status ihres literarischen Genres. Und auch aus literarischem Blickwinkel macht der Text es seinen Rezipienten einfach und schwer zugleich. Schon bei einer naiven Erstlektüre überrascht die Saga mit ihrer unmittelbaren Vielschichtigkeit und zeigt sich auf fesselnde Weise als eindringliche Erzählung: In Teilen mag sich der solchermaßen rezipierte Text wie das Skript zu einem zeitgenössischen Actionfilm lesen, an anderen Stellen wie ein (Polit-)Thriller, an wieder anderen fast wie ein Kriminalroman, plötzlich jedoch ebenso wie eine mittelalterliche Predigt über die Wirkmächtigkeit Gottes und an nächster Stelle unmittelbar wie ein ethnographischer Bericht über obskure Rituale einer weit entfernten Stammesgemeinschaft. Die Saga bietet neben dem ins Auge stechenden Bericht über eine Totenbeschwörung eines der Protagonisten23 ebenso wilde Schlachten im Zuge von Wikingerfahrten,24 plötzlich auftretende, heidnische Gottheiten,25 und, mit Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson, gleich die beiden berühmtesten Könige Norwegens als Protagonisten.26 In ihrer, trotz ihrer Knappheit, mitunter fast überbordend erscheinenden Erzähllust werfen die Gestalt der Saga und die Fülle ihres erzählerischen Materials unmittelbar Fragen auf, nach ihrer Historizität ebenso wie nach ihrem Zweck, oder nur dem zugrundeliegenden Thema. Diesen sich so vielfältig präsentierenden Text aufzuschlüsseln und dadurch die diversen terrae incognitae zu kartieren, die sich im Laufe der Zeit um ihn gebildet haben und in die er Einblick verspricht, ist die Zielsetzung der vorliegenden Studie. Dabei erwies es sich als notwendig, das Erkenntnisinteresse nicht in erster Linie von den hinter der Saga liegenden terrae aus zu denken, sondern zunächst den Text selbst in den Blick zu nehmen. Es galt, ihn vorläufig weder unmittelbar als Produkt diskursiver Ideologien zu deuten, noch die mitunter wildwüchsig erscheinende Anzahl verarbeiteter Themenbereiche als Symptom mittelalterlicher Erzähl-Alterität zu begreifen, also den gesamten Gehalt auf ein einziges dahinterstehendes Logikprinzip zurückzuführen. Die Færeyinga saga erzählt mitunter anders als ein ›modernes‹ Leseempfinden dies als unmittelbar verständlich ansehen würde. Dennoch gilt es in der Beschäftigung mit einem solchen Text, ihn nicht vorschnell zu verkürzen und von seinem vermeintlichen Entstehungshintergrund her zu deuten, oder ihn lediglich als Mittel zum Zweck der Erhellung anderer Erkenntnisinteressen zu benutzen. Vielmehr scheint es geboten, ihm den gebührenden Eigenwert als literarisches Produkt einzuräumen, denn gerade diese Aufwertung der Erzählung als Er-
23 Siehe Fær, c. 40, S. 87–89, zur Besprechung Kap. 3.6.3 u. Kap. 8.3.2. 24 Siehe Fær, c. 18–21, S. 40–47, behandelt in Kap. 4.2.4. 25 Siehe Fær, c. 23, S. 48–51, besprochen in Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3. 26 Siehe Fær, c. 28–33, S. 70–80, u. c. 43–48, S. 90–125. Abgehandelt werden die entsprechenden Figuren in Kap. 7.4.
1.2 Forschungsbericht
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zählung offenbarte sich nach Durchsicht der vorliegenden Forschung als primäres Desiderat.
1.2 Forschungsbericht 1.2.1 Quelle zur Geschichte »ferner Inseln« oder ideologisches Manifest des 13. Jahrhunderts auf Island? Hauptlinien bisheriger Analysen der Færeyinga saga 1.2.1.1 Die Færeyinga saga im Spiegel historischer Erkenntnisinteressen In Bezug auf die Geschichte der Färöer kommt der Færeyinga saga eine in mehrfacher Hinsicht herausragende Bedeutung zu. Die Saga ist die einzige Quelle, auf die sich ein Konzept färöischer Geschichte überhaupt zusammenhängend gründen kann, ihr Status ist diesbezüglich einzigartig – ohne sie gibt es eine solche Geschichte nicht jenseits des baren Faktums, dass Menschen die Inseln ab einem bestimmten Zeitpunkt X besiedelt haben.27 Nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache wurde die Saga 1832 erstmals wissenschaftlich ediert;28 in einer Zeit, die für die Geschichte der Färöer herausragende Bedeutung trug. Diese Arbeit Carl Christian Rafns hatte auf den Färöern selbst nachhaltige Folgen. Seine Edition wurde von einer färöischen Übersetzung begleitet, die damit einen der ersten gedruckten Texte in färöischer Sprache überhaupt darstellt.29 27 Als Übersicht über die Diskussion zur Erstbesiedelung der Färöer vgl. Debes 1990, S. 55–100, auf Englisch auch als kürzere Auskopplung daraus Debes 1989–1990. Vgl. weiterhin Werner 1994, bes. S. 121–129, und als rezenteren Überblick Bonté 2014a, S. 125–131. 28 Siehe FærCCR. Bereits zuvor sind Teile des Stoffmaterials – allerdings nicht unter dem Namen Færeyinga saga – etwa in der dänischen Heimskringla-Übersetzung von Peder Claussøn Friis 1633 und einer isländischen Druckausgabe der Óláfs saga Tryggvasonar (1689–1690) enthalten (und womöglich in weiteren frühen Textausgaben, als Überblick zu diesen einschließlich einer reichen Bibliographie siehe Haugen 2013), auf die sich Berichte über die Färöer aus dieser frühen Zeit beziehen können. Auf Basis der Flateyjarbók versammelte erstmals Torfæus 1695 in seiner oben genannten lateinischen Geschichte der Färöer das verstreute Einzelmaterial an einem Ort. Dessen Buch wurde 1770 von Peter Thorstensen (Übers.) als Historisk Beretning om Indbyggernes Bedrifter paa Færøerne auf Dänisch übersetzt. Als Überblick vorgängiger Ausgaben siehe Ólafur Halldórsson 2006, S. LXXVII–LXXIX. 1927 folgte eine Neuausgabe der Færeyinga saga durch Finnur Jónsson, seither mehrere, die sämtlich von Ólafur Halldórsson besorgt wurden, bestehend aus einer allgemeinen Leseausgabe 1967, einer Schulbuchausgabe 1978, der kritischen Edition 1987 und der Edition in der Reihe Íslenzk Fornrit 2006. Mit Ausnahme der letzten beiden bieten sämtliche dieser Editionen vollständig einzig den Text, den die Flateyjarbók überliefert, die abweichenden Redaktionen, insbesondere des ersten Teils der Saga, finden sich als Gesamttext nur in den beiden jüngsten Ausgaben. 29 Vor dieser Ausgabe existierten im Druck lediglich eine Ballade (Hørpu ríma) in der schwedischen Anthologie Svenska folk-visor från forntiden, die die berühmten Erik Gustaf Geijer und Arvid August Afzelius ediert hatten, die Balladensammlung Færøiske Qvæder om Sigurd Fofnersbane og hans Æt von Hans Christian Lyngbye – das erste vollständige Buch in färöischer Sprache – sowie eine Übersetzung des Matthäusevangeliums von Seiten Johan Henrik Schrøters, der auch in Rafns
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1 Einleitung
Mindestens 91 Exemplare der Ausgabe wurden auf den Inseln abgesetzt, was einen Schnitt von einer Saga pro 70 Einwohner der Inseln bedeutete.30 Rafns Ausgabe fiel damit mit dem Erwachen eines färöischen Nationalgeistes im frühen 19. Jahrhundert zusammen. Es verwundert nicht, dass neben den zeitgenössisch als herausragende Zeugen einer uralten Geschichte betrachteten Balladen31 damit der einzige zusammenhängende Text über die Urgeschichte der Inseln mit als Erstes seinen Weg zum Druck und ins kulturelle Gedächtnis der kleinen Nation fand. Begründet auf die Balladen und die Saga konnten nun auch die wenigen Färinger in der nationalromantischen Epoche das Recht auf eine eigene Kulturgeschichte ausweisen. Maßgeblich unter ausländischem Einfluss erkannte man auf den Färöern anhand dieser beiden textlichen Katalysatoren, dass man überhaupt mit einer eigenen, im europäischen Vergleich wertvollen Geschichte ausgestattet war.32 Das Interesse an der Færeyinga saga war somit von Beginn an historisch definiert, und eine solchermaßen gelagerte Perspektive lässt sich als Konstante fast der gesamten bisherigen Forschung zu ihr festhalten. Der Text gilt außerhalb akademischer Kreise nach wie vor als gültige Geschichte des Archipels33 und wird noch bis in jüngste Zeit als Quelle oder Korrektiv historischer Wahrheitsfindung auch in der Wissenschaft verwendet.34 Entsprechend schreibt auch Ersteditor Carl Christian Rafn: Foruden en udførlig Fremstilling af Begivenhederne paa Færøerne i de ovennævnte Aarhundreder, hvorved Sagaen bliver det vigtigste Kildeskrift til disse i flere Henseender mærkværdige Øers Historie, afgiver den ogsaa adskillige ikke ubetydelige Bidrag til Kundskab om vore For-
Ausgabe für den färöischen Text verantwortlich zeichnete. Vgl. hierzu Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 238–246. 30 Vgl. Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 246. Der Neudruck von Rafns Ausgabe selbst verzeichnet dementgegen 107 Subskribenten mit Datum vom Oktober 1828, siehe FærCCR [Anhang am Ende ohne Seitenzahl], vgl. auch Klettskarð 2000, S. 15. Schier 1994b, S. 199 zählt dagegen, laut Angabe nach der Erstausgabe von 1832, 86 Vorbestellungen. In jedem Fall bedeutet eine Zahl in der Nähe von 100 einen bemerkenswert hohen Absatz. 31 Vgl. Schier 1994b, S. 192–194. 32 Vgl. Schier 1994b, bes. S. 187–202. 33 Ein Beispiel wäre der von Klettskarð 2000, S. 12 aufgeführte Turistguide Færøerne ’98. Auch in der dänischen Reisebroschüre Turen går til Færøerne von 2013 werden die beiden Hauptfiguren Þrándr und Sigmundr und ihre Saga unter der Rubrik »Historie« angesprochen, siehe Nebelong 2013, S. 18–19. Ebenso werden beide Figuren als Zeugen der Vergangenheit im deutschsprachigen Färöer. Reiseführer 2014 bei der Beschreibung der Stadt Gøta erwähnt, siehe Sansir (Hrsg.) 2014, S. 58. Vgl. hierzu auch das populärgeschichtswissenschaftliche Sammelwerk des in Gøta gebürtigen Sigfríður Joensen zu verschiedenen Aspekten der »Geschichte« der Gøtuskeggjar, maßgeblich basierend auf der Færeyinga saga (Joensen 2008). Mir selbst wurde bei meinem Färöer-Aufenthalt im Jahr 2014 eine Führung durch Gøta von einem Mitarbeiter des ortsansässigen Museums Blásastova zuteil, der mich dafür für mein Interesse an »Geschichte« zu belohnen suchte, nachdem er gesehen hatte, dass ich mich für die Statue des Þrándr im Ortszentrum interessierte. 34 Vgl. als Überblick über die inner-färöische Geschichtsschreibung Klettskarð 2000, S. 12–33.
1.2 Forschungsbericht
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fædres Begreber, Sæder og Skikke og Troesmeninger i Kristendommens tidligste Periode her i Norden.35 (Neben einer ausführlichen Darstellung der Begebenheiten auf den Färöern in den oben genannten Jahrhunderten, womit die Saga die wichtigste Quellenschrift für die Geschichte dieser in mehrfacher Hinsicht denkwürdigen Inseln wird, gibt sie auch verschiedene, nicht unbedeutende Beiträge zur Kenntnis der Ansichten, Sitten und Gebräuche und Glaubensvorstellungen unserer Vorväter in der frühesten Periode des Christentums hier im Norden ab.)
Die Saga ist Rafns Ansicht nach insofern ›echt‹, als dass sie als historische Quelle Aufschlüsse darüber bietet, »hvad mærkeligt der har tildraget sig paa Færøerne i længst forledne Tider«.36 Entsprechend übernimmt etwa Niels Winther, wie seine Vorgänger Torfæus und Debes aus der Zeit vor Rafns Ausgabe,37 die Darstellung der Saga zur Aufzeichnung seiner Færøernes Oldtidshistorie fast vollständig kritiklos.38 Dem grundsätzlich folgend urteilt auch Golther: »Die Færeyingasaga ist in ihrer grundlage eine verlässige geschichtsquelle«.39 Skeptisch ob der Überlieferungslage des Textes, die nach Rafns Ausgabe durchaus auch zweifelnde Stimmen hervorbrachte,40 gibt er jedoch zu bedenken, dass man »im einzelnen aber […] sicherlich neben der historischen wahrheit auch mancherlei reine erdichtung« finde.41 Auch der gebürtige Färinger Hammershaimb garniert seinen kurzen Reisebericht in der Antiqvarisk Tidsskrift mit als historisch betrachteten Bezügen auf die Saga, bemerkt jedoch Unstimmigkeiten zwischen realer Geographie und Sagabericht.42 Angesichts dieser Bewertung ist wenig verwunderlich, dass große Teile der nachfolgenden Forschung zur Færeyinga saga vorwiegend mit der Erstellung eines kanonisch-›korrekten‹ und ›originalen‹ Textes beschäftigt waren und die Erzählung kritisch auf ihren Wert als historische Quelle
35 Rafn 1832, S. V. Die folgende und sämtliche weiteren Übersetzungen in der vorliegenden Studie sind meine eigenen, insofern nicht anders ausgewiesen. 36 Rafn 1832, S. II (was sich Denkwürdiges auf den Färöern in längst vergangenen Zeiten zugetragen hat). 37 Siehe Debes 1673 und Torfæus 1695, Debes basiert auf Peder Claussøn Friis’ Norwegenbeschreibung (1632) und dessen Übersetzung von Snorri Sturlusons Heimskringla (1633), Torfæus auf der Flateyjarbók, vgl. Klettskarð 2000, S. 13. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die in einigen Details massiven Abweichungen, die Friis’ und Debes’ Berichte vom Erzählverlauf der Færeyinga saga aufweisen, obgleich sie dennoch so nahe an ihn angelegt scheinen, dass eine grundsätzliche Bekanntheit vorausgesetzt werden muss. Welche Quellen hier genau Verwendung fanden, ob im frühen 17. Jahrhundert gar noch eine weitere Tradition des Färöer-Erzählstoffes existiert haben mag, wäre noch zu untersuchen. 38 Vgl. Winther 1875. Zur Kritiklosigkeit der Arbeitsweise vgl. Glauser 1994, S. 114. Zur maßgeblichen Prägung der späteren Geschichtsschreibung der und über die Färöer durch dieses Werk vgl. Klettskarð 2000, S. 15–16. 39 Golther 1893, S. 17. 40 Gegen die Existenz eines solchen Textes sprechen sich etwa Petersen 1861, S. 227, und Mogk 1893, S. 125–126 aus. 41 Golther 1893, S. 17. 42 Vgl. Hammershaimb 1846–1848; zu den Abweichungen bes. S. 260–261.
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hin zu befragen begannen. Die dabei nötige Unterscheidung zwischen »historischer Wahrheit« und (später hinzugefügter) »reiner Erdichtung« wurde zunächst textimmanent zu treffen versucht, indem durch Inhaltsvergleich der Saga mit anderen Quellen die Informationsvorlagen des Textes aufgedeckt werden sollten. Nach und nach wurde dabei auch die Literarizität der Saga kritisch analysiert. Zweiteditor Finnur Jónsson oder Jan de Vries beurteilen Anfang des 20. Jahrhunderts die Saga im Kern dabei nach wie vor als zuverlässig. So räumt Finnur Jónsson zwar ein, dass »Sagaens pålideglighed unddrager sig en virkelig prøvelse«, meint aber, sie »bærer præg af en ret pålidelig mundtlig fortælling«.43 De Vries urteilt: »Wo die Færeyinga saga […] von den Ereignissen in der Heimat berichtet, [sei] sie eine echte Bauerngeschichte«, bei der es »erstaunlich [sei], wie zähe sich eine Bauernüberlieferung aus dem 10. und 11. Jahrhundert erhalten hat, bis sie um 1200 niedergeschrieben wurde.«44 Beide Forscher haben dabei weder Skrupel, noch Schwierigkeiten, Einzelabschnitte des Textes nach Alter und Ursprünglichkeit, und damit wenigstens implizit auch Zuverlässigkeit und historischem Wert auseinanderzudividieren. So sei etwa der Bericht über Sigmundrs Wikingerabenteuer in jungen Jahren »uden tvivl uhistorisk«, weil er an die phantasievolle Gestaltung der Vorzeitsagas erinnere, doch sei es »overmåde let at udskille, udskære, de interpolerede stykker«.45 Genauso sei der Abschnitt von Sigmundrs Erziehung im Dovrefjell »kaum ursprünglich«, sondern es handle sich um »eine Ächtersaga, wie man sie auf Island zu dichten liebte«.46 Im Anschluss daran gilt die Ausscheidung der Jugendabenteuer Sigmundrs aus der Kategorie historischer Zuverlässigkeit aufgrund ihrer als offenkundig angesehenen Fiktionalität heute als eine Selbstverständlichkeit und sie werden in die gängigen, abenteuerlichen Wikingerberichte der altnordischen Literatur eingereiht.47 Der hier vorgefundenen Ansicht nach sei also bereits textintern durch die Ermittlung der Deckungsgleichheit einer Passage der Færeyinga saga mit Motiven der altnordischen Literatur zu entscheiden, inwiefern das Quellenmaterial ›echt‹ sei. ›Echt‹ bedeutet folglich motivisch alleinstehend, in der altnordischen Literatur ungewöhnlich und ohne augenfällige, isländische Paralleltradition. Die Saga präsentiert ihren Inhalt häufig in untypischer Weise für die literarischen Konventionen der Sagaliteratur.48 Dadurch wirkt sie ebenso einzigartig wie ihr färöischer Stoff an sich. Um den historischen Wert der Saga bestimmen zu können, scheint es im Forschungsdiskurs also notwendig, einzelne Passagen unter dem Parameter der Fiktionalität zu bewerten,
43 Finnur Jónsson 1927, S. XIV (sich die Zuverlässigkeit der Saga einer wirklichen Überprüfung entzieht; trägt Züge einer recht zuverlässigen, mündlichen Erzählung). 44 de Vries 1999, II, S. 267. 45 Finnur Jónsson 1927, S. VIII (ohne Zweifel unhistorisch; übermäßig leicht, die interpolierten Stücke herauszustellen, auszuschneiden). 46 de Vries 1999, II, S. 267. Vgl. auch Finnur Jónsson 1927, S. IX. 47 Vgl. etwa Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 52. 48 Zur (jedenfalls augenscheinlichen) Vergleichsstücklosigkeit vieler Motive und weiteren »gattungsatypischen« Kennzeichen der Saga vgl. Glauser 1994, S. 113.
1.2 Forschungsbericht
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um Ursprünglichkeit festlegen zu können. Je fiktionaler eine Passage wirkt, als umso literarisch-schriftlicher, also ›unechter‹ gilt sie. Das danach übrige Material wird im nächsten Schritt nicht selten als mündlichen Ursprungs deklariert. Im Versuch, Quellen der Sagadarstellung auszumachen, sollte so ermittelt werden, inwiefern autochthon färöische – dann auch mündliche – Überlieferung im Zustandekommen der Saga involviert war. Dass der ursprüngliche Überlieferungskern des Textes in irgendeiner Form auf färöische Quellen zurückzuführen sein wird, ist kaum ernstlich zu bezweifeln.49 Allerdings weist Klettskarð zu Recht darauf hin, dass in den frühen, nachmittelalterlichen Berichten über die Färöer vor Rafns Ausgabe der Saga nur wenige färöische Orte in Verbindung mit deren Ereignissen gebracht werden.50 Wenigstens die Namen der wichtigsten Protagonisten und das Setting als solches dürften aber färöischer Eigenüberlieferung entstammen,51 allein, weil der Stoff überhaupt (und mit realgeographischem Bezug) vermittelt wird.52 Zusätzlich könnten vereinzelte Elemente wie möglicherweise der Titel des lǫgsǫgumaðr, den Gilli trägt,53 oder die Formulierung Gangat in Þrándrs kredda54 färöischer Tradition zuzuschlagen sein. Möglich ist indes aufgrund der Einzigartigkeit der Færeyinga saga und vieler ihrer auch literarischen Details sogar eine Überlegung wie die Else Mundals: Diese schlägt vor, der Darstellung der auffällig starken Frauenfiguren in der Saga größeres historisches Gewicht beizumessen, weil sie – mangels adäquaten Vergleichsmaterials – einer färöischen Tradition entstammen müssten.55 Prinzipiell ist es dieser Textbetrachtung nach möglich, bei all jenen Dingen in der Saga, die nicht dingfest auf schriftliche Quellen rückzuführen sind, mündliche, im weiteren Schritt dann auch färöische, Quellen anzunehmen und diese mit den Lemmata (jedenfalls wahrscheinlich) größerer Historizität und Authentizität zu versehen. Indes ist ein Beweis färöisch-mündlicher Quellen kaum möglich, da ein entsprechender Überlieferungskontext auf den Färöern unabhängig von der Færeyinga saga nicht existiert. Die einzige Quelle, die im Zeithorizont zwischen der Færeyinga saga und den jüngeren Berichten von den Färöern ab dem 17. Jahrhundert angesiedelt
49 Vgl. Glauser 1994, S. 113. Vgl. schon Golther 1893, S. 15, weiterhin Schier 1992a, S. 563; Foote 1993, S. 222; Mundal 2005, S. 46; Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 54. 50 Vgl. Klettskarð 2000, S. 14–15. 51 Zu den Orts- und Personennamen und ihrem (begrenzt) färöischen Ursprung vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxii, zur Begründung und Unterscheidung zwischen fiktionalen und ›echten‹ Elementen vgl. ab S. cxcv. Zur Einteilung des Personennamensmaterials nach färöisch-authentisch und fiktional siehe auch Foote 1973. 52 Vgl. auch Debes 1990, S. 92. 53 Vgl. Foote 1970, S. 163–164 u. S. 174. Golther 1893, S. 8 bemerkt hingegen eine diachrone Problematik: Snorri Sturlusons lǫgsǫgumaðr in seiner Textversion in der Óláfs saga helga spiegle dessen zeitgenössische isländische Perspektive wieder, der lǫgmaðr an gleicher Stelle in der Flateyjarbók hingegen die spätmittelalterliche, ebenfalls isländische Begriffsgewohnheit Jón Þórðarsons. 54 Vgl. Foote 1984a. 55 Vgl. Mundal 2005, S. 48.
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1 Einleitung
ist, ist die Ballade Sigmundarkvæði (eldra).56 Deren Stoff aber ist vermutlich ebenso auf eine Version der Saga in der überlieferungstragenden Óláfs saga zurückzuführen.57 Als Ballade eignet sie sich zudem schon ihrer Natur nach nur bedingt für eine Überprüfung historischer Fakten im Abgleich mit der ausführlicheren Saga, insbesondere was Details wie etwa das Wort lǫgsǫgumaðr angeht. Der Text weicht von der Darstellung der Saga signifikant ab, erzählt prinzipiell aber dennoch die gleiche Geschichte.58 Die Erzählung folgt Sigmundr, der im Auftrag Óláfr Tryggvasons auf die Färöer fährt – was die Saga als zwei unterschiedliche Handlungsstränge von Rückkehr aus dem Exil einschließlich Vaterrache und Christianisierung darstellt, ist hier in eins genommen. Unterschiedliche Episoden der Saga sind deutlich erkennbar,59 aber balladentypisch dramatisch verdichtet:60 Das Medium der gesungenen Tanzballade bedingt im Vergleich zur ausgefeilteren Sagaprosa eine
56 CCF 22, überliefert in acht Varianten (im Folgenden abgekürzt als SkvE). Version H, im CCF übernommen aus Hammershaimbs Færøiske Kvæder II (1855, S. 52–59), bietet eine synchronisierte Version der meisten Varianten und wird deshalb für den folgenden Vergleich als Grundlage verwendet. Zu Inhalt, Verhältnis zur Færeyinga saga und Erzählweise der Ballade vgl. Schier 1992b. Eine solche Ballade, die von Sigmundrs Taten und seiner Reise auf die Färöer handelt, wird bereits bei Lucas Debes 1673 erwähnt (S. 210 – freilich ohne einen Namen zu nennen), muss also entstanden sein, noch bevor die Færeyinga saga in größerem und zusammenhängendem Umfang verfügbar war. 57 Vgl. Skårup 2011. Vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 377. 58 Zum Vergleich beider Texte siehe bereits Rafn 1832, S. VI–X. Hinsichtlich der Naturdarstellung und ihrem Zusammenhang mit färöischer Nationalidentität im Versuch einer ökokritischen Lesart vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 377–382. 59 Diese sind: Der Missionsbefehl Óláfr Tryggvasons und das Zögern Sigmundrs (Fær c. 30, S. 73; SkvE Vers. H Str. 1–12 – die Ballade begründet Sigmundrs Bedenken dabei ungleich der Saga konkret); der Versuch Sigmundrs, Þrándr in Gata zu überfallen, der wegen des schlechten Wetters fehlschlägt (Fær c. 23–24, S. 50–52; SkvE Vers. H Str. 17–26); die Gefangennahme und Unterwerfung des Svíneyjar-Bjarni (Fær c. 24, S. 52–53; SkvE Vers. H Str. 27–46 – in der Ballade geht es hierbei um die Christianisierung Bjarnis, von der die Saga nichts zu berichten weiß); die Begegnung zwischen Þrándr und Sigmundr auf offener See und die Verschonung des besiegten Þrándr (Fær c. 36, S. 83; nur enthalten in SkvE Vers. F Str. 40–45 u. Vers. G Str. 42–47); die Weigerung Þrándrs, sich zum Christentum zu bekehren (Fær c. 31, S. 76; ebenfalls nur in SkvE Vers. F Str. 42 u. Vers. G Str. 44 – in allen Balladenversionen erreicht jedoch Sigmundr die Heimstatt Þrándrs auf seiner Missionsreise wegen dessen Zauberkünsten nicht [vgl. SkvE Vers. H Str. 22–26], implizit verweigert sich Þrándr also immer auch gegen die Konversion); der Kampf mit Ǫzurr (Fær c. 24, S. 53–56; SkvE Vers. H Str. 64–76); schließlich Sigmundrs Tod nach dem Schwimmen durch die Meerenge zwischen Skúvoy und Suðuroy (Fær c. 38, S. 85–86; erneut nur in SkvE Vers. F Str. 98–99 u. Vers. G Str. 101–102 – in der Ballade wird der spätere Verlauf nur angedeutet, nicht auserzählt, wobei alle Versionen außer A eine Vorausdeutung immerhin auf Sigmundrs Tod enthalten). 60 Zu den Stilmitteln der Ballade, namentlich »formalhafte Wiederholung ganzer Strophen, […] Wiederholung und Variation von Strophenteilen, […] zugespitzer stilisierter Dialog und […] Umsetzung in Bilder oder Chiffren« im Zusammenspiel mit dem Liedvortrags des Vorsängers, der »[es] vermag dem Tanz Lebendigkeit zu geben und den Inhalt des Liedes gleichsam als episches Drama darzustellen«, vgl. Schier 1994a, S. 163–166, Zitate 165. Die Reduktion des Narrativs auf seinen »emotional core« hebt auch Harlan-Haughey 2015, S. 373–382 hervor (Zitat S. 381).
1.2 Forschungsbericht
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Komplexitätsreduktion von Handlung und Figurenzeichnung. Aufgewertet erscheinen demgegenüber dramatische Wortwechsel und Kampfszenen, die aufgrund der Rhythmusbetonung der Ballade als Tanzlied zusätzlich dramatisch wiederholt und ausgemalt werden. Alle anderen färöischen Texte und auch einige isländische rímur, die sogenannten Þræn(d)lur und zwei Sigmundar rímur, sind in der einen oder anderen Form auf die Saga zurückzuführen.61 Welcher Teil des Sagastoffs abseits des generellen Settings und der Hauptfiguren sich autochthon färöischer Überlieferung zuschlagen lässt, ist somit kaum qualifiziert zu entscheiden. Insgesamt ist festzuhalten, dass der Text zweifelsohne der isländischen Literaturtradition entstammt.62 Er dürfte von einem Isländer verfasst worden sein, oder jedenfalls von einem Menschen, der nie selbst auf den Färöern gewesen ist.63 So werden etwa die Inseln Stóra Dímun und Skúvoy in ihrer Beschreibung verwechselt, wie dem Färinger Hammershaimb auffällt:64 Niemandem, der beide Inseln aus eigener Erfahrung kennt, würde wohl ein solcher Fehler unterlaufen. Die färöische Topographie wird darüber hinaus nur äußerst sparsam beschrieben,65 anders als etwa die isländische oder norwegische in den Sagas (und auch die norwegische in der Færeyinga saga selbst 66). Von achtzehn Inseln werden so lediglich acht (Svínoy, Eysturoy, Streymoy, Sandoy, Skúvoy, Stóra und Lítla Dímun sowie Suðuroy) neben dem Sammelbegriff Norðeyjar und nur drei Höfe (Gata, Hov und Sandvík) samt der färöischen Þingstätte im Þórshǫfn namentlich aufgeführt. Dies lässt zwar auf authentische Quellen, nicht aber auf allzu genaue Ortskundigkeit des Sagaverfassers schließen.67 Hinzu kommt, dass die beschriebene Geographie die reale der Färöer mitnichten korrekt wiedergibt. Im Zuge der Verwechslung von Stóra Dímun und Skúvoy wird dort auch eine auf keiner der beiden Inseln vorhandene Schlucht beschrieben, während Eysturoy einerseits fälschlicherweise als so klein dargestellt wird, dass man sie in einer Nacht vollständig umfahren könne, und andererseits wohl wortwörtlich als östlichste der Inseln imaginiert ist.68
61 Vgl. Glauser 1994, S. 116. Zum Vergleich der rímur mit der Saga siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. cxviii–clii. 62 So bereits Mogk 1893, S. 125, und Golther 1893, S. 15–16. Die isländische Textherkunft ist mittlerweile Forschungsaxiom, siehe summarisch Glauser 1994, S. 113. Vgl. allerdings Mundal 2005, S. 45, die bemerkt, dass »[t]he arguments for an Icelandic provenance are in fact not especially strong. However, the arguments for any other provenance – a Faroese provenance included – are even weaker«. 63 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cscvii [sic!]–cxcviii. 64 Vgl. Hammershaimb 1846–1848, S. 261–262. 65 Zur Funktion dieser Beschreibungen siehe Kap. 2.3. 66 Bei Betrachtung des Textes fällt auf, dass die norwegische Bezirks- bzw. Landschaftseinteilung, wie sie in Fær c. 10, S. 22–23, u. c. 13, S. 30–31, abgearbeitet wird, im Grunde mehr geographisches Wissen erkennen lässt, als die geringen Angaben über Orte, Natur und Inseln der Färöer. 67 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxcv, dem folgend auch Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 54. 68 Zu diesen Topographie-Fehlern vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxcvi.
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1 Einleitung
Der gewichtigste Grund für eine Herkunft des Textes aus Island – neben seiner faktischen Überlieferung in isländischen Handschriften – aber war in der Forschung stets sein Bezug auf verschiedene historiographische und literarische Texte als Quellen der Darstellung. Obgleich die Einzigartigkeit der Saga und ihres Inhalts prima facie den Eindruck erweckt, der Verfasser habe »apparently no written sources« zur Verfügung gehabt,69 lassen sich einige Rahmendaten mit denen anderer Quellen abgleichen und einige konkrete Handschriftenverbindungen mit anderen Werken der Sagaliteratur aufzeigen.70 Dieser Schriftquellenvergleich ist für die gewünschte Bewertung der historischen Zuverlässigkeit der Saga unerlässlich, gilt doch, wie aufgezeigt, nur derjenige Teil des Stoffs als potenziell authentisch, der durch diesen Vergleich nicht als Teil einer literarisch-schriftlichen Tradition erwiesen werden kann. Als schriftliche Quellen des Abfassungsprozesses der Færeyinga saga macht Ólafur Halldórsson folglich eine ältere Version der Landnámabók, ein Übersichtswerk über die norwegische, womöglich auch dänische und schwedische Königsgeschichte ähnlich dem Ágrip, die Jómsvíkinga saga, vermutlich die Orkneyinga saga, vielleicht weiterhin eine angenommene *Hlaðajarla saga und womöglich das verschollene *Ævi Nóregskonunga des Ari Þorgilsson aus.71 Letzterer wird in der Saga selbst genannt,72 doch ist die Berufung auf ihn wohl am ehesten als Mittel zum Zweck der Selbstauthentifizierung aufzufassen.73 Insgesamt erweisen sich die durch Quellenvergleich verifizierbaren Rahmendaten der Færeyinga saga als dürftig74 und ihre Verbindungen zu Motiven und Szenen anderer isländischer Sagas als sehr dünn – die Saga bleibt so weithin recht alleinstehend zurück.75 Einen Vergleich zwischen der Færeyinga saga und den Isländersagas erschweren auf den ersten Blick die Problematiken ihrer Überlieferung und Datierung, wie sie unter 1.2.2 näher ausgeführt werden. Ein textnaher, intertextueller Vergleich der Saga mit anderen Texten der isländischen Literatur bleibt jedoch trotz Ólafur Halldórssons eingehender Quellensuche nach wie vor ein For-
69 Foote 1993, S. 222. 70 Vgl. hierzu Ólafur Halldórsson 1987, S. cliii–cxciv. Zum genaueren, intertextuellen Vergleich zwischen Formulierungen, Motiven und Passagen von Færeyinga saga und Laxdœla saga vgl. Heller 1998. 71 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cliii–clxx, siehe auch Glauser 1994, S. 113. 72 Im Bericht über die Jómswikingerschlacht wird die anderweitig unbezeugte Teilnahme Sigmundrs damit belegt, dass þetta er sognn Hallbíarnar hala híns fyrra ok Steingrims Þorarinssonar ok fra sỏgnn Ara prestz froda Þorgilssonar (Fær, S. 68; dies die Geschichte Hallbjǫrn Schwanzes des Älteren und Steingrímr Þórarinssons und die Erzählung des Priesters Ari des Weisen Þorgilssons sei). Zur Diskussion der Identifizierung beider anderer Gewährsmänner an dieser Stelle siehe Kap. 1.2.2.3. 73 Vgl. Glauser 1994, S. 113. Daraus folgend, im allerdings gegenteiligen Glauben an die Echtheit der Notiz, Golther 1893, S. 17; unbestimmter siehe auch Ólafur Halldórsson 1987, S. clxiii–clxiv. 74 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. xv, demzufolge allein ein paar wenige Daten der färöischen Geschichte (nämlich Besiedelung und Christianisierung), ihre berühmteste Familie und deren grobe Abstammung abseits der Færeyinga saga auf Island bekannt waren; siehe S. clxv–clxvi als Fazit der wenigen auszumachenden Schriftquellen. 75 Vgl. wiederum Glauser 1994, S. 113.
1.2 Forschungsbericht
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schungsdesiderat.76 So urteilt Glauser, »die literaturgeschichtl[iche] Stellung der F[æreyinga] s[aga] [sei] erst punktuell beschrieben.«77 Allen oben dargestellten Ansätzen gemeinsam ist das Bemühen, einen möglichst ›authentischen‹ und ›originalen‹ Sagatext zu bestimmen, Faktisches von rein Fiktionalem zu scheiden, isländische und färöische Traditionen auseinanderzuhalten, und so letztendlich den Wert der Færeyinga saga als historische Quelle für die Frühgeschichte jener terra incognita, die sie behandelt, zu bemessen. Erst im Laufe der Zeit setzt grundsätzliche Skepsis über den Quellenwert des Textes ein, wobei noch Werner die Saga als »im ganzen wohl seriös«78 beurteilt bzw. Schier konstatiert, »[d]aß die Saga weitgehend der historischen Wirklichkeit entspricht, [sei] kaum zu bezweifeln«.79 Das Bedürfnis, der Saga historische Informationen abzuringen, ist naturgemäß umso größer, wenn es sich bei ihr um die einzige solche Gelegenheit ihrer Art handelt. Dem hält jedoch Glauser entgegen: »Ein zuverlässiges ›Geschichtsbuch‹ haben die Färinger mit der F[æreyinga] s[aga] sicherlich nicht erhalten.«80 Die jüngere Forschung unterzieht die Saga, so sie sie als Quelle nutzen möchte, stärkerer, in der Regel interdisziplinärer Quellenkritik, und warnt vor einem naiven Glauben an den Wahrheitsgehalt der Saga und einer unproblematischen Differenzierung zwischen ›echten‹ und literarisch-fiktionalen Passagen gleichermaßen. So gleicht etwa Debes in seiner Føroya søga die Grunddaten der Saga mit archäologischem und anderem Quellenmaterial ab, und betont dabei ihre literarische Natur.81 Ebenso verfährt Bonté noch 2014, die die weitgehende, ideologisch fundierte Fiktionalität des Textes durch den Abgleich mit den wenigen archäologischen Quellen für die Christianisierung der Färöer herausstreicht.82 Soll in der historischen Forschung jedoch ein gewisser Grad an Detailschärfe über Einzelheiten der
76 Ólafur Halldórsson 1987, S. clxvi–cxciv zählt mit der Droplaugarsona saga, der Konráðs saga Keisarasonar, der Eyrbyggja saga, der Sturlunga saga, der Vǫlsunga saga, der Gísla saga, der Grœnlendinga saga, der Áns saga bógsveigis, der Njáls saga und mehrerer weiterer, mit denen er Motivähnlichkeiten feststellt, zwar eine veritable Menge vergleichbarer Texte auf, bleibt aber im Falle der hier genannten Texte auf der Ebene wortwörtlicher Ähnlichkeiten, der typischen, isländischen rittengsl, und benutzt im weiteren ein sehr weites Konzept motivlicher Ähnlichkeiten, das bisher nicht eingehend überprüft wurde. Einzig Rolf Hellers Artikel zu den Überschneidungen mit der Laxdœla saga (siehe Heller 1998) stellt einen genaueren Vergleich zwischen der Færeyinga saga und einem anderen Text her. 77 Glauser 1994, S. 116. 78 Werner 1994, S. 123. 79 Schier 1992a, S. 563. 80 Glauser 1994, S. 115. Vgl. auch Jesch 1993, S. 216, die konstatiert, dass »there is little, if any, evidence that there ever was an earlier, more ›historical‹ version of the saga. Indeed, there is precious little evidence that even the main events of the saga ever happened […]. The saga was clearly written […] primarily for enjoyment and entertainment, or for whatever other reasons literary texts are composed«. 81 Vgl. Debes 1990, S. 33–170; zur literarischen Natur des Textes, festgemacht an der häufigen Wendung nú bei Zeitangaben oder gesteigerten Adjektiven, siehe S. 96. 82 Vgl. Bonté 2014a; Bonté 2014b.
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1 Einleitung
färöischen Lebensumstände in der Wikingerzeit erreicht werden, ist man nach wie vor gezwungen, die Geschichte der Färöer weitgehend nach dem Zeugnis der Saga zu schreiben. Die Grundproblematik der Erzählung als einziges, wenigstens im weitesten Sinne ›historiographisches‹ Werk zur Frühgeschichte der Färöer ist und bleibt für jeden historisch orientierten Ansatz nach wie vor unumgänglich. Auch für rein archäologische Forschungen bleibt sie die einzige immerhin mögliche Vergleichsgröße für vormittelalterliche Zeit, die jenseits der reinen Ur- und Besiedelungsgeschichte existiert. 1.2.1.2 Erzählfreude vs. Ideologie: Eine Saga im Spannungsfeld mittelalterlicher Diskurse Im Fahrwasser der Quellenkritik wird ab den 1960er Jahren im Gegensatz zur Suche nach Vorlagen und Ursprüngen das Wesen der Færeyinga saga als literarisches Kunstwerk deutlicher betont – und sie damit zur Quelle für ihre Entstehungszeit. Gerade wegen ihrer Vergleichsstücklosigkeit, die dazu führt, dass der Quellenwert der Saga nicht im eigentlichen Sinne kritisch überprüfbar ist, beurteilt die neuere Forschung »ihren Aussagewert über polit[ische] und rechthist[orische] Realia auf den Färöern im 10. und 11. [Jahrhundert] sehr viel vorsichtiger« als zuvor.83 Und »[a]uch sonst zeig[e] sich deutlich, dass der Text wesentlich von Vorstellungen des späten 12. [Jahrhunderts] geprägt« sei.84 Zunehmend wird die Erkenntnis über die Unentscheidbarkeit zwischen historischem Fakt und literarischer Fiktion als Wesensmerkmal des Textes, wie sie nach und nach aus den Isländersagas herausgearbeitet wird,85 auch auf die Færeyinga saga übertragen.86 Der Wahrheitsbegriff der Texte wird demnach als synchrone Mixtur aus historischen Tatsachen und erzählerischer Präsentation begriffen. Die positivistische Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion bleibt dabei allerdings nach wie vor – wenn auch größtenteils unausgesprochen – als Rahmenbedingung der Untersuchungen bestehen. Gegenläufig zum Glauben an die historische Tatsächlichkeit des Sagaberichtes wird nun betont, dass »Føroyingasøga er eitt bókmentaligt listaverk«,87 in dem »det ideologiske træder i baggrunden for det morsomme og fabulerende«.88 Dieses Kunstwerk »demonstrate[s] […] the way in which techniques deriving from the historical interest in eyewit-
83 Glauser 1994, S. 114. 84 Glauser 1994, S. 114. 85 So maßgeblich durch die Forschungen von Preben Meulengracht Sørensen, vgl. u. a. Meulengracht Sørensen 1993, bes. S. 17–120. Als theoretischen Überblick jüngeren Datums siehe Böldl 2005, S. 27–70. 86 Als Feldversuch einer Lesung der Saga auf Grundlage der Theoreme Meulengracht Sørensens siehe Klettskarð 2000. 87 Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 51 (die Færeyinga saga ein literarisches Kunstwerk ist). 88 Ólafur Halldórsson 1960, Sp. 78 (das Ideologische vor dem Unterhaltsamen und Fabulierenden in den Hintergrund tritt).
1.2 Forschungsbericht
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ness reports could be transformed into effective literary devices, and could be used to write fabula rather than historia.«89 Die Saga zeichne sich gerade nicht durch die aus der altnordischen ›Historiographie‹ (verstanden als den Königssagas90) bekannten Darstellungskonvention aus, Quellen zu nennen und ihre Verlässlichkeit zu diskutieren, oder Skaldenstrophen als Belege des Erzählten einzuschließen.91 Anstatt, wie zuvor getan, alles aus der Saga auszuscheiden, das den Anschein hoher Literarizität erweckt und somit nicht als ›historisch‹ gelten könne, wird gerade dieses in den Analysen jüngeren Datums hervorgehoben – womit jedoch jene Analysen ex negativo weiterhin auf die Fakt-vs.-Fiktion-Unterscheidung bezogen bleiben.92 Maßgeblich an diesem Umschwung in der Textansicht sind Mehrfach-Editor Ólafur Halldórsson, Peter Foote und Bo Almqvist. Alle drei befassen sich dabei auch unter historischen Vorzeichen mit dem Text. So untersucht Foote etwa Darstellung des Rechtsgebrauchs im Text und Namensmaterial auf ihre diversen Quellen,93 oder versucht, Einzelszenen des Textes umfänglich abzudecken.94 Almqvist begibt sich auf die Suche nach folkloristischer Überlieferung im Text,95 während Ólafur Halldórsson sich so eingehend wie kein anderer in wiederholten Ausgaben mit den Handschriften und ihren konkreten Verbindungen und Quellen beschäftigt.96 Indes teilen sich alle drei die Hervorhebung der literarischen Qualitäten der Saga. Footes Inauguralvorlesung am University College London, ursprünglich gehalten 1964,97 kann als Startschuss einer Beschäftigung mit der Saga unter literaturwissenschaft-
89 Jesch 1993, S. 216. 90 Zur vorherrschenden Forschungsansicht der Konungasögur als mittelalterlich-westnordischer ›Geschichtsschreibung‹ vgl. illustrativ etwa Marold 1998, S. 489–497 sowie die Beschreibung bei Zernack 2001, S. 128. Auch Andersson 1985, S. 197 beschreibt die Texte vor allem über die Tatsache, dass sie »chronicle non-Icelandic events«. Zur Definition nordischer Geschichtsschreibung siehe auch Starý 2013. Erst in jüngster Zeit kommt es zu einer generellen Problematisierung der Gleichsetzung von Königssagas und Geschichtsschreibung, so bei van Nahl 2022; siehe als Überblick der Forschungsansicht auch van Nahl 2021. 91 Vgl. Jesch 1993, S. 216. Vgl. auch Mundal 2005, S. 46 mit einigen Überlegungen zur möglichen Begründung dieser Tatsache in einem fehlenden Königshof als skaldischem Zentrum auf den Färöern. 92 Auch in der Abkehr von der Quellenkritik wirkt in der Sagaforschung deren Unterscheidung in ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ in der Betonung, dass eben diese nicht möglich sei, noch nach. Darüber hinaus wird nach wie vor insbesondere der Entstehungskontext der Texte untersucht, wenn auch in der post-quellenkritischen Sagaforschung vermehrt die mittelalterliche Schreibezeit in den Fokus gerät. Zur immer wieder durchdringenden, historischen Ausrichtung der Sagaforschung selbst in literaturwissenschaftlichen Arbeiten vgl. Clover 1985 und Würth 2000, S. 515–516. 93 Vgl. Foote 1970; Foote 1973. 94 Vgl. Foote 1984a; Foote 1984b; Foote 1984d. 95 Vgl. Almqvist 1988; Almqvist 1992a. 96 Die bei weitem umfangreichste Rechenschaftsablage stellt dafür die in diesem Rahmen unverzichtbare Einführung der kritischen Edition dar, siehe Ólafur Halldórsson 1987. Mit möglichen mittelalterlich-gelehrten Quellen des Textes beschäftigen sich dabei auch Foote 1984c; Foote 1984d; Almqvist 2005. 97 Siehe Foote 1984c.
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lichen Gesichtspunkten gelten. Er argumentiert darin gegen einen Quellenatomismus, denn weder sei mit Sicherheit der historische Gehalt des Textes zu bestimmen, noch, inwiefern färöische Traditionen in seiner Abfassung involviert gewesen seien.98 Stattdessen betont er die meisterhafte Erzählkunst des Sagaverfassers. Die Saga sei demnach »not [to] be neglected by the student of Icelandic literature or indeed by anyone who is interested in the techniques of narrative«.99 Ihr Autor sei höchstwahrscheinlich selbst »a skilful teller of stories, a kind of actor, and not only a writer of stories« gewesen.100 Auch Ólafur Halldórsson betont wiederholt die Erzählfreude des Sagaverfassers und unterstreicht dabei den Willen des Autors, »að skapa bókmenntalegt listaverk«.101 Dies sei ihm dabei so gut gelungen, dass er sogar »hlýtur að verða talinn í fremstu röð rithöfunda á miðöldum«.102 Bedeutend auf dem Weg zur Ansicht der Færeyinga saga als literarischem Werk waren weiterhin Ólafurs Aufsatz über »Nokkur sagnaminni í Færeyinga sögu«, ursprünglich 1969 veröffentlicht,103 ebenso wie Almqvists Beitrag »Some Folklore Motifs in Færeyinga saga«.104 Almqvists Vorwort seiner Übersetzung der Saga gerät zudem zur vehementen Verteidigung ihrer literarischen Qualitäten, selbst wenn sie sich mit den Höhepunkten isländischer Erzählkunst nicht umfänglich messen lasse könne.105 Alle drei Forscher betonen die an einer mündlichen Erzähltradition geschulte Kunstfertigkeit der Darstellung in der Færeyinga saga und sehen den Sagaverfasser als einen gebildeten, aber humorvollen Menschenkenner, der die Finessen literarischer Erzählkunst meisterhaft beherrsche.106 Demgegenüber macht Almqvist deutlich, dass es »ytterst vanskligt att avgöra såväl hur stora inslagen av historisk tradition i sagan är som att uttala sig med någon större bestämdhet om hur pålitliga sådana eventuelle historiska traditioner kan ha varit« sei.107 Ebenso kompliziert sei es, »att strikt skilja mellan skriftliga och muntliga inslag i sagans väv.«108 Die Ansicht des Textes, die sich diese drei Forscher teilen, ist insgesamt kaum langlebig; wohl aber ihre Betonung seiner Literarizität. Nach ihrer Umwertung der
98 Vgl. Foote 1984c, S. 147. 99 Foote 1984c, S. 147. 100 Foote 1984c, S. 181. Diese Ansicht prägt sämtliche von Footes weiteren Forschungsbeiträgen zur Færeyinga saga. 101 Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxii (ein literarisches Kunstwerk zu schaffen). 102 Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxii (in die vorderste Reihe der Autoren im Mittelalter gezählt werden muss). 103 Siehe Ólafur Halldórsson 1990c. 104 Siehe Almqvist 1988. 105 Siehe Almqvist 1992b, bes. S. 43–56. 106 Vgl. auch Glauser 1994, S. 114. 107 Almqvist 1992b, S 41 (äußerst schwierig, sowohl zu bestimmen, wie große Einflüsse historischer Tradition sich in der Saga befinden, als auch, sich mit größerer Bestimmtheit darüber auszusprechen, wie zuverlässig solche eventuellen historischen Traditionen gewesen sein könnten). 108 Almqvist 1992b, S. 38 (streng zwischen schriftlichen und mündlichen Einflüssen im Gewebe der Saga zu unterscheiden).
1.2 Forschungsbericht
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Færeyinga saga von der historischen Quelle zum literarischen Werk treten vermehrt Forschungen hervor, die die Saga als Produkt zeitgenössischer Diskurse ihrer angesetzten Entstehungszeit zu Beginn des 13. Jahrhunderts begreifen und den Text auf seinen ideologischen Gehalt hin untersuchen. Diese verstehen die Präsentation der Saga keineswegs allein als harmlose Unterhaltung, sondern mitunter als scharf ideologisch aufgeladenes Dokument. Am weitesten gehen in ihren gegenläufigen Argumentationen dabei zwei Arbeiten aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre, einerseits ein Konferenzbeitrag von Erik-Skyum Nielsen,109 andererseits eine Abschlussarbeit von Klaus Guldager.110 Beide betrachten den Text nicht länger unter den Vorzeichen seiner historischen Authentizität, sondern verstehen ihn als das Produkt eines mittelalterlichen Autors, maßgeblich geprägt von dessen Weltsicht. Sie gelangen dabei allerdings zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen: Während SkyumNielsen die Zeitgebundenheit und soziale Relevanz der Saga ins Auge fasst und so die Færeyinga saga als Ausdruck gesellschaftlicher Gruppeninteressen im mittelalterlichen Island liest, betont Guldager die institutionelle und somit gewissermaßen mittelalterlich-›staatliche‹, ökonomisch-ideologische Überformung der Erzählung. Skyum-Nielsen fasst dabei seine Textinterpretation wie folgt zusammen: 1) The text is not objective entertainment, but a piloting of consciousnesses [sic!] into accepting certain values. 2) The piloting aims at Icelandic political conditions rather than Faroe ones. 3) With the support of the Saga, readers and among these especially its original readers, acknowledge an Icelandic ideology of independence for the upper classes.111
Guldager legt dagegen in der Hauptsache »en læsning af en tale kong Olav Trygvesøn holder til sagaens helt, Sigmund Brestirsøn« vor,112 die er einer marxistischideologiekritischen Untersuchung unterwirft und folgert: I denne tale fremstilles den feudale, kristne ideologi meget klart […]. Olav fremstiller det hierarki, alle indgår i, og hvis øverste top er Gud. Den feudale ideologis grundlag er søgt i produktionsforholdene. Der havde fundet en enorm koncentration sted af jordejendommene på Island i løbet af det tolvte århundrede, idet nogle store slægter og kirken havde bemægtiget sig størstedelen af landet. […] Udbytningen i det feudale samfund […] må […] gennemføres med ikkeøkonomisk tvang, og det vil sige […] ideologisk tvang. […] Kirkens ideologiske og økonomiske interesser er kolossale og dens dominans altomfattende.113 (In dieser Rede wird die feudale, christliche Ideologie sehr klar herausgestellt […]. Óláfr stellt die Hierarchie vor, in die alle eingehen, und deren oberste Spitze Gott ist. Die Grundlage der feudalen Ideologie wird in den Produktionsverhältnissen gesucht. Es hatte im Lauf des 12. Jahrhunderts eine enorme Konzentration von Landbesitz stattgefunden, indem einige große
109 Siehe Skyum-Nielsen 1973. 110 Siehe Guldager 1975. 111 Skyum-Nielsen 1973, S. 14. 112 Guldager 1975, S. 11 (eine Lesung einer Rede, die König Óláfr Tryggvason vor dem Helden der Saga, Sigmundr Brestisson, hält). 113 Guldager 1975, S. 11–12.
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Geschlechter und die Kirche sich eines Großteils des Landes bemächtigt hatten. […] Die Ausbeutung in der feudalen Gesellschaft […] muss […] durch nicht-ökonomischen Zwang, und das heißt […] ideologischen Zwang, durchgeführt werden. […] Die ideologischen und ökonomischen Interessen der Kirche sind kolossal und ihre Dominanz allumfassend.)
Guldager versteht den Text somit als ideologische Rechtfertigung kirchlicher (und damit ausländisch verbürgter) Macht im mittelalterlichen Island, während SkyumNielsen gerade dagegen argumentiert und meint, die Saga rühme unabhängige, von Isländern selbst ausgeübte Macht; sie stelle eine Abweisung ausländischer Interessenlagen auf Island im Mittelalter dar. Beide Grundsatzauffassungen finden Anklang in darauffolgender Forschung und werden im folgenden Jahrzehnt neu formuliert. Joseph Harris ordnet die Færeyinga saga in die historische Weltsicht des mittelalterlichen Island ein, die maßgeblich christlich geprägt sei und insofern typologisch denke. Es gehe den Texten in der Hauptsache darum, die vor-christliche Vergangenheit Islands in eine zukunftsweisende, christlich-heilsgeschichtliche Fundierung einzubinden. Dabei zeige sich eine Dialektik zwischen einer heidnischen Vergangenheit, isländischem Heldenmut sowie Unabhängigkeit der Inselgesellschaft und einer impliziten Gleichsetzung zwischen christlicher »neuer Ordnung« und norwegischem »Imperialismus«, also Fremdherrschaft einer ausländischen, politischen Größe im mittelalterlichen Island.114 Dieses Geschichtsmodell lasse sich auch in der Færeyinga saga nachweisen, die den Übergang zwischen beiden Systemen thematisiere und tiefgreifend durch das gleiche, christlich-typologische Verständnis von Weltgeschichte geprägt sei. Die Zukunft gehöre der christlichen, mit norwegischer Oberhoheit über die skandinavischen Kolonien einhergehenden Zeit.115 Das Gegeneinander zweier Systeme, nämlich »føydalisme, norsk avhengighet og kristendom« und »storbonde-samfunn, selvstendighet og hedenskap«,116 erkennt auch Jørgen Haugan, der allerdings in Einklang mit Skyum-Nielsen und entgegengesetzt zu Guldager und Harris eine Höherbewertung des »alten Systems« politischer Unabhängigkeit Islands in der Saga ausgedrückt sieht. Der Erkenntniswert der Saga wird alsbald also überwiegend in zwei ideologisch fundierten Themenkomplexen ausgemacht: Einerseits einem Diskurs über die im 13. Jahrhundert zunehmend bedrohte Unabhängigkeit Islands vom norwegischen Königreich,117 andererseits der Prägung der Erzählung durch eine christlich-kirchli-
114 Siehe Harris 1986, S. 190–203. Die Begriffe von »neuer Ordnung« und »Imperialismus« fallen auf S. 192. 115 Vgl. Harris 1986, S. 204–210. 116 Haugan 1987, S. 77 (Feudalismus, Abhängigkeit von Norwegen und Christentum; GroßbauernGesellschaft, Selbstständigkeit und Heidentum). 117 Als Überblick über die Geschichte Islands im Mittelalter siehe Helgi Þorláksson 2007, als Kurzübersicht wichtiger Daten auch Clunies Ross 2010, S. 8. Als klassische Ansicht zu den Auswirkungen des Unabhängigkeitsverlustes in der altisländischen Literatur vgl. Meulengracht Sørensen 1993, bes. S. 77–78, S. 89–91 u. S. 93–96. Dass die Dramatik dieser Ära im archäologischen Material hingegen keine Stütze findet, bemerkt bereits Byock 1986. Als kritische, geschichtswissenschaftliche Be-
1.2 Forschungsbericht
21
che Weltanschauung des Hochmittelalters.118 Die Færeyinga saga wird so nicht länger als Quelle für die färöische Wikingerzeit, sondern als Quelle für die Erforschung isländischer Mentalitäten des Mittelalters eingestuft. Dass dabei so grundsätzlich gegenläufige Beurteilungen des Textgehalts entstehen, wie sie die Beiträge von Skyum-Nielsen und Guldager bezeugen, liegt daran, dass die Saga ein zweideutiges Bild entwirft. Auch Guldager selbst bekennt: »Sagaen er fuld af temaer og personer, og den er lidt vanskelig at fastholde. Dens synsvinkel virker tvetydig, når man prøver at samle trådene.«119 Dies manifestiert sich nicht zuletzt in der Gegenüberstellung gleich zweier, vollständig gegensätzlicher Hauptfiguren über etwa zwei Drittel der Handlung. Auf der einen Seite steht Sigmundr Brestisson, ein heldenhafter, bis-
wertung des (schriftlichen) Quellenmaterials zum isländischen ›Unabhängigkeitsverlust‹ neueren Datums siehe Boulhosa 2005, bes. S. 87–153. 118 Zusammenfassend bei Glauser 1994, S. 115. Für eine Ideologie der Unabhängigkeit Islands plädieren wenigstens implizit Finnur Jónsson 1927, S. XIV, offensiv die genannten Skyum-Nielsen 1973 und Haugan 1987, S. 77–78, ebenso Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi–ccxxxii. Kritisch gegen eine solche Lesart (jedoch ohne Argumente für eine andere Position) Ármann Jakobsson 2009, S. 60–62. Johnston 1975, S. 12 leitet aus der Darstellung Þrándrs ein politisches Interesse des Sagaverfassers ab, das jedoch »realistically pessimistic« sei. Weniger entschieden siehe Golther 1893, S. 14; Møller 1956, S. 10; Conroy 1984, S. 580; Berman 1985, S. 123–125; Glauser 1989, bes. S. 216–222; Glauser 1994, S. 115–116; Ewering/Krosing 2011, S. 82–84; Harlan-Haughey 2015. Diese Beiträge nehmen nur an, dass der Text zentral die Dichotomie von Unabhängigkeit und Unterwerfung einer norwegischen Kolonie verhandle und deshalb zwei unterschiedliche Systeme gegeneinanderstelle. Óluva Klettskarð 2000, S. 67–72 sieht die Ideologie der Saga als systemimmanenten Zusammenbruch des dargestellten Gesellschafts- und Normsystems. Dass es dem Text zentral um die Einführung des Christentums auf den Färöern gehe, betonen bereits Rafn 1832, S. II; Mogk 1893, S. 125–126; Golther 1893, S. 14; Møller 1956, S. 10; Arge Simonsen 2004, S. 16; Bonté 2014a; Bonté 2014b; Harlan-Haughey 2015. Damit verbunden als Apologie norwegisch-politischer Herrschaft im Nordatlantik sehen den Text wie ausgeführt Guldager 1975 und Harris 1986, S. 204–210, daneben Guttesen 1999, S. 147 und Mortensen 2005, S. 91. Dem hält Andersson 1985, S. 213 entgegen, »the first narrative efforts in the vernacular«, zu denen er auch die Færeyinga saga zählt, seien »as secular as Snorri’s work«. Eine Bedeutung von Religion in der Darstellung verneint auch Niedner 1929, S. 20. Weniger scharf auf das Christentum bezogen meint allerdings bereits Golther 1893, S. 14 jedenfalls, »der verfasser scheint mehr vom norwegischen standpunkt aus die dinge angeschaut zu haben.« Schier 1992a, S. 562 sieht die Saga prinzipiell als »norwegenfreundlich« (obwohl er eine anti-royale Ansicht in dem Teil der Saga aus Snorris Werk erkennt), ebenso Würth 1991, S. 60. Dass sich das Konzept königlicher Legitimität am Ende durchsetze, betonen Conroy 1984, S. 580; Berman 1985, S. 124–125; Glauser 1989, S. 216–221; Harlan-Haughey 2015. Für Niedner 1929, S. 14–20 hingegen ist die Saga geprägt vom Machtkampf von Individuen. Ähnlich auch Bick 2005, die die unterschiedlichen Weltbilder der Akteure betont, aber keine unterschiedlichen »Systeme« daran festmachen will, North 2005 und Ármann Jakobsson 2009, S. 56–60. Die lebensnahe Darstellungskunst des Textes in seiner Darstellung des Gegeneinanders der Figuren hebt Foote 1984c hervor, ebenso Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi–ccxxxii, und Almqvist 1992b, S. 43–56. 119 Gudager 1975, S. 16 (Die Saga ist voll von Themen und Personen, und sie ist etwas schwer festzuhalten. Ihr Blickwinkel wirkt zweideutig, wenn man versucht, die Fäden zusammenzusammeln).
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1 Einleitung
weilen ritterlich anmutender Krieger, der sich mit den Herrschern von Norwegen verbündet und schließlich auch das Christentum auf den Färöern einführt, auf der anderen Seite Þrándr í Gǫtu, ein Großbauer und Kaufmann, der sich zeitweilig zum Führer der Inselgesellschaft aufschwingt, die norwegischen Herrscher und ihre Stellvertreter unverhohlen bekämpft, die Missionsbemühungen zu sabotieren versucht, Zauber ausführt und eine abgründige Persönlichkeitsstruktur aufweist. Wer von beiden Figuren dabei die eine Hauptfigur, den tatsächlichen Protagonisten der Erzählung darstellt, ist eine Streitfrage fast seit Beginn der Erforschung des Textes.120 Auch Synthesen zwischen beiden gegenüberliegenden Auffassungen werden vorgelegt, begründet weiterhin durch historische Umstände, oder auch die Überlieferungssituation des Textes.121 Berman etwa konstatiert bereits 1985, die Lehre der Færeyinga saga sei es, »that restisting monarchy is wisest – but the historical perspective teaches otherwise«.122 Die Figuren der Erzählung würden »not so much reflect historical trends as comment upon them.«123 1989 räumt Glauser im Rahmen einer Argumentation für die Anwendung strukturalistischer, narratologischer Konzepte bei der Sagaanalyse allgemein beiden zuvor als prägend erkannten Ideologien vorrangige Bedeutung in der Struktur der Saga ein. Er geht von einer »strikt oppositorische[n] Gliederung« des »axiologische[n] Feld[es]« der Saga »in semantische Kategorien […] [aus], die sich wiederum in den beiden Hauptkontrahenten personifizieren lassen: […] färöisch vs. norwegisch, heidnisch vs. christlich, […] Þrándr vs. Sigmundr.«124 Dabei sei es sehr wohl »denkbar […], [dass] der Text die Überlegenheit heidnischer Praktiken und einer königsfeindlichen, dezentralistischen Politik
120 Bereits Mogk 1893, S. 125–126 sieht Sigmundr als Hauptfigur des Geschehens, Golther 1893, S. 5, bezeichnet im selben Jahr hingegen Þrándr als »Held« der Saga – nichtsdestoweniger aber sei Sigmundr sympathischer und eingehender gestaltet. Diese Doppeldeutigkeit pflanzt sich weitgehend bis heute fort. Þrándr als Hauptfigur nennen etwa Finnur Jónsson 1927, S. XIV; de Vries 1999, II, S. 267; Ólafur Halldórsson 1960, Sp. 77; Skyum-Nielsen 1973, S. 2; Jónas Kristjánsson 1975, S. 234; Haugan 1987, S. 77 (wobei er bemerkt, vordergründig könne auch Sigmundr wie die Hauptfigur wirken); Bick 2005, S. 1; North 2005, S. 60. Sigmundr wird als Protagonist bezeichnet etwa bei Møller 1956, S. 10; Guldager 1975, S. 16; Harris 1986, S. 204–210; Schier 1992a, S. 562; Steinsland 2005, S. 76–77; Ewering/Krosing 2011, S. 86. Krakow 2009, S. 56 bezeichnet Þrándr lediglich als »Widersacher« Sigmundrs und interpretiert allein über dessen Figur weiter, scheint also Sigmundr als maßgeblich zu betrachten. Gegen eine eindeutige Hauptfigur spricht sich Ármann Jakobsson 2009, S. 55 aus. Ohne Entscheidung werden sowohl Sigmundr als auch Þrándr als Hauptfiguren betrachtet bei Niedner 1929, S. 14–20; Johnston 1975, S. 10–15; Berman 1985, S. 123–125; Ólafur Halldórsson 1967, S. xvi; Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi; Würth 1991, S. 60; Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 51–52; Harlan-Haughey 2015. 121 Noch Harlan-Haughey 2015, bes. S. 345 u. S. 355–356, deutet die Doppeldeutigkeit des Textes als Symptom seiner Entstehungsgeschichte zwischen färöisch-mündlichen Quellen, die die Unabhängigkeit der Inseln priesen, und mittelalterlich-herrschaftlicher Ideologie des norwegischen Reiches. 122 Berman 1985, S. 124–125. 123 Berman 1985, S. 124. 124 Alle Zitate Glauser 1989, S. 217.
1.2 Forschungsbericht
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vorführen« könne.125 Indes sei dieses Ergebnis durch die faktische Überlieferungslage der Færeyinga saga als Interpolation in die Óláfs sögur verwehrt, »weil die hagiographische Tendenz der späteren Kompilationen eine Fortsetzung des Textes in affirmativer Richtung verlang[e].«126 Deswegen würden die zuvor scharfen Kontraste der »oppositorische[n] Gliederung« des Textes sowie seine »durchgängig homogene Rachestruktur« im späteren Verlauf des Textes »verwisch[t]« und die Erzählwelt auch durch das Hinzutreten weiterer Figuren und deren Handlungsprogrammen »heterogener«.127 Dies müsse geschehen, damit »sich der Gesamtverlauf der Færeyinga saga in die ideologische Großstruktur der Sagas über Olav Tryggvason und Olav den Heiligen ein[ordne].«128 Weder Berman noch Glauser bezweifeln dabei den ideologisch aufgeladenen Symbolwert der gegensätzlichen Figurenzeichnungen, die die Færeyinga saga bereitstellt, der sich aus ihrem (angenommenen) Entstehungskontext herleitet. Einen Vorstoß in eine grundsätzlich skeptische Richtung, was das Gegeneinander zweier ideologisch fundierter »Systeme« in der Færeyinga saga angeht, stellt erst ein Aufsatz aus dem Jahr 2005 dar. Julia Bick argumentiert darin, dass »absolute Deutungsmuster« zu kurz griffen, um die Moral der Færeyinga saga umfänglich greifbar zu machen.129 Sie wendet sich gegen eine Scheidung von Moralität nach den Kategorien ›christlich‹ und ›heidnisch‹, da eine solche angesichts der historischen Tatsachen – der Fluidität von Wertsystemen einerseits, der Komplexität der Bekehrung andererseits – unzulässig sei.130 Sie sieht in der Saga stattdessen ein Sozialethos verewigt, das Egoismus und Rücksichtslosigkeit verdamme.131 Den Hintergrund dieser Moral setzt Bick in den historischen Entstehungsbedingungen des Textes auf Island zu Beginn des 13. Jahrhunderts an. Interner Streitigkeit, wie sie zu Beginn der sogenannten Sturlungenzeit auf Island zu verzeichnen gewesen sei, könne politischer Unabhängigkeitsverlust folgen, und davor warne die Færeyinga saga, wobei zugleich die Bedeutung des Christentums nicht geschmälert, sondern eher in ihrer Auswirkung auf gesellschaftliche Machtkonzentrationen dargestellt werde.132 Insgesamt zeichnet sich die Forschungsgeschichte zur Færeyinga saga durch eine wesentliche Komplizierung und Nuancierung des Bildes, das sie von diesem Text zeichnet, aus. Von der recht unkritischen Ansicht des Textes als bloßem Abbild historischer Wirklichkeit auf den »fernen Inseln«, von denen er erzählt, wandelt sich die Betrachtung zu der eines vielschichtigen, literarischen Zeugnisses des isländischen Mittelalters, das eine komplexe historische, überlieferungstechnische
125 126 127 128 129 130 131 132
Glauser 1989, S. 216. Glauser 1989, S. 216. Alle Zitate Glauser 1989, S. 217. Glauser 1989, S. 221. Bick 2005, S. 16. Vgl. Bick 2005, S. 8–10. Vgl. Bick 2005, S. 10–12. Ähnlich auch Klettskarð 2000, S. 67–72. Vgl. Bick 2005, S. 13–17.
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1 Einleitung
und weltanschauliche Hintergrundsituation kennzeichnet. Auffällig ist jedoch, in wie starkem Maße alle bisher aufgeführten Studien einem in der ein oder anderen Hinsicht historischen Forschungsinteresse verhaftet bleiben. Aus der Abkehr der Analyseausrichtung von der Quellenkritik erwächst eine neue Betrachtungsweise, die sich der Literarizität des Textes umfänglich bewusst ist. Sie bringt eine anthropologische, im Wesentlichen aber nach wie vor mentalitäts-, sozial- und ideologiegeschichtliche Perspektive in die Diskussion um die Saga ein. Die Ausrichtungszeit des Forschungsinteresses wandelt sich: Der Text gilt nicht länger als Quelle für die färöische Wikingerzeit, sondern wird im Horizont des isländischen Mittelalters untersucht. Diese Tatsache ändert aber grundsätzlich nichts an der Bindung der Untersuchungen an den Parameter der Zeit. Die Saga ist nunmehr eine Quelle zur Rekonstruktion von Diskursen des 13. Jahrhunderts. Weiterhin bemerkenswert ist, dass zwar eine Reihe von Untersuchungen zu Einzelaspekten des Textes hervorgebracht wurden – nennenswert wären etwa die kredda des Þrándr í Gǫtu, das einzige Element gebundener Sprache der gesamten Saga,133 oder eine Reihe von Motiven im ersten Teil des Textes (Sigmundrs Jugendjahre),134 ebenso die Zeichnung weiblicher Figuren,135 auch die bemerkenswerte, perspektivische Darstellungsweise in manchen Szenen.136 Nur ausnehmend wenige der vorliegenden Studien berücksichtigen jedoch den gesamten Umfang des Textes,137 während die Dichotomie der Figuren Sigmundr und Þrándr wieder und wieder besprochen wurde. Noch weniger Aufmerksamkeit wurde dem reinen Erzähltext selbst abseits einer historischen oder ideologiegeschichtlichen Kontextualisierung zu Teil. Wie die Erzählung arbeitet, welche Themenschwerpunkte sie setzt und wie diese umgesetzt und funktional eingebunden werden, untersucht im Grunde lediglich eine einzige, umso wertvollere Studie aus dem Jahr 2005, die die Thematiken von Geld und Religion textimmanent aufarbeitet.138 Jüngere Beiträge zur For-
133 Siehe bereits Maurer 1867, S. 234–236 für eine Einordnung unter historischen Vorzeichen. Ausführlich bespricht die kredda Foote 1984d und an ihn anschließend Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxiv–ccxxx. Als Forschungsüberblicke vgl. Bick 2005, S. 4–6 sowie Glauser 1994, S. 114. Siehe hierzu näher Kap. 3.6.2. 134 Als Überblicksstudien vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, bes. S. 238–245 sowie Almqvist 1988, bes. S. 74–77. Siehe hierzu Kap. 2.3.2.2, Kap. 4.2.3 u. Kap. 7.2. 135 Vgl. Arge Simonsen 2004; Mundal 2005, S. 46–48. Siehe näher Kap. 7.3. 136 Vgl. Foote 1984c, S. 175–182; Heinrichs 1974. Siehe weiterhin Skyum-Nielsen 1973, S. 3–5; Johnston 1975, S. 10–11; Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxiv; Ólafur Halldórsson 2001, S. 70–79; Almqvist 1992b, S. 49–50; Jesch 1993, S. 216–217; Mundal 2005, S. 49; North 2005, S. 61. Siehe näher bes. Kap. 3 u. Kap. 5. 137 Unter den bisherigen Studien analysieren lediglich Foote 1984c, Ólafur Halldórsson 1987, Glauser 1989, Almqvist 1992b und Bick 2005 den gesamten Textumfang, während das Gros der restlichen Aufsätze zwar den Gesamttext besprechen möchte und zumeist Zusammenfassungen gibt, sich dabei aber stark auf Einzelaspekte konzentriert. Am weitesten geht Guldager 1975, S. 17, der behauptet, der Schlussteil der Saga bringe keine »nye, vigtige elementer« (neuen, wichtigen Elemente) in den Text ein. 138 Vgl. North 2005.
1.2 Forschungsbericht
25
schungsdiskussion – je ein Aufsatz aus den Jahren 2011 und 2015 – bemühen sich, gänzlich neue Forschungsperspektiven einzubringen, namentlich Netzwerktheorie und Ecocriticism, und beleuchten damit auch die interne Funktionsweise des Textes unter neuen Vorzeichen.139 Beide zielen aber letztendlich weniger darauf ab, diese aufzuarbeiten, sondern eher die Funktionalität der verwendeten Konzepte auch bei der Betrachtung mittelalterlichen Erzählwelten nachzuweisen und damit deren Komplexität, Dynamik und Wert in heutigen Zusammenhängen theoretisch zu unterstreichen. Dass damit eine eingehende Untersuchung des Textes, auf den so viele so unterschiedliche Perspektiven geworfen wurden, an und für sich selbst als Desiderat übrigbleibt, ist umso erstaunlicher, als dass selbst in den Beiträgen, die in ihm eine deutlich formulierte ideologische Botschaft erkennen, stets Ausgewogenheit der Darstellung, Kunstfertigkeit der Erzählvermittlung und literarische Meisterhaftigkeit wortreich hervorgehoben werden.140 Die Gegenstimmen, die dem Text mangelnde Qualität, oder wenigstens einige historisch bedingte Schwächen unterstellen, sind nur wenige.141 Es herrscht also ein weitgehender Konsens über die herausragende, literarische Qualität der Færeyinga saga. Untersucht wurde deren ästhetischer Gehalt selbst indes nur geringfügig, und fast nie textimmanent. Dem steht auch entgegen, dass neben den Hauptthematiken durchaus auch mehrere andere in der Saga verarbeitete Themen aufgezählt werden.142 Sogar Erzählanalogien, die bis ins Mythi-
139 Ewering/Krosing 2011 dabei in Hinblick auf die Dynamik der Figurenkonstellation, HarlanHaughey 2015 insbesondere hinsichtlich der Komplexität und Ausgewogenheit der Figurenzeichnungen in sich und ihrer Gegenüberstellung. 140 Siehe etwa bereits Rafn 1832, S. II; Golther 1893, S. 14; Niedner 1929, S. 19–20; de Vries 1999, II, S. 268; Ólafur Halldórsson 1960, Sp. 78; Skyum-Nielsen 1973, S. 10–11; Heinrichs 1974, S. 202–206; Johnston 1975, S. 9–10; Foote 1984c, S. 181; Berman 1985, S. 121 u. S. 123–125; Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi–ccxxxii; Almqvist 1992b, S. 46–56; Almqvist 1993, S. 222; Schier 1992a, S. 562–563; Glauser 1994, S. 116; Mundal 2005, S. 51; Bick 2005; Ármann Jakobsson 2009, S. 54–59; mit Betonung der allgemeiner gefassten Komplexität des Textes Ewering/Krosing 2011, S. 80–87; Harlan-Haughey 2015. 141 Vgl. etwa Jónas Kristjánsson 1975, S. 234–235, der »ýmis bernskumerki sagnaritunarinnar, bæði í samsetningu og orðfæri« (verschiedene Kindheitsmerkmale der Sagaschreibung, sowohl in der Zusammensetzung als auch im Wortgebrauch) feststellt, und auch Almqvist 1992b, S. 43–44, der trotz seiner Verteidigung der literarischen Qualität der Saga »[i] stilistisk hänseende […] en del ojämnheter« (in stilistischer Hinsicht einige Unebenheiten) feststellt und meint, der Stil könne mitunter »primitiv« wirken, wobei man es immerhin mit einem Werk aus »sagakrivningens barnaålder« (der Kindheit der Sagaschreibung) zu tun habe. 142 Vgl. Ólafur Halldórsson 2006, S. X: Neben dem Verhältnis zwischen Königsmacht und Untergebenen gehe es u. a. um die Legitimität von Gewaltanwendung und anderen Methoden zur Durchsetzung des eigenen Willens, die Frage, ob Waffengewalt oder Schläue und List mächtiger seien, oder die, welche Grenzen der Klugheit gesetzt seien. Vgl. bereits Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi– ccxxxii: Es gehe dem Verfasser der Saga neben dem Hauptthema von ausländischer Großmacht gegen einheimische Machthaber auch um die Unterschiede zwischen Menschentypen und die Gesetze des menschlichen Daseins an sich, um die Folgen menschlichen Handelns und von Streitigkeiten. Ewering/Krosing 2011, S. 83 sehen in der Saga »a complex net of powergames, opportunities, revenge, vengeance and restoration of honour«. Glauser 1994, S. 115 bezeichnet die zentrale
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1 Einleitung
sche reichen, wurden verschiedentlich als Strukturmatrizen der Saga überlegt.143 Nicht zuletzt die Forschungslage selbst und der schiere Umfang der eingebrachten Ansätze und untersuchten Aspekte zeugt davon, als wie vielschichtig sich der solchermaßen untersuchte Text präsentieren muss. Dennoch bleibt die Beschäftigung der Forschung mit der Færeyinga saga als Quelle dominant: Wichtig erscheint zunächst, welche Teile und Daten des Textes sich historisch verifizieren lassen und aus welchen Vorlagen sich seine Darstellung ableitet, später dann, welche Perspektive seine Darstellung prägt und worin diese begründet liegt, also welche historischen Umstandssituationen für sein Zustandekommen verantwortlich zeichnen. Die Erzählung als Erzählung geht zwischen der Suche nach historischer Authentizität, literarischer und oraler Quellen, ideologischer Bedingungen und sozialer Einbindung des Erzählten fast verloren. Unklar ist so, wie ein vermeintlich so deutlich ideologisch durchtränkter Text derartig auseinandergehende Interpretationen in der Forschung erzeugen kann. Weiterhin bleiben auch die internen Funktionsweisen vieler Einzelszenen im Dunkeln, die ausgiebig auf ihre Quellen hin untersucht wurden.144 Ebenso fraglich bleibt etwa, weshalb die Jugenderzählung Sigmundrs plötzlich in bereits so früh deutlich erkannte Motive von Wikingerabenteuern und Outlaw-Erzählungen überspringt,145 oder welchen erzählfunktionalen Dienst die mehrfach lobend angesprochene Darstellungstechnik mit ihrer Perspektivität erfüllt. Letztlich bleibt offen, wie die Erzählung funktioniert, welches übergeordnete Thema die Diversität eingeschlossener Elemente zusammenbindet und welchem Ziel die Saga somit dient.
Thematik als »die Darst[ellung] des mit List, Geld, Heldentaten, Gewaltanwendung errungenen und verteidigten Einflusses, der Machtbalance und der Störung des sozialen Gleichgewichts in der färöischen Ges[ellschaft] vor und nach dem Glaubenswechsel um das J[ahr] 1000«. Häufig wird betont, der Text zentriere allgemein auf das Gegeneinander seiner Figuren, siehe etwa Niedner 1929, S. 14– 20; Johnston 1975, S. 9–15; Foote 1984c; Conroy 1984, S. 580; Klettskarð 2000, S. 67–72; Bick 2005; North 2005; Ármann Jakobsson 2009, S. 56–60; Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 51–52. Auch Foote 1993, S. 222 sieht als zentrale Themen »rivalry between Faroese chieftains from the mid-10th to the mid-11th century, conversion of the islanders to Christianity, and, interwoven with both these themes, the relations between Faroese leaders and Norwegian kings«. Berman 1985 erhebt die weiter gefasste politische Dimension der Saga und die allgemeine Verhandlung von Macht zum Gattungskennzeichen, siehe näher Kap. 1.2.2.4. 143 Siehe Steinsland 2005; wiederholt Steinsland 2011, S. 52–56; Steinsland 2014, S. 205–212. Siehe bereits Harris 1986, S. 205 zu einer Assoziation der Figur des Þrándr mit dem heidnischen Gott Óðinn, weiterhin auch Ólafur Halldórsson 1990b; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxiv; wiederholt Ólafur Halldórsson 2001, S. 76–77; Ólafur Halldórsson 2006, S. IX. Vgl. auch North 2005, S. 67–68 u. S. 69–70. Siehe hierzu Kap. 8.3. 144 So die in mehrfacher Hinsicht unklare Totenbeschwörungsszene, vgl. Foote 1984b; Almqvist 1992b, S. 57. Ebenso unklar ist etwa die Funktion der kredda im Gesamtzusammenhang des Textes, wie Bick 2005, S. 5–6 festhält. 145 Mundal 2005, S. 51 etwa kann dieses Überspringen der Textwelt in die Motivik von Vorzeitsagas und Märchen bestenfalls als literarisches »searching for models in different genres and […] mixing of motifs and patterns« erklären.
1.2 Forschungsbericht
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Immer wieder wurde festgestellt, dass sie im Kern die Frage der Macht behandle, der Plot vom Machtkampf der Akteure mit so unterschiedlichen Charaktereigenschaften, Vorstellungen, Weltansichten, Ideologien, mithin ›systemischen‹ Symbolfunktionen bestimmt sei. Fast keiner der hier versammelten Forschungsbeiträge kommt in seiner Betrachtung der Saga ohne eine Hervorhebung ihrer »ProblemOrientierung«146 aus, während gleichzeitig die Ausgewogenheit und Vielschichtigkeit nicht nur des Konflikts zwischen den Akteuren, sondern auch ihrer jeweils selbst, betont werden. Dieser komplexe Konflikt gründet in jedem Fall auf Streitigkeiten um Machtverteilung auf den Färöern. Um Macht im Sinne von Deutungshoheit über das Textanliegen drehen sich dabei auch die beiden hintergründigen Diskurse, die die Forschung wiederholt angesetzt hat. Die Frage, die sich hierbei letztendlich stellt, ist diejenige nach der Wirkmacht zeitgenössischer, politischweltanschaulicher Auffassungen über den Text. Doch auch im Gegeneinander beider Diskurse, die in der ein oder anderen Form von fast allen Forschungsbeiträgen als maßgeblich angesehen werden, spielt Macht eine zentrale Rolle: Welche Ideologie ist in diesem Text machtvoller, das isländische Bestreben nach politischer Unabhängigkeit, oder die mittelalterlich-christliche Fundierung seines Weltbildes? Wie kann die Rede Óláfr Tryggvasons zur Bekehrung Sigmundrs dabei einerseits als zentral für das Geschichtsbild des Textes beurteilt werden,147 andererseits als »Fremdkörper«?148 Wie also lässt sich die terra incognita der so unterschiedlich aufgefassten, analysierten und beurteilten Færeyinga saga kartographieren, auch abseits der Frage nach den möglichen Erkenntnissen über jene »fernen« Färöer, von denen sie berichtet? Worum handelt es sich bei diesem Text im Kern, was ist sein ureigenes Anliegen, was ist es, das ihn so vielgestaltig erscheinen lässt, dass in einer letzten Endes verhältnismäßig übersichtlichen Forschungslage kein Konsens über ihn erreicht werden kann? Wie kommt es, dass ein so kurzer Text so verschieden beurteilt werden kann, derartig viele unterschiedliche Forschungsperspektiven auf sich zieht? Zur Lösung dieser Fragen scheint es, als sei die so häufig angesprochene Thematik von Machtkämpfen und persönlicher Unterschiede der Beteiligten im Zuge der Hervorhebung der gegenläufigen Ideologien des Textes durch die Forschung bisher letztendlich nur unterbelichtet untersucht worden. Dies zu erweisen, ist die Aufgabe, die sich die vorliegende Studie stellt.
146 Nach Glauser 1989, S. 221. 147 Guldager 1975, S. 30; Harris 1986, S. 205, S. 207 u. S. 209–210. 148 Niedner 1929, S. 19; Schier 1992a, S. 563.
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1 Einleitung
1.2.2 Bruchstück größerer Erzählungen oder Einzeltext in weitem Rahmen? Zur überlieferten Gestalt der Færeyinga saga und ihrer Bewertung 1.2.2.1 Die Überlieferungsträger der Færeyinga saga und die Rekonstruktion eines verlorenen Gesamttextes Fast ebenso aus den Augen wie Aufbau und Funktionsweise der Færeyinga saga als Erzählung scheint in den dargestellten Forschungen vielleicht die Tatsache zu geraten, dass es einen solchen Text im eigentlichen Sinne gar nicht gibt. Rafns »Færeyinga saga« ist die Rekonstruktion eines Gesamttextes, der in keinem einzigen mittelalterlichen Manuskript zusammenhängend überliefert ist. Sie ist, wie Mundal in einem griffigen Titel treffend formuliert, »a fine piece of literature in pieces«.149 Als Grundlage seiner Edition diente Rafn die Großkompilation Flateyjarbók (GKS 1005 fol.), die umfangreichste und eine der am prächtigsten gestalteten Handschriften des mittelalterlichen Islands, die ursprünglich vom Ende des 14. Jahrhunderts datiert.150 Die Handschrift wurde 1387 durch den Kleriker Jón Þórðarson aus dem Umfeld des Klosters von Þingeyrar begonnen, wobei bereits im Folgejahr Magnús Þórhallsson, ebenfalls ein Geistlicher, die Arbeit am Codex übernahm, der ihn bis 1394 vorläufig fertigstellte und illuminierte. Auftraggeber war Jón Hákonarson, Großbauer auf dem nordisländischen Hof Viðidalstunga und Sohn eines Gefolgsmannes am norwegischen Königshof, wie eine Notiz zu Beginn des Codex angibt. Im späten 15. Jahrhundert wurden durch einen Unbekannten 23 Blätter hinzugefügt, die Þorleifur Björnsson auf Reykhólar in Auftrag gegeben hatte. Der Codex gelangte schließlich in den Besitz von dessen Nachfahren Jón Finnsson auf Flatey, worauf sich der heutige Name der Handschrift zurückführen lässt. Jón schenkte sie 1647 schließlich dem berühmten Bischof Brynjólfur Sveinsson, der sie wiederum an den dänischen Königshof verschenkte. Heute befindet sich der 225 Blätter starke Codex im Besitz des Arnamagnäanischen Instituts in Reykjavík. Nur diese eine Handschrift überliefert den Text, der seit Rafns Ausgabe unter dem Namen Færeyinga saga geläufig ist. Erstmals hatte ihn jedoch bereits wenige Jahrzehnte, nachdem die Handschrift in Kopenhagen eingetroffen war, Þormóður Torfason alias Torfæus als Gesamttext in lateinischer Übersetzung zusammengestellt.151 Diese Zusammenstellung schien nötig, weil der Text innerhalb der Flateyjarbók in mehrere Abschnitte aufgeteilt ist – allesamt in jenem Teil des Codex, der von Jón Þórðarson verfasst wurde. Dieser schrieb kontinuierlich die Blätter 4v bis 134r.152 Die Abschnitte der Færeyinga saga befinden sich auf den Blättern 16v–20r, 47v, 48r–v, 73v–74r, 100r–111r sowie 129v–130v.153 Der Text lässt sich damit recht präzi-
149 Mundal 2005. 150 Vgl. als Übersicht im Folgenden Würth 1995. 151 Siehe Torfæus 1695. 152 Vgl. Würth 1995, S. 171. 153 Nach Aufschlüsselung und Digitalisat der Handschrift auf der Plattform handrit.is [zu-
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se auf das Jahr 1387 datieren.154 Bei allen Abschnitten handelt es sich um Interpolationen in und um die Haupterzählungen des Codex, die Óláfs saga Tryggvasonar en mesta und die Óláfs saga helga. Keinen davon bezeichnet die Handschrift als »Færeyinga saga«, im Gegenteil. Der erste Abschnitt, umfassend die Kapitel 1 bis 26 der kritischen Ausgabe von Ólafur Halldórsson, zu Beginn der Óláfs saga Tryggvasonar (nach Kapitel 93), wird als Þáttr Þrándar ok Sigmundar überschrieben.155 Was Ólafur Halldórsson dann als 27. Kapitel rekonstruiert, besteht aus einem kurzen Einschubsatz, einer längeren Passage und einem weiteren kurzen Stück in Kapitel 153, 155 und 162 der Óláfs saga Tryggvasonar, insgesamt einem Einschub aus der Jómsvíkinga saga, der in keiner Weise besonders markiert wird. Kapitel 28 der Færeyinga saga stellt das 294. Kapitel der Óláfs saga Tryggvasonar dar, Kapitel 29 bis 33 deren 296. bis einschließlich 300. Kapitel. Erst Kapitel 34 bis 42 der Færeyinga saga, die nach dem Ende der Óláfs saga Tryggvasonar und vor dem Beginn der Óláfs saga helga in einem Überleitungsstück angesiedelt sind, werden wieder als Þáttr af Sigmundi Brestissyni überschrieben. Die Kapitel 43 und 45 bis 49 der Ausgabe von Ólafur Halldórsson bezeichnet die Flateyjarbók als Færeyinga þáttr ok Óláfs konungs; es ist ein Teilstück der Óláfs saga helga. Der letzte Teil der Færeyinga saga, Kapitel 50 bis 59, ist nach dem Ende der Óláfs saga helga platziert und trägt den Titel Þáttr frá Þrándi ok frændum hans. Es ist angesichts dessen gerechtfertigt, zu fragen, inwiefern von einer »Færeyinga saga« gesprochen werden kann. Konsultiert man weitere Handschriften der beiden genannten Hauptsagas von Jón Þórðarsons Flateyjarbók,156 der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta sowie der Óláfs saga helga, finden sich manche Teilabschnitte der sogenannten Færeyinga saga auch dort. Der Abschnitt Færeyinga þáttr ok Óláfs konungs der Flateyjarbók ist in sämtlichen Handschriften und Versionen der Óláfs saga helga enthalten,157 einschließlich derjenigen in der berühmten Heimskringla, allerdings nicht unter diesem Titel.158 Im Vergleich ist er um ein Kapitel verkürzt, das von den innerfäröischen Folgen der Steuergesandtschaft König Óláfrs des Heiligen auf die Inseln be-
letzt abgerufen am 31.08.2021]. Dies entspricht den Spalten und Zeilen 59.1–73.41; 95.21; 97.8–37; 101.54–57; 185.50–56; 186.33–188.60; 189.16–45; 288.37–293.11; 437.5–441.56; 516.13–520.59, vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. xvii. Die Handschrift wird im Folgenden in der dreibändigen Ausgabe von Guðbrandur Vigfússon und Carl Richard Unger (1860–1868) verwendet. Eine normalisierte Ausgabe wurde von Sigurður Nordal u. a. (Hrsg.) 1944–1945 vorgelegt, die gängige Faksimile-Ausgabe von Finnur Jónsson (Hrsg.) 1930. 154 Vgl. Ólafur Halldórssion 1987, S. xvii. 155 Für die folgende Aufschlüsselung vgl. im Überblick Fær; Flat I; Flat II; Würth 1991, S. 34–37. 156 Zur massiven konzeptionellen Überarbeitung und Neuausrichtung des Codex nach Beendigung der Arbeit Jón Þórðarsons an ihm vgl. im Überblick Würth 1995 und ausführlich Ashman Rowe 2005. 157 Rechenschaft über die diversen Handschriften und ihr Verhältnis zueinander legt Ólafur Halldórsson 1987, S. liv–lxxiii ab. 158 Vgl. Würth 1991, S. 37.
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richtet, dafür um ein weiteres, kurzes Kapitel zu Beginn ergänzt.159 Weiterhin wird dort der Text an anderen Stellen, verstreuter und anders in Kapitel eingeteilt in die Óláfs saga interpoliert.160 Die Flateyjarbók gehört hierbei der C-Gruppe der Handschriftenfamilie der Óláfs saga helga an, da Jón Þórðarson für die Abfassung des entsprechenden Abschnitts eine Vorlagenhandschrift dieses Textes verwendete.161 Die Færeyinga saga an dieser Stelle ist insofern nur durch das Prisma der Óláfs saga greifbar.162 Eine ähnliche Situation zeigt sich für die von Ólafur Halldórsson so gezählten Kapitel 28 bis 33 der Færeyinga saga, die die Christianisierung der Inseln unter Óláfr Tryggvason beschreiben und auch in der Fassung der Flateyjarbók einer Handschrift der D-Gruppe der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta folgen.163 Indes zeigen sich in beiden Fällen einige Abweichungen des Textes im Vergleich mit anderen Handschriften, die die Möglichkeit offen lassen, dass sie einer anderen Vorlage entstammen.164 Ólafur Halldórsson nimmt an, dabei habe es sich um eine unabhängige, nunmehr verlorene Handschrift einer originalen *Færeyinga saga gehandelt.165 Dass eine solche die Vorlage für die Textversion der Flateyjarbók gebildet hat, legen auch weitere Faktoren nahe: Der Mittelteil, Þáttr af Sigmundi Brestissyni, sowie der Schlussteil Þáttr frá Þrándi ok frændum hans sind exklusiv in der Flateyjarbók überliefert.166 Der Þáttr Þrándar ok Sigmundar hingegen, die Kapitel 1 bis 27 der modernen Ausgabe, ist auch in den anderen Handschriften der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta (AM 61 fol. (A), AM 53 fol. (B), AM 54 fol. (C) und AM 62 fol. (D)) enthalten.167 Dort hat der Text allerdings einen wesentlich kürzeren Umfang und ist mit verschiedenen, inhaltlichen und lexikalischen Umstellungen sowie kleineren Ergänzungen versehen.168 Mit Ausnahme der Bezeichnung Færeyinga þáttr in
159 In diesen Redaktionen fehlt Kapitel 49 in der Zählung von Ólafur Halldórsson 1987, ergänzt wird stattdessen sein Kapitel 44. Der Abschnitt wird dabei nicht als eigenes Kapitel geführt, sondern kann nur als die Färöer betreffender Einschub aus dem Fließtext herausgelöst werden. 160 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. lxx. Die anderen Handschriften teilen den Bericht auf die Kapitel 116, 118, 124–125 u. 132–133 der Óláfs saga auf, siehe ÓH, S. 332–334, S. 336, S. 361–369 u. S. 409– 421, bzw. (in der Version der Heimskringla, siehe ÓHHkr, S. 218–219, S. 220–221, S. 236–240 u. S. 261– 267) Kapitel 126, 128, 135 u. 142–143. Vgl. (mit nochmals abweichender Kapitelzählung) auch Glauser 1994, S. 111. In der Flateyjarbók hingegen handelt es sich bei dem Teilstück um die Kapitel 181–187 der Óláfs saga, siehe Flat II, S. 241–250. 161 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. xvii u. S. xxx, zur Einordnung in die C-Gruppe S. lxv–lxxi. 162 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxv. 163 Vgl. hierzu Ólafur Halldórsson 1987, S. xlvi–l. 164 Siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. xlvii–l u. S. lxix–lxxi. 165 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. xvii. 166 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxvi; Würth 1991, S. 36–37. 167 Als Übersicht der Handschriften siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. xxv–xxx, einschließlich der von C abhängigen Bergsbók und Húsafellsbók. Zum Handschriftenverhältnis siehe S. xxxvii–xlvi. 168 Siehe als kurzen Überblick Ólafur Halldórsson 1987, S. cviii–cxv. Die Unterschiedlichkeit der Redaktionen wurde bisher nie eingehend untersucht. Auch die vorliegende Studie kann diese Ar-
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D geschieht auch nirgends eine besondere Ausscheidung aus dem Fließtext.169 Zudem findet sich der Färöer-Text dort überall an bedeutend späterer Stelle.170 Insbesondere die größere Ausführlichkeit der Flateyjarbók ist für Editor Ólafur Halldórsson dabei das Hauptargument dafür, eine verlorene, originale *Færeyinga saga anzunehmen, der Jón Þórðarson auch in diesem Abschnitt gefolgt sei. Anderweitige Informationen der isländischen Literatur über die Färöer sind äußerst selten.171 Während nach Rafns Erstedition der Færeyinga saga noch vereinzelte Stimmen die Existenz eines solchen Textes bestritten,172 herrscht, nicht zuletzt dank Ólafur Halldórssons umfangreichen Editionsbemühungen und eingehender Textphilologie, heute ein Konsens darüber, dass es eine solche Saga faktisch einmal gegeben haben muss. Ihre vormalige Existenz stehe außer Frage.173 Unterstützend verweist der heute überlieferte Text selbst mehrfach auf Erzählungen von den (oder über die) Färöer: Zweimal fällt dabei die Formulierung svá sem segir í Færeyinga sǫgu,174 ein weiteres Mal wird summarisch auf stórar frásagnir verwiesen.175 Ein letztes Mal schließlich heißt es, von Sigmundrs beeindruckenden Wikingerfahrten in Jugendzeiten werde i sỏgu hans berichtet.176 Besonders letztere Formulierung hat mitunter zu Spekulationen über eine *Sigmundar saga Anlass gegeben,177 während die rest-
beit nicht umfassend leisten, setzt sich aber zum Ziel, an maßgeblichen Punkten auf Unterschiede einzugehen. 169 Vgl. Würth 1991, S. 34. 170 Nämlich in A, B und C erst nach dem 177. Kapitel der Óláfs saga, in D nach dem Helga þáttr Þórissonar, siehe ÓT c. 178–187 (II, S. 31–64), vgl. auch Fær, S. 1 Anm. z. A Z. 1.1. 171 Vgl. zur Begründung der Existenz der Saga Ólafur Halldórsson 1987, S. ix–xvii. Für einen Vergleich des Textes mit dem der Óláfs saga Tryggvasonar in den anderen Redaktionen samt einer Überprüfung der Herkunft von Einzelpassagen aus den Vorlagen Jóns jeweils von *Færeyinga saga oder Óláfs saga siehe S. xcviii–cviii. Zum Material über die Färöer in der isländischen Literatur siehe Kap. 2.2. 172 So – ohne Angabe näherer Gründe – zunächst Petersen 1861, S. 227. Mogk 1893, S. 125–126 bestreitet die Existenz einer Færeyinga saga, meint aber, es handle sich bei dem überlieferten Material um »Überreste einer von einem Isländer verfassten Lebensgeschichte des Sigmund Brestisson« (S. 125). 173 Glauser 1994, S. 111. 174 Fær, S. 11 (Text A) sowie ÓT c. 207 (II, S. 124, siehe auch Fær, S. 80 Anm. z. Z. 30; wie es in der Geschichte der Färinger erzählt wird). Hier als Zitat standardisiert, da sich die Schreibung in beiden Fällen minimal unterscheidet. 175 Fær, S. 125 (große Erzählungen). 176 Fær, S. 43 (Text A; in seiner Saga). 177 Golther 1893, S. 13–14 nimmt den Gedanken auf, verwirft ihn aber, da an den anderen Stellen nur auf eine Færeyinga saga verwiesen wird. Mogk 1893, S. 125–126 spricht dagegen, ohne Angabe von Gründen, aber vielleicht stillschweigend bezogen auf diese Stelle, von der Möglichkeit einer »Lebensgeschichte des Sigmund Brestisson«. Auch Finnur Jónsson 1927, S. V meint, mit dieser Bezeichnung könne einzig ein Teil der Færeyinga saga gemeint sein.
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lichen Elemente, insbesondere die von Rafn verwendete Bezeichnung Færeyinga saga, als Stütze für die Richtigkeit seiner Annahme gewertet werden.178 Die grundsätzliche Existenz der Saga braucht auch deshalb nicht bezweifelt zu werden, weil der aus der Flateyjarbók destillierbare Gesamterzählbogen sich unproblematisch und bruchlos zu einer Gesamteinheit zusammenfügt.179 Dies möchte nicht zuletzt die vorliegende Studie erweisen. Allein die Tatsache, dass die Saga sich als Gesamttext analysieren lässt, ohne notwendigerweise auf die Detailprobleme ihrer Überlieferung eingehen zu müssen, spricht für die Berechtigung der Annahme, der Text der Flateyjarbók gehe auf ein verloren gegangenes Originalmanuskript zurück – oder sei jedenfalls als Einheit innerhalb des Codex konzipiert. Es machen sich keine Brüche, Ungereimtheiten oder Logiklücken im Text bemerkbar. Die Færeyinga saga zeigt sich trotz ihrer zerstückelten Überlieferung als »coherent whole with regard to both plot and narrative style«.180 Insgesamt sei, so der Konsens der Forschung, die Saga sehr zuverlässig zu rekonstruieren, jedoch sei ebenso »klar, at sagaen nu ikke haves i dens fulde udstrækning og heller ikke dens oprindelige form«.181 Übergangsstücke zwischen den Regierungszeiten der verschiedenen norwegischen Herrscher etwa würden fehlen.182 Im Kern jedoch entspreche der heutige Textumfang grosso modo dem vermuteten Original. Im Zuge dieser ohne größere Debatten angenommenen Betrachtung der Saga als eines zusammengehörigen Textes und dem Interesse der Forschung für die Geschichte der Färöer hat sich eine vor allem editionsphilologische Diskussion über die Ursprünglichkeit verschiedener Passagen und Merkmale des erhaltenen Textes entwickelt. So scheidet Finnur Jónsson mehrere Wiederholungen (die doppelte Beschreibung von Brestir und Beinir samt ihrer Gefährtinnen und Söhne sowie Wohnstätten, die doppelte Beschreibung Skúvoys) und, wie bereits bemerkt, Sigmundrs Jugendabenteuer und seinen Aufenthalt bei Þorkell þurrafrost im Dovrefjell als spätere Umarbeitung und Ausschmückung aus dem ursprünglichen Sagatext aus. Sie seien »sket i en sen tid, næppe för end henimod 1300 eller deromkring«.183 Ebenso überlegt er, ob das erste, prologartige Kapitel zum Haupttext gehört habe.184 Einiges davon könne jedenfalls »absolut ikke […] stamme fra forfatteren selv«.185 Ólafur
178 Vgl. Glauser 1994, S. 112. Für die primär literarische Funktion des Hinweises auf eine solche saga als selbstauthentifizierende Strategie eines durch Tradition verbürgten Textes argumentiert Klettskarð 2000, S. 43–45. 179 Vgl. bereits Rafn 1832, S. XII–XIII, ihm folgend auch Golther 1893, S. 14–15. 180 Conroy 1984, S. 581. 181 Finnur Jónsson 1927, S. VI (klar, dass die Saga nun nicht in ihrem vollen Umfang und ebenso wenig in ihrer ursprünglichen Form verfügbar ist). 182 Vgl. Finnur Jónsson 1927, S. VI–VII. Weitgehend beipflichtend Ólafur Halldórsson 1987, S. cxvi– cxvii. 183 Finnur Jónsson 1927, S. IX (in einer späten Zeit geschehen, sicherlich nicht vor dem Zeitraum gegen 1300 oder in diesem Umkreis). 184 Vgl. Finnur Jónsson 1927, S. VII–IX. 185 Finnur Jónsson 1927, S. VII (absolut nicht […] vom Verfasser selbst stammen).
1.2 Forschungsbericht
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Halldórsson argumentiert dagegen für die Ursprünglichkeit des ersten Kapitels und kritisiert die Leichtigkeit von Finnurs Vorgehen, dessen Annahmen zur Ursprünglichkeit bestimmter Passagen sich nicht so eindeutig auf Basis einer positivistischen Unterscheidung von Fakt vs. Fiktion treffen ließen.186 Die Wiederholungen könnten Ólafurs Ansicht nach auch vom Verfasser der Saga selbst stammen, die Abenteuermotive in den Jugendjahren Sigmundrs auch weit vor der von Finnur angesetzten Zeit gängig gewesen sein.187 Fast ausschließlich im Zusammenhang dieser Debatte wurde verschiedentlich auch auf die Überlieferung des Textes näher eingegangen. Spätere Bearbeitungen seien mitunter anhand der überlieferten Textgestalt selbst deutlich erkennbar. Obwohl Snorri Sturluson, der allgemein angenommene Verfasser der Óláfs saga helga,188 etwa »im allgemeinen seine Quellen unverändert, bisweilen sogar dem Wortlaut nach abgeschrieben [habe], [werde] er dennoch in stilistischer Hinsicht die Darstellung wohl verbessert haben«.189 Golther schließt daraus sogar, der ur-
186 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. xcviii–ci. Dabei stimmt er Finnur Jónsson jedoch dahingehend zu, dass die Ahnentafel der Gǫtuskeggjar in der Óláfs saga Tryggvasonar abseits der Flateyjarbók eine spätere Beifügung nach der Landnámabók sei. Zu Finnurs Gedanken bezüglich der Genealogie in der Óláfs saga vgl. Finnur Jónsson 1927, S. X. 187 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cii–cvii. 188 Es sei an dieser Stelle explizit angemerkt, dass die Rede von der Figur des Snorri Sturluson als Autor sowie von ›Autorschaft‹ in der vorliegenden Studie generell sich auf die gängigen Ansichten in der Forschung bezieht. Snorris Verfasserschaft der ihm zugeschriebenen Texte ist streitbar (vgl. grundlegend Louis-Jensen 1997), seine historische Existenz aber nicht abzuweisen. Dennoch ist kein Autograph erhalten. Damit ist die Vorstellung von Snorri als Autor im Wesentlichen ein Konstrukt der Textphilologie, die sich von der faktischen, handschriftlichen Textkonstitution entfernt: Zwischen Handschriftenevidenz und vorgestelltem ›Werk‹ entsteht die gleiche Diskrepanz wie im Falle der Isländersagas, vgl. hierzu Würth 1999, bes. S. 200–205. Zu den Problematiken mittelalterlicher ›Autorschaft‹, der sich die Altskandinavistik erst in jüngster Zeit umfänglich in ihren Auswirkungen auf die Textdeutung bewusstwird, vgl. allgemein Minnis 2010; aus skandinavistischer Perspektive Ranković 2007; Ranković u. a. (Hrsg.) 2012; Rösli/Gropper (Hrsg.) 2021; zur Auswirkung des Autorschaftsdenkens in der Textdeutung beispielhaft Tirosh 2019. 189 de Vries 1999, II, S. 266. Vgl. auch Finnur Jónsson 1927, S. X, für den die stilistischen Abweichungen aber nicht weiter bemerkenswert sind. Einen stilistischen Unterschied erkennt auch Ólafur Halldórsson 1987, S. cxvi: So sei etwa das in der Færeyinga saga typische Wort nú (vgl. dazu Debes 1990, S. 96; Klettskarð 2000, S. 40–41) hier zunehmend getilgt worden. Der Meinung, der Stil sei durch den Verfasser der Heimskringla geglättet und verbessert worden, sodass er eine »mera jämt flytande och eleganta form« (gleichmäßiger fließende und elegantere Form) angenommen habe, schließt sich Almqvist 1992b, S. 43 an. Mitunter wurde spekuliert, ob nicht die hier besonders deutliche, Tatsachen verschweigende Präsentationstechnik der Saga (vgl. Foote 1984c, S. 177–182; Heinrichs 1974, S. 194– 195 u S. 203–204) von Snorri »modellbildend für die jüng[ere] Sagaprosa adaptiert« worden sei (Glauser 1994, S. 116; die Idee wurde zuerst von Bjarni Aðalbjarnarson 1945, S. XLIV–XLV aufgeworfen). Dabei bemerkt Foote 1984c, S. 177, zu Recht, dass sich dieses Erzählprinzip auch an anderen Stellen der Færeyinga saga in nicht weniger großer Meisterhaftigkeit zeigt, die eindeutig nicht auf Snorri zurückgeführt werden können. Vgl. bereits Niedner 1929, S. 14, der meint, Snorri habe die Szene insbesondere wegen ihrer literarischen Meisterhaftigkeit eingebunden. Zur Forschungsvorstellung von Snorri Sturluson als ›literarischem Genie‹ vgl. van Nahl 2021; van Nahl 2022.
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sprünglichere Sagatext müsse eigentlich der Snorris sein.190 Indes kann über den Textabschnitt der Kapitel 43 bis 48, die in jeder Version nur die Óláfs saga helga übermittelt, kaum das Argument der Ursprünglichkeit geführt werden, da jedes Vergleichsmaterial fehlt.191 Die Art und Weise, auf die die Interpolation der Færeyinga saga durchgeführt ist, liefert jedoch eher Argumente dafür, dass ein anderer Text abgeschrieben worden sein muss: Die färöischen Protagonisten des Abschnitts treten kommentarlos und unmittelbar in der Handlung auf den Plan, ohne sagatypisch eingeführt und vorgestellt zu werden.192 Zudem könnte die Beschreibung der Neffen Þrándrs in Kapitel 45 (die, wohlweislich, in der Version der Flateyjarbók ausgelassen ist 193) von der Beschreibung in Kapitel 35 (und damit einer unabhängigen Vorlage) abgeschrieben sein.194 Finnur Jónsson zählt auch die Ausführlichkeit des Berichts als Argument für eine verwendete Quelle auf.195 In jedem Fall sei hier ein Prisma in der Saga zu erkennen, das durch ihre Überlieferung als Interpolation bedingt sei. Ebenso sei etwa die Rede, die Óláfr Tryggvason vor Sigmundrs Bekehrung zum Christentum hält, als durch einen christlichen Autor eingefügte Ergänzung zu betrachten.196 1.2.2.2 Ansichten der Færeyinga saga als Teil von Óláfs sögur und Flateyjarbók Deutlich wird, dass auch die textphilologische Arbeit an der Færeyinga saga unter dem prägenden Einfluss historischer Fragestellungen stand. Es ging der Forschung
190 Vgl. Golther 1893, S. 5–8 u. S. 12–13. Der entsprechende Abschnitt zeige »entschieden […] Snorres verfasserschaft« (S. 6), wobei allerdings nicht ausgeschlossen sei, dass Snorri eine Quelle verwendet habe – seine Version habe sich allein als die bessere erwiesen. Abweichende Elemente in der Flateyjarbók sind jedenfalls Golthers Ansicht nach »verderbnisse« (S. 8). Die Auffassung, Snorri sei der eigentliche Verfasser des entsprechenden Abschnitts und eine Færeyinga saga habe es vor ihm nicht gegeben, vertritt zuvor bereits Munch 1857, S. 1050–1052, der den Stil der Passage für übereinstimmend mit dem umgebenden Text in Snorris Werk beurteilt. Er stößt sich an der Tatsache, dass Snorri im Rest seines Werkes keine Stoffe aus der Saga aufnimmt; ebenso wenig verweise er auf eine entsprechende Saga. Golther 1893, S. 5–7 kritisiert indes Munchs generelle Absage an eine Sagavorlage Snorris. 191 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxv. 192 Vgl. bereits Golther 1893, S. 7, weiterhin Bjarni Aðalbjarnarson 1945, S. XLII und Ólafur Halldórsson 1987, S. xv (mit Überlegungen, ob das Teilstück auf die nur mehr fragmentarisch erhaltene Óláfs saga des Styrmir Kárason zurückgeführt werden könne, S. ccxxxii–ccxxxiii). 193 Siehe Flat II, S. 242–243, vgl. auch Fær, S. 95 Anm. z. Z. 15–20 (der Text der Kringla-Redaktion wird auf S. 95–96 ausgeführt). 194 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxv–cxvi. 195 Vgl. Finnur Jónsson 1927, S. X. 196 Vgl. Finnur Jónsson 1927, S. VII; de Vries 1999, II, S. 266–267; Niedner 1929, S. 19; Møller 1956, S. 62; Almqvist 1992b, S. 43; Schier 1992a, S. 563. Bemerkenswert ist, dass maßgeblich diese Rede, wie bereits oben aufgezeigt, für die Deduktion einer christlich-feudalistischen Ideologie der Saga herangezogen wurde. Während Finnur die Rede auf die Óláfs saga des Gunnlaugr munkr zurückführt, warnt Ólafur Halldórsson 1987, S. xi–xiii, vor zu schnellen Schlüssen und vergleicht die Rede mit der Rede Óláfrs auf dem Trondheimer Þing in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, die er auf
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um die zuverlässige Erstellung eines als gültig erachteten Textes der verlorenen Originalsaga. Kaum beachtet wurde dabei die Tatsache der so komplizierten Überlieferung selbst. Der Sinn und Zweck der Einbindung der Færeyinga saga in die größeren Erzählzusammenhänge der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Óláfs saga helga und Flateyjarbók wird nur von einer Hand voll einzelner Studien adressiert, ebenso wie die genaueren Modalitäten der Texteinbindung.197 Der editionsphilologischen Forschung ging es naturgemäß mehr um die Herauslösung eines als Færeyinga saga bezeichenbaren Einzeltextes denn um das ihn mit den umgebenden Texten Verbindende, also die Klärung seiner Zusammenhänge innerhalb der Texte, die ihn als Interpolation einschließen.198 Erst in jüngster Zeit hält eine Haltung in der altnordistischen Forschung Einzug, die den spätmittelalterlichen Handschriften aus Island einen Status als planvolle Kunstwerke mit eigenem Aussagewert einräumt und sie nicht – wie Jahrzehnte lang zuvor – lediglich als Quellen für andere, ältere Texte betrachtet, entstanden aus purer (und im Vergleich zur vermeintlichen Präzision früherer Werke ›verkommener‹ und minderwertiger) Stoffsammel- und Zusammenstellungswut.199 Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass auch die Færeyinga saga einhellig als eigener Text, und nicht als Interpolation und Teilaussage größerer Erzählungen betrachtet wurde. Dabei bemerkt allerdings Glauser, die Færeyinga saga sei »losgelöst aus dem Problemkontext der Königssagas nicht adäquat zu verstehen«200 und stellt einige Überlegungen zur Überlieferungslage an. So konstatiert er, dass »die interpolierten Teile der F[æreyinga] s[aga] die Grundthematik der Großen Óláfs s[aga] Tryggvasonar durch verdeutlichende Handlungsparallelen« strukturierten, und deshalb »den Digressionen über die färöischen Angelegenheiten […] im Hinblick auf Olavs Mission
Vorlagen der Óláfs saga Tryggvasonar des Oddr Snorrason und die Selbstständige Óláfs saga helga Snorri Sturlusons zurückführt. Zu den stilistischen Unterschieden der verschiedenen Versionen im Allgemeinen vgl. bereits Golther 1893, S. 5–13. 197 Vgl. im Überblick Glauser 1994, S. 115. Glauser 1989 versucht bereits, den Problemhorizont der Überlieferung als Interpolation stärker in seine Argumentation einzubinden. Als maßgebliche Studien sind Würth 1991, Krakow 2009 sowie Bonté 2014a und Bonté 2014b zu nennen; Ashman Rowe 2005 erwähnt die Saga einige Male, jedoch nur im Vorübergehen, als einen der Texte, die Jón Þórðarson in die Sagas kopiert habe. 198 Jedenfalls abseits seiner Aufführung als Quelle jener anderen Texte in deren jeweiligen Editionen. Dabei wird die Saga alleine von Bjarni Aðalbjarnarson 1945, S. XLII–XLVII kurz besprochen und nicht nur genannt. 199 Vgl. zu dieser Auffassung der Texte durch die Forschung Zernack 1999, S. 92 und ausführlich Glauser 1998, S. 34–37. Vgl. auch Ármann Jakobsson 2013, S. 261. Die Abwertung der Flateyjarbók als bloßes Stoffsammelsurium prägt etwa Golthers Ansicht, wenn er Jón Þórðarson im Umgang mit der Færeyinga saga mehrfach Fehler und stilistische Unschönheiten vorwirft, die insbesondere im »streben nach möglichster vollständigkeit« des Codex begründet lägen (Golther 1893, S. 11; zu Jóns »Fehlern« vgl. S. 7–13). 200 Glauser 1994, S. 115.
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sinnkonstituierende Aufgaben« zukämen.201 In der Óláfs saga helga scheine hingegen deutlich die Position Snorri Sturlusons durch den Text, der die Abschnitte über die Auseinandersetzungen der färöischen Anführer mit Olav dem Heiligen so in die Haupthandlung der Óláfs s[aga] helga ein[fügt], daß sie die Darst[ellung] der Opposition der Isländer gegen den norw[egischen] König konturieren und zur Glorifizierung der isl[ändischen] Standhaftigkeit beitragen (Óláfs s[aga] helga c. 126 f.), [weil] die Problematik der Unterwerfung der atlantischen Inseln unter das norw[egische] Stammland während der Sturlungenzeit (1220–62/64) für die Angehörigen der isl[ändischen] Oberschicht, die primären Rezipienten der Saga, solche Aktualität [besaß], daß die ›Botschaft‹ der F[æreyinga] s[aga] geradezu als Affirmation des polit[ischen] Standpunktes der Isländer im 13. [Jahrhundert] bezeichnet werden konnte.202
Entsprechend sei Snorris Haltung gegenüber dem »skrupellosen Königsfeind Þrándr« um einiges nachsichtiger und wohlwollender »als jene des geistlichen Kompilators der Óláfs s[aga] Tryggvasonar en mesta, die Anfang des 14. Jahrhunderts in einer ganz anderen hist[orischen] Situation entstand.«203 Bereits 1989 entwirft Glauser kurz den Gesamtbogen der Überlieferungsträger als Rahmenbedingung des Erzählverlaufs der Færeyinga saga. Am Ende seien norwegische Vasallen die Herrscher der Färöer und die Inseln den Norwegern tributpflichtig, wodurch sich »der Gesamtverlauf der Færeyinga saga in die ideologische Großstruktur der Sagas über Olav Trggvason und Olav den Heiligen« einpassen ließe.204 Glausers Überlegungen zur spezifischen Form und raison d’être der Saga sind einleuchtend begründete Denkanstöße, die bisher bestenfalls marginal weiterverfolgt wurden. Erst Bonté legt 2014 in ihrer Dissertation Überlegungen zur Begründung der Form der Færeyinga saga innerhalb der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta vor, indem sie die Narrative über die Konversion der nordatlantischen Kolonien als Teil des kulturellen Gedächtnisses auf Islands mit außerliterarischen Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen versucht.205 Demzufolge sei die Konversionserzählung der Färöer innerhalb der Óláfs saga Tryggvasonar der isländischen invers parallel geschaltet: Während die Isländer sich selbst ihres »Freiheitsmythos’« rühmten,206 bildeten die Färöer eine negative Vergleichsfolie. Sigmundr werde zur Bekehrung der Färöer entsandt, anstatt, wie die Isländer Gizurr Hvíti und Hjalti
201 Glauser 1994, S. 115. 202 Glauser 1994, S. 115. 203 Glauser 1994, S. 115. 204 Glauser 1989, S. 221. 205 Das gleiche erfolgt in einem darauf basierten, weniger ausführlichen Aufsatz, der allein die Konversion der Färöer aufarbeitet, siehe Bonté 2014a; Bonté 2014b. Die unveröffentlichte Cambridger Dissertation von Eleanor Heans-Głogowska unter dem Titel An examination of the editorial goals and methods in Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, die im Rahmen der 16th International Saga Conference vorgestellt wurde (siehe Glauser u. a. [Hrsg.] 2015, S. 128), konnte im Rahmen der vorliegenden Studie leider nicht konsultiert werden. 206 So nach dem von Bonté von Weber 2001a übernommenen Konzept.
1.2 Forschungsbericht
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Skeggjason, freiwillig in seiner Heimat zu missionieren, während etwa Kjartan Óláfsson (in der Laxdœla saga), anders als Sigmundr, nicht durch politische Machtversprechen geködert werden könne, die König Óláfr auf Island, anders als auf den Färöern, nicht ausüben könne; das färöische Bekehrungsþing wirke zudem wie eine Parodie des isländischen.207 Die Konversion führe so zu einem färöischen Autonomieverlust, indem sie von außen und gewaltsam auf die Inseln getragen werde – Konversion und Macht, politische Unterwerfung und norwegische Oberhoheit gingen hier Hand in Hand.208 Der Hintergrund sei in der isländischen Zeitgeschichte des 13. Jahrhunderts auszumachen.209 Folglich sei auch Snorris Position in Platzierung und Aussage des Abschnitts in der Óláfs saga helga als Kontrast zur völligen Verweigerung der Isländer Óláfr dem Heiligen gegenüber deutlich auszumachen.210 Sowohl Glauser als auch Bonté arbeiten vor dem Hintergrund synchronisierter Vorstellungen der Óláfs saga Tryggvasonar bzw. der Óláfs saga helga. Konkret mit der handschriftlichen Überlieferung der Færeyinga saga innerhalb der Flateyjarbók haben sich bisher nur Stefanie Würth in ihrer Dissertation211 und Annett Krakow in der ihren, unveröffentlichten,212 auseinandergesetzt. Würth beschäftigt sich eingehend mit den þættir des Codex, um vor allem der Frage nachzugehen, ob diese eine eigene Gattung der altnordischen Literatur darstellen. Dabei legt sie auch eine Interpretation der Gesamtkomposition und Aussageabsicht der Handschrift vor und kommt auf die Funktion der Færeyinga saga innerhalb derselben zu sprechen. Der erste Þáttr Þrándar ok Sigmundar habe demnach »keine Relevanz für den Haupthandlungsstrang der [Óláfs saga Tryggvasonar]«.213 Er biete »in erster Linie historische Hintergrundinformationen« und sei deshalb von Jón Þórðarson weiter an den Anfang der Saga gerückt worden.214 Dabei entspräche Sigmundr symbolisch hier Óláfr Tryggvason, der sich an anderer Stelle der Óláfs saga gegen Jarl Hákon durchsetzen müsse.215 Erst der zweite Abschnitt der Færeyinga saga – ohne weiteren Titel und von Jón nach Vorlage der Óláfs saga selbst abgeschrieben – knüpfe die färöischen Ereignisse »in enge[n] Zusammenhang mit dem Haupthandlungsstrang der [Óláfs saga Tryggvasonar]« und führe die Ereignisse des ersten Teils nahtlos fort,
207 Vgl. Bonté 2014a, S. 137–139 ; Bonté 2014b, S. 100–103. 208 Vgl. Bonté 2014a, S. 137 u. S. 139–140; Bonté 2014b, S. 100 u. S. 102. 209 Vgl. Bonté 2014b, S. 103–105. 210 Vgl. Bonté 2014a, S. 142–145. Niedner 1929 bemerkt bereits gegenteilig, dass der Abschnitt in der Óláfs saga helga »im Zusammenhang der norwegischen Königsgeschichte eine peinliche Episode darstell[e]«; »mitveranlasst« worden sei seine Aufnahme durch Snorri, weil »[d]ie Kunst der Sagaerzählung […] in den geheimnisvoll-durchsichtig dargestellten Abenteuern Sigurd Thorlakssohns in Norwegen und Karl von Möres auf den Färöern einen Höhepunkt [erreicht habe]« (S. 14). Er nimmt entsprechend an, die Passage sei von Snorri originalgetreu abgeschrieben worden. 211 Siehe Würth 1991. 212 Siehe Krakow 2009. 213 Würth 1991, S. 60. 214 Würth 1991, S. 62. 215 Vgl. Würth 1991, S. 61.
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Motive aufgreifend und fortentwickelnd.216 Der Sigmundar þáttr Brestissonar verbinde beide Óláfs sögur miteinander, biete erneut historischen Hintergrund zur Haupthandlung und sorge für eine Pausierung und einen Neustart, da die vorigen Handlungsstränge färöischer Angelegenheiten abgeschlossen würden und somit die Bühne für den nächsten Abschnitt einschließlich des Auftritts Óláfrs des Heiligen bereitet werde.217 In diesem, dem Færeyinga þáttr ok Óláfs konungs, würden Jón Þórðarsons Bemühungen um Chronologie und Ordnung seiner Erzählung sichtbar, da die Ereignisse im Gegensatz zu anderen Handschriften en bloc, »einfacher und geradliniger«, präsentiert würden; dabei werde die Aufnahme des þáttr grundsätzlich durch den Besteuerungsversuch des Königs historisch gerechtfertigt.218 Der þáttr passe sich in den Gesamterzählstrang ein, indem zuvor berichtete Ereignisse wieder aufgegriffen und mit der Handlung der Óláfs saga helga verknüpft würden, was im letzten Þáttr frá Þrándi ok frændum hans schließlich abgeschlossen werde.219 Die Bezeichnung þáttr sei dabei den Abschnitten vorbehalten, die nicht unmittelbar mit der Haupthandlung der jeweiligen Óláfs saga zu tun hätten – alle unterbrächen den Handlungsgang und setzten mit einer Nebenhandlung ein – während die Konversionserzählung, in der »alle Geschehnisse aus der Sicht des Königs, der auch den Anstoß zu den Aktionen gibt, geschildert« würden, folgerichtig nicht als þáttr ausgesondert werde.220 Der Grund für die Einarbeitung der Saga an sich sei dabei, dass »die Færeyinga saga die Ereignisse aus norwegenfreundlicher Sicht schilder[e] und wichtige Hintergrundinformationen zu den Óláfs sagas liefer[e].«221 Dabei fügen sich Würths Ergebnisse zur funktionalen Einbindung der Færeyinga saga in der Flateyjarbók in ihre Interpretation der Aussageabsicht des Buches insgesamt. Óláfr Tryggvason solle demnach insbesondere als Missionar und Quasi-Heiliger dargestellt werden, der in besonderem Verhältnis zur Verbreitung des Christentums auf Island stehe, während Óláfr der Heilige das Paradebeispiel des guten christlichen Königs (rex iustus) darstelle, dies allerdings in dezidierter Perspektive auf das norwegische Volk; seine Rolle werde im Vergleich zu der Óláfr Tryggvasons in den þættir der Flateyjarbók zunehmend politisch statt religiös.222 Zieht man zu diesen Ergebnissen die Überlegungen von Bonté und Glauser hinzu, ergibt sich eine Deckungsgleichheit: Durch den negativen Kontrast in der Darstellung der Konversion Islands und der Färöer würde Óláfr Tryggvason in der Flateyjarbók umso mehr in seinem Verhältnis zu Island hervorgehoben, während Óláfr der Heilige als perfekter norwegischer Herrscher bestehen bliebe, aber zugleich sein Verhältnis zu Island und einer weiteren Kolonie kontrastiv aufgearbeitet würde.
216 217 218 219 220 221 222
Würth 1991, S. 62–63, Zitat S. 62. Vgl. Würth 1991, S. 63. Vgl. Würth 1991, S. 63–64, Zitat S. 64. Vgl. Würth 1991, S. 64. Würth 1991, S. 64. Würth 1991, S. 60. Vgl. Würth 1991, S. 113–147.
1.2 Forschungsbericht
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Krakow schließlich bietet einige weitere, mehr am Detail ausgerichtete Betrachtungen zur Einbindung der Færeyinga saga in die Óláfs saga Tryggvasonar der Flateyjarbók, insbesondere, was deren Platzierung im Vergleich mit anderen Redaktionen der Óláfs saga betrifft. Sie möchte dabei festhalten, dass zwischen beiden Redaktionen »[i]nhaltlich […] keine wesentlichen Unterschiede […] festzustellen« seien.223 Sie begründet Jón Þórðarsons Umordnung der Interpolation einerseits mit der Chronologie der Ereignisse, da mit Sigmundr ein wichtiger Protagonist der Jómswikingerschlacht hier bereits vor dem Schlachtbericht eingeführt werde, andererseits damit, dass die Szene in Kapitel 23 der Færeyinga saga in Hákons Tempel der Þorgerðr hǫrðabrúðr zugleich die Taufszene Óláfrs unmittelbar vor Beginn des SagaAbschnitts wiederspiegle und die Rolle von Hákons Privatpatronin während der späteren Jómswikingerschlacht verständlicher mache. Zudem wirke der Vergleich zwischen Sigmundr und Óláfr, den die Saga in diesen Kapiteln enthält, umso stärker als Vorausdeutung.224 Durch die Betonung der Rolle Sigmundrs in der Jómswikingerschlacht würden die Passagen aus Færeyinga saga und Jómsvíkinga saga besser miteinander verknüpft.225 Insgesamt zeige sich am Modus der Einbindung der Færeyinga saga ein Streben nach gesteigerter Kohärenz. Einzelne Erzählstränge würden so in Segmente vereint und chronologisch geordnet.226 Insbesondere das Mittelstück schaffe auf mehreren Ebenen Verbindungen zwischen beiden großen Óláfs sögur, indem es einerseits den vollen Zeitrahmen, andererseits die volle inhaltliche Erstreckung des Textes aufböte, um damit eine Lücke zwischen den ansonsten in beiden Sagas verwendeten Erzählsträngen zu schließen. Zugleich werde »das Zusammenspiel von Politik im Zentrum der Macht und an der Peripherie« verarbeitet, da die fortgesetzten Eingriffsversuche der norwegischen Könige auf den Färöern am Widerstand des Þrándr í Gǫtu scheiterten, der beide Olafe überlebe.227 Die hier aufgeführten Forschungsbeiträge sind die einzigen, die die Færeyinga saga als faktischen Teil größerer Überlieferungszusammenhänge begreifen. Im Falle Glausers handelt es sich dabei nur um eine Skizze im Zuge eines Lexikonartikels,
223 Krakow 2009, S. 56. Diese Auffassung prägt die bisherige Forschung insgesamt. Bereits Golther 1893, S. 10 kommt zu dem Schluss, die Versionen des Saga-Anfangs in der Óláfs saga Tryggvasonar außerhalb der Flateyjarbók könnten nur als Verkürzungen eines ursprünglich ausführlicheren Sagatextes zu betrachten sein; der Inhalt selbst sei indes der Gleiche. So auch Finnur Jónsson 1927, S. X. Ólafur Halldórsson 1987, S. cviii hält zwar fest, es bestehe »[m]jög mikill munur« (ein sehr großer Unterschied) zwischen den beiden Redaktionen, bleibt in seiner Untersuchung aber sehr basal textphilologisch auf Fragen des Stils, der wörtlichen und inhaltlichen Reihenfolge fokussiert (siehe S. cviii–cxv) und bemerkt etwa nur im Vorbeigehen, der Streit zwischen Sigmundr und Þrándr käme in der Redaktion der Óláfs saga deutlicher und schärfer zum Vorschein (vgl. S. cxv), während beide Texte sicherlich auf eine Quelle zurückzuführen seien (vgl. S. cxv). Grundsätzlich sieht also auch er gleichen Inhalt der Texte vorliegen. 224 Vgl. Krakow 2009, S. 56–58. 225 Vgl. Krakow 2009, S. 60–61. 226 Vgl. Krakow 2009, S. 112–114. 227 Vgl. Krakow 2009, S. 116–118, Zitat S. 117.
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1 Einleitung
die drei Dissertationen haben jeweils andere Zielsetzungen und besprechen die Færeyinga saga als einen Teiltext unter vielen. Der genaue Zusammenhang zwischen überlieferter Gestalt der Saga und den Überlieferungsträgern kann damit keineswegs als geklärt gelten. Krakows Aussage, zwischen den Versionen der Saga in der Flateyjarbók und anderen Handschriften der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta seien keine substanziellen, inhaltlichen Unterschiede zu bemerken, kann etwa leicht entgegengehalten werden, dass zwar grob ein ähnlicher Erzählverlauf mit den gleichen Protagonisten geboten wird, sich allerdings Figurenkonzeptionen diametral ändern, wenn ganze, charakteristische Szenen in einer Version des Textes schlicht entfallen.228 Auch konturiert die Erzählung in der Flateyjarbók den Gesamterzählbogen der Óláfs saga Tryggvasonar schon dadurch ganz anders, dass der Text funktional an anderen Stellen eingebunden ist, wie Krakow selbst bemerkt, und zudem viel ausführlicher ausfällt. Es ergibt sich grundsätzlich ein gänzlich anderes Bild des Textes, wenn sowohl in der Óláfs saga Tryggvasonar als auch in der Óláfs saga helga außerhalb der Flateyjarbók jeweils die weiteren Folgen der Interaktion zwischen König und Inselbevölkerung nicht oder nur andeutungsweise weitererzählt werden. Beide Texte enden dort nach dem Auftritt des jeweiligen königlichen Protagonisten, der allein dadurch eine ganz anders geartete Rolle in den Geschehnissen einnimmt.229 In beiden Redaktionen abqualifiziert erscheinen so die innerfäröischen Verhältnisse, wenn der Text in der Óláfs saga Tryggvasonar mit der Prophezeiung des Königs über den Tod Sigmundrs endet, die als korrekt erwiesen wird, ohne auf Details einzugehen,230 während am Ende der Erzählung der Óláfs saga helga die Untäter gegen den Königswillen bestraft werden, ohne auf ihr weiteres Schicksal einzugehen.231 Als entsprechend unterschiedlich wäre potenziell der Textgehalt einzustufen und die Unterschiede weitergehend zu untersuchen.
228 So u. a. die Eröffnungsszene auf dem Markt von Haleyri. Statt ausführlich von Þrándrs Auslandsreise zu berichten, wird abseits der Flateyjarbók nur kurz zusammengefasst: Vm sumarit eptir for hann [Þrandr] […] til Haleyrar. þa er þar var fiolmenni mest ok kaupstefna. fekk Þrandr þar óf lausa fiar ef engu efni utan svikum sinum ok vndir hyggiu (Fær, S. 5–6 [Text A]; Im Sommer danach fuhr [Þrándr] […] nach Haleyri, als dort eine große Volksmenge und ein Markt war. Er bekam dort ein Übermaß an losem Besitz durch nichts als seine Täuschungen und Heimtücke). Zur Funktion der langen Szene im Zusammenhang der Flateyjarbók siehe Kap. 3.2, ebenso zu ihrer Auslassung in den übrigen Redaktionen. Zur Kürzung der Szene in den anderen Redaktionen vgl. auch Ólafur Halldórsson 1987, S. cviii. Vgl. weiterhin auch Kap. 4 u. Kap. 7.4 zur Unterschiedlichkeit der Sagaredaktionen und ihrer Auswirkung auf die Textkonzeption. 229 Siehe auch Kap. 7.4. 230 Der Text schließt dort mit der Bemerkung: En þat for siþan sem Olafr konungr sagði at sa maðr er het Þorgrimr illi […] myrði Sigmund Brestisson (ÓT c. 207 [II, S. 124], siehe auch Fær, S. 80 Anm. z. Z. 30; Aber es geschah danach, wie König Óláfr sagte, dass der Mann, der Þorgrímr der Böse hieß, […] Sigmundr Brestisson […] ermordete), einschließlich einiger weniger weiterer Informationen und dem Verweis auf die Færeyinga saga. Der Text wird hier nach Redaktion A wiedergegeben, hinsichtlich Phrasierung und Wortreihenfolge zeigen die Handschriften geringfügige Varianz. 231 Sigurðr und Þórðr Þorlákssynir werden durch die Königsmänner Leifr und Gilli nach dem Totschlag an König Óláfrs Gesandten Karl geächtet, woraufhin lediglich allgemein auf große Streitigkei-
1.2 Forschungsbericht
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Würths Argumentation indes ist hochinteressant, das Thema aber keineswegs erschöpfend behandelt: Wenn die Flateyjarbók als derartig meisterhaft komponiert anzusehen ist, wie es ihre Forschung und die jüngere etwa von Ashman Rowe nahelegen,232 so wäre weitergehend nach den genaueren Zusammenhängen zwischen der Darstellung der Færeyinga saga, dem Haupterzählstrang der Óláfs sögur und den weiteren Interpolationen und þættir des Gesamttextes zu suchen. Denn: Wenn Krakows Analyse recht eindeutig belegt, dass sich ein textliches Konstruktionsprinzip hinter dem Re-Arrangement des ersten þáttr der Færeyinga saga im Codex verbirgt, kann seine Funktion kaum darauf reduziert werden, »keine [unmittelbare] Relevanz« für den Haupthandlungsgang zu besitzen. Eine weitergehende Untersuchung dieser Sachverhalte allerdings wurde bisher nicht vorgelegt. So klagt auch Glauser 1994, »die strukturelle Funktion der F[æreyinga] s[aga] für die umfangreicheren Erzählkomplexe über die Missionskönige aus dem 13. und frühen 14. [Jahrhundert] [bleibe] weitgehend ungeklärt.«233
1.2.2.3 Zur relativen Datierung der *Færeyinga saga und ihrer Berechtigung Vermeintlich weit besser durchdrungen ist der Zeithorizont, in dem die Færeyinga saga für gewöhnlich verortet wird. Immer wieder wurde im hier gebotenen Forschungsbericht darauf verwiesen, dass sie sowohl in quellenkritisch-historischer wie literaturgeschichtlich-ideologieanalytischer Hinsicht wiederholt im Kontext des 13. Jahrhunderts auf Island betrachtet wurde. »We happen to know«, meint in Folge dessen Mundal, »that Færeyinga saga is a very old saga.«234 Obwohl der heute erhaltene Gesamttext der Saga wie oben ausgeführt nur in der Flateyjarbók aus den Jahren 1387–1394 enthalten ist, wird die Erzählung selbst von Beginn ihrer Erforschung an axiomatisch älter, nämlich auf den Übergang zwischen 12. und 13. Jahrhundert datiert. Ersteditor Rafn datiert die Saga noch in die Mitte des 12. Jahrhunderts,235 insbesondere, weil am Ende des Textes zwei Männer namens Einarr und Skeggi erwähnt
ten in Norwegen sowie auf den Färöern vorverwiesen wird. Allerdings werden keine weiteren Details gegeben, sondern der Bericht von den Färöern für beschlossen erklärt, siehe Fær, S. 124–125. 232 Vgl. Ashman Rowe 2005. 233 Glauser 1994, S. 115. Einige weitere Forschung wäre hier insofern noch zu leisten, auf die jedoch auch in der vorliegenden Studie weitgehend verzichtet werden musste. Vor einer Klärung der Zusammenhänge zwischen Færeyinga saga und Überlieferungsträger schien es zunächst gebotener, zu einem umfänglichen Verständnis dieses Textes selbst zu gelangen, und ihn primär ebenso wenig von diesem Kontext her zu denken, wie ihn andere Forschungen von seinem vermeintlichen Zeithintergrund her erschließen. Vor einer Beurteilung der Texteinbindung ist zunächst ebenso immanent ein Gehalt der Erzählung zu bestimmen, dessen Funktionalität im zeitlichen ebenso wie im handschriftlichen Kontext erst im zweiten Schritt hinzutritt. Siehe hierzu näher Kap. 1.3. 234 Mundal 2005, S. 48. 235 Vgl. Rafn 1832, S. XI.
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werden, er uerit hỏfdu firir skommu syslu menn j Færeyium.236 Diese beiden, vor allem Einarr, wurden in der frühen Forschung historisch zu identifizieren versucht und ihre Dienstzeit um 1210 vermutet.237 Finnur Jónsson setzt die Saga in die Zeit vor dem Tod des Mönches Gunnlaugr Leifsson, der sie verwendet habe, also vor 1218, und datiert »med rundt tal fra o. 1200«.238 Bereits hieraus wird ersichtlich, dass nur »[r]elative Kriterien« für eine Datierung der Færeyinga saga herangezogen werden können: Unter die Quellen der Saga wird die Orkneyinga saga gerechnet, die ihrerseits um 1200 entstanden sein soll, während der Text Snorri Sturluson, dessen Abfassung der Königssagas gemeinhin in das Jahrzehnt zwischen 1220 und 1230 gesetzt wird, wohl vorgelegen haben muss.239 Da neben den beiden sýlsumenn Einarr und Skeggi in einem Passus auch ein Hallbjǫrn hali hinn fyrri erwähnt wird, der als Quelle für die Teilnahme Sigmundrs an der Jómswikingerschlacht genannt wird,240 wurden auch Versuche unternommen, diesen historisch dingfest zu machen.241 Ólafur Halldórsson schließt sich der Meinung an, dass es sich bei diesem Mann um den Skalden des schwedischen Königs Knútr Eiríksson und Sverrir Sigurðarsons handeln müsse, der deshalb hinn fyrri genannt werde, weil um die Mitte des 13. Jahrhunderts ein weiterer Isländer dieses Namens nach dem Bericht der Sturlunga saga für einen Totschlag bekannt geworden sei. Aufgrund dessen sei die Saga nach den Lebensdaten dieser Männer im Schnitt auf die Zeit nach 1215 zu datieren.242 In der Auseinandersetzung
236 Fær, S. 137 (die vor kurzem Vögte auf den Färöern gewesen waren). Rafn rechnet auf dieser Grundlage ohne Quellenvergleich, allein aufgrund des Sagatextes, die Lebensdaten vorwärts. Einar und Skeggi werden als Enkel Sigmundr Leifssons benannt, der nach Rafns Vorstellung um 1026 geboren sein müsse. Entsprechend seien beide zu Beginn des 12. Jahrhunderts als sýslumenn tätig gewesen, was sie nicht länger als 30 Jahre hätten sein können. Daher müsse der terminus ante quem der Saga um die Mitte des 12. Jahrhunderts liegen. 237 So entgegen Rafn Munch 1857, S. 1051. Die neuere Forschung hingegen (etwa Glauser 1994, S. 113) hält diese Angabe zu Recht für »zu vag«, um eine sichere Datierung vornehmen zu wollen. Auch Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxii wendet ein, es sei nicht mit Sicherheit zu bestimmen, wann der entsprechende Satz in den Text gelangt sei, zudem sei unklar, wie lange ein möglicher historischer Einarr als sýlsumaðr auf den Färöern tätig gewesen sei. Zu seiner genaueren Diskussion siehe S. ccx–ccxi. Mit historischem Impetus vgl. auch Debes 1990, S. 95; Helle 2005, bes. S. 14; Mortensen 2005, S. 89–91. 238 Finnur Jónsson 1927, S. IX (mit runder Zahl um 1200). 239 Glauser 1994, S. 113. Vgl. auch Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxii–ccxxxiii. 240 Dieser wird in der einzigen eingeschobenen Quellennennung des gesamten Textes, der zur Jómswikingerschlacht, neben einem Steingrímr Þórarinsson und einer Erzählung (fra sỏgnn) Ari Þorgilssons aufgeführt, siehe Fær, S. 68; vgl. bereits oben (Fn. 72). 241 So zunächst Rafn 1832, S. XI–XII mit Verweis auf den Þorleifs þáttr jarlsskálds. Weitere Forscher, die diese Auffassung vertreten, nennt Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxiii, etwa Jónas Kristjánsson, den Editor des Þorleifs þáttr jarlsskálds, siehe S. 229 (Fn. 1). 242 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxiii–clxiv u. S. ccxxxiii–ccxxxiv. Rafn 1832, S. XII zufolge sei der Verweis hinn fyrri hingegen erst nachträglich nach der Mitte des 13. Jahrhunderts hinzugefügt worden.
1.2 Forschungsbericht
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zwischen Sigmundr und Ǫzurr erklimmt Sigmundr in der Færeyinga saga einen Wall mithilfe seiner Axt, was mit zwei Berichten aus der Sturlunga saga zusammengebracht wurde.243 Trifft diese angenommene Anregung der Szene durch ein reales Ereignis zu, ergäbe sich ein terminus post quem von 1212.244 Mitunter wird der erste Impuls zur Niederschrift der Saga überhaupt mit dem geistlichen Interesse für das Königtum Óláfr Tryggvasons und seine Mission kurzgeschlossen, das sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts zu zeigen begann.245 Gegenteilig wurde angenommen, die Entstehung der Saga reflektiere die politische Situation Islands im 13. Jahrhundert und den zunehmenden Dominanzdruck des expandierenden Norwegen.246 Gelegentlich wurden im Zuge dieser Datierungsbemühungen historische Personen für die Rekonstruktion eines direkten Vermittlungsweges des Sagastoffes von den Färöern nach Island hypothesenhaft vorgetragen. Ólafur Halldórsson etwa denkt an den genannten sýslumaðr Einarr.247 Der färöische Historiker Andras Mortensen führt als Überlegung ins Feld, die Quelle der Erzählung könne womöglich niemand Geringeres als der von den Färöern stammende König Sverrir Sigurðarson (Regierungszeit 1177–1202) selbst gewesen sein.248 Diese reine Hypothese lässt sich kaum quellenkritisch in sichere Gewässer überführen, jedoch bewegt sie sich immerhin im Bereich des Denkbaren. Sie wird von North spekulativ weiter aufgegriffen, da Sverrirs Ideologie, Landbesitz als königliches Erbgut vorzustellen, die Darstellung der Saga geprägt haben könne und vielleicht sogar weiteren Einfluss auf die späteren Sagas, auch die Snorris, ausgeübt habe.249 Dieser Ansatz widerspricht der Theorie, die Niederschrift der Saga sei durch das (historische) Interesse Geistlicher am Missionskönig Óláfr Tryggvason inspiriert worden. Tentativ lässt sich diese Spekulation jedoch sogar noch weiterspinnen: Sverrir tritt in der von ihm selbst kommissionierten Sverris saga als durchaus moralisch fragwürdiger, aber erfolgreicher Politiker hervor.250 Diese Darstellung ließe sich spekulativ weiter mit der Þrándrs in der Færeyinga saga rückbinden,251 auch wenn die Schlussfolgerung, die Darstellung bzw. Verhaltensweise des einen sei ein Echo des anderen zu gewagt erscheinen mag.252 243 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxii–clxxiii. 244 Vgl. Glauser 1994, S. 113. 245 Vgl. Glauser 1994, S. 115. Vgl. auch Foote 1984c, S. 172; Guldager 1975, S. 75–76. Diese Datierungsgrundlage füttert insbesondere die Forschungen, die eine christliche Ideologie im Text ausmachen. 246 Vgl. Berman 1985, S. 125; Bonté 2014b, S. 103–104. Diese Position informiert letztlich die Forschungspositionen, die den Text in der Hauptsache als Diskurs über Unterwerfung und koloniale Unabhängigkeit lesen. 247 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxi. 248 Siehe Turið Sigurðardóttir 2001, wiederholt in Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 54. Überlegungen in diese Richtung stellt bereits Munch 1857, S. 1052 (Fn. 1) an. 249 Vgl. North 2005, S. 73. 250 Zur (Selbst-)Darstellung Sverrirs in der Sverris saga vgl. Wilson 2016; Bandlien 2020. 251 Siehe bereits meinen Gedanken in Schmidt 2016, S. 287–288 (Fn. 38). 252 Vgl. North 2005, S. 73.
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1 Einleitung
Diesen insgesamt sehr dürftigen Datierungskriterien, die Ólafur Halldórsson unumwunden einräumt,253 ist fast die gesamte bisherige Forschung zur Saga gefolgt. Eine Datierung in die ersten Jahrzehnte des turbulenten 13. Jahrhunderts ist angesichts der Diskurse und Themen, die aus der Saga herausgelesen wurden, sehr verführerisch. Dann würde die Annahme möglich, »die F[æreyinga] s[aga] reflektiere die chaotischen Rechtszustände und Machtkämpfe in Island um 1210.«254 Nur ein einziger Forscher, Helgi Guðmundsson, gibt sich größte Mühe, die Saga später zu datieren:255 Ihm zufolge sei die Saga spezifisch im Winter 1277/1278 in Sandvík auf den Färöern entstanden, unter der Beteiligung Sturla Þórðarssons. Dessen Schiffbruch auf den Färöern in diesem Jahr verzeichnen die isländischen Annalen und die Árna saga biskups. Der zweite Hallbjǫrn hali, auf dem Ólafur Halldórsson seine Datierung teilbasiert, sei erst nach dem von ihm ausgeführten Totschlag 1255 überhaupt bekannt geworden, weswegen die Tat als terminus post quem anzusehen sei. Weiterhin seien diverse Wörter, Wendungen und Elemente, die mitunter auch Ólafur Halldórsson für eine Datierung fruchtbar zu machen versucht,256 auf spezifische Sagavorbilder und reale Ereignisse der Mitte des 13. Jahrhunderts zurückzuführen. Sogar die Zeichnung des Þrándr í Gǫtu sei unter Umständen der Persönlichkeit Snorri Sturlusons nachempfunden, dessen Óláfs saga helga im entsprechenden Abschnitt die Quelle der späteren Færeyinga saga dargestellt habe, statt andersherum. Unabhängig davon, wie verlockend bis charmant oder wohl überlegt und recherchiert Helgis Hypothesen sein mögen – und immerhin steht auch die anderweitig als treffsicher angenommene Datierung nicht auf wesentlich festeren Beinen – ist ihm bisher kein einziger Forschungsbeitrag gefolgt. Letztlich ist in jedem Fall klar, dass es kein objektives Datierungskriterium jenseits der Handschrift der Flateyjarbók und der übrigen Überlieferungsträger (ebenfalls nur in handschriftlicher Form) für die Færeyinga saga geben kann. Dabei ist bemerkenswert, dass im Zuge der Datierungsbemühungen kaum je die Tatsache bedacht wurde, dass einige Handschriften, jedenfalls des Teils der Saga, der in allen Handschriften der Óláfs saga helga enthalten ist, durchaus noch aus dem 13. Jahrhundert datieren.257 Die sich hieran anschließende Frage betrifft natürlich die ›Ursprünglichkeit‹ des entsprechenden Textabschnittes für eine ›originale‹ Færeyinga saga, jedoch lässt sich unzweifelhaft festhalten, dass eine Stofftradition bereits vor der Flateyjarbók existiert haben muss. Für die heute erhaltene Gesamtsaga kann diese Beobachtung dennoch nicht für eine unumstößliche Datierung herangezogen werden, wenn substanzielle Textpartien nur dort überliefert sind. Einen Text früh
253 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxvii. 254 Vgl. Glauser 1994, S. 113. 255 Vgl. Helgi Guðmundsson 2002. 256 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxiv–ccxxxix. 257 Als Übersicht der Handschriftenzeugen und ihrer Datierung siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. xxx–xxxvii. Nennenswert wäre insbesondere AM 325 VII 4to, »skrifað af tveimur mönnum á síðari hluta 13. aldar« (S. xxxv; geschrieben von zwei Männern in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts).
1.2 Forschungsbericht
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zu datieren, obgleich er lediglich in späten Handschriften überliefert ist, ist dabei aber sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal der Forschung zur Færeyinga saga innerhalb der Altnordistik, und die relative Datierung vor dem Werk von Snorri Sturluson zulässig und nachvollziehbar begründet. Ohnehin ist festzuhalten, dass »any attempts to date a saga invariably remain open to debate.«258 Streng historisch gesehen und in absolutem Sinne belastbar kann eine solche Datierung naturgemäß nicht sein. Da diesen Kriterien allerdings kaum eine Sagadatierung standhält und der handschriftliche Überlieferungsrahmen generell erst in jüngster Zeit in die Betrachtung der Sagas und die Suche nach den sie prägenden Diskursen Eingang gefunden hat,259 schiene es auch im Falle der Færeyinga saga vorschnell, jeglichen Erkenntniswert der bisher gängigen Datierung rundheraus abstreiten und allein vom handschriftlichen Hintergrund aus arbeiten zu wollen. Nicht zuletzt, weil in einem solchen Falle die grundsätzliche Existenz der Saga umso deutlicher in Frage gestellt würde. Hingegen muten die Argumente für ihre vormalige Existenz durchaus überzeugend an. Angesichts dieser Unwägbarkeiten wäre ein Zugang zum Text zu favorisieren, der weder die eine noch die andere Extremposition exklusiv einnimmt. Den Text einzig und allein als Teilstück der Handschrift zu betrachten, die ihn überliefert, hieße in letzter Konsequenz, die literarische Tradition zu leugnen, in die diese sich eindeutig einordnet, indem sie vorhandene Texte neu zusammenstellt und arrangiert.260 Jeglichen Einfluss der Überlieferung auf den Gehalt einer älteren Saga abstreiten zu wollen, hieße im Gegenteil, dem hochkomplexen Überlieferungsträger den Eigenwert abzusprechen. Dies ist schon angesichts der Tatsache unhaltbar, dass der Text in verschiedenen Handschriften durchaus verschiedene Gestalten und daraus folgend auch Diskurse erkennen lässt. Ein Mittelweg scheint von Nöten, der die Frage der Datierung im ersten Schritt sogar ausblendet, und erst versucht, sich ihr wieder zu nähern, wenn er den textlichen Gehalt an und für sich bestimmt hat. So formuliert auch Würth, dass hinsichtlich der Sagas und ihres jeweiligen Zeitkontextes »jede Saga individuell auf ihre Aussagefähigkeit hin untersucht werden« müsse.261 Ob und inwiefern die bisher angesetzte Datierung der Færeyinga saga
258 Bonté 2014a, S. 120. 259 Dies in Folge der New Philology, allerdings erst in jüngster Zeit in konkreten Analysen, als solche siehe etwa Ármann Jakobsson 2002, der von der zuvor insbesondere auf ihre Quellen untersuchten Handschrift Morkinskinna als einer zusammengehörigen »saga« spricht (S. 11), oder Müller 2001, die die Sagas der Möðruvallabók als Gesamtheit analysiert. Vgl. auch Würth 1991 oder Ashman Rowe 2005 als Ausdruck dieser neueren Zugangsweise zu den Texten. Zum Problem der Differenz zwischen handschriftlicher Überlieferung und gängigen Forschungsperspektiven siehe auch Würth 1999, bes. S. 200–205; Ármann Jakobsson 2013. 260 So im absoluten Sinne nachweisbar etwa im Falle der Laxdœla saga, die auf Pergament vollständig nur in der im 14. Jahrhundert entstandenen Möðruvallabók (AM 132 fol.) und mehreren, ebenfalls älter datierten Fragmenten erhalten ist, siehe als Übersicht Einar Ól. Sveinsson 1934, S. LXXVI–LXXXII. 261 Würth 1999, S. 205.
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1 Einleitung
nachhaltig gerechtfertigt erscheint und weiterhin angenommen werden kann, ob sie korrigiert werden muss, oder ob sogar die Vorstellung einer Datierung vor dem Überlieferungsträger selbst gänzlich abgewiesen werden muss, ist insofern nur einer tiefgreifenden Analyse des Textes an sich zu entnehmen. Diese muss zunächst erbracht werden, ehe zu überlegen ist oder gerechtfertigt werden kann, inwiefern mögliche Diskurse des isländischen 13. Jahrhunderts sich im Text wiederspiegeln, oder ob die Thematiken des Textes sich einzig vor dem Hintergrund der Flateyjarbók schlüssig erklären lassen.
1.2.2.4 Eine politische Saga oder der weiße Schimmel: Zur Gattungsfrage der Færeyinga saga Eng mit der Thematik der Sagadatierung verwoben ist die Frage, welchem literarischen Genre sie zuzurechnen sei. Denn, wie Mundal formuliert, »[i]f we did not know this [age of the saga] for sure, I am afraid that many scholars would regard this saga to be young.«262 Die Saga zeige deutlich, »how difficult it is to date written saga literature on the basis of literary motifs«, da sie im ersten Teil stark von Motiven geprägt sei, die typischerweise den als spätmittelalterlich angesehenen Fornaldarsögur zugeordnet würden.263 Darüber hinaus sei die – zumeist übereinstimmend anerkannte – literarische Qualität der Saga nicht unbedingt etwas, was man von einer der ältesten Sagas erwarte.264 Zugleich sei der Grad an ›Realismus‹ des Textes stellenweise stark unterschiedlich, was typischerweise als ›junger‹ Zug aufgefasst werde.265 Jedoch seien letztlich die Suche nach literarischen Modellen, die die Saga kennzeichne, und ihre dadurch bedingte Stilmischung darauf zurückzuführen, dass vor Abfassung der Færeyinga saga solche Modelle schlicht nicht schriftlich existierten; dabei handle es sich also um einen Zug großen Alters.266 Anhand dieser Überlegungen Mundals wird deutlich, welche Prägekraft die (relative und mitunter willkürliche267) Vorstellung literarischer Gattungen in der altnordistischen Forschung entwickelt hat.
262 Mundal 2005, S. 48. 263 Vgl. Mundal 2005, S. 48–49, Zitat S. 49. Diese Motive betreffen die Jugendabenteuer Sigmundrs und wurden entsprechend von der frühen Quellenkritik als »unecht« aus dem Text ausgeschieden, wie oben gezeigt. Gegen die Motive als Datierungskriterium spricht sich Ólafur Halldórsson 1987, S. cv–cvi aus, da durch den Bericht der Hochzeit von Reykhólar verbürgt sei, dass es Sagas mit den entsprechenden Stoffen bereits um 1119 mündlich gegeben habe. Auf den Unterschied zwischen oraler und schriftlicher Tradition kommt auch Mundal 2005, S. 49 zu sprechen – als »jung« würden entsprechende Motive lediglich aufgefasst, weil sie erst spät schriftlich in Sagas erhalten seien, was allerdings nichts Faktisches über ihr tatsächlich Alter aussage. 264 Vgl. Mundal 2005, S. 49. 265 Vgl. Mundal 2005, S. 50. 266 Vgl. Mundal 2005, S. 51. 267 Zur Relativität aber Nützlichkeit des Gattungsbegriffes vgl. Müller-Dyes 1997, bes. S. 323–332.
1.2 Forschungsbericht
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Die Færeyinga saga lässt sich prima facie nicht unproblematisch in eines der etablierten Sagagenres einteilen. Motivisch steht sie im ersten Teil den Vorzeitsagas nahe, während ihr Überlieferungskontext der der Königssagas ist. Wohl nicht zuletzt deswegen wurde sie zunächst vor allem als historische Quelle betrachtet. Dementgegen wurde die Saga häufig zu den Isländersagas gestellt,268 obwohl sie innerhalb dieser Gattung allein zu stehen scheint und sich viele Motive und Eigenarten nicht unmittelbar mit Modellen aus den Isländersagas abgleichen ließen.269 Häufig wird ihre Position zwischen Königs- und Isländersagas herausgestellt.270 Die grundsätzliche Problematik an dieser Stelle ist zweigeteilt. Einerseits ergibt sich eine diachrone Unsicherheit, wenn die Færeyinga saga vor den meisten, potenziell als Modelle zu konsultierenden Isländersagas datiert wird, andererseits das synchrone Problemfeld, dass die Vorstellung einer Gattung der Isländersagas primär nach wie vor phänomenologisch verankert ist:271 Isländersagas handeln von Isländern in der Sagazeit – die Færeyinga saga tut dies nicht.
268 So bereits Finnur Jónsson 1927, S. XIV, implizit durchaus auch Niedner 1929, S. 20, wenn er meint, »[m]anches, in geschichtlicher wie kulturhistorischer Beziehung, erinner[e] in der Saga an verwandte Vorgänge oder Daseinsformen auf Island«. Ólafur Halldórsson 1967, S. xiii zufolge sei die Saga »að vísu ekki skipað í flokk með Íslendinga sögum, en hún er þeim skyldust og heyrir sem bókmenntir þeim flokki til« (allerdings nicht zu den Isländersagas zu zählen, aber sie ist ihnen am verwandtesten und gehört dieser Gruppe als literarisches Werk an). Bereits 1960 verweist er in einem Lexikonartikel auf die Isländersagas und bezeichnet die Færeyinga saga als »gren på Islændingesagaens stamme« (Ólafur Halldórsson 1960, Sp. 78; Ast am Stamm der Isländersaga). Ebenso Jónas Kristjánsson 1975, S. 235. In seiner Edition zählt Ólafur Hallórsson 1987, S. clxvi–cxciv viele Gemeinsamkeiten zwischen Isländersagas und Færeyinga saga auf, die Almqvist 1992b, S. 33–34 trotz seiner Betonung der generischen Mittlerposition der Saga ein »genetisk samband« (S. 34; eine genetische Verbindung) erkennen lassen. Jesch 1993 sieht die Saga ebenfalls nahe an den Isländersagas, wenn sie sie als Endpunkt einer Tendenz begreift, die sich von der historischen Rechenschaftsablage langsam zur fiktionalen Erzählung ohne historischen Anspruch wandle. Grundsätzlich zustimmend auch Ármann Jakobsson 2009, S. 55; Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 51. Erst jüngere Forschungen, wie Klettskarð 2000, Bick 2005, Ewering/Krosing 2011, S. 80–87 und Harlan-Haughey 2015 werten die Saga – in der Regel ohne eigene Diskussion von Gattungsmerkmalen – vollständig analog zu den Isländersagas aus, unter denen sie auch Glauser 2006, S. 22 ohne Zögern aufführt. 269 Vgl. Glauser 1994, S. 113. 270 Andersson 1985 nimmt sie in seine umfangreiche Übersicht über die Königssagas und ihre Erforschung auf, behandelt sie allerdings nur peripher, weil sie – mit Verweis auf Jónas Kristjánsson 1975 – den Isländersagas näherstünde. Vgl. auch Johnston 1975, S. 9; Berman 1985, S. 113 (eher auf die Forschungsauffassung der Saga denn ihre eigenen generischen Eigenarten bezogen) u. S. 122; Almqvist 1988, S. 73; Almqvist 1992b, S. 33; Glauser 1994, S. 115; Arge Simonsen 2004, S. 17. 271 Andersson 1985, S. 197 etwa definiert die Isländersagas als »national literature with a definite, if not exclusive, focus on Icelandic affairs«. In Abgrenzung dazu stünden die Königssagas in ihrer chronikartigen Darstellung von »non-Icelandic events«. Auch Würth 2000, S. 511 hält fest: »Die I[sländersagas] erzählen von Isländern und spielen im Wesentlichen in Island«. Vgl. auch Schier/ Böldl 2009, S. 150, die ebenfalls eine »zeitliche und räumliche Begrenzung« zur Korpusdefinition geltend machen. Wie inkonsequent eine solch phänomenologisch basierte Gattungsdefinition sein kann, zeigt sich, wenn Andersson 1985 die Færeyinga saga den von ihm besprochenen Königssagas
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1 Einleitung
Dem Rechnung tragend kategorisiert Mundal die Færeyinga saga als »outside the traditional devision [sic!] of saga literature into genres or subgenres«.272 Berman hat entsprechend versucht, eine neue Subkategorie der Sagaliteratur zu entwerfen, die »Political sagas«, als die sie die Færeyinga saga zusammen mit der Orkneyinga und der Jómsvíkinga saga zählt.273 Ihr folgen darin Jesch und zum Teil auch Glauser.274 Die drei Sagas seien politisch, indem sie »issues of independence and struggle for leadership« behandelten. Sie spielten in einer norwegischen Kolonie, aber weder in Norwegen noch auf Island, erzählten dabei den Aufstand einzelner Magnaten gegen die Königsherrschaft aus und brächten damit einen »focus on political power and its users« ein.275 Historische Prozesse würden somit gegen individualistische Interessen gestellt, die machtvollen Landbesitzer forderten die Regeln althergebrachter Autorität heraus und seien in der Regel wesentlich eingehender gestaltet als die »cold, remote figures« der entsprechenden Könige.276 Die vereinigende Thematik der Texte sei daher die Analyse dessen, »what the personality of a successful ruler is like« und wie Macht gewonnen und verloren werde.277 Die Eröffnung einer solchen Sagagruppe durch Berman ist verdienstvoll, um die entsprechenden Sagas dem kaum für sich wahrgenommenen Zwischenraum zwischen Isländer- und Königssagas zu entreißen und klar zu machen, dass es sich bei ihnen nicht allein um historische Quellen handelt.278 Wie die vorliegende Studie erweisen möchte, trifft dabei die Bezeichnung als »Political Saga« ohne Zweifel den Wesenskern der Færeyinga saga. Indes stellt sich die Frage, ob eine eigene Subkategorie nur dreier Texte sich als tragfähig herausstellen kann, insbesondere wenn alle drei intern vollkommen unterschiedliche Herangehensweisen an ihre zentrale Thematik zeigen,279 und auch unter literarischen Gesichtspunkten völlig anders geartet sind. So zeichnet sich etwa die Orkneyinga saga durch die verhältnismäßig strenge Quellenbasierung mittelalterlicher Historiographie aus, während die Færeyinga saga ein solches Bestreben gerade nicht an den Tag legt.280 Der Terminus »Political saga« offenbart sich darüber hinaus bei genauerer Betrachtung im weiteren Kontext der Sagaliteratur geradezu als Tautologie. Dass Texte wie Snorris Heimskringla und Isländersagas wie die
zuschlägt, weil sie keine Isländer als Protagonisten bietet, sie dann aber aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit den Isländersagas nicht näher bespricht. 272 Mundal 2005, S. 50. Ähnlich auch Bick 2005, S. 1. Eine »eindeutige« Genrezuteilung für »unmöglich« hält auch Uecker 2004, S. 114. 273 Vgl. Berman 1985. 274 Vgl. Jesch 1993; Glauser 1989, S. 215. 275 Berman 1985, S. 113. 276 Berman 1985, S. 114. 277 Berman 1985, S. 114. 278 So auch Bermans diesbezüglich formuliertes Ziel (Berman 1985, S. 113). 279 Wie bereits Bermans eigene Analyse. 280 Vgl. die Betrachtungen bei Jesch 1993.
1.2 Forschungsbericht
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Egils saga, die Njáls saga oder die Eyrbyggja saga und damit beide Gattungskategorien, zwischen denen sich Berman zufolge die »Political saga« konstituiere, ebenfalls von eminent politischen Diskursen geprägt sind, wird sich kaum leugnen lassen. Die Sagas als solche sind ihrer Natur nach hochpolitisch, nicht zuletzt, wenn immer wieder die identitätsstiftende Funktion der Isländersagas, besonders in ihrer Abgrenzung gegen das norwegische Reich, herausgearbeitet wird.281 Insofern erscheint fraglich, wie glücklich Bermans Titelformel gewählt ist. Auch zeigt sich die Gruppierung der drei von Berman gewählten Sagas als verhältnismäßig willkürlich: Denkbar wäre genauso gut eine Zusammenstellung nordatlantischer Nicht-Isländersagas, also der Orkneyinga saga und Færeyinga saga gemeinsam mit den Vinlandsagas, oder allgemein all jener Sagas, die über von Norwegen aus besiedelte Gebiete berichten. Die Kategorie der »Political sagas« vermag so zwar, Gemeinsamkeiten in den Thematiken der drei Texte hervorzuheben. Womöglich kann sie ein Entwicklungsmodell der altnordischen Literatur von der strengeren Historiographie im Sinne der Königssagas282 zum freieren Umgang mit der Fakt/Fiktions-Scheide in den Isländersagas denkbar machen.283 Jedoch ist sie nicht geeignet, um alle drei Texte im Kern ihres Wesens umfänglich zu erfassen.284 Wenig spricht allerdings dagegen, die Færeyinga saga mit den Isländersagas in eine Kategorie der Sagaliteratur zusammenzufassen, wie dies verschiedentlich bereits getan wurde. Einerseits behandelt die Saga nicht vordringlich die innernorwegische Königsgeschichte als solche, andererseits spielt sie im gleichen Zeitraum von der Mitte des 10. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, der im Zusammenhang der Isländersagas den Namen der »Sagazeit« erhalten hat.285 Sie funktioniert darüber hinaus trotz einiger motivlicher und stofflicher Unterschiede nach den gleichen erzählerischen Gestaltungsprinzipien, wie die vorliegende Studie erweisen möchte. Auch die Eckpfeiler des Dargestellten unterscheiden sich kaum: Die dargestellte Gesellschaftsstruktur und ihre Institutionen sind weitegehend deckungsgleich mit denen, die aus den Isländersagas bekannt sind,286 ihre Normen und Wertvorstellungen sind dieselben wie die der isländischen Gesellschaft, die in den Sagas dargestellt wird,287 ihre Problematiken
281 Siehe zu dieser Diskussion näher auch Kap. 2.3. 282 Diese Einordnung der Königssagas als ›Historiographie‹ soll freilich nicht deren Wesen als literarische Texte leugnen, der sich van Nahl 2022 jüngst als einer Leistung widmet und damit zu Recht auf die verkürzte Ansicht dieser Texte in der bisherigen Forschungsdiskussion aufmerksam machen kann. 283 So die Argumentation bei Jesch 1993. Diese Überlegungen setzen dabei natürlich die Korrektheit der drei jeweiligen Datierungen der Sagas voraus. 284 Was jedoch Berman auch nicht als Anspruch formuliert. Sie wolle lediglich eine Kategorie vorlegen, die dem heutigen Forschungsdiskurs nützlich sein könne (vgl. Berman 1985, S. 113). 285 Für diesen Begriff siehe Schier/Böldl 2009, S. 150. 286 Vgl. auch Niedner 1929, S. 20. 287 Für die Wertvorstellungen der Sagagesellschaft vgl. maßgeblich Meulengracht Sørensen 1993. Vgl. auch Vésteinn Ólason 2011, S. 28–34. Das Wort »Sagagesellschaft« beschreibt im Rahmen der vorliegenden Studie stets allein das literarische Abbild, das in den Erzählungen von der isländischen
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und Themen sind weitgehend die gleichen, ihre grundsätzliche Darstellungsweise unterscheidet sich nicht signifikant. Bemerkenswert ist, dass mehrfach Konventionen, wie sie aus den Isländersagas bekannt sind, darstellerischer, erzählerischer und sogar inhaltlicher Natur in der Færeyinga saga gebrochen und invertiert werden. Diese ließe sich somit im Sinne einer Arbeitshypothese als ›zügellose‹ Isländersaga bestimmen, die einige der in den Isländersagas prominent vertretenen Themen pointiert auf die Spitze treibt, dabei nicht oder nur wenig an die Restriktionen der Darstellung gebunden, die die Identität der Isländer in ihren Sagas formen. Wie gerechtfertigt diese Gattungszuweisung erscheint, ist nachhaltig allerdings ebenso wie die Frage der Sagadatierung nur in einem zweiten Schritt zu erweisen, wenn eine Analyse des Textes für sich in einer Form ausfällt, die eine narrative Verwandtschaft mit den Isländersagas als berühmteste Gattung des mittelalterlichen Island nahelegt.
1.3 »This tale grew in the telling …« Zu Zielsetzung und Ausrichtung dieser Arbeit This tale grew in the telling, until it became a history of the Great War of the Ring and included many glimpses of the yet more ancient history that preceded it. It was begun soon after The Hobbit was written and before its publication in 1937; but I did not go on with this sequel, for I wished first to complete and set in order the mythology and legends of the Elder Days, which had then been taking shape for some years. I desired to do this for my own satisfaction, and I had little hope that other people would be interested in this work […].288
Mit diesen Worten beginnt John Ronald Reuel Tolkien die zweite Auflage seines monumentalen Fantasyromans Der Herr der Ringe. Er fängt damit einen Schreibprozess in Worten ein, der auch die Arbeit an der vorliegenden Studie recht treffsicher beschreibt: Das vorliegende Buch hätte ursprünglich ein anderes werden sollen. Gewachsen ist es während seiner Anfertigung auf im Voraus ungeahnte Weise und an ungeahnten Stellen. Schlussendlich wurde es eine Geschichte des »Great War« der Färöer, der auch in der Færeyinga saga einen Ring einschließt, und konnte notgedrungen nicht länger mehr als »glimpses« ursprünglich weiterer, umfassenderer und insofern »more ancient« Zielsetzungen beinhalten. Getrieben wurde und wird es stets von der Bemühung »to complete and set in order the […] legends of the Elder Days« auf der terra incognita der Färöer. Wenigstens sollte es die Leerstellen vorgängiger Forschungen aufzufüllen und damit einen Teil des Wissens um jene terra vermehren. Dabei steht zu hoffen, dass der nachfolgende Bericht des »Great War of the Faroes« nicht nur zur Satisfaktion seines Verfassers »grew in the telling«
Gesellschaft zur ›Freistaatszeit‹ gezeichnet wird, und verfolgt keinerlei Aussageabsicht hinsichtlich der real-historischen Gesellschaftsform außerhalb der literarischen Texte. 288 Tolkien 1995, S. xv.
1.3 »This tale grew in the telling …« Zu Zielsetzung und Ausrichtung dieser Arbeit
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und dass auch »other people would be interested in this work«, denen er als Grundlage weiterer Auseinandersetzung mit seinem Ausgangstext dienen soll. Der oben ausgeführte Forschungsbericht legt Rechenschaft über die diversen Arbeitsfelder ab, die eine umfassende Beschäftigung mit der Færeyinga saga eröffnet. Die zugrundeliegende Intention hinter der vorliegenden Studie war es ursprünglich, die bisher aufgebrachten Forschungsperspektiven unter einem Dach zu versammeln und begründet Stellung zu beziehen. Der Erarbeitung eines textimmanenten Verständnisses der Færeyinga saga als erstem Schritt sollte eine möglichst umfassende Kontextualisierung folgen, die prüfen sollte, inwiefern seine Datierung als Einzeltext in das 13. Jahrhundert und den gattungs- und literaturgeschichtlichen Horizont der Isländersagas – im Übergang von den Königssagas – nachhaltig gerechtfertigt schiene. Der Saga sollte im Zuge dessen auch ein detailliert überprüftes Material an Intertexten beigestellt werden, um auf Jürg Glausers impliziten Aufruf zu antworten und die literaturgeschichtliche Stellung des Textes mehr als nur »punktuell« zu beschreiben.289 Darüber hinaus sollte der handschriftliche Kontext der Saga intensiv miteinbezogen werden, um die Modalitäten der Interpolation der Saga in die Erzählkontexte der beiden Óláfs sögur und im konkreten Fall der Flateyjarbók aufzuarbeiten. Indes wurde deutlich, dass ein so umfangreiches Projekt zwar in einem theoretisch-methodologischen Rahmen eine angemessene Zielsetzung darstellen konnte, nicht aber im praktischen Rahmen einer Dissertationsmonographie zu erstellen war. Die nunmehr vorliegende Studie will insofern nur den Grundstein weitergehender Beschäftigung mit der Færeyinga saga in den oben ausgeführten Zusammenhängen bereitstellen und beansprucht nicht für sich, gleichermaßen die Debatte über ihre Kontextualisierung im 13. Jahrhundert des isländischen Mittelalters oder ihre Funktionalisierung innerhalb der handschriftlichen Tradition miteinbeziehen zu können. Beide Themenbereiche verdienen jedoch weitergehende Studien. Schließlich sollte es das Zeil sein, zu einem umfänglichen Verständnis dieses Textes und seines ›Sitzes im Leben‹, sowohl im Kontext seiner Überlieferung als auch dem seiner Zeit, zu gelangen. Vorerst erwies es sich jedoch als notwendig, nur einen Teilaspekt des möglichen Großprojektes umfassend abzuarbeiten. Dabei handelt es sich um eine Aufbereitung der internen Funktionsweisen der infrage stehenden Erzählung als eines (Erzähl-)Textes anhand einer möglichst dichten Lektüre, also eine textimmanente Analyse auf Basis moderner narratologischer Konzepte und Ideen, die Einsichten in das literarische Wesen der Færeyinga saga ermöglichen soll. Diese Zielsetzung ergab sich aufgrund der überaus zwiespältigen Befunde bei der Durchsicht vorliegender Forschungsergebnisse. Eine historische Arbeit schied von Anfang an als Möglichkeit aus, weil sich die Færeyinga saga, wie seit Langem erkannt, nicht ohne massive Probleme als Quelle verwenden lässt. Nicht einmal das Zusammenspiel mit den insgesamt zudem recht dünnen Ergebnissen der färöischen
289 Siehe Glauser 1994, S. 116.
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Archäologie kann von der Saga unabhängige Erkenntnisse über die soziale Situation des Zusammenlebens auf den Färöern in der Wikingerzeit abwerfen. Jedoch zeigte sich auch, dass die jüngere Forschung zwar zu Recht die Problematik vorgängiger Quellenkritik angemahnt hat, in ihrer eigenen Herangehensweise den Text aber ebenso von teils massiv diskutierbaren Vorannahmen aus analysiert hat. Dies liegt insbesondere am Glauben an die Existenz einer *Færeyinga saga unabhängig von ihrem Überlieferungskontext, der fast nie umfänglich in die Textbetrachtung miteinbezogen wurde. Insbesondere in jenen Forschungen, die sich zum Ziel gesetzt haben, mittelalterlich-isländische Diskurse aus dem Text abzuleiten, wird als Vorannahme die Datierung der Saga auf den Beginn des 13. Jahrhunderts angesetzt. Anschließend wird auf ein synchronisiertes Konzept dieses Jahrhunderts zurückgegriffen, das einer historischen Überprüfung jüngeren Forschungsergebnissen zufolge jedoch nur äußerst fragwürdig standhält.290 Von dieser Ausgangslage werden Diskursperspektiven abgeleitet, die nachträglich die angenommene Datierung (und Textexistenz) bestätigen. Dabei ist der überwiegende Großteil bisheriger Studien sehr kurzen Umfangs, sodass die angesetzten Diskurse kaum bis in die Tiefe des Textes verfolgt werden (können). Auch bleiben die bisherigen Analysen fast ausnahmslos mentalitätsgeschichtlich rückgebunden. Von Interesse ist nicht mehr die Geschichte der Färöer, sondern die mittelalterliche Weltsicht, die ihre Darstellung zum Ausdruck bringe. Die so ausgerichteten Studien streben danach, den Text in seiner historischen Bedingtheit zu verstehen, ihm einen bestimmten Aussagewert innerhalb eines Zeitkontextes zuzuweisen, letztlich seinen Sinn und Zweck bezogen auf seine vorgestellte Entstehungszeit dingfest zu machen. Dabei werden, wie oben dargestellt, allerdings zur gleichen Zeit sich vollständig widersprechende Ideologien und damit einhergehend historische Zweckmäßigkeiten in der Saga ausgemacht, ein Ergebnis, das letztendlich mehr Fragen offenlässt, als es beantworten kann. Dieses bisher recht einseitig historisch gewichtete, dafür aber umso zwiespältigere Bild stimmt mit einer recht treffenden Formulierung im wissenschaftlichen Œuvre Tolkiens, in seinem Aufsatz »On Fairy-Stories«, überein: Es entsteht der Eindruck »of people using the stories not as they were meant to be used, but as a quarry from which to dig evidence, or information, about matters in which they are interested.«291 Diese Art Textbetrachtung beschreibt Tolkien bereits in einem früheren Aufsatz mit dem Gleichnis von einem aus älteren Steinen erbauten Turm.292 Obwohl für interessant gehalten, beurteilen die Freunde seines Erbauers ihn als zu ungelenk und werfen ihn deshalb um, um seine Bestandteile und Fundamente zu
290 Zur historischen Kontextualisierung des ›Unabhängigkeitsverlustes‹ von Island in der Mitte des 13. Jahrhunderts vgl. etwa Boulhosa 2005; zur Diskrepanz mit dem archäologischen Material schon Byock 1986. Zum Zweifel an der Tragfähigkeit der vermeintlich herausragend bedeutsamen Christianisierung vgl. bereits Meulengracht Sørensen 1993, S. 87–89. 291 Tolkien 1983b, S. 119. 292 Vgl. Tolkien 1983a, S. 7–8.
1.3 »This tale grew in the telling …« Zu Zielsetzung und Ausrichtung dieser Arbeit
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untersuchen. Von seiner Spitze aus aber habe man, unbemerkt von den mit dem Re-Arrangement Beschäftigten, das Meer sehen können. Zwar geht es in Tolkiens Gleichnis um die Suche nach Quellen im engeren Sinne, doch lässt sich das Problem analog auch auf die Situation um die Færeyinga saga übertragen: Wonach die Forscher suchen, sind zwar nicht länger die Bausteine, aus denen sich der Inhalt zusammensetzt, wohl aber die Einzelbestandteile dessen, was diese Bausteine zusammenhält, gewissermaßen der Kitt, der den Turm aufrechterhält. Dabei ist keine Einigkeit darüber zu erzielen, woraus der Kitt besteht, aus Zement oder Lehm. Nach wie vor scheint es jedoch wichtiger, diese Frage zu klären, als den Turm selbst zu betrachten und die Aussicht von seiner Spitze zu genießen. Es geht unter geänderten Vorzeichen in der jüngeren Forschung weiterhin vor allem darum, Hintergründe zu erhellen und damit den Turm in seinen Bestandteilen zu überprüfen, während zugleich betont wird, wie lohnenswert eine Beschäftigung mit ihm sei und wie schön und fest man ihn erbaut habe. Die Tatsache, dass es sich bei der Færeyinga saga aber um eine altisländische Erzählung handelt, ein literarisches Produkt des isländischen Hochmittelalters, gerät trotz gegenteiliger Beteuerung schnell aus dem Fokus, ebenso wie der erbaute Turm in Tolkiens Gleichnis. Um die hier genannten Defizite und Inkongruenzen der Textbetrachtung zu beheben und darüber auch die Widersprüchlichkeit ihrer bisherigen Ergebnisse aufzuklären, muss jedoch der gesamte Turm als Untersuchungsgegenstand ernstgenommen werden, als Einheit, die größer als die Summe ihrer Einzelteile ist und erst in ihrem Zusammenspiel entsteht: »It is precisely the colouring, the atmosphere, the unclassifiable individual details of a story, and above all the general purport that informs with life the undissected bones of the plot, that really count.«293 Dementsprechend fußt die Zielsetzung der vorliegenden Studie auf der Überzeugung, die Klärung der inneren Verhältnisse, Funktionsweisen und Zusammenhänge literarischer Texte sei als Grundarbeitsschritt jeder weiteren Interpretation und wissenschaftlichen Verwendung vorauszuschalten. Eine solche Arbeitsweise umgeht die methodischen Fehler etwa positivistischer Quellenkritik, einzelne textliche Aspekte losgelöst von ihrem erzählfunktionalen Kontext bestimmen zu wollen. Zugleich will sie der Versuchung vorbeugen, ungewohnte, womöglich rätselhafte Aspekte des Textes durch den Rückgriff auf einen letztlich nur hypothetischen, weil zeitlich nicht eindeutig fassbaren, ideologischen Kontext erklären zu wollen. Die mittelalterliche Textüberlieferungspraxis erschwert eindeutige Datierungen bis hin zur Unmöglichkeit, sobald diese sich von den vorhandenen Handschriften lösen. Alternativ wird nicht selten das Konzept einer generellen mittelalterlichen (in jüngerer Zeit auch narrativ gewendeten) Alterität bemüht.294 Beide analytischen Wege sind je nach Forschungskontext und Erkenntnisinteresse legitim und nachvollzieh-
293 Tolkien 1983b, S. 119–120. 294 Als Beispiel zur in der Forschung häufig betonten, mittelalterlichen Erzählalterität vgl. Schulz 2015, S. 1–3.
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1 Einleitung
bar, führen allerdings nur in seltenen Fällen zu einem umfänglichen Verständnis des literarischen Ausgangstextes, mit dem sie in Dialog treten. Es sollte jedoch zunächst jede Anstrengung unternommen werden, um zu vermeiden, das Textverständnis womöglich vorschnell zu verknappen. Wenn Würth so betont, dass »jede Saga individuell auf ihre Aussagefähigkeit hin untersucht werden« müsse,295 versucht ein primär literaturanalytischer Blick, dem Rechnung zu tragen. Aus dieser Perspektive wäre es ein Fehler, das Wesen einer Quelle unter Zuhilfenahme von Größen klären zu wollen, die außerhalb ihrer selbst liegen. Es gilt hingegen, einen gewählten Ausgangstext möglichst umfassend zu verstehen, ehe seine Funktionsweisen in einem historisch-diskursiven Hintergrund verortet und kontextualisiert werden; dem ›Werk‹-Verständnis ist ein umfassendes Text-Verständnis vorzuschalten. Erst von einer solchen Grundlage aus kann einwandfrei ein historisches Erkenntnisinteresse verfolgt werden. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Macht diskursive Ordnungen über Erzähltexte ausüben können, und inwiefern Erzählungen überhaupt ohne solche Ordnungen bestehen könnten. Die Antwort muss anerkennen, dass kein Turm ohne gestaltverleihenden Mörtel errichtet werden kann.296 Im Falle einer so ungeklärten Bindemasse wie hinsichtlich der Debatte über die Rahmenideologie der Færeyinga saga stellt sich jedoch die Frage, ob der Einfluss der Diskurse auf die Sagadarstellung nicht überbetont worden ist, bzw. ob die passenden Elemente in den Analysebemühungen scharfgestellt wurden. Die Uneinigkeit der Forscher hinsichtlich der Ideologie im Hintergrund der Saga zeigt hingegen, dass die Doppeldeutigkeit ein Effekt des literarischen Wesens der Færeyinga saga ist, wie die vorliegende Studie zeigen will. Zweifelsohne ist die Saga ein auch von Ideologien durchdrungenes Produkt des Mittelalters. Jedoch ist sie eben keine »bloße ideologische Propagandaschrift«,297 sondern ein lebendig präsentiertes Stück Literatur, dessen erzählerische Klasse quer durch die bisherige Forschung immer wieder betont worden ist. Insofern ist es folgerichtig, diesen Aspekt des Sagatextes ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Dazu scheint es geboten, ihn einer Analyse mit Hilfe des methodischen Instrumentariums der (jüngeren) Erzähltheorie zu unterziehen. Ohne den Bereich des Textimmanenten, also des sprachlich Formulierten oder logisch ableitbar Implizierten, zu verlassen und sich einem extrinsischen Kontext zu widmen, kann eine solche Analyse diejenigen Momente des Textes für die weitergehende Analyse scharf stellen, die in den vorangegangenen Forschungsbeiträgen widersprüchlich erscheinen oder für eine überzeugende Interpretation sperrig bleiben. Die Auflösung aufgeworfener Probleme und Widersprüchlichkeiten des Textes kann durch Bezugnahme auf kultursemiotisch basierte Erzähltheorien bereits im Text selbst erbracht werden. Diese konzentrieren
295 Würth 1999, S. 205. Der Ruf nach vermehrten Einzeltextstudien wird darüber hinaus auf Konferenzen und bei Vorträgen wiederholt geäußert. 296 Vgl. zu letzterem Gedanken auch Tolkien 1983b, S. 125–129. 297 Glauser 1994, S. 116.
1.3 »This tale grew in the telling …« Zu Zielsetzung und Ausrichtung dieser Arbeit
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sich in ihrer Herangehensweise maßgeblich auf die Momente von Unschärfe und Mehrdeutigkeit und setzen der Statik vorangegangener narratologischer Konzepte ein Hauptaugenmerk auf textliche Dynamiken und die Prozesshaftigkeit von Textstruktur und Kontextkonstitution entgegen. Emphatisch wird immer wieder hervorgehoben, dass es sich bei der Færeyinga saga um eine Erzählung über Machtverhältnisse und Politik handle. Dieser Beobachtung wurde bisher jedoch kaum bis auf ihren Grund gefolgt. Die Frage, welchen Effekt die zentrale Thematik von Macht auf die Erzählung als Erzählung nach sich zieht, wurde bisher kaum gestellt. Die Færeyinga saga, wie sie die Flateyjarbók überliefert, bietet in ihrem Kern eine Erzählung über Macht und stellt dabei die Frage, wie wirkmächtig für das Mittelalter bedeutsame Diskurse – der christliche Glaube, die Legitimität von Herrschern, die Unabhängigkeit individueller Machthaber und sogar ganzer Herrschaftsgebiete – tatsächlich sind, sein können oder sein sollten. Sie zeigt, wie sich Herrscherpersönlichkeiten gestalten und auszeichnen können, wie Macht gewonnen, verteidigt, verloren, verliehen oder abgegeben wird. In einer weitergefassten Perspektive wird sogar das Erzählen von Macht selbst zum Thema, indem die genannten Gesichtspunkte innerhalb der Erzählung in einer sehr offenen und damit diskursiv in der Schwebe gehaltenen Art und Weise prozessiert werden, indem ein dichtes Erzählgeflecht entworfen wird, dessen Zentrum stets Macht an sich darstellt. Die Færeyinga saga ist, und das gibt sie als Text deutlich zu erkennen, eine Erzählung, deren primäres Anliegen es ist, von und über Macht zu erzählen und dabei gleichermaßen die Frage aufzuwerfen, welche Macht dem Erzählen innewohnt und wie sich Macht auf es auswirkt, wie Macht erzählt wird und überhaupt erzählt werden kann.298 Dieser in mehrfacher Hinsicht machtvollen Erzählung von
298 »Macht« wird im Rahmen der vorliegenden Studie in Anlehnung an Max Weber 1980, S. 28– 29, als diffuses Phänomen sozialer Organisation verstanden, das sich als überaus amorph erweist: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. An dieses Verständnis anschließend fragt Michael Mann 1986–2012, I, S. 1: »[A]re not a history and theory of power relations likely to be virtually synonymous with a history and theory of human society itself?« Nach Mann definiert sich Gesellschaft als »multiple overlapping and intersecting sociospatial networks of power« (Mann 1986–2012, I, S. 1). »Macht« stellt demzufolge »powerful means to other goals« (Mann 1986– 2012, I, S. 6) dar. Sie entsteht im Versuch der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse im notwendig gegebenen, sozialen Rahmen menschlicher Existenz. Dadurch bilden sich Netzwerke von Machtverhältnissen auf allen Ebenen menschlicher Interaktion aus, die wiederum in ein Verhältnis zueinander eintreten. »Macht« ist insofern als hochkomplexes, dynamisches Zusammenspiel vieler Faktoren anzusehen, das sich in einem konstanten Flux befindet, situativ gebunden ist und nur über seine Vielseitigkeit selbst festgelegt werden kann (für Manns Grundlegung seiner Machtheorie vgl. Mann 1986–2012, I, S. 1–33). Dieses Wesen der Macht bestimmt den Erzählgegenstand der Færeyinga saga, und damit auch ihren narrativen Aufbau und ihre Präsentationsweise, wie die vorliegende Studie aufzeigen will. »Herrschaft« bedeutet hingegen die Überführung dieser »Macht« in konkrete politische Konstellationen der Dominanz einer Partei über andere, während »Autorität« als der Anspruch auf die
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und über Macht als Erzählung nachzuspüren ist das Anliegen der vorliegenden Studie. Eine solche Herangehensweise an die Færeyinga saga kann natürlich nicht das Defizit einer bestenfalls begonnenen Untersuchung der Modalitäten ihrer Überlieferung ausgleichen. Selbst im Falle einer Untersuchung der Saga in ihren Handschriftenvarianten wäre zunächst jedoch der Kontext aus der Beschäftigung mit dem Text selbst auszuscheiden. Geschähe das nicht, würde der Turm im Bilde Tolkiens erneut nicht für sich, sondern nur als ein Element in einer Landschaft beschrieben. Auch diese Perspektive ist legitim, der Landschaft jedoch das Primat vor dem, woraus sie besteht, einzuräumen, hieße ebenfalls die Bedeutung des Turmbaus zu schmälern. Immerhin wurde dieser ja in die Landschaft gebaut und ist eigenständiges Bauelement aus einem Grundstoff, der planvoll zusammengefügt wurde. Diese Tatsache zu leugnen wäre ebenso verfehlt, wie den Turm zu zerstören, um seine Bauteile zu untersuchen. Den Text also einzig als Nebenstrang einer anderen Handlung zu begreifen, würde seinen Gehalt und seine mögliche Bedeutung für die umgebenden Erzählstoffe womöglich ebenso verknappen wie seine alleinige Betrachtung als Einzeltext des 13. Jahrhunderts. Beide Extrempositionen sind gleichermaßen zu vermeiden. Was (mit einigem Recht) als Færeyinga saga bezeichnet wird, bietet in der Flateyjarbók eine aufeinander Bezug nehmende Erzählung von Ereignissen auf den Färöern und kann als solcher Erzählstrang untersucht werden. Wie genau er präsentiert wird, welche kleinteiligeren Themenkomplexe dabei in Vorder- und Hintergrund gespielt werden und welche Aussagen die Erzählung damit erzielt, ist die primäre Frage, der in jedem Fall nachgegangen werden muss, ehe die Antwort in einem größeren Kontext, auch dem handschriftlichen, aufbereitet werden und dem Text ein weiterer Sinn abgewonnen werden kann. Im Kontext der Überlieferung muss betont werden, dass die Flateyjarbók offensichtlich planvoll,299 weil von anderen Redaktionen der enthaltenen Sagas abweichend, auf eine bestimmte Weise Texte versammelt – und zwar einschließlich solcher, die anderswo auch als alleinstehende Texte überliefert sind, wie die Laxdœla saga. Deshalb ist es zulässig, auch im Falle der Færeyinga saga von der Möglichkeit einer gewissen Eigenwertigkeit des Textes auszugehen, auch ohne damit behaupten zu müssen, ursprünglich sei der Text völlig unabhängig gewesen. Die Hauptbestandteile der Færeyinga saga werden aber immerhin zu drei Vierteln als (im Rahmen der Gesamterzählung) eigenständige þættir ausgesondert und als solche gekennzeichnet.300 Dies lässt den Schluss zu, dass der gebotene und zusammengehörige Handlungstrang von den Färöern als erzählerische Einheit konzipiert ist, der auch für sich Aussage und Sinn besitzt. Diese müssen ergründet werden und können
Einnahme der entsprechenden Position begriffen wird. Politischen »Erfolg« definiert die Einnahme der »Herrschaft« und damit die Ausübung von »Macht«. 299 Zu den Konstruktionsprinzipien der Flateyjarbók als planvolle Handschrift siehe Würth 1991; Ashman Rowe 2005; Krakow 2009; Kaplan 2011. 300 Vgl. Würth 1991.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen
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erst im Nachgang in ihrer Funktion für Konstruktionsprinzip und Aussageabsicht der gesamten Flateyjarbók beurteilt werden. Diese im Rahmen der Flateyjarbók überlieferte Textversion ist also gemeint, wenn die vorliegende Studie von der Færeyinga saga spricht.301 Die übrigen Textredaktionen werden jedoch an gebotenen Stellen vergleichend miteinbezogen. Zu betonen ist, dass die Rede von dieser Saga insofern noch keine Entscheidung über ihr faktisches Alter oder ihre ursprüngliche Unabhängigkeit, und der Vergleich mit den Isländersagas noch keine endgültige Gattungszuordnung darstellen wollen. Ein abschließendes Urteil über diese Angelegenheiten wäre erst auf Basis weiterer, in Nachfolge dieser Studie anzufertigender Analysen zu treffen. Vorerst gilt es jedoch, die narrative terra incognita der Færeyinga saga gründlich aufzuschlüsseln, um diese auf der internationalen Landkarte der Sagaforschung prominenter zu kartographieren und damit jene nachfolgenden Überlegungen grundlegen zu können.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen: Narratologie und Færeyinga saga 2022 1.4.1 Zu Zielsetzung und jüngerer Entwicklung der Narratologie Die Vorteile einer narratologischen Methodik im Verfahren der Textauslegung werden von Gérard Genette in seiner berühmten Schrift Die Erzählung (Discours du récit) verteidigt, indem er die Narratologie und ihr Handwerkszeug beschreibt als »kein Instrument des Dingfestmachens, der Beschneidung oder Gleichmacherei, sondern [als] eine Entdeckungshilfe und ein Werkzeug der Beschreibung.«302 Die Narratologie ist insofern in der Lage, »Interpretationen einzelner Erzählungen anzuregen, abzusichern oder in Frage zu stellen«,303 indem sie dabei helfen kann, »Wirkungen und Wirkungspotenziale von Texten bzw. Textstrukturen zu erläutern.«304 Die narratologische Beschreibung eines Textes dient nicht in erster Linie dem Ziel der Interpretation, sondern beansprucht für sich zunächst eine rein »deskriptive Erfassung des Gegenstands« (also des Erzähltextes in seinem Aufbau und seiner internen Funktionsweise).305 Sie ist allerdings nicht Selbstzweck, da ihre übergeordnete Funktion »die eines heuristischen Beitrags zum Umgang mit dem Gegenstand« liefern soll.306 Sie ist insofern Basisinstrument der Textbeschreibung und lässt sich
301 Entsprechend verweisen Zitate unter der Sigle Fær stets auf diese Redaktion in der kritischen Ausgabe von 1987, den dort als F gekennzeichneten Text, insofern für einen Abschnitt mehrere Versionen vorliegen. Von dieser Praxis abweichende Textbezüge werden eigens gekennzeichnet. 302 Genette 2010, S. 172. 303 Köppe/Kindt 2014, S. 29. 304 Köppe/Kindt 2014, S. 29. 305 Köppe/Kindt 2014, S. 28. 306 Köppe/Kindt 2014, S. 28.
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mit ganz unterschiedlichen interpretativen Verfahren kombinieren.307 Ein explizit narratologisch ausgerichteter Zugang als Vorstufe einer weiteren Textauslegung beansprucht indes für sich, zunächst der Erzählung in ihrer Eigenschaft als literarischer Text Rechnung zu tragen. Dabei hat sich die Narratologie in jüngerer Zeit wesentlich von ihrer strukturalistischen Geburtssituation zu lösen versucht.308 Nach Vorläufern in der Romanforschung des späten 19. Jahrhunderts und den Kategorisierungsunternehmen der Volkssagen- und Märchenforschung309 konstituierte sich, maßgeblich angeregt durch den (russischen) Formalismus der Jahre zwischen 1900 und etwa 1930,310 zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Erzählforschung in ihrer ›klassischen‹ Prägung. In Deutschland blieb dabei lange Zeit der Ansatz Franz Karl Stanzels prägend, der die Narratologie hier als Forschungsrichtung etablierte.311 Insbesondere im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre florierte die Narratologie in der Zeit des sprachwissenschaftlich basierten Strukturalismus um Forscher wie den frühen Roland Barthes, Tzvetan Todorov, Claude Bremond oder Algirdas Julien Greimas und ihre umfassenden Strukturmodelle und Systematikbemühungen.312 Durchschlagender Erfolg und die Etablierung eines mehr oder minder allgemeingültigen Metavokabulars der Textbeschreibung gelang Gérard Genette,313 dessen Grundsatzkategorien mittlerweile zwar als nachbesserungsbedürftig, noch immer aber als äußerst prägend angesehen werden können.314 Nach ihrem Höhepunkt in den 1970ern und frühen 1980er Jahren musste die Narratologie als Wissenschaft im Zuge des Einzugs von Dekonstruktion und Poststrukturalismus zunächst eine erhebliche Einbuße ihrer Popularität hinnehmen,315 weil ihre formale Prägung als überholt galt. Seit den 1990ern lässt sich ihr jedoch eine »Renaissance« bescheinigen.316 Mit dieser Renaissance einher geht eine Pluralisierung des narratologischen Ansatzes und seiner
307 Vgl. auch Köppe/Kindt 2014, S. 33–37. 308 Ein umfassender Überblick über die Geschichte der Narratologie kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Als Zusammenstellung älterer Ansätze vgl. Vogt 1997, einen Überblick über die jüngeren Tendenzen geben etwa Nünning/Nünning 2002. 309 Vgl. Köppe/Kindt 2014, S. 17. 310 Maßgeblich zu nennen ist hier nach wie vor Vladimir Propp mit seiner Morphologie des Märchens (ursprünglich 1928, auf Deutsch erst 1972). 311 Vgl. Nünning/Nünning 2002, S. 4. Stanzels prägende Arbeit zur Erzählsituation erschien 1955, seine Theorie des Erzählens erstmals 1979. Im Zusammenspiel mit Stanzels noch vor-strukturalistischer Arbeit sind etwa auch Käte Hamburger oder Norman Friedman zu nennen, vgl. Nünning/ Nünning 2002, S. 5. 312 Vgl. Köppe/Kindt 2014, S. 19. 313 Siehe Genette 2010, im Original 1972 vorgelegt. Die entsprechende Terminologie wird im Folgenden als bekannt vorausgesetzt. 314 Vgl. Nünning/Nünning 2002, S. 5–6. 315 Vgl. auch Nünning 2000, S. 347–348. 316 Nünning/Nünning 2002, S. 1.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen
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Ausrichtung sowie der Kombinierbarkeit (oder jedenfalls Kombination317) mit anderen Methoden und Theorien. Hinzu kommt ein verstärktes interdisziplinäres Interesse an der Narratologie seit der Proklamierung des ›narrative turn‹ in den Kulturund Sozialwissenschaften. Vera und Ansgar Nünning möchten insofern eher von mehreren unterschiedlichen Narratologien statt einer einzigen sprechen.318 All diese neueren Ansätze lassen sich tentativ unter dem Lemma ›postklassischer‹ Narratologie verschlagworten.319 Sie zeichnen sich häufig dadurch aus, nicht mehr monomethodisch vorzugehen, sondern in pluralistischem und oft interdisziplinärem Ansatz verschiedene theoretische Grundannahmen und Methoden im Zuge ihres Erkenntnisinteresses zu integrieren und relativ frei zu kombinieren.320 Den meisten dieser ›postklassischen‹ narratologischen Vorgehensweisen ist in mehrfacher Hinsicht ein Hauptaugenmerk auf »offene und dynamische Prozesse« gemeinsam.321 Sie stellen vermehrt die »Wechselwirkungen zwischen textuellen Signalen und interpretatorischen Entscheidungen von RezipientInnen« in den Vordergrund.322 Dadurch ist ihnen auch eine gesteigerte »evaluative Vorgehensweise« eingeschrieben,323 die entsprechend ideologiekritisch ausfallen kann (nicht aber muss). Insgesamt gilt »[d]as Interesse der meisten neuen Ansätze […] nicht allein den strukturellen Merkmalen von Texten, sondern der dialogischen Beziehung zwi-
317 Vgl. Nünning 2000, S. 349, der einigen der von ihm selbst aufgestellten Liste von Ansatzkombinationen attestiert, »certainly […] strange bedfellows« zu sein. 318 Vgl. Nünning/Nünning 2002, S. 2. Noch genauer ausdifferenziert, so Nünning und Nünning, wäre auf den Begriff ›Narratologie‹ bei der Beschreibung einiger der neueren Ansätze gänzlich zu verzichten, da im Einzelnen deren von der ›klassischen‹ Narratologie bezogene Wurzeln kaum mehr erkennbar seien. Sie leiteten sich eher von allgemeineren Strategien der Erzähltextanalyse ab und griffen dafür in unterschiedlichem Maße auf Kategorien, Prämissen und Vorgehensweisen der Narratologie zurück, vgl. hierzu S. 17–19. Auf eine genauere begriffliche Auseinanderdifferenzierung von »Narratologie« und »Erzähltextanalyse« wird in diesem Rahmen allerdings verzichtet, da der hier vertretene Ansatz sich bemüht, Kategorien und Arbeitsweisen der ›klassischen‹ Narratologie mit dem auf Dynamik ausgerichteten Problembewusstsein ›postklassischer‹ Ansätze zu verbinden. Ziel ist eine detaillierte Erzähltextanalyse, die Konzepte der Narratologie aufgreift und adaptiert, in ihrem Erkenntnisinteresse allerdings ›postklassisch‹ geprägt ist, indem sie sich von der Konzentration auf textliche Statik und monolithische Binarismen zu emanzipieren versucht. 319 Vgl. Nünning/Nünning 2002, S. 18, ausgehend von Herman 1999. 320 Vgl. Nünning/Nünning 2002, S. 17. Insofern verdankt sich viel der terminologischen Unschärfe, die Nünning und Nünning in der ›postklassischen‹ Narratologie trotz ihres Kategorisierungsversuchs feststellen (zu den verschiedenen ›postklassischen‹ Narratologien und ihrer Einteilung siehe S. 10–13), zu einem Gutteil dem thereotisch-methodischen Pluralismus, der neuere Zugangsweisen prägt. Zum inhärenten Risiko solcher Ansätze, nicht nur eine taxonomische Einordung zu sprengen, sondern auch das eigentliche Ziel der Narratologie, nämlich eine möglichst objektive Textbeschreibung, zu verfehlen und somit zu verfälschen sowie einem Kurzüberblick entsprechender Forschungsdiskussionen vgl. Nünning 2000, S. 353–355. 321 Nünning/Nünning 2002, S. 24. 322 Nünning/Nünning 2002, S. 24. 323 Nünning/Nünning 2002, S. 25.
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schen Texten und ihren kulturellen Kontexten.«324 Dieser Paradigmenwechsel wirkt auf die Benutzung der strikten, strukturalistischen Modelle der ›klassischen‹ Narratologie zurück. So können etwa die »strukturalen Analysen von Handlungsverläufen bzw. Plots im klassischen Strukturalismus«325 von »semantischen Beschreibungen narrativer Modalitäten«326 ersetzt werden. Im Zuge von Figurenanalysen tritt deren strukturalistische Auffassung als bloße handlungsvortrantreibende Aktanten327 zugunsten einer dynamischeren Figurenauffassung im Zusammenspiel der Leser-Text-Interaktion zurück.328 Solche kontext- und themenbezogenen Ansätze329 sind häufig ideologiekritisch ausgerichtet, beispielweise in der feministischen Narratologie. Angesichts der eingangs ausgeführten Kritik vorschneller Konzentration auf vermeintliche Hintergrundideologien mag eine methodische Annäherung an die Færeyinga saga aus dieser Richtung zunächst geradezu paradox scheinen. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Narratologien, die sich im Zusammenspiel des ›narrative turn‹ der Kulturwissenschaften und des ›cultural turn‹ der Literaturwissenschaften entwickeln,330 meist keine Einzeltextanalysen betreiben, sondern ganze Korpora abzudecken suchen. Dies kann im Rahmen der vorliegenden Studie bestenfalls schlaglichtartig miteinbezogen werden. Darüber hinaus geht es den genannten neueren Ansätzen in der Narratologie gerade nicht darum, vordringlich ideologieanalytisch zu arbeiten, sondern sie interessieren sich für das Zusammenspiel zwischen textueller Struktur und kultur-kontextuellem Rahmen. Es handelt sich um Modelle, die danach streben, »jointly formal and functional« aufzutreten,331 als »a kind of integrated approach«332 und »models attentive both to the text and the context of stories.«333 Synthetisierender und integrativer Textzugang der neueren Ansätze macht ihre ›klassische‹ Ausgangsbasis zunehmend komplexer,334 bleibt aber dennoch Spielart der Erzähltextanalyse, denn: though it leaves the narrow confines of structuralist taxonomy, it is informed by a critical practice that only the toolbox of classical narratology and the training in the precise semiotic analysis of narrative can provide.335
324 Nünning/Nünning 2002, S. 25. 325 Nünning/Nünning 2002, S. 26–27. 326 Nünning/Nünning 2002, S. 27. 327 Ein Konzept, das maßgeblich durch den algerisch-französischen Strukturalisten Algirdas Julien Greimas (1971, frz. 1966) geprägt wurde. 328 Vgl. Nünning/Nünning 2002, S. 27. 329 Bezeichnung nach Nünning/Nünning 2002, S. 10. 330 Vgl. zu diesen Bezeichnungen Nünning 2000, S. 357. 331 Herman 1999, S. 8. 332 Nünning 2000, S. 357. 333 Herman 1999, S. 8. 334 Vgl. Nünning 2000, S. 358–359. 335 Nünning 2000, S. 359.
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Somit kann eine verstärkte Perspektivierung der Narratologie hin auf die dialogischen Zusammenhänge kultureller Bedeutungs- und Sinnproduktion die weitgehend auf starre Klassifizierung textlicher Phänomene ausgerichtete Praxis des klassischen Strukturalismus in Hinblick auf die weitergehende Interpretation literarischer Zeugnisse entscheidend dynamisieren. Dies geschieht allerdings gerade nicht dadurch, die textliche Eigenwelt der Erzählung zügig zu verlassen und deren gegebenenfalls vorgefundene Binarismen im zweiten Schritt als Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeiten zu lesen. Im Gegenteil wird eine gleichwertig komplexe Beziehung zwischen dem Zusammenspiel struktureller Verschränkungen im Text und gesellschaftlicher Generierung von Sinnzusammenhängen hergestellt.
1.4.2 Unbestimmtheit als Grundzug einer Erzähltheorie: Albrecht Koschorkes erweiterte Kultursemiotik (2013) Ansgar Nünning hat in mehreren Forschungsbeiträgen Schritte in Richtung einer konstruktivistisch ausgelegten kulturellen und historischen Narratologie aufzuzeigen versucht.336 Diesen Ruf scheint Albrecht Koschorke in den umfangreichen Grundzügen einer Allgemeinen Erzähltheorie seiner 2013er Monographie zu beantworten versucht zu haben. Er möchte darin »die Umrisse einer Theorie, die literatur-, kultur- und sozialtheoretische Ansätze miteinander verbindet«,337 vorlegen. Die »Allgemeinheit« dieser Grundzüge erstreckt sich dabei nicht, wie bei strukturalistischen Theorien, darauf, allgemeine Regeln, Strukturmerkmale und ›narrative Gesetze‹ einer bestimmten Gattung oder der Erzählkunst als solcher aufzustellen. Hauptsächlich will Koschorke stattdessen erörtern, weshalb ein »so unzuverlässige[s] Medium«338 wie das Erzählen so bedeutsam für das menschliche Zusammenleben ist und wieso es sich auf so viele Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders ausbreitet.339 In seiner (beinahen) Universalität lasse sich das Erzählen nicht allein durch menschlichen Drang zu Zeitvertreib, Angst- oder Kontingenzbewältigung – also den Zweck menschlicher Sinnstiftung – erklären.340 Ebenso wenig könne man
336 Als Überblick siehe Nünning 2000. Siehe auch Nünning 1992; Nünning 2001. 337 Koschorke 2013, S. 128. 338 Koschorke 2013, S. 16. 339 Koschorke geht dabei im Einklang mit dem ›narrative turn‹ der Sozialwissenschaft davon aus, dass der Mensch als homo narrans aufzufassen sei, dessen Weltauffassung nicht allein sprachlich, sondern in der »Organisation dieses Bezugs« vielmehr narrativ verfasst sei (vgl. Koschorke 2013, S. 9–10, Zitat S. 10). Somit lässt sich das Erzählen nicht allein auf die »Zone verminderter Rationalität« der Literatur und ihrer Unabhängigkeit von der vernunft-diktierten Wirklichkeit beschränken, sondern spielt eine eminente Rolle u. a. in Wissenschaftssystemen und der Alltagswelt (vgl. Koschorke 2013, S. 18–19, Zitat S. 18). Es ist, nach dem Diktum von Roland Barthes, überall und »einfach da, so wie das Leben« (Barthes 1988, S. 102). 340 Vgl. Koschorke 2013, S. 10–11.
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es in glatter Gegenüberstellung zur Rationalität in einen Bereich »von zweifelhaftem Wahrheitswert« verweisen.341 Einerseits könne das Erzählen sinnauflösend wirken, indem es »Kontingenz […] geradezu herauf[beschwöre]«,342 weshalb »[s]eit erzählt wird, […] auch Klage darüber geführt [werde], dass das Ausfabulieren von Geschichten irreleitet, dass es dazu einlädt, die Wirklichkeit zu verleugnen, dass es Unordnung stiftet und Unsinn erzeugt.«343 Andererseits sei es unzulässig, das Erzählen »ins Reservat der schönen Künste« ausgliedern zu wollen.344 »Von den Alltagsgeschichten über wissenschaftliche Theorien bis hin zu den master narratives, in denen sich Gesellschaften als ganze wiedererkennen«,345 werde überall dort erzählt, »[w]o immer sozial Bedeutsames verhandelt wird«.346 Im Zuge seiner Theoriebildung kommt Koschorke dabei zu dem Schluss, dass es die »[o]ntologische Indifferenz«347 des Erzählens sei, die dafür verantwortlich zeichne, dass es sich als anthropologische Universalie verstehen lasse. Nicht obwohl, sondern weil »das Erzählen über kein hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen«348 verfüge, weil Uneindeutigkeit hinsichtlich der Alternative wahr/unwahr […] nicht nur den Inhalt der jeweiligen Einzelgeschichte [betreffe], sondern ganz allgemein die kulturelle Gültigkeit der symbolischen Transaktionen, bei denen von der Technik des Erzählens Gebrauch gemacht wird,349
sei das Erzählen so erfolgreich. Die Paradoxie des Erzählens, nämlich dass ihm kein fester Status zwischen ›Eigentlichkeit‹ und ›Uneigentlichkeit‹ zugewiesen werden könne, dass auch eine ›erlogene‹ Geschichte integrale Wahrheiten kommunizieren könne und sich die Unterscheidung zwischen einer fiktionalen Erzählung und der außererzählerischen ›Wahrheit‹ häufig nicht zuverlässig treffen lasse,350 habe erst
341 Koschorke 2013, S. 18. 342 Koschorke 2013, S. 11. 343 Koschorke 2013, S. 12. 344 Koschorke 2013, S. 18. 345 Koschorke 2013, S. 18–19. 346 Koschorke 2013, S. 19. Für konkrete Beispiele wie etwa der Choreographie »soziale[r] Konflikte entlang von narrativen Feldlinien« vgl. weiter bis S. 20. Zu Narrativen im sozialen Konfliktfeld siehe dann ausführlich S. 236–247. 347 Koschorke 2013, S. 16. »Ontologisch indifferent« ist Koschorke zufolge das Erzählen in Hinblick auf seinen Gültigkeitsbereich. Ähnlich dem Spiel (vgl. insgesamt Koschorke 2013, S. 12–16) postuliere es für seinen Inhalt absolute Gültigkeit, während es gleichzeitig dem Alltag enthoben sei. Es behandle insofern den Unterschied zwischen »Phantasie und Realität nicht ›als einen unbedingten‹« (Koschorke 2013, S. 16). Daraus folge, dass ein Spielteilnehmer ebenso wie ein ›Angehöriger‹ einer bestimmten Erzählung sich durch die Bereitschaft auszeichnen müsse, in der konkreten Spiel- oder Erzählsituation »an das aufgeführte Spiel, an seine Wichtigkeit und seine Regeln, zu glauben« (Koschorke 2013, S. 15). 348 Koschorke 2013, S. 12. 349 Koschorke 2013, S. 17. 350 Vgl. Koschorke 2013, S. 16–19.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen
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zur Folge, dass einer einzelnen Erzählung ganz unterschiedliche Interpretationen zukommen könnten. Diese könnten sozialen Sinn im Zuge folgender kommunikativer Vergemeinschaftung unter ihren Rezipienten gleichermaßen stiften wie auflösen. Eine Erzählung »spiel[e] sich auf einer Vielzahl von Ebenen gleichzeitig ab«.351 Erst dadurch könne das Erzählen den Rang unter den menschlichen Zeichensystemen einnehmen, der ihm faktisch zukommt. So gebe es etwa kulturelle Master-Narrative, die sich selbst unbedingte Gültigkeit einschrieben. Alle Angehörigen einer gegebenen Kultur partizipierten an diesen, indem sie ihnen, trotz ihrer narrativen Verfasstheit, den Status der ›Wahrheit‹ zuerkennen müssten.352 Dabei sei es die Unschärfe solcher Narrative an den Rändern ihrer Gültigkeit, die sie so erfolgreich sein lasse, da stabile »Systemlogiken starr [seien] und nur in sozial ausgelagerten Sondersprachen zur Perfektion gebracht werden könn[t]en«.353 Institutionalisierung bestimmter Narrative bedinge somit deren Verfestigung. Ihr unscharfer Erzählcharakter komme hingegen insbesondere dort verstärkt zum Tragen, »wo formalsprachlich präzise Zeichen- und Zahlensysteme soziale Einbettung verlangen.«354 Koschorke zufolge ist somit »[d]as Erzählen […] Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation«, die »die Funktionalität des scheinbar Dysfunktionalen, des Unscharfen, nicht Systematisierbaren, der losen Enden und Ränder, des Formlosen und Informellen« zum Ausdruck bringe.355 Gerade die inhärente Unbestimmtheit und Paradoxie des Erzählens nimmt also den zentralen Platz in Koschorkes Theorie ein. Nur von der Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit in seinem Kern aus lasse sich die kommunikative Funktion des Erzählens bestimmen. Vereinfacht gesagt ließe sich zusammenfassen, dass mehrdeutige Narrative unterschiedliche Interpretationen erzeugen können, die weitere Verständigung über ihre Gültigkeit bedingen, sofern sie soziale Relevanz gewinnen wollen. Damit ergibt sich ein sozial und narrativ bedingter Aushandlungsprozess kultureller ›Wahrheiten‹, der im Medium des Erzählens realisiert werden kann. Derselbe Synkretismus (in Hinblick auf verschiedene geisteswissenschaftliche Grundthesen), der
351 Koschorke 2013, S. 20. 352 Vgl. Koschorke 2013, bes. S. 211–286. Als Beispiel wäre etwa das Narrativ der Fundierung Europas als durch christlich-jüdische Kultur geprägtes Abendland zu nennen, das in jüngster Zeit angesichts politisch-gesellschaftlicher Umwälzungen vermehrt im öffentlichen Diskurs verhandelt wird, oder der (auch von Koschorke beigebrachte) »Geschichtsmythos« der Nationalstaaten, also die Vorstellung von der Nation als eines zusammengehörigen, kulturell einheitlichen und historisch gewachsenen Gemeinschaftsverbunds seiner Bürger. In die gleiche Kategorie gehört das Narrativ der vernunftbegabten Höherentwicklung des Menschen im Lauf der Geschichte, das die Aufklärung hervorgebracht hat, und das nicht zuletzt in der Wissenschaft in der Vorstellung von und anschließender Debatte um mittelalterliche ›Alterität‹ durchschlägt. Die Abgrenzung des ›modernen‹ Menschen von einem ›vormodernen‹ Geisteszustand darf wohl als eines der prägendsten, historischen Master-Narrative der gegenwärtigen westlichen Kultur angesehen werden. 353 Koschorke 2013, S. 397. 354 Koschorke 2013, S. 397. 355 Beide Zitate Koschorke 2013, S. 25.
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1 Einleitung
seine theoretischen Annahmen präge, so Koschorke, kennzeichne auch den Gegenstand des Erzählens an sich.356 Aufgrund seiner Unbestimmtheit sei es besonders dazu geeignet, »Prozessdynamiken zum Ausdruck zu bringen«, indem es »Komplexität durch Dynamisierung« zugleich verarbeite und gestalte.357 Koschorkes Hauptinteresse entfällt in der Folge dieser grundsätzlichen Beobachtungen auf die sozialen Folgen und somit die Funktion des Erzählens in der Produktion gesellschaftlicher Zusammenhänge. Grundpfeiler seiner Theoriebildung ist dabei die Ausarbeitung einer ›kulturellen Feldtheorie‹358 auf der Basis des Semiosphären-Konzepts, das der russisch-estnische Semiotiker Jurij Lotman vorgelegt hat.359 An dieses Konzept schließt Koschorke an, weil es »keine integrale, in sich geschlossene Sinnganzheit, sondern ein auf paradoxe Weise durch Desintegration lebendig gehaltenes Gefüge« darstelle.360 Anschlussfähig sei insbesondere, dass nach Lotmans Modell Kommunikation »sich in der gesamten Bandbreite eines partiellen Verstehens und Umformens« abspiele.361 Er setze als »Theoretiker der Unordnung« die »Unbestimmtheit« ins Zentrum seiner Modelle.362 Deshalb eigne sich seine Forschung dazu, die Komplexität menschlich-kultureller Interaktion über Zeichensysteme und gerade das mitunter so paradoxe Medium des Erzählens, in seiner Funktionalität beschreibbar zu machen.363 Die menschliche, kulturelle Semiose an sich sei daher in Parallele zum Medium des Erzählens zu sehen und mit entsprechenden, der Narratologie entstammenden Beschreibungsmitteln analysierbar. Koschorkes Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie stellen damit ein Paradebeispiel der oben aufgezeigten neueren Richtungen in der Erzählforschung dar, da sie ihre Hauptaufmerksamkeit nicht allein einem Text zukommen lassen. Stattdessen achten sie verstärkt auf die Zusammenhänge zwischen Erzählen und kulturellem Kontext. In diesem Fall werden sogar menschliche, soziokulturelle Zusammenhänge selbst als Erzählungen lesbar zu machen versucht. Der Vorteil von Koschorkes Erzähltheorie im Vergleich zu älteren, strukturalistisch geprägten Theorien ist dabei ihre Zentralsetzung der Kriterien von Unbestimmtheit und Dynamik. Diese begingt eine Abkehr der literaturwissenschaftlichen Textanalyse von der Feststellung »binäre[r] Strukturmuster […] eine[r] letztlich unveränderliche[n] Matrix«,364 ohne deren Bedeutung und Funktionalisierung zu verleugnen. So könnten
356 Vgl. Koschorke 2013, S. 20. 357 Beide Zitate Koschorke 2013, S. 21. 358 Von »kulturellen Feldern« spricht Koschorke 2013 erstmals auf S. 119. 359 Zum Konzept allgemein vgl. Lotmann 1990. Für eine nähere Vorstellung und Anwendung auf die Færeyinga saga siehe Kap. 2. 360 Koschorke 2013, S. 120. 361 Koschorke 2013, S. 122. 362 Koschorke 2013, S. 123 u. S. 124. 363 Zum Bezug auf und zur weiteren Ausarbeitung der Basistheoreme Lotmans siehe Koschorke 2013, bes. S. 120–202. Sein dreidimensionales Feldmodell erinnert dabei stark an die Polysystemtheorie nach Itamar Even-Zohar 1990. 364 Koschorke 2013, S. 21.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen
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sich durchaus »Texte ihrer Organisationskraft bedienen«,365 gingen aber in ihrer Komplexität als »sprachliche Artikulationen von Veränderlichkeit« »solchen Strukturverfestigungen vielmehr voraus.«366 Koschorke nach ist das Erzählen selbst somit als der fluide Urgrund anzusehen, »in dem binäre Codes sich allererst ausbilden, in Konkurrenz oder Allianzen eintreten, sich wechselseitig schwächen, stärken, kreuzen, verfestigen oder auflösen.«367
1.4.3 Vorteile von Koschorkes Ansatz im Vergleich zu bisherigen Lesarten der Færeyinga saga Diese Ansätze sind gewinnbringend auf die so unterschiedlich interpretierte Færeyinga saga übertragbar. Der wichtigste Vorteil von Koschorkes Zugang, den er älteren, klassisch-strukturalistischen Ansätzen voraushat, ist seine Bemühung um eine »Theoriesprache, die nicht in schematischen Gegensätzen, sondern in Skalierungen, das heißt Abweichungsbandbreiten, denkt.«368 Eine konkrete Analyse der sozialen Produktivität der Færeyinga saga als Erzählung, wie Koschorke sie theoretisch möglich machen könnte, ist dabei im nachfolgenden Rahmen weder angestrebt noch möglich, wie oben dargelegt. Bedeutsam sind jedoch ihre veränderten theoretischen Grundannahmen sowie die raumsemiotische Ausrichtung, die aus Koschorkes Basierung auf Jurij Lotmans Konzepten resultiert. Seine Konzentration auf Unschärfen und Vieldeutigkeiten als inneres Konstitutionsmerkmal des Erzählens zeigt auch Potenzial für die Analyse eines Einzeltextes, die die Frage seiner sozialen Produktivität und der genauen Beziehung zwischen Text und kulturellem Kontext zunächst ausblendet. Auf Basis einer solchen theoretischen Ausrichtung wird es möglich, Zweideutigkeiten, unsichere Dynamiken und scheinbar widersinnige, paradoxe Verknüpfungen narrativer Elemente nicht negativ als Abweichung eigentlich ›korrekter‹ Textstrukturierungen oder als bedingt durch textexterne Faktoren deuten zu müssen, sondern sie als funktional bedeutsame Bestandteile der Erzählentwicklung bewusst zu machen. Die in der Forschung aufgeworfene Frage etwa, ob die ideologische Aufladung der Færeyinga saga auf die Rechtmäßigkeit norwegischer Herrschaft im Nordatlantik hinauslaufe oder diese verneine, muss nicht mehr mit der isländischen Geschichte des 13. Jahrhunderts erklärt werden, sondern lässt sich in ihrer offenbar paradoxen Verschränkung nicht als Problem der Interpretation, sondern als Grundstein für Lösungsansätze ansprechen. So muss die Analyse nicht mehr aus dem Text selbst heraustreten, um Widersprüchlichkeiten als Ausdruck divergierender Diskurse ihres nur erschlossenen Ent-
365 366 367 368
Koschorke 2013, S. 21. Beide Zitate Koschorke 2013, S. 22. Koschorke 2013, S. 22. Koschorke 2013, S. 118–119 (meine Emphase).
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1 Einleitung
stehungshintergrundes zu deuten. Ein solcher narratologischer Zugriff kann also die lange prägende Problematik der Historizität der Sagas umgehen,369 wie sie sich auch in der Erforschung der Færeyinga saga zu erkennen gibt. Somit kann dem fortbestehenden Problem Rechnung getragen werden, dass die Sagas »erst in Abschriften aus späterer Zeit erhalten sind, wobei nicht immer klar ersichtlich ist, für welchen Zeitraum sie Gültigkeit besaßen.«370 Dies betrifft umso mehr die Færeyinga saga mit ihrer frühen Datierung durch die Forschung und ihrer späten Überlieferung im Kontext der Haupthandschrift Flateyarbók. Gerade sie ist ein Paradebeispiel für das Paradox, dass »der schriftliche Text ›wahrer‹ ist als die ›Realität‹, die ihn hervorgebracht hat«.371 Mit unverrückbarer Sicherheit ist ein Entstehungshintergrund dieser (und auch der meisten anderen Sagas) nicht zu bestimmen. Durch die Ausrichtung der Analyse an den Theorien Koschorkes wird es möglich, die nur scheinbar dysfunktionale Verschränkung narrativer Indikatoren, die etwa eine Ideologie für und wider die Unterwerfung der Färöer unter das norwegische Reich erkennen zu lassen scheinen, als konstitutives Merkmal der Erzählung zu verstehen. Damit kann die Erzeugung von Paradoxie und Undeutlichkeit als eigentliches Ziel der Erzählung gewertet werden, als Ausdruck einer dynamischen, wenn auch im Folgenden nicht näher untersuchten Interaktion mit ihrem kulturellen Kontext.372 Die betonte »Allgemeinheit« von Koschorkes theoretischer Ausrichtung, die alle Arten des Erzählens in menschlicher Interaktion umfassen will, leitet sich darüber hinaus nicht, wie vergleichbare moderne Erzähltheorien, aus einer Entwicklung am neuzeitlichen Roman ab. Insofern kann sie auch die Problematik mittelalterlicher, narrativer ›Alterität‹ ausblenden,373 die ebenfalls nicht zur Erklärung aus moderner Perspektive zunächst widersinnig erscheinender Erzählelemente herangezogen werden muss.
369 Als Übersicht der sich durch primär historisches Forschungsinteresse auftuenden Probleme der (Isländer-) Sagas im Allgemeinen vgl. etwa Würth 2000. Siehe als Forschungsüberblick einschließlich einer Klage über die weitgehende Absenz poststrukturalistischer Forschungsansätze auch Clover 1985. Welche Strahlkraft die Unterscheidung zwischen ›Geschichte‹ und ›literarischer Fiktion‹ im Bereich der Sagaforschung noch bis heute besitzt, wird anschaulich, wenn etwa Böldl 2005, S. 66 bei der Ausarbeitung einer literaturwissenschaftlichen Gattungsdefinition in Bezug auf den Erzählcharakter der Isländersagas konstatiert, dass »die Literarizität des Textes als Strategie der erzählerischen Bewältigung vergangener Realität gedeutet werden« müsse. 370 Würth 1999, S. 199. Würth, die sich hauptsächlich mit der Adaptierbarkeit des New Historicism auf mediävistische Wissenschaften auseinandersetzt, wirft im Anschluss die Frage auf, wie »ein synchrone[r] Kontext für Texte« zu erstellen sei, »die zwar allgemein als Werke bewußt schaffender, wenn auch unbekannter Autoren des 13. [Jahrhunderts] betrachtet werden, die aber vielleicht schon vorher mündlich tradiert wurden und die nur in Handschriften erhalten sind, die viel später entstanden und die sich durch ihre Varianz auszeichnen« (S. 201). 371 Würth 1999, S. 199. 372 Zur weitergehenden Anwendbarkeit von Koschorkes theoretischem Rahmen in Bezug auf die Erforschung der Isländersagas siehe weiterführend Kap. 9.2.3. 373 Siehe zu dieser überblicksartig Schulz 2015, S. 1–3.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen
67
Der hier theoretisch entwickelte Zugriff kann somit die strukturalistisch geprägte Konzentration auf Oppositionspaare und starre Erzählmatrizen überwinden, die in letzter Konsequenz die Erzähltextanalyse anhand der Art ihrer Einarbeitung (jedenfalls angenommener) außerliterarisch-zeitgenössischer Diskurse zu begünstigen scheint. Der Strukturalismus klassischer Prägung, wie er in der Sagaforschung fruchtbar rezipiert wurde,374 denkt in (meist binären) Schematisierungen und versucht, diese möglichst eindeutig festzuschreiben. Da das Verhältnis der aus den Texten herausgearbeiteten Dichotomien allerdings nicht selten als »a kind of schizophrenia« greifbar wird,375 lädt dieser Befund zu seiner Erklärung mittels des Übergriffs auf die historische Realität Islands ein. Island und Norwegen befinden sich in einer komplexen historischen Wechselbeziehung, und die Sagas – auch und gerade die Færeyinga saga – scheinen diese zu reflektieren. Die Textanalyse begünstigt so weitergehende Fragestellungen an die Texte, die in Ja/Nein-Schematisierungen bzw. Wenn/Dann-Kategorien operieren. Die divergierenden Interpretationen ob der Ideologie der Færeyinga saga, wie sie oben aufgearbeitet wurden, stehen im Kontext dieser breiteren Vorgehensweise der Sagaforschung. Die Saga wurde überwiegend (wenngleich nicht aktiv reflektiert und zeitbedingt 376) im Spannungsfeld binärer Oppositionspaare gelesen. So fällt unmittelbar auf, dass sich die Mehrheit der Analysen recht exklusiv auf ihren ersten Handlungskreis bezieht; jenen, der neben der Flateyjarbók auch in den separaten Handschriften der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta überliefert ist, und der den Aufstieg und Fall von Sigmundr Brestisson als Herrscher auf den Färöern umfasst. Weit spärlicher wurde demgegenüber der zweite große Handlungsabschnitt in Betracht gezogen, der sich nach dem Tod Sigmundrs zuträgt. So gibt etwa Guldager in seiner Untersuchung an, den abschließenden Teil der Handlung absichtlich »kun kort« zu behandeln, »da den ikke bringer nye, vigtige elementer ind.«377 Dieses Ungleichgewicht bezüglich der Analyse der beiden großen Handlungsabschnitte scheint wenig verwunderlich. Die Færeyinga saga bietet im ersten Teil eine bereits auf den ersten Blick klar strukturierte, »scharf umrissene Teilhandlung«378 in »›fehdemischer‹ (›feudemic‹) Organisation«,379 die es leicht macht, »die hierarchische Gliederung und die Handlungsentwicklung eines Erzählablaufs übersichtlich darzustellen«.380 Kunstvoll scheint dieser Teil des Plots
374 Siehe grundlegend Andersson 1967. Siehe weiter etwa auch Harris 1972; Harris 1976; Lönnroth 1976. 375 Clunies Ross 1997, S. 557. Zur weiteren Entwicklung der hier zusammengefassten Gedanken siehe Kap. 2.3. 376 Als Schwerpunktzeitraum der Færeyinga saga-Forschung fällt nach dem oben präsentierten Überblick die Zeit zwischen den 1960er und späten 1980er Jahren auf, also der Zeitraum, in dem die strukturalistische Narratologie in der Sagaforschung umfassend rezipiert wurde. 377 Guldager 1975, S. 17 (nur kurz, weil er keine neuen, wichtigen Elemente einbringt). 378 Glauser 1989, S. 216. 379 Glauser 1989, S. 211. 380 Glauser 1989, S. 207.
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1 Einleitung
»durch eine strikt oppositorische Gliederung in semantische Kategorien«381 gekennzeichnet. Die Handlung konzentriert sich auf den Konflikt der beiden Figuren Þrándr í Gǫtu und Sigmundr Brestisson, die diese »semantischen Kategorien« jeweils versinnbildlichen. Beide können als Personifikationen verschiedenster Eigenschaften und Zuordnungen verstanden werden: »alt vs. neu, färöisch vs. norwegisch, heidnisch vs. christlich, listig vs. naiv, hartherzig vs. edel, erfolgreich vs. erfolglos«,382 dunkel vs. hell, letztlich böse vs. gut. Dieses zentrale Oppositionspaar auf der Figurenebene ist zudem »durchgängig auf die übergeordneten hist[orischen] Entwicklungen im norw[egischen] Reich bezogen«.383 Deshalb scheint es vor dem Hintergrund der (angenommenen) Entstehungszeit der ursprünglichen *Færeyinga saga im mittelalterlichen Island prima facie einleuchtend, die Figuren als jeweilige Personifikation »heidn[ischer], färöisch-autonome[r], gewissermaßen germ[anisch]präfeudale[r] Werte« und eines »christl[ichen], zentralistische[n] und feudalaristokratische[n], m[ittel]a[lterlichen] Weltmodell[s]«384 zu verstehen. Dazu ist zweierlei zu bemerken: Zum einen ist die fast ausschließliche Konzentration auf den ersten Handlungskreis der Færeyinga saga schon aufgrund der bloßen Tatsache, dass sie sich inhaltlich viel weiter erstreckt, reduktionistisch und für ein angemessenes Werkverständnis unzureichend. Selbst Jürg Glauser, der als einziger eine streng strukturalistische Lesart der Gesamtsaga verfolgt hat, meint, die Saga könnte im Grunde problemlos auch nach Sigmundrs Tod zu Ende sein; »erzählökonomisch« sei das »ohne weiteres denkbar«.385 Zum zweiten zeigt sich bei einer detaillierten Lektüre, die sich nicht allein auf Abgrenzungen konzentriert, auch, dass die angesetzten Dichotomien im ersten Teil der Saga nicht so monolithisch sind, wie sie gedeutet wurden. Der Konflikt zwischen Þrándr und Sigmundr wurde bisher als gleichsam allumfassender, absoluter Kampf verstanden, der sich auf sämtliche Ebenen möglicher charakterlicher und konzeptioneller Eigenschaften erstreckt. Tatsächlich ist ihre Gegenüberstellung zentral für den Plot, jedoch scheinen die weitreichenden Implikationen, die das Gros der Forschung ihr beigemessen hat, letztlich reichlich überbetont worden zu sein. Auch der zweite Teil der Saga, in dem die Erzählwelt im Vergleich zum Anfangspart regelrecht explodiert, macht nicht lediglich den »homogene[n]« Handlungsgang der ersten Teilhandlung »diffuser«.386 Im Gegenteil gibt die gleichberechtigte Einbeziehung der zweiten Teilhandlung den Blick auf die trotz der zerrissenen Überlieferung der Færeyinga saga er-
381 Glauser 1989, S. 217. 382 Glauser 1989, S. 217. 383 Glauser 1994, S. 115. 384 Beide Zitate Glauser 1994, S. 115. 385 Glauser 1989, S. 216. 386 Beide Zitate Glauser 1989, S. 217. Glauser zeigt im Anschluss anhand der ›Move-Grammatik‹ von Pavel 1985, dass eine struktur-narratologische Analyse des zweiten Teils der Saga sehr wohl möglich ist, und kommt dabei zu einsichtsvollen Ergebnissen, auf die in Kap. 8 noch näher einzugehen sein wird.
1.4 Theoretisch-methodologische Grundsatzüberlegungen
69
staunlich einheitliche Komposition des Gesamttextes frei. Er ist im Zusammenspiel von Parallelen und Kontrasten sehr ausgewogen aufgebaut. So erweist sich, dass der zweite Handlungskreis, der Konflikt zwischen Þrándrs Neffen Sigurðr Þorláksson, dessen Bruder Þórðr inn lági und ihrem Cousin Gautr inn rauði und Þrándrs Ziehsohn Leifr Ǫzurarson sowie dessen neuer Familie, nämlich der Sigmundrs, die Figurenkonstellation des ersten Teils in gebrochener Variation spiegelt.387 Insofern ist zu betonen, dass die Allgemeine Erzähltheorie, die Koschorke entwickelt, im Folgenden weniger als konkret zur Anwendung gebrachtes Instrumentarium der Textanalyse zu betrachten ist, sondern vielmehr die grundsätzliche Ausrichtung des Analyseinteresses prägt.388 Die Methodik bleibt die narratologische Textbeschreibung in ihrer Verpflichtung auf die gängigen Kategorien und Terminologie nach Genette.389 Sie soll daher eher einen neuen Blickwinkel im Zwischenraum der bisher vorgebrachten Analysen zur Færeyinga saga eröffnen und die Frage klären, wie der Text derartig divergierende Auffassungen zu erzeugen im Stande ist, wie sie sich in der Forschungslage niederschlagen. Ihr Ziel ist weniger eine Umwertung des Vorgehens in der literarischen Analyse als solcher, sondern eine erneuerte Sichtweise auf den bekannten Text.
1.4.4 Zur weiteren Vorgehensweise Im Folgenden soll daher der Gesamttext, den die Flateyjarbók exklusiv überliefert, einer näheren narratologischen Analyse unterzogen werden, ausgerichtet auf Figurendarstellung und -konstellation, die in den bisherigen Forschungen eindeutig im Zentrum stand. Dabei wird zu prüfen sein, ob und in wie weit die bisher in der Forschung angesetzten Dichotomien in der Ausgestaltung der Saga zwischen norwegischem Reich und färöischer, implizit isländischer, Kolonie sich als tragfähig erweisen, vor allem hinsichtlich der ideologischen Aufladung ihrer vermeintlich isländischen Agenda. In der folgenden Analyse wird deswegen zunächst den bisherigen Lektüren der Færeyinga saga Rechnung getragen, indem der Zugriff über die raumtheoretisch geschulte Lesart der Prägung durch Koschorke, basiert auf Jurij Lotmans Semiosphären-Konzept, erfolgt. Vor der Analyse der Einzelfiguren in ihrer bisher angesetzten Symbolik werden so zunächst die Raumkonzepte der Erzählung in ihrer gegenseitigen Bedingtheit aufgearbeitet. Zur Kontextualisierung der bisherigen Forschungsergebnisse zur Færeyinga saga ist dabei eine Übersicht zur umfangreichen Literatur über die Darstellung Norwegens und seiner Herrscher in den Isländersagas geboten.
387 Siehe hierzu Kap. 5 u. Kap. 8. 388 Zur Differenz literaturwissenschaftlicher Theorie und Methode vgl. im Überblick auch Nünning/ Nünning (Hrsg.) 2010, S. 6–21. 389 Siehe Genette 2010.
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1 Einleitung
Ebenso wird ein Exkurs zur Darstellung des Raums ›Färöer‹ in der altnordischen Literatur zwischengeschaltet. Aus den Betrachtungen der Raumkonzipierung lässt sich ableiten, dass die Figurenanalyse sich als geeignete weitere Kategorie zur Aufarbeitung des zentralen Anliegens der Saga rechtfertigten lässt. Die Færeyinga saga gestaltet sich als Verhandlung von Macht, konzentriert sich in ihrer narrativen Aufbereitung daher besonders auf deren Träger und muss entsprechend ausgerichtet analysiert werden. Den Großteil der nachfolgenden Analyse machen daher detaillierte Studien der einzelnen Protagonisten aus. Zunächst wird die Figur des Þrándr í Gǫtu umfassend untersucht, anschließend sein langjähriger Hauptkonkurrent Sigmundr Brestisson. Es folgen Analysen der zentralen Figuren des zweiten Handlungsteils, zunächst der drei Neffen und Ziehsöhne Þrándrs, Sigurðr Þórláksson, Þórðr inn lági und Gautr inn rauði und abschließend desjenigen Ziehsohns von Þrándr, der am Ende der Erzählung die Herrschaft auf den Färöern innehat, Leifr Ǫzurarsons. Im siebten Kapitel folgen Analysen des weiteren Figurenkreises der Erzählung, die nicht zentral um die färöische Herrschaft streiten bzw. dem Streit der färöischen Hauptfiguren nur beigestellt sind. Hier wird zunächst auf ausgewählte Nebenfiguren und anschließend auf Sigmundrs Ziehvater, den Outlaw Þorkell ›Úlfr‹ Þurrafrost, die weiblichen Figuren und die norwegischen Könige eingegangen. Diese wetteifern im Falle der Frauen und insbesondere der norwegischen Herrscher ebenfalls um die Spitzenposition auf den Färöern, agieren aber über die vier hauptsächlichen Protagonisten (bzw. Gruppen, im Falle von Þrándrs Neffen) oder andere Mittelsmänner nur indirekt. Alle drei Figurenklassen übernehmen trotz ihrer Gestaltung als Nebenfiguren maßgebliche Funktionen für Ablauf und Gestaltung der Færeyinga saga. Den Abschluss dieses Kapitels bilden kürzere Analysen von Figuren, die sich der Verwendung des ›Zwei-Brüder‹-Motivs in der Strukturierung des Erzählflusses zuordnen lassen. Das achte Kapitel fasst die im Zuge der Figurenanalyse zu Tage geförderten Erkenntnisse zusammen und ordnet sie im Zuge einer Analyse der Erzählstruktur des Gesamttextes neu an. Dabei wird ein weiterer Exkurs über die Möglichkeit der Ansetzung mutipler Erzählebenen geboten. Gegebenenfalls lässt sich anhand bestimmter Erzählelemente eine mythisch konzipierte Hintergrundfolie im Text festhalten, die in die Handlungsebene hineinspielt, indem sie den Plot mitgestaltet. Im Schlussteil schließlich werden die Ergebnisse der Analyse rekapituliert und mit der oben entworfenen, theoretischen Ausgangsbasis und der im Zuge der Forschungsdurchsicht eröffneten, weiteren Arbeitsfelder rückgebunden. Perspektiven, die sich aus der narratologischen Analyse der Færeyinga saga für folgende Forschungen ergeben, werden abschließend aufgezeigt.
2 Narrative Raumsemantiken Eines der hervorstechendsten Merkmale der Færeyinga saga sind ihre häufigen Ortsund Szenenwechsel. Sie ist beherrscht von einer räumlichen Dichotomie: Ein Handlungszentrum befindet sich auf den Färöern, das zweite in Norwegen. In dieser Hinsicht ist sie oftmals »far more ›mobile‹ than other […] sagas with equally large geographical ranges«:1 »Scene shifts frequently from one land to another […], and events acquire their meaning in an international context«.2 Entsprechend bietet sich eine räumlich orientierte Lesart als adäquater Zugang zum Plot der Saga an und könnte Aufschlüsse über die Erzählsituation und ihre Intention liefern.3 Tatsächlich war eine topographische Lesart für das Gros der bisher vorgelegten Studien zur Færeyinga saga prägend. Diejenigen Forschungen nämlich, die die Saga als Unabhängigkeitsdiskurs verstehen, ziehen aus der geographischen Zweiteilung der Erzählung den Schluss, das Interesse des Textes gelte hauptsächlich dem Zusammenhang zwischen dem Konflikt in der färöischen Oberschicht und den historisch-politischen Entwicklungen im norwegischen Reich bzw. dem Verhältnis zwischen Kolonie und Großmacht.4 Ihr Verständnis der zentralen ideologischen Dichotomie der Saga ist maßgeblich geographisch geprägt. Sie lesen die topographische Zweiteilung des Settings als Gegeneinander zweier unterschiedlicher Soziokulturen, eines christlichen Zentralstaates einerseits und einer proto-demokratischen, autonomen Gesellschaft freier Bauern andererseits. Dadurch interpretieren sie die Geographie im Text auf einen ideologisch gefärbten Symbolcharakter hin. Wenig beachtet ist in dieser Auseinandersetzung die Konstruktion und Konzeptualisierung der beiden Handlungsräume geblieben, ebenso wie ihre narrative Funktionalisierung im Verhältnis zueinander. Diese werden hier einleitend näher untersucht, ehe die Argumentation der bisherigen Forschungen auch anhand der Figurenkonstruktion und ihrer Konstellation genauer geprüft wird.
2.1 Geographische Räume und ihre literarische Bedeutung: Gedanken zu räumlicher Semantik 2.1.1 Konzipierungen von Räumlichkeit in Wissenschaft und Færeyinga saga Das Verständnis des Terminus ›Raum‹ und seiner unterschiedlichen Konzeptualisierungen ist im 20. Jahrhundert in der kulturwissenschaftlichen Forschung zunehmend theoretisiert worden.5 Gemeinsam ist den meisten dieser Theorien eine Abkehr von
1 2 3 4 5
Berman 1985, S. 122. Berman 1985, S. 113. Vgl. auch Berman 1985, S. 122. Vgl. hierzu etwa Berman 1985, S. 113–114; Foote 1993, S. 222; Glauser 1994, S. 115. Vgl. Koschorke 2013, S. 111.
https://doi.org/10.1515/9783110774979-002
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2 Narrative Raumsemantiken
der Vorstellung eines leeren und a priori gegebenen Behältnisraumes, der lediglich verschieden befüllt werden kann und in keiner Wechselbeziehung zu den in ihm erscheinenden Objekten steht. Diese der euklidischen Mathematik verpflichtete Raumauffassung, die die europäische Philosophie und Physik lange Zeit hindurch prägte, gerät unter dem Einfluss neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und der zunehmend als Zersplitterung erfahrenen Pluralisierung der modernen Welt ins Wanken. Es kommt in den Kultur- und Sozialwissenschaften gewissermaßen zu »einem Massenexodus aus dem euklidischen Raum«, wie Albrecht Koschorke formuliert.6 Das jüngere Verständnis begreift den ›Raum‹ als Netz aus Beziehungen, dessen Erscheinungsbild von der Position des Betrachters abhängt und das auf die Objekte und Personen, um die herum es sich konstituiert, rückwirkt. Raum ist demnach nicht einfach gegeben, sondern Ergebnis des Zusammenspiels und Wechselverhältnisses der Einzelobjekte, die er enthält; er ist gewissermaßen selbst als dynamischer Prozess zu verstehen.7 Er wird in seiner Erfassung durch den Menschen erst kulturell konstruiert und erschaffen.8 Distanzüberwindung wird insofern nicht mehr als bloße mechanische Bewegung, sondern als Transformation angesehen.9 Entsprechende Bedeutung kommt im Denken des vergangenen Jahrhunderts zunehmend der räumlichen Grenze als Umschlagplatz zu. Nicht zuletzt die beinahe Allgegenwärtigkeit des Konzepts der Liminalität und die Konzentration soziologischer Forschung auf kulturspezifische Übergangserfahrungen reflektieren dieses Interesse.10 In diesem Zusammenhang sind maßgeblich die Werke von Arnold van Gennep und Victor Turner zu nennen, die in der Altnordistik intensiv rezipiert worden sind.11 Damit lässt sich eine gewisse ›räumlich‹ denkende Beschäftigung mit
6 Koschorke 2013, S. 112. 7 Zum dynamischen Charakter des ›Raumes‹ (in Unterscheidung zum festen ›Ort‹) vgl. de Certeau 2006, S. 345: »Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. […] Er ist also ein Resultat von Aktivitäten […]«. 8 Vgl. Bourdieu 1991, S. 28: »Der in bestimmter Weise von uns bewohnte und uns bekannte Raum ist sozial konstruiert und markiert. Der physische Raum läßt sich nur anhand einer Abstraktion (physische Geographie) denken […]«. 9 Vgl. hierzu auch Koschorke 2013, S. 112–113. 10 Vgl. Koschorke 2013, S. 114–115. 11 Siehe van Gennep 2005; Turner 1964; Turner 1969; für das altnordische Material bes. Turner 1971. Die Termini der Übergangs- oder Initiationsriten sind in der religionsgeschichtlichen Altnordistik prominent vertreten, vgl. als Überblick Maier/Meier 2000; Sundqvist/Kaliff 2003. Ein prominentes Beispiel wäre das Selbstopfer Óðinns in den eddischen Hávamál, im sog. Rúnatalsþáttr (Hávamál 138–145, S. 40–41), das immer wieder als initiatorisches Ritual diskutiert wurde, vgl. Sundqvist 2009. Auch in der literaturwissenschaftlichen Sagaforschung sind die Begriffe von Übergangsriten und Liminalität gängig. So wird das Motiv der útanferð, der Auslandsreise von Sagaprotagonisten, in der Regel als literarische Stilisierung eines solchen Ritus aufgefasst, vgl. etwa Lönnroth 1976, S. 71–76; Meulengracht Sørensen 1993, S. 224–226; Clunies Ross 1997, explizit auf Turner bezogen auch Larrington 2008, S. 151–153. Siehe hierzu Kap. 2.3.1. Das Konzept der Liminalität ist
2.1 Geographische Räume und ihre literarische Bedeutung
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den Texten insbesondere in der anthropologischen Sagaforschung schon seit geraumer Zeit nicht leugnen. Jedoch zeigt sich in der Altnordistik erst in jüngerer Zeit ein verstärktes Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Konzepten von ›Raum‹ und ›Räumlichkeit‹ an sich. So widmete sich kürzlich die 16. Saga-Konferenz dem Thema »Sagas and Space«,12 während ein dreijähriges Projekt am Háskóli Íslands zwischen 2014 und 2016 mit Konstruktion und Verständnis von Zeit und Raum in den Isländersagas befasst war.13 In jüngster Zeit rückt zudem das Verhältnis der isländischen Landschaft und der in ihr angesiedelten Geschichten ins Gesichtsfeld der Forschung.14 So partizipiert die Ansicht der Räume auch in der Erforschung der Færeyinga saga bisher nicht an den Dynamisierungen, denen das Konzept des Raumes unterworfen wurde, sondern scheint ein mathematisch-mechanisches Raumverständnis vorauszusetzen. Die bisher vorgelegten Interpretationen der Saga behandeln die beiden Länder Norwegen und Färöer im Text, wenn überhaupt, bestenfalls als Orte der Handlung. Sie verstehen sie somit im wortwörtlichen Sinne als bühnenhafte Settings ohne eigene narrative Funktion. Ihr Raumverständnis reflektiert so die gewissermaßen ›statische‹ Textansicht ihrer strukturalistischen Prägung, wie oben dargestellt. Dabei lässt sich nicht leugnen, dass das Denken vorangegangener Studien zur Færeyinga saga nichtsdestoweniger räumlich geprägt ist: Beiden Orten der Handlung wird eine semantische Aufladung zugewiesen.15 Norwegen wird als Muster eines christianisierten, hierarchisch organisierten Staates ausgedeutet, während die Färöer als Sinnbild einer Bauerngesellschaft aufgefasst werden, zu dem die isländische Rezipientenschaft der Erzählung eine Bindung habe eingehen können.16
auch in der Erforschung ›abseitiger‹ Phänomene und Figuren, wie etwa der Outlaws, von großer Bedeutung, vgl. etwa Poilvez 2012. 12 Für ein Abstract-Verzeichnis der beinahe 200 gehaltenen Vorträge vgl. Glauser u. a. (Hrsg.) 2015. 13 Der Name dieses RANNÍS-Projekts lautete Tími, rými og frásögn í Íslendingasögnum/Time, Space and Narrative in the Icelandic Sagas [zuletzt abgerufen am 31.08.2021]. 14 Vgl. etwa Hoggart 2010; Barraclough 2012; Lethbridge 2016. Mit religionswissenschaftlicher Perspektivierung vgl. u. a. Egeler 2015; Egeler 2016 (im Verbund mit mehreren Beiträgen verschiedener Forscher mit ähnlichen Ansätzen im selben Band); Egeler 2017; Egeler 2018; Egeler (Hrsg.) 2019; Egeler/Gropper (Hrsg.) 2020. Für die Færeyinga saga ist in diesem Zusammenhang Sarah HarlanHaughey zu nennen, deren Aufsatz »A Landscape of Conflict« von 2015 diesen Impuls aufgreift und erstmals eine ökokritische Lesart in die Diskussion um die Saga einbringt. Auch Harlan-Haughey unterlässt allerdings eine theoretische Reflexion über Räumlichkeit im Zuge ihrer Diskussion der Semiotisierung der färöischen Landschaft in der Saga. Obwohl ihr Beitrag tiefgehende Einsichten zu Tage fördern kann, muss ihre Lektüre in Anbetracht textlicher Komplexitäten und Handlungsabfolgen, die ein entsprechendes Close Reading nahelegt, zum Teil erheblich differenziert und korrigiert werden. 15 Zur »strikt oppositorische[n] Gliederung« insbesondere der ersten Teilhandlung der Erzählung zwischen den Kontrahenten Sigmundr und Þrándr in »semantische Kategorien« vgl. Glauser 1989, S. 217. 16 Vgl. zum grundlegenden Gedankengang Skyum-Nielsen 1973, S. 2–3 u. S. 13–14.
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Den Settings werden somit mehr oder minder direkt symbolische Bedeutungswerte zugeschrieben, die sie zu Handlungsräumen formen. Dadurch bricht die Statik des zugrundeliegenden Raumbegriffs auf. Jedoch reflektieren die Forschungsbeiträge kaum ausreichend, dass den Orten der Handlung entsprechend nicht alleine die Rolle leerer Behältnisse zukommen kann, durch die sich die Akteure bewegen. Die Zuschreibung symbolisch-ideologischer Wertigkeiten an den topographischen Weltentwurf der Saga steht so in Diskrepanz zu dem statischen Raummodell, das in der binaristischen Textbetrachtung dieser Analysen zum Ausdruck kommt. Wenn der ›Raum‹, in dem sich die Handlung des Textes zuträgt, nicht mehr ist als eine leere Bühne, dürften ihm selbst keine Bedeutungswerte zuzuschreiben sein. Hier geschieht ein Sprung in den Ebenen der Analyse: Während den textlichen Handlungsräumen der Färöer und Norwegens keine weitere Bedeutung zuzukommen scheint, entfalten sie auf der Ebene der textexternen, zeitgenössischen Rezeption ihre symbolische Bedeutung. Dadurch ergibt sich allerdings ein Widerspruch. Das textinterne Raumverständnis der Interpretationen bleibt statisch. Dennoch wird durch die Bedeutungsaufladung der Handlungsräume aus dem erschlossenen Entstehungskontext der Saga das Verhältnis dieser Räume zur außertextlichen Welt implizit dynamisiert. Insofern ergibt sich durch diese Art der Textbetrachtung das Paradox der Gleichzeitigkeit statischer Textauffassung und dynamischer Betrachtung des RezipientenText-Verhältnisses. Dass die beiden Haupthandlungsräume der Færeyinga saga aber keineswegs leere Settings sind oder lediglich einen bühnenhaften Hintergrund aufbieten, auf dem die Figuren miteinander in Interaktion treten, sondern dass die räumliche Situierung bestimmter Erzählsequenzen großen Einfluss auf Plotentwicklung und Figurenkonzeption besitzt, lässt sich an einem einfachen Beispiel anhand der SigmundrFigur aufzeigen. Sigmundr ist als stets herausragender, wikingischer Krieger konzipiert. Jedoch macht es einen erheblichen Unterschied, in welchem Handlungsraum er als solcher auftritt: Während er sich in Norwegen aufhält, kommt ihm diese persönliche Veranlagung enorm zu Gute, und er kann sich dadurch einen Platz in der herrscherlichen Hofgesellschaft erstreiten. Die gleiche Vorgehensweise ist allerdings nicht adäquat, sobald sich die Erzählung im Raum der Färöer aufhält, wo Sigmundr sich der Erfolglosigkeit ausgesetzt sieht.17 Der Færeyinga saga lässt sich somit eine weitgehend räumlich orientierte Erzählorganisation attestieren. Der Ort einer Handlung trägt dabei Bedeutung für das sich entwickelnde Geschehen. Er wird zum Handlungsraum, indem die mit ihm verbundenen, semantischen Zuschreibungen in deutliche Wechselbeziehung zu den Figuren treten, die ihn durchqueren. Die Erzählräume der Saga sind somit, in Übereinstimmung mit den theoretischen Überlegungen zur Natur des ›Raumes‹ neueren Datums, an sich dynamisch. Dementsprechend wird eine Lesart des Textes notwendig, die statt der trennenden die integrativen Momente der Textkonzepte in ihrem Zusammenspiel ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt. In
17 Siehe hierzu Kap. 2.3 u. Kap. 4.
2.1 Geographische Räume und ihre literarische Bedeutung
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der Betrachtung der Raumkonzepte und ihrer Semantisierungen in der Færeyinga saga ist es folglich nicht ausreichend, die beiden geographisch definierten Handlungsräume lediglich als alteritäre Einheiten zu begreifen, die sich gegenüberstehen, und damit in der dichotomischen Lesart des Textes nur eine weitere, räumlich fundierte Ebene einzuziehen. Im Gegenteil zeigt die nähere Betrachtung der räumlichen Konzepte des Textes, dass nicht allein die Beziehung zwischen Handlungsraum und Figurenarsenal dynamisch entworfen ist, sondern auch die Interaktion der beiden Räume miteinander.
2.1.2 Jurij Lotmans Semiosphäre Jurij Lotmans im engeren Sinne literaturwissenschaftlicher Ansatz – seine Poetik des »Sujets«18 – ist noch weitgehend von einem dichotomischen Denkansatz geprägt. Zwar gilt sein Interesse bereits dem Moment zwischen Binäroppositionen, indem er den Grenzübertritt »eines semantischen Feldes«, der sich auch räumlich äußert,19 als Handlungsauslöser zentral setzt, doch bleibt der Ansatz ex negativo noch auf die Ordnungen fixiert, deren Grenzen überschritten werden müssen, um Handlung in Gang zu setzen. Noch wesentlich stärker »unter [dem] Vorzeichen des Liminalen«20 steht dagegen Lotmans späteres, eigentlich kultursemiotisches Œuvre. Albrecht Koschorke stellt gerade dieses ins Zentrum seiner weiterführenden Allgemeinen Erzähltheorie, weil es ihm zufolge »Bausteine zu einem umfassenden Modell kultureller Zeichenprozesse [enthalte], die enorm hilfreich sind, um gewisse Verlegenheiten der gegenwärtigen Theoriediskussion zu überwinden.«21 Im Gegensatz zu den, in modernen kulturwissenschaftlichen Paradigmen allgegenwärtigen, Konzepten der Liminalität, des ›Anderen‹ und der ›Thirdness‹, die letztendlich nur eine »Umwertung innerhalb von Dichotomien« darstellten und insofern dauerhaft »im Bannkreis einer negativen Fixierung auf Identität« gefesselt blieben, laufe Lotmans Kultursemiotik nicht »wider Willen Gefahr, die Konstellation von Fremderfahrung modellhaft zu verfestigen«.22 Während die Theoriebildung und verstärkte Aus-
18 Vgl. Lotman 1993, bes. S. 329–340. 19 Lotman 1993, S. 332; zur räumlichen Komponente des »semantischen Grenzübertritts« vgl. S. 337–338. 20 Koschorke 2013, S. 119. Koschorke vergleicht Lotmans Poetik dort mit den anthropologischen Arbeiten van Genneps und Turners und attestiert eine »erstaunliche Konvergenz« dieser »Schwellenkunden«. 21 Koschorke 2013, S. 119. 22 Alle Zitate Koschorke 2013, S. 117. Dabei erweist sich eine an der »Dreiheit« ausgerichtete Lesart für die Textanalyse durchaus gewinnbringend, wenn man durch den Einsatz entsprechender Konzepte die Erzeugungsmechanismen binärer Strukturierungen innerhalb von Texten greifbar machen kann und sie insofern in eine kultursemiotische Lesart integriert, siehe hierzu Koschorkes Ausführungen in seinem Vorwort zu Eßlinger u. a. (Hrsg.) 2010. Zur Übertragung der »Figur des Dritten« auf Texte der altnordischen Literatur vgl. Sauckel 2016a und Sauckel 2016b; in Perspektive auf die
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einandersetzungen mit dem ›Anderen‹ letztlich dem Ziel einer Kritik des Subjekts bzw. ›Selbst‹ in seiner als hegemonial betrachteten Stellung dienten, blieben Liminalität und ›Thirdness‹ negativ gefasste Definitionsversuche, die sich nur als Momente der Nicht-Zugehörigkeit zu vordefinierten Ordnungen A oder B begreifen ließen. Gerade diese seien jedoch nachgerade die eigentlichen Einheiten, auf die die Definition sich beziehe.23 Weil aber »[n]ur in einer sozusagen keimfreien theoretischen Isolation […] sich […] Ego und Alter als identitäre Wesenheiten betrachten [ließen], die jede für sich schon ihre endgültige Gestalt erreicht haben, bevor sie in ein Verhältnis zueinander treten«,24 biete sich Lotmans in seinem späteren Werk artikulierter Ansatz an, »um das Ineinandergreifen strukturierender und entstrukturierender Tendenzen, ja sogar deren funktionale Verschränkung nachzuvollziehen.«25 Koschorkes Bezugspunkt in Lotmans Arbeiten im Rahmen seiner Theoriebildung ist deswegen die sogenannte »Semiosphäre«.26 Diese überwindet potenziell dichotomische Denkweisen, weil sie bestrebt ist, die Totalität semiotischer Kommunikation zu beschreiben, den Urgrund, aus dem sich erst zweipaarige Strukturmerkmale und Codes herausgliedern lassen.27 Sie trägt dabei noch ihr strukturalistisches Erbe in sich,28 was sich an der verhältnismäßig »übersichtlichen Bipolarität von Zentrum und Peripherie«29 (sowie der Teilung in »Inneres« und »Äußeres«) in Lotmans sphärischem Raummodell aufzeigen lässt. Diese Unterscheidungen sind noch dichotomisch, doch verwehrt Lotman sich vehement gegen den Versuch »einzelne Beefsteaks zusammen[zu]kleben«, um daraus eine »Kuh [zu] erhalten«.30 Dadurch lässt sich sein Gedankenmodell, wie Koschorke demonstriert, quasi ins Unendliche
Færeyinga saga sowie zur Untersuchung der Hervorbringung binärer Pole siehe meine Gedanken in Schmidt 2019. 23 Vgl. Koschorke 2013, S. 116–117. ›Normabweichung‹ etwa lässt sich grundsätzlich nur als Umkehrung oder Gegenbild einer bereits vor ihrer Untersuchung implizierten Regel verstehen. Im Zuge der Analyse bleibt somit das Normsystem notwendigerweise stets hintergründiger Bezugspunkt. Ein ähnliches Paradox umkreisen Versuche einer Definition etwa des Bösen, das sich nur in Abgrenzung zu einem bereits vordefinierten Guten fassen lässt, vgl. hierzu Schmidt/Hahn 2016, S. 16. 24 Koschorke 2013, S. 118. 25 Koschorke 2013, S. 119. 26 Zur Definition siehe Lotmann 1990, S. 288: Die Semiosphäre bezeichnet »ein bestimmtes semiotisches Kontinuum […], das mit bestimmten semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs, die sich auf unterschiedlichem Organisationsniveau befinden, angefüllt ist«. Lotman betrachtet damit den »gesamte[n] semiotische[n] Raum […] als einheitliche[n] Mechanismus (oder sogar Organismus)« und folgert: »Die Semiosphäre ist jener semiotische Raum, außerhalb dessen die Existenz von Semiosen unmöglich ist« (S. 290). Eine Semiosphäre (verstanden etwa als bestimmter Kulturraum) ist somit nach außen abgegrenzt. Zugleich findet Kommunikation zwischen verschiedenen Elementen im Inneren und mit anderen Semiosphären nach außen regelhaft statt. 27 Vgl. Lotman 1990, S. 288–290. Vgl. auch Koschorke 2013, S. 21–22. 28 Vgl. Koschorke 2013, S. 119. 29 Koschorke 2013, S. 133. 30 Lotman 1990, S. 290.
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multiplizieren und erweitern.31 Dem Semiosphären-Modell geht es nicht um die Herstellung von Unterscheidungen, sondern um die Dynamiken, die sich zwischen Zentrum und Peripherie und zwischen Innen- und Außenraum eines gegebenen semiotischen Systems abspielen. Gleichzeitig betont es den Nutzen bestimmter paarweiser Unterscheidungen in Funktionszusammenhängen.32 Diese sind sogar essenziell, indem sie Polarität erst stiften und Integrationskraft entfalten, und zwar durch wechselseitigen Verweis und Befestigung. Allerdings können sie gleichzeitig nur so lange »stabil« bleiben, »wie diese Bedingtheit verleugnet« wird.33 Doch liegt Lotmans Hauptaugenmerk unzweifelhaft auf dem Wechselspiel der inneren Komponenten der Semiosphäre miteinander und der Semiosphäre als Ganzes mit ihrem Außenbereich. Seine Grundbeschreibung lautet: »Die Semiosphäre ist gekennzeichnet durch die Merkmale der Getrenntheit von Äußerem und der Ungleichmäßigkeit im Innern.«34 Dabei ist zwar das Zentrum gegenüber der Peripherie dominant, oder versucht es jedenfalls zu sein, da die semiotische Definitionshoheit »zur Peripherie hin zunehmend amorpher« wird.35 Das Gleiche gilt für die Semiosphäre als Ganzes gegenüber ihrem Außenraum. Doch betrachtet Lotman diese Wechselbeziehungen nicht als statisch. Der Kontakt zwischen Semiosphäre und Außenraum ist ihm zufolge eine Semiotisierung, die sich der »Mechanismen der Übersetzung« bedient.36 Deshalb seien semiotische Grenzen »Zonen kultureller Zweisprachigkeit«.37 Sie seien entsprechend von Personen bevölkert, »die aufgrund einer besonderen Gabe (Zauberer) oder eines besonderen Tätigkeitsmerkmals (Schmied, Müller, Henker) zu beiden Welten gehören und gleichsam Übersetzer sind«.38 Weil dadurch »vom Standpunkt [des] immanenten Mechanismus aus zwei Sphären der Semiose vereint« werden, also etwas emergent Neues entsteht, sei die Grenze allerdings auch »der Bereich beschleunigter semiotischer Prozesse, die immer aktiver an der Peripherie der kulturellen Ökumene verlaufen, um von dort aus in die Kernstrukturen einzudringen und diese zu verdrängen«.39 Daraus ergibt sich das Prinzip der inneren Ungleichmäßigkeit der Semiosphäre, denn »[d]as, was vom Innenstandpunkt einer gegebenen Kultur wie eine äußere, nicht-semiotische Welt aussieht, kann sich vom Standpunkt eines äußeren Beobachters aus als ihre semiotische Peripherie darstellen«.40 Die Peripherie ist somit weniger strikt organisiert
31 Zur Diskussion der grundsätzlichen Erweiterbarkeit des Modells vgl. Koschorke 2013, S. 132–133. 32 Vgl. Lotman 1990, S. 290: »Diese beiden Begriffe […] sind […] formal schwer zu bestimmen, und ihre Anwendung hängt vom Beschreibungssystem ab, aber das ändert nichts […] daran, dass man sie auf intuitiver Ebene gut heraussondern kann.« 33 Koschorke 2013, S. 97–98; Zitat S. 97. 34 Lotman 1990, S. 290. 35 Lotman 1990, S. 294. 36 Lotman 1990, S. 292. 37 Lotman 1990, S. 292. 38 Lotman 1990, S. 292. 39 Beide Zitate Lotman 1990, S. 293. 40 Lotman 1990, S. 294.
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als das dominante Zentrum »mit [s]einer expliziten Organisation«, sie entzieht sich gewissermaßen seiner semiotischen Kontrolle.41 Entsprechend sind in Lotmans Modell Zentrum und Peripherie zwar ebenso verbunden wie Innen und Außen, jedoch ergibt sich daraus keine hierarchische Ordnung. Weder dominiert das Zentrum die Peripherie unbedingt und vollständig, noch der Innen- den Außenraum. Gleichzeitig kann die Peripherie keine vollständige Lösung vom Zentrum erlangen und der Außenraum nicht völlig unabhängig vom Innenraum existieren. Im Gegenteil befinden sich alle Komponenten in ständiger, wechselseitig bedingter Interaktion und Austausch, ohne ein eindeutiges Ziel oder Ergebnis zu erreichen. Den in Lotmans System dauerhaft notwendigen und allgegenwärtigen Kommunikationsakt selbst fasst er entsprechend ebenfalls dynamisch, als »Transformation einer Mitteilung im Prozeß ihrer Umkodierung«,42 und nicht als bloße Decodierung eines idealiter störungsfrei zu übermittelnden Inhalts. Sinnbildendes und Sinnauflösendes können in ihr nicht an sich unterschieden werden.43 Daraus folgt auch, dass im kommunikativen Prozess Störfaktoren einer reibungsfreien Übermittlung geradezu produziert werden müssen, um den Prozess selbst lebendig zu halten.44 Deshalb sind nicht allein »Leerstellen« vom Rezipienten sinnhaft aufzufüllen, sondern es bleibt immer ein nicht aufgehender und gerade deshalb funktional bedeutsamer Rest bei einem kommunikativen Akt übrig.45 Entfällt diese automatische Produktion kommunikativer Störfaktoren, wird Lotman zufolge Kommunikation selbst unnötig oder unmöglich.46 Ihre Unmöglichkeit ergibt sich, wenn Codierungsmechanismen nicht mehr greifen, während Kommunikation dann unnötig wird, wenn die inhärenten Störfaktoren beseitigt sind und alle Mitteilungen reibungsfrei übermittelt werden können, da alle Beteiligten denselben Code verwenden.47 Koschorke zufolge machen »[s]olche Beobachtungen […] Lotmans Ansatz auch narratologisch in höchstem Maße relevant, zumal im Hinblick auf Modellierungen der Welt- bzw. Kulturgrenze.«48 Er zählt zunächst vier Faktoren auf, die eine Anknüpfung an Lotman lohnenswert erscheinen lassen:49 »Erstens die Interpendenz
41 Zitat Lotman 1990, S. 294; vgl. insgesamt 294–295. Vgl. auch Koschorke 2013, S. 120–121 u. S. 125–126. 42 Lotman 1990, S. 297. 43 Vgl. Koschorke 2013, S. 122. 44 Vgl. Koschorke 2013, S. 123–125. 45 Vgl. Koschorke 2013, S. 124–125. 46 Vgl. Lotman 1974, S. 303. Vgl. auch Koschorke 2013, S. 123. 47 Dieses Modell der Überflüssigkeit von Kommunikation in Lotmans Ansicht entspricht weit verbreiteten Kommunikationsmodellen. Diese definieren gerade den Ausfall der Lotman’schen Kommunikation als Modellfall einer solchen. Jedoch kommt dies in Lotmans Gedanken nicht einer kommunikativen Mitteilung, sondern einer Befehlserteilung gleich. 48 Koschorke 2013, S. 121. 49 Koschorkes weitere Verwendung von Lotmans Modell ist weniger stark textanalytisch, sondern vielmehr kulturwissenschaftlich ausgelegt. Daher pluralisiert er das Modell zu einem gedanklich dreidimensionalen Geflecht kultureller Systematik weiter, vgl. Koschorke 2013, S. 128–134. Die sehr
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zwischen Zentrum und Peripherie«,50 da dieses Gedankenkonstrukt eben nicht von einseitiger Hierarchie ausgehe, zweitens das zugrundeliegende, offene Kommunikationsmodell, das Aussagen in Skalierungen von »Sinndichte« bemesse,51 drittens die Betonung des Informellen, Unordentlichen in Lotmans Entwürfen,52 und viertens schließlich ihre Konvergenz mit »der Raumgrammatik gegenwärtiger Machttheorien«,53 aus deren Sicht Herrschaftsdurchsetzung vor allem aus der »Überwindung des Raumwiderstandes« zu ihren peripheren Gebieten bestehe.54 Dieses Anliegen hat auch das Zentrum der Semiosphäre durchzusetzen. Lotmans Modell scheint daher insbesondere für Texte nutzbar, die sich um kulturelle und herrschaftliche Grenzräume situieren. Bereits Lotman selbst nimmt Bezug auf »die Situation des ›Grenzromans‹ […]. Überhaupt deckt ein Sujet vom Typus ›Romeo und Julia‹ über eine Liebesbeziehung, die zwei verfeindete Kulturräume vereinigt, deutlich das Wesen des ›Grenzmechanismus‹ auf.«55 Das Interesse des Semiosphären-Modells für Schwellen, Übergänge und Abstufungen sowie deren Funktionsweisen deckt sich also mit dem Grenzübertritt als Schlüsselelement von Lotmans Sujet-Begriff. Die Untermengen des »semantischen Feldes« der erzählten Welt, über deren meist topographisch konkretisierten Grenzverlauf hinweg sich Lotmans Sujet-Handlung konstituiert, müssen gegensätzlich konzipiert sein (etwa als Oppositionspaare von bekannt/fremd und somit auch innen/außen, deren Grenze konkretisiert wird als Übergang Haus/Wald).56 Unter Rückgriff auf das weiter gefasste Semiosphären-Modell ließen sich diese »semantischen Untermengen« theoretisch vorläufig auch als separate Semiosphären innerhalb des Textes verstehen, wobei der das Sujet tragende ›Held‹ der Handlung, der die semantische Grenze innerhalb der Diegese übertreten kann,57 einer jener liminalen Grenzgänger des Semiosphärenmodells wäre, der beiden semiotischen Welten zugehörig ist und sich als Übersetzer im Zeichenprozess betätigen kann.58 Ein Sujet als literarische Ereignisstruktur situiert sich, wenn man Lotmans beide Modelle kombinieren will, insofern stets an einem Grenzrelais zweier narrativer Räume oder Semiosphären in der
ähnliche Polysystemtheorie (Even-Zohar 1990) lässt er dabei bemerkenswerter Weise unberücksichtigt. 50 Koschorke 2013, S. 120. 51 Vgl. Koschorke 2013, S. 122. 52 Vgl. Koschorke 2013, S. 123. 53 Koschorke 2013, S. 125. Er verweist dabei auf die Arbeiten von Michael Mann 1986–2012, an dessen Verständnis von Macht die vorliegende Studie orientiert ist. Wie zu zeigen sein wird, eignet sich das Konzept der Semiosphäre in Folge dessen hervorragend, um der Frage der Macht im Text der Færeyinga saga nachgehen zu können. 54 Koschorke 2013, S. 126. 55 Lotman 1990, S. 293. 56 Vgl. Lotman 1993, S. 337–338; zur räumlichen Organisation der semantischen Gegensätze vgl. S. 311–329, bes. S. 313. 57 Vgl. Lotman 1993, S. 338–347, bes. S. 338 u. S. 341–343. 58 Vgl. Lotman 1990, S. 292.
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Diegese. Wichtig erscheint in diesem Modell eine unterschiedliche Semantisierung der beiden Erzählräume. In Kombination mit der von Koschorke herausgehobenen Deckungsgleichheit des Modells mit Theorien von Imperien und politischer Herrschaft scheint die Lotman’sche ›Grenzkunde‹ insofern bestens für die Analyse von Texten geeignet, deren Angelpunkte Grenzübertritte unterschiedlicher Herrschaftssemantiken in zwei verschiedenen Erzählräumen oder -ordnungen darstellen. Im Falle der Færeyinga saga geht es zwar nun gerade nicht, wie bei den von Lotman selbst als Erzählung des »Grenzmechanismus« angesprochenen ›Romeo und Julia‹, um eine transkulturelle Liebesbeziehung, sondern recht präzise um ihr Gegenteil, jedoch situiert sich das Sujet der Erzählung den bisherigen Forschungsergebnissen zufolge hauptsächlich an einer soziokulturellen Grenze zwischen den Herrschaftsräumen Norwegen und den Färöern. Beide sind, den oben vorgestellten Interpretationen folgend, als Handlungsräume des Plots unterschiedlich semantisiert im Sinne ihres symbolischen Bedeutungsgehalts als entgegengesetzte Soziokulturen. Dabei überschreitet insbesondere die Figur Sigmundr häufig die Grenze beider Räume und könnte ob seiner Zuordnung zum Raum Norwegen59 als Grenzfigur angesehen werden, die die Semantiken des Herrschaftsraums Norwegen in den Raum der Färöer zu übersetzen versucht. Die Ansicht der Färöer und Norwegens in der vorliegenden Forschung könnte demzufolge thesenhaft zusammengefasst werden als räumlich dargestellte Dichotomie zweier unterschiedlich semantisierter Semiosphären im Erzähltext. Diese Ansicht wird im Folgenden näher auf ihre Validität zu prüfen sein. Angesichts der Raumdichotomie zwischen einer nordischen Kolonie und dem Königreich Norwegen bietet sich darüber hinaus auch der Vergleich mit dem »Travel Pattern« an,60 das viele der Isländersagas und -þættir durchzieht, sowie eine vergleichende Untersuchung der Darstellung des Raumes ›Färöer‹ im altisländischen Textkorpus insgesamt. Letztere soll im Folgenden daher zunächst als Exkurs zwischengeschaltet werden, um die Raumdarstellung der Inseln in der Færeyinga saga zu kontrastieren.
2.2 Exkurs: Die Färöer im altnordischen Korpus Dass die Färöer in der Færeyinga saga eines der beiden Handlungszentren darstellen, ist insofern bemerkenswert, als dass die somit anzusetzenden Kontakte des mittelalterlichen Islands dorthin (und damit mündliche Quellen) anderweitig keinen großen Ausdruck in der altnordischen Literatur gefunden haben. Wenn im Folgenden versucht wird, einen exkurshaften Überblick über sämtliche Nennungen der Inseln in diesem Korpus zu bieten, geschieht dies mit zweifacher Zielsetzung: Zum
59 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 3; Glauser 1994, S. 115. 60 Der Ausdruck wurde von Lars Lönnroth geprägt, vgl. Lönnroth 1976, S. 71–76.
2.2 Exkurs: Die Färöer im altnordischen Korpus
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einen richtet sich die Fragestellung danach, welche Semantisierungen des Raumes ›Färöer‹ sich außerhalb der Færeyinga saga etablieren lassen, zum anderen zielt sie auf die Rückwirkung dieser Semantisierungen auf die Færeyinga saga ab. Gerade hinsichtlich des impliziten Vergleichs der Inseln mit Island, den die Forschung wiederholt angesetzt hat,61 verspricht ein solcher Blickwinkel Aufschlüsse über Intention und Wirkung des Textes. Insgesamt lassen sich fünf Hauptkontexte, in denen die Färöer Erwähnung finden, aus dem altnordischen Literaturkorpus herauspräparieren: Insbesondere die Entdeckung und Besiedelung von Island (Gruppe 1) sowie die Christianisierung des Nordens während der Regierungszeit Óláfr Tryggvasons (Gruppe 2) sind in diesem Zusammenhang verhältnismäßig prominent, daneben finden sich Angaben einer Tributabhängigkeit der Färöer vom norwegischen Reich (Gruppe 3) und außerdem kurze Erwähnungen im Kontext von Annaleneinträgen (Gruppe 4),62 die meist nur Schiffbrüche und die Berufungen von Bischöfen im späteren Hochmittelalter verzeichnen.63 Außerhalb dieser Zusammenhänge finden sich lediglich einige weitere kurze Erwähnungen, die sich keinem dieser vier spezifischen Kontexte zuordnen lassen (Gruppe 5). Funktional lassen sich diese insgesamt fünf Gruppen in zwei Oberkategorien einteilen: Die eine Tradition erwähnt die Färöer lediglich, zeigt damit die Reichweite des norwegischen Herrschaftsgebiets und deren Geschichte auf
61 Siehe etwa Skyum-Nielsen 1973, S. 13: »When the text says Faroes, the piloting makes the reader say Iceland at the same time«. 62 Die Annales Reseniani, S. 28 etwa verzeichnen für das Jahr 1269 nur kurz und knapp Erlendr til Færeyia, womit der berühmteste Bischof der Inseln in nur einer Wendung abgehandelt wird (zu Erlendur und seiner Bedeutung samt Quellenübersicht vgl. Jakobsen 1957). Eine ähnliche Angabe findet sich etwa in den Skálholts-Annaler für das Jahr 1212: Tod eines Bischof Sveinn (S. 182) und Wahl seines Nachfolgers 1216 (Sǫrkvir; S. 184). Diese Annalen verzeichnen für 1299 auch einen Schiffbruch vor den Inseln (Skálholts-Annaler, S. 199), ebenso wie für das Jahr 1356, in dem Bischof Gyrðr Ívarsson auf seinem Schiff mit dem Namen Ormurinn langi bei einem Schiffbruch auf den Färöern ertrinkt (Skálholts-Annaler, S. 215). Eine Bischofswahl für 1246 kennen auch die Annales regii, S. 132, für 1316 auch den Untergang des färöischen Bischofs Loðinn mitsamt Schiff (S. 151). Die Flateyjarannálar, S. 410 verzeichnen den Schiffbruch Bischof Árnis auf den Färöern für das Jahr 1365. 63 In eine ähnliche Kategorie fallen gelegentliche Erwähnungen der Färöer im Kontext von Biskupasögur wie der Árna saga biskups oder der Lárentíus saga biskups, die, wie die Annalen, verschiedene Schiffbrüche und Nominierungen, Namen oder Todesdaten von färöischen Bischöfen erwähnen. Auch die Sturlunga saga-Kompilation, genauer die Prestssaga Guðmundar góða, erwähnt die Weihe eines färöischen Bischofs an einer Stelle (für das Jahr 1163; c. 3, S. 122), ebenso wie ein färöischer Bischof am Hof des Königs in der Hákonar saga Hákonarsonar c. 88 (I, S. 257) verzeichnet wird. Alle diese Texte beziehen sich auf eine ›historische‹ Zeitebene lange nach der Zeit, von der die Færeyinga saga und die nachfolgend untersuchten Quellen berichten. Die Erwähnungen der Färöer dienen hier in erster Linie der Verzeichnung von Fakten, sie sind wenig mehr als eine bloße geographische Notiz. Aus diesem Grund entziehen sie sich dem hier verwendeten Zugang, dessen Interesse der literarischen Gestaltung der Färöer als Raum gilt. Im Folgenden wird daher nicht eigens auf diese Stellen eingegangen.
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und dient somit letztlich dem Ruhm der norwegischen Herrscher.64 Insbesondere aus einigen der nicht klar in die vier Hauptkontexte einteilbaren Erwähnungen (die sich zumeist in Isländersagas finden) und aus den Erwähnungen der Inseln im Zusammenhang mit den ersten Generationen der Siedler auf Island lässt sich aber gegebenenfalls eine Semantisierung der Färöer als literarisch verwertbarem Raum aus dem Korpus herausarbeiten. Obgleich die Færeyinga saga im Vergleich insbesondere zu den Isländersagas ein geringes Interesse für genealogische Angaben auszeichnet,65 beginnen beide Textredaktionen mit einem kurzen, prologartigen Kapitel über die Erstbesiedelung der Inseln. Dieses erfüllt auch die Funktion, den Hauptfiguren und ihrer gemeinsamen Familie, den Gǫtuskeggjar, eine bedeutende Abkunft zu bescheinigen.66 Zwar fällt
64 Diese Kategorie erfasst alle Nennungen der Färöer im Zusammenhang mit den norwegischen Königen. Diese Erwähnungen als Tributlande Norwegens oder als eines jener fünf Länder, die in der Regierungszeit Óláfr Tryggvasons christianisiert wurden, dienen wohl in erster Linie historischem Interesse und der Vermehrung des Ruhmes des norwegischen Reiches und seiner Könige. Dasselbe historisch-geographische Interesse liegt den Nennungen in den Annalen zugrunde. So feiern das Ágrip af Noregskonunga sǫgum c. 19, S. 22, die Fagrskinna c. 23, S. 145, die isländische Übersetzung der Óláfs saga Tryggvasonar eptir Odd munk Snorrason c. 44, S. 271 und auch die lateinische Historia Norwegie XVII, 31, S. 94 Óláfr Tryggvason als Missionar von mindestens fünf Ländern, unter denen immer auch die Färöer genannt werden. Damit kreieren sie einen Topos, auf den sich auch die Nennung der fünf Länder, die Óláfr in wenigen Wintern bekehrte, in Strophe 23 des Gedichts Noregskonunga tal in der Flateyjarbók beziehen könnte (Flat II, S. 522). Auch die Njáls saga greift in ihrem sogenannten Kristni þáttr auf diesen Topos zurück (Nj c. 100, S. 255). In allen Redaktionen des ersten Handlungsteils beschäftigt sich die Færeyinga saga ausgiebig mit dieser Erzähltradition. Dem Ruhm des anderen großen Königs von Norwegen, Óláfr Haraldssons des Heiligen, dient die Notiz der Fagrskinna, S. 181, dass er lagði undir sik fyrst Nóregskonunga ok tók skatta um Orkneyjar ok Hjaltland ok Færeyjar (als erster von Norwegens Königen sich unterwarf und Steuern nahm von den Orkneys und Shetlands und Färöern). Dass die Inseln regibus nostris certis temporibus (unseren Königen zu bestimmten Zeiten) tributpflichtig waren, erwähnt auch die Historia Norwegie, S. 68, ein Bezug zu Óláfr fehlt allerdings. Auch die Færeyinga saga und Snorris Óláfs saga helga in separater Form sowie in der Heimskringla thematisieren ausgiebig das Scheitern der Besteuerungspläne Óláfrs. 65 Vgl. Glauser 1994, S. 113. Dies äußert sich insbesondere in verschwiegenen Namen und einer fehlenden Stammtafel der Gǫtuskeggjar zu Ólǫf Þorsteinsdóttir, vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxcviii–cxcix. Zur Bedeutung verschwiegener Namen im narrativen Gefüge der Færeyinga saga siehe Kap. 3.2.1. 66 So wird nach dem Erstsiedler als nächstes die Familie der Auðr (oder Unnr) djúpúðga (hier allerdings -auðga, »die außerordentlich Reiche« – zur Bedeutung dieses Namenskompositums im Kontext der Saga vgl. Kap. 3.2.1) genannt, von der das Figurenensemble der Saga abstammt. Auðr ist zweifelslos eine der bedeutendsten Figuren der isländischen Frühgeschichte, eine Abstammung aus ihrem Geschlecht ist sicher als Adelung der Familie der Gǫtuskeggjar zu verstehen. Indessen wirkt Sarah Harlan-Haugheys Annahme, die Erwähnung von Auðr bereite »colonization at the end of the saga by Christianity« vor, indem sie eine »influence on the landscape of the Faroes« zurücklasse (HarlanHaughey 2015, S. 376) reichlich überinterpretiert. Tatsächlich wird von Auðr nichts weiter berichtet als ihr Namen und Cognomen sowie die Tatsache, dass sich die Gǫtuskeggjar auf sie zurückführen können. Ein weitergehender Einfluss, den sie welcher Art auch immer zurückließe, wird in ihrer
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diese im Vergleich zu den teils überaus weitschweifigen genealogischen Angaben der Isländersagas, die optional in eigenen ›norwegischen Prologen‹ ausgestaltet werden können,67 extrem sparsam aus, jedoch wirft sie einerseits bereits Probleme für historische Zugänge auf und etabliert andererseits ein Muster, dem im Folgenden noch näher nachzugehen ist. Dieses erste Kapitel lautet in der Flateyjarbók-Redaktion: Madr er nefnndr Grimr kamban hann bygde fystr Færeyiar a dỏgum Haralldz híns harfagra flydu firir hans of riki fíolde manna settuzst sumir j Færeyium ok bygdu þar en sumir leítudu til annarra eyde landa. Audr hín diupaudga for til Íslandz ok kom vid Færeyiar ok gipti þar Olofu dottur Þorstæins rauds ok er þadan komínn hinn mesti kynþattr Færeyínga er þeir kalla Gỏtu skeggía er bygdu j Austr ey.68 (Ein Mann wird Grímr kamban genannt. Er besiedelte als Erster die Färöer in den Tagen von Haraldr Schönhaar. Vor seiner Tyrannei floh eine Menge Leute; einige ließen sich auf den Färöern nieder und siedelten dort, manche aber versuchten, andere Ödlande zu erreichen. Auðr die Tiefreiche fuhr nach Island und kam auf die Färöer und verheiratete dort Ólǫf, die Tochter Þorsteinns des Roten, und daher stammt der vornehmste Familienzweig der Färinger, den sie Gassenbärte nennen, die die Ostinsel bewohnten.)
Der hier genannte Erstsiedler Grímr wird auch in der Landnámabók erwähnt, jedoch nicht als Erstsiedler auf den Färöern. Im Gegenteil ergibt sich aus dem Vergleich ein Problem in der Chronologie der Færeyinga saga, da Grímrs Enkel Þórólfr, der wegen seiner überschwänglichen Lobeshymnen auf die natürliche Beschaffenheit Islands den Beinamen smjǫr, »Butter« erhält,69 zu einem der Ur-Expeditionscorps auf Island unter Führung von Flóki Vilgerðarson gehört. Daraus wird einhellig abgeleitet, dass Grímr nicht erst »in den Tagen von Haraldr Schönhaar« die Färöer besiedelt haben
Erwähnung kaum greifbar. Überdies erscheinen gerade die im intertextuellen Vergleich immerhin möglichen Assoziationen Auðrs mit dem Christentum und auch der gälischen Welt der britischen Inseln auffällig heruntergespielt, indem sie mit keinem Wort erwähnt werden, vgl. hierzu Bonté 2014a, S. 125–135 (bes. S. 129 u. S. 135). Bedeutsam könnte hingegen die implizite Assoziation der Gǫtuskeggjar mit Auðrs Vater Ketill flatnefr sein, von dem die isländischen Texte berichten, dass er sich Haraldr hárfagri nicht unterordnen wollte und der sich daher in verschiedenen Konfigurationen zum faktischen Herrscher der nordbritischen Inseln aufschwingt. Dass die Herrscher der Färöer aus dessen Sippe stammen, ließe sich als stillschweigender Hinweis der Færeyinga saga verstehen, dass auch sie, allen voran Þrándr, sich norwegischer Macht nicht beugen, sondern eigene Reiche begründen werden. Dass Auðr auf ihrer Fahrt nach Island Station auf den Färöern macht und dort ihre Enkelin Ólǫf verheiratet, von der die Gǫtuskeggjar abstammen, stimmt darüber hinaus auch mit dem Rest der altnordischen Überlieferung überein. Beide Redaktionen der Landnámabók (S97/ H84, S. 138), die Laxdœla saga c. 4, S. 8 sowie die längere Version der Gísla saga (Y-Red. c. 1, S. 4) kennen diese Tradition. 67 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 89–90 zu Funktion und Sinn dieser Vorgeschichten. Beispiele wären etwa die ausführliche Konfliktvorgeschichte in zwei Generationen in der Egils saga, oder die Vorgeschichte der Gísla saga in ihrer längeren Redaktion. Auch ein substanzieller Teil der Vatnsdœla saga entwickelt sich noch als Vorgeschichte in Norwegen. 68 Fær, S. 3–4. 69 Ldn S5/H5, S. 38–39. Er erzählt nämlich, dort tropfe Butter von jedem Halm.
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kann.70 Bedeutender als diese historische Inkonsequenz erscheinen im literarischen Sinne aber die Verbindungen, die sich in der genannten Personengruppe ausmachen lassen. Über Þórólfr smjǫr heißt es in der Hauksbók-Redaktion der Landnámabók, er var son Þorsteins skrofa Grímssonar, þess er blótin var dauðr fyrir þokkasæld ok kallaðr kambann.71 Für Grímr selbst wird in der separaten Óláfs saga Tryggvasonar-Version der Færeyinga saga eine ausführlichere Genealogie angegeben, es heißt dort: aðr er nefndr Grimr kambann. hann var faðir Þorsteins er kallaðr var *skrofi [skrof in der ARedaktion]. hann var faðir Þorolfs smiỏrs fỏður Auðunar rotins f(ỏður) Einars f(ỏður) Eyiolfs Valgerdar s(onar) f(ỏður) Guþmundar hins rika ok Einars Þver æíngs. Moþir Einars Avðunar s(onar) var Helga d(ottir) Helga híns magra. Dottir þeirra Auðunar ok Helgu var Vigdis moþir Halla ens hvita f(ỏður) Orms f(ỏður) Gellis f(ỏður) Orms [fehlt in Redaktion D] f(ỏður) Halla f(ỏður) Þorgeirs f(ỏður) Þorvardar ok Ara f(ỏður) Guðmundar byskups.72 (Ein Mann wird Grimr kamban genannt. Er war der Vater Þorsteinns, der skrofi [skrof in der ARedaktion] genannt wurde. Er war der Vater Þórólfr Butters, des Vaters von Auðunn dem Verwesten, des Vaters Einarrs, des Vaters Eyjólfrs des Sohnes der Valgerðr, des Vaters Guðmundrs des Mächtigen und Einarrs vom Querfluss [Þverá]. Die Mutter Einarrs des Sohnes von Auðunn war Helga, die Tochter Helgis des Mageren. Die Tochter Auðunns und Helgas war Vigdís, die Mutter Hallis des Weißen, des Vaters von Ormr, dem Vater von Gellir, dem Vater von Ormr [fehlt in Redaktion D], dem Vater Hallis, des Vaters von Þorgeirr, dem Vater von Þorvarðr und Ari, dem Vater von Bischof Guðmundr.)
Diese Genealogie stimmt mit derjenigen überein, die die Landnámabók für die Abkömmlinge von Helgis des Mageren Tochter angibt, und auch mit der Genealogie, die die Njáls saga für Guðmundr inn ríki anführt.73 Der Beiname Grímrs, der allen diesen Überlieferungen gemein ist, und den die Hauksbók in Zusammenhang mit paganer Religionsausübung stellt, wird gemeinhin als gälischen Ursprungs aufgefasst und seine Bedeutung wird als »schief, lahm, schielend« übersetzt.74 Sein Sohn trägt den Beinamen skrofi oder skrof. Lind über70 Vgl. Ólafur Halldórsson 1961 und etwa Werner 1994, S. 124. Ólafur emendiert deshalb auf Basis der alternativen Textredaktion in der Óláfs saga Tryggvasonar ein trennendes en vor der Zeitangabe um Haraldr. 71 Ldn H19, S. 59 (war der Sohn Þorsteinn skrofi Grímssons, dessen, der nach seinem Tod aus Dankbarkeit kultisch verehrt und kambann genannt wurde). 72 Fær, S. 3 (Text A). 73 Ldn S232/H198, S. 266; Nj c. 113, S. 283–284. 74 Vgl. Lind 1920–1921, Sp. 185; Hermann Pálsson 1996, S. 178–179, basierend auf Marstander 1915, S. 150. Vgl. auch Fellows-Jensen 2005, S. 154. Lockwood 1977, S. 9–11 stellt im Widerspruch zu dieser Interpretation den Namen in Zusammenhang mit einem keltischen Ballspiel und meint, Grímr habe sich durch besonderes Geschick in diesem ausgezeichnet. Er verweist darauf, dass der Beiname wie etwa blóðǫx oder gráfeldr in nominaler und nicht adjektivischer Form verwendet ist (S. 10–11), und meint, eine physische Beeinträchtigung des Pioniers von so gravierender Art, dass sie Grund für einen, überdies keltischen, Beinamen gegeben habe, wäre »not little surprising« (S. 10) und daher auszuschließen. So bedeute der Name gerade nicht »lame fellow« (S. 9–10); stattdessen sei das »crooked thing«, das der Beiname umschreibe, als Schlagstock eines gälischen Ballspiels zu verstehen (S. 11). Dem ist entgegenzuhalten, dass zum einen der Name kamban nicht zwangsweise auf
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setzt dieses als schwedisch »skrävlare«,75 stellt es aber zu Nynorsk »skrove«. Dieses Wort bedeutet nach dem Nynorskordboka allerdings »laus, porøs masse« oder »noko som er slite eller skrøpeleg«.76 Auch Finnur Jónsson verweist in seiner Ausgabe der Njáls saga in einer Fußnote zur dortigen Genealogie des Guðmundr inn ríki auf ein norwegisches Wort »skroven« und vermutet, »der zuname bedeutet vielleicht ›leprosus‹.«77 Nach Þorsteinns Sohn Þórólfr ist der nächste Angehörige dieser Abstammungslinie Auðunn rotinn, »der Verweste«.78 All diese Beinamen scheinen in Richtung einer körperlichen Beeinträchtigung zu weisen, gegebenenfalls sogar in aufsteigender Intensität: Auf den (womöglich) Lahmen folgt der Lepröse, dessen Enkel dann der Verweste ist. Dies, ebenso wie die Tatsache, dass Grímr nach seinem Tod heidnische Opfergaben empfangen haben soll, weist in eine ›zwielichtige‹ Richtung – alle Beinamen deuten auf etwas wohl im physischen Sinne aus der Norm Fallendes. Das Element des Schiefen, Zersetzten verweist konzeptuell auf etwas Unstetes, womöglich Sprunghaftes, jedenfalls auf etwas nicht normativ Reguliertes und somit vielleicht auch auf etwas, das als bedrohlich oder sinister zu empfinden wäre. Aus einer christlichen Perspektive der Entstehungszeit der Landnámabók scheint allenfalls eine heidnische Totenverehrung nicht das zu sein, was man von einer Gründerfigur, und als solche figuriert Grímr ja in der Færeyinga saga, erwarten würde. Er, und potenziell auch seine Familie, sind durch das Beinamensmaterial mit Fremdheitspotenzial ausgestattet, sie weisen eine gewisse ›Otherness‹ auf.79 Diese ›Otherness‹ erstreckt sich auch auf die weiteren Verbindungen von Grímrs Familie. Auðunn heiratet Helga, die Tochter Helgis des Mageren, von dem die Landnámabók (in diesem Fall die Sturlubók) berichtet, er habe an Christus geglaubt, sich vor Seereisen aber dennoch an Þórr gewandt.80 Auch dies scheint in einem christlichen Verständnis nicht unproblematisch. Der bereits genannte Flóki Vilgerðarson, der Mann, den
eine Erlahmung zurückzuführen sein muss. »Der Schiefe« erscheint im Kontext des altnordischen Beinamensmaterials keineswegs als Absonderlichkeit. Auch wenn Lockwoods Beobachtung, dass es sich bei kamban nicht um eine reguläre altnordische Adjektivflexion handelt, nicht außer Acht gelassen werden darf, ließe sich diese Inkonsequenz sicherlich auch mit der Zweisprachigkeit als Ausgangspunkt des Beinamens erklären. Zum anderen wäre auch eine physische Beeinträchtigung in im hier diskutierten Zusammenhang nicht abwegig. 75 Lind 1920–1921, Sp. 133 (Prahlhans). 76 Hovdenak u. a. (Hrsg.) 1994, s. v. skrove (lockere, poröse Masse; etwas Strapaziertes oder Gebrechliches). 77 Finnur Jónsson (Hrsg.) 1908, S. 258 (Fn. 6 Abs. 3). Heusler (Übers.) 1914, S. 242 übersetzt »Schorf«. 78 Herausgeber Finnur Jónsson übersetzt allerdings überraschenderweise »haarlos«, siehe Finnur Jónsson (Hrsg.) 1908, S. 258 (Fn. 6 Abs. 1). Ebenso Heusler (Übers.) 1914, S. 242. 79 Als Überblick zum Konzept des ›Othering‹ vgl. Brons 2015. Das Konzept des ›Anderen‹ als Gegenstück des ›Selbst‹ hat die abendländische Philosophie seit über zwei Jahrhunderten geprägt und kann daher im vorliegenden Rahmen nicht näher vorgestellt werden. 80 Ldn S218, S. 250.
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Grímrs Enkel auf seine Erkundungsfahrt nach Island begleitet, ist ebenfalls eine aus christlicher Perspektive fragwürdige Figur, immerhin opfert er vor der Abreise seinen Raben, die ihm später den Weg nach Island weisen.81 Dennoch verbindet alle drei Figuren die Gemeinsamkeit, dass es sich bei ihnen um Gründerfiguren handelt – Grímr besiedelt jedenfalls nach dem Zeugnis der Færeyinga saga als erster die Färöer, Flóki ist einer der ursprünglichen Entdecker Islands, Helgi einer der berühmtesten, wichtigsten und ersten Siedler dort. Interessanterweise weisen fast alle der ursprünglichen Entdecker und Siedler Islands in der Hauksbók-Redaktion der Landnámabók Verbindungen zu den Färöern auf. So lebt Nadoddr, nach dem Zeugnis der Sturlubók der ursprüngliche Entdecker Islands und nach der Hauksbók wenigstens der zweite Besucher des Landes, in der Hauksbók-Redaktion vor seiner Fahrt nach Island dort und befindet sich auf dem Weg dorthin, als er vom Weg abkommt und nach Island gelangt:82 Naddoddr hét maðr, bróðir Øxna-Þóris, mágr Ǫlvis barnakarls; hann var víkingr mikill; af því staðfestisk hann í Færeyjum, at hann átti hvergi annars staðar vel fritt. Hann fór ór Nóregi ok vildi til eyjanna ok varð sæhafi til Garðarshólms […].83 (Ein Mann hieß Naddoddr, der Bruder von Ochsen-Þórir, der Schwager von Ǫlvir Kinderkerl; er war ein großer Wikinger; er siedelte sich deswegen auf den Färöern an, weil er nirgendwo anders wohl in Frieden sein konnte. Er fuhr von Norwegen aus und wollte zu den Inseln und wurde nach Garðarshólmr abgetrieben […].)
Flóki Vilgerðarson macht, ebenfalls nach dem Zeugnis der Landnámabók in Haukrs Version, auf seiner Reise nach Island auch Halt auf den Färöern. Es heißt dort: Flóki sigldi þaðan til Færeyja ok gipti þar dóttur sína; frá henni var Þróndr í Gǫtu.84 81 Ldn H5, S. 37 u. S. 39; die Sturlubók-Redaktion kennt ein Rabenopfer nicht. Dabei ist die in der Landnámabók oftmals sogar betonte heidnische Frömmigkeit der ersten Isländer nicht per se als problematisch dargestellt. Im Gegenteil scheinen die Darstellungen heidnischer Landnahmeriten die göttliche Gnade als Komponente des menschlichen Lebens hervorzuheben. Das Christentum ist den Landnehmern zum Großteil noch nicht bekannt, sodass sie sich an heidnische Gnadenmächte wenden müssen, selbst wenn diese im christlichen Verständnishorizont der Schreibezeit lediglich als unvollkommene Ersatzelemente implizit auf den christlichen Gott verweisen, vgl. hierzu Wellendorf 2010. Gleichzeitig lässt sich eine Tendenz mittelalterlicher Sagaschreiber nicht leugnen, die heidnischen Vorfahren durch Distanzierung von paganer Religionspraxis posthum zu exkulpieren, vgl. Lönnroth 1969 sowie Weber 2001b. Beide Verständnisebenen lassen sich vereinen: So wird heidnische Frömmigkeit zwar durchaus als Wert an sich akzeptiert – wohl, weil sie sich christlicher Rechtgläubigkeit und Gottvertrauen parallel stellen lässt – gleichzeitig wird eine graduelle Entwicklung vom Heidentum zum Christentum in die Landnámabók eingeschrieben, weil letztendlich nur der christliche Glaube zu wahrer Seligkeit führen kann, vgl. Egeler 2016, bes. S. 284–289. 82 Die Sturlubók formuliert insgesamt undeutlicher: Svá er sagt, at menn skyldu fara ór Nóregi til Færeyja; nefna sumir til Naddodd víking; en þá rak vestr í haf ok fundu þar land mikit (Ldn S3, S. 34; Es heißt, Leute sollten von Norwegen auf die Färöer fahren; einige nennen den Wikinger Naddoddr; aber sie trieben da in westlicher Richtung über das Meer ab und fanden ein großes Land). 83 Ldn H4, S. 35 u. S. 37. 84 Ldn H 5, S. 37 (Flóki segelte von dort aus auf die Färöer und verheiratete dort seine Tochter; von ihr stammte Þrándr í Gǫtu ab). Von einem Aufenthalt Flókis auf den Färöern weiß die Sturlubók
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Das hier umrissene Figurenensemble von isländischen Gründungsfiguren zeichnet sich insgesamt durch ein Moment der Normaberration aus, welches potenziell sinister aufgeladen sein könnte.85 Jedenfalls der wenig schmeichelhafte Beiname »der Schiefe« für Grímr und der heidnische Totenkult um ihn, ein offenbar implizierter Hang zur Problemhaftigkeit Naddoddrs im (geordneten?) Norwegen (wo er allem Anschein nach seine »Freiheit« nicht genießen kann) und ein Rabenopfer Flókis sowie dessen Verbindung zu Þrándr, dem berühmtesten, aber wohl problematischsten Bewohner der Färöer,86 statten alle drei Figuren mit einer Aura der Fremdheit aus, die zwar nicht negativ aufgefasst werden muss,87 wohl aber kann. Allen gemeinsam ist zudem eine Verbindung zum Raum der Färöer. Diese Verbindung könnte selbstverständlich als Resultat historischer Tatsachen verstanden werden, die Eingang in die hochmittelalterlichen Texte gefunden haben. Auch scheinen eine Entdeckung Islands von den Färöern aus und eine Ankunft der ersten Siedler über eine Zwischenstation dort aufgrund der Realgeographie des Nordatlantiks
nichts zu berichten. Diese Abstammungstradition um Þrándr ist sonst unbekannt. Seine Familie, die Gǫtuskeggjar, wird anderweitig auf Ólǫf Þorsteinsdóttir aus dem Gefolge von Auðr djúpúðga zurückgeführt, siehe oben (Fn. 66). Eine weitere divergierende Genealogie gibt das kurze Ævi Snorra goða in der Melabók an, in dem es heißt, die Familie ok mart annat stórmenni (S. 186; und viele andere berühmte Geschlechter) führten sich auf den Goden Snorri zurück. 85 Das Prinzip der Ordnung, ausgedrückt durch eine gegebene Norm, symbolisiert die rechtmäßige Form des Kosmos, sodass Normverstößen ein inhärentes Potenzial der Bedrohung und daher Unerwünschtheit innewohnt. Zugleich ist Normüberschreitung zwingende Realität menschlicher Existenz, da die von Menschen konstruierte Ordnung der Dinge nicht der Natur der Realität entsprechen muss, vgl. hierzu als theoretischen Überblick Brückmann 2016, bes. S. 392–398. Zur Konzeptionierung und Multivalenz von Normativität und Transgression im altnordischen Corpus vgl. auch Ruiter 2018. Dabei wohnt dem ungeordneten Chaos, insbesondere in literarisch-mythischen Weltentwürfen, Kreativität, Potenz und Macht inne (vgl. Mundal 1998; Brückmann 2016, S. 397–399), die gerade im Rahmen von Schöpfungsakten wirksam werden kann. So argumentiert Kößlinger 2022, dass sich im mythischrituellen Denken die kreative Potenz von Gründungsfiguren, im wahrsten Sinne des Wortes ›Schaffender‹, häufig in Form von physischer Delinquenz äußert, sei es im Altnordischen der einäugige Odin oder der körperlich deformierte Schmied Wieland, der antike monosandalos Jason und selbst Figuren der japanischen oder nordamerikanischen Mythologie. Hier ordnen sich die Gründungsfiguren der Landnámabók passgenau ein. Kößlingers Argumentation lässt sogar den Anschluss des anderweitig aus der Reihe von Grímrs Abstammung fallenden Þórólfr smjǫr zu: Die Milch als Grundlage der ihn bezeichnenden Butter erscheint im Mythos häufig als Nahrung der Toten und passt so in die Assoziationskette zwischen dem Gehlahmen oder Schiefen und dem »Verwesten«. Bedenkt man zusätzlich die über die Verbindung der Flóamanna saga letztlich auch in diesen Komplex reichende Konnotation von Milch mit dem ergi-Komplex im altnordischen Corpus (siehe Thoma 2021, S. 89–92), so zeichnet sich assoziativ auch Þórólfr aufgrund seines Beinamens durch die normbrechende Charakteristik seiner Linie aus. 86 Vgl. hierzu Kap. 3. 87 So ließe sich etwa auch Naddoddrs offenkundige Normwidrigkeit in Norwegen auch als Vorform der später typisch isländischen Freiheitsliebe verstehen (zum isländischen »Freiheitsmythos« vgl. Weber 2001a).
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nicht abwegig.88 Bemerkenswert ist jedoch eine recht exklusive Verzeichnung dieser räumlichen Zuordnung der genannten Figuren in der Hauksbók-Redaktion der Landnámabók, die in der Sturlubók so nicht enthalten ist. Wenn aber die Hauskbók all ihre ›verfremdeten‹ Gründerfiguren mit dem Raum der Färöer assoziiert, stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie dieser Raum in ihr anderweitig semantisiert wird. Die nächste Nennung der Färöer in der Hauksbók-Landnáma findet sich in einem Abschnitt, der die folgende Geschichte berichtet:89 Einarr Sigmundarson, der Landbesitzer des Gebiets von Laugarbrekka,90 verpachtet Land an Lón-Einarr. Ein toter Wal wird angeschwemmt, von dessen Fleisch Lón-Einarr sich ein Stück abschneidet. Ein Unwetter treibt den Kadaver allerdings auf das Land von Einarr Sigmundarson. LónEinarr fühlt sich betrogen und taldi fjǫlkynngi Hildigunnar því valda.91 Hildigunnr ist die Mutter Einarrs von Laugarbrekka. Lón-Einarr sucht nach dem verschwundenen Wal und findet Einarr Sigmundarson beim Zerlegen des Tieres vor, woraufhin er einen seiner Männer erschlägt, aber wegen der Übermacht gegen sich sogleich wieder flieht. Daraufhin nimmt Einarr Sigmundarson den Wal mit nach Hause. In Abwesenheit ihres Sohnes verklagt Lón-Einarr bald darauf Hildigunnr wegen Zauberei. Hierauf folgt ein eingeschobener Satz über Hildigunnrs Abstammung: Hon var dóttir Beinis Mássonar, Naddoddssonar ór Færeyjum.92 Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Einarrs scheinen sich Hildigunnrs zauberische Kräfte tatsächlich zu bestätigen: Als ihr Sohn zurückkehrt, gibt sie ihm einen magischen, neugemachten Gürtel, der Einarr unverwundbar macht. Einarr macht sich auf die Verfolgung Lón-Einarrs und es kommt zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf Lón-Einarr erschlagen wird. Im hier untersuchten Zusammenhang ist vor allem die färöisch-stämmige Herkunft Hildigunnrs von Interesse, obwohl der Abschnitt noch andere Merkwürdigkeiten aufweist.93 Diese Information über Hildigunnrs Abstammung passt zur oben vorskizzierten assoziativen Aufladung der Färöer im Kontext der
88 Auch Theodoricus monachus stellt die Entdeckung Islands in Zusammenhang mit einem Sturm bei den Färöern, siehe Theodorici monachi Historia de Antiquitate Regum Norwagiensium, S. 8. Vgl. auch Werner 1994, S. 124. Auffällig sind jedenfalls die sehr häufigen Nennungen der Färöer im Zusammenhang mit Islands Entdeckung, selbst wenn sie – wie etwa in der Egils saga c. 4, S. 12 oder der Haralds saga ins hárfagra in der Heimskringla (c. 19, S. 118) – so kurz und von sonstigem Kontext befreit sind, dass dem Raum der Färöer keine eigene Bedeutung zukommen kann. 89 Ldn H63, S. 105 u. S. 107. 90 Diesen Hof verbindet wiederum die Sturlubók-Redaktion mit Auðr, die das Landstück ihrem leysingi Vífill schenkt, von dem Guðríðr Þorbjarnardóttir abstammt, die berühmte Protagonistin der Vinlandsagas und Stammutter mehrerer Bischöfe, siehe Ldn S100, S. 141. 91 Ldn H 63, S. 107 (sagte, das sei durch Hildigunnrs Zauberkünste verursacht). 92 Ldn H63, S. 107 (Sie war die Tochter von Beinir Másson, der wiederum ein Sohn Naddoddrs von den Färöern war). Diese Angabe findet sich sonst nirgends wieder, vgl. die zugehörige Fußnote in der zitierten Ausgabe. 93 Wie etwa einen plötzlich erwähnten Troll, der auf der Felsformation Drangar seine Beine im Meer kühlt. Diesen passiert Einarr Sigmundarson auf seiner Verfolgung aber lediglich, ohne auf ihn zu achten, während der Troll eine Strophe spricht.
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Hauksbók: In ihr kommen die im weiteren Sinne problembehafteten Gründerfiguren94 ebenso von den Färöern wie eine Magierin – von der allerdings wiederum bedeutende genealogische Verbindungen ausgehen: Eine Urenkelin Hildigunnrs ist mit dem Sohn des Goden Snorri verheiratet.95 Im Zusammenspiel wird der Raum Färöer in der Hauksbók damit als ein Raum der (möglicherweise negativ aufgeladenen) Andersartigkeit zu semantisiert. Figuren, denen oder deren Abkömmlingen im Verlauf der isländischen Geschichte eine gewichtige Rolle zukommt, werden jedoch mit diesem Raum in Verbindung gebracht. Sie selbst zeichnen sich dabei durch eine Aura der Fremdheit aus. Dass diese Fremdheit räumlich mit den Färöern verbunden scheint, ermöglicht so die literarische ›Auslagerung‹ problematischer Inhalte aus dem heimischen Island im Zuge des identitätsstiftenden Diskurses, den die Landnámabók präsentiert.96 Wenn sich die isländischen Gründerfiguren durch eine Normaberration ausweisen, so scheint die Öffnung eines Raumes, der schon aufgrund der natürlichen Gegebenheiten nahe liegt, als literarisch äußerst fruchtbar verwertbare Option. Somit sind die möglichen Problematiken dieser Figurengruppe noch nicht zur Gänze Teil der isländischen Raumsemantik, sondern in einem Zwischenschritt nach außen verschoben. Gleichzeitig sind sie aber dennoch nicht allein Teil des Herkunftslandes aller dieser Figuren, Norwegen. Für eine spezifisch isländische Identitätskonstruktion im Text bedeutet dies schon in ihren Gründungsfiguren eine Abgrenzung vom norwegischen Reich und zugleich eine Abwälzung von deren Problemhaftigkeit als baldige Isländer. Dafür werden die entsprechenden Figuren vor ihrer Ankunft dort mit einem Raum verbunden, der beides nicht ist. Wenigstens assoziativ wird dieser als ein Raum etabliert, in dem offenbar andere Gegebenheiten und Regeln herrschen, und in den somit Inhalte verschoben werden können, die den Anschein des Zwielichtigen erwecken könnten.97 Eine Magierin stammt ebenso von dort wie einer der
94 Selbst Auðr, die als Musterbild einer Christin dargestellt ist (zu Auðrs Zeichnung siehe Ldn S97/ H84, S. 139–140), fällt gerade dadurch im Kontext ihrer überwiegend heidnischen Mitsiedler und auch ihrer später wieder ins Heidentum verfallenden Nachfahren aus der Norm. Sie zeichnet sich in technischer Betrachtung somit ebenfalls durch ein Moment der ›Otherness‹ aus. Die SturlubókRedaktion weist sie durch ihr Begräbnis í flœðarmáli, auf der Grenze zwischen Strand und Meer (Ldn S 110, S. 146–147), entsprechend auch als liminales Wesen aus. 95 Siehe Ldn H63, S. 109. Vielleicht mag diese Verbindung anklingen, wenn das Ævi Snorra goða die Gǫtuskeggjar auf den Färöern mit Snorri verbindet, vgl. oben. 96 Zur Funktion der Landnámabók als Gründungsdokument eines isländischen Selbstbildes durch die Festschreibung des Ursprungs der Isländer vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 82–86. 97 Wenigstens tentativ lässt sich in theoretischer Reflexion argumentieren, dass die Färöer in der Hauksbók somit eine »Heterotopie« im Sinne von Foucault 1992 darstellen. Sie dienen räumlich als »Gegenplatzierung« der realen, isländischen Welt, sind aber doch bedeutsam, weil sie »in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet« sind (beide Zitate Foucault 1992, S. 39): Ihre Bedeutung ergibt sich aus ihrer Funktion im Zuge der Etablierung der isländischen Gesellschaft. Zwar werden die Inseln nicht selbst beschrieben, sodass über ihre (mögliche) Eigengesetzlichkeit im Rahmen von Foucaults sechs Eigenschaften keine Aussagen getroffen werden können. Wenigstens in assoziativer Weise erfüllt die durch das Figurenensemble mit den Inseln verbundene Konzeption
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Entdecker Islands, der offenbar mit ihr verwandt ist und aus nicht genannten Gründen, implizit also wohl einer sozialen Unverträglichkeit, nirgendwo sonst seine Freiheit genießen kann. Vom seinen Raben opfernden Flóki stammt dann auch Þrándr ab, den die Færeyinga saga als großen Magier zeichnet.98 Für die isländische Identität, die durch diese Figuren entworfen wird und die Geschichte, die sie begründen, bedeutet diese literarische ›Auslagerung‹ eine Entlastung. Wenn Naddoddr als norwegischer Verbrecher zu verstehen ist, ist es enorm bedeutsam, dass er nicht direkt nach Island, sondern zunächst auf die Färöer flieht, und von dort aus erst in einem zweiten Schritt, nämlich zufällig (oder aufgrund einer glücklich-göttlichen Fügung?), Island erreicht. Seine implizite soziale Problematik wird durch die Zwischenstation auf den Färöern somit gewissermaßen ›abgepuffert‹ und von einer direkten Verbindung mit Island selbst abgetrennt.99 Zu beachten ist im Zuge dieser Interpretation auch, dass die Raumkonzeption der Hauksbók in hohem Maße mit dem genealogischen Interesse Haukr Erlendssons verbunden scheint. In seiner Komposition des Codex setzt er einen möglichst umfassenden geographischen Rahmen und verbindet sich selbst und seine Abstammungslinie dadurch mit fast der gesamten damals bekannten Welt. Dabei spielt er auch mit den semantischen Aufladungen eben jener Räume.100 In diesem Kontext scheint eine verstärkte Aufnahme
allerdings sehr wohl die erste und grundsätzlichste von Foucaults Voraussetzungen für eine Klassifizierung im Rahmen seines Konzepts: »In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm« (Foucault 1992, S. 40). 98 Siehe hierzu Kap. 3.6.3 u. Kap. 8.3.2. Auch wenn Þrándr in der Hauksbók keine Rolle spielt, spricht seine Nennung für sich und legt eine gewisse Prominenz nahe – wie sie sich auch in der isländischen Wendung »að verða einhverjum Þrándr í Götu« (jemandem zum Þrándr werden) niederschlägt, die Bjarni Einarsson 1945, S. XLIV, mit Verweis auf Finnur Jónsson 1912, S. 252–253 festhält. Diese kann sich letztlich nur aus der Kenntnis seiner Darstellung in der Færeyinga saga oder verwandten Traditionen speisen. Wenn seine Erwähnung auf diese Quellen und ihre Darstellung zurückgeführt werden kann, würde sie sich ins Bild der ›abseitigen‹ Konzeption der Färöer im Rahmen der Hauksbók einfügen. Ähnliches gilt für Grímr, dessen Ansiedlung auf den Färöern nur die Færeyinga saga verzeichnet. Im Kontext der Hauksbók scheint sie aufgrund der Chronologie dennoch denkbar – so sie vor der Zeit Haraldr hárfagris angesetzt wäre. Allerdings würde sie ins oben entworfene Bild der färöischen Raumsemantik passen: Eine Verschiebung des kultisch verehrten Grímr, immerhin Großvater eines der ersten Ankömmlinge auf Island, auf die Färöer würde gut mit deren Konzeption harmonieren. 99 Die narrative ›Auslagerung‹ der womöglich problematischen, heidnischen Figuren aus der Landnámabók fügt sich auch in das Bild des von Sverrir Jakobsson 2007, S. 32 attestierten Interesses der Hauksbók für heidnische Sitten. Neben der Beschränkung auf antiquarische Zugänge bei Aussparung zeitgenössischer Heiden wie der Sarazenen und dem üblichen Euhemerismus (wie Sverrir sie nennt, der »habitual antiquarian or euhemeristic manner« der Darstellung) wäre die narrative Sekludierung in eigenen Räumen als weitere Strategie der Reduktion heidnischer Problematiken aus christlicher Sicht ein untersuchenswerter Zugang zu Haukrs Darstellung nicht-christlicher Elemente. 100 Mit diesen Kompositionsprinzipien des Codex setzt sich eine unveröffentliche Berliner Masterarbeit von Phillipp Bailleu auseinander, die im Zuge der vorliegenden Studie leider nicht einzusehen war, aber deren Ergebnisse im Rahmen der 16. International Saga Conference präsentiert wurden (siehe Glauser u. a. [Hrsg.] 2015, S. 58). Zu den Konstruktionsprinzipien der Hauksbók und der
2.2 Exkurs: Die Färöer im altnordischen Korpus
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auch der Färöer in sein Werk schon aus geographischem Interesse und dem Wunsch nach Vollständigkeit sinnfällig. In der Tat dient die Erwähnung der Färöer abseits der Landnámabók mitunter der Verdeutlichung der Reichweite bestimmter Ereignisse. So schiebt etwa die Njáls saga nach ihrer Schilderung der Walküren-Erscheinung, die in der Forschung den Namen Darraðarljóð erhalten hat, die Bemerkung ein: Slíkan atburð bar fyrir Brand Gneistason í Færeyjum.101 Die Szene steht im direkten Zusammenhang mit der Schlacht von Cluaintarbh, der durch die vielen sie umgebenden Wunderzeichen wohl eine kosmische Bedeutung im Weltgeschehen beigemessen werden soll.102 Die Erwähnung der Färöer dient also vor allem der Illustrationsabsicht. Dennoch zeigen sich die Inseln hier in Verbindung mit ›wundersamen‹ Geschehnissen und sind somit auch mit der Aura einer gewissen ›Otherness‹ ausgestattet. Eine ähnliche Funktion erfüllen überdies auch die Erwähnungen der Inseln in der Þorláks saga byskups.103 Anhand dieser soll die den gesamten Norden umfassende Heiligkeit Þorlákrs demonstriert werden, indem sie auch auf den Färöern für seine Verehrer Wunder wirken kann. In diesem Kontext mag sich daneben noch eine weitere Erwähnung der Färöer in der Laxdœla saga abseits von Unnr djúpúðga verstehen lassen.104 Nach dem Tod Kjartans mahnt
dadurch erreichten Situierung Islands im »course of history in a spatial as well as a temporal sense« vgl. auch Sverrir Jakobsson 2007 (Zitat S. 28). 101 Nj, S. 459 (»Eine ähnliche Erscheinung hatte Brand Gneistisohn auf den Färöern«; Heller [Übers. u. hrsg.] 1982, S. 369). Zu den Darraðarljóð siehe als Überblick Uecker 1984 sowie Egeler 2011, bes. S. 57–60 zur dort zu Tage tretenden Walkürenvorstellung und Evaluierung der Forschungsperspektiven. 102 Ein Gedanke, der zuletzt von John Kennedy im Rahmen der 16. International Saga Conference formuliert wurde (siehe Glauser u. a. [Hrsg.] 2015, S. 162–163). Vgl. auch Lönnroth 1976, S. 91, 128– 129 u. S. 131. Lönnroth sieht die Funktion des Abschnitts vor allem im Aufzeigen des Wirkens eines göttlichen Willens im Weltgeschehen, das er durch den »Clerical Mind« des christlichen Sagaautors im Zuge eines »Augustinian Pattern« realisiert sieht. 103 Þorláks saga byskups Vers. A, S. 93: Nǫkkurum kaupmǫnnum ór Orkneyjum bægði stormr at Færeyjum þar sem fyrir var bjǫrg ok boðar, ok þótti ǫllum sér þar dauði víss. Þeir hétu á inn heilaga Þorlák byskup, ok gekk þegar veðrit um þeim í hagstœðan byr (Einige Kaufleute von den Orkneys trieb ein Sturm auf die Färöer, wo es Klippen und Riffe gab, und alle dachten, dort sei ihnen der Tod gewiss. Sie riefen den heiligen Bischof Þorlákr an, und sogleich schlug das Wetter um sie in eine günstige Brise um). Später werden die Inseln noch einmal eigens aufgezählt, um zu verdeutlichen, wo man überall die Wundertätigkeit des heiligen Þorlákr bezeugen könne (c. 83, S. 99). Eine ähnliche Szenerie wie die hier zitierte weist auch Redaktion B dieser Saga auf (Vers. B c. 115–117, S. 212), während die C-Redaktion die Färöer nur im Zuge der pannordischen Verehrung Þorlákrs aufzählt (Vers. C c. 69, S. 260). Eine vergleichbare Erwähnung im Zuge des Aufzeigens der panskandinavischen Bedeutsamkeit, Wirkmacht und Verehrung eines Heiligen finden die Färöer in der Orkneyinga saga c. 57, S. 216, in der durch den Besuch des Magnus-Heiligtums auf den Orkneys die verkrüppelte Hand eines Mannes von den Färöern geheilt wird. 104 Eine ähnliche Rolle spielen die Färöer letztendlich im Kontext der Eröffnungskapitel der Sverris saga c. 1–5, S. 4–9. Der spätere König wächst dort auf, sodass die Erwähnung des Archipels zunächst wenig bemerkenswert scheinen mag. Einige wenige Erwähnungen später stellen so auch lediglich historische Randnotizen dar. Prophetische Träume vermeintlich göttlicher Provenienz ver-
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Auðunn festargarmr, dass die Söhne des klugen Ósvífr bei einer Fahrt nach Norwegen durch Freunde Kjartans geächtet werden könnten. Daraufhin entgegnet Ósvífr, seine Söhne würden hohes Ansehen in Norwegen genießen, Auðunn selbst aber ein baldiges Ende finden. Tatsächlich verliert Auðunn kurz darauf sein Leben bei einem Schiffbruch vor den Färöern.105 In erster Linie illustriert diese Erzählung die überlegene Weisheit Ósvífrs durch die Richtigkeit seiner Vorhersage. Überdies sind Schiffbrüche ein gängiges (und realistisches) Motiv in Verbindung mit den Färöern. Jedoch ist wiederum auffällig, dass Ósvífrs zweites Gesicht sich gerade im Zusammenhang mit den Färöern erfüllt. Im Kontext der hier vorgestellten Szenen und Elemente aus dem Sagakorpus und der aus ihnen ableitbaren Semantik des Raumes der Färöer scheint diese Verortung nur folgerichtig. Selbst in den christlichen Kontexten außerhalb der Hauksbók weisen die Färöer eine Affinität zum Nicht-Alltäglichen auf; auch hier lässt sich das Mitschwingen einer ›andersartigen‹ Aufladung des Raumes im Subtext festhalten. Allenfalls ist bemerkenswert, dass die seltenen Erwähnungen der Färöer außerhalb der Überlieferung um die mächtigen norwegischen Könige durchweg in einem solchen Kontext stehen. Das mit den Färöern verbundene oder assoziierte Figurenarsenal weist außerhalb der Hauksbók zwar nicht dieselbe ›Zwielichtigkeit‹ oder mögliche Problemhaftigkeit auf. Dennoch ist auch eine positiv besetzte Wirkmächtigkeit christlicher Kräfte Zeichen einer gewissen ›Andersartigkeit‹. Das darunter zu Tage tretende Muster in Bezug auf die Färöer bleibt das gleiche: Das hauptsächliche Merkmal dieses Raumes scheint die mit ihm assoziierte ›Otherness‹ zu sein. Auch das Moment der ›Abwälzung‹ potenziell negativer Inhalte auf einen Raum außerhalb Islands, das die Raumsemantik der Färöer in der Hauksbók kennzeichnet, findet sich an einer Stelle im restlichen Korpus.106 In der Droplaugarsona saga flieht Droplaug, die Mutter der Hauptfiguren Helgi und Grímr, auf die Färöer, nachdem ihr Mann Hallsteinn von einem Knecht ermordet wurde, die Verantwortung für die Tat aber Helgi und Droplaug selbst in Form einer Klage auf dem Alþingi zugewiesen wird.107 Durch ihre Abreise entzieht sich Droplaug ungünstigen Folgen der drohen-
anlassen jedoch Sverrir überhaupt erst dazu, nach Norwegen zu reisen, indem sie ich eine glorreiche Zukunft als König versprechen – eine bemerkenswerte Tatsache, bedenkt man, dass dem Prolog nach der erste Teil des Textes vom König selbst kommissioniert worden sein soll und insofern historiographische Propaganda darstellt, vgl. jüngst Bandlien 2020. Auffällig ist im hier untersuchten Kontext jedoch, dass sich diese Träume erneut gerade auf den Färöern abspielen. 105 Laxdœla saga c. 51, S. 159. 106 Eine ähnlich auffällige Assoziation der Normwidrigkeit im Zuge eines primär historiographischen Textes erhalten die Färöer in einer Erwähnung in der in später dänischer Übersetzung erhaltenen Redaktion der Bǫglunga saga (L, S. 136). Dort heißt es, ein Mann namens Erling von den Färöern, der sich als Sohn Sverrirs ausgegeben habe, habe die Inseln verwüstet, ehe er nach Norwegen gekommen sei. Dort scheint er bei Sverrirs Tochter und ihrem Ehemann König Philipp ein im Kontrast auffällig ruhiges Leben zu führen, ehe er nach einem Aderlass stirbt. Auch hier ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen Erlings normgerechtem Verhalten in Norwegen und der offenbaren Regellosigkeit der Färöer. 107 Droplaugarsona saga c. 7, S. 154.
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den Anklage, sie wählt gleichsam das Exil schon vor der möglichen Ächtung ihres Sohnes. Dass sie auf die Färöer flieht bedeutet zwar in erster Linie lediglich, dass sie das Land verlässt und damit ihre Position in der isländischen Gesellschaft aufgibt. Sie verlegt die mit ihr behaftete Problematik also ins Außen des isländischen Raumes, wo sie für Island keine negativen Konsequenzen mehr entwickeln kann. Dass sie dies aber ausgerechnet mit dem Ziel der Färöer vollzieht, erscheint im hier untersuchten Kontext passend: Dieser Raum ist für die Auslagerung problembesetzter Inhalte prädestiniert. Droplaugs Handeln aktualisiert das gleiche Prinzip, das hinter Naddoddrs Ansiedlung auf den Inseln in der Hauksbók steht: Nirgends anders, oder jedenfalls nicht auf Island, kann sie die gleiche Freiheit genießen. Insgesamt zeigt sich der Raum ›Färöer‹ im Lichte der altnordischen Literatur also als ein Raum, der zwar nicht gänzlich unbekannt ist, der jedoch keineswegs mit einer Vorstellung von konkreter Realweltlichkeit verbunden scheint. Das einzig konkrete Wissen, das immer wieder zu Tage tritt, sind die schlechten Bedingungen für Schifffahrt um die Inseln, die Christianisierung und die Zugehörigkeit des Archipels zum norwegischen Einflussbereich.108 Dadurch erscheinen die Inseln als Imaginationsraum der isländischen Literatur gut geeignet. Ebenso wie Grönland und Vinland ist der nordatlantische Archipel aufgrund seiner Abgeschiedenheit und den offenbar wenigen in Island verbreiteten Informationen über ihn prädestiniert für eine imaginative Aufladung.109 Eine ähnliche Situation ergibt sich für die ebenfalls abgeschiedenen Hebriden, deren Bewohner in der Sagaliteratur häufig als disruptive Magier in Erscheinung treten.110 Caitlin Ellis hat hier jüngst für unterschiedliche 108 Ellis 2020, S. 4–6 argumentiert dafür, den Hintergrund dieser Bedeutungslosigkeit der Färöer historisch damit zu begründen, dass vor Ort weder ein herrschaftliches Zentrum existiert habe, das Attraktionskraft hätte entwickeln können, noch auf Island begehrenswerte Handelsware von den Schafs-Inseln habe importiert werden können. 109 Zur imaginativen Aufladung der Länder aus den Vinlandsagas im Zusammenspiel mit der isländischen Perspektive vgl. Böldl 2011, S. 186–192. 110 Als jüngste Übersicht zur Darstellung der Hebriden siehe Ellis 2020, S. 16–20. Zu bemerken wäre dabei, dass der Nennung sozial disruptiver Menschen von den Hebriden in der Laxdœla saga und Vatnsdœla saga eine so prominente Figur wie Kári Sölmundarson in der Njáls saga entgegensteht. Inwiefern sich aus diesen Quellen eine Daumenregel zur Darstellung der Hebriden und ihrer Bewohner etablieren ließe, scheint insofern eine Frage, der genauer nachzugehen wäre und die nicht, wie bei Ellis, lediglich vor einem historischen Hintergrund erklärt werden müsste. Auch Kári ist disruptiv insofern, als dass seine Geschichte insbesondere die einer erbarmungslosen Rache ist. Nichtsdestoweniger ist er der Protagonist des Schlussteils der Njála. Dass hier noch einige offene Fragen zu klären sind, beweisen auch differenziertere Betrachtungen zum vielbesprochenen Fróðárundr in der Eyrbyggja saga. Dieses wird in der Regel der ebenfalls von den Hebriden stammenden Þórgunna zugeschrieben. Gerade eine raumsemantische Lesart eröffnet hier jedoch ganz neue Perspektiven, wie Levin 2016 beweist: Es wird dann möglich, Þórgunna nicht mehr verkürzend als Auslöser der unheimlichen Ereignisse benennen zu müssen, obwohl sie als erstes dem Blutregen zum Opfer fällt und ihre Begräbnisgesellschaft mit Essen versorgt. Hingegen kann als Lösung der offenen Fragen bisheriger Interpretationen die periphäre Lage Fróðás innerhalb der vom Goden Snorri beherrschten Semiosphäre, ausgehend von seinem Hof Helgafell, ins Spiel gebracht werden. Auch an den Rändern seiner Herrschaft muss der Gode durch die Entsendung eines Priesters und
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»Degrees of Separation« in der Darstellung nordisch besiedelter Gebiete der nordatlantisch-britischen, skandinavischen Siedlungsdiaspora argumentiert, die sie durch historische Kontaktsituationen, ethnische Zusammensetzungen und Auffassungen dieser Siedlungsorte bedingt sieht.111 Der Vergleich mit den Hebriden eröffnet allerdings auch andere Perspektiven: Obwohl beide Inselgruppen in der altnordischen Literatur spürbar ›anders‹ dargestellt werden als das ›Heimatland‹ Island und das ›Mutterland‹ Norwegen, sind sie doch nicht völlig fremd, wie dies etwa Vinland mit seinen Wundervölkern ist. Neben historischen Fakten könnten als Erklärung dieser Darstellung auch geographische Gegebenheiten ins Spiel gebracht werden. Sowohl Hebriden als auch Färöer sind, anders als das ein-insulare Island, abgelegene Archipele. Schon geographisch sind sie damit weniger einfach zu ›fassen‹ und nicht zuletzt schwieriger zugänglich, vor allem im Falle der strömungsumtosten Färöer. Ein so abgeschiedenes Konglomerat schwierig zugänglicher Orte wie diese beiden Archipele, mit denen kein regulärer Handelskontakt stattfindet, zieht eine imaginativ liminale Aufladung geradezu an. Insgesamt kommt den Färöern daher kein Interesse aus sich selbst heraus zu, sondern sie gewinnen ihre Rolle im impliziten Bezug zu Island. Wichtig werden sie so im Kontext der Entdeckung Islands, oder zur Anzeige der Bedeutsamkeit von Ereignissen, die möglichst den gesamten Norden – und dadurch ›sogar‹ die Färöer – umfassen. Auch die wichtigste und einzig namentlich bekannte färöische Familie, die Gǫtuskeggjar, wird auf bedeutende isländische Figuren zurückgeführt und mit diesen verbunden, erhält ihre Bedeutung also auch in Bezug auf Island. Dabei zeigt der von den Färöern dargestellte Raum eine Affinität zum aus der Norm Fallenden – mit ihm können bevorzugt Elemente assoziiert oder in ihn verschoben werden, die in einem isländischen Kontext problembesetzt sein können.112 Diese literarische Fiktion dient dem Entwurf einer isländischen Identität: Indem problematische Elemente nach außen hin entfernt werden, bleibt die in den Texten entworfene isländische Gesellschaft stabil, ausbalanciert und rein. Aufgrund ihrer offenbar aus sich selbst heraus für ein isländisches Publikum uninteressanten Existenz bieten sich die Färöer im Zuge dessen wohl vor allem als Land der ›Andersartigkeit‹ an, weil sie zwar nicht Island, gleichzeitig aber auch nicht essenziell anders sind. Zudem sind die Färöer mit dem gemeinsamen Mutterland Norwegen zwar verbunden, nicht aber mit ihm identisch, sodass die isländische Identität auch, gewissermaßen sogar
die Abhaltung eines »Türgerichts« (dýradómr) zugleich weltliches und spirtuelles Wohlergehen der Gesellschaft garantieren können, um die ›kosmische‹ Unsicherheit in Folge der kürzlichen Bekehrung, die sich im Fróðárundr äußert, bändigen zu können. 111 Siehe Ellis 2020. 112 Bemerkenswert ist, dass sich dieser Befund bis in die neuere isländische Literatur verfolgen lässt, wie Turið Sigurðardóttir 2005 zeigt: Von Interesse sind die Färöer in der isländischen Literatur lediglich dann, wenn sie im impliziten Vergleich mit Island stehen. Dabei werden sie mit einer Affinität zur ›Andersartigkeit‹ imaginiert und sind doch so ähnlich, dass sie Bedeutsamkeit für das isländische Selbstbild erlangen können.
2.3 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga
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doppelt, von Norwegen distanziert erscheint. Die Affinität des Archipels zum ›Andersartigen‹ schlägt sich sodann auch darin nieder, dass die wenigen übrigen Erwähnungen mit dem Wirken im weiteren Sinne übermenschlicher Mächte verbunden werden.
2.3 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga Der obige Exkurs zur Darstellung der Färöer legt nahe, ihre wenigen Erwähnungen vor dem Hintergrund eines spezifisch isländischen Identitätsdiskurses in den altnordischen Texten sinnfällig zu machen. Die Inseln weisen Züge einer »Heterotopie« auf: Ihre Bedeutung erhalten sie durch den impliziten Rückbezug auf die schreibende Gesellschaft.113 Angesichts dessen sowie der impliziten Gleichsetzung Islands und der Färöer in der Færeyinga saga laut bisheriger Forschung,114 ist es angemessen, zunächst im Überblick diesem isländischen Identitätsdiskurs nachzuspüren, ehe die Raumkonzepte der Saga selbst untersucht werden. Immer wieder wurde betont, dass sich das isländische Verhältnis zum norwegischen Reich als zentraler Parameter der Entwicklung eines isländischen Selbstbildes erweise. Im vorliegenden Rahmen ist eine Aufarbeitung sämtlicher Strategien der literarischen Selbstidentifikation Islands indes weder möglich noch angestrebt.115 Stattdessen soll das Gewicht der Darstellung auf die räumliche Ausrichtung dieses Selbstbildes entfallen, auch unter Rückbezug auf die Darstellung der Färöer.
2.3.1 Island und Norwegen – Die Färöer und Island Die Sagaliteratur zeichnet sich durch eine umfangreiche Geographie ihrer Handlungsorte aus, die fast die gesamte zum Entstehungszeitpunkt bekannte Welt abdeckt,116 und mit Vinland sogar mehr als das. Dabei lassen sich ihrer Raumkonzeption konzentrische Kreise unterstellen: Im Zentrum dieses Weltbildes liegt das ›Selbst‹, Island,117 und je weiter sich eine Erzählung von diesem Zentrum entfernt,
113 Vgl. Foucault 1992 und oben (Fn. 97). 114 Besonders deutlich werden hier Skyum-Nielsen 1973; Bonté 2014a; Bonté 2014b. 115 Dies würde neben diversen inhaltlichen Punkten insbesondere die diachrone Perspektive der Isländersagas als literarische Bewältigungen der eigenen Vergangenheit umfassen (vgl. etwa Böldl 2005, S. 66), die – zumal im Zuge der Historizitätsdiskussion – in der anthropologischen Sagaforschung wiederholt ausführlich diskutiert wurde (vgl. als Überblick hierzu Böldl 2005, S. 27–70). 116 Vgl. auch Mundal 1997, S. 479. 117 Die Identifizierung des zentralen ›Selbst‹ mit Island versteht sich als Aussage allein über die literarisch-narrative Darstellung der Isländersagas und möchte keine Aussage über das ›reale‹ geographische Weltbild des alten Island treffen. So zeigen etwa Richtungsangaben räumlicher Orientierung in der altnordischen Literatur ein »Norwegen-zentriertes« Weltbild, siehe Jackson/Podossinov 1997; Jackson 1998–2001 (die sich allerdings hauptsächlich mit den Konungasögur auseinandersetzen). Vgl. auch Mundal 1997, S. 479.
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umso durchlässiger wird sie für aus moderner Perspektive ›phantasievolle‹ Elemente.118 So werden etwa ›Wundervölker‹119 (deren ontologische Existenz in den Texten allerdings nie in Zweifel steht 120) an den Grenzen der bekannten Welt situiert. Wenn es der Plotverlauf verlangt, zeichnen sich die Isländersagas dagegen durch eine sehr detaillierte und genaue, ›realistische‹ Topographie Islands aus.121 Den weitaus größten Prozentsatz der Angaben über nicht-isländische Geo- oder Topographie nimmt das Königreich Norwegen ein. Norwegen spielt als ursprüngliches Mutterland der Isländer eine konstante und immens bedeutsame Rolle in den diversen Entwürfen isländischer Identität.122 Isländische Landnahmeerzählungen fungieren als Ursprungspunkte dieser Identität, als Anfangssetzungen des Narrativs der isländischen Kultur, ähnlich den Ursprungsmythen biblischer und anderer Völker.123 Schon mit den Berichten dieser Landnahme entstehen Topoi von isländischem Freiheitswillen und Selbstbestimmtheit in Abgrenzung zu Norwegen und insbesondere zu seinen Königen und deren machtpolitischen Monopolisierungsbemühungen.124 Deren Hintergrund wird gemeinhin im drohenden oder bereits erfolgten Unabhängigkeitsverlust Islands angesichts der sozialen Ungleichgewichtungen im 13. Jahrhundert ausgemacht.125 Erste Kristallisationsfigur 118 Vgl. Lönnroth 1976, S. 57–58; Vídalín 2012, S. 10–16. 119 Vgl. Simek 1990, S. 229–249. 120 Vgl. hierzu Vídalín 2012. Wie bereits Simek 1990, S. 237–238 aufzeigt, wird in entsprechenden kosmographischen Werken des alten Island auch die kontinentale Debatte über Herkunft und Stellung der Wunderwesen im göttlichen Weltentwurf nicht weitergeführt. 121 Vgl. Hoggart 2010, bes. [S. 1]: »[F]amily sagas locate past deeds in a present landscape«. Deshalb könnten vergangene Ereignisse detailliert anhand der isländischen Landschaft nachvollzogen werden. Vgl. auch Meulengracht Sørensen 1993, S. 91: »Sagaerne foregik i det landskab og den topografi, som islændingene kendte« (Die Sagas spielten in der Landschaft und der Topographie, die die Isländer kannten), und weiter: »For det oprindelige publikum må islændingesagaernes historiske realisme i høj grad have beroed på, at den fysiske scene var umiddelbart nærværende« (Für das ursprüngliche Publikum muss der historische Realismus der Isländersagas in hohem Maße darauf beruht haben, dass die physische Bühne unmittelbar in der Nähe war). 122 So nicht zuletzt auch in modernen Selbstbildern isländischer Forscher. Wohl auch deswegen handelt es sich bei dieser Thematik um eines der am intensivsten beforschten Felder der altnordischen Literatur, obwohl nichtsdestotrotz »[k]ings did as a rule not maintain a central role in the Family Sagas« (Ármann Jakobsson 2002a, S. 154). Vgl. hierzu auch Boulhosa 2005, S. 86 u. S. 208– 209; bes. Ármann Jakobsson 1995, S. 171. In drastischen Beispielen illustriert Ármann die Abqualifikation Hákon Hákonarsons, unter dessen Ägide die isländische Freistaatszeit ihr Ende nahm, in der isländischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts (Ármann Jakobsson 1995, S. 167–171). Diese steht in bemerkenswertem Kontrast zu den lobenden Worten der zeitgenössischen Quellen (vgl. Ármann Jakobsson 1995, S. 184–185, inklusive einer Betonung von deren eigener Befangenheit). 123 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 79. 124 Weber 2001a; Weber 2001b zufolge werden diese Selbst- und Fremdbilder gerade im Rahmen von Christianisierungserzählungen deutlich bzw. äußern sich in der Darstellung schon vorchristlicher Pietät und christlicher Tradition in und sogar noch vor der Landnahmezeit. Diese Erzähltraditionen sieht Weber als prägend für den »Freiheitsmythos« als Grundlage der isländischen Identität an. 125 Vgl. etwa Vésteinn Ólason 2011, S. 202–219; Kreutzer 1994, S. 443–444. Vgl. auch Meulengracht Sørensen 1993, S. 90 zu den Auswirkungen des Unabhängigkeitsverlustes auf die Darstellung und
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dieser Toposbildung ist Haraldr hárfagri, unter dessen ›Reichseinigung‹ die ursprüngliche Besiedelung Islands verortet wird. Aus seiner Ausdehnung einheitlicher Königsherrschaft über ganz Norwegen entwickelt sich in den isländischen Quellen schnell das Schlagwort seines ofríki – der Tyrannei – das in verschiedenen Texten ausgespielt wird. Diese Erzähltradition hat die Forschung oft dazu veranlasst, dem gesamten Genre der Isländersagas eine überwiegend negative Darstellung Haraldrs,126 und, im zweiten Schritt, insgesamt eine anti-monarchistische Tendenz zu unterstellen.127 Demnach werde in den Isländersagas das norwegische Königshaus und die von ihm dominierte Gesellschaftsstruktur als diametrales Gegenbild der isländischen Gesellschaft entworfen. Island sei das Land der ausbalancierten Gesellschaft freier Großbauern, zentriert um eine soziale Ausgleichsökonomie,128 während Norwegen ein hierarchisch organisiertes Königtum, arrangiert um den König als Zentralinstanz, versinnbildliche. Diese rechtliche Zweiteilung resultiere räumlich in einer Dichotomie zwischen dem Innen- bzw. Heimatland Island und einem norwegischen Außenraum, dem eine Semantik des Fremden und Gefahrvollen anhafte.129 Produktivität der Isländersagas. Zur elementaren Bedeutung erzählerischer Anfänge (wie sie durch die Landnahmeerzählungen gesetzt werden) insbesondere in sozial relevanten und womöglich diskursiv umkämpften Situationen vgl. Koschorke 2013, S. 62–63. 126 Vgl. etwa Mundal 1997, S. 482; das Wort »Tyrannei« zur Beschreibung der Darstellung fällt auf S. 484. 127 So Weber 2001a, S. 101 (Fn. 9): »The Icelandic family saga of the 13th and fourteenth centuries display a decidedly antimonarchical and aristocratic point of view (cf. Egils saga Skallagrímssonar) by representing Icelandic aristocrats as the equals of their royal antagonists with regard to morale and intellect«. »A form of resistance« gegenüber dem norwegischen Königshaus erkennt auch Anderson 1999, S. 932, ebenso Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi. Diese Ansicht liegt – meist allerdings nur implizit – bis heute der Forschungsmeinung zugrunde, die Island als Inbegriff eines ›freien Bauernstaates‹ ansieht. Die Freiheitswerte und Selbstbestimmtheit, die die Isländer demnach zur Schau stellen, sind mit einer königstreuen Einstellung per se unvereinbar. Vgl. typischerweise schon Ker 1897, S. 66–71, mit seinem Echo noch in Turner 1971, S. 355 (vgl. Böldl 2005, S. 28–29). Auch Meulengracht Sørensen 1977, S. 149–150 setzt die Isländersagas implizit mit Widerstand gegen das Königshaus Norwegens gleich (auch wenn er diese Übersimplifizierung eingesteht, S. 150: »Det er naturligvis en forenkling«), wenn er ihre Autoren und Auftraggeber gerade nicht mit den Familien der isländischen Oberschicht gleichsetzt, »der i ide og praksis havde knyttet Island til Norge« (S. 149; die in Idee und Tat Island an Norwegen geknüpft hatten). Noch in Meulengracht Sørensen 1993, S. 121–147 zieht er seine Diskussion des Verhältnisses von Island und Norwegen als Hintergrundfolie der Sagaentstehung am Beispiel der Egils saga und ihrem frustrierten Verhältnis zur norwegischen Königsmacht auf. In dieselbe Richtung interpretiert Kirsten Hastrup 1990a, wenn sie den isländischen ›Freistaat‹ als literarisches Produkt auffasst, das eine »consciousness of the Icelandic prestations« (S. 100) hervorrufen sollte, im Angesicht der Unmöglichkeit politischer Unabhängigkeit Islands im 13. Jahrhundert. 128 So etwa Meulengracht Sørensen 1993. Die literarische Fiktion der klassenlosen Gesellschaft definiert ihm zufolge das Ideal von Ehrerwerb, -herausforderung und -verteidigung und sozialem Ausgleich als Zentralachse der isländischen Erzählungen. 129 Vgl. Mundal 1997, S. 485–486 zur Rolle Norwegens als Land des Fremden. Berserker etwa sind den Quellen nach ein spezifisch norwegisches Phänomen. Auf Island kommen sie selten überhaupt, und wenn dann nur als disruptive soziale Unruhestifter vor, vgl. Merkelbach 2019, S. 101–123 u.
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Nur die besten Isländer können sich dort beweisen, indem sie Proben ihrer Fähigkeiten meistern, etwa den Kampf gegen Unholde. Das Motiv der útanferð als einer Art initiatorischer Bewährungsprobe130 zwingt deshalb junge Isländer in ein ›anderes‹ norwegisches Außen, um dadurch auch die isländische Gesellschaft nicht zu gefährden, in der Ehre nur um den Preis des Konflikts errungen werden kann.131 Im Rahmen dieses »Travel Pattern« wird Norwegen als ein liminaler Raum ausgestaltet, der nach anderen Prinzipien funktioniert als das heimische Island. Dessen Werte bestätige aber die Reise erst, indem der Aufenthalt am Königshof letztendlich immer »freie« Isländer begünstige, so die gängige Forschungsmeinung. Diese stellen damit ihre Tauglichkeit und Integrität als Voraussetzung der vollwertigen Gesellschaftsmitgliedschaft auf Island unter Beweis.132 Die räumliche Stilisierung Islands als eigener, gegen Norwegen abgegrenzter Bereich schlägt sich sogar in der Terminologie räumlicher Orientierung in der altnordischen Literatur nieder. Das dort erkennbare Richtungssystem selbst lässt sich als »Norwegen-zentriert« beschreiben. So bezieht sich etwa der terminus technicus vestmaðr auf eine Person irischer (oder weniger spezifisch hiberno-britischer) Herkunft,133 obwohl die britischen Inseln (süd-)östlich von Island im Atlantik liegen. Die eigene geographische Lage definieren die Isländer hingegen als út, also außerhalb des ursprünglichen Orientierungssystems gelegen;
S. 155–167; S. 183–189 zur sozialen Problematik und Reaktionen auf die Berserker. Vgl. auch Samson 2011, S. 197–226. 130 Zum Motiv siehe grundlegend Lönnroth 1976, S. 71–76. Zum Initiationsmoment vgl. Larrington 2008, bes. S. 151–153, die sich explizit auf Turner bezieht und konstatiert: »Turner’s analysis of such rites as consisting in separation, a liminal stage, and reincorporation is suggestive […] for saga literature […]. The first independent journey which the saga hero makes […] might well be regarded as incorporating rite-of-passage elements« (S. 152). Ebenso Clunies Ross 1997, S. 554, die »a rite of passage […] frequently in the course of an expedition into unfamiliar territory« ausmacht. Vgl. auch Meulengracht Sørensen 1993, S. 220; Lönnroth 1976, S. 74: »Gunnarr has passed through his initiation stage […]«. 131 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 220–225; zur Unterschiedlichkeit der Ehr- und Prestigesysteme in Island und Norwegen siehe am Beispiel der Egils saga S. 129–143. Dasselbe Muster der prekären Position in der Heimat zeigt sich in den Skaldensagas, wobei sich in diesen in der Regel eine Spannung zwischen einem erfolgreichen Hofbesuch und den daraus folgenden sozialen, insbesondere Liebes-, Problematiken auf Island ergibt, vgl. ebd. sowie Whaley 2001. Skaldische Dichtkunst als Fürstenpreis bedingt andererseits die Anbindung von Skalden an Höfe, vgl. Poole 2005, S. 264–265. 132 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 220–226. Erheblich ausdifferenziert wird das Verständnis der Bestätigung der Isländer und ihrer Werte am Königshof, wie es etwa Harris 1972 und Harris 1976 kennzeichnet, bei Boulhosa 2005, wie in Kap. 2.3.3, näher auszuführen. Dasselbe Strukturschema variieren im Übrigen auch die Âventiuren des deutschen höfischen Romans, vgl. Schulz 2015, S. 127– 129, S. 243–244 u. S. 293–294; zur höfischen Raum-Zeit-Organisation S. 292–321. 133 Vgl. Jackson 1998–2001, S. 76–77, vgl. auch Jackson 2017. Im Zentrum der vierteiligen Welteinteilung (in Norden, Süden, Osten und Westen) liegen demzufolge das nördliche Dänemark und das südliche Norwegen, die jeweilige Situierung eines Landes innerhalb der vier Weltteile wird von hier aus gedacht. Vgl. auch Mundal 1997, S. 479.
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sie erschaffen sich eine eigene »Island-zentrierte« Weltdarstellung.134 Diese lexikalische Selbstverortung denkt das Verhältnis von Innen und Außen zwar umgekehrt, doch widerspricht sie nicht der literarischen Raumdarstellung, wie sie die Isländersagas entwerfen. In dieser stellt Norwegen die räumliche Gegenplatzierung, das fremde Äußere dar. Wenn Norwegen so in den Isländersagas als Raum konzipiert wird, der soziokulturell das Gegenbild Islands darstellt und der literarisch entsprechend als fremder Außenraum verwertet wird, in dem Isländer sich und ihre Besonderheit beweisen können, lässt sich unterstellen, dass die Texte zwei verschiedene Semiosphären im Sinne Jurij Lotmans zu entwerfen bestrebt sind. Die isländische Semiosphäre wird dabei beherrscht von den Prinzipien (in Lotmans Terminologie den Codes) rechtlicher Gleichheit, sozialen Ausgleichs, der Freiheit und der Bekanntheit. Die norwegische wird demgegenüber als hierarchisch organisiert, auf Loyalitätsbindungen basiert und von Fremdheit gekennzeichnet codiert. Ziel des Entwurfs ist dabei die literarische Konstruktion einer eigenständigen isländischen Semiosphäre, während der norwegische Raum seine Funktion als Gegenbild zu dieser erhält. Er ist primär das Äußere, von dem die isländische Semiosphäre getrennt sein muss, wenn sie als eigenständig gelten soll.135 Das erzählte Bild der Raumverhältnisse dient insofern der außerliterarischen, sozialen Sinnstiftung: Es erschafft eine integrative Wir-Vorstellung der isländischen Semiosphäre und setzt dieser ein Sie in Form von Norwegen entgegen.136 Durch die literarische Darstellung der Unterschiedlichkeit beider Länder und der verschiedenen Codes, die beide Semiosphären prägen, wird die Eigenständigkeit des isländischen Zeichen- und Bedeutungssystems herausgearbeitet und behauptet, und seine Trennung von den Codesystemen, die Norwegen prägen, vollzogen und zu zementieren versucht. Isländische Identität als eigenes Bedeutungssystem wird somit konstruiert. Es handelt sich bei diesen literarischen Konstruktionsbemühungen insofern um eine kulturelle Selbstmodellierung Islands. Beide Semiosphären stehen sich so in den Diegesen der Texte gegenüber, und im häufigen Sujet des »Travel Pattern« geschieht der Grenzübertritt durch den jeweiligen Saga-Protagonisten, der dadurch als der besondere ›Held‹ der Erzählung – oder wenigstens des jeweiligen Abschnitts – ausgewiesen wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt die oben ausgeführte, andeutungsweise Darstellung der Färöer als isländischer »Heterotopie« mit ihrer Affinität zu Phänome-
134 Vgl. Jackson 2017. Dementsprechend werden Norweger in den isländischen Quellen als austmenn bezeichnet, was der realen Lage Norwegens östlich von Island entspricht. Diese Tatsache kann als Reflex der Neueinreichtung der kringla heimsins in der isländischen Weltsicht aufgefasst werden, da »der Osten« dem ›älteren‹ Orientierungssystem nach als Bezeichnung für die Länder (süd-)östlich von Norwegen, insbesondere das Baltikum, Russland und Byzanz reserviert war. Paradoxer Weise bleibt gleichzeitig die Bezeichnung vestmenn für Leute von den britischen Inseln gebräuchlich. 135 Vgl. Lotman 1990, S. 290. 136 Vgl. Koschorke 2013, S. 97–98 zur narrativen Modellierung sozialer Wir/Sie-Paarungen.
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nen des Nicht-Alltäglichen und der ›Auslagerung‹ potenziell mit Makeln behafteter Gründerfiguren in der Hauksbók an Kontur. Diese Konzeption der Färöer lässt sich, auch geographisch verortet, ebenfalls in Lotmans Semiosphären-Konzept einfassen: Für die Semiosphäre, die von Island ausgeht und die isländische Gesellschaft zum Zentrum hat, liegen die Färöer an der Peripherie. Die Deutungshoheit der Codesysteme, die das isländische Zentrum beherrschen, schwächt sich hier ab. Deshalb werden die Färöer gewissermaßen anfälliger für eine andersgeartete Aufladung im literarischen Sinne. Die Peripherie konstituiert zudem die Grenze zur außerhalb der Semiosphäre gelegenen, ›anderen‹ Welt. »Die kollektive Phantasie bevölkert das Grenzgebiet […] mit einem entsprechend ambivalenten Personal, man könnte fast sagen: mit Experten für Mehrdeutigkeiten und diffuse Identitäten«.137 Im Falle der isländischen Identitätskonstruktion in der Landnámabók der Hauksbók, die in einer Abweisung der Unterordnung unter den norwegischen König besteht, ist die Welt außerhalb der eigenen Semiosphäre, die Welt, auf der Grenze zu der sich die Färöer situieren, das norwegische Reich. Und die Gründerfiguren, die auf ihrem Weg nach Island mit den Färöern verbunden sind, sind tatsächlich »Übersetzer«138 der isländischen Semiosphäre. Durch ihr Handeln wird erst ermöglicht, dass die vormals norwegische Identität der späteren Siedler in eine eigene, isländische »übersetzt« wird. Allerdings können sie ein Moment der Ambivalenz aufweisen, das für ihre ›Arbeit‹ notwendig scheint.139 Damit sind sie gewissermaßen prädestiniert dafür, mit einem Ort auf der liminalen Grenze am Rande der isländischen Semiosphäre verbunden zu werden, den Färöern, und in der Tat situiert wenigstens die Hauksbók dieses Figurenensemble verstärkt dort. Und auch die anderweitig bemerkbare Affinität der Inseln zu nicht-alltäglichen Phänomenen oder ihre Konstruktion als Fluchtort für Isländer in prekären Situationen erklärt sich aus ihrer Situierung am Rande der durch das isländische Codesystem beherrschten Welt. Die periphere Grenze der isländischen Semiosphäre ist zugleich ähnlich dem Zentrum und von ihm unterschieden, ohne dabei aber so gänzlich ›anders‹ codiert zu sein, wie es die gegenüberstehende Semiosphäre des norwegischen Reiches ist. Somit sind die Färöer zugleich Teil der isländischen Semiosphäre und an ihre kaum reflektierten, peripheren Ränder verbannt, gleich und doch unähnlich.
2.3.2 Färöische Raumsemantiken 2.3.2.1 Isländische Perspektiven? Die Færeyinga saga und der isländische Identitätsdiskurs Wenn die Färöer im Zuge der semiotischen isländischen Selbstidentifikation also einen Fluchtraum bilden, gleich und doch anders, scheint es zunächst durchaus 137 Koschorke 2013, S. 121. 138 Begriff nach Lotman 1990, S. 292. 139 Zur theoretischen Grundlage vgl. Brückmann 2016; Ruiter 2018.
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logisch, dort mit der Færeyinga saga einen Paradefall der Island betreffenden Identitätsthematiken durchzuspielen. Zieht man zumal die axiomatisch frühe Datierung der Saga hinzu, wirken die bisher vorgelegten Interpretationen der Saga als Unabhängigkeitsdiskurs scheinbar folgerichtig. Die in diesen Interpretationen implizit angesetzten Semiosphären der in der Færeyinga saga erzählten Welt spiegeln einerseits recht genau die semiotische Raumkonzeption Islands und Norwegens, wie sie die Isländersagas zu konstruieren versuchen. Andererseits ergäbe das Durchspielen des Island in der Zeit vor 1220 noch nicht virulent betreffenden Unabhängigkeitsverlustes gerade im Raum der Färöer, an der Peripherie der isländisch-kulturellen Semiosis, einen Sinn. Die isländische Identität bliebe dadurch von dieser Thematik befreit, während gleichzeitig genug Ähnlichkeit zwischen Färöern und Island bestünde, um die Beispielhaftigkeit dieses Falles für ein isländisches Publikum eindringlich zu gestalten. Der implizite Vergleich mit dem in der Færeyinga saga letztlich auserzählten Unabhängigkeitsverlust der norwegischen Kolonie würde somit die isländische Eigenständigkeit noch einmal eigens betonen: Während auf den Färöern die Unabhängigkeit bereits verloren war, stellten sich auf Island solche Fragen dem Selbstbild nach gar nicht erst, ließen sich aber im Rahmen soziopolitischer Aktualität und Besorgnis bereits bedenken.140 Tatsächlich lässt sich in der Darstellung der Färöer innerhalb der Færeyinga saga bisweilen ein Prisma isländischer Perspektivierung erkennen. So zeigt sich eine Tendenz der Saga, dezidiert färöische Sitten und Gebräuche zu beschreiben und geographische Informationen zu vermitteln. Zwar fallen solche Beschreibungen weitaus weniger genau als in den Isländersagas aus und sind bisweilen realgeographisch schlicht falsch.141 Dennoch werden bei Erfordernis durch die Plotentwicklung topographische Details grundsätzlich ebenso dargestellt und eingebunden. Wenn etwa während der Flucht Sigmundrs vor Þrándrs Überfall auf der Insel Skúfey berichtet wird, es gäbe dort eine gía [er] geingr um eyna þuera,142 existiert diese zwar real nicht,143 doch wird mit der Beschreibung das Bild einer realen Topographie evoziert. Die Schlucht wird funktional lediglich deshalb erwähnt,144 weil
140 Vgl. Bonté 2014b, S. 103–104. 141 Vgl. Hammershaimb 1846–1848, S. 261–262. 142 Fær, S. 87 (Schlucht, die sich quer über die Insel erstreckt). 143 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cxcvi. Eine solche Schlucht gibt es weder auf Skúvoy noch auf der an anderer Stelle als diese beschriebenen Stóra Dímun. 144 Ähnliches gilt für die genannte, fälschliche Beschreibung von Skúfey, die er sua hattat at hon er suo bratt at þar er er hit bezsta uíge er þar eín upp ganga ok sua segía þeir at æigi mun eyín sott verda ef firir eru xx kallar edr xxx at alldri komi sua margr til at sott verde (Fær, S. 47; so geartet ist, dass sie so steil ist, dass dort eine ideale Verschanzung ist. Dort ist ein Aufgang, und man sagt, dass die Insel nicht gewonnen werden kann, wenn zwanzig oder dreißig Männer dagegenhalten, sodass nie genug kommen könnten, um sie einzunehmen), und ähnlichen Beschreibungen von Steilklippen. Diese werden im Verlauf von Kampfhandlungen bedeutsam, im Falle Skúfeys etwa, wenn die Insel trotz dieser Naturbeschaffenheit zweimal problemlos angegriffen werden kann.
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Sigmundr sich in ihrer Umgebung verbergen kann. Er wird dort gesucht und stellt schließlich seine Behändigkeit unter Beweis, indem er beim Sprung über die Schlucht einen seiner Verfolger erschlägt und sich mit einem nicht weniger beeindruckenden Sprung rückwärts wieder in Sicherheit bringt. Augenscheinlich geht es hier aber weniger darum, konkret bekannte Topographie zu beschreiben. So erhält die Schlucht etwa auch keinen Namen, wie das bei einer ähnlichen Szene in einer Isländersaga denkbar wäre. Die Beschreibung vermittelt lediglich ein Bild färöischer Landschaft mit realweltlichem Gepräge. Sie erschafft somit erstmals überhaupt den Eindruck tatsächlich vorhandener und begreifbarer Räumlichkeit auf den anderweitig so unbekannt-›anderen‹ Färöern. Auch wird etwa an gleich drei Stellen im Text expliziert, dass die Färinger ihre Þingstätte im »Thorshafen« (Þórshǫfn – das heutige Tórshavn) auf der Insel Straumsey (heute Streymoy) errichtet haben: [Þ]íngstaud þeirra Færeyinga var j Straums ey ok þar er hofnn su er þeir kalla Þors hỏfnn.145 Über diese Insel heißt es an anderer Stelle auch informativ: [H]on er fiolbygduzst Færeyia.146 Daneben wird auch dreimalig auf besondere Gebräuche der Färinger in Bezug auf ihre Viehhaltung hingewiesen: [Þ]eir fara til æínnar eyíar at sækia slatr fe þuiat þat er sidr Færeyínga at hafa nytt kíot ollum míssarum.147 Diese Beschreibungen mögen einem Interesse für das anderweitig mehr oder minder unbekannte Land geschuldet sein, und die Færeyinga saga daher in gewisser Weise isländische ›Ethnographie‹ bieten.148 Eine solche macht aus der »Heterotopie« der Inseln im Rest der altnordischen Literatur eine erfahrbare Welt, die einem isländischen Publikum auch jenseits der bloßen Ähnlichkeit in historischer Perspektive und Positionierung gegenüber Norwegen Identifikationspotenzial bietet.149 Dasselbe Potenzial bietet die zwar wenig wortreiche, aber dennoch eindeutige Anbindung der Gǫtuskeggjar an das berühmte isländische Geschlecht der Auðr djúpúðga.150 Gleichzeitig wird durch solche Information und Beschreibung aber auch ein Verfremdungseffekt erzielt. Wenn die färöische Sitte at hafa nytt kíot ollum missarum 145 Fær, S. 10 (Der Thingplatz der Färinger war auf der Strominsel, und dort ist der Hafen, den sie Thorshafen nennen). In leichter verbaler Abwandlung wiederholt in c. 24 u. c. 41, S. 57 u. S. 89. 146 Fær, S. 128 (sie ist die am dichtesten besiedelte der Färöer). 147 Fær, S. 132 (Sie fahren zu einer Insel, um dort ihr Schlachtvieh zu suchen, denn es ist die Sitte der Färinger, das ganze Jahr über frisches Fleisch zu haben). Auch in c. 7 u. c. 36 wird die Sitte erwähnt, Schlachtvieh auf einer anderen Insel suchen zu fahren, siehe Fær, S. 13 u. S. 82. Der Zusatz, man verfahre das ganze Jahr über so, entfällt dort aber. Außerdem wird diese Verfahrensweise konkret auf der Insel Lítla Dímun verortet, die sich in Besitz von Sigmundrs Familie befindet. 148 Im Gegensatz zu den mitunter ebenso kategorisierten Isländersagas hier im Wortsinn als Beschreibung einer fremden Kultur. Nach Turners Einschätzung, die Isländer seien »the best anthropologist of their own culture« gewesen (Turner 1971, S. 358), wurden und werden die Isländersagas lange Zeit als Informationsdokumente enthographisch anmutender Forschungen verwendet, vgl. hierzu Böldl 2005, S. 28–37. 149 So nicht zuletzt durch die im wahrsten Sinne des Wortes natürliche Ähnlichkeit beider nordatlantischer Regionen, die eine eindrucksvolle, aber harsche Naturkulisse bilden, vgl. HarlanHaughey 2015, S. 347. 150 Vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 376.
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eigens eine Ausführung verdient, so doch deswegen, weil sie einem Isländer offenbar ungewöhnlich erscheinen muss. Auch werden die Naturbedingungen Islands kaum je als so schwierig, abweisend und bedrohlich geschildert, wie das mit der Natur der Färöer, ihren ungünstigen Wetterbedingungen und den selbst in der Færeyinga saga häufigen Schiffbrüchen geschieht.151 Wenn daneben nur acht Insel- und drei Hofnamen sowie der Name der Þingstätte und die Kollektivbezeichnung Norðeyjar in der Færeyinga saga genannt werden, wird die färöische Topographie nur sehr limitiert zugänglich.152 Auch dies steht in scharfem Kontrast zum allbekannten Island, wo im Grunde jeder Ort einen eigenen Namen erhält oder besitzt. Obwohl so ein realistischer Eindruck des Settings erzeugt und die Färöer aus der relativen Unbekanntheit herausgearbeitet werden, wird dennoch eine gewisse Distanz zum Handlungsort aufgebaut.153 Diese Verfremdungseffekte der Erzählung bieten entsprechend Ansatzpunkte für eine Interpretation der Saga, die ihren hauptsächlichen Gehalt im Kontrast zu Island statt als Beispielstudie ausmacht.154 In eine ähnliche Richtung der Stilisierung der Färöer als Island ähnlich und dennoch verschieden deuten auch die Verwendung von Namensmaterial und die Darstellung des färöischen Rechtssystems. Beide zeichnen die färöischen Verhältnisse als stellenweise unübersichtliche Mixtur isländischer und norwegischer Vorbilder.155 So decken sich einige Termini für Rechtsangelegenheiten, etwa das Wort frumhlaup für »Angriff«156 und wohl auch die Bedeutung des Terminus áverki,157 mit dem isländischen Rechtssprachgebrauch.158 Gleichzeitig deuten Begriffe wie
151 Vgl. insgesamt Harlan-Haughey 2015. Schiffbrüche sind die häufigste Information im Zusammenhang mit den Färöern, die sich aus dem altnordischen Korpus gewinnen lassen, siehe bereits Kap. 2.2. 152 Vgl. Olafur Halldórsson 1987, S. cxcv–cxcvi. 153 Tatsächlich legt sogar die Beschreibung der norwegischen Geographie in und um die Dovrefjell-Episode (Fær c. 10–16, S. 22–37), in der mehr Orts- und Regionenbezeichnungen vorkommen, eine größere Bekanntheit des Sagaverfassers mit dieser Realgeographie nahe. 154 Vgl. etwa Bonté 2014a; Bonté 2014b zum Thema der Christianisierung. 155 ›Unübersichtlich‹ wirken die Verhältnisse jedenfalls für die Ansätze der im Anschluss vorzustellenden Bemühungen von Foote und Ólafur Halldórsson, ›Echtes‹ von ›Fiktionalem‹ im Text quellenkritisch zu trennen und dabei dem jeweiligen Material isländische, norwegische oder originär-färöische Herkunft zu bescheinigen. 156 Fær, S. 11. 157 An mehreren Stellen, etwa in der Überschrift von Fær c. 5, S. 10 sowie in Fær c. 48, S. 124. 158 Vgl. Foote 1970, S. 164–165 u. S. 166. Der gesamte Abschnitt, in dem das Wort frumhlaup Verwendung findet (der Rechtsgang zwischen den Brüdern Brestir und Beinir und Hafgrímr von Suðrey nach dem mannajafnaðr zwischen Eldjárn kambhǫttr und Einarr suðreyingr; Fær, S. 10–11), scheint an einem spezifisch isländischen Vorbild ausgerichtet. Die verwendete Rechtsterminologie sowie der Ablauf der Geschehnisse und die Vorstellung der färöischen Institutionen und Rechtsprozeduren reproduzieren ein Bild, wie es aus den Isländersagas wohlbekannt ist, vgl. Foote 1970, S. 166– 170. Gerade hier finden sich jedoch zugleich die genannten Brechungen des rein isländischen Bildes in der Terminologie.
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landbúar für die Rechts-Angehörigen von Þrándr í Gǫtu159 oder das Motiv der Erbteilung per Losentscheid in eine rechtlich spezifisch norwegische Richtung.160 Nicht selten finden sich Mischformen, wenn etwa in einer deutlich nach isländischem Vorbild modellierten Sequenz die für Island merkwürdige Formulierung at fornum landslǫgum fällt oder eine Strafe til útlegðar ok fullra sekða verfolgt wird, was isländisch und norwegisch gegensätzlich verwendete Begriffe zusammenstellt und so eine relativ undurchsichtige Bedeutung besitzt.161 Insgesamt zeigt dieser Gebrauch von Rechtsbegriffen »a realisation that the Faroes were foreign«,162 oder sogar eine bewusste Darstellungsstrategie »to emphasize that […] [the] story was taking place outside of Iceland by using legal terms that appear inappropriate or less appropriate to Icelandic conditions.«163 Es entsteht somit »the illusion of Faroese conditions«,164 ob nun absichtlich oder im Glauben an eine tatsächlich norwegische Prägung färöischer Rechtsbedingungen.165 In jedem Fall ergibt sich eine Differenz zwischen Island und den Färöern, obwohl gleichzeitig die Terminologie für ein isländisches Publikum klar verständlich und die Vorgänge zum Teil auch sehr bekannt bleiben. Ähnliches gilt für die Verwendung von Namensmaterial, das sich als gut an den
159 Fær, S. 121 (Ansässige). Das Wort kann entweder »Einwohner eines Landes« oder »Pächter« bedeuten (siehe Baetke 2008 s.v. landbúi; vgl. Fritzner 1954 s.v. landbúi: »bosat Mand af en Bygd, hvori Land eller Jorden, som Sagen angaar, er beliggende; Person som har en anden Mands Jordeiendom til Leie eller i Brug« bzw. s. synonyma v. leiglendingr »Person som har Jord til Leie mod aarlig Afgift«). Letztere Bedeutung ist nach Foote 1970, S. 164 typischer für den norwegischen Sprachgebrauch. Vgl. hierzu auch Kap. 3.4.4. 160 Vgl. Foote 1970, S. 165–166. Auf Island wurden die entsprechenden Rechtsbestimmungen zur Erbteilung erst mit der Einführung der (norwegischen) Gesetze in Járnsíða und Jónsbók angewandt (vgl. Foote 1970, S. 172–173). Allerdings scheint der Verfasser der Færeyinga saga gerade mit den Bestimmungen der Gulaþingslǫg – wo diese Sitte in § 282 explizit aufgeführt wird – vertraut (vgl. North 2005). 161 Für die Formulierungen siehe Fær, S. 11, zur Interpretation vgl. Foote 1970, S. 167 u. S. 168– 170. Während bei den forn landslǫg insbesondere die Komponente land- einen Verfremdungseffekt im isländischen Gebrauch darstellt, könnte die zweite Formulierung, je nach Zuweisung des jeweiligen Wortgebrauchs für Norwegen oder Island, eine Geldstrafe und die Maximalstrafe (ebenfalls als Bußzahlung oder als Ächtung), eine Ächtung sowie eine maximale Bußzahlung, eine Geldbuße sowie eine maximale Bußzahlung oder eine Ächtung sowie die Maximalstrafe (als Geldzahlung oder ebenfalls Ächtung) bedeuten. Fullir sekðir könnte andererseits nur als Verstärkung im Sinne von »im vollen Rahmen des Gesetzes« gebraucht sein. Dieses Verständnis wäre im isländischen Gebrauch ob seiner Pluralform und der dort vorherrschenden Verwendung von sekð im Sinne einer Ächtung ungewöhnlich. Dabei scheint im Falle der Færeyinga saga das ›färöische‹ Wort für eine Ächtung das norwegische útlegð zu sein (so werden etwa später auch Sigmundr, Þórðr und Gautr útlagr [Fær, S. 124] und Skopti ein útlagi [S. 132]; vgl. insgesamt auch Foote 1970). 162 Foote 1970, S. 164. 163 Foote 1970, S. 173. 164 North 2005, S. 61. Entsprechend basiert North seine (überzeugende) Interpretation der Verwendung rechtlicher Strategien in der Færeyinga saga auf den Bestimmungen der altnorwegischen Gulaþingslǫg, siehe S. 61–66 u. S. 70–73. Zu seinen Beobachtungen vgl. Kap. 3. 165 Vgl. Foote 1970, S. 173.
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Plot der Erzählung angepasst und in ihn verwoben erweist, und das IsländischBekanntes mit zu den jeweiligen Orten passend Fremdem mischt.166 Insgesamt sind die Färöer in der Færeyinga saga folglich doppelt distanziert gezeichnet: Sie sind nicht gleich Island, aber auch nicht gleich Norwegen. Einer isländischen Rezipientenschaft wird somit vom Text zugleich Identifikations- und Abgrenzungspotenzial angeboten. Insofern finden beide bisher vorgelegten Interpretationsstränge des Textes – als Feier implizit isländischer Unabhängigkeit wie auch Rechtfertigung norwegischer Herrschaft – berechtigte Anknüpfungspunkte im Text. Es gilt daher, diese anhand der tatsächlichen Raumdarstellung im Folgenden auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.
2.3.2.2 Paradigmen von Innen und Außen: Die literarische Darstellung der Färöer und Norwegens in der Færeyinga saga Auf den ersten Blick ähnelt die Raumaufteilung der Færeyinga saga durchaus derjenigen der Isländersagas mit ihren zwei Semiosphären. Norwegen ist ein Königreich mit hierarchischen Strukturen, während die färöische Gesellschaftsstruktur weitgehend nach dem Bild der isländischen gezeichnet scheint.167 Die dortige Bevölkerung besteht aus bœndr und bóndasynir,168 die offenbar hauptsächlich nebeneinander her auf Höfen Viehzucht betreiben. Auf der augenscheinlich allgemeinen Þingversammlung werden Rechtsangelegenheiten untereinander autonom geregelt.169 Dabei ist die rechtliche Situation der isländischen nicht zur Gänze unähnlich und es gibt keinen eindeutigen, nominellen König. Aus diesem Grund interpretieren die meisten bisher vorgelegten Studien Norwegen und die Färöer als ebenso getrennte Sozialsysteme wie Norwegen und Island und entsprechend beide Settings als jeweils eigene Semiosphären. Auch die Nennung des Topos von Haraldr hárfagris ofríki als
166 Vgl. Foote 1973; Ólafur Halldórsson 1987, S. cxcviii–ccxii. 167 Vgl. bereits Niedner 1929, S. 20. 168 Fær, S. 73 (Bauern) u. S. 90 (Bauernsöhne). Beide Ausdrücke fallen in den Abschnitten, die nur durch die Textverarbeitung in den Óláfs sögur zugänglich sind (also c. 28–33, S. 70–80 u. c. 43–48, S. 90–125). Die Formulierungen könnten im Zusammenhang dieser größeren Sagas eine Verstärkung der soziokulturellen Unterschiede zwischen den Gebieten, über die die beiden Könige bereits herrschen, und der färöischen Kolonie am Rande ihrer Herrschaftsbereiche verdeutlichen. Die so Bezeichneten sind aus Sicht der Könige noch nicht als Untertanen ihres Reichs verfügbar gemacht, und die jeweiligen Episoden illustrieren Versuche, diese Unterordnung zu erreichen. Die Formulierungen sind im Zuge der Betrachtung einer eigenen Færeyinga saga daher mit Vorsicht zu betrachten und könnten durch die interpolierte Überlieferung bedingt sein. 169 Das Þing der Färinger findet den Angaben der Færeyinga saga nach offenbar turnusmäßig um várit (Fær, S. 63 u. S. 65), später auch um summarit statt (Fær, S. 126 und offenbar auch zuvor, S. 115 – dort ist die einzige Zeitangabe aber um várit für Þrándrs Erkrankung, trotz der er sich auf das Þing vorbereitet), kann aber auch ad hoc einberufen werden (stefna þing; Fær S. 57, S. 61, S. 73, S. 81, S. 89 u. S. 112), vgl. Foote 1970, S. 161–162 (Fn. 5).
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Grund der Auswanderung auf die Inseln im kurzen, prolog-artigen ersten Kapitel der Saga, scheint diese Annahme zu unterstreichen.170 Bei näherem Blick allerdings ist diese Einschätzung so nicht haltbar: Bereits zu Beginn der Saga wird deutlich gemacht, dass die Färinger nicht nach einer proto›demokratischen‹ Verfassung für sich selbst leben, sondern es heißt: Hafgrimr var hofdínge yfir helming eyíanna ok hellt þeim helminge j len af Haralldi konungi graf(elldi). er þa red firir Noregi.171 Auch þeir Brestir ok Bæinir voru agætir menn ok voru hofdíngíar yfir helminge eyíanna ok helldu þann j len af Hakoni j(arli) Sigurdar syni er þa hafde riki nokkut jnn j Þrandheimi.172 Von Anfang an stehen die Inseln unter norwegischem Einfluss, sogar mehr noch: Die dortigen Machthaber sind direkte Lehnsmänner der zweier norwegischer Herrscher.173 Zwar hat der Ausdruck hǫfðingi im isländischen Sprachgebrauch eine recht breite Semantik, ist weit verbreitet und, zumal als ›Titel‹ eines königlichen Lehnsnehmers ungewöhnlich, weitaus weniger spezifisch subhierarchisch aufgeladen als etwa die Bezeichnung sýslumaðr,174 die am Ende der Saga für königliche Offizielle auf den Färöern gebraucht wird.175 Dennoch kann die Tatsache, dass bereits am Beginn des erzählten Konflikts ein norwegisches Primat über die Inseln besteht, nicht einfach übergangen werden. Sie perspektiviert zudem die Selbstverständlichkeit, mit der sich die späteren norwegischen Herrscher (Jarl Hákon, Óláfr Tryggvason, die Jarle Sveinn und Eiríkr und Óláfr helgi) Herrschaftsrechte auf den Färöern einfordern. Die Färöer sind de facto nie ein unabhängiges Land. Das sind sie auch und gerade in der Zeit der Vorherrschaft des Þrándr í Gǫtu nicht,176 als sich die Bevölkerung der Färöer
170 Siehe Fær, S. 3. 171 Fær, S. 8 (Hafgrímr war das Oberhaupt über eine Hälfte der Inseln und hielt diese Hälfte als Lehen von König Harald Graumantel, der damals Norwegen beherrschte). 172 Fær, S. 8–9 (Brestir und Beinir waren ausgezeichnete Männer und waren Oberhäupter über die Hälfte der Inseln und hielten diese als Lehen von Jarl Hákon Sigurðarson, der damals ein Reich bei Trondheim innehatte). 173 Vgl. auch Bonté 2014a, S. 128–129 zum charakteristischen Unterschied zwischen Island und den Färöern unter diesem Gesichtspunkt. 174 Mit der Bezeichnung hǫfðingi werden allgemein einflussreiche Personen bezeichnet (siehe Fritzner 1954 s.v. hǫfðingi: »Person, Mand som gaar i Spidsen for noget, leder et Foretagende; Person som har myndighed over Land eller Folk, har dem under Styrelse; Person, Mand som er i Besiddelse af stor Anseelse og Indflydelse«; Baetke 2008 s.v. hǫfðingi: »Oberhaupt, Leiter, Anführer; Häuptling, mächtiger, einflussreicher Mann«). So werden insbesondere die ›freiheitsliebenden‹ Protagonisten der Isländersagas bzw. ihre Vorfahren regelmäßig als hǫfðingjar miklir beschrieben. Sýslumaðr bezeichnet demgegenüber weitaus eingeschränkter einen »Ombudsmand især Kongens« (Fritzner 1954 s.v. sýslumaðr), bzw. einen »Verwalter, Amtmann, Vogt (e. Königs od. Jarls)« (Baetke 2008 s.v. sýlsumaðr). 175 Fær, S. 137. Zur Identität der beiden dort genannten Männer, dem Zweck von deren Nennung und damit einhergehend dem Versuch einer Datierung siehe Kap. 1.2.2.3. Zu Bedenken ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Sigmundr selbst seinen Vater bei seiner ersten Ankunft am Hofe Jarl Hákons als syslu madr yduar (Fær, S. 37; Eueren Vogt) bezeichnet. 176 Siehe Kap. 3.
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im Wesentlichen zu dessen landbúar und landsetar degradiert sieht,177 während es mehrfach heißt: red nu Þrandr einn ỏllu j Færeyium.178 Rechtliche Gleichheit ist in der färöischen Gesellschaft somit nie gegeben. Darüber hinaus bleiben die norwegischen Herrscher den gesamten Plot über mit den Parametern der färöischen Herrschaft verbunden.179 Þrándr hat in seinen Vorherrschaftsaspirationen nur so lange Erfolg, wie kein greifbarer norwegischer Rechtsanspruch auf die nominelle Oberhoheit über die Färöer vor Ort vorhanden ist. Sein Kontrahent Sigmundr hingegen verbringt die Sommer regelmäßig mit der Entrichtung von Tributen in Norwegen.180 Von Beginn an ist die Frage, um die sich die Færeyinga saga dreht, weniger die Konfrontation eines proto-›demokratischen‹ Systems der Färöer gegen die monarchische Organisation Norwegens. Die färöische ›Unabhängigkeit‹ bleibt stets nur relativ. Doch gerade weil die Parameter färöischer Herrschaft von Norwegen abhängen und insofern Jürg Glausers Beurteilung, dass das zentrale Thema der Færeyinga saga »durchgängig auf die […] hist[orischen] Entwicklungen im norw[egischen] Reich bezogen« sei,181 durchaus beizupflichten ist, konstituieren sich die beiden Raumkonzepte des Textes narrativ als gegensätzlich. Ebenso wie in den Isländersagas fungiert der narrative Raum, den Norwegen eröffnet, als der Außenraum für die Färinger, die Färöer selbst bilden einen zentrierteren Innenraum.182 Inwiefern lassen sich also vielleicht dennoch zwei unterschiedlich semantisierte Semiosphären für den Text festhalten? Elemente des Außenraums, in Form der norwegischen Herrscher, definieren die Bedingungen des Innenraums, doch gerade deswegen dient der Außenraum, Norwegen, für die Färinger als Beschaffungsraum ertragreicher Ressourcen materieller wie konzeptioneller Natur. Das Motiv der Reise nach Norwegen dient in der Færeyinga saga dem gleichen Zweck, der ihm in den Isländersagas zukommt: Ein Protagonist wie etwa Sigmundr wird einer initiatorischen Bewährungssequenz unterzogen, während der er seine Tauglichkeit unter Beweis stellen und den Ruhm und die Ehre erringen kann, die er zu Hause, im Innenraum der Färöer, zu seinem Vorteil in 177 Fær, S. 121 u. S. 86 (Ansässige bzw. Hintersassen). Wie von Foote 1970, S. 164 überlegt, scheint landbúi in diesem Falle nach norwegischem Sparchgebrauch semantisch mit landseti identisch zu sein. Beide Wörter haben insofern den Beiklang hierarchischer Strukturen (zwischen Pächter und Pachtempfänger), obwohl Þrándr nie als hǫfðingi, valdsmaðr oder dergleichen bezeichnet wird. Ein Hausangehöriger Hafgrímrs (der hǫfðingi í lén ist, siehe bereits oben) zu Beginn der Saga wird bemerkenswerter Weise lediglich als heimamaðr bezeichnet (nach Baetke 2008 s.v. heimamaðr »zum Hofgehörender, Hausgenosse«; Fritzner 1954 s.v. heimamaðr hat »Mand, Person som har sit Tilhold, sit Hjem i ens Hus; Person som hører hjemme paa et Sted, er derfra«). 178 Fær, S. 21 (Þrándr beherrschte nun allein alles auf den Färöern). Die fast verbatim gleiche Formulierung wird in Fær c. 22, S. 47 wiederholt. Er herrscht somit dezidiert nicht »til þess að losa eyjarnar undan erlendu valdi« (Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxiv; um die Inseln aus der ausländischen Gewalt zu befreien), sondern aus Eigennutz und Selbstsucht. 179 Siehe zu diesen Gedanken Kap. 3, Kap. 4 u. Kap. 7.4. 180 Siehe Fær, S. 58–61, S. 62–63, S. 65, S. 66–69, S. 70–73, S. 76–80 u. S. 81; vgl. Kap. 4.3.3. 181 Glauser 1994, S. 115. 182 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 3.
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soziales Prestige ummünzt.183 Sigmundrs Exil in Norwegen entspricht dabei nicht im engen Sinne dem »Travel Pattern« der Isländersagas, sondern verkompliziert und erweitert dessen Struktur erheblich.184 Konzeptionell entspricht diese ›Reise‹ nichtsdestoweniger den gleichen Prinzipien: Im Außenraum Norwegens erweist Sigmundr seine Tauglichkeit, er erwirbt Ruhm und Prestige sowie Autorität und Unterstützung durch den norwegischen Herrscherhof. Angesichts der Knüpfung färöischer Herrschaftsprinzipien an Norwegen ermöglicht dies Sigmundr, auf den Färöern das Erbe seines Vaters als Herrscher anzutreten.185 Somit ergibt sich konzeptionell eine ähnliche Änderung der sozialen Bedingungen auf den Färöern nach der ›Auslandsreise‹, wie es in den Isländersagas der Fall ist: Auf Basis des Kontakts mit dem Außen werden die Bedingungen im Innen entscheidend verändert, die gesellschaftlichen Relationen neu sortiert und die Bedeutung des Reisenden in der Heimat gesteigert. Dieses Prinzip greift nicht allein im Falle von Sigmundr, dessen sehr enge Bindung an den norwegischen Königshof zunächst auch nahelegen könnte, dass es hierbei nicht um Ressourcenbeschaffung, sondern allein Unterwerfung und Kolonisierung ginge. Es zieht sich hingegen durch die gesamte Saga: Auch Þrándrs (einzige) Reise, noch vor Ausbruch des Konflikts auf den Färöern, wird im Schema einer initialen Bewährungsprobe erzählt.186 Auch sie ist eine Reise ins Außen, selbst wenn Þrándrs Erweis seiner ›Tüchtigkeit‹ vielsagenderweise gerade nicht in Norwegen erfolgt,187 sondern auf dem Markt von Haleyri in Dänemark situiert wird. Doch auch diese Reise macht Þrándrs persönliche Disposition deutlich und begründet seine spätere Position auf den Färöern.188 Eine ähnliche Bewährung sowie die Loslösung von seinem Ziehvater und den Aufstieg in die höchsten Ränge der färöischen Gesellschaft bedeutet die Reise nach Norwegen für Leifr Ǫzurarson: Erst mit seinem
183 Zu Sinn und Zweck des Reisemotivs in den Isländersagas vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 224–226; Kap. 2.3.1. 184 Vgl. Kap. 4. 185 Vgl. auch Klettskarð 2000, S. 51–53; Harlan-Haughey 2015, S. 363. 186 Vgl. Glauser 1994, S. 113. 187 So heißt es über Þrándrs Zeit spezifisch in Norwegen, er hafde litínn kaupeyre ok for til Noregs ok hafdi bæiar setu um uetrinn ok þotte jafnna myrkr j skapi (Fær, S. 5; hatte wenig Handelsware und fuhr nach Norwegen und ließ sich den Winter über nieder und schien fortwährend von dunklem Gemüt zu sein). Þrándrs spätere Ablehnung von allem, was eine norwegische Konnotation mit sich trägt, schlägt mit seinem »dunklen Gemüt« also bereits bei diesem Kurzaufenthalt durch. Auf der Rückreise erhält er bei seiner Zwischenstation in Norwegen von den norwegischen Kaufleuten die abgemachte Bezahlung, steigert also seinen Reichtum und kauft sich einen byrdíng mikínn ok godann (Fær, S. 7; ein großes und gutes Handelsschiff) – ironischerweise wohl denjenigen, der ihm später die Fahrt zurück nach Norwegen unmöglich macht, indem er leck schlägt (siehe Fær, S. 58– 59. Der dort erwähnte byrding wird nicht näher spezifiziert als æínn er hann atte (einer, den er besaß), dennoch wirkt die Erwähnung nur allzu denkwürdig). Als Þrándr seine Neffen nach Norwegen schickt, verfault das Schiff sogar im Schuppen (siehe Fær, S. 97; die Bezeichnung als byrðingr sa er ec hefi átt, ›das Handelsschiff, das ich besessen habe‹, legt nahe, dass Þrándr tatsächlich nur ein einziges Handelsschiff besitzt). Zu Þrándrs Verhältnis mit Norwegen vgl. Kap. 3. 188 Vgl. Kap. 3.
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Anschluss an den Hof König Óláfrs des Heiligen tritt Leifr als eigenständiges Handlungssubjekt zu Tage.189 Die unterbliebene Auslandsreise nach der Trennung von Þrándr bzw. die nur unrühmlich ablaufende Episode unter der Herrschaft König Óláfr Haraldssons ist es dementsprechend auch, die das Schicksal von Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr besiegelt.190 Norwegen wird in der Færeyinga saga insofern als äußerer Raum der heimischen Färöer entworfen, der jedoch ständig in den Innenraum hineinwirkt, indem »wesentliche Veränderungen in der Machtbalance auf den Inseln immer wieder durch Ereignisse oder Handlungen, die außerhalb der Inselwelt ihren Ursprung haben, ausgelöst werden.«191 Die norwegischen Herrscher sind von Anfang an ein Machtfaktor auf den Färöern, und sie bleiben es bis ans Ende der Erzählung. Eben deswegen treten die Färinger in ihrer Aushandlung der internen Verhältnisse in unterschiedliche Beziehungen zu Norwegen. Aus diesem Raum können sie die Ressourcen ziehen, die sie für den Umgang untereinander benutzen, oder sie können ihn als Raum, zu dem sie in Beziehung treten, verwerfen. Die Darstellung der Färöer und Norwegens als intrinsisch verbundenes Konstrukt von Innen- und Außenraum erstreckt sich jedoch nicht allein auf diese konzeptionelle Ebene, sondern lässt sich auch anhand der narrativen Zeichnung beider Räume nachvollziehen und belegen. So dient Norwegen nicht nur konzeptionell als Außenraum der Färöer, sondern wird auch durch den Einsatz erzählerischer Mittel ›andersartig‹ gestaltet. Insbesondere in der Sektion des Textes, die Sigmundrs Jugend im norwegischen Dovrefjell beschreibt, wurden vielfach Motive identifiziert, die den Erzähldomänen von Märchen, ›Volkssage‹ bzw. ›Folktale‹ und Vorzeitsagas zugeordnet werden.192 So
189 Vgl. Kap. 6.3. 190 Vgl. Kap. 5. 191 Glauser 1989, S. 213. So ist bereits in der Ausgangssituation der Darstellung der färöischen Verhältnisse der spätere Konflikt präfiguriert und zugleich auf Norwegen bezogen. Die lehnsrechtliche Zweiteilung des Archipels ist der Urgrund, von dem aus der Konflikt sich entspinnt. Diese Situation kann Þrándr ausnutzen, um sich selbst zum Herrscher aufzuschwingen, und der Konflikt entwickelt sich später als Streit zweier Parteien. Diese Ausgangslage geht von Norwegen aus. Die ursprünglichen Herrscher – Haraldr gráfeldr und Jarl Hákon – stehen sich als Gegner gegenüber, auch wenn die Færeyinga saga dies nicht explizit macht. Dennoch lässt sich diese Tatsache als vorausgesetztes Vorwissen ansehen. Gerade der Überlieferungskontext der Flateyjarbók stellt es indes ganz konkret bereit. Damit präfiguriert der Streit unter den Norwegern den Streit auf den Färöern, das Konfliktpotenzial dehnt sich gleichsam von außen nach innen aus. Vgl. zu diesen Gedanken auch Ólafur Halldórsson 1967, S. xiv–xv; Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxiv; Kap. 4. 192 Siehe Ólafur Halldórsson 1990c, bes. S. 238–245; Almqvist 1988, bes. S. 74–77. Ólafur bespricht die Motive auch in seiner Editionseinführung, siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxvii–cxciv; Almqvist spricht sie im Vorwort seiner Übersetzung ebenfalls erneut an, siehe Almqvist 1992b, S. 35– 40. Zu den Motiven aus »Märchen, Sage und Fornaldarsagas« im ersten Teil der Færeyinga saga vgl. auch Glauser 1994, S. 113–114 sowie Sigurlín Hermannsdóttir 1988, diese zusammenfassend auch Amory 1992, S. 191–192. Die Motive werden daneben auch von Finnur Jónsson 1927, S. VIII–IX; de Vries 1999, II, S. 267; Ólafur Halldórsson 1960, Sp. 78; Guldager 1975, S. 24; Berman 1985 (Fn. 30, ausgeführt auf S. 129); Klettskarð 2000, S. 53–54; Arge Simonsen 2004, S. 20 u. S. 22–23; Mundal 2005,
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etwa die Ächtererzählung Úlfr-Þorkells mit ihrer zweimaligen Brautraub-Episode,193 und insbesondere die mit mehreren solcher Motive durchsetzte Erzählung von Sigmundrs und Þórirs Ankunft in ›Úlfrs‹ Unterschlupf.194 Dessen erster Auftritt, als er mürrisch und mit krauser Nase, gekleidet in Rentierfell und mit Jagdbeute auf dem Rücken, seine Waldhütte betritt,195 erinnert an Beschreibungen von Trollen.196 Beschreibung und Verhalten der beiden Frauen im Haus des Outlaws scheinen ebenfalls an Märchenkonventionen angelehnt:197 Überaus reduzierte, stereotype Beschreibung samt unmittelbar typisierter Rolle als Helferinnen trotz völliger Unbekanntheit mit den Protagonisten, auch ohne jeglicher Frage nach deren Identität.198
S. 48–49; Turið Sigurðardóttir/Malan Marnersdóttir 2011, S. 52 angesprochen. Wiederholt spricht Foote 1973, S. 96 von einer »fee-fy-fo-fum märchen situation« sowie Foote 1993, S. 222 von einem »rounded romantic folktale«. Zum verwendeten Namensmaterial der Outlaw-Sequenz, wie etwa der seltenen Iðunn, vgl. Foote 1973, S. 98–100 u. S. 104. Foote zufolge seien solche Namen aufgrund ihrer Passgenauigkeit zum Ton der Erzählung »adopted from poetry and story telling«. 193 Fær c. 10–16, S. 22–38. Vgl. Almqvist 1988, S. 75; Sigurlín Hermannsdóttir 1988. Zu Art und Einbindung der zugehörigen Motive und Erzählschemata siehe Kap. 7.2 u. Kap. 7.3.3. 194 Fær c. 10–11, S. 23–27. 195 Fær, S. 24: Es heißt, herein käme ein madr […] mikill uexti ok j hreinbialba ok hafde hreindyre a baki hann hafde uppe nasarnar ok var yggldr ok spurde hua komí væri (Mann von großem Wuchs […], und er hatte einen Rentierpelz an und ein Rentier auf dem Rücken. Und er hielt die Nase hoch und war barsch und fragte, was gekommen sei). Zum Motiv der Nase siehe Kap. 7.2 (zur Forschungsliteratur bes. Fn. 54). 196 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 243–244, und, ihm folgend, auch Almqvist 1988, S. 74–75 sowie Klettskarð 2000, S. 53. Mögliche Motive wären nach der Klassifizierung von Boberg 1966: F 455.2.2 (Trolls are usually ugly, hideous, big, and strong), F 455.2.4 (Trolls dress in skins), F 531 (Giant. A person of enormous size), F 531.3.13.1 (Giant carries prodigious hunting prey), u. G 532 (Hero hidden and ogre deceived by his wife (daughter) when he says that he smells human blood). Grundsätzlich ist die Beschreibung als hochgewachsen gängiges Charakteristikum von Saga-Protagonisten, doch passt die Statur zum Auftritt, dessen Beschreibung myteriös-bedrohlich ausfällt, vgl. für eine Definition und Forschungsgeschichte des Unheimlichen Teichert 2014b, bes. S. 156–160. Im Falle des Motivs G 532 könnte der Handlungsverlauf der Færeyinga saga freilich nur als lose Anlehnung verstanden werden. So wird der ›Troll‹ nicht von seiner Frau getäuscht und die Jungen auch nur bedingt ›versteckt‹. Dennoch entspricht sich die Rollenverteilung von hilfreichen Frauen und misstrauischem, abweisendem, trollhaftem Mann. Zu ›Úlfrs‹ Natur vgl. Kap. 7.2. 197 Beide werden nur äußerst knapp beschrieben als ỏnnur uid alldr en vng stulka badar uoru þær fridar sionum (Fær, S. 24; die eine älter, aber die andere ein junges Mädchen, beide waren sie von schönem Äußeren). Sie stehen den beiden verirrten Jungen, die ihr Haus erreichen, unmittelbar hilfreich bei, versorgen sie und raten ihnen, sich vor dem übellaunigen Hausherrn zu verstecken, vor dem sie sich für die Aufnahme der Fremden einsetzen. Reykers 1936, S. 26 identifiziert hier das Motiv der »freundlichen Warnerin«, Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 3 spricht von der »ævintýraprinsess[a]«. Zur ›Märchenhaftigkeit‹ dieser Beschreibung vgl. auch Arge Simonsen 2004, S. 20, zu Darstellung und Rolle der Frauenfiguren und ihren Assoziationen mit unterschiedlichen Erzähldomänen siehe Kap. 7.3.3. Vgl. auch Kap. 4.2.3 u. Kap. 7.2. 198 Vgl. Bausinger 1999, Sp. 259–260 als Zusammenfassung der Position von Lüthi 1976 und Lüthi 1988.
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Daher spricht etwa Jürg Glauser vom »nord[ischen] Märchentyp vom Jungen beim Troll in den Bergen«,199 der Sigmundr auch eine Braut als ›Lohn‹ eintrage.200 Sigmundrs gesamte Jugenderzählung im Unterschlupf des Outlaws trägt so ›märchenhafte‹ Züge und aktualisiert gängige Bestandteile einer Heldenbiographie im Muster von ›Folktales‹.201 Denn auch wenn Úlfr alias Þorkell keineswegs tatsächlich ein Troll ist, noch besiegt werden muss, um eine ›Prinzessin‹ gewinnen zu können, ist auch das Motiv des Aufwachsens von Heldenfiguren bei einem zunächst furchteinflößenden, jedoch hilfreichen Wesen im ›wilden‹ Wald gängig im Korpus von Märchen und ›Folktales‹.202 Diese Motivik setzt sich auch im Verstoß der Jungen gegen das Gebot ihres Ziehvaters fort, als sie im Wald einen wilden Bären
199 Glauser 1994, S. 113. 200 Almqvist 1988, S. 75 legt eine Bekanntschaft von ATU 302 (The Ogre’s [Devil’s] Heart in the Egg) oder ATU 303 (The Twins or Blood-Brothers) als Modell nahe. Diese Zuordnungen erscheinen jedoch wenig überzeugend, da die genannten ATU-Märchentypen kaum Überscheidungen mit dem Færeyinga saga-Narrativ aufweisen. Eine solche wäre lediglich die Zweizahl der männlichen Protagonisten, die Hilfe erhalten (ATU 303), jedoch in diesem Fall nicht von Tieren. Zudem entspricht nichts in der Saga der Trennung der ›Brüder‹, der Verzauberung und Rettung eines von beiden und schon gar nicht dem Brudermord bzw. dem keuschen Beilager zwischen Bruder und Schwägerin aus diesem Erzähltyp. Auch spiegelt sich in Sigmundrs Verbindung mit seiner späteren Ehefrau Þuríðr nur allzu bedingt die Beziehung eines ›Märchenhelden‹ zu einer ›Prinzessin‹ bei einem (trollhaften) ›Entführer‹: Þuríðr kann als Úlfrs Tochter wohl kaum als entführt gelten. Auch wird die Liebschaft der beiden nicht von den Eltern beanstandet und sogar explizit abgesegnet. In diesem Lichte um einiges zu weit gegriffen scheint entsprechend auch Ólafur Halldórssons Verweis auf das Motiv der Riesentochter, die dem ›Helden‹ ein Kind gebiert, Boberg 1966 T 91.1.1 (Giant’s daughter has child by hero), siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxiv–clxxxv. Ähnlichkeit in Ton und motivlichem Aufbau lassen sich am ehesten mit den Varianten von ATU 327 (The Children and the Ogre) konkretisieren. So etwa mit Typ 327D (The Kiddelkaddelkar), bei dem die Kombination aus dem Verirren zweier Kinder in der Wildnis, der hilfreichen Frauenfigur und des ablehnenden, trollhaften Mannes jedenfalls zu Beginn des Abschnitts der Færeyinga saga entspricht, auch wenn der weitere Verlauf keine Übersteinstimmungen aufweist. Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 4–5 stellt Sigmundrs und Þórirs Aufenthalt bei ihrem Ziehvater zum »álfasaga«-Typus der Útilegumannasögur und spricht vom Verschwinden der Jungen aus der menschlichen Gesellschaft. Gerade das letztgenannte Moment ist für Sigmundrs Figurenkonstruktion immens bedeutsam, vgl. Kap. 4.2.3. 201 Berman 1985 (Fn. 30, S. 129) zählt als Elemente nach Thompson 1955–1958 L 111.4 (Orphan Hero), S 210.1 (Child sold into slavery), K 512 (Compassionate executioner), S 143 (Abandonment in Forest) R 131.8.5 (Forester rescues abandoned child), N 856.1 (Forester as foster father), F 611.3.2 (Hero’s precocious strength), B 16.2.5 (Devastating bear killed) und Z 211 (Dreadnaughts. Brothers deliberately seek dangers they have been warned against) auf. 202 Siehe Thompson 1955–1958 S 143 (Abandonment in Forest), R 131.8.5 (Forester rescues abandoned child), N 856.1 (Forester as foster father). Vgl. auch Sigurlín Hermannsdóttirs Vergleich mit dem »álfasaga«-Typus der Útilegumannasögur (Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 4–5).
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erschlagen,203 und indem Þorkell erst am Ende seiner æfisaga seinen wahren Namen verrät.204 Während hierbei einige Motiv-Identifikationen mehr überzeugen können als andere, wirkt die gesamte Erzählsequenz vor allem in Ton und Darstellungsstil deutlich der Gattung von ›Folktale‹ und Märchen verschwistert. Jedenfalls ist sie von der typischen ›naturalistischen‹ Darstellung der Isländer- und Königssagas auffällig klar geschieden.205 Bedeutsam für die Narration der Færeyinga saga ist insofern we-
203 Fær, S. 27–30. Zu Ablauf und Bedeutung der Episode sowie Vergleichsmaterial siehe näher Kap. 4.2.3. Zugehörige Motive wären Thompson 1955–1958 B 16.2.5 (Devastating bear killed) und Z 211 (Dreadnaughts. Brothers deliberately seek dangers they have been warned against), vgl. Berman 1985 (Fn. 30, S. 129). Gleichzeitig ist die Bewährungsprobe gegen einen Bären kein seltenes Motiv in der Sagaliteratur, vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 244–245. Gelegentlich wird hier auch ein »Tabu« benannt, so von Ólafur Halldórsson 1990c, S. 244 und Boberg 1966, die die Episode als C 612 (Forbidden Forest) unter der nämlichen Rubrik führt. Einer genaueren Definition wie bei Brückmann 2015 hält diese Einordnung allerdings nicht stand. Zu Steinslands Auffassung (u. a. Steinsland 2005, S. 80), vgl. näher Kap. 4.2.3 u. Kap. 8.3.3. Obwohl ihre Identifikation des Bären als Berserkersymbol stark überinterpretiert ist, lässt sich er sich als fremdes Tier des Außenraumes dem Element der Bewährungsprobe, die sich in norwegischen Berserkerepisoden äußert (vgl. Kap. 2.3.1), konzeptionell vielleicht dennoch parallel stellen. 204 Fær, S. 36, vgl. genauer Kap. 7.2. Das (nicht vollständig eingelöste) Motiv heißt »Recognition by telling life-story« (Thompson 1955–1958 H 11.1). Almqvist 1988, S. 76–77 benennt zwei Motiv-Varianten: Die erste, die insbesondere in den Vorzeitsagas nachweisbar sei (etwa in der Egils saga einhenda c. 5–13, S. 22–64) entspreche dem metadiegetischen Erzählen einer Lebensgeschichte ohne Überraschungseffekt. Die zweite, als die Þorkells æfisaga präsentiert werde, bestehe daraus, dass »a person purposely tells an experience of his own as something that happened to somebody else, but inadvertently spills the beans by a slip of the tongue, using the first-person pronoun instead of that of the third person« (S. 76). In der zugehörigen Fußnote (21) merkt Almqvist die Absenz dieser Variante in Thompsons Motif-Index an. Er verweist stattdessen selbst auf vergleichbare Beispiele, insbesondere die Erzählung Selmatseljan in Jón Árnasons Þjóðsögur (siehe Jón Árnason 1954–1961, I, S. 63–66 (s. v. álfar); bei Almqvist S. 77). Dazu ist zu bemerken, dass auch Ásmundr und Egill in der Egils saga einhenda explizit um ihre Lebensgeschichten gebeten werden, in der dritten Person von sich sprechen und am Ende zusätzlich auflösen, von sich selbst erzählt zu haben. Weshalb Almqvist hier einen fundamentalen Unterschied einführen möchte, ist insofern kaum selbstevident. Auch Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxii spricht allerdings von einem »óvirk minnisleif« (blinden Motiv). Er führt dieses auf den spekulativen Ursprung der Jugenderzählung Sigmundrs in Rachefabeln zurück, die essenziell das Geheimhalten der Namen beinhalteten, vgl. auch Ólafur Halldórsson 1990b, S. 238–243. Zweifelsohne lassen sich in diesem Abschnitt oberflächliche Inkonsequenzen der Erzählung konstatieren, auch wenn beide Forschungsperspektiven ebenso inkonsequent anmuten. In hier erörterten Zusammenhang ist jedoch auffällig, dass solche metadiegetischen Lebensgeschichten, einschließlich ähnlicher Inkonsequenzen, insbesondere in den Vorzeitsagas gängig sind. 205 Die Darstellungstechnik der Isländersagas ist zwar mit dem Schlagwort ›Naturalismus‹ (vor allem ob dessen ideologischer Prägung unter den Vorzeichen der Historizität) kaum ausreichend abgedeckt, schon, weil ›paranormale‹ Ereignisse auch in diesen keine Seltenheit darstellen. Auch ermöglichen unterschiedliche Fokalisierungen und andere erzählerische Mittel in diesen Texten sehr subtile Rezipientensteuerung, vgl. hierzu etwa Lönnroth 1970. Gerade in der Færeyinga saga wird eine substanzielle Anzahl solcher Effekte durch die Darstellung erziehlt, siehe etwa Kap. 3.2, Kap. 4.3.1 u. Kap. 5.4.2. Als rezenten Überblick der Forschung zur Problematik von ›Objektivität‹
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niger die Frage, ob sich einzelne Motive und Erzählschemata des Abschnitts zweifelsfrei dem definitorisch ohnehin kaum zu bewältigenden Komplex ›volkstümlichen‹ Erzählgutes206 zuordnen lassen, als vielmehr die Tatsache, dass sich Art und Weise der narrativen Präsentation in diesen Kapiteln Darstellungstechniken annähern, wie sie aus ›Folktales‹ bekannt und gewohnt sind.207 Es ist die Oberflächen-
und ›Realismus‹ in den Isländersagas siehe Sävborg 2017, bes. S. 112–115 sowie S. 119–120. Dennoch lässt sich kaum rundheraus abstreiten, dass der Erzählduktus in diesen Texten ganz anderen, weniger reduzierten und letztlich ›realistischer‹ (oder treffender: ›alltäglicher‹) erscheinenden Mustern folgt, als etwa die in exzeptionelleren Erzählmodi präsentierten Vorzeitsagas (vgl. zu letzteren Schier/Heizmann 2009b, S. 94–95; kritisch zur Möglichkeit einer narratologischen Gattungsdefinition vgl. aber Beck 1995) und insbesondere die noch typisierteren Muster von ›Folktale‹ und Märchen. 206 Das auf die Grimms zurückgehende Konzept des ›Volksmärchens‹ bzw. weitergehend der ›Volkssage‹ ist insbesondere in der deutschen Forschung zu Recht häufig problematisiert worden. Zentral im Zuge dieser Diskussion sind die essenzialistische Setzung der ›Volks‹-Kategorie mit ihren Wurzeln in Spätaufklärung und Romantik und die Gegenüberstellung ›volkstümlicher‹ und ›gelehrter‹ Poesie. Darin enthalten ist die Annahme der Wiederspiegelung ›nationaler‹ Eigenheiten und ›Geisteshaltungen‹ in der Dichtung bestimmter Völker sowie die Rückführung der ›Volksdichtung‹ auf Traditionen, die bis ins ›Ur-Mythische‹ zurückreichten, oder auf ›abgesunkenem‹ Erzählgut einer Elitenkultur basierten (womit das ›volkstümliche‹ Erzählen primär als Trivialisierung bestimmt würde). Vgl. hierzu etwa Weidhase/Holmes 2007 und Bluhm 2007, als umfassenden Überblick der diversen Definitionsproblematiken siehe bes. Bausinger 1999. Entsprechend wenig trennscharf sind die Unterscheidungslinien, die zwischen ›Märchen‹ und anderen Formen der ›Volksdichtung‹ gezogen werden können, trotz Max Lüthis Versuch (Lüthi 1975, bes. S. 22–48). Daher wird in der vorliegenden Studie auf eine Verwendung der deutschen Komposita mit ›Volk(s)‹- verzichtet und stattdessen der englischsprachige Oberbegriff der ›Folktales‹ verwendet. Ebenso wie der Begriff des ›Märchens‹ versteht sich die Begriffsverwendung vornehmlich zitatweise. Eine Bewertung in literaturhistorischer Hinsicht ist ebenso wenig angestrebt wie in Bezug auf das Verhältnis zum Mythos, noch eine ideologische Definition in Hinblick auf den ›Volks‹-Begriff oder die postulierte Oralität dieser Erzählformen, noch ihre Reflektion eines ›volkstümlichen‹ Wesens. 207 Die in dieser Studie vorgenommene Verortung eines Motivs oder Erzählmusters im Bereich von Märchen oder ›Folktales‹ möchte insofern erzähltheoretisch, nicht aber phänomenologisch vorgehen. Bereits J. R. R. Tolkien 1983b versucht, die »Fairy-stories« weniger nach den Maßgaben streng wissenschaftlicher, inhaltlicher oder quellenkritischer Kriterien zu definieren. Statt eines wissenschaftlichen Atomismus plädiert Tolkien für ein ›künstlerisch‹ anmutendes Verständnis, das angesichts seines eigenen literarischen Schaffens nicht verwundert: Ihm zufolge sei als »fairy-story« alles aufzufassen, was zur »nature of Faërie: the Perilous Realm itself, and the air that blows in that country« (S. 114) gehöre. Sein Reich Faërie enthält dabei »many things besides elves and fays, and besides dwarfs, witches, trolls, giants, or dragons: it holds the seas, the sun, the moon, the sky; and the earth, and all things that are in it: tree and bird, water and stone, wine and bread, and ourselves, mortal men, when we are enchanted« (S. 113). Tolkiens Definition gründet sich letztendlich auf das kaum definierbare, unerklärliche Moment, das Märchen und anderen ›Folktales‹ weniger in ihrer Stilistik als ihrem Ton und ihrer Ästhetik, letztlich ihrer ›Erzählatmosphäre‹ eigen ist: »Faërie cannot be caught in a net of words; for it is one of its qualities to be indescribable, though not imperceptible« (S. 114). Dieselbe ›Atmosphäre‹ umschreibt auch Bausinger 1999, Sp. 260, wenn er den »Stil« des Märchens als »durchgängige, spezifische Einfärbung des Geschehens, die so eben nur im M[ärchen] und in keiner anderen Gattung sichtbar wird«, umschreibt. Aus diesem Grund erscheint auch eine erzählstruktuelle Definition wie etwa die klassische bei Propp
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struktur des Erzähltons, die die angesetzten Parallelen rechtfertigt. Erzählt wird reduziert und stereotypisiert: Der Hausherr erinnert an ein riesenhaftes Unwesen, die Frauen aber sind schön, hilfsbereit und können ihn trotz seiner Feindseligkeit umstimmen, eine davon wird am Ende vom Protagonisten geheiratet. Betont wird dadurch die Stimmung des Erzählten in emotionaler Eindringlichkeit. Details sind zugunsten von flächenhafter Bildlichkeit zurückgedrängt, der Fokus liegt auf abenteuerlicher, aber glückhafter Atmosphäre. Sowohl Umgebung (Wildnis und rettender Unterschlupf), als auch organisch anmutende Abfolge von lebensbedrohlicher Erschöpfung, selbstverständlicher Hilfsbereitschaft, unheimlichem Irritationsmoment und glückhafter Errettung wirken konstruiert und strukturschematisch präsentiert. Dadurch unterscheidet sich die Darstellung vom üblichen Erzählduktus der Isländersagas, der wesentlich auf höherer Detailschärfe, Optionalisierung der Handlungsfolge, gänzlich anderen Grundthematiken und nicht zuletzt nüchternlakonischer Darstellung basiert. Bei einer ähnlichen Szenerie auf Island wären Sigmundr und Þórir wohl nachvollziehbarer Weise zunächst nach ihren Namen und den Neuigkeiten gefragt worden. Gerade aus der von Almqvist bemängelten Inkonsequenz bei Zeitpunkt und Vortrag von Úlfr-Þorkells Lebensgeschichte, bei der erst eine gegenseitige Vorstellung erfolgt,208 lässt sich ablesen, dass dieser gesamte Erzählabschnitt dem Ziel dient, wenigstens oberflächlich ›Folktale‹-Motive aufzugreifen und zu präsentieren, selbst wenn diese scheinbar nicht vollständig rund in den Erzählfluss integriert sind. Offenbar geht es dem Text darum, die Motive gerade in dem Raum zu gruppieren, in dem sie sich befinden. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass diese märchenhaften Elemente der Færeyinga saga in der Flateyjarbók in anderen Redaktionen des Textes in der Óláfs saga Tryggvasonar zum Teil getilgt, in jedem Fall aber weniger vordringlich stilisiert und somit entdramati-
1972 unzureichend, nicht zuletzt angesichts der strukturalistischen Ausweitung des Propp’schen Formalismus auf jegliche Art Erzählung. Eine solche Arbeitsdefinition ist zwar problematisch, weil letztendlich der Verdacht besteht, dass »die Existenz der zu bestimmenden Form bereits als Prämisse vorausgesetzt wird« (Bluhm 2007, S. 473). Dennoch ist eine distinkte ›Erzählkultur‹ von ›Folktales‹ und Märchen im Sinne eines bestimmten, wiedererkennbaren Erzählduktus, zusammengesetzt aus Stil, Motivkatalog, Bildlichkeit und relativer Eindimensionalität bzw. ›Flächenhaftigkeit‹ (vgl. hierzu Lüthi 1976, bes. S. 21–38; Lüthi 1998, bes. S. 35–45; ihn zusammenfassend Bausinger 1999, Sp. 259–260), die in jener ›Erzählatmosphäre‹ resultieren, kaum ernstlich bestreitbar, auch wenn die Identifikation der Kriterien durch Grimms als klassisches Modell empfundene Kinder- und Hausmärchen geprägt ist (vgl. Bluhm 2007, S. 473 –474). Wenn bereits Erzählung als solche aber nur durch das Merkmal der ›Unbestimmtheit‹ im Kern ihres Wesens umfänglich fassbar ist (vgl. Koschorke 2013), scheint eine Arbeitsdefinition von Märchen und ›Folktale‹ anhand ihrer trotz schwieriger wissenschaftlicher Fassbarkeit evidenten ›Atmosphäre‹ (worauf Tolkiens Plädoyer abzielt) nicht vollkommen abwegig. 208 Siehe Almqvist 1988, S. 77: Er bedauert, dass »[t]he surprise effect«, den die æfisaga und ihre Präsentationsweise offenbar hätteb erzielen sollen, »has, of course, been hopelessly lost«, weil die ihn verlassenden Jungen ihren Ziehvater explizit um seine Lebensgeschichte bitten. Siehe hierzu näher Kap. 7.2.
2.3 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga
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siert werden.209 Diesen Textredaktionen kann eine vollkommen andersgeartete Intention beigemessen werden.210 In der Flateyjarbók-Version aber trägt die Prägung der Sequenz durch Ton, Motivik und Erzählstil von ›Folktales‹ und Märchen, selbst wenn sie nur oberflächlich verbleiben und irreführend erscheinen können, herausragende Bedeutung.211 Sie erschafft für das norwegische Reich eine ›Erzählatmosphäre‹, die sich im Ton fundamental vom Erzählverlauf in der Domäne der Färöer unterscheidet. Dort kommen solcherlei Motive nicht vor, Erzählung wie Erzähltechnik folgen anderen Regeln, die sich als weitgehend nüchtern und ›naturalistisch‹ kategorisieren lassen.212 Der ›märchenhafte‹ Ton durchdringt jedoch auf mehreren Ebenen die Narration der Færeyinga saga, während sie sich in Norwegen aufhält und nimmt knapp 50 % der
209 Úlfr hat seinen ersten Auftritt zwar auch in diesen Redaktionen in Rentierfell und mit Tier auf dem Rücken, der Zusatz, er hafde uppi nasarnar (hielt die Nase hoch), der die Trollassoziation durch das vermeintliche Riechen der Jungen verstärkt (siehe Kap. 7.2), ist hier allerdings stets ausgelassen, siehe Fær, S. 24–25 (Text A u. D). Redaktion D verweist zudem bereits an dieser Stelle deutlich auf das Outlaw-Narrativ im Hintergrund, wenn Úlfr seiner Frau gegenüber die Warnung, Menschen aufzunehmen, um den Zusatz erweitert, diese segía til var ef þeir komaz til bygda (Fær, S. 25 [Text D]; ›erzählen von uns, wenn sie in bewohnte Gegenden kommen‹). Sogleich am Tag darauf fragt Úlfr in diesen Redaktionen nach den Namen und Geschichten der Jungen, siehe Fær, S. 25 (Text A u. D). Seine Lebensgeschichte erzählt der Geächtete auch ohne die vermeintlich blinde Motivverwendung der »Recognition by telling life-story«, sondern beginnt unmissverständlich damit, at ek heiti rettu nafni Þorkell (Fær, S. 32 [Text A u. D]; ›dass ich mit richtigem Namen Þorkell heiße‹). Der Gesamterzählfluss des Abschnitts wirkt in diesen Redaktionen bereits durch diese Details wesentlich stärker ›naturalistisch‹ erzählt und verzichtet weitgehend auf die mystisch-abenteuerlich anmutende Atmosphäre, die der Færeyinga saga der Flateyjarbók an dieser Stelle eigen ist. Zur Abweichung der Darstellung vgl. jeweils auch Kap. 4.2.3 u. Kap. 7.2. 210 Vgl. Kap. 3, Kap. 4 u. Kap. 7.4.3. 211 Vgl. weiterführend Kap. 4, Kap. 7.2 u. Kap. 7.3.3. 212 Die Darstellung dort wird zudem von der Figurendarstellung Þrándrs und der mit ihm verbundenen Erzähltechnik beherrscht, vgl. Kap. 3. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 233–238 zählt mit der Erbteilung zwischen Þrándr und Þorlákr (Fær, S. 4–5), dem gedeckten Tisch im leeren Haus während Hafgrímrs Suche nach Unterstützung (Fær, S. 11–12) und Snæúlfrs Speerwurf auf diesen (Fær, S. 12) allerdings drei weitere ›märchenhafte‹ Elemente auf, die sich im Raum der Färöer ereignen, vgl. auch Glauser 1994, S. 113. Der gedeckte Tisch im leeren Haus ist dabei unzweifelhaft ein Märchenmotiv, bekannt etwa aus Schneewittchen (ATU 709) oder dem Kunstmärchen von Goldlöckchen und den drei Bären. Insbesondere Ólafurs Überlegung zum Speerwurf wirkt aber überinterpretiert, vgl. auch Kap. 3.4.1 u. Kap. 7.1. Bemerkenswert ist, dass erstens alle drei Motive – im Gegensatz zur narrativen Semantisierung Norwegens und des Dovrefjells – keine weitere Bedeutung im Rahmen des Plots tragen und zweitens alle im Zusammenhang mit der Figurenzeichnung Þrándrs stehen. Auch Snæúlfrs leeres Haus ist Zeichen dessen, dass er im Gegensatz zu Þrándr Hafgrímr nicht sehen will, vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 237. Mit Þrándr sind auf den Färöern alle Elemente des Paranormalen und aus dem Rahmen Fallenden verbunden, siehe Kap. 3 u. Kap. 8.3.2.
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Erzählzeit in diesem Raum für sich in Anspruch.213 Sigmundrs Lebensweg lässt sich auf diesem narrativen Gerüst in Parallele zu den Abenteuern eines Märchenprinzen lesen, auch sein späterer Aufstieg bei Hofe wirkt geradezu träumerisch leicht – selbst wenn dies in der Logik der Diegese nur seiner Tugend und Fähigkeit zuzuschreiben ist. Doch auch die als »stereotyp und schablonenhaft«214 beschriebenen Wikingerzüge passen ins Bild. Zumindest Sigmundrs Leben gestaltet sich in diesem Raum leicht, während die Dinge auf den Färöern einem komplizierteren, ›realistischeren‹ Modus folgen. Eine ähnliche Darstellung Norwegens im Gegensatz zum Erzählduktus im Heimatland weisen mehrere, traditionell spät datierte,215 Isländersagas wie etwa Harðar saga oder Kjalnesinga saga auf, die das zugrundeliegende Schema des »Travel Pattern« ebenfalls erheblich ausdehnen und für ihre Darstellung Norwegens in Erzählmodi märchenhafter Vorzeitsagas überspringen. Somit wird Norwegen als ein narrativer Raum etabliert, der sich anhand von Motivverwendung und Erzählstrukturen fundamental vom Raum der Färöer unterscheidet. Auch erzähltechnisch ist Norwegen folglich ein ›anderer‹ Raum als die Färöer und den dortigen Parametern nur als Äußeres zugehörig, es erhält eine räumliche Semantik von ›Otherness‹.216 Diese Perspektive auf die Räume der Færeyinga saga ergibt sich wesentlich aus der bisher angesetzten, übergeordneten Dichotomie zwischen den Färöern und Norwegen. Blickt man detaillierter auf die Semantisierungen beider Räume in der Saga, so stellt sich das Dovrefjell auch innerhalb des norwegischen Reiches als eine räumliche Gegenplatzierung dar, obwohl es quellenübreifend nichtsdestoweniger in-
213 Der Dovrefjell-Abschnitt umfasst mit Fær, S. 22–36 etwa ebenso viele Druckseiten der modernen Ausgabe wie Sigmundrs Zeit an Hákons Hof (Fær, S. 37–47 u. S. 48–50). Nimmt man Sigmundrs Verwaisung und Exilierung hinzu, ergibt sich ein Anteil von über 50 % der entsprechend Erzählzeit, die in die Erzählung der ›Folktale‹-Motive fließen. 214 Bick 2005, S. 6. Die entsprechenden Motive sind in der altnordischen Literatur gängig, etwa Boberg 1966 P 311.1 (Combatants become sworn brothers), P 522.3.2 (A wedge shaped column in the form of a hog’s snow), siehe Sigmundrs Schlachtformation svínafylking (Fær, S. 42), oder R 74 (Deafeated warriors go into the conqueror’s service), vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxv. Der Erzählabschnitt wechselt insofern vom Modus weiter verbreiteter Märchen- und ›Folktale‹-Motivik über ins standardisierte Repertoire der (Vorzeit-) Wikingersagas. Auch diese zeichnen sich durch eine ›Folktale‹-artige Erzählkultur aus, in Form einer zum Teil ebenso starken Reduzierung und Schematisierung, insbesondere der Figurenzeichnung, nicht allerdings hinsichtlich ihrer strukturellen Ausführlichkeit, vgl. hierzu Schier/Heizmann 2009b, S. 94–95. 215 In den Datierungen und Abwertungen dieser sogenannten »postklassischen« Isländersagas zeigt sich im Vergleich mit der Færeyinga saga somit insbesondere die Willkür von Textdatierungen in der Altnordistik. Faktisch ist die Færeyinga saga der Flateyjarbók im selben Zeitrahmen überliefert, der als Entstehungszeit der »postklassischen« Sagas gilt. Jedoch gelten dieselben Züge, die als Argument der späten Datierung der »postklassischen« Texte verwendet werden, in ihrem Fall als Zeichen großen Alters und mögliche Zugangstore zu mündlicher Saga-Überlieferung, siehe Mundal 2005, S. 48–49. Vgl. zur Abqualifikation der »postklassischen« Sagas, ihren Gründen und Defiziten auch Merkelbach 2020. 216 Zum Konzept des ›Othering‹ vgl. Brons 2015.
2.3 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga
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trinsisch mit einer Symbolik für das gesamte Land aufgeladen ist.217 Das Dovrefjell figuriert in den altnordischen Quellen häufig als Refugium nicht-menschlicher, außergewöhnlicher Wesen. Es ist bekannt als Heimat von Riesen, etwa in der norwegischen Gründungserzählung der Flateyjarbók, Hversu Noregr byggðisk,218 oder in der dortigen Kindheitserzählung Haraldr hárfagris, der hier auch den Beinamen Dofrafostri erhält,219 der Bárðar saga Snæfellsáss,220 oder der Kjalnesinga saga.221 Auch die Snæfríðr-Episode der Haralds saga hárfagra bezieht das Dovrefjell in die Erzählung von der dämonischen Samenfrau ein.222 Hier zeigt sich eine Affinität des Bergplateaus für Mächte und Wesen jenseits der menschlichen Sphäre. Es liegt þuert af uegnum ok er langt til bygda alla uega hedan.223 So erscheint es als marginaler ›Nicht-Ort‹.224
217 Wie Steinsland 2014 überzeugend aus Quellen verschiedener Jahrhundere herausarbeiten kann. Vgl. weiterführend Kap. 4.2.3 u. Kap. 7.2. 218 Flat I, S. 21–24: Gói, die Tochter Þorris, wird von Hrólfr í Bergi entführt, hann var sun Suada iotuns nordan af Dỏfrum (S. 22; er war der Sohn des Riesen Svaði aus dem Dovrefjell im Norden). Ihre Brüder Nórr und Górr machen sich auf die Suche nach ihr, woraufhin Nórr zum Gründervater Norwegens wird. Nachdem Gói gefunden wird und Hrólfr sich unterwirft, heiratet Nórr Svaðis Tochter Hadda. In Fundinn Nóregr, der zweiten Erzählung vom norwegischen Gründungsmythos, findet sich die gleiche Erzählung, mit dem Unterschied, dass Hrólfr und Nórr zunächst einen Kampf austragen und Nórr Hrólfrs Schwester heiratet, siehe Flat I, S. 220. Als eponymer, erster König Norwegens findet Nórr auch in der Historia Norwegiae I, 1, S. 52 und der Óláfs saga Tryggvasonar eptir Odd munk Snorrason c. 20 bzw. c. 22 (Text A), S. 203 Erwähnung. 219 Siehe Flat I, S. 561–567. Dieser Hálfdanar þáttr svarta berichtet davon, dass Haraldr von seinem Vater Hálfdan des Hofes verwiesen wird, indem er, nach einem zauberkundigen Finnen, auch noch einem gefangenen jỏtun das Leben schenkt, der sich Dofri nennt und des Diebstahls bezichtigt wird. Dieser zieht Haraldr schließlich in einer Höhle im nach ihm benannten Fjell auf und wird deshalb Dofrafostri genannt. 220 Bárðar saga c. 1, S. 101–104: Der Halbriese-Halbtroll Dumbr schickt seinen Sohn til fjalla þeira er Dofrafjöll heita. Þar réð fyrir sá bergbúi, er Dofri er nefndr (»zu dem Berg, der Dovrefjell heißt. Dort regierte ein Bergbewohner namens Dofri«; Simek [Übers.] 2011, S. 480). Dieser nimmt Bárðr als Ziehsohn auf. 221 Kjalnesinga saga c. 12–15, S. 27–37: Búi, der einen Tempel Haraldr hárfagris verbrannt hat, wird von diesem als hǫfuðlausn-Aufgabe zu dessen Ziehvater Dofri im Dovrefjell geschickt, der nicht wörtlich, aber indirekt durch sein Hausen im Berg und seine Größe als Riese identifiziert werden kann. Dort zeugt Búi mit Dofris Tochter Fríðr einen Sohn namens Jökull, der ihn am Ende der Saga schließlich tötet (c. 18, S. 42–44). 222 Haralds saga ins hárfagra c. 25, S. 125–127. Zur Dämonisierung Snæfríðrs vgl. Teichert 2014b, S. 189–193; Teichert 2016. 223 Fær, S. 26 (weit vom Weg ab, und es ist weit von hier zu bewohntem Land in alle Richtungen). 224 Begriff in Anlehnung an Augé 1994. Dieser begreift als »Nicht-Orte« in erster Linie moderne Massentransportsysteme und Orte der Bedürfnisbefriedigung wie Supermärkte, sodass sich das Konzept kaum 1:1 übertragen lässt. Alternativ wäre das Dovrefjell in seiner Gegenweltlichkeit auch mit dem Konzept der »Heterotopie« nach Foucault 1992 beschreibbar. Dennoch meint Augé 1994 damit Orte »der Durchreise, de[s] Provisorischen und Ephemeren« (S. 93), in denen »weder Identität noch Relation, noch Geschichte wirklich Sinn haben« (S. 103). Daher schaffe »[d]er Raum des NichtOrtes […] keine besondere Identität« (S. 121). Alle Akteure in ihm seien zu einer ähnlichen Verhaltensweise gezwungen, die aber keine eigene Identität bereitstellte; im Supermarkt etwa verhalte
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Diese Aufladung des Bergplateaus mit außergewöhnlichen Wesen spiegelt sich auch in der Færeyinga saga, allerdings nicht durch die Einbeziehung übermenschlicher Elemente, sondern durch ihre narrative Öffnung hin zu Erzählmustern von ›Folktales‹ und Märchen. Deren narrative ›Außergewöhnlichkeit‹ fällt ebenso aus dem Rahmen gewohnter Saga-Erzählnormen, wie die riesischen Figuren in anderen Erzählungen außerhalb einer normativen Protagonistenriege angesiedelt sind. Dies reflektiert auch die Ersteinführung von ›Úlfr‹ in trollhafter Stilisierung.225 Das Dovrefjell zeigt sich raumsemantisch somit als doppelt marginal.226 Diese Beobachtung verdeutlicht, dass die bisherigen, binaristischen Textinterpretationen für die tatsächliche Komplexität der Raumdarstellung in der Færeyinga saga zu kurz greifen. Dies unterstreicht auch der Befund, dass sich die narrative Raumkonzeption ebenso wenig als einseitig erweist wie die soziokulturelle Trennung der Färöer und Norwegens oder die Rolle der norwegischen Könige auf den Färöern. Während der Raum Norwegen von ›märchenhaften‹ Erzählkonventionen bestimmt ist, schlagen gerade im so saga-typisch nüchtern erzählten Raum der Färöer immer wieder Elemente des ›Paranormalen‹ durch. Gerade dort zeigt sich das Wirken nicht-menschlicher und unchristlicher Mächte. Dieser narrative Raum wird durch die Figurendarstellung Þrándrs beherrscht, einer in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen Figur, die immer wieder als heidnischer Rebell im Bunde mit vorchristlichen Mächten interpretiert wurde.227 Er ist ein Zauberer, der Tote aus ihren Gräbern heraufbeschwören kann,228 und scheint das unvorhersehbare Wetter der Färöer quasimagisch zu seinen Gunsten beeinflussen zu können.229 All diese Zeichen seiner
sich jeder Einzelne als ein Kunde, ohne seine eigentliche Identität als solcher zu definieren. Der »Nicht-Ort« definiert sich damit als »Negation« (S. 130), sein eigentliches Wesen sei die »Ortslosigkeit« (S. 132). Dieses Prinzip kann auf die Funktion des Dovrefjell in der Færeyinga saga übertragen werden, indem es für Sigmundr nur einen transitorischen Aufenthaltsraum darstellt, in dem seine vormalige Identität zunächst keine Rolle mehr zu spielen scheint. Das Dovrefjell definiert sich als Gegensatz zu den tatsächlichen ›Orten‹, denen Sigmundr angehört, seiner Heimat auf den Färöern einerseits und dem norwegischen Hof andererseits. Somit symbolisiert das Dovrefjell maßgeblich Sigmundrs »Ortslosigkeit«, vgl. hierzu Kap. 4.3.2. 225 Vgl. zu Funktion und Sinn der Motivik im Hinblick auf die Ächtergeschichte Kap. 7.2. 226 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die oben genannte Märchen-Definition nach Tolkien 1983b auf seinem Konzept des »Perilous Realm« von Faërie fußt. »Most good fairy-stories«, so Tolkien, »are about the adventures of men in the Perilous Realm« (S. 113). Faërie ließe sich in einem weitergehenden Schritt tentativ als anderweltliches ›Erzählreich‹ fassen. Als solche Anderwelt erscheint das Dovrefjell im Erzählverlauf der Færeyinga saga, vgl. Kap. 4 u. Kap. 7.2. 227 Vgl. etwa Guldager 1975, S. 39; Foote 1984c, S. 178; Glauser 1989, S. 217; Glauser 1994, S. 115; Ármann Jakobsson 2009, S. 59; Harlan-Haughey 2015, S. 349–350. 228 Fær, S. 88. Zu Interpretation und Einordnung seines nekromantischen Rituals vgl. Kap. 3.6 u. Kap. 8. 229 Foote 1984c, S. 178; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxix; Almqvist 1992b, S. 51; North 2005, S. 67–68; Harlan-Haughey 2015, S. 349–350 et passim. Zur Thematik von Þrándr und seiner Wettermagie vgl. Kap. 3.6.3.
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übermenschlichen Begabung zeigen sich auf den Färöern. Þrándr ist als Figur ebenso geheimnisvoll wie das unzugängliche Wesen des realen Färöer-Archipels, das die Inseln zu einer Heterotopie in der altnordischen Literatur werden lässt, wie oben gezeigt. In seiner Figurenzeichnung kristallisiert die heterotopische Aufladung der Inseln und fällt als Normalzustand dieses Raums mit seiner Person und soziopolitischen Stellung zu einer fast symbiotischen Einheit zusammen – passenderweise, wenn nur sein Name unter den Protagonisten auch außerhalb der Færeyinga saga bekannt zu sein scheint.230 Diese Elemente und insbesondere die Unzugänglichkeit und natürliche Wildheit der Färöer, die sich in den schwierigen Wetterbedingungen äußert, gegen die Sigmundr wiederholt zu kämpfen hat, machen auch die Färöer zu einem ›anderen‹ Raum.231 Schon die natürliche Beschaffenheit der realweltlichen Färöer »make[s] human identification with this land difficult«.232 Auch wenn die Færeyinga saga die Topographie der Inseln keinesfalls exakt und bisweilen falsch wiedergibt, erweckt die Landschaftsdarstellung durchaus den denkwürdigen Eindruck, der die tatsächlichen Färöer prägt.233 So ist das literarische Landschaftsbild geprägt durch steile Kliffs, abweisende Landeplätze nach stets gefährlichen Seepassagen234 und schwierige, oder jedenfalls fortwährend in Planungen einzubeziehende, Bedingungen für die Interaktion der menschlichen Protagonisten. Die Insel Lítla Dímun etwa dient sogar dem wettermagischen Þrándr als natürliches Gefängnis, nachdem Sigmundr dort einen Angriff seiner Männer abgewehrt und die Boote entführt hat, und nur das Entzünden eines Leuchtfeuers kann ihn retten.235 Die Insel Skúfey ist eine natürliche, abweisende Festung,236 und die Protagonisten treffen nach einer Anlandung per Boot häufig auf steile Klippen, die sie überwinden müssen und die in die Abläufe von Kampfhandlungen und sogar des Gesamtplots funktional eingebunden werden.237 Zwar stellt diese Überwindung kaum je einen Protagonisten vor größere
230 Siehe Kap. 2.2. Zur Deckungsgleichheit zwischen Þrándrs Figurenzeichnung, seiner Landherrschaft und dem Zustand der Färöer als Raum in der Færeyinga saga siehe Kap. 3. 231 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 356. 232 Harlan-Haughey 2015, S. 369, zur Argumentation vgl. S. 368–369. 233 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 373–374. 234 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 372–373. Während Þrándrs Rebellion gegen Sigmundr versucht er zweimal, ihn auf See bzw. nach einer Passage zu überfallen (Fær c. 36, S. 82–83). Auch der von Þrándr orchestrierte Überfall Hafgrímrs auf Brestir und Beinir ereignet sich während einer Seepassage (Fær c. 7, S. 13–15). Zu dieser Gefährlichkeit der See kommen die oben angesprochenen Wetterschwierigkeiten noch hinzu, die häufig zu Schiffbrüchen führen, selbst wenn keine Magie im Spiel zu sein scheint, wie etwa in der Episode, in der Þrándrs Neffen nach ihrer Ächtung das Land verlassen sollen (Fær c. 49, S. 126). 235 Siehe Fær, S. 82–83, vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 375. In einer ähnlichen Situation finden sich später die norwegischen Kaufleute, die mit Þrándrs Neffen in Konflikt stehen (Fær c. 55, S. 131–132). 236 Siehe für die Beschreibung Fær, S. 47. Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 374. 237 Schon der Kampf zwischen Brestir und Beinir und Hafgrímr spielt sich auf einer schwierigen natürlichen Bühne ab. Als die Brüder auf Stóra Dímun anlanden, var hamar klettr æinn upp fra þeim brædrum (Fær, S. 14; ragte eine Klippe vor den Brüdern nach oben auf), die die beiden gut
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Schwierigkeiten, jedoch wird dies in der Logik der Diegese den außergewöhnlichen Fähigkeiten der jeweiligen Figur zugeschrieben.238 Diese Darstellung erweckt den Eindruck einer natürlichen Beschaffenheit der Färöer, die eigenen Regeln folgt und somit ›andersartigen‹ Bedingungen unterliegt. Sie spielt sogar teilweise in den Konflikt der Protagonisten hinein,239 denn »the Faroese landscape itself is intractable«.240 Auch wenn Sarah Harlan-Haugheys Diktum einer »ecocentric textuality of Færeyinga saga«241 um einiges zu weit greift und ihre Argumentation in Teilen nur schwer am Text nachvollziehbar erscheint, ist ihrer Beobachtung beizupflichten, dass den Inseln eine ›Otherness‹ innewohnt, die sich in ihrer natürlichen Unwegsamkeit und Isolation äußert, und die die eigenwillige Macht des Archipels unterstreichen.242 Die Rolle der »Faroese landscape itself as formidable and damaging player in this great political drama«243 wird durch ihre »recalcitrant nature« herausgestellt,244 die mit den Protagonisten im Bunde stehen oder sich gegen sie wenden kann und somit »[t]he resilience of the Faroes« unterstreicht.245 Dabei ist zu betonen, dass auch in der Færeyinga saga Natur und ihrer Beschreibung kein Wert an sich zukommt. Wie bereits angedeutet, werden Landschaftsbeschreibungen, im Einklang mit den Konventionen der Sagaliteratur, nur in den Erzählfortgang eingebun-
zur Verteidigung nutzen können, indem sie die Angreifer vor Schwierigkeiten stellt. Die natürliche Festung Skúfey kann, wie oben angesprochen, zwar mehrfach überwunden werden, allerdings nur, weil nicht ausreichend für ihre Verteidigung gesorgt wurde (Fær, S. 53–54 u. S. 84), sodass die natürlichen Bedingungen sich gegen die Inselbewohner selbst wenden. Sigmundr, Sigurðr und Leifr setzen nacheinander Steilklippen, die sie überwinden, in Auseinandersetzungen mit Gegnern zu ihrem Vorteil ein (Fær, S. 82–83, S. 132 u. S. 136). Selbst Sigmundrs Tod wird maßgeblich von einer Steilklippe bedingt, als er sich nach dem Angriff auf seinen Hof waffenlos mit einem Sprung ins Meer zu retten versucht, weil er sich anderweitig auf der Klippe nicht verteidigen könnte (Fær, S. 85, vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 374–375, die allerdings einen falschen Zusammenhang der Szene herstellt). Indirekt wird auch das Ende der Erzählung durch die Inselnatur der Färöer beeinflusst: Nach der ›Entführung‹ des eigenen Sohnes durch Leifr und Þóra und der Zerstörung aller Boote auf Austrey ist Þrándr auf seiner eigenen Heimatinsel gefangen gesetzt und kann nicht mehr in den Konfliktverlauf eingreifen (Fær, S. 134–135). 238 Sigmundr und Leifr setzen durch metertiefe Sprünge Steilklippen hinab die natürliche Beschaffenheit der Inseln gegen ihre Widersacher ein, indem sie ihren eigenen Weg verkürzen (Fær, S. 82 u. S. 136). In Leifrs Fall heißt es, der Abgrund sei xv. fadma hátt j fíoru nídr (Fær, S. 136; fünfzehn Klafter tief zum Strand hinunter) gewesen. Nur außerordentliche Krieger können solche Bedingungen bezwingen. Vielsagender Weise berichtet die Færeyinga saga in der Episode, in der Sigurðr die Taktik Sigmundrs adaptiert, um die norwegischen Kaufleute zu besiegen, von einem so riesenhaften Sprung nichts, sondern fasst nur kurz zusammen, dass alle drei Neffen Þrándrs sich am Strand treffen (Fær, S. 132). 239 Harlan-Haughey 2015, S. 352. 240 Harlan-Haughey 2015, S. 368. 241 Harlan-Haughey 2015, S. 371. 242 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 356. 243 Harlan-Haughey 2015, S. 368. 244 Harlan-Haughey 2015, S. 373. 245 Harlan-Haughey 2015, S. 370, vgl. auch S. 376–377.
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den, wenn sie eine Funktion innerhalb der Auseinandersetzungen der Figuren einnehmen. Harlan-Haugheys »third order«246 stellt diese Landschaft dezidiert nicht dar. Doch bleibt auf einer so ausgestalteten Bühne wie der natürlichen Kulisse der Färöer menschliche Interaktion durchaus relativ. Die landschaftliche Beschaffenheit der Inseln muss im Zuge der Auseinandersetzungen, die auf ihnen stattfindet, stets miteinbezogen werden. Stürme, Schiffbrüche, schwierige Seepassagen und Anlandungen sind in diesem Raum keine Seltenheit, sondern konstitutives Merkmal seiner Ausgestaltung. Diese Faktoren legen ein verstärktes Bedenken der »subversive landscape« der Inseln nahe.247 Tatsächlich lassen sich die Färöer vom Zeitpunkt ihrer frühesten Darstellung an als »intrinsically pagan« verstehen.248 Zweimal heißt es zu Beginn der Saga, dass þa voru heidnar allar Færeyiar;249 »a particularly interesting turn of phrase that appears to describe the islands themselves, rather than the inhabitants, as heiðnar«.250 Þrándrs mit dem Wetter und den Strömungen paktierende, ›paranormale‹ Fähigkeiten zeigen sich insbesondere in Momenten verstärkten norwegischen Drucks auf die Inseln.251 Die Färöer selbst scheinen sich norwegischen, das heißt äußerlichen, Einflüssen aktiv zu widersetzen.252 Dennoch bleiben sie allgemein nur relativ für »any human meaning-making« verfügbar,253 da sogar Þrándr auf naturgegebene Schwierigkeiten stoßen kann. Während also Norwegen mit seinem monarchischen Sozialsystem einen konstanten Faktor in der färöischen Machtbalance darstellt und Norwegen in seiner Konzeption als ressourcenvoller Außenraum für die Färinger eine narrative ›Otherness‹ durch die Verwendung ›märchenhafter‹ Erzählstrukturen zugewiesen bekommt, sind auch die Färöer durch die Eigengesetzlichkeit ihrer natürlichen Beschaffenheit mit ›Otherness‹ codiert. Diese ›Otherness‹ schlägt sich sogar auf einer lexikalischen Ebene nieder. Wenn Sigmundr und seine Begleiter, in der Regel eine bereitgestellte
246 Harlan-Haughey 2015, S. 352. 247 Harlan-Haughey 2015, S. 355. 248 Bonté 2014a, S. 133. 249 Fær, S. 4 u. S. 10 (damals […] die gesamten Färöer heidnisch [waren]), je einmal in Bezug auf Þrándrs Vater Þorbjǫrn Gǫtuskeggr und Hafgrímr von Hof. Der Eindruck spezifisch heidnischer Bedingungen auf den Inseln wird durch die eigens erwähnten Bestattungen von Þorbjǫrn, Hafgrímr und Brestir und Beinir at fornum síd (Fær, S. 4 u. S. 17; nach alter Sitte) hervorgehoben. Þorbjǫrns explizite Beisetzung in einem Hügelgrab ließe sich darüber hinaus als Hinweis auf Þrándrs enge Verbindung mit dem Land der Färöer verstehen, vgl. dazu Kap. 3.3. Ebenso wird die heidnische Situation durch Hafgrímrs Zeichnung als blotmadr mikill (großer Opferer) und den Namen seines Stammsitzes At Hofi zusätzlich verstärkt, vgl. Bonté 2014b, S. 99–100. 250 Bonté 2014a, S. 131–132. 251 Vgl. Bonté 2014a, S. 133 sowie North 2005 zur Verbindung von Þrándrs Magie und dem Land. Siehe Bonté 2014a, S. 142 zur Verstärkung dieser Effekte im Angesicht norwegischer Aktionen. Vgl. hierzu Kap. 3.6.3; zur Dialektik von Heidentum und Christentum allgemein siehe auch Kap. 4.5, Kap. 7.4 u. Kap. 8.3. 252 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 355. 253 Harlan-Haughey 2015, S. 376.
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Mannschaft aus Untergebenen seines jeweiligen norwegischen Lehnsherrn, zwischen den Färöern und Norwegen hin und her reisen, wird die Richtung häufig damit angegeben, dass sie útan af Færeyjum nach Norwegen kommen oder út til Færeyja reisen.254 Dies spiegelt zwar normalen isländischen Sprachgebrauch in Bezug auf Island selbst und mag so den ursprünglichen Rezipientenkreis Parallelen zwischen den Inseln ziehen haben lassen. Auch bezeichnet die Heimskringla sowohl Island als auch die Färöer simultan als útlǫnd.255 Im Kontext der Narration der Færeyinga saga allerdings wird in der Verwendung des Adverbs út als Richtungsangabe für die Lage der Färöer durchaus eine norwegische Perspektive greifbar, die sich insbesondere aus der Wandelbarkeit der Richtungstermini ergibt. Þrándr verlässt die Färöer nur ein einziges Mal in seiner Jugend, seine Reise wird dabei aber mit keinerlei Richtungsadverbien versehen.256 Als Sigmundr und Þórir im Kindesalter nach Norwegen gebracht werden, kommt das Handelsschiff Rafns, der sie mitnimmt, af Noregi til Færeyía,257 und segelt at Noregi.258 Sigmundrs Rückkehr aus dem Exil kommt ganz ohne Richtungsadverbien oder Länderbezeichnungen aus, die Reise geht bei gutem Wind þar til er þeir hỏfdu fugl af eyíum.259 Auch die Fahrt zurück an Hákons Hof, um dessen Schiedsspruch einzuholen, gibt keine Details an,260 und später kommen die Schiffe, die die Nachrichten von Þrándrs unterbliebener Reise bringen, nur af Færeyíum.261 Danach allerdings kehrt Sigmundr vt til Færeyía zurück,262 und auch wenn er in der Folgezeit stets til Noregs fährt,263 um seine Tribute zu entrichten, kehrt er ab diesem Zeitpunkt mehrfach unter Verwendung der gleichen Formulierung in sein Heimatland zurück.264 [V]tan af Færeyium reist Sigmundr allerdings nur zum ersten Mal an Óláfr Tryggvasons Hof.265 Die Formulierung wird später noch ein Mal wiederholt, als Óláfr der Heilige ein Schiff auf die
254 Beide Formulierungen Fær, S. 70 (von draußen auf den Färöern; hinaus auf die Färöer). 255 Haralds saga ins hárfagra, S. 118 (Außenlande). 256 Fær, S. 5 u. S. 7. Er fährt lediglich til Noregs und danach sudr til Danmerkr. Die Rückreise verläuft erneut til Noregs und dann til Færeyia. 257 Fær, S. 18. 258 Fær, S. 20. 259 Fær, S. 50 (bis sie Vögel von den Inseln sahen). 260 Fær, S. 58: Es heißt dort lediglich, Sigmundr segelt ab, sobald er bereit ist, und sie taka Noreg vid Sunn mæri (erreichen Norwegen bei Sunnmøre). 261 Fær, S. 59. 262 Fær, S. 61. 263 So Fær, S. 65. Fær, S. 62 gibt an, er kemr vid Noreg (kommt nach Norwegen); später fährt er til Hakonar j(arls) (S. 66; zu Jarl Hákon). 264 Fær, S. 63, S. 65 u. S. 69. Später geht auch König Óláfr Tryggvasons Einladung vt til Færeyia (S. 70) und als Missionar will Óláfr Sigmundr ebenfalls in diese Richtung schicken (S. 73). Nach der Trennung von Óláfr kommt Sigmundr ebenso vt til Færeyia (S. 80), wie die Jarle Sveinn und Eiríkr dorthin Botschaft senden und Sigmundr nach dem Aufenthalt an ihrem Hof dorthin zurückkehrt (S. 81). 265 Fær, S. 70.
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Färöer schickt, um seine Gefolgsmänner utan af Færeyiom zu sich zu rufen.266 Die Reisen zwischen Norwegen und den Färöern im späteren Teil der Saga werden erneut ohne Richtungsadverbien formuliert.267 Dass es sich bei der Verwendung von út zur Bezeichnung der Situierung der Färöer folglich nicht allein um eine Wendung der isländischen Sprache handelt, sondern dem Adverb eine perspektivische Bedeutung zukommt, wird an dieser ungleichen Verwendung deutlich. Nach den Färöern »draußen« fährt alleine Sigmundr zum Zeitpunkt seiner festen lehnsrechtlichen Bindung an den norwegischen Hof, von »draußen« auf den Färöern kommt er in der Regierungszeit des christlichen Missionskönigs, der definitive Hierarchien einfordert.268 Es ist vor allem dessen Perspektive, die sich in der Verwendung der Adverbien út und útan in der Erzählung ausdrückt: Die Färöer, die zu diesem Zeitpunkt noch völlig vom Heidentum beherrscht werden, sind ein abgetrennter Außenbereich, den der König seiner Verfügungsgewalt unterwerfen muss. Auch für Hákon liegen die Färöer út, und dass Sigmundr dort »hinaus« fährt, führt den gestiegenen Einfluss des Jarls in diesem Außenbezirk seines Herrschaftsgebietes vor Augen.269 Eine andere Perspektive erhält dieses Prisma auf die Färöer als út-Raum norwegischer Herrschaft unter Óláfr Haraldsson. Insbesondere die Flateyjarbók-Redaktion der Færeyinga saga verzichtet in diesem Abschnitt, abweichend von anderen Handschriften, wieder fast völlig auf jegliche Richtungsadverbien.270 Stattdessen fällt
266 Fær, S. 94. Andere Redaktionen der Óláfs saga helga formulieren auch, dass das betreffende Schiff ut til Færeyia fährt, und lassen auch nach Óláfrs erstem Ruf die Färinger utan af Færeyiom kommen (Fær, S. 90). Die Flateyjarbók unterschlägt in beiden Fällen das Richtungsadverb (Flat II, S. 241 u. S. 242; siehe auch Fær S. 90 u. S. 94 Anm. zu Z. 43.2 u. Z. 45.2). Dass utan in der oben genannten Formulierung dennoch vorkommt, könnte hier als eine Art indirektes Zitat des zornigen Königs selbst aufgefasst werden, der nach seinen Untergebenen von »draußen« verlangt. 267 Fær, S. 92–93, S. 97–98, S. 105–106, S. 108 (König Óláfr möchte Leute þangat senden, um die unterbliebenen Tribute einzuholen – wenn die Verwendung von utan zuvor seinem Zorn geschuldet sein sollte, scheint dieser hier insofern einer gewissen Resignation gewichen zu sein), S. 111–112 u. S. 124. 268 Vgl. hierzu Kap. 7.4.3 u. Kap. 4. 269 In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass in den abweichenden Redaktionen des Textes in der Óláfs saga Tryggvasonar Sigmundr bei seiner ersten Ankunft an Hákons Hof bereits selbst von seinem Vater und Onkel als Hákons hirð menn […] ok syslu menn vt j Færeyium (Fær, S. 37 [Text A]; Gefolgsleute […] und Vögte draußen auf den Färöern) spricht (dies allerdings nicht in Redaktion D). Auch kommen die Leute, die Nachrichten von Þrándrs verhinderter Reise bringen, hier utan af Fær eyium (Fær, S. 37 [Text A; ebenfalls nicht in D]). Deutlich wird daran, dass es dieser Textredaktion wesentlich um die Anbindung der Färöer an das norwegische Reich geht, wenn schon zur Regierungszeit Hákons ein (reichlich anachronistisches) hierarchisches Syssel-Lehen besteht. Als syslu maðr des Jarls bezeichnet Sigmundr den eigenen Vater auch in der Flateyjarbók (siehe Fær, S. 37), jedoch fällt dies im Kontext des dortigen Textes weniger stark ins Gewicht. 270 Siehe Fær, S. 90 u. S. 94: Die Färinger erscheinen utan af Færeyiom am Hof und Óláfrs Botschaft ergeht per Schiff ut til Færeyia. Dass die Färöer in den anderen Redaktionen häufiger út liegend verortet werden, entspricht der gleichen Rahmenzielsetzung der Erzählung wie im Abschnitt um die Herrschaft Óláfr Tryggvasons: Die Inseln sind ein Außenbereich des norwegischen Reiches, den der König seiner Herrschaft unterwerfen will und dessen Fremdheit sich auch in der
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eine Konzentration verschiedener Bezeichnungen aus dem Wortfeld færeyskr auf.271 Diese Perspektivierung scheint das Selbstverständnis Óláfrs des Heiligen und seinen als selbstverständlich vorausgesetzten Einfluss auf den Färöern zu spiegeln:272 Durch die Häufigkeit der Volksbezeichnung wird zwar deutlich, dass die Färöer auch für diesen König einen distinkten Raum darstellen, dessen Bewohner in seinen Augen Fremde sind, aber dieser Raum unterliegt bereits seiner Autorität und befindet sich nicht út. Diese Darstellung der Färöer als eigener Raum durch ihre nur schwerlich meisterbaren Naturbedingungen sowie die Fokussierung als út im Prisma der norwegischen Herrscher invertiert das oben gezeichnete Bild Norwegens als konzeptioneller und narrativer Außenraum der färöischen Innenwelt. Auch die Inseln werden als ›andersartiger‹ Raum semantisiert. Die semantischen Perspektiven in den Raumkonzepten der Færeyinga saga lassen sich insofern als gedoppelt bezeichnen: Vom Standpunkt der Färöer aus gesehen bildet Norwegen das ›andere‹ Außen, im Verständnis eines norwegischen ›Selbst‹ (wie dem der dortigen Herrscher) hingegen ergibt sich ein genau umgekehrtes Bild. Dabei sind die beiden Raumsemantiken allerdings in hohem Maße wechselseitig bedingt. Es ist insofern bemerkenswert, dass keine der beiden Perspektiven sich durchsetzt, sondern dass innerhalb der Erzählung beide gleichberechtigt nebeneinander her prozessiert werden. So ist weder Norwegen einzig der abgewiesene (oder abzuweisende) ›andere‹ Raum, noch sind die Färöer lediglich eine stimmlose Kolonie, die der norwegischen Herrschaft im Laufe der Erzählung untergeordnet wird. Im Gegenteil scheinen beide Räume anteilig an einem raumkonzeptionellen Aushandlungsprozess in der Færeyinga saga beteiligt, der alles andere als statisch ist, und beide Räume erhalten im Zuge dessen
verwendeten Lexik niederschlägt. Es wird durch die Formulierung deutlich gemacht, dass die Inseln sich außerhalb der königlichen Kontrolle befinden. Dabei wird Óláfrs Ausgriff auf diesen Außenbereich ebenso erfolgreich abgewehrt, wie im innerhalb der Óláfs saga parallel verlaufenden Handlungsstrang um Island. Die Lage der Kolonien außerhalb der Königsgewalt wird in beiden Fällen nachdrücklich bestätigt, die Färöer bleiben deshalb ein Raum út. Vgl. auch Kap. 3.4.4 (Fn. 263) u. Kap. 7.4.4. Im Gegensatz dazu positioniert sich die Redaktion der Flateyjarbók. Sie bindet die Færeyinga saga als Gesamtnarrativ ein und kann insofern die gesamte vorhergehende Geschichte als Vorwissen dieses Abschnitts einbauen. Die Färöer sind, wenigstens im Selbstverständnis König Óláfrs, hier bereits ein Teil des norwegischen Reiches, da die Gesamtgeschichte immer wieder auf Vorgänge in Norwegen bezogen wird. Insofern besteht weniger Notwendigkeit, ihre Randständigkeit bzw. den a priori fehlenden Einfluss des norwegischen Herrschers auf das Gebiet auch lexikalisch zu unterstreichen. 271 Siehe Fær, S. 90–112, bes. S. 90–94. Die Männer von den Färöern werden, selbst als Gefolgsleute Óláfrs, überdurchschnittlich häufig mit dem Sammelbegriff Færeyingar bezeichnet, und obwohl Richtungsadverbien fehlen, wird der Name der Inseln bei Reisen stets explizit genannt. Auch wird die umständliche Formel þeir oder hinir færeyskir (menn) gebraucht, die im gesamten Rest des Textes nie vorkommt. 272 Vgl. Kap. 7.4.4.
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gewissermaßen eine eigene Stimme.273 Wie an mehreren anderen Stellen stellt die Saga hier ihr polyphones Gestaltungsprinzpip aus, das einzelne Stimmen im Text nicht überprivilegieren will, sondern den Text öffnet.274 Als Konfliktnarrativ, dem es um die Bildung immersiver Wir/Sie-Unterscheidungen ginge, dürfte sie das indes nicht.275 So situiert sich der Plot der Erzählung um diesen mehrstimmigen Aushandlungsprozess seiner räumlichen Konzepte, und integriert dafür im hohen Maße deren wechselseitige Bedingtheit, indem die Beschaffung von Ressourcen aus Norwegen oder herrscherliche Interventionen auf den Färöern durchgängig als Trigger für Handlungssequenzen auf den Inseln dienen. Bemerkenswert ist weiterhin allerdings, dass der dadurch entstehende Konflikt auf den Färöern autonom reguliert wird und nur so überhaupt reguliert werden kann. Solange das Verhältnis beider Räume durch jeweilige figürliche Vertreter antagonistisch ausagiert wird und sich beide Räume semantisch gegenseitig als ›Außen‹ perspektivieren, ist keine endgültige Lösung der Erzählsituation erreichbar. So spiegeln sich zu Beginn der Saga die zweigeteilten Machtverhältnisse auf den Färöern und in Norwegen und Querelen ergeben sich konsequent in beiden Ländern,276 bis eine jeweils unumstößliche Einzelherrschaft erreicht ist. Auf den Färöern herrscht so vorerst auch Ruhe, als nach der gegenseitigen Ausschaltung der ursprünglichen Herrschaftsinhaber Þrándr das entstehende Machtvakuum okkupiert. Dies bleibt gültig, solange kein norwegischer Eingriff in die bestehenden Verhältnisse erfolgt. Sigmundr erobert dann aber die Macht auf den Färöern mit Hákons Unterstützung. Sein Niedergang ergibt sich daher langfristig aus seiner Bindung an Norwegen und seiner Missionsreise im Gegensatz zu Þrándrs Abweisung norwegischer Autorität.277 Der Besteuerungsversuch Óláfrs des Heiligen setzt die Rivalität zwischen Þrándrs und Sigmundrs Familie in der Nachfolgegeneration ins Relief und ermöglicht letztendlich das deutlichste Auf-
273 Harlan-Haughey 2015, bes. S. 355–356, sieht diese Mehrstimmigkeit der Saga durch ihre verschiedenen Quellen (mündliche färöische Erzählungen einerseits, ein norwegisches Kolonialnarrativ andererseits) begründet. Ihr zufolge sei die Saga ein »product of many people’s voices« (S. 355), was einige der »somewhat conflicting account[s]« (S. 358) des Textes erkläre. Eine solche Annahme erscheint insgesamt aufgrund der Dürftigkeit nachweisbarer Quellen zu hypothetisch. Auch wenn mündliche färöische Quellen sicher als einer der Informationsträger für den Stoff der Saga gesehen werden müssen, entziehen sich Form und Inhalt doch gänzlich einem wissenschaftlichen Zugriff, gerade weil sich moderne färöische Stoffadaptionen zumeist auf den Sagatext als Ursprung zurückführen lassen. Zudem lassen sich die vielen Ambiguitäten der Saga gerade als binnentextliche Phänomene lösen, wie die vorliegende Studie zeigen möchte. 274 Vgl. grundlegend Bachtin 1971. 275 Vgl. hierzu Koschorke 2013, S. 96–101, mit theoretischen Vorüberlegungen ab S. 84. 276 Vgl. Ólafur Halldórsson 1967, S. xiv–xv. Im Haupttextträger Flateyjarbók werden beide Konflikte nebeneinander auserzählt und so die norwegische Situation umfänglich in Parallele zur färöischen erkennbar. 277 Siehe hierzu Kap. 3 u. Kap. 4.
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zeigen von Þrándrs Vorherrschaft.278 All diese Zwischenstationen treiben den Konflikt auf den Färöern weiter vorwärts, keiner von ihnen bringt aber eine endgültige Lösung. Im Gegenteil, wann immer die norwegischen Herrscher versuchen, mit ihrer Autorität möglichst direkt auf den Färöern zu intervenieren, erweist sich, dass keine dieser Aktionen langlebigen Erfolg nach sich zieht. Hákons Schiedsspruch im Konflikt zwischen Sigmundr und Þrándr ist durch Sigmundrs Bereitschaft, die Bußgeldzahlungen über drei Jahre zu stunden, bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Norwegen obsolet,279 Óláfr Tryggavsons Missionsbemühungen haben nur bedingten Erfolg,280 und Óláfr Haraldssons Besteuerungsversuche scheitern vollständig, als weder Steuern von den Inseln das norwegische Reich erreichen, noch seine Autorität durch seine Gefolgsleute oder seinen Gesandten auf den Färöern durchgesetzt werden kann und Karl von Møre schlicht erschlagen wird.281 Der Plot der Færeyinga saga entwickelt sich folglich konstant zwischen norwegischen Einflussnahmen und inner-färöischen Konflikten, aber das Interesse der Erzählung entfällt mithin auf die Folgen norwegischer Interventionen und ihre Regulierung allein unter den färöischen Protagonisten; von Norwegen aus geleitete Aktionen haben nur kurze Erfolgsaussichten. Interessant hinsichtlich der hier vorgestellten Raumsemantiken und der Plotentwicklung zwischen beiden Polen ist schließlich, dass die Erzählung ihr Ende und der Konflikt seine endgültige Lösung in einer Figur findet, die beide räumlichen Semantiken umspannt, in Form von Leifr Ǫzurarson.282 Wenn Sigmundr intrinsisch mit der räumlichen Semantik des norwegischen Reiches verbunden ist, während Þrándr den Erzählraum der Färöer dominiert,283 treffen in Leifrs Fall beide Aussagen zu. Sigmundr wird seine Entwurzelung im Raum der Färöer und alleinige Verbindung zu Norwegen zum Verhängnis, Leifr hingegen ist in diesem Raum ebenso heimisch wie sein Ziehvater Þrándr. Gleichzeitig muss Leifr im Gegensatz zu diesem seine Macht und Identität nicht entgegengesetzt zum norwegischen Königshaus definieren, sondern integriert dessen Autorität unproblematisch in seiner eigenen. Zugleich stützt er sich gerade nicht auf norwegische, äußere Ressourcen, um die Macht innerhalb der Färöer schlussendlich für sich zu gewinnen. Formal zum norwegischen Lehnsnehmer wird er erst, nachdem er allein die Vorherrschaft errungen hat und Þrándr und seine Familie beseitigt sind.284 Er und seine Frau – aus dem 278 Siehe näher Kap. 3.4.4. 279 Vgl. North 2005, S. 64–66 u. S. 68. Siehe näher auch Kap. 4.3.3. 280 Zur Christianisierungsthematik siehe jeweils Kap. 3.6.1 u. Kap. 4.5.1. 281 Vgl. näher Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3. 282 Siehe Kap. 6.4. 283 Vgl. je Kap. 3 u. Kap. 4. 284 Fær, S. 137: L(eifr) rædr nu æínn ollum Færeyíum ok uar þat um daga Magnus konungs goda Olafs sonar. L(eifr) for til Noregs a fund Magnus konungs ok tekr af honum len yfir Færeyíum (Leifr beherrscht nun alle Färöer allein und das war in den Tagen Magnus des Guten Óláfssons. Leifr fuhr nach Norwegen an den Hof König Magnus’ und nimmt von ihm das Lehen über die Färöer entgegen).
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›märchenhaften‹ Dovrefjell – lösen den Konflikt auf den Färöern autonom,285 ohne eine herrscherliche Intervention von Norwegen aus, und sie integrieren dabei die Semantiken, die den Haupthandlungsräumen in der Erzählung zugewiesen werden.286 Angesichts der hier vorgestellten raumsemantischen Überlegungen, der ständigen wechselseitigen Bedingung und Beeinflussung der beiden Herrschaftsräume, der Plotentwicklung entlang ihrer Grenzverläufe, der Multiperspektivität der Innenund Außen-Konzipierungen von Norwegen und Färöern und der beiderseitigen Semantik der ›Otherness‹ sowie der Eröffnung einer zusätzlichen Anderwelt im Dovrefjell, ist eine Ansicht des Textes, die implizit zwei voneinander getrennte Welten im Sinne ihrer soziokulturellen Codierung – also letztlich zwei Semiosphären – ansetzt, wenig überzeugend. Stattdessen scheint es wesentlich gerechtfertigter, von einer einzigen Semiosphäre im Text auszugeben, die alle Handlungsräume umschließt. 2.3.2.3 Die Räume der Færeyinga saga in Lotmans Semiosphären-Modell Das Raumverhältnis von Norwegen und den Färöern in der Færeyinga saga spiegelt im Lichte der obigen Beobachtungen präzise das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Lotmans Modell. Die Tatsache, dass »dominierende semiotische Systeme« in den Kernstrukturen der Semiosphäre angesiedelt sind,287 während ihre Deutungshoheit nach außen hin abnimmt,288 ist die Ursache der wechselseitigen Semantisierung beider Handlungsräume der Færeyinga saga als ›andersartig‹, zugleich aber auch ihrer gegenseitigen Bedingtheit. Prinzipiell wäre das strikt organisierte Zentrum der Semiosphäre in diesem Fall am norwegischen Königshof auszumachen, dessen herrschaftsrechtliche Peripherie die Färöer darstellen. Dort werden seine dominanten Codes »zunehmend amorpher«.289 Was in der Saganarration Ausdruck findet, ist der Versuch der norwegischen Herrscher, die eigene semiotische Deutungshoheit bis an die Ränder der Semiosphäre auszudehnen, also in Lotmans Terminologie ein »Stadium der Selbstbeschreibung« zu erreichen.290 Um imperiale Dominanz zu erreichen, haben
285 Vgl. Kap. 6.4.3 u. Kap. 7.3.3. 286 Zur strukturellen Bedeutung des Integrationsmoments am Ende der Saga siehe weiter Kap. 8. Die von Harlan-Haughey 2015, S. 352 angesetzte »third order« im Rahmen der Raumkonzepte der Saga wäre – wenn man so will – entsprechend nicht die färöische Natur, sondern das ›wilde‹ und märchenhaft ausgestaltete Dovrefjell, das in der Figur der Þóra Sigmundardóttir in die bis dorthin binäre Raumsemantik von Norwegen und Färöern integriert werden kann. Für eine Lesung der Færeyinga saga auf der theoretischen Grundlage des »Dritten« siehe Schmidt 2019. 287 Lotman 1990, S. 295. 288 Vgl. Lotman 1990, S. 294. 289 Lotman 1990, S. 294. 290 Lotman 1990, S. 294. In der Folge spricht Lotman davon, dass »[d]ie Schaffung von metastrukturellen Selbstbeschreibungen (Grammatiken) […] ein Faktor [sei], der die Strenge der Struktur verstärkt und ihren Wandel verzögert« (S. 295).
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sie das »Problem« des »Raumwiderstandes« »logistisch zu bewältigen«.291 Dies versuchen sie, durch die Einbindung Sigmundrs und seiner Nachfolger zu erreichen. Macht wird demnach in den Zwischenräumen von Institution und Rändern, in der »Dialektik zwischen Zentralherrschaft und peripheren Dynamiken« generiert.292 Aus dieser Perspektive erweist sich der Raum der Färöer allerdings als überaus widerspenstig, der »Raumwiderstand« seiner ›Otherness‹ ist nicht leicht zu überwinden. Grund dafür ist Þrándrs Dominanz über die Peripherie. Er gehört mit seiner Figurenzeichnung ins Ensemble jenes »entsprechend ambivalenten Personal[s]«,293 das, vom Zentrum aus gesehen, so Lotman, bevorzugt am Rand, auf der Grenze der Semiosphäre, situiert wird.294 Der tatsächliche außer-semiotische Raum, das alien295 ›Andere‹ wird in der Færeyinga saga dabei nicht beschrieben. Ein Kulturraum außerhalb desjenigen, in dem sich die Handlung zuträgt, kommt nicht in den Blick.296 In Bezug auf Þrándr ließe sich unterstellen, dass es die übermenschlichen Mächte sind, mit denen er in Kontakt treten kann, die jenseits der Grenze der Semiosphäre liegen.297 Deutlich ist jedenfalls Þrándrs Funktion als Grenzfigur der Semiosphäre, die die Diegese entwirft. In seinem Bereich, den ›anderen‹ Färöern, finden Umcodierungen statt. Dort, wo Þrándr ist, schwächt sich die Deutungshoheit der norwegischen Könige ab, er wirkt ihren Dominanzbestrebungen entgegen. Letztlich ist der Bereich, über den er herrscht, »nicht einer Beschreibung unterzogen oder […] in Kategorien einer ih[m] offensichtlich inadäquaten ›fremden‹ Grammatik [nämlich der Machtgrammatik der norwegischen Herrscher] beschrieben«,298 und entwickelt sich folglich eigengesetzlich. An der Grenze der Semiosphäre, an ihrer Peripherie, entsteht »immer ein Bereich verstärkter Sinnbildung«.299 Die Codierungen fallen dort im übersetzenden Kontakt mit dem tatsächlich außer-semiotischen Raum »elastische[r]« aus,300 Impulse werden aufgenommen und Veränderungsprozesse kommen in Gang, »um […] in die Kernstrukturen einzudringen und diese zu ver-
291 Koschorke 2013, S. 126, zur Konvergenz von Semiosphären-Modell und Machttheorie vgl. insgesamt S. 125–128. 292 Koschorke 2013, S. 127. 293 Koschorke 2013, S. 121. Vgl. hierzu Kap. 3. 294 Vgl. Lotman 1990, S. 292. 295 Zum soziologischen Konzept der Alienität im Unterschied zur Alterität siehe Knoblauch/ Schnettler 2004, bes. S. 29–35. 296 In Rückbindung mit der isländischen Perspektive der Saganiederschrift wäre als nochmals stärker ›anders‹ dargestellter Raum gegebenenfalls Island selbst mit seiner bereits seit Urzeiten christlichen Prägung und seinem Gleich- und Freiheitsgedanken vorstellbar. Um einen faktisch ›alienen‹ Raum darzustellen, müsste sich die Erzählung freilich zumindest phantasievoll ausgestalteten Gegenden wie den fremden Reichen der Riddarasögur zuwenden (vgl. zu diesen Lambertus 2013) – wenn nicht gar jenseitigen Erzählwelten. 297 Vgl. hierzu Kap. 3.6.3 u. Kap. 8. 298 Lotman 1990, S. 295. 299 Lotman 1990, S. 295. 300 Lotman 1990, S. 295.
2.3 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga
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drängen.«301 Gerade das ist, was Þrándr zu tun versucht. Aus seiner Sicht befinden sich die norwegischen Herrscher an der Peripherie des eigenen, nach semiotischer Dominanz strebenden Codesystems. Sie entziehen sich seiner Kontrolle, während das Zentrum seines Codes sich im Raum der Färöer etabliert. Das Projekt, das von Þrándr betrieben wird, ist die »zukünftige Verlagerung der Funktion des strukturellen Kerns an die Peripherie der vorhergehenden Etappe [also der norwegischen Herrschaft über die Färöer] und [die] Umwandlung des ehemaligen Zentrums in die Peripherie.«302 Dieses, über lange Zeit erfolgreiche, Unterfangen reflektiert die Færeyinga saga durch die Darstellung des Raums Norwegen als ›anderer‹ Raum fremder, für die Peripherie und speziell für die Figurendarstellung Þrándrs also ungewohnter,303 Erzählkonventionen. Somit ist die wechselseitige Innen/Außen-Konzeption beider Handlungsräume Resultat des semiotischen Machtkampfes einzelner, nach Dominanz strebender Codes – nämlich denen der respektiven Herrscher und Þrándrs. Diese Codes verhalten sich wechselseitig korrosiv und versuchen, die Macht in Form der semiotischen Deutungshoheit des jeweils entgegengesetzten Codes auszuschalten. Die Polarität entfällt erst in der Figur Leifr Ǫzurarsons, der die korrekten Codes von sowohl Peripherie als auch Zentrum kennt und integrieren kann. In Lotmans Entwurf wird Kommunikation zwischen semiotischen Einheiten unnötig, wenn beide Parteien den gleichen Code verwenden304 – dieser Punkt ist mit Leifr in der Færeyinga saga erreicht, die beiden Codes sind vereint, und die Saga findet so ihren logischen Schlusspunkt. In Folge dessen werden beide narrativen Räume von gegensätzlichen semantischen Feldern regiert und reguliert, was das Prinzip der »Ungleichmäßigkeit im Innern« des Semiosphären-Modells verdeutlicht.305 Dabei ergibt sich trotz gegenseitigem ›Othering‹ der räumlichen Konzepte und Semantiken der Erzählung allerdings »kein einseitig hierarchisches Gefälle«.306 Beide unterschiedlichen Raumsemantiken sind insofern genuin notwendig, um gegenseitig Funktionalität im Rahmen der Zentrum/Peripherie-Unterscheidung zu garantieren.307 Ihre Differenzierung ist insofern aber relativ und nicht absolut, was sich nicht zuletzt in der durchgängigen Bezogenheit beider Räume aufeinander ausmachen lässt. Norwegen und die Färöer stellen in der Diegese der Færeyinga saga natürlich keine diametral unterschiedli-
301 Lotman 1990, S. 293. 302 Lotman 1990, S. 295. 303 Vgl. hierzu Kap. 3. 304 Vgl. Lotman 1974, S. 303. Vgl. auch Koschorke 2013, S. 123–125. 305 Lotman 1990, S. 290. 306 Koschorke 2013, S. 120. 307 Vgl. Lotman 1990, S. 296: »Die inne Mannigfaltigkeit der Semiosphäre ist Voraussetzung ihrer Ganzheitlichkeit«.
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chen Kulturen dar308 – und auch den Interpretationen, die aufgrund der scheinbar divergierenden Gesellschaftssysteme der beiden Räume im Text implizit zwei Semiosphären in der Diegese ansetzen, lässt sich eine solche Ansicht freilich nicht unterstellen. Die Diegese der Saga stellt eine nordisch-kulturelle Welt der Wikingerzeit dar, die auf ähnlichen Prinzipien, Wertvorstellungen, Konventionen und Lebensweisen basiert und etwa auch eine gemeinsame Sprache spricht. Obgleich also beide Handlungsräume der Saga in unterschiedliche semantische Felder zerfallen, gehören sie doch einem gemeinsamen semiotischen System an, in dem sie verbunden sind. Erst diese grundsätzliche semiotische Einheit macht ihre innere Differenzierung und die die Sagahandlung bestimmende Kommunikation über ihre semantischen Grenzen hinweg überhaupt möglich.309 Was »vom Innenstandpunkt« aus wie das ›Außen‹ wirken mag, kann sich am Standpunkt des Beobachters so als Peripherie zu erkennen geben.310 Doch auch hinsichtlich der Gesellschaftsform muss, wie bereits angemerkt, die Differenzierung der Räume Norwegen und Färöer weniger kategorisch gesetzt werden, als das bisher oftmals geschehen ist. Wie Glauser korrekt anmerkt, sind historische Ereignisse in beiden Räumen stets aufeinander bezogen.311 Doch nicht nur das. Tatsächlich durchlaufen beide Länder in der Færeyinga saga sehr ähnliche historische Entwicklungen. Sie teilen einen gemeinsamen Ursprung, da die Saga die färöischen Siedler ausnahmslos aus Norwegen kommen lässt.312 Von der hierarchisch geprägten, aber mehrgliedrigen Herrschaftsform (durch die Zweiteilung Norwegens und entsprechend der Färöer unter Jarl Hákon und Haraldr gráfeldr) zur kompromisslosen und absoluten Einzelherrschaft entwickeln sich die Regierungssysteme beider Länder. Beide durchlaufen zudem den Christianisierungsprozess – implizit sogar in ähnlicher, gewaltvoller Weise.313 In beiden Län-
308 Wie von Lotman 1990, bes. S. 292–293, als Prinzip der Innen/Außen-Unterscheidung seines Modells beispielhaft anhand territorialer Kultur-Grenzverläufe, etwa von Römern und ›Barbaren‹, illustriert. 309 Vgl. Lotman 1990, S. 288: Eine Semiose außerhalb und unabhängig von einer Semiosphäre als umschließendem »Kontinuum« wäre nicht »faktisch arbeitsfähig« und insofern weder denk- noch erzählbar. 310 Lotman 1990, S. 294. 311 Vgl. Glauser 1994, S. 115. 312 Was historischen Tatsachen kaum entsprechen dürfte, vgl. Bonté 2014a, S. 125–135. Die von Bonté betonte, aus dem Verschweigen gälisch-westlicher Verbindungen resultierende Konzentration auf die Abwesenheit christlicher Elemente und das pointierte Heidentum auf den Färöern im Vergleich zu Island wäre allerdings differenzierter zu betrachten, vgl. hierzu Kap. 3.6.1 u. Kap. 4.5.1. 313 Das Missionsvorgehen sowohl Óláfr Tryggvasons als auch seines Nachfolgers Óláfr Haraldsson wird in deren beider Lebensbeschreibungen zumeist als kompromisslose Machtpolitik greifbar. In der Verhandlung von Macht auch in der Færeyinga saga ergibt sich damit eine fruchtbare Anschlussfläche, die als ein Grund der Textinterpolation interpretiert werden könnte: Sowohl Óláfs saga Tryggvasonar als auch Óláfs saga helga und Færeyinga saga schildern das politische Vorgehen machtvoller Herrscherfiguren, an den Prozessen auf den Färöern sind beide Könige beteiligt. Die
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dern geht es letztlich zu jeder Zeit um die Errichtung absoluter Herrschaft einzelner Männer, was auch durch das sehr reduzierte Figurenensemble der Færeyinga saga deutlich gemacht wird. Statt auf soziokulturelle Unterschiede zwischen beiden Ländern zu fokussieren, indem die Erzähl-Linse zur Erfassung einer größeren Gesamtbevölkerung geöffnet würde, bleiben die hirðmenn am norwegischen Hof ebenso eine gesichtslose Figurenmasse wie die bœndr auf den Färöern. Nur sehr wenige, handlungstragende Figuren werden überhaupt mit einem Namen versehen. Das bäuerliche Leben der nicht der gesellschaftlichen Spitze angehörigen, tatsächlichen Landbevölkerung wird weder in Norwegen noch auf den Färöern thematisiert. Daraus resultiert ein Erzählgewicht, das weniger auf der Gesellschaft beider Länder liegt, sondern viel mehr auf dem Mit- und Gegeneinander einiger weniger, mächtiger Individuen im Kampf um noch mehr Macht und Einfluss.314 Gerade in dieser Hinsicht scheinen die implizierten Semiosphären der Forschungen zum ›Unabhängigkeitsdiskurs‹ der Saga bzw. die zentralen und peripheren Räume der einen Semiosphäre, die die Diegese des Textes darstellt, also um einiges weniger pointiert als angenommen. Die Grenzüberschreitungen zwischen beiden semantischen Räumen, Sigmundrs Reisen, bilden somit im Rahmen der Færeyinga saga nicht im eigentlichen Sinne ein Sujet. »Sujethaft«315 ist die topologische, semantische und topographische Grenzüberschreitung innerhalb der Semiosphäre zwischen Norwegen und den Färöern zwar durchaus nach der basalen, erzähltechnischen Definition Lotmans, jedoch nicht nach den oben vorgestellten Überlegungen zur Kombination von Lotmans Ansätzen, wie sie in den Isländersagas realisiert zu werden scheinen. In der Færeyinga saga wird zwischen Norwegen und den Färöern keine absolute Grenze aufgebaut, die im Sujet übertreten würde. Innerhalb der Diegese werden zwar Grenzverläufe entworfen und auch überschritten, aber dies kommt nicht der Verbindung zweier Semiosphären gleich, sondern bedeutet einen Machttransfer im Sinne semiotischer Deutungshoheit zwischen Grenze und Peripherie nur einer gemeinsamen Semiosphäre. Insofern lässt sich der Gehalt des Textes nicht allein auf die Gleichsetzung der Färöer mit Island im Zuge eines Unabhängigkeitsdiskurses einengen. Das Bild der Semiosphäre innerhalb der Færeyinga saga stimmt nicht mit demjenigen überein, das für die Isländersagas im Zuge von deren Identitätsdiskurs angesetzt wurde.
Einbindung des Textes illustriert somit im Parallelverlauf auch die Vorgehensweise beider Herrscher und ähnliche historische Entwicklungen in Festland und atlantischem Gebiet. 314 Vgl. auch Ármann Jakobssons Ablehnung der Botschaft der Saga als Kritik am Königtum, die Ólafur Halldórsson vertritt, unter Bezug auf das Wesen der Sagaliteratur als »yfirstéttamenning« (Ármann Jakobsson 2009, S. 61; Oberschichtenkultur). 315 Lotman 1993, S. 336.
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2.3.3 Sujet und Hintergrund: Noch einmal Island Indes verhält sich gerade die Darstellung der norwegischen Herrscher in den Isländersagas weder linear noch in einem einfachen Binärschema. Während der norwegische Raum häufig und in vielerlei Hinsicht gegensätzlich zum isländischen entworfen wird, ist die Zeichnung selbst überaus komplex. Selbst in der Egils saga, der in der Regel ein überaus negatives Königsbild bescheinigt wird,316 wird [f]orholdet mellem bøndernes ›islandske‹ samfundsorden og kongens norske […] imidlertid […] [ikke] fremstillet som et enten-eller, men som et både-og. […] [I] den islandske forestilling om egen social orden, sådan som det kommer til udtryk i Egils saga og i en række andre islændingesagaer, har kongen en nødvendig rolle som et fikspunkt, de islandske begreber om status, frihed og ære udmåles fra eller sættes i modsætning til.317 (das Verhältnis zwischen der ›isländischen‹ Gesellschaftsordnung der Bauern und der norwegischen des Königs […] indes […] nicht als Entweder/Oder dargestellt, sondern als Sowohl/Als auch. […] In der isländischen Vorstellung der eigenen sozialen Ordnung, wie sie in der Egils saga und einer Reihe anderer Isländersagas zum Ausdruck kommt, hat der König eine notwendige Rolle als Fixpunkt inne, von dem aus die isländischen Begriffe von Status, Freiheit und Ehre ausgemalt werden oder zu dem sie in Gegensatz gestellt werden.)
Der König fungiert in der Egils saga ebenso wie in anderen Sagas als »institution, de [frie bønder] definerer seg i forhold til«,318 und das nicht notwendigerweise nur im negativen und abgrenzenden Sinne. Zugleich fallen die Figurenportraits gerade dieser Saga selbst für die Hauptfiguren durchaus nicht schmeichelhaft oder durchweg positiver als die der Könige aus, und selbst Egill, der große Feind von König Eiríkr Blóðǫx, kann zu dessen Hofangehörigen Arinbjǫrn eine enge Freundschaft unterhalten und etwa in England einem König sehr wohl erfolgreich und ehrenvoll dienen,319 sodass »the relationship between Egill and Norwegian royal power cannot be described in such absolute terms.«320 Was für die Egils saga festgehalten werden kann, betrifft auch das Gesamtkorpus der Isländersagas: Jüngere Forschungsbeiträge, allen voran ein Aufsatz Ármann Jakobssons321 und die 2005 erschienene Monographie von Patricia Pires Boulhosa322 316 Etwa bei Mundal 1997, S. 483, überwiegend auch bei Meulengracht Sørensen 1993, S. 127–147. Vgl. als Übersicht dieser Interpretationen auch Ármann Jakobsson 2002a, S. 146. 317 Meulengracht Sørensen 1993, S. 146. 318 Meulengracht Sørensen 1993, S. 144 (Institution, im Verhältnis zu der die freien Bauern sich selbst definieren). 319 Vgl. Ármann Jakobsson 2002a, S. 146–147. 320 Boulhosa 2005, S. 171. 321 Ármann Jakobsson 2002a. 322 Boulhosa 2005. Boulhosa beschäftigt sich in ihrer Analyse von Saga-Narrativen nur mit dem Korpus der Sagas aus der Großkompilation Möðruvallabók. Da dieses Korpus jedoch einige der gemeinhin als wichtigsten erachteten Isländersagas und zudem ausschließlich Texte dieser Gattung enthält (Njáls saga, Egils saga, Laxdœla saga; weiterhin auch Kormáks saga, Víga-Glúms saga und Hallfreðar saga, vgl. Stefán Karlsson 1993, S. 426) sowie wohl einem spezifisch isländischen Identi-
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haben gezeigt, dass der Dichotomie von Norwegen und Island in den Isländersagas kaum mit binären Begriffen beizukommen ist. Ihre Königsbilder müssen vielmehr als in hohem Maße komplex und wandelbar angesehen werden. So erhält etwa König Haraldr hárfagri im zeitgeschichtlichen Kontext mit der Besiedelung Islands letztlich eine sehr differenzierte Zeichnung, die von Saga zu Saga wechseln kann und sich zudem genreabhängig darstellt.323 Ähnliches gilt auch für andere Herrscher.324 Zudem sind es nicht alleine die Isländer, die bei ihren Besuchen am norwegischen Königshof Bewährungsproben unterlaufen, sondern »the honour which drives the Norwegians away to Iceland attracts the Icelanders to the Norwegian court.«325 Dort erhalten die Isländer in gewisser Weise wieder, was ihren Vorfahren einst versagt wurde. In ihnen, anders als in den Norwegern, leben noch die vormonarchischen Werte. Dadurch erhält die isländische Identitätskonstruktion eine diachrone Perspektivierung, die noch über die Landnahmezeit hinausgreift. Der Fokus liegt so letztlich weniger auf königlicher Rechtmäßigkeit oder Ungerechtigkeit als auf isländischer Traditionsverbundenheit.326 Auch konzentrieren sich viele der dargestellten norwago-isländischen Streitigkeiten mit Haraldr hárfagri um Landbesitz in Form von Erblanden (oðal) und den damit verbundenen Rechten, deren Durchsetzung auch nach der Auswanderung insbesondere in der Egils saga eine große Rolle spielen. Ebenso fordern die Isländer in Norwegen die alten Freiheitsrechte hinsichtlich der Äußerung ihrer Meinung oder ihres selbstbestimmten Handelns schlicht ein und agieren diese aus.327 Somit werden nicht allein die Isländer bei Hofe einer Bewährungsprobe unterzogen, sondern ebenso die jeweiligen Könige, ihre Anhänger und das norwegische Gesellschaftssystem von den Isländern auf die Probe gestellt.
tätsdiskurs Ausdruck verleihen soll (vgl. Müller 2001, bes. S. 38–42), lassen sich Boulhosas Ergebnisse auf ein größeres Korpus von Isländersagas abstrahieren. Ihre Ergebnisse werden hier daher stellvertretend vorgestellt. 323 So ist Haraldr in der Königssaga Heimskringla der gefeierte Reichseiniger Norwegens und Stammvater aller späteren Herrscher, ein guter und bewundernswerter König. Gleichzeitig zur schlagwortartigen Verdammung seines ofríki in diversen Isländersagas kann auch dort seine Regierung durchweg positiv dargestellt werden, wie etwa in der Vatnsdœla saga. Auch in der Íslendingabók fungiert Haraldr nicht als Verursacher der Flucht nach Island, sondern versucht, diese zu verhindern und scheint damit als um sein Land besorgter Herrscher. Vgl. schon Kreutzer 1994, erneut Ármann Jakobsson 2002a, S. 149–150. Unter Abweisung der von Kreutzer und Ármann angesetzten, hypothetischen Chronologie der Sagaentstehungszeiten vgl. weiterhin Boulhosa 2005, S. 160–182 u. S. 197–205. Als Zusammenstellung und Bewertung des Materials sowie Einsicht in die erzählerischen Varianzmöglichkeiten selbst der ofríki-Tradition vgl. Hahn 2020, S. 262–282, mit weiteren Gedanken zur Substitution des Motivs »des ›räuberisches Königs‹ […] durch das Motiv des ›edlen Räubers‹« in der Struktur der Vatnsdœla saga auf S. 201. 324 Vgl. Ármann Jakobsson 2002a, S. 150–154. 325 Boulhosa 2005, S. 172. 326 Vgl. Boulhosa 2005, S. 171–178, S. 183–187 u. S. 193–197. 327 Vgl. Boulhosa 2005, S. 182–197.
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Ähnliches, was sich für die Darstellung der norwegischen Herrscher und des Verhältnisses der Isländer zu diesen somit sagen lässt, nämlich, dass die Sagas diese Relation nicht als einseitige Entweder/Oder-Frage präsentieren, gilt für den literarisch-konzeptionellen Entwurf des Königreichs Norwegen als Land des Fremden und Unbekannten. So finden sich einerseits Aussagen von Norwegern in den Sagas, die ähnliches über Island aussagen und nicht weiter kommentiert werden,328 andererseits zeigt das häufige Motiv des »Travel Pattern« gerade die offensichtliche Notwendigkeit einer Auslandsreise und Konfrontation mit dem Fremden im Zuge der isländischen, kulturellen Selbstidentifikation. Zwar lässt sich Preben Meulengracht Sørensens Einschätzung aufrechterhalten, durch die Auslandsfahrt werde das heimische Island entlastet und ein Konfliktnarrativ dort vermieden. Jedoch wird dieses durch ein Konfliktnarrativ zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen ersetzt, und gerade diese Tatsache scheint ihre Notwendigkeit zu besitzen. Offenbar müssen sich die Isländer in den Texten häufig dem fremden Norwegen aussetzen, um zu erfahren, wer sie selbst sind. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass die narrative Modellierung von Island und Norwegen als zweier unterschiedlicher Semiosphären in wenigstens einigen Erzählungen einen literarischen Entwurf darstellt, den Versuch, Island in den Rang einer unabhängigen Einheit zu erheben. Um dieses Ziel zu erreichen, wird Norwegen in den Texten zum ›Anderen‹ der isländischen Gesellschaft und seinem narrativen Außenraum gedeutet, um die notwendige Polarisierung und davon ausgehende Inklusionswirkung unter dem isländischen Publikum der Erzählungen in einem kohärenten Wir/Sie-Schema stiften zu können.329 Schon dadurch ist der ständige Rückbezug auf das nicht-inkludierte ›Andere‹ eine theoretische Notwendigkeit der (Selbst-)Abgrenzung. Darüber hinaus ist jedoch der erwünschte Effekt der völligen Abgrenzung eine praktische Unmöglichkeit. Glatte, allein logisch abgeleitete Unterscheidungen lassen sich weder faktisch denken noch erzählerisch modellieren, son-
328 Vgl. Boulhosa 2005, S. 189–191 an einem Beispiel aus der Laxdœla saga c. 74, S. 215–217, in der ein großer isländischer hǫfðingi im Angesicht des norwegischen Königs nichts weiter als ein unvollkommener bóndasonr ist. Den Isländern aufgrund der stoischen und daher aus seiner Sicht unziemlichen Eigenschaften ihres Volksschlages negativ gesinnt zeigt sich etwa Einarr fluga im Sneglu-Halla þáttr. Dort kommentiert auch der König an einer Stelle: ›Eruð þér einráðir, Íslendingar, ok ósiðblandnir‹ (c. 3, S. 266 [unterer Text]; »›Ihr Isländer seid eigenwillige und nicht gerade umgängliche Leute‹«; Esser [Übers.] 2011a, S. 390). Auch die Selbstdarstellung der isländischen Quellen kann somit durchaus ›provinziell‹ und insofern negativ anmuten, vgl. Harris 1976 in seiner Interpretation des Ethos der Íslendingaþættir als »from rags to riches«. Vgl. auch Mundal 1997, S. 487–488 sowie Clunies Ross 1997, S. 557. Diese Darstellungen der isländischen Eigenschaften von Exzentrik und Unangepasstheit können am norwegischen Hof deplaziert wirken, vgl. auch Harris 1976, S. 16–17. Island und seine Provinzialität werden in norwegischen Augen so ebenfalls zum fremden Land merkwürdiger Leute oder Sitten, auch wenn dadurch die Durchsetzung von Isländern am norwegischen Hof ex negativo als umso bewundernswerter in den Texten dargestellt wird. Zur ›Otherness‹ isländischer þáttr-Protagonisten vgl. auch Finlay 1997, S. 165. 329 Vgl. hierzu Koschorke 2013, S. 96–98.
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dern müssen ihrem Wesen nach asymmetrisch entworfen werden.330 Somit ergibt sich, dass die Bilder des Selbst und des Anderen, die solche Gegenbegriffe aufrufen, aufeinander verwiesen [sind] und [sich wechselseitig] befestigen […]. Aber sie bleiben nur solange stabil, wie diese Bedingtheit verleugnet und dem Anderen die Anerkennung als Gegenüber in einer symbolischen Wechselbeziehung verweigert werden.331
Soll in den Sagas eine isländische Identität konstruiert werden, ist der Gegenentwurf Norwegens dazu also so notwendig, wie er in der Darstellung absolut erscheinen muss. Insofern ist die Gleichzeitigkeit anti-norwegischer Abgrenzung und Konfrontation mit dem norwegischen Raum nicht alleine literarische »schizophrenia«, wie Clunies Ross formuliert,332 sondern inhärenter Effekt der narrativen Verfasstheit der isländischen Identitätskonstruktion. Andererseits bedeutet die letztlich sehr differenzierte Darstellung der norwegischen Verhältnisse in den Isländersagas mehr als nur das, denn sie kommt eben keiner absoluten Verleugnung der gegenseitigen Bedingung isländischer und norwegischer Identität gleich. Im Gegenteil scheint die Scheidung der Wir- und Sie-Gruppen nicht ideologisch geglättet, wie sie es in einem eindeutigen, radikalisierten Wir-Entwurf sein müsste,333 sondern gerade so asymmetrisch getroffen, wie es der Komplexität ihrer narrativen Struktur mit all ihren paradoxen »semantischen Irregularitäten und Umkehrfiguren« entspricht.334 Diese Beobachtungen reflektieren letztendlich die ständige, enge Bindung zwischen Island und Norwegen, die auch historische Dokumente nahelegen. Demnach bestanden für die norwegischen Könige durchaus auch lange vor dem ›offiziellen‹ Ende der Freistaatszeit um 1262–1264 gewisse Herrschaftsrechte auf Island bzw. un-
330 Vgl. Koschorke 2013, S. 356–368 zum Beispielfall des Binärpaars der Natur/Kultur-Differenz. 331 Koschorke 2013, S. 97. 332 Clunies Ross 1997, S. 557. Die Ambivalenz der Texte in der Darstellung Norwegens dürfte die wohl häufigste Feststellung der Erforschung dieser Thematik darstellen, wobei sie in der Regel als ein Problem aufgefasst wird, siehe zur ›doppelten Natur‹ isländisch-norwegischer Beziehungen etwa auch Hastrup 1990a, S. 92 u. bes. S. 96; Gilbert 1991; Meulengracht Sørensen 1993, S. 146; Mundal 1997, S. 482; Cook 1997, S. 130–131. 333 Vgl. Koschorke 2013, S. 99. 334 Koschorke 2013, S. 99, vgl. insgesamt S. 98–99: Die Binärpaare, die eine Wir/Sie-Unterscheidung einfordert, sind demzufolge schon in ihrer Natur nicht eindeutig bzw. »vollkommen klar und widerspruchsfrei«, da nie alle negativen Eigenschaften der Gegner-Gruppe allen ihrer Individuen zugeschrieben werden und auch nicht alle Angehörigen der Wir-Gruppe alle positiven Kennzeichen auf ihrer Seite versammeln können. So gibt es stets auch den »rauen, ungebildeten Griechen« neben dem edlen Barbaren, oder den »frommen Heiden« neben dem »gottlosen Christen«. Folglich sind nicht allein die historischen Umstände, sondern bereits die narrativen Voraussetzungen des Identitätsdiskurses in den Isländersagas hochkomplex, und die Texte bezeugen diese Tatsache nachdrücklich. Sie spiegeln die grundsätzlich-lexikalische Komplexität der Unterscheidungspaare dieser »groß angelegte[n] Matrix für Erzählungen« auch inhaltlich sowie gegebenenfalls in historischer Perspektive in ihrer Differenziertheit wieder.
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ter bestimmten Bedingungen über Teile der Bevölkerung, ebenso wie Isländer noch (insbesondere Landbesitz-)Rechte in Norwegen besitzen konnten. So waren beide Länder, dem Nationalmythos Islands widersprechend, gegenseitigen Einflüssen ausgesetzt und rechtlich zu gewissen Teilen ineinander verflochten.335 Es lässt sich annehmen, dass die altnordische Literatur diese Einflüsse und historischen Bedingungen wiederspiegelt. Somit offenbart die so oft konstatierte »Ambiguität« der Darstellung Norwegens in den isländischen Erzählungen nicht alleine eine ideologisch zwiegespaltene isländische Einstellung dem Mutterland gegenüber zwischen historisch bedingter Verbundenheit und zeitgenössischer Ablehnung. Vielmehr stellt sie eine lebendige, fortlaufende Diskussion und komplexe Verhandlung innerhalb der isländischen Gesellschaft über die eigene Identität im Verhältnis zu Festland-Skandinavien dar.336 Konfliktnarrative neigen nur bei einer spezifischen Einbindung in realpolitische Hintergründe zu ihrer radikalen Ausformung mit klaren Wir/Sie-Gruppierungen,337 während laut Koschorke »ein anderes Szenario« »[w]esentlich häufiger« gegeben sei, nämlich dass »eine Vielzahl von Konfliktgründen und Einsätzen so miteinander interferieren, dass eine für alle Akteure unübersichtliche Spannungslage entsteh[e]«.338 Diese realpolitische Hintergrundsituation scheint nun in der Betrachtung Patricia Pires Boulhosas gerade zu der Zeit graduell entwickelter Verzahnung norwegischer und isländischer Interessenlagen in der isländischen Gesellschaft gegeben,339 in der die Isländersagas entstanden. In solchen Lagen, in der die »Notwendigkeit [entsteht], das Feld allererst zu kartieren, in dem sich eine Konflikteskalation abzeichnet«,340 ergebe sich Koschorke zufolge »Bedarf an Sinn«.341 Es gehe also weniger darum, bereits klare Gegensätze bejahend oder negativ narrativ zu modellieren, sondern zunächst darum, vorbereitende Fragen im sozialen Feld zu klären: »Wer ist Freund, wer ist Feind, wer handelt wie, und aus welchen erklärten oder unerklärten Motiven?«342 Die Aufgabe, die sozialen Umstände überhaupt erst so abzustecken, dass sie erzählerisch prozessierbar sind, falle Narrativen zu, die die Identität einer Wir-Gruppe zu entwerfen beginnen.343 Dabei sind gerade mehrperspektivische und unscharfe Erzählungen erfolgreich, weil sie einem größeren Adressatenkreis das Einklinken in diese Grundsatzdebatte erlauben und so in hohem Maße sozial anverwandelbar sind – bereits innerhalb der gleichen Kultur handeln unterschiedliche Adressatenkreise im kulturellen Alltag unter-
335 336 337 338 339 340 341 342 343
Vgl. hierzu Boulhosa 2005, S. 43–153. Vgl. Boulhosa 2005, S. 205–209. Vgl. Koschorke 2013, S. 237 u. S. 99. Koschorke 2013, S. 237. Vgl. Boulhosa 2005, S. 209. Koschorke 2013, S. 238. Koschorke 2013, S. 237. Koschorke 2013, S. 238. Vgl. Koschorke 2013, S. 238.
2.3 Räume und ihre Semantik in der Færeyinga saga
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schiedliche Deutungen desselben Narrativs miteinander aus.344 Als ebendiese Narrative lassen sich die Isländersagas verstehen; dies ist der Grund, weshalb die Rolle des norwegischen Königtums in ihnen »a continous debate about his presence in Icelandic life« ist, und weshalb die Beziehungen zwischen Island und Norwegen »were the subject of negotiations rather than simple opposition or approval.«345 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Modellierung der Raumverhältnisse in der Færeyinga saga eine tiefere Bedeutung.346 Die Darstellung Norwegens und seiner Könige in den Isländersagas dient dem Ziel, das Konfliktpotenzial innerhalb der norwago-isländischen Gesellschaft narrativ »allererst zu kartieren«,347 eine identifizierbare, soziale Wir-Gruppe unter den Rezipienten überhaupt erst entstehen zu lassen. Daraus erschließt sich, weshalb die Grenzüberschreitungen innerhalb der semantischen Felder der Færeyinga saga nicht tatsächlich »sujethaft« in semiotischer Sichtweise sind und weshalb der Text keine zwei Semiosphären konstruiert. Im Rahmen des literarischen Entwurfs isländischer Selbstidentifikation kommt den Färöern kein Interesse aus sich selbst heraus zu. Die Inseln sind, wie oben argumentiert, ›gleich und doch anders‹ Island. Somit lassen sie sich zwar als literarische Projektionsfläche gut verwenden, spielen für das isländische Selbstbild, das auf der Unterscheidung norwegischer und isländischer Gesellschaftsstrukturen und kultureller Eigenheiten beruht, aber keine Rolle. Dem genauen färöischen Verhältnis zu Norwegen kommt in der sich in den Isländersagas abzeichnenden Debatte keine Bedeutung zu, es ist aus dieser Perspektive kein »Ereignis« im Sinne Lotmans. Im Zuge der Entwicklung seines Sujetbegriffs betont Lotman dessen Kontext-Abhängigkeit: »Das Sujet hängt […] organisch zusammen mit dem Weltbild, das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist«.348 Als Beispiel nennt er dort einen ehelichen Streit über die Güteklasse eines abstrakten Kunstwerkes. Wende sich das Ehepaar deswegen an einen Polizeibeamten, so werde dieser kein Protokoll anfertigen, da aus seiner Sicht kein Ereignis vorliege, solange keine Rechtsverletzung gegeben ist. Der gleiche Fall sei für einen Psychologen oder einen Kunsthistoriker hingegen sehr wohl ein Ereignis und berichtenswert. Ähnliches ergibt sich für den Fall der färöischen ›Unabhängigkeit‹ in der Færeyinga saga. Für einen Rechtshistoriker handelt es sich hierbei vielleicht durchaus um ein Sujet – für die Kultur jedoch, aus der der
344 Vgl. Koschorke 2013, S. 102–104. 345 Beide Zitate Boulhosa 2005, S. 209. 346 Ob die Saga dabei tatsächlich an den Beginn des 13. Jahrhunderts zu datieren ist, wie axiomatisch angenommen, oder erst in eine spätere Zeit, gegebenenfalls sogar erst in den Horizont der tatsächlichen handschriftlichen Überlieferung, fällt bei den oben ausgeführten Beobachtungen weniger stark ins Gewicht: Für alle isländischen Quellen ist im Hintergrund jedenfalls ein gewisser Teil des besprochenen Identitätsdiskurses festzustellen, auch und gerade für die Flateyjarbók, vgl. Würth 1991 und Ashman Rowe 2005. Zum Vergleichshorizont der Saga mit dem isländischen Selbstbild siehe auch Schmidt 2019 sowie Schmidt 2020. 347 Koschorke 2013, S. 238. 348 Lotman 1993, S. 333.
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Text stammt, und die bestrebt war, eine eigene Identität zu entwerfen, ist die Thematik der färöischen Unabhängigkeit an sich eine Randnotiz. Folglich geht es dem Text selbst – im Unterschied zu den handelnden Figuren – nicht um eine Differenzmodellierung färöischer und norwegischer Identität oder (sozio-)kultureller Unterschiede beider Länder, die so fundamental wären, dass die erzählte Welt sich in zwei semiotische Bedeutungssphären aufteilte. Wenn die Erzählung beispielhaft für ein isländisches Publikum sein soll, so doch nicht, oder nur sehr bedingt, in Bezug auf die Herausbildung seines Selbstbildes. Stattdessen ist ihr Sinn in anderen Themenfeldern auszumachen, die im Rest der vorliegenden Studie aufgearbeitet werden sollen.
2.4 Einige Worte zur Begründung des weiteren Vorgehens über die Figurenanalyse Der Gehalt der Saga scheint somit mit einer semiotisierenden Lesart ihrer Raumkonzepte allein verfehlt: Da die Diegese nur eine Semiosphäre herausbildet, in der einzelne semiotische Codes miteinander ringen, rücken die handelnden Figuren in den Fokus. Diese Figuren versinnbildlichen von den räumlichen Semantiken der Færeyinga saga aus gesehen die nach Dominanz strebenden Codes ihrer Semiose. Sie kämpfen auf der Handlungsebene folglich um (politische) Macht. Es scheint, statt den semantischen Unterschieden ihrer Räume, dieser Machtkampf zu sein, der die Erzählung im Innersten bewegt. Vor dem Hintergrund der Raumdarstellung der Saga und ihrer semiotischen Bedeutungskonstruktion müssen die figürlichen Symbolwerte als Gegenpole in soziokultureller Hinsicht als geschwächt betrachtet werden. Als umso herausgehobener präsentiert sich die Figurenebene des Textes selbst. Ähnliches gilt für den in der bisherigen Forschung ebenso stark betonten Symbolcharakter der Figuren hinsichtlich der Zeitgestaltung der Saga, die durch den häufigen Bezug der Forschungen auf die Konversionsthematik im Fokus stand. Eine tiefgehende Lektüre der Religionsthematik in der Færeyinga saga allerdings zeigt, dass die Bekehrung zum Christentum im Gesamttext keineswegs eine Zeitenwende markiert, und dass insofern die symbolischen Referenzwerte der Figuren ebenso eingeschränkt werden müssen.349 Auch die Gestaltung der Erzählzeit dient in hohem Maße der Hervorhebung der Figuren, die sich durch sie bewegen. Grundsätzlich wird die Sagahandlung linear und chronologisch erzählt, mit Ausnahme der kurzen, in sich wenig weiter bemerkenswerten Retrospektive in Kapitel 26350 sowie der metadiegetischen Erzählung von Þorkell Þurrafrosts Lebensgeschichte.351 Während historische Überblicke dazu dienen, den Handlungsgang durch Parallelisie-
349 Siehe Kap. 3.6, Kap. 4.5 u. Kap. 8.3. 350 Fær, S. 62–63. 351 Vgl. hierzu Kap. 7.2.
2.4 Einige Worte zur Begründung des weiteren Vorgehens über die Figurenanalyse
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rung zu Ereignissen in Norwegen zu strukturieren und perspektivieren,352 entstehen durch Raffungen und Dehnungen in erster Linie perspektivische Fokuszentrierungen, die mitunter die Rezipientenwahrnehmung einzelner Figuren hinterfragen, verunsichern und sogar unterlaufen.353 Ähnliches gilt für einige Zeitangaben, die insbesondere Sigmundrs Schicksal illustrieren.354 Da insofern sowohl räumliche als auch zeitliche Dimension des Textes in ihrer Korrespondenz zur Dichotomie der Hauptfiguren eher der Figurendarstellung unter- als übergeordnet sind, tritt die Ebene der Figuren als dritte Großkategorie der Erzähltextanalyse umso deutlicher in ihrer Bedeutung für den Text hervor. Weniger Raum- und Zeitgestaltung, als vielmehr die Figurenzeichnungen sind es, die den Plot der Saga zentral bestimmen und die Handlung voranbringen. Deshalb müssen ihr Aufbau, ihre Eigenschaften und Verhältnisse zueinander untersucht werden, um zu einer Gesamtaussage der Saga vorzudringen und ihren Gehalt bemessen zu können. Dies soll in den folgenden Kapiteln anhand eingehender Analysen der Handlungsträger geschehen. Diese standen in der Untersuchung der Færeyinga saga seit jeher durch ihren auffälligen und direkt ins Auge stechenden Darstellungen im Mittelpunkt, was kaum verwundert, wie schon ganz allgemein Tilmann Köppe und Tom Kindt feststellen: Es ist plausibel anzunehmen, dass sich unser Interesse an fiktionalen Erzählwelten nicht zuletzt dem internen Standpunkt verdankt, und, genauer, auf einem Interesse an den Schicksalen der in ihnen dargestellten fiktiven Personen beruht. […] Fiktive Personen sind […] die Hauptgegenstände affektiver Anteilnahme sowie komplexer kognitiver, affektiver und volitiver Einstellungen.355
Dies trifft in besonderem Maße auf die Færeyinga saga zu, deren Figuren sehr klar und doch vielschichtig gezeichnet sind, was die Darstellung sehr lebendig und nachvollziehbar macht. Durch die Vielschichtigkeiten einzelner Figuren, die gleichzeitige, jedenfalls vordergründig klare Geschiedenheit der Figuren voneinander und ihre Komposition bietet die Færeyinga saga den Rezipienten ein sehr hohes und bei näherer Betrachtung auch ungewöhnlich ›modern‹ anmutendes Identifikationspotenzial an, das sich während des Rezeptionsvorgangs unmittelbar aufdrängt.356 Ihre
352 Vgl. Berman 1985, S. 123; Glauser 1989, S. 213. Siehe auch Kap. 2.3.2 u. Kap. 7.4.1. 353 Vgl. Kap. 4.3.1. Die destabilisierte Erzähltechnik, die Þrándr und seine Familie umgibt (vgl. Kap. 3 u. Kap. 5) ist maßgeblich auf die Irritation der Rezipientenwahrnehmung hin ausgelegt. Auch sie spielt mit der Komponente der Zeitgestaltung, gerade indem die Zeit in den betreffenden Textabschnitten linear wiedergegeben wird und die Ereignisse so nur über eine figürliche Fokalisierung einseitig dargestellt werden können, ehe sie im Nachgang als Täuschungen herausgestellt werden. 354 Vgl. Kap. 4.3.3. 355 Köppe/Kindt 2014, S. 124. 356 Der Begriff ›modern‹ versteht sich in diesem Rahmen im Sinne von nachmittelalterlich bzw. neuzeitlich, ohne damit eine Abwertung hinsichtlich literarischer Qualität für ›vormoderne‹ Texte vornehmen zu wollen. ›Modern‹ mutet die Sagaliteratur im Vergleich zur kontinental-höfischen Literatur des Mittelalters durchaus an, wenn sie sich im unmittelbaren Eindruck weitaus weniger
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2 Narrative Raumsemantiken
Konflikte entspinnen sich nicht zuletzt aufgrund der detailreich ausgestalteten charakterlichen Unterschiede der Haupthandlungsträger und konzentrieren sich um diese. Dadurch treten Divergenzen zwischen den Figuren auf verschiedensten Ebenen (jedenfalls auf den ersten Blick) sehr klar zu Tage und werden noch zusätzlich akzentuiert. Weit weniger stark als diese Unterschiede sind die, bei genauer Textbetrachtung ebenso deutlich erkennbaren, Parallelen und Spiegelungen zwischen Figuren oder Figurenpaaren und Undeutlichkeiten respektive Spannungen innerhalb fast jeder einzelnen Figur in der Forschung bisher angesprochen worden. So zeigt sich, dass gerade die den Haupttext überliefernde Flateyjarbók-Redaktion der Saga ihr Hauptaugenmerk weit mehr auf eine ausgewogene und vielschichtige Charakterisierung all ihrer Figuren legt, denn auf einen möglichen Symbolcharakter einzelner Figuren. Dies steht im auffälligen Unterschied zu den anderen überlieferten Redaktionen der Erzählung. Insgesamt erweist sich fast jede der Figuren, die der Text aufbietet, als recht komplex, letztendlich überaus ›menschlich‹ und lebendig, gezeichnet – eine einfache Schwarz-Weiß-Zeichnung jedenfalls scheint ihm zutiefst fremd zu sein.357 Es gibt zwar durchaus flach konzipierte Nebenfiguren – etwa den Unruhestifter Eldjárn kambhǫttr – doch wird jeder der Hauptfiguren ein sehr ›lebensnahes‹ Innenleben, respektive eine Ausstattung mit sowohl positiven als auch negativen Eigenschaften zugebilligt.358 Dass sich das Figurenensemble der Saga als überaus reduziert darstellt – im Gegensatz etwa zu einer Isländersaga wie der Njáls saga mit ihren mehr als 600 Figuren359 – intensiviert die Pointiertheit der so unterschiedlichen Figurenportraits dabei und unterstreicht die Bedeutung der komplexen Figurenzeichnungen für die Erzählung. Tatsächlich scheint ein Hauptanliegen des Textes zu sein, seine Figuren so vielschichtig (und ambivalent) wie möglich darzustellen, ohne dabei je eine klare Wertung ihrer Persönlichkeiten und Taten vor-
stark durch ›alteritäre‹ Erzählkonventionen geprägt zeigt (vgl. zu den so empfundenen Konventionen des höfischen Romans im deutschen Mittelalter als Überblick Schulz 2015, bes. S. 1–3), sondern auf der Textoberfläche viel direkter für ein heutiges Publikum erfahr- und nachvollziehbar erscheint, vgl. hierzu auch Schmidt/Hahn 2016, S. 7–10. In der Færeyinga saga werden, wie zu zeigen sein wird, aus anderen mittelalterlichen Texten und selbst der Sagaliteratur gewohnte Schemata, Topoi und Erzählmuster invertiert, gebrochen oder sogar abgewiesen, was einen ›modernen‹ Eindruck verstärkt. In Bezug auf die Figurenzeichnung braucht die Færeyinga saga selbst innerhalb der gemeinhin durchaus mit zeitgenössischen Romanen vergleichbaren Isländersagas den Vergleich mit den ›großen‹ Werken des Genres, wie der Njáls saga, der Gísla saga oder der Egils saga kaum zu scheuen, auch wenn sie sich oftmals durch ihre im Wesentlichen sehr subkutane Darstellungsweise durchaus auch von ihnen unterscheidet. 357 Vgl. Schier 1992a, S. 563. 358 Vgl. Almqvist 1992b, S. 53–56. Vgl. auch Niedner 1929, S. 19. Dabei ist zu betonen, dass natürlich auch die Færeyinga saga sich ins allgemeine Muster der Sagaliteratur einfügt, keinerlei erzählerische Introspektion zu bieten, sondern Figuren – wenn überhaupt – über Äußerlichkeiten zu ›psychologisieren‹ und ihre Plastizität allein durch Beschreibung von Äußerungen und Handlungen zu modellieren. 359 Vgl. Rossenbeck 2009.
2.4 Einige Worte zur Begründung des weiteren Vorgehens über die Figurenanalyse
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zunehmen. Thesenhaft ließe sich formulieren, dass somit Charakterstudien das Zentrum der Færeyinga saga ausmachen, wobei ihre Darstellungsweise sowie die Konstellation der Figuren zueinander und zu den übrigen Themenkomplexen wie Raum- und Zeitdarstellung, die in den Plotverlauf eingebunden sind, dazu dient, narrative wie auch rezeptionsästhetische Erwartungen konsequent zu unterlaufen, Muster zu invertieren und zum Dargestellten an sich nie eindeutig Position zu beziehen, sondern die Darstellung selbst in den Fokus zu stellen und sie in essenziell offener Form zu verhandeln. Im Folgenden soll auf die Konstellation dieser überaus detailreich und lebendig gestalteten Figuren näher eingegangen und so die Hauptthematik der Saga erläutert werden.
3 Þrándr í Gǫtu 3.1 Biographische Spannweiten, politische Macht und Saga-Konventionen. Þrándr im Spannungsfeld des Rezeptionsverständnisses: Antagonist, Listenschmied, Antiheld Þrándr í Gǫtu ist zweifelsohne die auffälligste Persönlichkeit im Figurenarsenal der Færeyinga saga.1 Er fungiert scheinbar primär als Gegenspieler Sigmundr Brestissons und seiner Familie und der norwegischen Herrscher, wird allerdings häufig als die ›eigentliche‹ Hauptfigur identifiziert.2 Diese Einschätzung kann gute Gründe vorweisen: Þrándr wird als junger Mann in die Erzählung eingeführt, die im Moment seines Todes ihr Ende findet. Auch umschließt seine Geschichte denjenigen Erzählzeitraum, der seinem langzeitigen Konkurrenten Sigmundr zukommt: »Thránd’s world encloses Sigmund’s world«.3 Þrándrs Lebensdaten bilden so die Eckpunkte der erzählten Zeit, wodurch die Figur narrativ stark markiert wird; die Færeyinga saga ist mehr oder minder seine Biographie. Die Spannweite seines Lebenswegs entspricht zudem der gängigen Makrostruktur bei Sagaprotagonisten, insbesondere in den Isländersagas. Er reist in seiner Jugend ins Ausland und legt dort den Grundstein seiner späteren Position im Heimatland, in dem er rasant in die oberste Sphäre der Gesellschaft aufsteigt und faktisch zum ungekrönten König der Färöer wird. In der Erhaltung dieser einmal erreichten Position beweist er insbesondere im Konflikt mit Sigmundr überragendes Geschick in der Reaktion auf äußere Umstände. Seine Lebensgeschichte entspricht damit jedenfalls an ihrer Oberfläche dem Ideal der sozialen Entwicklung, die für einen Mann in den Normen der Sagagesellschaft vorgesehen ist: Der junge Mann verschafft sich soziales Prestige zum Zweck des Aufstiegs in der Heimat im Zuge einer Auslandsreise, ehe er sich niederlässt und einen eigenen Hof bewirtschaftet. Als etablierter Bauer ist seine Aufgabe nunmehr, die gewonnene soziale Stellung zu verteidigen.4 Die Identifikation Þrándrs als Protagonist der Erzählung erscheint allerdings problematisch, wenn ein klassisches Werkverständnis von einer Hauptfigur in der Regel einfordert, sich entsprechend der Maßgaben eines ›Helden‹ zu verhalten.5 Die1 Zur nachfolgenden Analyse der Þrándr-Figur vgl. fortlaufend bereits Schmidt 2016. 2 So u. a. Golther 1893, S. 5; Finnur Jónsson 1927, S. XIV; de Vries 1999, II, S. 267; Ólafur Halldórsson 1960, Sp. 77; Skyum-Nielsen 1973, S. 2; Haugan 1987, S. 77; Bick 2005, S. 1; North 2005, S. 60. 3 Skyum-Nielsen 1973, S. 2. Vgl. auch die Analyse, insbesondere des ersten Handlungsteils, bei Glauser 1989. 4 Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen 1993, S. 216–226. 5 Der hier verwendete Heldenbegriff bezieht sich allein auf die Bedeutungsnuance als »Zentralfigur in dramatischen und epischen Texten, die als exemplarischer Handlungsträger zumeist repräsentative Funktionen erfüllt und maßgeblich die Lenkung der Sympathie des Lesers beeinflusst« (Immer 2007, S. 307–308). In diesem Verständnis ist der Begriff vor allem in der strukturalistischen Erzählhttps://doi.org/10.1515/9783110774979-003
3.1 Þrándr im Spannungsfeld des Rezeptionsverständnisses
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sen nämlich entspricht Þrándr dezidiert nicht.6 Im Gegensatz zu Sigmundr scheint seine Gesinnung vor allem von einem moralischen Standpunkt aus defizitär. Þrándr geriert sich als skrupelloser Machtpolitiker, der sich zum faktischen Herrscher der Färöer aufschwingt, obgleich er keinerlei rechtlichen Anspruch auf eine Führungsposition auf den Inseln hat – schon zu Beginn befinden sich die dortigen Herrscher in lehnsrechtlicher Abhängigkeit von norwegischen Oberherrschaften.7 Mit Hilfe vor allem seines auf Reichtum begründeten Landbesitzes, seiner Gerissenheit, seiner Rechtskenntnis und der damit einhergehenden, intriganten Benutzung anderer zu seinen Zwecken ist er allerdings in der Lage, diese Bindung jedenfalls zeitweilig zu kappen. Dieses Verhalten kann kaum als positiv bewertet werden, es widerspricht den Konventionen. Dasselbe Prinzip des Konventionsverstoßes zeigt sich auch in der strukturellen Anlage der narrativen Zeichnung Þrándrs, wenn die verhältnismäßig konventionelle Makrostruktur seiner Biographie erheblich abgewandelt wird. Nach den Paradigmen der Sagagesellschaft dient eine Auslandsreise dem Ehrerwerb und die Niederlassung geschieht als freier Bauern unter Gleichen. Þrándr allerdings erwirbt auf seiner Auslandsreise insbesondere Geld,8 und – insofern der Diebstahl auf dem dänischen Markt durch ihn erfolgt – erweist gerade seine Ehrlosigkeit im Zuge der »initiale[n] Probe-Bewährungs-Sequenz«.9 Zudem setzt er sich danach nicht alleine auf seinem Hof Gata zur Ruhe, sondern greift nach der Herrschaft: Er macht im Zuge seiner Etablierung gewisserweise die gesamten Färöer zu seinem persönlichen ›Hof‹ und Stammsitz. Ein Spannungsverhältnis entsteht so zwischen der konventionell verbürgten und an der Erzähloberfläche aufgegriffenen Makrostruktur sagagesellschaftlicher Normwerte als Matrix und ihrer konkreten Ausgestaltung in der Figurendarstellung. Damit unterläuft Þrándr die Konventionen der Sagagesellschaft, die insbesondere sozialen Ausgleich im Zuge der ›Ehrökonomie‹ einfordern.10 Für ihn gibt es keinen Ausgleich mit einer aus seiner Sicht unbedeutenden sozialen Umgebung. An ›ehrenvollen‹ Abläufen partiziert er angesichts seiner Amoralität bestenfalls durch Missachtung. Entsprechend zeigt sich Þrándr auch in seiner Ver-
forschung prominent, siehe etwa Propp 1972, bes. S. 31–66. Nicht gemeint ist dagegen ein diachron erweiterter Heldenbegriff im Sinne historischer Problematik oder synchroner Widersprüchlichkeit der Rolle (zur Diskussion dieser Heldenkonzepte und ihrer Anwendung in der Færeyinga saga siehe weiterführend Kap. 4.2.2). Auf Grundlage eines solchen Begriffskonzepts erscheint Þrándr in der Exorbitanz seiner Charakterzeichnung durchaus als ›Held‹, auch wenn seine Konzeption unmissverständlich der von See’schen Gesellschafts- und Normdestruktion entspricht (vgl. hierzu von See 1978, S. 30–38; von See 1993). Vgl. auch Schmidt 2016, S. 293–294 (Fn. 61). 6 Zu Þrándrs Verhalten in Bezug auf ›Helden‹-Bilder vgl. auch Ármann Jakobsson 2009, S. 56–60. Ármann nennt als Vergleichsstücke u. a. den Typus des ›dunklen Helden‹, Figuren wie Grettir und Skarpheðinn, bevorzugt aber den Terminus des Antihelden (»andhetja«, S. 57). 7 Siehe auch Kap. 2.3.2.2 u. Kap. 4.2.1. 8 Vgl. auch North 2005, bes. S. 61–62. 9 Glauser 1994, S. 113. 10 Zur ›Ehrökonomie‹ der Sagagesellschaft vgl. umfassend Meulengracht Sørensen 1993.
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3 Þrándr í Go˛tu
haltensweise in Konflikten als alles andere als das Urbild wikingerzeitlichen Kräfteüberschusses und vorwärtsdrängenden Selbstbewusstseins. Jedenfalls im direkten zwischemenschlichen Aufeinandertreffen wird er als Feigling präsentiert, der Waffengebrauch und offene Konfrontation scheut. Zudem opponiert er gegen die Bekehrung der Färöer unter der Regierung Óláfr Tryggvasons, wirft den ihm aufgezwungenen Glauben bald wieder ab, beschwört Tote und kann dem Anschein nach über Wind und Wetter auf den Färöern bestimmen – er zeigt sich im Angesicht der von König Óláfr verkündeten, christlich-neuen Zeit betont als Heide und Zauberer. In vielerlei Hinsicht wird er damit gegensätzlich zu Sigmundr konzipiert und erscheint als wesentlich ›dunkler‹ ausgestaltete Figur.11 Folglich wurde er auch in der bisherigen Forschung als sinistrer Gegensatz des strahlenden ›Helden‹ Sigmundr, als böser heidnischer Zauberer, identifiziert. Entsprechend wird er in der Regel mit einem wenig schmeichelhaften Arsenal an Adjektiven beschrieben,12 kurz also weitgehend so, wie er an einer Stelle in der Saga selbst bezeichnet wird: [H]inn versti maðr […] ꜳ norðr lỏndum.13 Versteht man Sigmundr mit seiner, zumal christlich überformten, heldenhaft-ritterlichen und überaus positiven Figurenzeichnung als Protagonisten der Erzählung,14 müsste Þrándr folgerichtig als Antagonist betrachtet werden.15 In gewisser Weise trifft diese Bewertung zweifelsohne zu. Jedoch wurde Þrándr gleichzeitig als Vertreter einer Ideologie verstanden, die auf das isländische Unabhängigkeitsbewusstsein im 13. Jahrhundert abziele, indem er sich vehement gegen den norwegisch-königlichen Einfluss auf den Färöern positioniert.16 Er sei als Symbol in »scharfer Stilisierung […] heidn[ischer], färöisch-autonome[r], gewissermaßen germ[anisch]-präfeudale[r] Werte«17 zu begreifen, als Repräsentant einer alten Welt, die um ihr Überleben kämpfe und Erfolg behalte.18 Einzig vor dem Hintergrund dieses Symbolismus’ kann sein unmoralischer Charak-
11 Vgl. Ármann Jakobsson 2009, S. 57. 12 So nennt ihn Niedner 1929 etwa »durchtrieben« (S. 15), »wohlberechnend« (S. 16) und »selbstsüchtig« (S. 19) und attestiert ihm »aalglatte Geschmeidigkeit« (S. 16) und »hündischen Instinkt« (S. 18). Auch Almqvist 1992b unterstellt ihm »lömskhet och monoman girighet« (S. 54; Heimtücke und monomane Gier). Berman 1985 nennt ihn »unprincipled« aber »too clever to get caught«, wodurch er als »ruthless opponent [of Sigmundr] manages all too well«; er sei »a cruel, domineering, at times repulsive figure« (S. 124). Laut Bick 2005 ist er »ein kluger und berechnender Mann«, »skrupellos und zielstrebig«, der »manipuliert und intrigiert« und sich auch als »talentierter Schauspieler« erweist (S. 3). 13 Fær, S. 79 (›der schlimmste Mann […] in den Nordlanden‹). 14 Zu Sigmundrs Darstellung nach den positiven Maßgaben des ritterlichen Heldentums vgl. Ármann Jakobsson 2009, S. 56–57, siehe Kap. 4. 15 Zu den Konzepten von Antagonist und Protagonist vgl. Kühnel 2007 und Kühnel/Burdorf 2007. 16 Vgl. etwa Skyum-Nielsen 1973, S. 10–14; Berman 1985, S. 123–125; Haugan 1987, S. 77–78; Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi; Glauser 1994, S. 115–116; Bick 2005, S. 14; ebenso Harlan-Haughey 2015, bes. S. 357–361. 17 Glauser 1994, S. 115. 18 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 3 u. S. 13–14.
3.1 Þrándr im Spannungsfeld des Rezeptionsverständnisses
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ter in den genannten Studien offenbar als positiv sinnbesetzt verstanden werden. Die sich aufdrängende Komplexität und Widersinnigkeit der Darstellung des »schlimmsten Menschen in den Nordlanden« als Hauptfigur einer Erzählung, die auch die Konversion zum Christentum und damit die Ankunft einer »neuen Zeit« einschließt, wird durch den Rückgriff auf die außertextliche Realität der Entstehungszeit des Textes sinnhaft zu lösen versucht, wie einleitend aufgezeigt. Weitgehend unbeachtet blieb in den so ausgerichteten Forschungsbeiträgen allerdings die Tatsache, dass Þrándr keineswegs etwas an der Erhaltung einer färöischen Autonomie um ihrer selbst willen gelegen ist, sondern dass sein Ziel vor allen Dingen die Durchsetzung und Erhaltung seines eigenen Einflusses ist, letztlich eine färöische Monarchie unter seiner Vorherrschaft.19 Er greift zu Beginn des Textes nach der Macht, hat sie allein inne, bis Sigmundr aus dem Exil zurückkehrt und behauptet sie auch während der Zeit von Sigmundrs Vorherrschaft im Hintergrund. Mit Sigmundrs Tod und durch die Herrschaft Óláfrs des Heiligen hindurch erweist er sich erneut als der faktische Alleinherrscher der Inseln. Danach erst scheint sich seine Position an den »partikularistische[n] Projekte[n]«20 der neu ins Machtgefüge auf den Inseln eintretenden Parteien, nämlich seiner Neffen, der Söhne Sigmundrs und seines ehemaligen Ziehsohns Leifr, zu zerfasern. Dadurch werde aufgezeigt, wie ihm »zusehends die Kontrolle über die Ereignisse […] entgleitet«.21 Jedoch scheint auch in dieser späten Phase noch ein gleichsam ultimativer Plan Þrándrs, seine monarchischen Intentionen entgegen aller Widrigkeiten doch noch durchsetzen zu können, in der Erzählung auf.22 Insgesamt wird Þrándrs Lebenslauf somit als Aufstieg und Fall eines ambitionierten, aber wenig gewissenhaften Mannes zu politischer Größe und Einfluss gezeichnet und die Gründe sowohl für seinen Aufstieg als auch für sein letztendliches Scheitern untersucht. Gleichzeitig zur nie geschönten Darstellung seiner mangelnden moralischen Integrität und seiner egoistischen Motive ist dabei zu bemerken, dass sich der Text selbst in der Beurteilung von Þrándrs Persönlichkeit bemerkenswert zurückhaltend zeigt. Negative Einschätzungen werden seinen politischen Gegnern in den Mund gelegt – das oben zitierte Beispiel stammt von Óláfr Tryggvason. Die Darstellungstechnik der Flateyjarbók-Redaktion scheint sogar spezifisch daraufhin angelegt, direkte Schuldzuweisungen von dieser Figur abzuhalten.23 Als negativ deutbare Erzählerkommentare über Þrándr finden sich hier jedenfalls kaum. Dem vernichtenden Kommentar König Óláfrs steht zudem der überaus positive gegenüber, den Þóra Sigmundardóttir ausspricht, obwohl deren persönliche Feindschaft letztlich zur Vernichtung von Þrándrs Familie führt: [M]art þiki mer Þrandr hafa firir
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Vgl. North 2005. Glauser 1989, S. 217. Glauser 1989, S. 220. North 2005, S. 60 u. S. 72–73. Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 8 u. S. 10–14.
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flesta menn.24 Auch wenn sein Vorgehen sich als unmoralisch und wenig heldenhaft darstellt, ist es durchaus möglich, »að hrífast af slægð hans og ráðkænsku«,25 die sich insbesondere in seiner Gabe zur Manipulation seiner Umgebung, seinem taktischen Geschick und seiner überlegenen Rechtskenntnis zeigen. Diese Tatsache führt dazu, dass Ármann Jakobsson Þrándr auch mit dem klassischen Heldentyp des Odysseus vergleicht.26 Auch abseits seiner Symbolfunktion vor dem Hintergrund der isländischen Zeitgeschichte legt die Narration also ein Identifikationspotenzial für die Rezipienten in dieser Figur an – wenn auch eines, das sich jenseits moralischer Maßstäbe befindet und in der Faszination seiner Macht und seiner Strategien des Umgangs mit dieser begründet liegt. So zeigt sich die Figur des Þrándr also als in überaus hohem Maße ambivalent konzipiert, was häufig bemerkt, jedoch kaum ausreichend perspektiviert und erklärt worden ist. Seinen moralischen Defiziten stehen seine Rolle und ihr Gewicht in der Gesamtnarration gegenüber. Am treffendsten kann er als Antiheld angesprochen werden,27 der »durch den Mangel an bestimmten positiven Eigenschaften dem Typus des Helden gegenübersteht.«28 Er ist nichstdestoweniger der eigentliche Protagonist der Færeyinga saga, und zwar weniger trotz, sondern gerade wegen seiner Mängel. So befindet sich Þrándrs Darstellung im Spannungsbogen zwischen den sich aufdrängenden negativen Reaktionen, die sie in den Textrezipienten wachruft, und seinem offenbaren Erfolg im Zuge der Narration. Die Eckpunkte seiner Figurendarstellung bewegen sich zwischen den Polen von ›Unabhängigkeitskampf‹ und Selbstsucht, politischem Aufstieg und herrschaftlicher Desintegration, Amoralität, taktischem Geschick, Intelligenz und sagagesellschaftlichen Normwerten, erzählkonventionellem Aufbau und erzählerischer Eigenwertigkeit. In der Darstellung seiner Figur wird damit ein gewichtiger Teil der Aussageabsicht der Erzählung deutlich. Im Folgenden soll diese Figurenkonzeption daher detailliert nachvollzogen und erläutert werden.
24 Fær S. 126 (›Þrándr scheint mir anderen Männern viel voraus zu haben‹). 25 Ármann Jakobsson 2009, S. 59 (sich für seine Schläue und geistesgegenwärtigen Erfindungsreichtum zu begeistern). Die Bedeutung von Þrándrs Intelligenz in der Aussageintention des Textes betont auch Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxx–ccxxxii. Vgl. auch Skyum-Nielsen 1973 und Berman 1985, S. 124 mit Verweis auf Ólafur Halldórsson 1967, S. xvi–xvii. 26 Vgl. Ármann Jakobsson 2009, S. 58. Dabei merkt Ármann allerdings an, dass Þrándr jedes Anzeichen von Odysseus’ körperlicher Kampfkraft und moralischer Integrität fehlt. 27 So auch Ármann Jakobsson 2009, S. 57. Vgl. auch Schmidt 2016, S. 286–294 (bes. Fn. 33, Fn. 36 u. Fn. 61). 28 Eder 2007, S. 30.
3.2 Þrándrs Persönlichkeit
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3.2 Þrándrs Persönlichkeit 3.2.1 ›Unmännlichkeit‹ als Genealogie-Ersatz? Þrándr im Zusammenhang seiner Familiengeschichte Die Tatsache, dass Þrándr der biographische ›Hauptheld‹ der Færeyinga saga ist, steht in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass er – im Vergleich etwa zu den Protagonisten der Isländersagas – nur eine geringfügige genealogische Einführung erhält. Zwar ist Þrándr selbst die erste Figur aus dem Geschlecht der Gǫtuskeggjar, die die Rezipienten näher kennenlernen, sodass die kurze Genealogie im prologhaften ersten Kapitel der Saga in erster Linie seiner genealogischen Einordnung dient und ihn mit namhaften isländischen Geschlechtern verbindet.29 Darin wird dieses Geschlecht auf Ólǫf Þórsteinsdóttir rauðs und ihre Großmutter Auðr djúpauðga zurückgeführt. Jedoch bietet dieses Kapitel kein durchgängiges Narrativ30 oder eine konsistente Verknüpfung von Þrándr mit dem dort in der Manier eines reinen Namedropping aufgeführten Figureninventar. Im Gegenteil gehören alle färöischen Protagonisten der Saga dieser Familie an. Eine genaue Aufschlüsselung der Abstammungsverhältnisse der Gǫtuskeggjar von Ólǫf aber wird nicht geboten. Ebenso wenig erfolgt überhaupt eine Angabe darüber, wie viele Generationen zwischen ihr und der Protagonistenriege der folgenden Erzählung liegen. Es heißt lediglich knapp, Ólǫf sei von Auðr auf den Färöern verheiratet worden, ok er þadan komínn hinn mesti kynþattr Færeyínga,31 die Gǫtuskeggjar. Das Kapitel wirkt damit auf den ersten Blick recht losgelöst von der eigentlich erst danach beginnenden Geschichte.32 Zusätzlich setzt die Erzählung mit der Nen-
29 Vgl. hierzu auch Kap. 2.2. Für ein isländisches Sagapublikum bietet diese genealogische Anbindung sicherlich einiges Identifikationspotenzial. Die ausführlicheren Redaktionen des Kapitels in den Versionen der Saga in der Óláfs saga Tryggvasonar verstärken dies zusätzlich, indem der in der Flateyjarbók nur marginal erwähnte Erstsiedler Grímr eine ausführliche, betont isländische Genealogie erhält. 30 Der dort genannte Personenkreis wirkt insgesamt recht schlaglichtartig aufgeführt und unverknüpft nebeneinandergestellt. Zunächst wird der Ursiedler Grímr kamban erwähnt und der Topos der Tyrannei Haraldr hárfagris während seiner Reichseinigung in Norwegen aufgerufen, der zur Besiedelung der Färöer und auch Islands geführt habe. Ohne Übergang werden danach Auðr und ihr Besuch auf den Inseln angesprochen. 31 Fær, S. 4 (und daher stammt der vornehmste Familienzweig der Färinger). 32 Finnur Jónsson 1927, S. IX fragt entsprechend, ob das Kapitel integral zur Saga gehöre (gegenteilig aber Ólafur Halldórsson 1987, S. c–ci aufgrund von rittengsl). Es scheint unmittelbar eher ein Prolog zu sein, der das im Folgenden erzählte Geschehen in größere historische Zusammenhänge und Abläufe einordnet, ähnlich den später öfter folgenden Berichten über norwegische Herrscherwechsel, vgl. hierzu Berman 1985, S. 123. Diesen Dienst erfüllt das Kapitel zweifelsohne in den größeren Erzählzusammenhängen, in denen es überliefert wurde. Gerade in der umfangreichen Flateyjarbók, die bereits in Jón Þórðarsons Ur-Redaktion die gesamte (west-)skandinavische Geschichte der Wikingerzeit umfasst, ist eine solche Verortung sinnfällig. In den übrigen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, in die der entsprechende Abschnitt der Saga weniger chronologisch einge-
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nung von Þrándrs Eltern nach dieser Vorrede-artigen Passage gänzlich neu ein. Für diese werden jedoch keine weitergehenden genealogischen Angaben gemacht. Damit ist Þrándr die einzige der im Folgenden wichtigen Figuren, die nicht wenigstens mit einer Genealogie ausgestattet wird, die bis ins dritte Glied, also in die Generation der Großeltern, reicht. Auffällig ist weiterhin, dass im Grunde überhaupt kaum Informationen vermittelt werden. Über Þrándrs Mutter wird keinerlei Auskunft mit Ausnahme ihres Namens Guðrún erteilt, und von seinem Vater Þorbjǫrn gǫtuskeggr wird nicht mehr berichtet, als dass er audígr33 und bereits alt ist. Die Bedeutsamkeit der Angaben vor dem Bericht der Taten Þrándrs selbst muss also auf einer anderen Ebene der Erzählung zu finden sein. Aus dem rückwärtigen Blickwinkel der folgenden Erzählung zeigt sich, dass die einzelnen Komponenten, die das erste Kapitel und die spärlichen Angaben über Þrándrs Eltern und weitere Genealogie aufrufen, sich vor allen Dingen als konzeptionell bedeutsam für Þrándrs Charakterzeichnung erweisen, anstatt inhaltlich im Rahmen der Diegese. Sie sind so auch traditionsträchtig in den folgenden Generationen seiner Familie. Bereits im ersten Kapitel werden in wenigen Worten Themenkomplexe angelegt, die erst im späteren Verlauf der Erzählung narrativ ausgespielt werden. Macht und Einfluss paaren sich in der Færeyinga saga grundsätzlich mit finanziellen Mitteln, und in Þrándrs Fall sind sie die unabdingbare Voraussetzung seines Aufstiegs, wie zu zeigen sein wird.34 Deshalb ist es bedeutsam, dass sein Vater ein explizit »reicher« Mann ist. In diesem Zusammenhang wird auch interessant, dass Auðr, die berühmte Stammmutter der Gǫtuskeggjar, im kurzen Ansiedlungsbericht gerade die seltene Beinamensform diupaudga, »die Tief- bzw. sehr Reiche«,35 trägt. Die nur zweimalige Verwendung des im Kontext von Figureneinführungen in der
bunden ist (vgl. Krakow 2009, bes. S. 54–63), wird sie umso notwendiger. Durch die lange Stammtafel Grímr kambans wird dabei aber die Gesamtperspektive wesentlich stärker auf Island verschoben: Alle in der Ahnentafel genannten Personen sind wichtige Figuren der isländischen Geschichte. Eine solche Fokusverschiebung fehlt auffälligerweise in Jón Þórðarsons Codex, der in seiner Abfassung einer unabhängigen Handschrift gefolgt sein dürfte. Allein durch ein isländisch geprägtes Interesse am Figurenarsenal lässt sich die Einbindung des ersten Kapitels hier insofern nicht erklären. Der Eröffnungsteil erfüllt hingegen im Gesamtzusammenhang des Sagabeginns konstitutive narrative Funktionen. 33 Fær, S. 4 (reich). 34 Vgl. auch North 2005. 35 Fær, S. 3. Das Dictionary of Old Norse Prose [zuletzt abgerufen am 31.08.2021] führt in seinem Online-Katalog lediglich 13 Nennungen dieser Namensform im altnordischen Korpus auf. Sie finden sich insbesondere in jüngeren Papier-Handschriften der Eyrbyggja saga und der Landnámabók, darüber hinaus in ebenso spätmittelalterlichen Handschriften der Grettis saga (AM 551 a 4o; ca. 1500) oder der Eiríks saga rauða (AM 557 4o; ca. 1420– 1450). Verhältnismäßig früh, d. h. in etwa zeitgleich mit der Flateyjarbók im 14. Jahrhundert, datieren hier zwei Nennungen in den Njáls saga-Versionen der Kálfalækjarbók (AM 133 fol.; ca. 1350) und der Skafinskinna (GKS 2868 4o; ca. 1400). Die übrigen Stellen bilden die Orkneyinga saga und die Óláfs saga Tryggvasonar der Flateyjarbók selbst sowie je eine weitere Nennung in der A- und der D-Version der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta.
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Sagaliteratur nicht seltenen Wortes auðigr mag nicht weiter nennenswert scheinen. Dennoch ist auffällig, dass gerade angesichts der Kürze der Angaben über Þrándrs Vorfahren dieses Wort mehrfach Verwendung findet und Reichtum in seinem späteren Leben ein solch dominantes Thema wird. Direkt nach den genealogischen Figureneinführungen wird weiterhin ein Streit zwischen Þrándr und seinem Bruder Þorlákr auserzählt, der sich um lausafé und land dreht, besonders in Form des heímabolít.36 Bereits hier wird somit die Thematik von Reichtum, auch in ihrer engen Verbindung mit Landbesitz, als Grundstein von Þrándrs Aufstieg etabliert und somit narrativ als bedeutungstragend markiert.37 In die sich aus dieser Blickrichtung ergebende Assoziationskette passt darüber hinausgehend auch der Aufruf des Topos von Haraldr hárfagris tyrannischer Reichseinigung in Norwegen, die darauf zielt, Ländereien und Besitz unter seine Herrschaft zu bringen,38 der in der Færeyinga saga zunächst ziellos wirkt. Indes lässt sich der Toposaufruf auch als Anspielung auf Þrándrs späteres, eigenes ofríki auf den Färöern und ebenso gut seiner Ablehnung norwegischer Herrschaftsaspirationen lesen. Er stammt offenbar von Figuren ab, die sich einem königlichen Diktum nicht unterwerfen wollten, sondern sich Königen gleichwertig fühlen, selbst wenn genauere Angaben fehlen. Auch die scheinbare Unwichtigkeit der weiblichen Linie, die in der überaus sparsamen Informationsverteilung über die Stammütter von Þrándrs Geschlecht und der ebenso bloß namentlichen Nennung seiner leiblichen Mutter ihren Ausdruck findet, zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Generationen von Þrándrs Familienzweig. So erfährt man etwa nie den Namen der Frau seines Bruders Þorlákr. Es heißt lediglich lapidar, dieser habe geheiratet und dennoch vorerst bei seinem Vater zu Hause gelebt,39 obwohl seine Söhne, Þrándrs Neffen, im zweiten
36 Fær c. 2, S. 4–5. 37 Zu Bedeutung und Einsatzmöglichkeiten der Ermittlung semantischer Isotopien bei den Erzählanfängen von Isländersagas, in der Methodik abgeleitet von Greimas 1971, siehe Hahn 2020, S. 265– 279, bes. S. 270–273. 38 Vgl. hierzu Kreutzer 1994; Ármann Jakobsson 2002a, S. 149–150; Boulhosa 2005, S. 160–182, konstrativ S. 197–205; Hahn 2020, S. 262–281. Diese Argumentation setzt voraus, dass der Topos des ofríki Haraldrs hárfagris eine etablierte narrative Konvention im literarischen Milieu der Entstehungszeit der Færeyinga saga war. Die Datierungsproblematik der Saga (gemeinhin vor den Sagas, in denen dieser Topos zum Tragen kommt) gebietet dabei Vorsicht vor zu voreiligen Schlüssen. Dennoch setzt die Narrationsorganisation der Saga auch in weiteren Hinsichten die Existenz literarischer Topoi voraus, die womöglich erst später in schriftlicher Form ihre Wirkung entfalten, sodass eine mündliche Präexistenz angenommen werden müsste. Umgehbar ist diese Problematik dagegen in jedem Fall für den Zeithorizont der Flateyjarbók, die den heutigen Text überliefert. 39 Fær, S. 4: Þorlakr kuændizst þar j eyíunum ok var þo heima med fodr sinum (Þorlákr heiratete dort auf den Inseln und lebte doch zu Hause mit seinem Vater). Þorlákr kontrastiert durch dieses Verhalten auf charakterlicher und erzählkonzeptioneller Ebene mit seinem Bruder. Die Hochzeit markiert eigentlich den Übergang eines Mannes in den unabhängigen und eigenverantwortlichen Lebensabschnitt des Erwachsenenalters, in welchem er als gesellschaftliche Stütze fungieren soll, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 221–222. Þorlákr allerdings handelt offenbar nicht nach den normativen Vorgaben der Gesellschaft. Von einer prestigeträchtigen Auslandsreise weiß die Erzäh-
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Handlungsteil eine tragende Rolle in der Erzählung spielen. Auch über Gautr, den Cousin von Sigurðr und Þórðr, heißt es nur, er war ein Schwestersohn Þrándrs.40 Eine Schwester wird vor Gautrs Einführung allerdings nirgendwo mit einem Wort erwähnt. Ebenso wenig wird eine eigene Partnerin Þrándrs namentlich genannt, bevor ihm plötzlich eine Tochter unter dem Zusatz, er sei nie verheiratet gewesen, zugewiesen wird.41 Diese Erwähnung einer Tochter Þrándrs scheint zunächst überhaupt geradezu arbiträr und ziellos, wird doch lediglich ihr Name in einem einzigen Satz genannt und spielt sie für den Verlauf der Erzählung keinerlei Rolle.42 Diese Aussparung jeglicher Weiblichkeit in Þrándrs Familienzweig kontrastiert jedoch scharf mit der Rolle, die Frauenfiguren mit stark ausgebauten Charakterzügen in Sigmundrs Familie spielen, und auch der Tatsache, dass den Gǫtuskeggjar mit Auðr und Ólǫf gerade zwei Stammmütter zugeordnet werden. Daher scheint auch diese Abwesenheit von Weiblichkeit bei Þrándr eine stärker konzeptionelle Rolle in seiner Charakteristik als Mittel narrativer Konstratierung zu besitzen, anstatt eine konkrete im Handlungsverlauf. In der Generation des ersten Kapitels sind die Frauen die Handlungsträgerinnen, während Ólǫfs Mann keine namentliche Erwähnung findet – ebenso wie am Ende der Saga, als Sigmundrs Tochter und Witwe als die Triebkräfte des färöischen Konflikts auftreten.43 Das im ersten Kapitel geschilderte Vorgehen wirft unter inversen narrativen Vorzeichen so seine Schatten auf Þrándrs eigenes, späteres Handeln voraus: Heiratsallianzen wie die, die Auðr an ihrer Schwiegertochter vollzieht, werden zum Mittel von Þrándrs Politik. Der Versuch, sie zum eigenen Vorteil auszunutzen, scheitert in dem Moment, als die auffälligen Frauen aus Sigmundrs Familien-
lung nichts zu berichten, und ein Verbleiben auf dem väterlichen Hof nach der Hochzeit entspricht dezidiert nicht der vorgesehenen Entwicklung eines Männerdaseins. Dies stellt das Gegenstück Þrándrs dar: Während dieser die Struktur der erwarteten Entwicklungsschritte erfüllt, in seinem Handeln aber gänzlich mit den sozialen Konventionen bricht, wird Þorlákr einigermaßen stereotyp als będí mikill ok sterkr (Fær, S. 4; sowohl groß als auch stark) beschrieben, lenkt allerdings sein Leben nicht in die erwartbaren Bahnen. Vgl. zur Dichotomie dieses Brüderpaars auch Ewering/ Krosing 2015, S. 84–85. Dadurch wird Þorlákr auch zur Präfiguration seiner Söhne, insbesondere Sigurðrs, die als eigentlich Erwachsene lange Zeit auf dem Hof ihres Onkels leben und erst eigenständig werden, als dieser sie explizit des Hauses verweist. Auch in Gegenüberstellung zu Þrándrs Figurenkonzeption erinnert insbesondere Sigurðr als mikill ok sterkr an seinen Vater (deutlicher allerdings noch an Sigmundr), vgl. hierzu Kap. 5.2.3. 40 Fær, S. 81: [H]ann var systur son Þrandar. 41 Fær, S. 128: [O]k er suo sagt at Þrandr værí ecki kuongadr madr. Hann atti æína dottur er Gudrun het (Und es wird erzählt, dass Þrándr nicht verheiratet gewesen wäre. Er hatte eine Tochter, die Guðrún hieß). 42 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccviii. Ólafur räsoniert entsprechend, dass die Nennung der Verwendung authentischer, mündlicher Überlieferung zuzuschlagen sei, zumal die junge Guðrún den gleichen Namen trägt wie ihre zuvor auch nur einmal erwähnte Großmutter. Hierzu ist zu bemerken, dass Guðrún ihre Erwähnung dem jedenfalls insinuierbaren Plan Þrándrs zur Herrschaftssicherung verdanken könnte, vgl. hierzu North 2005, S. 70–73 sowie Kap. 3.3. 43 Zu weiblichen Figuren in der Færeyinga saga vgl. näher Kap. 7.3, hier bes. Kap. 7.3.2.
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zweig hinzutreten.44 An Frauen also scheitert Þrándr, um den herum Frauenfiguren keine größere Rolle zu spielen scheinen, in dem Moment, in dem er eine Handlung seiner Stammmutter nachzuvollziehen versucht.45 Bemerkenswert erscheint dies insbesondere hinsichtlich der Genderrolleninversion in Þrándr selbst. Þrándr verhält sich Zeit seines Lebens nie entsprechend der Maßgaben eines ›männlich‹ konnotierten Wikingerhelden.46 Er greift nie selbst zur Waffe, scheut im Angesicht der Androhung von Gewalt mehrfach zurück und willigt in die Forderungen seines Gegenübers (in der Regel Sigmundr) ein, wodurch er sich als feige erweist.47 Stattdessen betätigt er sich in meist sehr subtiler Art und Weise als Hetzer, eine Kategorie von literarischer Funktion, die vor allem von weiblichen
44 Das gleiche Prinzip scheiternder Heiratsallianzen wird auch Sigurðr zum Verhängnis, der ein Mimikry der Herrschaft seines Onkels in Gang zu setzen versucht, siehe Kap. 5.4.3. 45 Wenig überzeugend erscheint dagegen Harlan-Haugheys Versuch, die Bedeutung Auðrs zu Beginn der Erzählung mit der späteren Konversion der Färöer rückzubinden (Harlan-Haughey 2015, S. 376), vgl. bereits Kap. 2.2 (Fn. 66). Sie wird lediglich in einem einzigen Satz erwähnt und vollzieht keine anderen Handlungen als das Reisen und die Verheiratung Ólǫfs. Insbesondere ihr Glauben wird explizit verschwiegen. Will man die christliche Natur Auðrs als Vorwissen für den Saga-Bericht ansetzen, so wäre eine implizite Vorausdeutung auf die Charakteristik Sigmundrs als zusätzliche Erklärung für Auðrs Erwähnung überzeugender. Auch Sigmundr ist ein Reisender (vgl. bes. Kap. 4.3.2) und bringt das Christentum auf die Färöer; dabei entstammt er, ebenso wie Þrándr, dem Geschlecht von Auðrs Gefolgschaft. Keineswegs aber wird dadurch die Konversion als Endpunkt der Narration vorbereitet. Siehe zur Rolle der Christianisierung näher Kap. 4.5.1. 46 Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen 1993, S. 187–248. Als fundamentale Herausforderung der Ehre eines Mannes ist das Konzept des níð zu verstehen, der Vorwurf, argr zu sein, d. h. sich in der ein oder anderen Weise ›unmännlich‹ zu verhalten, vgl. Meulengracht Sørensen 1983; im Zusammenhang mit den Männlichkeitskonzepten bes. S. 79–87. Als Überblick mit umfangreichem kulturanthropologischem Rahmen siehe auch Bandlien 2005. Zur durchaus breiten Bedeutung von ergi, nicht allein in Hinblick auf (sexuell verstandene) ›Effemination‹ vgl. jedoch Ármann Jakobsson 2008, S. 63. Somit ist zwar die Konstruktion der männlichen Genderrolle in der altnordischen Literatur keineswegs alleine an das natürliche Geschlecht geknüpft, sondern vor allen Dingen an die persönliche Macht, allerdings ist das prävalente Genderkonzept eindeutig als ›männlich-aktiv‹ konnotiert. Von ›Männern‹ wird Aktivität, Kampfkraft, Mut und selbstbewusste Behauptung vor Gegnern erwartet, letztlich kompromisslose Erhaltung von öffentlichem Ansehen und damit verbundener Machtposition. Vgl. hierzu Clover 1993 (deren Bezug auf Laqueurs ›One-sex-model‹ allerdings kritikwürdig ist, vgl. Tirosh 2016, S. 257 [Fn. 61]; siehe zur entsprechenden Diskussion auch Kap. 7.3.1) und Rau/Greulich 2014, die erläutern, in wie differenzierten Spannungsfeldern sich ›Männlichkeit‹ in der Sagaliteratur konstituiert, ebenso Evans 2019. Als Forschungsüberblick zum Thema siehe auch Tirosh 2016, S. 255–258. Zur Funktionalisierung des ›Männlichkeits‹-Diskurses in den Isländersagas einschließlich einer Evaluation der relevanten Forschungspositionen siehe Thoma 2021b. Vgl. zu Þrándrs ›(Un-)Männlichkeit‹ auch Schmidt 2016, S. 286 (Fn. 34). 47 So etwa als er zur Taufe gezwungen wird (Fær c. 31, S. 75–76), oder im Zuge der verbalen Auseinandersetzungen zwischen ihm und Sigmundr um die Geldzahlungen, die ihm Jarl Hákon als Buße auferlegt (Fær c. 26, S. 63–65). Seine Kooperation mit Karl von Møre, dem Gesandten Óláfrs des Heiligen, trägt ihm dann auch den Vorwurf seines Neffen Gautr ein, argr zu sein (Fær, S. 120, siehe hierzu Kap. 3.4.4).
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Sagafiguren bedient wird.48 Þrándr manipuliert, dirigiert dadurch Drittparteien in seinem Sinne und setzt so andere für seine Zwecke sein. Dabei weist er durchaus eine Affinität zur Gewaltandrohung auf,49 solange die Tat nicht von ihm selbst ausgeführt wird. Allerdings verzichtet er auf Gewaltanwendung, wenn er seine Ziele auch durch die bloße Drohung erreichen kann, und kann sich insofern vordergründig als ›Friedenshüter‹ gerieren.50 Auch seine magischen Fähigkeiten könnten implizit in diese Richtung weisen. Zwar wird seiðr im Zusammenhang mit Þrándrs Anwendung von Magie nicht wörtlich genannt, doch wird Zauberei grundsätzlich häufig als ›unmännlich‹ konnotiert angesprochen.51 Zu dieser ›Unmännlichkeit‹ in Þrándrs Verhalten passt auch die Tatsache, dass er sich generell eher passiv reagierend denn aktiv verhält, selbst im politischen Machtkampf. Bindeglied dieser Komponenten der ›Unmännlichkeit‹ ist das Merkmal der Heimlichkeit im Sinne einer fehlenden Orientierung an den öffentlichen Handlungsnormen der Offenkundigkeit. Die Sagagesellschaft folgt einem öffentlichen Prinzip:52 Betätigungsfeld von Männern ist die öffentliche Sphäre, in der sie zueinander in Konkurrenz treten, und dies auf möglichst offensichtliche, direkte und klare Art
48 Vgl. Heller 1958, S. 98–122. Vgl. zur Rolle der Frauen in der ›Ehrökonomie‹ der Isländersagas auch Meulengracht Sørensen 1993, S. 238–248. Ármann Jakobsson 2005 zeigt hingegen, dass Männer ebenfalls als Hetzer auftreten können – allerdings handelt es sich dabei mehrheitlich um ältere, aus der gesellschaftlichen Tagesordnung bereits herausgefallene Männer. Dem Anforderungsprofil eines jungen Mannes, der sich auch kriegerisch betätigen könnte, entspricht eine formelle Hetzrede, wie sie Þrándr mehrfach hält (vgl. auch Kap. 3.4.1), sicherlich nicht. 49 Etwa als er Sigmundrs missionarische Botschaft auf dem Þing mit Hilfe der Bauern zunächst abwenden kann (Fær c. 30, S. 73–75), oder als er seinen Neffen hilft, die über sie verhängte Acht wieder aufzuheben (Fær c. 49, S. 126–127). 50 Vgl. hierzu näher Kap. 3.4. 51 Laut Heimskringla war es für Männer unschicklich, die Magie des seiðr zu betreiben, weil þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi, at eigi þótti karlmǫnnum skammlaust við at fara (Ynglinga saga, S. 19; »[M]it derart geübter Zauberei […] soviel Ärgernis [im Sinne von normabweichendem Verhalten in als ›unmännlich‹ konnotierter Form] verbunden [ist], dass die Männer sich schämten, sie zu treiben«; Niedner [Übers.] 1965, S. 33). Daran anschließend wird Zauber in der Forschung häufig als mit Vorstellungen von Weiblichkeit und ›Unmännlichkeit‹ verknüpft aufgefasst, vgl. beispielhaft etwa Jochens 1991, bes. S. 306–308; Grambo 1991, bes. S. 133–134. Dagegen Dillmanns statistische Untersuchung zur Verteilung männlicher und weiblicher Magiepraktizierender in den Isländersagas, vgl. Dillmann 2006, S. 143–160. Eine insgesamt weibliche Konnotation des seiðr im Quellenmaterial lässt sich ihm selbst zufolge dennoch nicht leugnen, vgl. Dillmann 2007, S. 864– 865. Als jüngste Studie zum Thema von Magie und Gendertransgression siehe Kunstmann 2020. Obwohl Männer und Frauen gleichermaßen als Magier auftreten können, sind Schilderungen weiblicher Magie häufig detailreicher als die bei männlichen Zauberern, vgl. Jochens 1996, S. 123–124; Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2009, S. 410 (Fn. 1). Dies dürfte vor allem in der Tatsache begründet liegen, dass Männern ein breiteres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten in der Gesellschaft der Isländersagas offensteht als Frauen, sodass diese, um eigenständig in gesellschaftlichen Prozessen aktiv werden zu können, auf Alternativen wie den Zauber zurückgreifen müssen, vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2009, bes. S. 432–433. 52 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 207–209.
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und Weise.53 Handlungen, die nicht diesem Schema entsprechen, sind bedrohlich, einerseits für die Gesellschaft, andererseits für denjenigen, der ihre Standards nicht erfüllt und so leicht seine Ehre verlieren kann.54 Deswegen sind Diebe und Mörder die verruchtesten aller Verbrecher55 – und Zauberer in ihrem ›unmännlichen‹ Wesen am Rande des Ehrbegriffs. Þrándr betätigt sich (höchstwahrscheinlich) sowohl als Dieb als auch als Zauberer,56 und verhält sich auch sonst nicht nach den Maßgaben des männlichen Geschlechts. Die Kategorie öffentlicher, ›männlich‹ konnotierter Ehre und ihres Erwerbs scheint bei Þrándr nie ins Gewicht zu fallen oder überhaupt nur in Betracht gezogen. Er führt hingegen viele seiner Taten im Verborgenen aus, wenn er andere unmerklich zu Werkzeugen seines Willens formt und vor allem, wenn gewichtige Teile seines Vorgehens und möglicher Verbrechen durch den Bericht des Erzählers verschwiegen und verrätselt werden.57 Diese noch zu untersuchende, destabilisierte Narration, die die Darstellung Þrándrs prägt, korrespondiert im Effekt der Heimlichkeit von Vorgängen und Zusammenhängen damit direkt mit Þrándrs nicht-normgerechter Rolle als ›(Un-)Mann‹. Es ergibt sich eine Kongruenz zwischen Erzählhaltung und durch sie inszenierter Figur. Þrándrs Nicht-Idealität in Bezug auf das Männlichkeitsideal der Sagagesellschaft korrespondiert aber auch mit der Tatsache, dass Frauen in seiner Familie generell eine unbedeutende Rolle zu spielen scheinen: Ihre Abwesenheit wird durch die fehlende ›Männlichkeit‹ von Þrándrs Verhalten komplementiert. Auch scheint seine invertierte Genderrolle der Raumkonzeption seiner späteren Herrschaft zu entsprechen und daher mit dieser assoziierbar. Der altnordischen Gendernorm nach ist die Welt innerhalb des Hauses bzw. der Familie diejenige, die im Zuständigkeitsbereich der Frau liegt, sie befindet sich innan stokks.58 Wie noch weiter auszuführen sein wird, beruhen Þrándrs Aufstieg und seine Herrschaft maß-
53 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, bes. S. 191–206. 54 Als Überblick vgl. Clover 1993, S. 373–379. 55 Zur Definition von Mord und Diebstahl im Verstoß gegen das Offenkundigkeitsprinzip siehe von See 1964, S. 204; Hahn 2020, S. 33–49. 56 Vgl. Kap. 3.2.3 u. Kap. 3.6.3. Siehe auch Kap. 8.4. 57 Zur semantischen Korrespondenz von Þrándr, seinen Taten und der Heimlichkeit der Darstellung auch in Hinblick auf die Erzählstruktur vgl. auch Kap. 8.2.1 u. Kap. 8.4. Zur semantischen Nähe des Verbrechens Diebstahl, dem Zauber und der ›Unmännlichkeit‹ in der gemeinsamen Schnittmenge ihrer jeweiligen Heimlichkeit siehe Hahn 2020, S. 51–63, in Bezug auf die narrative Inszenierung von Diebstahlsepisoden weiter S. 65–78, dabei ab S. 75 zum Diebstahl in der Færeyinga saga selbst. 58 Vgl. Grágás § 152. Bei den Bestimmungen zur Eheschließung im Festa-þáttr heißt es: Þar er samfarar hiona ero oc scal hann raða fyrir fe þeirar oc capom. […] en ef hon á ibe með honum. þa a hon at raða bv ráðom fyrir inan stocc (Wenn ein Eheverhältnis besteht, soll er über ihre gemeinsamen Finanzen und Handel bestimmen. […] Doch wenn sie mit ihm gemeinsam wohnt, so hat sie die Haushaltsleitung innerhalb des Hauses zu bestimmen). Zur Trennung der Welt fyrir innan und fyrir útan stokk mit entsprechend ›weiblicher‹ und ›männlicher‹ Konnotation vgl. auch Jochens 1995, bes. S. 115–140; ausführlich zu altnordischen Weiblichkeitskonzepten vgl. Kap. 7.3.1.
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geblich auf seiner unverbrüchlich festen Verbindung mit den Färöern, die er nach seiner Auslandsreise in der Jugend nie wieder verlässt; auch besteht die Methodik seiner Herrschaft maßgeblich in seinem Erwerb von Länderein auf den Färöern. Mit diesem Handlungsraum ist er gleichsam identifiziert, und seine Position dort findet sich sogar in Erzählmustern ausgestaltet, die mythische Dimensionen annehmen.59 Die Verbindung mit dem norwegischen Reich versucht er zu kappen, um so einen abgekapselten Mikrokosmos der Färöer von einem norwegischen Außenraum abzutrennen und diesen nach seinem Gutdünken beherrschen zu können. Die in Kapitel 2.3 analysierte Raumdarstellung beruht daher maßgeblich auf Þrándrs Beherrschung des färöischen Innenraums – als ambivalente Figur der eigentlichen Peripherie der gemeinsamen Semiosphäre der Erzählung drängt er auf semiotische Deutungshoheit in seinem Lebensraum und auf die Umwandlung von Zentrum und Peripherie. Dieser semiotischen Dominanzdurchsetzung entspricht die Trennung von färöischem Innen und norwegischem Außen. Und dass sich Þrándr explizit nach innen orientiert, korrespondiert mit seiner normbrechenden Genderkonzeption. Er agiert dauerhaft innerhalb des von ihm zu errichten versuchten Mikrokosmos, mit dem er sich vollständig identifiziert findet, also metaphorisch gesprochen ebenfalls innan stokks. Zwar bezieht sich dieser Terminus nur auf den Innenraum des bäuerlichen Haushalts, doch zeigen sich die mit Þrándrs Charakter und seiner Herrschaft verbundenen Komponenten auf metaphorischer Ebene als semantisch passgenau zueinander, sodass sie eine Assoziationskette ergeben: Heimlichkeit, Beherrschung des Inneren, ›Unmännlichkeit‹. Die ›Unmännlichkeit‹ in Þrándrs Handlungsweise spiegelt somit nicht nur das Fehlen weiblicher Figuren in seiner Familie, sondern scheint in Bezug auf seine Figurenkonzeption von großer Bedeutsamkeit, da sie als symbolisch für die Art seiner politischen Herrschaft und deren erzählerische Ausgestaltung verstanden werden kann. Damit erweist die Færeyinga saga, dass das scheinbar so alleinstehende erste Kapitel und die nur geringfügigen Angaben über Þrándrs Stammbaum auf der konzeptionellen Ebene sehr wohl homogen zur erzählten Geschichte gehörig ist. Trotz der überaus konzentrierten Kürze werden in den wenigen Sätzen Themen in nuce angesprochen, die im späteren Erzählverlauf in der Figurenanlage Þrándrs bedeutsam werden und konstrativ und parallelisierend auf den Erzählbeginn rückbezogen werden können.60 Þrándrs Darstellung beginnt so mit einem historischen Überblick und dennoch einem Mangel an genealogischer Einbindung; er selbst erscheint als ›wurzellos‹. Er wird, anders als andere Saga-Protagonisten, nicht in einem bereits aufgespannten sozialen Netz verortet, sondern steht allein. Die nur wenigen einlei-
59 Vgl. hierzu näher Kap. 8. 60 Die Konzisität der Darstellung im Prolog entspricht zudem der konzeptionellen Pointiertheit des Erzählverlaufs der Færeyinga saga allgemein. Auch mit der sehr unverbundenen Nebeneinanderstellung der angesprochenen Themen präfiguriert er recht genau das offene Narrationsprinzip der Erzählung als solcher, wie es in der vorliegenden Studie demonstriert werden soll.
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tend bereitgestellten Informationen wirken dabei spärlich und bisweilen ziellos. Und doch scheint jede den Rezipienten an die Hand gegebene Information in der Konzeptionierung von Þrándrs Persönlichkeitsstruktur bedeutsam. Kontrastreich und bedeutsam erscheint Þrándrs genealogische ›Wurzellosigkeit‹ so gerade anhand seiner im Folgenden noch näher auszufaltenden festen Verwurzelung mit dem Land der Färöer und seines Charakters. Über seine Abstammung findet sich insofern auch deswegen nicht viel berichtet, weil es für seine Entwicklung letztlich unbedeutend scheint, woher er kommt, abgesehen davon, dass er auf den Färöern geboren wurde. Für die Rolle, die er spielt, darf er mit den bestehenden Strukturen auf den Färöern nicht so fest verbunden sein, wie es sich in einer längeren Genealogie ausdrücken würde. Er bemüht sich hingegen, selbst neue Strukturen zu etablieren, in deren Zentrum er alleine steht. Bestehendes, wie die lehnsrechtliche Verbindung zwischen Färöern und Norwegen, will Þrándr nicht erhalten, sondern trennen, umwerten und neu codieren oder gänzlich neu entwerfen. Entsprechend scheint es wichtiger, dass er selbst ein Geschlecht hervorbringt, als dass er von einem abstammt: Er will nicht Zweig an einem gegebenen Stammbaum sein, sondern die Wurzel eines neuen. Zwar bringt er selbst nur eine in einem Satz erwähnte Tochter hervor, doch scheint aus ihrer Erwähnung ein stillschweigender Plan ableitbar, den Grundstein der Herrrschaft eigener Nachkommen zu legen. Und auch wenn dieser ohnehin nur vorstellbare Plan letztlich scheitert, ist Þrándrs kurze Genealogie bedeutend, weil sie ihm die Möglichkeit gibt, aus schon in seiner Abstammung begründeten, festen Formen auszubrechen und seine eigenen zu etablieren. Den Weg dorthin ebnen ihm die ›Unmännlichkeit‹ und der Normverstoß seiner Verhaltensweise, die ebenso gegen narrative Konventionen für Hauptprotagonisten der Sagaliteratur verstoßen wie seine genealogische Nicht-Einfassung. Zugleich scheint Þrándrs Verhalten genealogisch vorgeprägt, wenn es mit dem Fehlen von ›Weiblichkeit‹ in seiner Familie korrespondiert. Somit dient die ›Unmännlichkeit‹ von Þrándrs Verhalten geradezu als ›Genealogie-Ersatz‹ in seiner Figurenkonzeption – nur über sie ist er in der Lage, seine Ziele zu erreichen, und raumsemantisch ist sie Symbol seiner semiotischen Dominanzbestrebungen. Die ›Wurzellosigkeit‹ Þrándrs hebt umso mehr hervor, eine wie große Rolle das von ihm selbst betriebene ›Wurzelschlagen‹ auf den Färöern spielt. Im Folgenden ist daher zu untersuchen, wie dieses vollzogen wird.
3.2.2 »The shifty red-headed man of the medieval proverbs«? Þrándrs Figureneinführung und physiognomische Beschreibung Þrándr wird zusammen mit und im Kontrast zu seinem älteren Bruder Þorlákr in die Saga eingeführt.61 Von beiden heißt es, sie seien efnniligir menn,62 und Þrándr eben61 Vgl. Ewering/Krosing 2011, S. 85, die Þrándrs erste Handlungen in der Saga als »standing up to one’s own brother« kategorisieren. Vgl. bereits oben (Fn. 39). 62 Fær, S. 4 (vielversprechende Männer).
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so wie sein Bruder mikill ok sterkr […] þa er hann þroskadízst.63 Diese verhältnismäßig stereotype Charaktereinführung scheint allerdings irreführend: Physische Größe und Stärke Þrándrs sind im Handlungsgang wenig bedeutend. Nutzen zieht er aus beidem nie, da sein Vorgehen nie in seiner Physis begründet liegt. Wichtiger erscheint demgegenüber seine nachfolgende physiognomische Beschreibung: Þrandr var raudr á hár ok freknottr j andlíte fridr synum.64 Die Bedeutung dieser äußerlichen Erscheinung wird zusätzlich gesteigert, indem sie wenig später doppelt wiederholt, ausgebaut und zudem deutlich negativiert wird. Zunächst heißt es: [Þ]a tekr til orda æínn ungr madr uaxit har af kolli raudr a hars lit ok freknottr ok helldr greppligr j asíonu.65Als nächste Beschreibung folgt: Þrandr uar mikill madr uexsti raudr ahar ok raudskeggiadr freknottr grepligr j asíonu myrkr j skapí slægr ok radugr til allra uela udæll ok illgiarnn vid alþydu blidmælltr vid hína meíre menn en hugde jafnan flatt.66 Die Verdreifachung dieser Ausführungen erweckt zunächst den Eindruck der Überflüssigkeit.67 Jedoch ist auffällig, dass sie Þrándrs Figureneinführung erheblich modifizieren:68 Sie steigern sich in Ausführlichkeit, Intensität und negativer Aufladung. Dadurch entsteht eine auffällige Widersprüchlichkeit, weil sich die Beschreibung von fríðr und efniligr in greppligr í ásjónu und slœgr und illgjarn verkehrt. Zudem rahmen die drei Beschreibungen Þrándrs einzige letztlich tatsächlich von ihm selbst ausgehende Taten.
63 Fær, S. 4 (sowohl groß als auch stark […] als er zum Mann heranwuchs). 64 Fær, S. 4 (Þrándr war rothaarig und sommersprossig, von schönem Aussehen). 65 Fær, S. 6 (Da ergreift ein junger Mann das Wort, dem das Haar auf dem kahl geschorenen Kopf spross, von roter Haarfarbe, sommersprossig und ziemlich grimmig anzusehen). 66 Fær, S. 7 (Þrándr war ein Mann von großem Wuchs, rothaarig und rotbärtig, sommersprossig, von finsterem Angesicht und dunklem Gemüt, gerissen und schlau in jeder Art von Arglist, unfreundlich und bösartig gegen die Allgemeinheit, schmeichlerisch gegen die höher gestellten Menschen; aber er hatte doch stets verräterische Gedanken). 67 Vgl. etwa Óláfur Halldórsson 1987, S. ci, der aus der mit Þrándrs Darstellung im Rest des Textes nicht übereinstimmenden, expliziten Negativität der letzten Beschreibung schließt, sie sei eine spätere Zutat aus Perspektive der den Text tradierenden Óláfs saga Tryggvasonar en mesta und habe nicht zur originalen *Færeyinga saga gehört. In seiner jüngsten, für ein breiteres Publikum bestimmten Ausgabe verbannt er die Beschreibung daher in eine Fußnote, siehe FærÍF, S. 8. Finnur Jónsson streicht in seiner Edition hingegen die erste Beschreibung Þrándrs als fríðr, siehe FærFJ, S. 1 (Fn. 14), mit der Begründung, auf Basis anderer Handschriften sei Þrándrs Beschreibung am Ende von c. 3 am ehesten »oprindelig« (ursprünglich). Zu dieser auffälligen Ungleichheit vgl. auch Harris 1986, S. 205 und Harlan-Haughey 2015, S. 358, deren Begründung der Divergenz allerdings ebenfalls allein auf die vermeintlichen Quellen der Saga abzielt. 68 Zur Bedeutung von Figureneinführungen in den Isländersagas allgemein vgl. Cochrane 2016, S. 120–128. Mehrfache Figurenbeschreibungen und damit eine vertiefte und verzögerte Einführung erhalten etwa auch Hrafnkell Freysgoði (Hrafnkels saga c. 1, wiederholt in c. 2, S. 97 u. S. 98–99) und Snorri goði (Eyrbyggja saga c. 12, anschließend c. 13–14, S. 20 u. S. 22–27). Beide zeigen sehr ähnliche Figurenkonzeptionen wie Þrándr und entfalten durch die Widersprüchlichkeit der MehrfachEinführung ein Irritationsmoment für die Rezipienten, vgl. hierzu Shortt Butler 2016, bes. S. 320– 326.
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Nach Þrándrs erster, positiver Beschreibung als rothaarig, sommersprossig und insbesondere »vielversprechend«, schön und physisch eindrucksvoll, berichtet der Text vom Tod seines und Þorlákrs Vater Þorbjǫrn, und der Erbteilung der Brüder mittels Losentscheid: [Þ]eir logdu hluti a ok hlaut Þrandr. Þorlakr bædde Þrandr eftir skiptit at hann munde hafua heímabolít en hann lausa fe meíra en Þrandr uillde þat æigi.69 Dieser Verlauf der Geschehnisse zeichnet Þrándr zunächst als vom Glück scheinbar außergewöhnlich begünstigten jungen Mann und erweckt die Rezepientenerwartung, es bei dieser Figur mit dem Protagonisten der folgenden Saga zu tun zu haben. Þrándr erfüllt mit seiner initialen Beschreibung zunächst alle stereotypen Charakteristika eines ›Saga-Helden‹, und der folgende Handlungsverlauf fokussiert ihn scheinbar neutral als Sympathieträger. Der »vielversprechende« junge Mann hat zunächst Glück, zeigt sich als durchsetzungsfähig, indem er gegen seinen Bruder auf dem Losergebnis beharrt, und kann sich mit dem Erwerb des väterlichen Hofes den Grundstein für sein späteres Leben sichern. Danach unternimmt er eine Reise, die ihm Prestige im Ausland und insbesondere materielle Ressourcen in beträchtlichem Umfang einträgt.70 Dabei wirkt die Tatsache durchaus ungewöhnlich, dass der verheiratete und bereits auf Gata ansässige, ältere Þorlákr sich überhaupt auf den Losentscheid einlässt und sich danach verhältnismäßig klaglos mit der Lösung zufriedenzugeben scheint, indem er einfach an einen anderen Ort auf den Inseln zieht.71 Ólafur Halldórsson zieht deshalb zur Erklärung der Vorgänge die Eyrbyggja saga heran, in der Snorri goði sein Vatererbe von seinem Onkel Bǫrkr erlangt, indem er ihn durch sein ärmlich gehaltenes Äußeres dazu bringt, zu glauben, ihm mangle es an Geld.72 Dabei deutet er die zweite, nachgeschobene Beschreibung Þrándrs in Haleyri, mit eben wieder sprießendem Haar auf dem zuvor geschorenen Kopf, so,
69 Fær, S. 5 (Sie losten es aus und das Los fiel auf Þrándr. Þorlákr forderte Þrándr nach der Teilung auf, dass er den Stammsitz haben sollte, er aber mehr loses Gut, doch Þrándr wollte das nicht). Der Text macht hier nicht eindeutig, wie die Umverteilung vorzustellen ist und wer »er« in Þorlákrs Aufforderung jeweils genau ist. Die Vorstellung, dass Þorlákr die durch das Los getroffene Aufteilung vertauschen will, scheint jedenfalls logisch ableitbar – so schildern die Szene auch die alternativen Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar, siehe Fær, S. 5 (Text A). Nur als Wunsch Þorlákrs nach mehr losem Besitz versteht die Szene Hahn 2020, S. 75. Diese Interpretation würde Þrándr zusätzlich als bedacht auf seine Finanzen im Einklang mit seiner weiteren Charakterzeichnung, mit Hahn »raffgierig«, vorstellen. Ginge es um eine Vertauschung des Losergebnisses, würde hingegen Þrándrs strategische Planungsfähigkeit hervorgehoben, da der väterliche Hof die Grundlage seiner späteren ›Landesherrschaft‹ darstellt. 70 Zum stereotyp vorgesehenen Entwicklungsweg eines jungen Mannes in den Isländersagas vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 220–221. 71 Fær, S. 5: [F]or Þorlakr þa j burt ok fek ser annan bustad þar j eyíunum (Da ging Þorlákr fort und besorgte sich einen anderen Wohnsitz dort auf den Inseln). Obwohl Þorlákr auf eine andere Besitzverteilung drängt, reicht so offenbar eine schlichte Weigerung Þrándrs aus, um seinen Bruder verstummen zu lassen. 72 Eyrbyggja saga c. 13–14, S. 22–26.
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dass Þrándr zum Zeitpunkt der Erbteilung völlig kahl geschoren gewesen sein müsse. Þorlákr habe dies als Zeichen deuten müssen, dass es um seinen jüngeren Bruder finanziell nicht gut gestanden haben könne, sodass er deswegen eingewilligt habe, den Stammsitz ihm zu überlassen.73 Kahl geschorenes oder kurz geschnittenes Haar gilt als Zeichen eines unfreien Standes.74 Eine entsprechende Listigkeit Þrándrs anzunehmen, auch ohne dass sie im Text explizit vermerkt ist, scheint angesichts der folgenden Zeichnung seiner Figur, die die abschließende Figurenbeschreibung gebiert, aus dem Nachgang durchaus als legitimer Schluss. Auch die Angabe, Þrándr habe zu Beginn seiner Reise nur wenig Handelsgut besessen und sich deshalb missmutig und übelgelaunt den Winter über auf einem Hof in Norwegen aufgehalten,75 könnte in die Richtung einer anfangs prekären finanziellen Lage deuten – und lässt seinen Erfolg in Dänemark umso deutlicher erscheinen. Jedoch deutet North die hohen Einnahmen Þrándrs, die er durch die Verpachtung des Landes seines heimabol einnimmt, als Voraussetzung für seine Auslandsfahrt.76 Ebenso ist zu bemerken, dass Þrándrs Übellaunigkeit in Norwegen auch raumsemantisch als Präfiguration seiner späteren völligen Ablehnung von allem Norwegisch-Codierten gedeutet,77 und die Beschreibung als kahl geschorener junger Mann in Haleyri als absichtliche Identitätsverschleierung verstanden werden kann. Þorlákrs Nachgiebigkeit erklärt sich daher am besten aus dessen Kontrastierung mit Þrándr: Er muss sich im Rahmen des hier ausgespielten Erzähltopos als der schwächere erweisen; Þrándrs Durchsetzung bereits innerhalb der brüderlichen Gemeinschaft zeigt seine spätere Durchsetzungsfähigkeit auch in anderen sozialen Umgebungen an.78
73 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxvii–clxxviii. 74 Vgl. Ebel 1999, S. 240. Entsprechend führt Haarverlust zu einer Minderung des Ansehens, vgl. hierzu Phelpstead 2013; Thoma 2021b, S. 76–78. Der Auðunar þáttr vestfirzka c. 2, S. 364–365 verdeutlicht dies: Der häufig scheinbar glücklos agierende Protagonist Auðunn wird auf der Pilgerfahrt nach Rom von einer Krankheit befallen und verliert sein Haupthaar. Bei der Rückkehr an den Königshof wagt er verschämt zunächst gar nicht, sich zu zeigen, und wird schließlich von der Hofgemeinschaft ausgelacht, als diese seinen Zustand und seine Haarlosigkeit erkennt. Der König selbst aber rehabilitiert Auðunn, indem er dem Ehrverlust der Haarlosigkeit Auðunns gesteigertes Prestige durch das Aufsuchen der heiligen Stätten entgegenstellt. Dass Þrándr durch seine Kopfrasur einen solchen Gesichtsverlust riskiert, zeigt deutlich seine Charakteranlage. Wie oben aufgeführt ist sein Verhalten ohnehin nicht dem Codex der ›Männlichkeit‹ unterworfen. Wenn Haarverlust als ›lachhaftes‹ Signum der ›Unmännlichkeit‹ erscheinen kann, so setzt Þrándr sich selbst diesem Vorwurf aus – doch erscheint dies weniger bedeutsam als das dadurch bewerkstelligte Erreichen seiner Ziele. 75 Fær, S. 5: [Þrándr] hafde litínn kaupeyre ok for til Noregs ok hafdi bæiar setu um uetrinn ok þotte jafnna myrkr j skapi ([Þrándr] hatte wenig Handelsware und fuhr nach Norwegen und ließ sich den Winter über nieder und schien fortwährend von dunklem Gemüt zu sein). 76 Vgl. North 2005, S. 61. Dass Þrándr bereits vor seiner Fahrt læigu sem mesta (Fær, S. 5; immens hohe Zinsen) für die Pachtlande verlangt, ist in der Tat auffällig. 77 Siehe auch Kap. 2.3.2.2 (Fn. 187). 78 Vgl. Ewering/Krosing 2015, S. 85. Siehe zur Konstellation der ›Zwei Brüder‹ und ihrer Bedeutung auch Kap. 7.5.
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Damit ist Þrándr makrostrukturell scheinbar gängigen Erzählkonventionen für Saga-Protagonisten unterworfen: Durch seine Standhaftigkeit vor seinem Bruder und die aus freien Stücken unternommene Handelsreise zeigt er sich jugendlichaktiv, selbstbestimmt und gewillt, seinen späteren Lebensweg zielstrebig in erfolgreiche Bahnen zu lenken. Nach seiner Rückkehr errichtet er sich entsprechend auf dem väterlichen Hof seine Heimstatt: [S]etr nu bu saman j Gautu vm uorit ok skortir nu æigi fe.79 Die durch beide Begebenheiten erreichte Akkumulation materieller Ressourcen in Þrándrs Händen erweist sich allerdings als langfristig bedeutsamer als allein als jugendlicher Prestigeerwerb. Seine Pachtlande auf dem väterlichen Stammsitz vermietet er gegen hohe Summen80 und später heißt es: [S]ilfr þat hít mykla er Þrandr fek a Haleyre gek alldri a grunn.81 Bereits in diesem initialen Moment von Þrándrs Etablierung wird somit die enge Verbindung von Landbesitz und finanziellen Ressourcen als Narrationsthema angelegt. Darüber hinaus wird der spätere Konflikt zwischen Þrándr und seinen Neffen präfiguriert, im Zuge dessen Þorlákrs Ausbootung durch Þrándr letztlich zum Tragen kommt.82 Im Zusammenhang dieser Makrostruktur erhalten die beiden nachgeschobenen, erweiterten Beschreibungen Þrándrs eine Schlüsselrolle, da sie den vorderhand eindeutigen Narrationsverlauf des ›glückhaften‹ Aufstiegs eines »vielversprechenden« Protagonisten im Nachhinein in ein gänzlich anderes Licht rücken. Gerade die dritte und letzte Beschreibung Þrándrs als myrkr í skapi und illgjarn – die einzige direkte Evaluation von Þrándrs Persönlichkeitsstruktur seitens der Erzählstimme83 – stellt die gesamte vorherige Darstellung und insbesondere Þrándrs Rolle in den Ereignissen in Frage. Durch sie wird unvermittelt der zuvor glückbegünstigte Protagonist zum geheimen Drahtzieher eines Verbrechens und zum verurteilenswerten Antipathie-Träger umgewertet. Der Mann, als der Þrándr in seiner letzten Beschreibung explizit entworfen wird und der angesichts der Ereignisse in Haleyri wohl nicht einmal vor Diebstahl zurückschreckt, hätte wohl kaum einen Loswurf verloren,84 vor allem nicht um eine später so wichtige Ressource wie den väterlichen Hof mit seinen Landbesitzungen. Durch diese nachgeschobenen, zusätzlichen Figurenbeschreibungen im Rahmen der weiteren Ereignisse entsteht so eine strukturelle Uneindeutigkeit, die Þrándrs anfänglich positive Beschreibung und seine Rolle hinterfragt. So wird nachträglich zu Spekulationen auch über den Ablauf des vorderhand so kurz und einfach berichteten Konflikts der Brüder Anlass gegeben. Alle rückwirkenden Überlegungen und Interpretationsspielräume ergeben sich dabei alleine aufgrund der vermeintlich überflüssigen Zweit- und insbesondere Drittcharakterisierung, mit der vielsagenderweise Þrándrs
79 Fær, S. 7 (Er errichtet nun im Frühling einen Sitz in Gasse und es fehlt ihm nun nicht an Geld). 80 Fær, S. 5: Þrandr sellde alæigu landit j Gỏtu mỏrgum mỏnnum ok tok læigu sem mesta (Þrándr verpachtete die Ländereien in Gasse an viele Leute und nahm dafür immens hohe Zinsen). 81 Fær, S. 47 (All das Silber, das Þrándr in Haleyri bekommen hatte, ging nie zur Neige). 82 Siehe näher Kap. 3.4.5 u. Kap. 5.4.1. 83 Vgl. auch Schmidt 2016, S. 295–296. 84 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxix; Almqvist 1992b, S. 50.
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Figurenetablierung abschließt. Damit wird unterstrichen, dass Þrándrs Lebensweg in der Tat »viel verspricht«, dass ihm jedoch nicht mit den eindeutigen und verhältnismäßig eindimensionalen Erwartungen beizukommen ist, die an einen gewöhnlichen ›Saga-Helden‹ heranzutragen wären. Der durch die ursprüngliche Figureneinführung erweckte Eindruck trügt. Insofern ist bereits das erste Ereignis aus Þrándrs Leben, das in der Saga berichtet wird, durch seine erneuten Beschreibungen ex post mehrfach und widersprüchlich motiviert. Die eingangs erweckte Erwartung der Rezipienten an den vermeintlich positiv dargestellten Protagonisten wird so im Nachhinein gebrochen und verkehrt. Der Effekt der widersprüchlichen und mehrfachen Figurenbeschreibungen ist also ein sorgsam konstruiertes Dilemma ihrer Interpretation:85 Þrándr wird mehrdeutig in die Saga eingeführt, die wandelbaren Figurenbeschreibungen rahmen eine narrativ in hohem Maße destabilisierte Figurenetablierungsszene auf dem Markt in Haleyri. Bereits Þrándrs Figureneinführung problematisiert so von Beginn an ein eindeutiges Rezipientenverständnis und stellt damit auch narrative Konventionen in Frage.86 Þrándrs Beschreibungen enthalten darüber hinaus einen informationellen Mehrwert, der jedenfalls potenziell auf mittelalterliche Typencharakteristiken verweist. Er wird dreimalig und entsprechend deutlich markiert als rothaarig und sommersprossig beschrieben, was vermeintlich nach mittelalterlicher Vorstellung einem Charakter als fuchsartiger Intrigant von großer Schläue entspricht.87 Die
85 Insofern wäre die Forschungsposition eindeutig abzuweisen, die die Widersprüchlichkeit der Mehrfach-Charakterisierung als späte, nicht ursprüngliche und fehlerhafte Hinzudichtung ansieht. Selbst wenn die Mehrfachbeschreibung nicht Teil einer originalen *Færeyinga saga wäre, muss doch ihre scheinbare Fehlerhaftigkeit im Kontext der von der Flateyjarbók überlieferten Redaktion einen Sinn besitzen. Anderenfalls wäre Jón Þórðarson ein Mangel an literarischer Planungsfähigkeit anzulasten, der angesichts der sorgfältigen Gesamtkomposition des Codex als Prämisse nicht haltbar ist, vgl. hierzu die Forschungen von Würth 1991 und Ashman Rowe 2005. 86 Ebenso wie die Figurenkonstruktion des Hrafnkell Freysgoði mit Rezipientenerwartungen und narrativen Konventionen spielt, vgl. Shortt Butler 2016. 87 Bereits Powell 1896, S. xxxv bezeichnet Þrándr im Vorwort seiner Færeyinga saga-Übersetzung als »foxlike«. Vgl. weiterhin auch Foote 1984c, S. 177–178 (bes. Fn. 20); Harris 1986, S. 205. Als Überblick zu literarischer Rolle und Charakteristik des Fuchses im germanisch-sprachigen Mittelalter siehe Beck 1998, S. 161–162. Seit den antiken Tierfabeln ist der Fuchs demnach Symbol für Schläue und Gerissenheit, die in der Regel negativ als Betrügerei und Verschlagenheit aufgeladen werden, und weitergehend Konnotationen von Gaunerei, Diebstahl u. dgl. m. aufrufen können. Auch auf Island kann die Bezeichnung des Fuchses als Schmähbezeichnung eines verbrecherischen Menschen gebraucht werden, etwa in der Vatnsdœla saga c. 29, S. 80. In dieser wird ein vor einem Kampf fliehender, also recht ›unmännlicher‹ und darüber hinaus der Magie kundiger Unruhestifter so bezeichnet, wobei der zugrundeliegende Konflikt sich um unrechtmäßige Landappropriationen dreht. Damit liegt hier mit der Semantik des Fuchses ein recht genaues Pendent zu dem assoziativen Merkmalsbündel vor, das Þrándr in der Færeyinga saga umgibt: Listigkeit, Betrug, Diebstahl, dabei eine besondere Affinität zur ›Entwendung‹ fremden Landbesitzes (vgl. näher Kap. 3.3), Feigheit, magische Begabung. Zu den Antagonisten der Vatnsdœla saga und der Semantik ihrer Merkmale vgl. Hahn 2020, S. 54–57. Die Komponente der roten Färbung tritt hinzu, wenn man bedenkt, dass ein besonderes Raubdelikt – wohl die Entwendung ortsfester Dinge wie Ländereien, siehe
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Fuchstypik passt auf den ersten Blick recht genau auf Þrándrs Charakterzeichnung: Fast im gesamten Rest der Erzählung erweist er sich als überaus geschickter Taktiker und zeigt ein beinahe übermenschliches Geschick im korrekten Einschätzen, Bewerten und Ausnutzen von Situationen, denen er sich stellen muss. Ob dies jedoch umfänglich auf »medieval proverbs« zurückzuführen ist,88 darf bei näherem Blick durchaus bezweifelt werden. Eine solche Assoziation lässt sich für Island kaum unzweifelhaft im Korpus festmachen.89 Zudem unterlaufen die gebrochene, undeutliche Darstellungsweise sowie der eindeutige Erfolg eine NegativKonnotation der Figur. Ebenso denk-, aber kaum haltbar als Hintergrund der prominenten Rotfärbung von Þrándrs Haar erscheint ein Hinweis auf die Temperamentenlehre der auf Galen zurückgehenden, mittelalterlichen Humoralpathologie.90 Mithin sinnvoller erscheint es so, Þrándrs Rothaarigkeit im Lichte der wenigen anderen Figuren solcher Physiognomie im isländischen Korpus zu be-
Hahn 2020, S. 44 (bes. Fn. 110) – in der Grágás § 228 als ravða rán, »roter Raub«, bezeichnet wird. Jedenfalls augenscheinlich wird die Farbe Rot darüber hinaus in einer Szene der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta mit dem ergi-Komplex verbunden, wenn dort einem Kämpfer vorgeworfen wird, bæði rauð[r] ok rag[r] (ÓT c. 249 [II, S. 261]; sowohl rot als auch unmännlich) zu sein, vgl. auch Brückmann 2012, S. 61–62. 88 Harris 1986, S. 205. 89 Zu bemerken ist, dass gerade die rauðr-ok-ragr-Formel lediglich ein Wortspiel darstellt, da der solchermaßen Angesprochene den (unbestimmt konnotierten) Beinamen inn rauði trägt. Eine allgemein negative Konnotation der (Haar-)Farbe Rot ist aus dem Korpus nicht abzuleiten. So hat etwa ein Held wie Achilles in der Trójumanna saga rotes Haar, während Rot die Standardfarbe des begehrten Goldes oder festlicher Kleidung ist, vgl. Brückmann 2012, S. 55–60 als Überblick der Belege. Ansonsten bezeichnet sie keinen bestimmten Menschentypus, sondern eher momentane emotionale Zustände, vgl. Brückmann 2012, S. 83–85. Hinzu kommt, dass Füchse auf Island für gewöhnlich keine rote Fellfärbung besitzen. Insbesondere ist mit dem erst ins 15. Jahrhundert zu datierenden Skaufalabálkur (vgl. hierzu Amory 1975; Deskis 1988) nur ein einziges Tierepos in kontinentaler Tradition dort überliefert. In der angesprochenen Szene aus der Vatnsdœla saga wird entsprechend keine Farbe erwähnt, und die Verbindung mit der Darstellung Þrándrs kann nur über assoziative Momente von Ähnlichkeit hergestellt werden. So gibt es letztendlich auch kaum rothaarige Figuren im altisländischen Korpus: Rotes Haar haben lediglich eine Nebenfigur in der Sturlunga saga-Kompilation (Svínfellinga saga c. 10, S. 98) sowie Achilles und Kassandra aus der Troja-Sage (Trójumanna saga [Red. O c. 12; S ohne Zählung], S. 66–67), ebenso wie Grettir Ásmundarson (Grettis saga c. 14, S. 36). Als immerhin rotbärtig wird im Ágrip c. 25, S. 26 Óláfr der Heilige Haraldsson beschrieben, ebenso ein – wohl aus Furcht vor Betrug – kurzerhand sofort nach der Einführung erschlagener Bauer in der Hallfreðar saga c. 8, S. 171–172 sowie Snorri goði (Eyrbyggja saga c. 14, S. 26). Einen roten Bart tragen daneben nur die camouflierten Göttergestalten Óðinn und Þórr, siehe als Übersicht der Belege Kap. 8.3.2.1 (Fn. 82). 90 Vgl. als Überblick Bergdolt/Keil 1991 sowie Bergdolt 1997. Die Bekanntheit der Säftelehre auf Island arbeitet Lönnroth 1963–1964 heraus. Die Farbe Rot könnte demnach als Hinweis auf den Typus des leichtlebigen Sanguinikers oder des kämpferischen Cholerikers verstanden werden, vgl. zu diesen Lönnroth 1963–1964, S. 34. Beide Typen sind aber weit von der Darstellung Þrándrs in der Færeyinga saga entfernt und können so als Erklärungsmodelle nicht herangezogen werden.
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trachten.91 Interessant ist dabei insbesondere die Parallele zum immerhin rotbärtigen Snorri goði in der Eyrbyggja saga.92 Dessen Charakteristik und narrative Zeichnung bieten enge Parallelen zu Þrándrs Darstellung in der Færeyinga saga. Auch Snorri ist eine trickreiche Antihelden-Figur, deren Verhalten gängigen Protagonistenvorstellungen der Sagagesellschaft zuwiderläuft, und die gerade deswegen eine überdurchschnittlich erfolgreiche Machtpolitik durchsetzen kann. Auch Snorris mehrfache Beschreibungen brechen narrative Konventionen und konterkarieren so Rezipientenerwartungen rückwirkend.93 Er wird zunächst als Þorgrímr Þorgrímsson geboren, aber wegen seiner jugendlichen Streitlust umbenannt.94 Insofern wird also ein Ersteindruck wenig zielgerichteten Übermuts evoziert. Anschließend unternimmt Snorri eine Reise ins Ausland, von der er im Gegensatz zu einem Reisegefährten in recht schlicht gehaltener Aufmachung zurückkommt, für die er ausgelacht wird.95 Die direkt im Anschluss weiter ausgebaute Feindschaft mit Snorris Stiefvater Bǫrkr greift die anfängliche Beschreibung erneut auf und verstärkt so den Eindruck, man habe es mit einem nur wenig vielversprechenden Protagonisten zu tun. Indes enthüllt die folgende Szene, in der Bǫrkr, verleitet von Snorris Äußerem, einen viel zu niedrigen Preis für die Herausgabe seines Vatererbes festsetzt, dass der bisher evozierte Anschein dieser Figur ein falscher
91 Zur Verbindung Þrándrs mit rotbärtigen Götterfiguren Þórr und Óðinn siehe weiter Kap. 8.3.2.1. Gänzlich als Erklärungsmodell scheidet hingegen Harlan-Haugheys Deutung aus. Die Rothaarigkeit sei ihrzufolge als unterdrückenswerter genetischer Zug zu verstehen und zeige Þrándr als »›defective‹ native« eines norwegischen Kolonialnarrativs in atavistischer Mensch-/Tier- und Kultur-/NaturHybridität, siehe Harlan-Haughey 2015, S. 357. Diese Interpretation geht deutlich zu weit. Zwar zeigt sich Þrándr durchaus in tierhafter Affinität, sem hann rekti spor sem hundar (Fær, S. 84; als ob er Spuren rieche wie ein Hund), nichtsdestotrotz wirkt aber kaum gerechtfertigt, einen physischen Zug, der im Text selbst nie in eine tierische Richtung ausgedeutet wird, in die Linie eines atavistischen ›Gendefekts‹ (zumal in einem mittelalterlichen Text!) stellen zu wollen. 92 Snorris Haar ist allerdings von blonder Farbe, es heißt: Snorri var meðalmaðr á hæð og heldr grannligr, fríðr sýnum, réttleitr ok ljóslitaðr, bleikhárr ok rauðskeggjaðr; hann var hógværr hversdagliga; fann lítt á honum, hvárt honum þótti vel eða illa; hann var vitr maðr ok forspár um marga hluti, langrækr og heiptúðigr, heilráðr vinum sínum en óvinir hans þóttusk heldr kulda af kenna ráðum hans. (Eyrbyggja saga, S. 26; »Snorri war mittelgroß und recht schlank. Er war gutaussehend, hatte regelmäßige Gesichtszüge, eine helle Haut, blondes Haar und einen rötlichen Bart. Für gewöhnlich war er von ruhigem Wesen; es war ihm schwer anzumerken, ob ihm etwas gefiel oder nicht. Er war ein kluger Mann und in vielen Dingen sehr weitblickend. Er war auch nachtragend und rachsüchtig. Seinen Freunden war er ein guter Ratgeber, seine Feinde aber glaubten, in seinen Ratschlägen eher Böses zu spüren«; Böldl [Hrsg. u. übers.] 1999, S. 31–32). 93 Vgl. Shortt Butler 2016, S. 323. Weitergehend in Parallele zu Þrándr scheint schließlich auch Snorri mit dem mythischen Þórr auf mehreren Ebenen der Narration verbunden, vgl. die »ÞórrIdeologie« der Eyrbyggja saga nach Böldl 2005 sowie Kap. 8.3.2. 94 Eyrbyggja saga c. 12, S. 20. 95 Eyrbyggja saga c. 13, S. 22–23. Auch dies evoziert wohl den Eindruck eines Männlichkeitsverlustes, wie die ebenfalls zerschlissene Reisekleidung Auðunns im Auðunar þáttr vestfirzka, die zu dessen Haarverlust noch hinzukommt.
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war.96 Snorri war entgegen seiner Selbstdarstellung im Ausland überaus erfolgreich. Hier erst schließt seine erweiterte Beschreibung als rotbärtig, zweigesichtig und schwierig zu durchschauen an, die der im Vorangegangenen inhaltlich entwickelten Figurenzeichnung ein festes Gesicht verleiht. In dieser rückwirkenden Darstellungsweise ergibt sich der Anschluss an Þrándrs Rothaarigkeit im Kontext der Færeyinga saga. Die rote Farbe des Bartes (bzw. auch des Haupthaars) ist im Falle beider Figuren so wohl nicht allein Hinweis auf einen berechnenden und trügerischen, fuchsartigen Charakter zu verstehen. Sie lässt sich metaphorisch weiter ausgreifend als Symbol für den Umgang der Narration selbst mit der entsprechenden Figur und ihrer jeweiligen, trügerischen Darstellung kategorisieren. Die Fuchstypik kennzeichnet so nicht unbedingt die beschriebene Figur selbst (denn Snorri etwa verhält sich nicht im eigentlichen Sinne als Trickbetrüger, sondern hält lediglich geschickt Informationen bis zum günstigsten Zeitpunkt zurück), sondern insbesondere die Erzählinstanz, die ihre Rezipientenschaft irreführt.97 Þrándrs innerer Antrieb scheint stets der Wille zum Aufstieg zum Herrscher der Färöer zu sein, allerdings betreibt er nach dem Losentscheid um den Hof seines Vaters und seiner Auslandsreise nur wenig bis gar nichts auf eigene Initiative hin. Stattdessen analysiert er gegebene Situationen und reagiert so, dass er diese zum größtmöglichen eigenen Vorteil ausnutzen kann. Nur zu Beginn seiner ›Karriere‹ muss er die Dinge selbst anstoßen, ist dabei aber derart erfolgreich, dass er sein gesamtes späteres Leben über davon profitieren kann. Den Umschlagpunkt markiert Þrándrs dritte Beschreibung am Ende seiner Figurenetablierung. Die mehrfachen Figurenbeschreibungen bilden so eine erzählstrukturelle Pointe. Bis zu ihrem Abschluss wird der Anschein eines ›typischen‹ Protagonisten evoziert, den die letzte Beschreibung mit dem tatsächlichen Sein korreliert. Damit bildet die Rahmung der initialen Figurenetablierung in Þrándrs Fall eine Vignette der nachfolgend prägen-
96 Eyrbyggja saga c. 14, S. 24–26. 97 Anderweitig scheint auch Achill in der Trójumanna saga kein durchweg ›typischer‹ und unproblematischer Held zu sein (für diesen Hinweis danke ich Sabine Walther). Auch diesem lässt sich gegebenenfalls in der Rezipienten-Text-Relation eine gewisse Zweideutigkeit attestieren. In dieses assoziative Set ließe sich auch Grettir Ásmundarson in seiner Hybridität zwischen Held und Monster einpassen (vgl. zu dieser in umfassenderer Perspektive auf die isländischen Geächteten Merkelbach 2019, S. 51– 99). Eine Verbindung von Þrándrs rotem Haar und der ebenfalls rothaarigen Kassandra in der Trójumanna saga ließe sich weiterhin über deren buchstäbliches ›Zweites Gesicht‹ konstruieren; immerhin scheint auch Þrándr in seinem taktischen Geschick fast hellsichtig und praktiziert mantische Rituale. Weitergehend ließe sich auf Basis dieser losen Vergleiche überlegen, ob die rote Haarfarbe als Mischung der sonst typischeren Figuren-Haarfarben Blond bzw. Hell und Schwarz respektive Dunkel begriffen worden sein könnte. Blond sind in den altnordischen Quellen meist strahlende Heldenfiguren, während schwarz Signalwort für Negativität und Hässlichkeit der so beschriebenen Figur ist, vgl. Brückmann 2012, S. 43–44 u. S. 51–54 zur überwiegend positiven Konnotation der Farben gulr und hvítr besonders im Zusammenhang mit Haar, S. 71–73 zur Assoziation von svartr mit Hässlichkeit. Wenn sich rötliche Farbe als Mischung beider Komponenten begreifen ließe, könnte sie unter Umstäden als Signal für die Zweideutigkeit dieser Figuren und ihrer Darstellung gewertet werden.
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den Figurendarstellungs- und Erzähltechnik. Die Divergenz zwischen Schein und Sein wird hier im Narrationsverlauf an den daran gekoppelten Rezipientenerwartungen durchgespielt, ebenso wie Þrándr auf der Figurenebene dem Anschein nach selbst mit dieser Differenz spielt und sie gegen seine Gegner einsetzt.98 Für ein volles Verständnis der Vorgänge notwendige Tatsachen werden zurückgehalten, verschleiert und erst im Nachgang aufgedeckt. Trickreichtum und Irreführung prägen also sowohl Erzählstimme als auch Þrándrs Persönlichkeit, wobei dies nur durch die scheinbar so überflüssigen, mehrfachen Charakterisierungen deutlich wird. Lediglich die Rothaarigkeit ist von Anfang an als Merkmal und Hinweis auf die eigentliche Charakteristik in Þrándrs Beschreibungen eingeflochten. Dies deutet auf die Gesamtkonstruktion der Þrándr-Figur und den Umgang der Erzählinstanz mit dieser voraus. Über Details wie seine Rothaarigkeit wird das Spiel mit Erwartungen und der erst rückwirkenden Aufdeckung tatsächlicher Verhältnisse auf Figuren- wie Narrationsebene intrinsisch mit Þrándrs Persönlichkeit rückgebunden: In dieser Hinsicht ist er tatsächlich ein »shifty red-headed man«.99 Während sich so aus dem Rückblick die in der abschließenden Figurenbeschreibung ausgeführten Charakterzüge als schon zuvor andeutungsweise angelegt zeigen, nicht zuletzt die erzählerische Knappheit in der Darstellung genauer Umstände, werden sie durch die HaleyriSzene, der ersten größeren Szene der Færeyinga saga, schließlich in aller Deutlichkeit als Maßgabe für Þrándrs Charakterzeichnung ausgefaltet.
3.2.3 ›Hér eru menn mjǫk ráðlausir‹. Þrándr auf dem Markt von Haleyri Nachdem er mit geringer Ausgangsbasis hinsichtlich seiner Handelswaren einen Winter in Norwegen verbracht hat, bricht Þrándr an den Ort Haleyre auf, þar var þa fíolmenní sem mest ok sua er sagt at þar kemr mest fiolmenni híngat anordr lỏnd medan stendr markadrinn.100 Dort befinden sich auch zwei Brüder, Gefolgsmänner des ebenfalls persönlich anwesenden dänischen Königs Haraldr Gormsson blátǫnn: [H]et anarr Sigurdr en annar Harekr þessir brędr geingu vm kauptstadinn jafnan ok uillde kaupa ser gullhríng þann er bezstan fengu þeir ok mestan þeir kuomu j eína bud þar er hardla vel var vm buizst þar sat madr firir ok fagnade þeim vel ok spurde huat þeir uillde kaupa þeir sỏgduzst uilea kaupa gull hring míkinn ok godan hann kuat ok gott ual mundu auera þeir spyria hann at nafnne en hann nefnndízst Holmgeirr audgi.101
98 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 3: »What happens here in the events reported proves to be exactly the same thing as happens in the writer/reader relation«. 99 Harris 1986, S. 205. 100 Fær, S. 5 (Damals war dort eine sehr große Menge Leute und es heißt, dorthin kommt die größte Volksmenge in den Nordlanden, während der Markt stattfindet). Näher mit der Problematik der realgeographischen Verortung von Haleyri beschäftigt sich Lundbye 1902–1904. Siehe hierzu auch Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxx–ccxxiii. 101 Fær, S. 5.
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(Der eine hieß Sigurðr, aber der andere Hárekr. Diese beiden Brüder gingen fortwährend über den Handelsplatz und wollten sich den besten und größten Goldring kaufen, den sie erhalten könnten. Sie kamen zu einer Bude, die sehr gut aufgestellt war. Dort saß ein Mann davor und empfing sie freundlich und fragte, was sie kaufen wollten. Sie sagten, sie wollten einen großen und guten Goldring kaufen. Er sagte, es sei auch eine gute Auswahl geboten. Sie fragten ihn nach seinem Namen und er nannte sich Hólmgeirr der Reiche.)
Die Brüder und Hólmgeirr kommen überein, einen Handel zu schließen, und die Bezahlung soll am folgenden Tag erfolgen, da Hólmgeirr einen horrenden Preis fordert. [E]n vm morgunin geingr Sígurdr j brott ór budínne. en Harekr var eftir ok litlu sidar kemr Sigurdr vtan at tialld skỏrum ok mælltí Harekr frende sagde hann selldu mer síodinn skiott þann er silfrit er j þat er vit ætlỏdum til hrings kaupsíns þuiat nu er samít kaupit. en þu bíd her medan ok gęt her budarinar nu færr hann honum silfrit vt j gegnum tíall skarinnar. Nv litlu sidar kemr Sigurdr j budína til brodur sins ok mællti tak þu nu silfrit nu er samit kaupít hann suar(ar) ek fek þer silfrit skommu nei segir Sigurdr ek hefui ekki aþui tekít nu þræta þeir vm þetta eftir þat segia þeir konungi til konungr skilr nu ok adrir menn at þeir eru stolnír fenu.102 (Aber am Morgen ging Sigurðr fort aus der Bude, Hárekr aber blieb zurück. Und wenig später kommt Sigurðr außen an die Zeltöffnung und sagte: ›Hárekr, mein Verwandter!‹, sagte er: ›Gib mir rasch den Beutel, in dem das Silber ist, das wir für den Ringkauf gedacht hatten, denn nun ist der Kauf abgeschlossen. Du aber warte hier derweil und kümmere dich hier um die Bude!‹ Nun gibt er ihm das Silber durch die Zeltöffnung hinaus. Nun kommt Sigurðr ein wenig später in die Bude zu seinem Bruder und sagte: ›Nimm nun das Silber, jetzt ist der Kauf abgeschlossen.‹ Er antwortet: ›Ich gab dir das Silber gerade eben.‹ – ›Nein‹, sagt Sigurðr, ›ich habe es nicht entgegengenommen.‹ Nun streiten sie sich darüber; danach sagen sie es dem König. Der König und andere Männer erkennen nun, dass ihnen das Geld gestohlen wurde.)
Der König legt einen Fahrtbann über den Marktplatz, sodass kein Händler den Ort verlassen kann, ehe der Diebstahl nicht aufgeklärt ist. Die norwegischen Händler, die in Folge dessen Umsatzeinbußen hinnehmen müssen, debattieren daraufhin, was zu tun sei. Auf dieser Zusammenkunft tritt Þrándr auf den Plan, kommentiert recht verächtlich her eru menn míog radlausír,103 und verspricht den Händlern, gegen eine Bezahlung in Höhe von je einer Mark Silber pro Kopf eine Lösung zu finden. Auf der Þingversammlung mit dem König tags darauf meldet sich Þrándr erneut zu Wort (im Zuge dessen wird er, wie bereits zitiert, als ungr madr uaxit har af kolli beschrieben104) und trägt seine Lösung vor: Der König solle eine Summe festsetzen, die jeder Mann auf dem Markt zu entrichten habe, um damit für den Verlust
102 Fær, S. 6. In Hinblick auf den zentralen Diebstahl bespricht die Episode auch Hahn 2020, S. 75–78, deren weitere Überlegungen zu Semantik und Erzähltechnik des Verbrechens die hier entwickelten Gedanken maßgeblich angeregt und bereichert haben. 103 Fær, S. 6 (Hier sind die Männer sehr ratlos). 104 Fær, S. 6 (junger Mann […], dem das Haar auf dem kahl geschorenen Kopf spross).
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der Brüder aufkommen zu können. Die versammelten Händler nehmen diese Lösung bereitwillig an und bezahlen, sodass die Brüder ihren Verlust erstattet bekommen. Der Rest des Geldes wird anschließend zur Hälfte auf die Männer des Königs und je zu einem Viertel auf den König und Þrándr selbst verteilt: [V]ard þat sua mikit ófafe er Þrandr hlut er trautt kom marka tale a.105 Von dem Geld ersteht er sich nach der Rückkehr nach Norwegen ein eigenes Handelsschiff und kehrt zurück auf die Färöer, wo er sich niederlässt – für den Rest seiner Tage. Diese Szene etabliert musterhaft den Charakter Þrándrs, der schon mit seiner Einführung angelegt wurde. Er erwirbt sich durch seine anderen Menschen überlegene Schläue ein Vermögen, das für den gesamten Rest der Saga nie versiegen wird. Es wird nie aufgeklärt, wer der Dieb war, der Sigurðr und Hárekr um ihr Geld erleichtert hat, doch wird die Tat von allen bisherigen Interpreten Þrándr selbst angelastet.106 Diese Interpretation würde zusätzlich die Unsummen erklären, die Þrándr von seiner Reise mit nach Hause bringt. Als zweiter Verdächtiger käme unter den genannten Figuren nur der zuvor in die Geschichte eingeführte Hólmgeirr auðgi in Frage. Es muss angenommen werden, dass der Trick des Diebes, sich als Sigurðr auszugeben, nur funktioniert, indem er außen vor dem Zelt Sigurðrs Stimme imitiert,107 er ihn also kennt. Hólmgeirr muss als einzige Figur der Erzählung sicher wissen, dass die Brüder Geld für den Ringkauf zusammengelegt haben.108 Allerdings wird ebendieser Hólmgeirr im weiteren Verlauf der Szene mit keinem Wort mehr erwähnt. Man kann also vermuten, dass Þrándr sich auch hinter ›Hólmgeirr‹ verbirgt.109 Dessen Darstellung würde in ihrer Undeutlichkeit und Rätselhaftigkeit ins Bild der restlichen Szene passen. Zwar ist Hólmgeirr ein gut belegter, vermeintlich auch historisch realistischer Name für einen baltischen Händler,110 jedoch ist sein Auftritt nur sehr schemenhaft auserzählt: [H]ann nefnndízst Holmgeirr audgi,111 allerdings eben nur »›säger sig heta‹ så«.112 Zudem taucht ›Hólmgeirr‹ sehr unvermittelt auf dem Markt auf und wird danach nicht wieder erwähnt, während gerade für diese Zeit Þrándr völlig aus dem Blickfeld der Narration fällt. Auch der der Preis, den Hólmgeirr für seinen Ring verlangt – mat sua dyrt at þeir þottuzst æigi sia huort
105 Fær, S. 7 (Es wurde ein solches Übermaß an Geld, das Þrándr zugeteilt bekam, dass man kaum eine Markzahl dafür nennen konnte). 106 So etwa Skyum-Nielsen 1973, S. 4–5; Foote 1984c, S. 176 (Fn. 18); Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxiv; Almqvist 1992b, S. 49–50. 107 Vgl. Heinrichs 1974, S. 202. 108 Vgl. Almqvist 1992b, S. 49–50. 109 Vgl. Almqvist 1992b, S. 50; Ólafur Halldórsson 2001, S. 71–73. 110 Vgl. Foote 1973, S. 97. Er klassifiziert den Namen als »East Scandinavian« und »distinctively appropriate because of the provenance ascribed to the character« (S. 104). Handelte es sich hierbei um eine Aliasidentität Þrándrs, spräche diese bewusste Verwendung eines ostskandinavischen Namens für seinen Auftritt zusätzlich für seine handlungsadäquate Intelligenz. 111 Fær, S. 5 (er nannte sich Hólmgeirr der Reiche). 112 Almqvist 1992b, S. 50 (nannte sich so).
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þeir munu allt þat silfr fa er hann mælltí firir þegar113 – passt in das Schema von Þrándrs dem Anschein nach unendlichem Ressourcengewinn auf dem Markt. Die Kostbarkeiten, die Hólmgeirr den Brüdern zum Verkauf anbietet, widersprechen allerdings einer Knappheit in Þrándrs Finanzhaushalt zuvor. Ólafur Halldórsson nimmt an, er habe eine solche zur Überlistung seines Brudes wenigstens fingiert.114 Þrándrs Identifizierung als Hólmgeirr würde jedoch auch schlüssig erklären, weshalb er am nächsten Tag mit geschorenem Haupt auf dem Þing auftritt: Um nicht von Sigurðr und Hárekr als ›Hólmgeirr‹ erkannt zu werden, muss er sein Aussehen verändern. Auch die Tatsache, dass Hólmgeirr nicht etwa versucht, an sein Geld zu kommen und den Handel mit den Brüdern nach dem Þing zu Ende zu bringen, spricht für diese Interpretation. In die gleiche Richtung könnte auch der Beiname, den er sich gibt, deuten: »der Reiche«. Im Zusammenspiel mit der bereits angesprochen Tatsache, dass die Rezipienten über Þrándrs Familie nur erfahren, dass sein Vater ein audígr madr115 ist und die Stammmutter seines Geschlechts Audr hín diupaudga heißt,116 erwiese sich die überdurchschnittliche Betonung von Reichtum um Þrándr an dieser Stelle zusätzlich als konstant, zumal ebenjener Reichtum der Effekt seiner Reise ist. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass es sich bei der hier vorgestellten Argumentation nur um eine Interpretation handeln kann: »The wide-eyed innocent style of the saga does not allow us to be sure that it is Þrándr who arranges what happens […]«.117 Die Szene enthält ein Rätsel, das nie eindeutig aufgelöst wird: »Sögumaður skiptir sér ekki af hvernig áheyrendur hans leysa þá gátu […], hann leggur fyrir okkur gátu, en lætur okkur ekki hafa neina óvænta lausn í lokin, heldur skilur hann okkur eftir með gátuna óráðna«;118 »[h]ier zeigt sich also […], daß der Erzähler zu aktivem Mitdenken beim Anhören der Geschichte auffordert«.119 Nicht zu Unrecht wurde diese perspektivische Erzähltechnik, die in der Færeyinga saga immer wieder verwendet wird, wenn Þrándr und seine Leute involviert sind,120 mit der Erzähltechnik moderner Kriminalromane verglichen.121 Durch ihren Einsatz kann zum einen
113 Fær, S. 5 (er setzte den Preis so hoch an, dass sie glaubten, nicht beurteilen zu können, ob sie all das Silber bekommen werden, das er gleich auf der Stelle verlangte). 114 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxvii–clxxviii, siehe auch oben. Þrándrs übles Gemüt in Norwegen und seine vorgeblich wenigen Handelswaren könnten somit als bewusst eingesetzte Irreführung seitens des Erzählers verstehen lassen, im Einklang mit dem Rest der Figurenetablierung Þrándrs. 115 Fær, S. 4 (ein reicher Mann). 116 Fær, S. 3 (Auðr die Tiefreiche). 117 North 2005, S. 61. 118 Ólafur Halldórsson 2001, S. 73 (Der Erzähler kümmert sich nicht darum, wie seine Zuhörer das Rätsel lösen […], er gibt uns ein Rätsel, aber keine unerwartete Auflösung am Ende, sondern lässt uns mit dem ungelösten Rätsel zurück). 119 Heinrichs 1974, S. 204. 120 Vgl. Heinrichs 1974, S. 203. 121 Vgl. Foote 1984c, S. 175, implizit auch Ólafur Halldórsson 2001, S. 73.
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Spannung erzeugt und Überraschung und Interesse hervorgerufen werden.122 Es handelt sich dabei aber auch um eine sehr kunstvoll inszenierte »Täuschung und Irreführung«123 der Rezipienten seitens des Erzählers. Diesen wird zuerst ein Eindruck vermittelt, der dann in einem Perspektivwechsel als unzureichend für das Verständnis der tatsächlichen Geschehnisse aufgedeckt wird.124 Die Erzählperspektive wird auf die sinnliche Wahrnehmung einer einzelnen Figur reduziert, die als ›objektive‹ Wahrheit dargestellt wird. Die Erzählstimme distanziert sich nicht etwa durch die Verwendung eines Warnehmungsverbes und eine damit einhergehende interne Fokalisierung vom Geschilderten.125 So formuliert der Erzähler nicht etwa, dass Hárekr glaubt, seinen Bruder vor dem Zelt zu hören, sondern konstatiert direkt: [K]emr Sigurdr vtan at tíall skὀrum ok mællti.126 Durch die betont nüchterne, externe Fokalisierung entsteht mit dieser Formulierung der Eindruck unmittelbarer Wahrheit. Im Anschluss allerdings kommt ein unwissender Sigurðr tatsächlich in die Bude hinein, was ebenso extern fokalisiert wird, wodurch sich offenbart, dass der zuvor erweckte und als tatsächlich geschilderte Eindruck nicht der Wahrheit entsprochen haben kann. Jedoch wird gleichzeitig auch nicht angegeben, was tatsächlich geschehen ist. Der Erzähler zeigt sich insofern dezidiert als nicht allwissend und destabilisiert damit seine eigene Position. Er gibt vermeintlich ›objektiv‹ nur die Informationen weiter, die seinen Figuren zur Verfügung stehen, erweist diese aber im Nachgang als unzutreffend, ohne sie faktisch zu korrigieren.127 Damit unterminiert er auch den Zeugniswert von Beobachtungen seiner Figuren, die in der Regel als Bürgen seiner ›Objektivität‹128 und einer gängigen Forschungsmeinung nach
122 Vgl. Foote 1984c, S. 181. 123 Heinrichs 1974, S. 203. 124 Vgl. Foote 1984c, S. 175. 125 Vgl. McTurk 1992, bes. S. 110–119 zur Distanzierung der Erzählstimme mittels »Fokalisierung zweiten Grades« (in McTurks Terminologie), also interner Fokalisierung (in der Genettes) über Verben der Wahrnehmenung wie glauben, meinen, sehen, hören u. dgl. m., von ›übernatürlichen‹ Begebenheiten in der Njáls saga. Als Gegenposition vgl. allerdings Wehrle 2021 auf Grundlage mittelalterlicher Theorien über das ›Übernatürliche‹. Zur Diskussion vgl. auch Kap. 8.3.2.2 (Fn. 122). 126 Fær, S. 6 (Sigurðr kommt von außen an die Zeltöffnung und sagte). Vgl. Heinrichs 1974, S. 202. 127 Vgl. Heinrichs 1974, S. 204. 128 Vgl. Heinrichs 1974, S. 194 u. S. 204. Unter dem Schlagwort der ›Objektivität‹ der Sagas wurde die Tatsache umrissen, dass Ereignisse in der Regel durchweg von Außen dargestellt (also extern fokalisiert) und durch die Erzählinstanz für gewöhnlich nicht weiter kommentiert werden. Dadurch entsteht ein Eindruck von Unmittelbarkeit und der Erzähler tritt so wenig als möglich subjektiv in Erscheinung – stattdessen finden primär Handlung und Rede von Figuren selbst Ausdruck. Vgl. etwa Hallberg 1965, S. 84–92; Andersson 1967, S. 31–32 (allerdings bereits mit der Bemerkung, wie ungenügend der Terminus der ›Objektivität‹ sei). Vgl. auch Schier/Böldl 2009, S. 153 und Meulengracht Sørensen 1993, S. 64–65 zur explizit narrativ verstandenen ›Objektivität‹ des Erzählers. Als rezenten Überblick der Problematik siehe Sävborg 2017, bes. S. 112–116.
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auch als Sprachrohr der Erzählermeinung selbst fungieren.129 Im Falle der Færeyinga saga muss diese Ansicht hingegen verkehrt werden: Wenn Fokalisierungen über die Perspektive von Einzelfiguren regelmäßig als Trugschlüsse entlarvt werden, kann auch vermeintlich ›objektiv‹ wiedergegebener Figurenrede generell kein absolut verbürgter Zeugniswert beigemessen werden.130 Die erzählerische Meisterhaftigkeit dieser Darstellungstechnik liegt darin, dass die geschilderte Perspektive nur die einer Figureninstanz ist. Sie ist insofern eigentlich auf der Ebene interner Fokalisierung angesiedelt, wird allerdings saga-typisch als extern fokalisiert ohne Inszenierung einer Wahrnehmungsinstanz ausgefaltet. Der Erzähler erweist sich damit als »master of fraud« – genau wie, jedenfalls implizit, Þrándr.131 Insofern umreißt Þrándr mit seinem schneidenden Kommentar her eru menn míog radlausír132 auch den Effekt, mit dem die Erzählsequenz von Haleyri die Rezipienten zurücklässt. Was ist tatsächlich geschehen? Es kann aus dem Erzähltext der Saga selbst heraus nicht mit Sicherheit bewiesen werden, dass Þrándr hinter dem Diebstahl steckt. Die vermeintlich ›objektive‹ externe Fokalisierung des Erzählten nennt ihn in diesem Zusammenhang nicht. Indes gibt der Erzähler implizit mittels der hier und zuvor, in der Einführung Þrándrs, eingestreuten Bemerkungen – und besonders der Beschreibung von Þrándrs Äußerem und Charakter zum Abschluss der Szene – dem Rezipienten Indizien an die Hand. Þrándrs womöglich an den trügerischen Fuchs gemahnende Rothaarigkeit, in der abschließenden Beschreibung auch seine explizite Arglist und die verräterische Persönlichkeit sowie die offenbar absichtlich undeutliche Darstellung der beteiligten Figuren lassen die Vermutung als naheliegend erscheinen. Das Gleiche gilt für die Reihenfolge der Figurennennung: Þrándr reist nach Haleyri, verschwindet dann völlig aus der Geschichte und taucht präzise im kritischen Moment der Szene zum größtmögli-
129 Vgl. als klassische Interpretation etwa Hallberg 1965, S. 85; Lönnroth 1970; Lönnroth 1976, S. 82–101. Ähnlich Meulengracht Sørensen 1993, S. 207–211. Dieser bindet die Erzählsituation mit dem juristischen Offenheitsprinzip der Sagas rück und folgert, dass die Bewertung einer Angelegenheit statt durch einen autoritativen Erzähler durch die Wiedergabe der öffentlichen Meinung ersetzt werde. Meulengracht Sørensen scheint, im Gegensatz zu Lönnroth, damit allerdings keine Kongruenz zwischen moralischer Ansicht einer Autorinstanz und binnenliterarischer Öffentlichkeit ansetzen zu wollen, vgl. auch seine Kritik an Lönnroths terminologisch unscharfer Verwendung des Erzählerbegriffs, S. 65 (Fn. 39). Stattdessen betrachtet er den Ausdruck der öffentlichen Meinung als literarische Funktion und Stileigenheit. In Bezug auf die Færeyinga saga vgl. Bick 2005, S. 11: »Der Erzähler drückt seine Missbilligung u. a. dadurch aus, dass er ›die Leute‹ über sie reden lässt«. Die Argumentation von McTurk 1992 operiert mit einer ähnlichen Unterscheidung, betont aber, dass, im Gegensatz zur moralischen Einschätzung eines Vorgangs, die interne Fokalisierung übernatürlicher Ereignisse durch die Figuren als Wahrnehmungsinstanzen eine Distanz zur Meinung der Erzählstimme aufbaue. Wiederum gegenteilig dazu vgl. Wehrle 2021. 130 Vgl. hierzu auch Kap. 3.4.4 u. Kap. 5. 131 Foote 1984c, S. 181. Vgl. auch Heinrichs 1974, S. 203; Skyum-Nielsen 1973 zur ideologischen Steuerung der Rezipientenschaft auf Þrándrs Seite über diese Darstellungstechnik. 132 Fær, S. 6 (Hier sind die Männer sehr ratlos).
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chen eigen Vorteil wieder auf. Auffällig ist in diesem Zusammenhang insbesondere die explizite und deutlich negative Wertung von Þrándrs Eigenschaften durch den Erzähler. Sie stellt als letzter Satz des Abschnitts, der Þrándr als Figur etabliert, den gesamten bisherigen Erzählverlauf in Frage, wie bereits bemerkt. Gerade angesichts der unterbliebenen Auflösung der Geschehnisse rückt diese Beschreibung Þrándr, den bisher scheinbar ›objektiv‹ als »vielversprechend« beschriebenen Protagonisten nachträglich in den Fokus. Nur diese nachträgliche Evaluierung des üblen, arglistigen und bösartigen Þrándr macht ihn zum prädestinierten Verdächtigen des Diebstahls – fehlte sie, so wäre der Haleyri-Abschnitt unauflösbar verundeutlicht. Die Regelmäßigkeit, mit der das Verbrechen von Haleyri dem jungen Färinger in der Forschung angelastet wird, zeugt dabei davon, dass Þrándrs letzte Beschreibung ihre Rezeptionswirkung nicht verfehlt. Aufgrund der Balancelosigkeit der Darstellung ist es jedoch zugleich unmöglich, den so erzeugten Verdacht zur Tatsache umzudeuten. Damit wird Þrándr in gewisser Weise beschützt, zugleich aber auch deutlich hinterfragt.133 Die inhärente Uneindeutigkeit, die bereits Þrándrs Einführung prägt, wird so zum Symbol seiner gesamten Figurenetablierung. Der Erzähler destabilisiert nachträglich das von ihm selbst zuvor abgelegte Zeugnis in Bezug auf Wahrheit und Tatsächlichkeit seiner Darstellung, ebenso wie seine Perspektivwechsel dies mit den vermeintlichen Erlebnissen der Figuren vollziehen. Er selbst weist damit auf die mögliche Differenz von Schein und Sein hin und auf seine eigene Unzuverlässigkeit als Bewertungsinstanz. Damit inszeniert er sich in einer Rolle, für die Þrándrs Darstellungsweise eine Vignette darstellt: Die Frage nach der Tatsächlichkeit seiner Schilderung bleibt ebenso offen wie in Þrándrs Fall die nach seinen Untaten. Damit wird Þrándrs Mehrdeutigkeit nicht allein Zeichen seiner Figurendarstellung und Einführung, sondern zum Symbol des gesamten Narrationverlaufs.134 Offenbar ist es das Ziel des Erzählers, dass nach seiner Erzählung seine Rezipienten als menn […] míog radlausir135 zurückbleiben sollen. In Bezug auf Þrándr ist diese Tatsache entsprechend in zweierlei Hinsicht gedeutet worden. Einerseits wird sie durch einen Willen des Erzählers »to entertain« begründet,136 also um hauptsächlich Amüsement oder einen komödienhaften Eindruck hervorzurufen, wenn der schlauere Þrándr die anderen Figuren hinters Licht führt. Andererseits aber wird ihr eine scharfe ideologische Botschaft zugeschrieben: »When Thránd seduces characters in the Saga, the author ›pilots‹ the reader’s consciousness, and when Thránd defeats his […] opponents, the reader’s sympathies veer away from the brave, but stupid losers over to the victor and passive manipulator«.137 Mit diesen diametral entgegengesetzten Interpretationen ist der Kern der
133 134 135 136 137
Vgl. auch Schmidt 2016, S. 296. Siehe hierzu auch Kap. 8 u. Kap. 9.1. Fær, S. 6 (Leute sehr ratlos). Foote 1984c, S. 182. So wohl auch Skyum-Nielsen 1973, S. 11–12. Skyum-Nielsen 1973, S. 8.
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Figur Þrándr benannt. Ist sein Handeln nur schlauer als das der anderen Figuren und die Darstellungsweise hauptsächlich der kunstvollen Vorführung von deren Unterlegenheit geschuldet, oder ist er ein potenziell gefährlicher und moralisch verwerflicher Unhold? Es ist zu betonen, dass Þrándr keineswegs ein harmloser Schelm ist, der in schwankhafter Manier seine Umgebung übertölpelt, auch wenn manch moderner Rezipient die Szene mit einem anerkennenden Schmunzeln quittieren können mag. Diebstahl ist hingegen eines der schwersten und ehrverletztendsten Verbrechen der altnordischen Gesellschaft überhaupt.138 Eine moralische Wertung wird damit angelegt, gewissermaßen sogar erzwungen,139 und in ihrer Eindeutigkeit gleichzeitig verunmöglicht. Dies hat zur Folge, dass der Rezipient Þrándr mit einer gewissen Sympathie begegnen kann,140 die ihn gegebenenfalls sogar dazu bringt, Þrándrs angedeuteten Aktionen gegenüber positiv eingestellt zu sein,141 auch wenn sie moralisch verwerflich sind. So wird die Schilderung von Þrándrs unmoralischem und zweifelsohne wenig sympathischem Verhalten, die der Erzähler in seiner letzten äußerlichen Beschreibung direkt und ohne Umschweife gibt, durch die verundeutlichte Erzählweise anzweifelbar gemacht. Faktisch zeigt sich Þrándr nie direkt so, wie ihn der Erzähler beschreibt. Seine letzte Beschreibung kommt insofern also nicht seiner moralischen Verurteilung gleich, besonders, wenn der Erzähler in der Szene zuvor so umfänglich und erfolgreich seinen eigenen Wert als Wahrheitsbürge des Dargestellten zur Debatte gestellt hat. Der Text verweigert sich so – allem Anschein nach bewusst – einer klaren Aussage bzw. einem Urteil über Þrándrs Charakter. 138 Das isländische Recht unterscheidet zwischen offenem Raub und heimlichem Diebstahl, obgleich beide Taten mit Ächtung bestraft werden, siehe Grágás § 227. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil ein Dieb zu sein als Charaktereigenschaft verstanden werden kann, vgl. von See 1964, S. 10 in Bezug auf Grágás § 227: oc leynir þiof lavnom (und versteckt es mit diebischer Heimlichkeit). Eine falsche Anklage wegen Diebstahls bedingt das Recht zur Gegenklage wegen Verleumdung, siehe Grágás § 227: Ef maðr stefnir manne ifa lavst vm þat at hann hafe þvi stolet ef quið ber hann osanan at. oc er þa sócn til illmælisens (Wenn jemand einen anderen ohne Zweifel anklagt, dass er es gestohlen habe, doch der Spruch bestimmt ihn als unschuldig, dann gibt es die Möglichkeit zur Klage auf Verleumdung). Vgl. zusammenfassend Hahn 2016, S. 147–148 sowie ausführlich Hahn 2020, zur Definition des Diebstahls bes. S. 35–49. Zur Bedeutung des Diebstahls in der Færeyinga saga in Verbindung mit ergi-Komplex und Zauberei siehe bereits Kap. 3.2.1 u. Kap. 8.4. 139 Vgl. Alt 2010, bes. S. 24–26 u. S. 527–552. Alts Ästhetik des Bösen resümmiert die narrative Darstellung ›böser‹ Elemente und Ereignisse in der Literatur seit der Aufklärung und argumentiert, deren Ästhetisierung sei als Bewältigungsstrategie der menschlichen Erfahrung eines immanenten, aber außerhalb eines theologischen Theodizee-Diskurses kaum erklärbaren Bösen zu verstehen. Ihre moralische Bewertung liegt Alt zufolge im Text angelegt, nicht aber vollzogen, weshalb er zur Lösung dieses Problems auf die Rezeptionsästhetik zurückgreift: »Der Lektürevorgang schließt den prinzipiell offenen Text […]. Indem das Böse in der Literatur als konkrete Vortäuschung von Realität wirkt, provoziert es Protest und Widerstand aus sittlicher Perspektive« (Alt 2010, S. 529–530). Als Kurz-Evaluation von Alts Überlegungen vgl. Schmidt/Hahn 2016, S. 16–18, zur Anwendung dieser Ästhetik auf die Þrándr-Figur vgl. Schmidt 2016, bes. S. 299–304. 140 Vgl. Almqvist 1992b, S. 54. 141 So Skyum-Nielsen 1973.
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Neben diesen Unsicherheiten ist ein weiteres Merkmal, durch das sich Þrándrs Plan und somit seine Schläue in dieser Szene auszeichnen, die Einbeziehung der Allgemeinheit in die Lösung des Problems, die doch auf ihn selbst zurückzuführen ist (wenn er der Dieb ist, sogar in doppelter Hinsicht). Er rät dem König, das Geld von jedem einzelnen Mann auf dem Markt einzusammeln, und diese akzeptieren den Vorschlag zu ihrem eigenen Vorteil. Die Kontrolle über die Situation gehört damit aber Þrándr allein: Er ist vermutlich selbst für sie verantwortlich, er löst sie, und schon aufgrund der vorher abgemachten Bezahlung für seinen Rat seitens der Händler kann er sich der Akzeptanz seiner Vorschläge sicher sein. Durch die Belohnung von Händen des Königs bereichert er sich zusätzlich und sorgt durch seinen eigenen Hinweis auch noch selbst dafür, dass diese ihm zugeteilt wird.142 Auch wenn Þrándr die Öffentlichkeit bemüht, so steht er doch selbst als Triebkraft hinter den Geschehnissen und die Wendung an ebendiese Öffentlichkeit gerät dadurch zum Lippenbekenntnis der Wahrung des Anscheins. In seinem Konflikt mit Sigmundr wird er später stets auf eine Beilegung der Streitigkeiten durch den Rat guter Männer, also die allgemeine Öffentlichkeit, drängen, die aber dennoch seiner Einflusssphäre zuzuordnen sind und daher in seinem Sinne entscheiden würden. Er nutzt also gekonnt die Öffentlichkeit aus, um seine eigene Rolle kleiner erscheinen zu lassen, als sie ist, und hat doch ganz allein die Fäden in seiner Hand. Damit macht Þrándr auch deutlich, welch geringen Einfluss die Allgemeinheit, oder irgendjemand außerhalb seiner selbst, tatsächlich auf die Geschehnisse hat. Den Anschein, dies entspräche nicht den Tatsachen, wahrt er dennoch konsequent. Diese Beobachtung stimmt auffällig mit der Tatsache überein, dass auch der Erzähler mit Hilfe seiner Tatsachen verschweigenden Darstellungstechnik den Eindruck ›der Leute‹ ad absurdum führt. Schein und Sein sind zwei getrennte Dinge, was Þrándr betrifft, und diese Erkenntnis wird auf mehrfachen Ebenen der Erzählung illustriert, durch Þrándrs eigenes Handeln ebenso wie durch das der Erzählstimme. Die Szene in Haleyri etabliert Þrándr somit vollwertig als moralisch zwar zweifelhafte, aber höchst erfolgreiche Persönlichkeit, die ihrer Umgebung hinsichtlich Schläue, Durchtriebenheit und offenbar auch epistemischem Informationsvolumen143 um ein Vielfaches voraus ist und weiß, wie sie sich dies vollumfänglich zu Nutze machen kann. Bis zu einem gewissen Grade entlastet die Darstellungstechnik Þrándr damit von seinen vermutlich begangenen Verbrechen, zeichnet ihn weniger pointiert als böse und damit vielschichtig. Allerdings wird seine Charakteristik damit auch anfällig für Beschuldigungen bei sonst unklaren Vorgängen. Unterstellen
142 Fær, S. 7: [Þ]a tekr til orda til orda æínn madr ok mællti herra mínn sagde hann huers þikir ydr sa verdr er þetta rad til gefít segir hann. þeir sia nu at sia hinn vngí madr hafde þetta rad til gefít er þa var þar firir konungi (Da ergriff ein Mann das Wort und sagte: ›Mein Herr‹, sagte er, ›was gedenkt Ihr dem Mann zuteilwerden zu lassen, der diesen Rat gegeben hat?‹, sagt er. Sie sehen nun, dass der junge Mann diesen Rat gegeben hatte, der da vor dem König stand). 143 Vgl. Glauser 1989, S. 216–217, der Þrándr als im »›epistemic center‹« der Saga befindliche Figur bezeichnet.
3.2 Þrándrs Persönlichkeit
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lässt sich ihm so fast jede beliebige hypothetische Untat im Zusammenhang mit den verschwiegenen Vorgängen, die in der Færeyinga saga geschehen, ohne sie beweisen zu können.144 Die Ambivalenz von implizit erzwungenem Moralurteil über Þrándrs Handeln und durch die Verdecktheit der Schilderung des Tathergangs hervorgerufene stille Bewunderung der Rezipienten macht einen Großteil der Attraktivität dieser Figur aus. Und diese Ambivalenz zu erzeugen und zu mehren und die mit ihr verbundene Figur ins Zentrum der Narration zu stellen, scheint ein Hauptanliegen der Færeyinga saga zu sein. Dabei ist bemerkenswert, dass die gesamte Szene in Haleyri in den Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar außerhalb der Flateyjarbók auf einen einzigen, kurzen Satz zusammengezogen wird. Es heißt dort lediglich, Þrándr sei nach Haleyri gefahren und fekk […] þar óf lausa fiar af engu efni utan svikum sinum ok vndir hyggiu.145 Dies wertet den Text dramatisch um: Alle in diesem Kapitel ausgeführten Überlegungen und Argumentationen werden durch diese Schilderung der Vorgänge hinfällig. Die Redaktionen der Óláfs saga machen Þrándr damit unzweifelhaft zu einem Übeltäter. Er erhält hier keinerlei mildernde Umstände, eine Destabilisierung der Erzählinstanz und Verundeutlichung seiner Rolle entfällt, ebenso eine Steigerung des Identifikationspotenzials mit ihm.146 Anstatt einer den Rezipienten die Verantwortung über die Figurenbeurteilung in die Hände zu geben, urteilt die Erzählinstanz hier unmissverständlich selbst über die Taten und Charakteristika Þrándrs. Er erlangt Meisterhaftigkeit nur in Tücke, Verräterei und Bösartigkeit und ist somit schlicht als böse zu betrachten, besonders da das entsprechende Kapitel nichtsdestoweniger mit der umfänglich negativen Figurenbeschreibung abschließt. Diese dient
144 Ólafur Halldórsson scheut sich etwa nicht davor, sogar die Vermutung anzustellen, die Bude Hólmgeirrs und der Ring selbst seien vielleicht nur Sinnestäuschungen gewesen (vgl. Ólafur Halldórsson 2001, S. 73), was implizit wohl mit Þrándrs Zauberkunst verbunden werden müsste. Die Stichhaltigkeit dieser Hypothese ist als einigermaßen niedrig einzustufen, zeigt aber doch, zu wie weitgehenden Interpretationen das ›unsichere Erzählen‹ in der Færeyinga saga einladen kann. 145 Fær, S. 5–6 (Text A; er bekam dort ein Übermaß an losem Besitz durch nichts als seine Täuschungen und Heimtücke). Umso wahrscheinlicher ist entsprechend, dass in der Haleyri-Szene der Flateyjarbók tatsächlich Þrándr den Diebstahl begeht. Umso auffälliger ist aber die dortige Präsentationsstrategie. 146 Dabei zeigt allerdings Redaktion D (AM 62 fol.), der die Flateyjarbók in ihrem Bericht von der Christianisierung nahesteht, eine bedeutende Abweichung. Sie erzählt, Þrándr keyptiz þar [in Haleyri, das die Redaktion als Haleyjar bezeichnet] vm feck þar of lꜹsa fíar med svikum ok vndir hyggiu (Fær, S. 5–6 [Text A; Anm. z. Z. 12–16 u. 16]; handelte dort [in Haleyri bzw. Haleyjar]; er bekam dort übermäßig viel losen Besitz durch Täuschungen und Heimtücke). Mit dieser Formulierung wird die Schlechtigkeit Þrándrs zwar ebenso hervorgehoben, aber immerhin wird ihm eine kaufmännische Aktivität zugestanden, die in allen anderen Redaktionen nicht ausgeführt wird. Er wird dadurch, nicht gänzlich unähnlich der Flateyjarbók, immerhin etwas geschont und eher zum cleveren, wenn auch nicht sympathischen, Händler, denn rundheraus zum Verbrecher deklariert. Insofern zeigt sich an dieser Stelle eine dritte Konzeption der Þrándr-Figur, die ihn nicht weniger zur Gegnerfigur der Erzählung macht als die übrigen Redaktionen abseits der Flateyjarbók, aber doch immerhin nicht allein zum Abgrund aller Schlechtigkeit.
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damit nicht mehr der Inversion einer zuvor vermeintlich begonnen Narrationsschablone, sondern bestätigt das an Abgründigkeit kaum zu übertreffende Bild eines Antagonisten des eigentlichen Helden.147 Die Forschungsposition, die keine inhaltlichen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Redaktionen der Færeyinga saga erkennt, ist daraus folgend umfänglich zu revidieren.
3.3 Þrándrs Methode Als Þrándr von seiner Reise nach Norwegen und Dänemark als reicher Mann zurückkehrt, lässt er sich auf dem zuvor gewonnenen väterlichen Hof in Gata nieder. Dies markiert einen ersten Wandel in seiner Persönlichkeit, oder jedenfalls des in seiner anfänglichen Einführung erweckten Eindrucks: Die Zeit seiner Aktivität ist nun zu Ende, im Folgenden tritt er nur noch als Reagierender auf den Plan – und das, obwohl sein Aufstieg zum färöischen Alleinherrscher noch bevorsteht. Jedoch bedarf es dazu nicht seiner eignen Initiative: Ein Streit zwischen den Hausleuten des hǫfðingi Hafgrímr auf der Insel Suðrey entspinnt sich, als beide beim Männervergleich (mannajafnaðr) am Feuer sitzen. Die beiden Beteiligten sind Einarr suðreyingr und Eldjárn kambhǫttr. Sie hängen verschiedenen Herren an. Einarr ist Parteigänger seiner Verwandten, der Brüder Brestir und Beinir, Lehnsmännern des norwegischen Jarl Hákon Sigurðarson über eine Hälfte der Färöer. Eldjárn favorisiert Hafgrímr, der die andere Hälfte der Inseln als Lehen von König Haraldr gráfeldr innehat. Es kommt zur tätlichen Auseinandersetzung und in der Folge zum Þingstreit zwischen Brestir und Beinir und Hafgrímr, den Hafgrímr verliert. Daraufhin will dieser seinen Konkurrenten das Leben nehmen und bittet letztendlich Þrándr um seine Mithilfe, der einwilligt. Als Bedingung stellt er eine ewig währende Bezahlung von Seiten Hafgrímrs: [Þ]u skalt þat til vínna uid míg at fa mer tuau kugillde huert uor ok tuau hundrat huert haust ok skal sia skylld uera ęfínlig ok sua eigi sidr eptir þinn dag.148 Zudem bedingt er sich aus, dass auch sein Onkel Bjarni von Svíney mit einbezogen wird. Dieser lässt sich einen ebenfalls hohen, zumindest aber nicht auf ewig zu entrichtenden Preis dafür bezahlen.149 Þrándr sichert sich und seiner Familie damit – zusätzlich zu seinem ohnehin nicht enden wollenden Vermögen nach
147 Zur Abweichung der Darstellung in anderen Redaktionen der Saga vgl. auch Kap. 3.5, Kap. 4 u. Kap. 7.4.3. 148 Fær, S. 12 (Aber du sollst mich dafür entlohnen, indem du mir zweimal den Wert einer Kuh jeden Frühling und zwei Hunderte [vermutlich Ellen von wollenen Heimerzeugnissen, vaðmál] jeden Herbst bezahlst, und diese Schuld soll immerwährend sein und nicht weniger nach deinen Tagen). Die Schuld besteht somit offenbar konkret örtlich, auf Hafgrímrs Hof, und unabhängig von Personen. Diese Bestimmung deckt sich somit mit Þrándrs hier zu analysierender, räumlicher Herrschaftsdurchsetzung in ihrer Fixierung auf Landbesitz. 149 Fær, S. 12: [H]uert uor ííȷ ́ kugillde ok huert haust ííȷ ́ hundrat j slatrum (Jedes Frühjahr den Gegenwert von drei Kühen und jeden Herbst drei Hunderte in Schlachterzeugnissen).
3.3 Þrándrs Methode
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seiner Fahrt und den Pachteinnahmen, die er durch den Hof erhält, ein hohes jährliches Einkommen. Mehr noch, durch diese Tat geriert er sich als »effectively imposing a tribute on Hafgrímr as if he now held his lands í lén from Þrándr«.150 Dieses Muster hat bereits sein Erwerb und die Verpachtung der eigenen Erblande etabliert: Þrándr bereitet sich den Weg zum Herrscher auf den Färöern, indem er effektiv Land in seinen persönlichen Besitz oder finanzielle Tributabhängigkeit bringt.151 Es zieht sich auch durch Þrándrs zukünftiges Leben. Land, Geld und Herrschaft stehen in der Færeyinga saga in intrinsischer Verbindung, sodass North konstatieren kann: »In the Faroes the true colour of money is green.«152 Finanziell bedingter und überformter Landbesitz ist der Urgrund von Þrándrs Herrschaftsaspirationen, und so wird er in so enger Verbindung mit dem färöischen Grund und Boden gezeigt, dass er gleichsam eins mit dem Raum der Färöer wird.153 Stets versucht er offenbar, seine Ländereien zu vergrößern.154 Dabei schildert die Færeyinga saga allerdings kaum je die exakten Vorgänge. Wie bereits in der Haleyri-Szene präfiguriert, bleibt die Darstellung von Þrándrs Taten konstant undeutlich. Emphatisch betont wird lediglich sein Reichtum,155 der an einer Stelle eng mit seiner Alleinherrschaft verbunden wird: [O]k var hann audgazstr allra ok stíornnade nu ỏllu æinn j Færeyium.156 Dass dieser Reichtum in ebenso enger Verbindung zu Þrándrs Landbesitz steht, machen die Vorgänge um sein Beharren auf dem väterlichen Hof und die Übernahme der Besitzungen nach dem Streit der beiden Lehnsherrschaftssparteien explizit deutlich. Dadurch kann er sich zum alleinigen Herrscher aufschwingen: [H]ann tekr undír sig riki allt j Færeyium ok fe þat ok eígnir er þeir hafua att brędr Bæinir ok Brestir […].157 Der Rest der Erzählung arbeitet in dieser Hinsicht allerdings nur implizit, mit vereinzelten Signalwörtern und versteckten Hinweisen: So wird etwa Sigmundrs Mörder Þorgrímr illi später als Þrándrs lndzsete bezeichnet.158 Offenbar besitzt er also Grundrechte auf diesem Landstück, obwohl es sich fern von Þrándrs Stammland in
150 North 2005, S. 62. 151 Vgl. North 2005, S. 60. 152 North 2005, S. 70. In diesem Zusammenhang ist auch auffällig, dass die norwegischen Herrscher später in ihren Bemühungen um die Oberhoheit über die Inseln diese stets mittels Tributzahlungen durchzusetzen versuchen, siehe hierzu Kap. 4 u. Kap. 7.4. 153 Vgl. auch Kap. 2.3.2 u. Kap. 8. 154 Vgl. North 2005, S. 60. 155 Semantisch bereits im Beinamen seiner Stammmutter, der Figurenbeschreibung seines Vaters sowie seiner möglichen Aliasidentität Hólmgeirr; darüber hinaus wird das monetäre Übermaß, das er in Haleyri erhält, mehrfach überbetont, siehe bereits oben. Auch im Zuge des Streits mit Þorlákr fallen auf wenig Raum viele Begriffe aus dem Wortfeld von Reichtum und Landbesitz, wie (lausa) fe (loses Gut), arfui (Erbe), gessíme (Kostbarkeit), hæíma bolit (Stammsitz), alæigu landit (Länderein), læigu (Zinsen); alle Fær, S. 4–5. 156 Fær, S. 47 (Und er war der Reichste aller Leute und beherrschte nun allein alles auf den Färöern). 157 Fær, S. 21 (Er bringt die ganze Herrschaft auf den Färöern an sich und alles Vieh und alle Besitzungen, die die Brüder Beinir und Brestir besessen haben […]). 158 Fær, S. 86 (Hintersasse). Vgl. auch North 2005, S. 63.
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Gata auf der Insel Suðrey befindet und insofern unmöglich zum ursprünglichen Besitz seiner Familie gehört haben kann. Suðrey hingegen ist eingangs der Sitz von Hafgrímr, dem Þrándr einen ewigen Tribut auferlegt. Rechtlich sichert diese Bezahlung Þrándr aber noch keine Landrechte. North bringt zur Erklärung deshalb Þrándrs auffällig häufige Annahmen von Ziehvaterschaften ins Spiel: So nimmt Þrándr zunächst Ǫzurr Hafgrímsson in Ziehvaterschaft auf, nachdem er dafür gesorgt hat, dass Brestir, Beinir und Hafgrímr sich gegenseitig erschlagen. Auch behält er Brestirs und Beinirs Söhne, Sigmundr und Þórir, bei sich, vorgeblich ebenfalls als Ziehsöhne,159 ehe er sie in die Sklaverei verkauft. North deutet diese Ziehvaterschaft vor der norwegischen Sitte des barnfóstrlaun aus, einer Entlohnung für Kindesaufzucht. Diese kann nach den Bestimmungen der Gulaþingslǫg auch als Landbesitz ausfallen.160 Da ein direkter Verweises auf diese Rechtsbestimmungen im Text fehlt, muss Norths Deutung Hypothese bleiben. Jedoch scheint sie angesichts des nicht selten nach norwegischem Vorbild geschilderten Rechtssystems der Färöer in der Færeyinga saga nicht abwegig.161 Zudem erklärt sie schlüssig, auf welcher rechtlichen Basis der so fern von Gata lebende Þorgrímr ein Pächter von Þrándrs Land sein kann. Dieselben Ziele der Landbesitzvergrößerung dürfte Þrándr im Auge haben, wenn er nach Sigmundrs Rückkehr für Ǫzurrs Sohn Leifr die Ziehvaterschaft übernimmt,162 und auch die Söhne seines Bruders und seiner Schwester, Sigurðr, Þórðr und Gautr, zur gleichen Zeit bei sich aufnimmt.163 Zugleich dienen Þrándrs Ziehvaterschaften politisch der Sicherung seiner eigenen Position gegen mögliche Gegner aus anderen Familien, die ihre eigentlichen Rechte einfordern könnten.164 Verwandte von Hafgrímr werden den Mann,
159 Fær, S. 17: [S]kal ek nu bæta þessum suæínunum er ek hefui uerit staddr afunde þessum ok bioda þeim til fostrs (Ich werde den Jungen nun büßen, dass ich hier auf diesem Treffen zugegen gewesen bin und ihnen die Ziehvaterschaft entbieten). Diese Formulierung ist ein Musterbeispiel für Þrándrs Charakter. Einem Lippenbekenntnis von Schuldbewusstsein folgt ein Vorgehen, das, wenn die von North angesetzte Hypothese zutrifft, ihn selbst bereichert, und danach der kommentarlose und jeglicher Moral entbehrende Verkauf der »Ziehsöhne« in die Sklaverei, der das gesamte Gebaren als bloße Inszenierung offenbart. 160 Vgl. North 2005, S. 63. Nach den Bestimmungen der Gulaþingslǫg (§ 270) besteht die sechste Art des Erbes von óðal aus barnfoſtr laun hverr ſem gefr. 161 Vgl. Foote 1970; siehe hierzu auch Kap. 2.3.2.1. Dass gerade der Präzedenzfall von Þrándrs Verbindung von Landbesitz und Geldeinnahmen, die Übernahme des Hofes in Gata und die anschließende Verpachtung der Ländereien, per Losentscheid und damit nach expliziter Bestimmung der Gulaþingslǫg § 282 ausgestaltet ist, macht die Interpretation folgender, ähnlicher Angelegenheiten nach diesem rechtlichen Vorbild wahrscheinlich. 162 Fær, S. 62. Vgl. North 2005, S. 65. 163 Fær, S. 81. Vgl. North 2005, S. 65. 164 Zur Ziehvaterschaft als Faktor in der Konfliktlösung vgl. Miller 1990, S. 122–124. Der Ziehvater steht im öffentlichen Ansehen nicht selten auf einer niedrigeren sozialen Stufe als die tatsächlichen Kindseltern, vgl. auch Almqvist 1992c, S. 178. Mit dieser vorgeblichen Selbstunterordnung kalkuliert Þrándr auch, wenn er zunächst vorgibt, Sigmundr und Þórir als Buße zu seinen Ziehsöhnen zu machen, um sie hinterrücks aber doch als Sklaven zu verkaufen.
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der seinen Sohn aufzieht, nicht bekämpfen. Durch die Aufnahme seiner Neffen bringt Þrándr auch den nach der Erbteilung gegebenenfalls noch schwelenden Unmut seines Bruders unter seine Kontrolle. Gleichzeitig würde er über das mögliche barnfóstrlaun aber sogar Landansprüche auf den neuen Besitzungen seines Bruders erwerben, wo immer diese sich befinden mögen. Somit fungieren Þrándrs Ziehvaterschaften gleichzeitig als Instrument von Herrschaftserwerb qua Entlohnung und der persönlichen Herrschaftssicherung. Die Erklärung dieser Zusammenhänge über die Regelung des barnfóstrlaun gibt der Text nicht eindeutig zu erkennen, sie »must be read into Færeyinga saga if the saga is to make complete sense.«165 Doch stimmt die Verschwiegenheit der Erzählstimme über die exakten Hintergründe von Þrándrs Vorgehen mit der charakteristischen, destabilisierten Erzählweise überein, die die Haleyri-Szene deutlich macht. Das Nicht-Gesagte, sondern nur Angedeutete, scheint der Schlüssel zu Þrándrs Herrschaftsmethodik zu sein. Die Verweise auf Þrándrs Reichtum ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Figurenzeichnung, bereits sein erster Konflikt mit seinem Bruder dreht sich um Land. Daraus folgt, dass seine Herrschaft sich maßgeblich auf seinen Landbesitz stützen muss, und diese Erkenntnis perspektiviert weitere Unschärfen, mit denen Þrándr im Konflikt mit Sigmundr häufig arbeitet. Nimmt man an, dass die meisten der auf den Þingversammlungen erscheinenden Bauern auf den Färöern tatsächlich seine Pächter sind,166 gewinnt sein kontinuierlicher Verweis auf die ord godra manna,167 denen er im Konflikt mit Sigmundr die Entscheidung überlassen will, neue Qualität. Es handelt sich dann nicht um ein Beharren auf proto-demokratischen Entscheidungsprozessen, sondern um die Siegesgewissheit eines Mannes, der aufgrund seines Landbesitzes faktischer König der Färöer ist und insofern über ihre Bewohner verfügen kann wie über Untertanen. Vor diesem Hintergrund wird auch höchst bedeutsam, dass Þrándr Sigmundr vid bæn manna zu einer Drittelung der von Hákon festgesetzten Bußzahlungen bewegen kann.168 So zahlt er letztlich nur zwei Drittel – das zweite Mal nur in Folge einer Todesdrohung seitens Sigmundrs – und erhebt beim dritten Mal Anspruch an Sigmundr, seinem Ziehsohn Leifr eine Vaterbuße zu entrichten, ohne das fällige Geld zu bezahlen.169 Dadurch wachsen seine Finanzen und folglich auch sein herrschaftlicher Vorsprung. Eine Ziehvaterschaft scheint auch in Þrándrs letztem und potenziell größtem, aber nicht erfolgreichem, Coup eine große Rolle zu spielen. Nach Sigmundrs Tod betreibt Þrándr die Verheiratung Leifr Ǫzurarsons mit Sigmundrs Tochter Þóra. Damit betätigt er sich vorgeblich als Friedenshüter und zeigt sich um Ausgleich und
165 North 2005, S. 60. 166 Vgl. North 2005, S. 65. 167 Fær, S. 66 (Worte guter Männer). Das gleiche Prinzip tritt in der Entscheidung über die Christianisierung zu Tage, siehe hierzu Kap. 3.6.1. 168 Fær, S. 61 (auf Bitten der Leute). Vgl. hierzu auch Kap. 4.3.3. 169 Vgl. North 2005, S. 65–66 u. S. 68. Siehe hierzu näher auch Kap. 6.3.
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Kompensation bemüht, um die aufgebrachte Situation nach der Auseinandersetzung mit Sigmundr wieder zu beruhigen.170 Zugleich sichert er sich und seinen Ziehsohn damit gegen mögliche Racheakte nach seinem Angriff ab. Frieden auf den Färöern bedeutet größere Ruhe für Ausweitung und Ausübung seiner persönlichen, erneut übernommenen, Vorherrschaft. Doch vermutlich steht hinter diesem Bemühen auch die Erkenntnis, dass Sigmundrs Witwe die von Jarl Hákon an diesen zugeteilten Besitzungen zu erben scheint.171 Der Erbe seines Ziehsohns erhielte damit die ehemaligen Erblande Hafgrímrs und die Sigmundrs, also alles Land, das Þrándr nicht ohnehin offenbar schon besitzt. Und diesen Erben, den jungen Sigmundr Leifsson, nimmt Þrándr erneut in Ziehvaterschaft auf. Damit erhält er gegebenenfalls erneut ein Recht auf die Zuteilung von barnfóstrlaun. Noch wichtiger jedoch erscheint die Tatsache, dass in dem Moment, in dem Sigmundr bei Þrándr aufwächst und dieser seine vorgeblich unnützen Neffen hinauswirft, in einem zunächst zusammenhanglos wirkenden Satz Þrándrs uneheliche Tochter erwähnt wird: [O]k er suo sagt at Þrandr værí ecki kuongadr madr. Hann atti æína dottur er Gudrun het.172 Mit dieser Nennung könnte womöglich ein erneut nur sehr unklar angedeuteter Plan Þrándrs aufscheinen, Sigmundr und seine eigene Tochter zu verheiraten, um seinem eigenen Erben den gesamten Landbesitz zukommen zu lassen.173 Bis auf diesen anzunehmenden Plan Þrándrs scheint die Erwähnung der Tochter jedenfalls keinen weiteren erkennbaren Sinn zu besitzen. Deckt sich diese Überlegung tatsächlich mit Þrándrs Plänen, so zeigt er in dieser Situation ein Denken, dass an dynastische Prinzipien mittelalterlicher Herrscher erinnert.174 Er will einen leiblichen Erben seiner weitreichenden Landbesitzungen, einen in seinem Sinne legitimen Nachfolger der eigenen Macht, von eigenem Fleisch und Blut, der jegliche Machtkämpfe mit den anderen landbesitzenden Familien der Inseln endgültig hinter sich lassen würde. Ein solcher Erbe würde das auf Landbesitz basierte ›Reich‹ Þrándrs übernehmen, das dieser Zeit seines Lebens aufzubauen versucht, und wäre unabhängig von äußeren Einflüssen, weil sich sämtliche Besitzungen auf den Färöern in seinem persönlichen Eigentum befänden. Þrándr hätte
170 Siehe Fær, S. 87: Er bietet nach dem Tod seines Konkurrenten Sigmundrs Familie zunächst nicht näher ausgeführte sættir an, die er wiederholt, bevor er die Werbung vorbringt, diesmal als Angebot eines Schiedsspruchs durch hinir bezstu menn (die besten Männer), was erneut nur zögerlich aufgenommen wird. [Þ]a hof Þrandr bonord firir hỏnd L(eifs) ok bad Þoru til handa honum dottur S(igmundar). þotti þat likligazst til hæilla satta (Da begann Þrándr, die Werbung für Leifr vorzutragen und bat um die Hand Þóras, der Tochter Sigmundrs, für ihn. Das schien am wahrscheinlichsten für einen wahren Ausgleich). Vgl. hierzu Kap. 3.4.3 u. Kap. 3.4.5. 171 Vgl. North 2005, S. 70–71. 172 Fær, S. 128 (Und es wird erzählt, dass Þrándr nicht verheiratet gewesen wäre. Er hatte eine Tochter, die Guðrún hieß). Vgl. bereits Kap. 3.2.1. 173 Vgl. North 2005, S. 71–72. 174 Zur Bedeutung genealogischen und dynastischen Nachfolgedenkens im Mittelalter vgl. Melville 2015; Weinfurter 2015; Andenna/Melville 2015, S. 12–13 u. S. 18–19.
3.3 Þrándrs Methode
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damit wenigstens für sein zukünftiges Geschlecht ein monopolisiertes, zentralisiertes und unabhängiges ›Königreich‹ auf den Färöern erschaffen. Damit geriert er sich ganz nach dem Bilde mittelalterliche Könige, deren Machtausübung nicht zuletzt an persönliche Verfügungsgewalt über bestimmte Territorien, insbesondere in der Form von Besteuerungen, geknüpft war.175 Seine Herrschaftspolitik ist gänzlich royal, nicht weniger als die der norwegischen Herrscher, gegen die er sich stellt. Þrándrs Vorstellung und Methode von Herrschaftseroberung, deren Sicherung durch Familienpolitik und Ausübung entspricht so – im Gegensatz zu seiner restlichen Figurenkonzeption – vollständig mittelalterlich-aristokratischen Konventionen, mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass sie sich keinesfalls auf abstrakte Legitimationen zu beziehen versuchen. Konzeptionell ist Þrándr auf dieser Basis aufs Engste mit der räumlichen Inszenierung der Färöer als Innenraum verbunden, die metaphorisch auch mit seiner transgressiven, passiv-manipulativ angelegten Genderrolle schlüssig bleibt.176 Er personifiziert geradezu das Land der Färöer, das er in tributabhängigen Besitz zu verwandeln versucht.177 Insofern scheint es nur folgerichtig, die Thematiken von Land und Geldbesitz, die die Erzählung anlegt, zur Interpretation von Þrándrs Herrschaftsmethodik heranzuziehen, auch wenn genaue Vorgänge verschwiegen werden. So ist neben der geschickten Vergrößerung erblichen Landbesitzes über rechtliche Regelung auch ein Einsatz von Þrándrs Vermögen denkbar, um Land schlicht zu kaufen: »Þrándr […] seems to have invested his great fé in the purchase of hidden but wide-ranging eignir.«178 Alle erworbenen Länderein dürfte Þrándr weitergehend zu ebenso horrenden Preisen verpachten wie seinen Stammbesitz, sodass er effektiv alle Ländereien der Färöer in persönliches und in hohem Maße lukratives óðal zu verwandeln bemüht scheint.179 Dieser Erwerb von Erblanden ist Þrándrs Weg zur faktischen Alleinherrschaft auf den Färöern. Erreichen kann er diese aber nicht aktiv, sondern nur durch kleine Taten, meist in Reaktion auf sich bietende Gelegenheiten, durch langfristige Planung, passives Beobachten und den intelligenten Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Nach den Jugendjahren seiner Auslandfahrt verschwindet jegliche erkennbare Aktivität gänzlich aus Þrándrs Handlungsagenda: Er ist auf den Färöern einfach anwesend, und alleine dadurch kann er seine hintergründige Landherrschaft methodisch durchsetzen. Diese faktische Herrschaft
175 Vgl. Schlunk 1988, S. 179–180: »Von Grund und Boden gingen zwar nur begrenzte herrschaftliche Rechte aus, doch verwurzelte Herrschaft in seinem Besitz: Wo das ›Substrat‹ der Grundbesitzrechte fehlte, blieb Herrschaft blaß«. 176 Vgl. bereits Kap. 2.3.2 u. Kap. 3.2.1. 177 Diese Tatsache wird besonders deutlich, wenn der Mann, der in einem ›óðinnesken‹ Auftritt vor Karl von Møre auf dem Þing erscheint, er selbst ist, vgl. North 2005, S. 69–70; siehe auch Kap. 3.4.4 u. Kap. 8.3.2. 178 North 2005, S. 65. 179 Vgl. North 2005, S. 63. Zum komplizierten Begriff des óðal als Erblandbesitz und seinen diversen Bedeutungen, zugehörigen Rechtsstatuten und Abwandlungen siehe Robberstad u. a. 1967.
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verdankt Þrándr nicht zuletzt seiner überlegenen Rechtskenntnis. Er kennt die auf den Färöern applizierbaren Rechte sehr gut und nutzt sie weidlich zum größtmöglichen eigenen Vorteil aus. Diese komfortable und superiore Position kann er nur erlangen, weil er nach seiner Auslandsfahrt das Land nie wieder verlässt. Gegenüber dem exilierten Sigmundr verschafft er sich dadurch den Vorteil, über die Geschehnisse auf den Inseln, die Verhältnisse, Machtpositionen und Ereignisse besser Bescheid zu wissen.180 Er macht sich selbst zum Zentrum des Geschehens, zum Mittelpunkt der Welt auf den Färöern, zum »›epistemic center‹« der Narration überhaupt,181 solange sie sich in diesem Raum aufhält. So verschafft Þrándr sich eine faktische monarchische Position, die seinem Konkurrenten Sigmundr nur nominell zugeteilt wird. Ihm gegenüber kann er entsprechend forsch auftreten: [Þ]ikir þu lítill iafnnadr madr er þu uill ekki midla riki vid [oss]. þar er ver æígum meírr en helming vid þig.182 Die Bedingungen der Herrschaft auf den Färöern sind daraus folgend untrennbar mit der Verwurzelung in diesem Raum verbunden, die sich im Besitz von Land ausdrückt. Die in Kapitel 2.3 ausgearbeitete Raumsemantik der Färöer in der Færeyinga saga ist dadurch intrinsisch mit dem Vorgehen und der Darstellung Þrándrs verbunden. Seine politische Dominanz auf den Inseln definiert raumsemantisch gewendet damit die narrativen Parameter auf den Inseln. Þrándr symbolisiert in der räumlich ausgedrückten Semiosphäre der Saga einen Code der Peripherie, der auf Machtdurchsetzung drängt und darauf, ein neues Zentrum auf sich selbst zu errichten. Auf der Figurenebene wird sein vom Zentrum aus gesehen peripherer Status durch seine moralische und narrative Normwidrigkeit (im Sinne der destabilisierten Darstellung) ausgewiesen. Seine politische Macht offenbart sich in seiner Methodik der Herrschaftsdurchsetzung, dem Erwerb von Pachtlanden. Durch seinen Landbesitz macht also Þrándrs Code den färöischen Raum zu ›seiner‹ Semiosis. Er agiert hier gewissermaßen als Schöpfer seines eigenen Kosmos, der sich unter seiner absoluten Gewalt befindet.183 Im zweiten, damit einhergehenden Schritt ist dazu die im Folgenden zu beschreibende, von ihm betriebene Ausschaltung derjenigen notwendig, die Verbindungen zum norwegischen Reich besitzen. Sind diese Konkurrenten ausgeschaltet, besitzt Þrándr, gestützt auf seine Identifikation mit dem Land der Färöer, als einziger die Deutungshoheit in diesem Narrationsraum. Dabei setzt er andere Akteure geschickt für seine eigenen Zwecke ein, setzt sich in der Öffentlichkeit ebenso geschickt in Szene wie er diese listig hintergeht, und kann sich so seinen Weg zur auf seiner Schaffung von Fakten basierten Herrschaft ebnen.
180 Zu Sigmundrs raumkonzeptioneller Entwurzelung vgl. Kap. 4.3.2. 181 Glauser 1989, S. 216. 182 Fær, S. 82 (Du scheinst kein sehr gerechter Mensch zu sein, da du die Herrschaft nicht mit [uns] teilen willst, da wir mehr als der Hälfte dir gegenüber besitzen). 183 Wie sich diese politische Dominanz in narrativer Überformung ausdrückt, zeigt die Tatsache an, dass Sigmundr schon aufgrund seiner erzählerischen Ausgestaltung als unpassend für den Raum der Färöer ausgewiesen wird, vgl. hierzu Kap. 4 u. Kap. 8.
3.4 Réð nú einn o˛llu: Þrándrs Herrschaft auf den Färöern
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3.4 Réð nú einn ǫllu: Þrándrs Herrschaft auf den Färöern Als sich Hafgrímr nach seinem Þingstreit mit Brestir und Beinir hilfesuchend an Þrándr wendet, ist dessen Moment gekommen. Er erkennt sogleich, welche Chance ihm diese Gelegenheit bietet und nutzt sie gezielt aus – zur Vermehrung seiner finanziellen Mittel, aber auch, um die Verbindung zum nominell herrschatsberechtigten Norwegen zu kappen. Die Trennung dieser Verbindung lässt sich folglich dezidiert nicht, wie bisher oft argumentiert, als Kampf um Unabhängigkeit um ihrer selbst willen verstehen, oder als prinzipieller Unwille einer »alten Ordnung«, die eine autonome »Bauerndemokratie« vor der Unterwerfung durch ausländische Könige bewahren will. Sie ist hingegen unabdingbare Voraussetzung für die Umsetzung von Þrándrs eigenen monarchischen Intentionen. Keineswegs geht es ihm also nur »vordergründig um den Erhalt seines Einflusses auf den Färöern«,184 und absolut nicht »um den Erhalt bestehender Strukturen«.185 Im Gegenteil ist es notwendig für die Durchsetzung seines Einflusses, die bereits von vorn herein bestehende Oberhoheit der norwegischen Herrscher zu zerstören und durch neue, eigene Herrschaftsstrukturen zu ersetzen. Dies kommt zwar insofern einer Unabhängigkeitsbestrebung gleich, als dass eine Trennung von fremdbeherrschtem Außen und von Þrándr regiertem Innen erfolgt. Ähnlich den als freiheitsliebend dargestellten norwegischen Emigranten nach Island ist er aber vor allen Dingen ungewillt, sich selbst einer höhergestellten Autorität zu beugen, die er mit seiner persönlichen Ehre für unvereinbar halten dürfte.186 Jedoch ist er nicht daran interessiert, in einer freien Gesellschaft unter Gleichen zu leben. Er selbst will diejenige Autorität sein, die über anderen steht.
3.4.1 Slœgr ok ráðugr. Þrándrs Intelligenz und Rhetorik auf dem Weg der Macht So sichert er sich Hafgrímrs Tributzahlungen und begleitet ihn bei seinem Angriff auf die Brüder. Allerdings beteiligt er sich nicht am Kampf: Þrandr reikade eftir fíorunne ok skip veriar hans ok uoru æigi j atsoknn.187 Jedenfalls vorgeblich scheint er zu große Skrupel zu haben, seine Cousins selbst anzugreifen.188 Hafgrímr be184 Bick 2005, S. 3. 185 Bick 2005, S. 3. 186 Zu dieser Darstellung der isländischen Erstsiedler vgl. im Überblick Meulengracht Sørensen 1993, S. 137–143. 187 Fær, S. 15 (Þrándr und seine Schiffsgenossen streiften im Watt umher und waren am Angriff nicht beteiligt). 188 Jedenfalls bemerkt er bei Hafgrímrs Bitte, es sei undarlíga leitat at hann munde vilea uera j nokkurum ueilrędum vít frændr sina (Fær, S. 12; ein sonderbares Gesuch, dass er in Ränke mit seinen Verwandten verwickelt sein wollen sollte). Auch Sigmundr und Þórir tötet er nicht, noch lässt er sie töten, als er sich mit diesem Vorschlag nicht gegen Bjarni durchsetzen kann. Angegeben wird allerdings ebenso, dass fatt var med þeim Þrandi þoat frændsemi væri mikil (Fær, S. 9; es nicht gut
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schwert sich daraufhin bei ihm, schließlich habe er ihm sein Geld für seine aktive Unterstützung gegeben. Þrándr entgegnet überaus scharf: [Þ]u ert skaud at meíre at þu getr æigi sott íȷ ́ menn vid tuennar tylftir manna ok er þat hattr þínn at hafua jafnan adra askotspæni firir þer ok þorir lítt j nand at koma þegar nokkurr er mann raun j væri þat rad ef nokkurr dad er j þer at radazst fystr upp at Bresti en adrir fylgde þer eftir ella se ek þat at þu ert ỏngu nytr.189 (›Du bist eine Pferdefotze! Umso mehr, als dass du zwei Männer nicht mit zwei Dutzend überkommen kannst! Und es ist deine Art, immer einen anderen als Zielscheibe vor dir zu haben, und du wagst wenig, in die Nähe zu kommen, sobald ein Mann in Bedrängnis ist. Es wäre zu raten, wenn Tatkraft in dir steckt, dich zuerst hinauf zu Brestir zu begeben, und andere folgten dir nach! Anderenfalls erkenne ich, dass du zu nichts nütze bist!‹)
Daraufhin attackiert Hafgrímr aufgebracht seinen Gegner und sie töten sich gegenseitig. Þrándr zeigt hier, dass er über suggestive Fähigkeiten [verfügt], mithilfe derer er die Menschen in seinem Umfeld dazu bringt, in seinem Interesse zu handeln. Er manipuliert und intrigiert. Seine Waffen sind seine Intelligenz und seine Rhetorik. Diese befähigen ihn dazu, das Geschehen zu lenken, ohne aktiv eingreifen zu müssen.190
stand zwischen ihnen und Þrándr, obwohl die Verwandtschaft nah war). Grundsätzlich wird deutlich, dass Gewalt als solche schlechterdings nicht Þrándr Angelegenheit ist. So verhindert er auch später einige Male offene Waffengänge. Gewaltanwendung innerhalb der Familie ist in den isländischen Quellen grundsätzlich mit Hemmschwellen versehen, vgl. Miller 1990, S. 159–161; Jakob 2016, S. 165– 167. Indes ist Þrándr anderweitig von keinerlei Skrupel gehindert. Insofern äußert sich darin kein Hang zum Pazifismus, und auch ein Gewissenskonflikt ist Þrándr kaum zu unterstellen, wenn er selbst für die jeweiligen Spannnungsituationen verantwortlich zeichnet. Wie es um seine Kampfkunst steht, berichtet die Saga nicht, aber es scheint legitim, anzunehmen, dass er um seine Chancenlosigkeit in der Konfrontation mit geborenen Kämpfern wie seinen Verwandten weiß. Im Zuge dieses ›Gewaltverzichts‹ dürfte weiterhin eine Rolle spielen, dass ein Angriff auf nahe Blutsverwandte negative Konsequenzen für ihn entwickeln könnte. Bloße Anwesenheit ist unmoralisch, wie Þrándr selbst mehrfach ausführt (siehe Fær c. 7, S. 17 u. c. 24, S. 57), wohl aber nicht rechtlich verwertbar. Zwar kennen nur die norwegischen Frostaþingslǫg IV, § 30, S. 167 eine explizite Strafe in Form von Acht als ewigwährender Landesverweisung für den Totschlag an nahen Verwandten, spezifiziert zudem nur auf Vater, Sohn und Bruder, während ähnliche Passi in den isländischen Gesetzen nicht enthalten sind, vgl. Jakob 2016, S. 184–185. Da die gesetzliche Situation auf den Färöern in der Darstellung der Saga hinsichtlich der Herkunft der Rechtsbestimmungen gemischt erscheint (vgl. Foote 1970; Kap. 2.3.2.1), besteht aber immerhin die Möglichkeit, eine entsprechende Bestimmung ansetzen zu dürfen. Angesichts dieser Unsicherheiten zeigt sich hier insofern jedoch am ehesten Þrándrs Bewusstsein für den Eindruck, den sein Konflikt mit den nahen Verwandten in der Öffentlichkeit erzeugt. Damit spekuliert er, wenn er zwar betont keine konkreten Kampfhandlungen ausführt, aber dennoch für die Gesamtsituation verantwortlich zeichnet. Sicherlich entfällt also ein Großteil seiner ›Skrupel‹ auf Berechnung. 189 Fær, S. 15. 190 Bick 2005, S. 3.
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Dabei ist diese Szene die einzige, in der er sogar auf eine heftige Beleidigung zurückgreifen muss. In den übrigen Szenen der Saga, in denen er »pilots the saga characters with the same information and technique as those with which the author [d. h. der Erzähler] pilots the reader«,191 geht er wesentlich subtiler vor. Seine Neffen hetzt er ebenfalls mit Vorwürfen der Tatenlosigkeit und Nutzlosigkeit auf, in seinem Interesse zu handeln. Jedoch fällt diese Rede um einiges weniger drastisch, wenn auch nicht weniger effektiv aus: [M]art scípaz a mannz æfi. Otítt var þa þat er ver vorum ungir at menn scyldo sitia e(ðr) ligia veðrdaga goða þeir er ungir voro oc til allz væl fǫrir. mundi þat eigi þickia liclict enom fyrom monnom at Þoralfr or Dimon mundi vera þrosca maðr meire en þer. En byrðingr sa er ec hefi átt oc her stendr i nꜹsti ætla ec at nu geriz sva forn at fúni undir bráðino. er her hus hvert fullt af ullo. oc verðr ecki til verþz haldit. mundi eigi sva ef ec vera nokkorum vetrum yngri.192 (›Viel verändert sich im Leben eines Menschen. Unpassend war es damals, als wir jung waren, dass Männer, die jung waren und zu allem bestens geeignet, an einem Tag mit gutem Wetter herumsitzen oder -liegen sollten. Den früheren Leuten würde es nicht wahrscheinlich vorkommen, dass Þórálfr aus Dímun ein tüchtigerer Mann wäre als ihr. Aber ich glaube, dass das Handelsschiff, das ich besessen habe und das hier im Bootshaus steht, nun so alt geworden ist, dass es unter dem Teer fault. Jedes Haus hier ist voller Wolle. Und nichts wird zu Wert umgesetzt. So wäre es nicht, wäre ich noch einige Winter jünger.‹)
Noch um einiges subkutaner sind andere Situationen, in denen Þrándr nicht hetzt, und sein Umfeld doch zum Handeln in seinem Interesse bewegt, die noch näher auszuführen sein werden. Er verhält sich in diesen Szenen ganz so, wie es der Erzähler in seiner Beschreibung nach Þrándrs Coup in Haleyri beschreibt: udæll ok illgiarnn vid alþydu blidmælltr vid hína meíre menn en hugde jafnan flatt.193 Für ihn gefährlichen oder im (nominellen) Rang gleich- oder höhergestellten Menschen gegenüber tritt er zurückhaltend, bisweilen gar unterwürfig auf, wenn es in der entsprechenden Situation notwendig oder opportun erscheint. Spricht er aber Niedergestellten gegenüber, oder befindet sich selbst in der vorteilhafteren Position, so scheut er auch vor kaum verholenen Gewaltandrohungen nicht zurück. Obgleich er in seiner Theatralik »obsequious, even unctuous« klingt,194 ist seine Redeweise so stets doppelbödig, »overt flattery veiling an implicit menace«.195 Immer wieder lässt Þrándr in seiner Rhetorik eine Differenz zwischen Schein und Sein aufleuchten. Schmeichlerisch begrüßt er so Karl von Møre, den Gesandten Óláfrs des Heiligen, auf dem Þing: [E]m ec s(egir) hann fegin orðin er slícr drengr hefir comit hingat
191 Skyum-Nielsen 1973, S. 10. 192 Fær, S. 96–97. 193 Fær, S. 7 (unfreundlich und bösartig gegen die Allgemeinheit, schmeichlerisch gegen die höher gestellten Menschen; aber er hatte doch stets verräterische Gedanken). 194 Harlan-Haughey 2015, S. 359. 195 Harlan-Haughey 2015, S. 358.
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til landz várs með ørende konungs várs. Er ver erum allir scyldir undir at standa,196 nur, damit dieser wenig später – wohl auf Þrándrs hintergründiges Betreiben – von Þórðr und Gautr erschlagen wird. Auch kommentiert Þrándr in der Bekehrungssequenz, nachdem er selbst die Bauern gegen Sigmundr aufgestachelt hat,197 lakonisch: Setiz menn niðr ok geri sik ecki sva oða.198 Nachdem er für den Tod der eigentlichen Herrscher der Färöer gesorgt hat, gibt er vor, die Söhne von Brestir und Beinir als Sühne seiner Taten in Ziehvaterschaft aufzunehmen, verkauft sie aber kurz darauf als Sklaven, in jämmerlichem Zustand.199 Als Sigmundr wider Þrándrs Hoffnungen aus dem Exil zurückkehrt, gibt er sich beim ersten Zusammentreffen als hinn katazsti.200 Nachdem Jarl Hákon ihn sämtlicher Autorität beraubt und Sigmundr als Herrscher installiert hat, kommentiert er dennoch ausnehmend jovial, at honum þỏtti all uel at S(igmundr) frændi hans færi nu med mannaforrad jafnnleingi sem hann hafdi adr med farít.201 Indes zeigt die zeitliche Einschränkung bereits verdeckt an, dass Þrándr die Herrschaftsposition keineswegs dauerhaft aufzugeben gedenkt. Tatsächlich beseitigt er Sigmundr letztendlich nach Ablauf der Frist von zwölf Jahren, die er in seinen ›Glückwünschen‹ umreißt.202 Auch im finanziellen Kräftemessen mit Sigmundr vor der Beiseitigung des Konkurrenten bemüht Þrándr sich stets scheinheilig, Strafzahlungsaufschub mit einer Vaterbuße für Leifr Ǫzurarson zu begründen.203 Er besitzt gar die Chuzpe, dieses Wergeld einzufordern, als er ein Drittel der Strafzahlungen völlig unterschlägt. Þrándrs Sprech- und zugehörige Verhaltensweise lässt sich somit mit HarlanHaughey als »mocking, not sincere, a form of doublespeak« beschreiben.204 Selbst wenn er sein Gegenüber nicht implizit bedroht, versucht er dennoch regelmäßig,
196 Fær, S. 113 (›Ich freue mich‹, sagt er, ›dass ein solch tüchtiger Mann hierher in unser Land gekommen ist im Auftrag unseres Königs, dem wir alle zu Gehorsam verpflichtet sind‹). 197 Fær, S. 74–75: [G]engu þeir þa anan vegh ꜳ vỏllinn. Telr Þrandr þꜳ vm fyrir bondum […]. ok lykr sva með hans for tolum at þeir verða allir ꜳ eitt sattir. […] þvi næst drifu menn þangat er þeir S(igmundr) satu ok hỏfðu þegar vápnín ꜳ lopti […]. ok her munu ver ueíta þer at gỏngu ꜳ þinginv ok drepa þik nema þv lettir af […] (Sie gingen da auf einen anderen Platz des Feldes. Da redet Þrándr auf die Bauern ein […] und es endet so mit seinem Zureden, dass sie alle einig werden. […] Als nächstes drängten die Männer dorthin, wo Sigmundr und die Seinen saßen und hatten sogleich Waffen erhoben […]. ›Und wir werden dich hier auf dem Thing angreifen und dich töten, es sei denn, du lässt ab […]‹). Siehe hierzu auch Kap. 3.6.1. 198 Fær, S. 74 (›Die Männer sollen sich hinsetzen und nicht so wütend werden‹). 199 Siehe Fær c. 7–8, S. 17–20. Die Jungen, die Þrándr dem Händler Hrafn verkauft, sind kollotta j huítum kuflum þeir voru fridír síonum en þrutnir j andlite af harmi (S. 19; kahl geschoren in weißen Kapuzenmänteln. Sie waren von schönem Aussehen, aber mit geschwollenen Gesichtern vor Leid). 200 Fær, S. 57 (sehr gut gelaunt). 201 Fær, S. 62 (es schiene ihm sehr gut, dass sein Verwandter Sigmundr nun genauso lange die Vorherrschaft innehabe, wie er sie vorher gehabt hatte). 202 Vgl. North 2005, S. 65. 203 Fær c. 26, S. 63–64 u. S. 65–66; erneut in c. 35, S. 81–82. 204 Harlan-Haughey 2015, S. 359.
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verbale, oftmals sehr verdeckte Spitzen zu setzen.205 Er zeigt sich damit als Meister der Rhetorik, wiegt seine Gegner wenn nötig in Sicherheit und unterwirft sich verbal zum Schein, behält sich aber trotzdem möglichst große Freiräume zurück bzw. verhält sich entgegengesetzt zum rhetorisch erweckten Anschein. Seine Redeweise deckt sich insofern sehr genau mit der Erzähltechnik der Færeyinga saga, wie sie die Haleyri-Szene illustriert: Suggestive, irreführende und doppelbödige Redeweise zeichnen sowohl die Erzählstimme der Saga als auch die von ihr entworfene Hauptfigur aus. Hafgrímrs Reaktion und der dadurch zuwegegebrachte Tod aller färöischen Machthaber jedenfalls ist es, was Þrándr in die Position des Alleinherrschers befördert. Er braucht dazu kaum aktiv einzugreifen, sondern kann die günstige Situation des Machtkampfs zwischen beiden Parteien ausnutzen. Da es über Hafgrímr heißt, [hann var] ekki kalladr vítr madr,206 kann Þrándr wohl damit rechnen, dass er früher oder später um seine Unterstützung bitten würde.207 Brestirs und Beinirs Söhne, die Jungen Sigmundr und Þórir, sind jedoch noch ein Risiko für die Entfaltung von Þrándrs Macht. Also muss er sie beseitigen und will sie töten, doch sein Onkel Bjarni stellt sich dem entgegen, obwohl Þrándr eindringlich warnt: [Þ]eir verda banar þeirra manna flestra er her eru ef þeir ganga undan.208 Als Bjarni allerdings dennoch standhaft bleibt, gibt Þrándr vor, nur im Scherz gesprochen zu haben und den Jungen durch ihre Aufnahme bei sich Buße tun zu wollen. Jedoch verkauft er sie bei nächstbester Gelegenheit in die Sklaverei an einen norwegischen Händler, indem er diesen besticht: [E]ig her íȷ ́ merkr silfurs er ek uil gefa þer til at þu flytir þa j brott med þer sua at alldri koma þeir sidan til Færeyia hellir nu silfrínu j kne honum styrimannínum telr nu ok tiar firir honum litzst Rafnni fagurt silfrit.209 Der Händler nimmt die Jungen mit und Þrándr eignet sich die Herrschaft auf den Färöern an: red nu Þrandr einn ὀllu j Færeyium ok treystizst æínge honum þa j moti at mæla.210 Damit ist Þrándrs Aufstieg abgeschlossen und vorerst der Höhepunkt seiner alleinigen, nahezu unbegrenzten Macht auf den Färöern erreicht. Als sein Ziehsohn Ǫzurr Hafgrímsson erwachsen ist, teilt Þrándr zwar vorgeblich die Macht mit ihm und über-
205 Vgl. hierzu auch Kap. 3.6.2. 206 Fær, S. 8 (man nannte ihn keinen weisen Mann). 207 Sein Kommentar skil ek ok at þer er sua hattat at þu uilldir adra menn hafa j radum med þer en timir ekki til at uinna at þu faír *nokkura fram kuæmd (Fær, S. 12: ›Ich entnehme dem auch, dass es für dich so steht, dass du andere Männer zu Rate ziehen wolltest, aber es nicht über dich bringst, es dich etwas kosten zu lassen, dass du etwas herausbekommst‹) zeigt jedenfalls an, dass er sehr wohl über Hafgrímrs Schritte und die Situation informiert ist. 208 Fær, S. 16 (›Sie werden den meisten der Männer hier den Tod bringen, wenn sie entkommen‹). 209 Fær, S. 19–20 (›Nimm hier zwei Mark Silber, die ich dir dafür geben will, dass du sie mit dir fortnimmst, sodass sie nie mehr auf die Färöer kommen.‹ Er schüttet das Silber nun dem Schiffsherrn aufs Knie; er zählt es nun und zeigt es vor ihm. Hrafn scheint das Silber schön). 210 Fær, S. 21 (Þrándr herrschte nun allein auf den Färöern und niemand wagte da, ihm zu widersprechen).
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lässt ihm das Erbe seines Vaters Hafgrímr. Doch scheint ihm ein Teil dieser Besitzungen, wie oben geschildert, als Entlohnung für seine Erziehung ohnehin als Eigenbesitz zuzufallen. Zudem herrscht er nach wie vor allein, þuiat þeir Ozsorr voru æigi iafn slægir.211
3.4.2 Ódæll ok illgjarn við alþýðu, blíðmæltr við hina meiri menn. Þrándrs Langzeitstrategie im Konflikt mit Sigmundrs Vorherrschaft Die Dinge verkomplizieren sich für Þrándr erst wieder, als Sigmundr tatsächlich zurückkehrt. Dieser kann Þrándr aufgrund eines Unwetters vor Austrey selbst nicht angreifen,212 obwohl das sein eigentliches Vorhaben war, greift stattdessen Ǫzurr an und tötet ihn. Damit dürfte er unwissentlich Þrándrs Kalkül erfüllen, der seinem Ziehsohn die alten Ländereien von Sigmundrs Vater überlassen hatte.213 Als ein Vergleich arrangiert werden soll, versucht Þrándr, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen und Sigmundr zu schmeicheln, indem er meint, at hann var vsæmilígr aþeim funde er fadir þinn var drepínn S(igmundr) frænde sagde Þrandr uil ek unna þer þeirra sętta er þer væri mest sęmd at ok þv mættir bezst vid vna uill ek at þu georir okkar j millum allar sættir.214 Hintergrund dieses Angebots dürfte allerdings sein, dass Þrándr ein Selbsturteil Sigmundrs formalrechtlich für ungültig erklären könnte.215 Sigmundr lässt sich jedoch nicht auf Þrándrs schmeichelndes Angebot ein, sondern überbringt den Fall seinem Herrn Jarl Hákon in Norwegen. Aus Þrándrs Perspektive kommt dies einer potenziellen Katastrophe gleich: Sein Herrschaftsprinzip funktio-
211 Fær, S. 47 (denn er und Ǫzurr waren nicht gleich durchtrieben). 212 Zur Frage inwiefern Þrándr selbst hierfür verantwortlich sein könnte vgl. Kap. 3.6.3. 213 Vgl. North 2005, S. 63, siehe Fær, S. 47: Þrandr sagde ok Ozsure at honum þiki þat makligazst at hann taki fe þau ỏll lỏnd ok lausa fe er þeir brædr hofdu att ok hafui þat j fỏdur bætr (Þrándr sagte Ǫzurr auch, dass es ihm am passendsten scheine, dass er den Besitz, all die Lande und das lose Gut, das die Brüder besessen hatten, nehmen und es als Vaterbuße haben sollte). Allerdings hat Þrándr sich explizit diesen Teil der Inseln zuvor til ualldz ok stíornar (für Herrschaft und Verwaltung) selbst zugeteilt. Auch in diesem Fall zeigt sich Þrándrs »doublespeak« (Harlan-Haughey 2015, S. 359), insbesondere, sollte er mit einem Rache-Angriff auf die Ländereien seiner alten Konkurrenten gerechnet haben. Selbst ohne diese Absicherung wirkt Þrándrs Rede von einer ›Vaterbuße‹ aber höhnisch, indem er einerseits Ländereien verteilt, die er herrschaftsrechtlich kontrolliert, und damit andererseits erneut sein eigenes Einkommen erhöht, das ihm aufgrund der ewigen Schuld von Ǫzurrs Familie zukommt. 214 Fær, S. 57 (dass er unehrenhaft bei dem Zusammenstoß gewesen sei, – ›bei dem dein Vater getötet wurde, Verwandter Sigmundr‹, sagte Þrándr. ›Ich will dir den Ausgleich zugestehen, an dem du die meiste Ehre gewinnen und den größten Gefallen finden wirst: Ich möchte, dass du den ganzen Ausgleich zwischen uns schaffst‹). 215 Vgl. North 2005, S. 64. Nach den Gulaþingslǫg § 119 muss nicht taxiertes Erbe binnen fünf Jahren nach der Volljährigkeit, maximal bis zum Alter von 20 Jahren, von einem Erbberechtigten in gewünschter Höhe eingefordert werden. Sigmundr mit seinen zu diesem Zeitpunkt 22 Jahren wäre somit zu alt, um seine Ansprüche auf dieser Grundlage durchsetzen zu können.
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niert lediglich, solange die Verbindung zwischen den Färöern und der norwegischen Oberherrschaft schwach ist, selbst wenn sein Einfluss durch den Landbesitz faktisch stark bleibt. Tatsächlich teilt Hákon Sigmundr durch die Verurteilung Þrándrs zur Bezahlung vierfachen Wergeldes monetäre Ressourcen zu, die dieser nutzen könnte, um Þrándrs Landakquise entgegen zu wirken. Er ordnet zudem eine Neuverteilung des (nominellen) Landbesitzes an: [E]n þann fiordung er þu att j manna foręde j Færeyíum. þar skal af taka huornn tueggia hlut Þrandar ok arfua Ozsorar sua at þín eígnn skal nu uera helmingr eyianna […].216 Die andere Hälfte der Inseln teilt Hákon sich selbst zu und übergibt sie Sigmundr als Lehen: Damit besitzt Sigmundr die ehemaligen Ländereien seines Vaters und Onkels, während Hákon die nominelle Herrschaft über den Teil der Inseln innehat, der den Großteil von Þrándrs Besitzungen enthält. Damit könnten Þrándrs Intentionen vollständig zunichte gemacht sein.217 Auch dies ist der Grund, wieso er so lange warten muss, um gegen Sigmundr zurückzuschlagen, und weshalb die Durchsetzung des Zahlungsaufschubs gegen Sigmundr so bedeutsam ist. Sigmundr wäre in der Lage, mit seinen eigenen Ressourcen Þrándrs Herrschaftsmethode lahmzulegen, während dieser seine nominellen Rechte eingebüßt hat. Damit scheitert Sigmundr allerdings allem Anschein nach.218 Indessen bleibt Hákons Autorität über Þrándrs Länderein nur nominell und wird nicht faktisch durchgesetzt: Sigmundr erhält gerade nicht Þrándrs angestammtes, eigentliches Machtzentrum als Eigen, sondern nur denjenigen Teil der Inseln, auf den Þrándrs Einfluss ausgreift. Somit wird Þrándrs faktische Machtposition nicht effektiv bekämpft, während er sich gleichzeitig nicht gegen den nominellen Herrschaftsverlust zur Wehr setzen kann, solange Sigmundr in enger Verbindung zu seinem norwegischen Lehnsherrn steht. Seine erneute Vorherrschaft ist erst in dem Moment möglich, in dem sich die Herrschaft der Jarle Sveinn und Eiríkr Hákonarsynir als verhältnismäßig schwach erweist. Þrándrs Geld kann in der Zwischenzeit allerdings für ihn arbeiten und seine faktische Macht vergrößern. Er nimmt Ǫzurrs Sohn Leifr bei sich auf und wagt bald sogar, von Sigmundr Geld in Form einer Bußzahlung an Leifr zurückzufordern. Wenn Leifr das Geld von Sigmundr erhielte, wäre Þrándrs ewigwährende Tributzahlung von dessen Besitzungen entsprechend größer und zudem Hákons Schiedsspruch de facto ad absurdum geführt. Damit würde deutlich, dass Hákons nominelle Macht gegen Þrándr faktische Herrschaft auf den Inseln wirkungslos bliebe. Solange Hákon aber an der Macht ist und Sigmundr jedes Jahr seinen Hof besucht, wodurch die Verbindung zwischen den Färöern und Norwegen
216 Fær, S. 60 (›Aber zu dem Viertel, dass du als Thingherrschaft auf den Färöern hast, soll je von dem Teil Þrándrs und dem Erbe Ǫzurrs etwas hinzukommen, sodass dein Eigen nun die Hälfte der Inseln sein soll […]‹). 217 Vgl. hierzu insgesamt North 2005, S. 64–65. 218 Vgl. näher Kap. 4.3.3.
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sehr eng ist, muss Þrándr sich zumindest vorgeblich beugen.219 Sigmundr setzt Gewaltandrohungen, um zu seinem Recht zu kommen, gegen Þrándr während seiner Herrschaft ebenso bereitwillig ein, wie er auf die letztlich von seinem Gegner abhängigen öffentlichen Bitten der anderen Färinger hört.220 Þrándr inszeniert sich auf dieser Grundlage öffentlich als friedliebender, ausgleichsbemühter Mensch. Zudem gibt er sich als um Konsensherrschaft im Sinne eines sozialen Prinzips bemüht, wenn er mehrfach auf das Urteil der bezstu menn […] her j eyíunum vertrauen will.221 Hinter diesen Selbstinszenierungen stehen allerdings eine jeweils gänzlich andere Agenda und Siegeswissheit, nicht zuletzt ob seiner Pachtherrschaft. Die soziale Umgebung hat für Þrándr keinerlei eigenwertige Bedeutung, er bedient sich ihrer lediglich, insofern es opportun zur Durchsetzung seiner Ziele erscheint. Doch die Maxime seines Handelns ist reine Selbstsucht. Þrándr beweist sich damit als überragender Langzeitstratege: Nominell hat er jeden Einfluss auf den Inseln wieder verloren, hintergründig baut er ihn aber kontinuierlich weiter aus. Unmissverständlich zeigt seine Auseinandersetzung mit Sigmundr allerdings, dass er sich selbst als die einzige Herrschaftsinstanz auf den Färöern betrachtet, die Dinge dort selbst bestimmen will und jede Interferenz von Seiten der norwegischen Oberherrschaft grundsätzlich ablehnt, weil sie seinem eigenen Machtanspruch zuwiderläuft. Daher setzt er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Stiche gegen Sigmundr und seine Autorität – wenn er die Färinger gegen Sigmundrs Mission aufhetzt ebenso wie in dem wiederholten Fall, dass er nach Norwegen zitiert wird, und dort aus (vermeintlich) unverschuldeten Gründen nicht erscheinen kann.222 Þrándrs Machtpolitik zeigt sich jedoch als stets strenge Realpolitik: Er nimmt Gegebenheiten vorderhand klaglos als solche hin und kann in dieser Zeit nur hauptsächlich beobachten und in kurzen Momenten seine Aufsässigkeit gegen die fremde Autorität zu spüren geben. Selbst in diesen behält er allerdings stets Maß, da er die jedenfalls kurzzeitig negativen Folgen seines Nichterscheinens in Norwegen ohne weiteres akzeptiert. Er weiß, wie weit er gehen kann und wie viel ostentative Unterwerfung notwendig ist, um langfristig doch die Oberhand zu behalten.
219 Seine unverschämte Forderung nach mehr Geld erfolgt entsprechend erst nach dem Tod Óláfr Tryggvasons, zur Zeit der eher legeren Herrschaft von Hákons Söhnen. 220 Vgl. hierzu Kap. 4.3.3. 221 Fær, S. 81 (besten Männer hier auf den Inseln). Bereits als Sigmundr die von Hákon festgesetzte Bußzahlung verlangt, ergeht auf Bitten der Umgebung zunächst die Ausdehnung auf drei Jahre und schließlich das Unterbleiben der dritten Rate (Fær c. 25, S. 61–62 u. c. 26, S. 65–66), ebenso wie Þrándr eine vorgeblich allgemeine Entscheidung über die Konversion verlangt (Fær c. 30, S. 74). Auch nach Sigmundrs Tod ergeht Þrándrs Ausgleichsangebot an seine Familie unter der Berufung auf ein Urteil durch die »besten Männer« der Inseln (Fær c. 39, S. 87). Zur Tatsache, dass diese »besten Männer« wohl allesamt eigene Pächter sind, vgl. bereits Kap. 3.3. 222 So in Fær c. 24, S. 58–59; wiederholt in Fær c. 31, S. 76–77. Ähnliches wiederholt sich unter der Herrschaft von Óláfr dem Heiligen (Fær c. 43, S. 90), wobei er allerdings den öffentlichen Aussagen nach krank ist. Vgl. näher Kap. 3.4.4 u. Kap. 3.6.
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3.4.3 ›Þar er vér eigum meir en helming við þik‹. Die Ausschaltung von Sigmundr, der Weg zurück an die Macht und ihre Sicherung Erst als nach dem Tod Óláfr Tryggvasons der norwegische Einfluss in Þrándrs färöischem Mikrokosmos wieder gering ist, kann er sich Sigmundr wieder offensiver widersetzen. Es heißt, unter den Jarlen Sveinn und Eiríkr, den Nachfolgern von Óláfr und Söhnen seines Vorgängers Hákon, sei lydrinn […] miog sealfradr,223 sodass effektiv huer lifde sem villde.224 Es ist diese schwache Herrschaft, die von Norwegen ausgeht, die Þrándrs Herrschaftsaspirationen befeuert – oder gar überhaupt erst wieder möglich macht, kann er seine Macht doch nur durchsetzen, wenn die norwegische Kontrolle über die Inseln geschwächt ist. In dieser Situation findet sich Þrándr allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass seine Ziehsöhne, die eigenen Neffen sowie Leifr Ǫzurarson, alt genug sind, um eine Beteiligung an Herrschaft und Landbesitz einfordern zu können. Þrándrs Rolle muss sich also erneut ändern: Wie in seiner Jugend muss er erneut die Initiative ergreifen und kann sich nicht mehr auf langfristig angelegte Reaktion beschränken. Er und seine Leute greifen Sigmundr letztendlich an. Triebkraft hinter diesen Aktionen ist zwar Þrándrs ungebrochener Herrschaftswille, doch ist der Zeitpunkt wohl vor allem der neu auf den Plan tretenden Generation und deren eigenem Willen zur Herrschaftsbeteiligung geschuldet.225 In gewisser Weise ist also auch dieses Handeln lediglich Reaktion auf äußere Umstände: Schwacher norwegischer Einfluss und das Aufkommen neuer Beteiligter im Spiel der Kräfte.226 In dieser Situation entscheidet sich Þrándr zum zweiten Mal seit der Christianisierung dazu, Sigmundr das volle Ausmaß seiner faktischen Machtposition vor Augen zu führen: Er erhöht seine finanziellen Forderungen an seinen Gegner227 und kommentiert zynisch und unverholen drohend: [M]a ok vera at þeir frændr minir er upp uaxa med þikir þu lítill iafnnadr madr er þu uill ekki midla riki vit þa. þar er ver æígum meírr en helming vid þig.228 Dieser »Besitz von mehr als der Hälfte« dürfte als offener Hinweis auf Þrándrs weitreichende Ländereien zu verstehen sein. Doch damit nicht genug, denn ehe es zu tätlichen Auseinandersetzungen kommt, warnt Þrándr Sigmundr ganz offen: [M]attu ok vid þui vm buazst at menn munu eigi vna suo skordum hlut vid þig.229 Sigmundr schlägt diese Drohungen aus, doch Þrándr macht 223 Fær, S. 89 (das Volk […] sehr selbstbestimmt). 224 Fær, S. 81 (jeder so lebte, wie er wollte). 225 Vgl. auch Kap. 5.3.1. 226 Hinzu mag eine persönliche Verbitterung ob der öffentlichen Entehrung durch seine Zwangsbekehrung treten, siehe Kap. 3.6.1. 227 Vgl. North 2005, S. 68. Siehe hierzu auch Kap. 6.3. 228 Fær, S. 82 (›Es mag auch sein, dass meine Verwandten, die bei mir aufwachsen, glauben, dass du kein sehr gerechter Mensch bist, da du die Herrschaft nicht mit ihnen teilen willst, da wir mehr als die Hälfte dir gegenüber besitzen‹). 229 Fær, S. 82 (›Du kannst dich auch darauf vorbereiten, dass die Leute mit solchem Unrecht an dir keinen Gefallen finden werden‹).
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sie bald darauf wahr. Beim dritten Versuch ist Þrándrs Gruppe schließlich erfolgreich und kann Sigmundr auf seinem Hof überraschen. Dieser muss angesichts der Übermacht und dem unerhörten Angriff mit Feuer auf den Hof fliehen,230 springt letztlich verfolgt von den Angreifern ins Meer und findet seinen Tod von Händen Þorgrímr illis in Sandvík. Nach seiner Beseitigung kann Þrándr erneut die Macht an sich reißen – allerdings beteiligt er hierbei seinen Ziehsohn Leifr an der Herrschaft: Þrandr ok L(eifr) Ozsurar son toku nu undir síg allar Færeyiar ok hofdu valld yfir.231 Der geschädigten Familie Sigmundrs bietet Þrándr einen Ausgleich an, den diese aber ausschlägt. Zwar sind Sigmundrs Söhne zu jung, um bei den norwegischen Herrschern um Unterstützung vorstellig werden zu können,232 doch ist die Gesamtsituation angespannt genug, um gefährlich für Þrándrs Herrschaft zu werden. Die Sigmundssöhne wären in dieser Situation, da sie den Tod ihres Vaters Þrándr anrechnen, in einer Position, Rache an ihm zu nehmen. Deshalb bemüht sich Þrándr offensiv um einen Ausgleich, indem er Leifr mit Þóra Sigmundardóttir verheiratet und den Tod seines Konkurrenten aufklärt. Durch dieses Bündnis mit der Familie
230 Die Verbrennung eines Hofes, um alle innen befindlichen Personen zu töten, ist in der Sagaliteratur deutlich als verwerflich markiert und kommt im Grunde nur als Ultima ratio eines Konflikts in Frage, der anders nicht mehr lösbar ist. Deutlich wird dies insbesondere in der berühmtesten brenna der Sagas, der Njálsbrenna. Bereits als Njáll vorschlägt, sich im Haus zu verschanzen und dabei auf den letzten Kampf Gunnarrs von Hlíðarendi verweist, mahnt sein Sohn Skarpheðinn, Gunnarr sei von Männern angegriffen worden, die eher unverrichteter Dinge abgezogen wären, als ihn zu verbrennen. Solche Männer seien die herannahenden Gegner allerdings keineswegs. Da Njálls Leute das Haus zunächst erfolgreich verteidigen können, entscheidet sich der Angreifer Flosi tatsächlich zur berühmten brenna, kommentiert aber ausführlich: ›Eru nú tveir kostir, ok er hvargi góðr: sá annarr at hverfa frá, ok er þat várr bani, en hinn annarr at bera eld ok brenna þá inni, ok er þat þó stór ábyrgð fyrir guði, er vér erum kristnir sjálfir (Nj, S. 328; »›[…] Es gibt zwei Möglichkeiten, und keine von beiden ist gut. Die eine ist, abzuziehen, und das ist gleichbedeutend mit unserem Tod – die andere, Feuer an das Gehöft zu legen und sie drinnen zu verbrennen; das aber ist eine große Verantwortung gegenüber Gott, da wir selbst Christen sind. […]‹«; Heller [Übers. u. hrsg.] 1982, S. 265). Frauen, Kinder und Gesinde dürfen den bald brennenden Hof verlassen und auch dem alten Njáll bietet Flosi an, in Frieden herauszukommen. Nach vollendetem Untergang des Hofes kommentiert erneut Flosi selbst: ›Bæði munu menn þetta kalla stórvirki ok illvirki.‹ (Nj, S. 334; »›Die Leute werden es eine große und eine schlimme Tat nennen […]‹«; Heller [Übers. u. hrsg.] 1982, S. 270). Zur Bewertung der hier sichtbar werdenden Ansicht der brenna durch die Forschung vgl. Bennett 2007, zu den brennur als literarischem Motiv einschließlich Beispielen vgl. auch Tirosh 2017. Dass Þrándr unmittelbar zu diesem drastischen Mittel greift und diese Vorgehensweise nicht einmal besonders kommentiert, sondern lediglich faktisch-nüchtern geschildert wird, zeigt einerseits seine Skrupellosigkeit und mangelnde Integrität, macht aber andererseits deutlich, dass das färöische Setting der Saga in ihrem isländischen Kontext offenbar freieren Umgang mit per se problematischen Inhalten ermöglicht, vgl. hierzu auch Kap. 2.3.3 u. Kap. 9.2.3; Schmidt 2020. 231 Fær, S. 86 (Þrándr und Leifr Ǫzurarson unterwarfen sich nun alle Färöer und hatten die Gewalt darüber). 232 Fær, S. 87: [U]ard ok ekki af þui. at synir S(igmundar) læitade traustz vid Noregs hὀfdíngia er þeir voru ungir at alldri (Es wurde auch nichts daraus, dass die Söhne Sigmundrs Unterstützung bei den Herrschern von Norwegen suchten, denn sie waren von jungem Alter).
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seines verstorbenen Gegners sichert er seine Macht ab. Eine Heiratsallianz verstärkt die Verwandtschaftsbindung zwischen Þrándr und der Familie seines Ziehsohns, und stellt an Sigmundrs Erben die moralische Anforderung, keine Blutrache zu führen.233 Dahinter steht, wie bereits ausgeführt, wohl auch ein Herrschaftssicherungsplan nach im Grunde dynastischem Prinzip sowie die erneute Vermehrung des eigenen Besitzes. Für den Moment also scheint Þrándrs Position gefestigt und sicher. Er und Leifr sind in der Folgezeit nie in einen persönlichen Konflikt verwickelt, Leifrs Gegner sind später nur Þrándrs Neffen.234 Selbst wenn sich Þrándrs dynastische Erbfolgepläne nicht erhärten lassen können, zeigt er mit dieser Heiratspolitik, dass er mittlerweile wie ein König der Färöer auftreten kann: Eine solche Politik der Schmiedung politischer Allianzen mittels Hochzeiten zeugt von einem aristokratischen Selbst- und Herrschaftsverständnis. Ironischerweise wird die solchermaßen von ihm arrangierte Heirat Þrándr und seinen Intentionen aber letztlich zum Verhängnis. Mit Hilfe der Voraussicht und Aktivität der Frauen aus Leifrs neuer Familie ist dieser letztlich in der Lage, den Streit der beiden Familienzweige zu seinen Gunsten zu entscheiden, da er überraschenderweise seine politische und familiäre Zugehörigkeit wechselt.235
3.4.4 ›En skattr sá, er þeir hafa mér heitit, þá kemr ekki fram.‹ Der Eingriff Óláfrs des Heiligen und The Man Who Would Be King Wie sicher Þrándrs Vorherrschaft einstweilen allerdings ist, illustriert am deutlichsten der Konflikt der Färinger mit Óláfr Haraldsson dem Heiligen. Óláfrs Politik gleicht der von Þrándr: Ihm geht es um eine finanziell gestützte Art der Herrschaft, die nicht, wie bei den norwegischen Herrschern zuvor, lediglich auf nomineller Autorität beruht. Für Óláfr definiert sich Herrschaft primär als handfeste, insbesondere finanzielle Kontrolle.236 Óláfrs Schiffe, die die von ihm erhobenen Steuern nach Nor-
233 Auf die moralische Integrität, die in Sigmundrs Familie von großer Bedeutung ist, scheint Þrándr hier zu spekulieren, wenn er durch die Verheiratung seines Ziehsohns die impliziten Verwandtschaftsbeziehungen stärkt. Zudem sorgt die Übernahme einer Ziehvaterschaft in den Sagas häufig für die Etablierung eines »bond running as deep as, if not deeper than, that between parent and child«, das auch rechtlich anerkannt wird (Miller 1990, S. 171). Wenn Þrándr hier also die Werbung für seinen langjährigen Ziehsohn vorträgt, so kann dieser effektiv als einem leiblichen Sohn gleichwertig betrachtet werden. Er ist durch diese Verbindung nicht mehr allein Sigmundrs Familie verschwägert, sondern gleichsam der eng verbundene ›Vater‹ von deren Familienoberhaupt. 234 Fær c. 58, S. 135. Wie Miller 1990, S. 171–173 herausarbeitet, ist die »fictive kinship« der Ziehvaterschaftsbindung nicht selten gleichwertig mit faktischer Blutsverwandtschaft. Sie zieht die gleichen Verpfichtungen nach sich, zum Teil sogar soweit, dass ein Konflikt des Ziehkindes zwischen den Loyalitäten zu Bluts- und Ziehverwandtschaft entsteht, der sogar blutige Folgen nach sich ziehen kann. Vgl. hierzu auch Kap. 6.4.1. 235 Siehe hierzu näher Kap. 6 u. Kap. 7.3.3. 236 Vgl. North 2005, S. 69. Vgl. auch Kap. 7.4.4.
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wegen bringen sollen, verschwinden allerdings regelmäßig. Inwiefern dies auf Þrándrs Tun zurückzuführen ist, wie verschiedentlich überlegt wurde,237 bleibt ungeklärt. Óláfr jedenfalls verdächtigt seinen Neffen Sigurðr Þorláksson.238 Ob dieser Verdacht den Tatsachen entspricht, wird ebenfalls nicht aufgeklärt. Wenn aber Þrándr die tatsächliche Triebkraft hinter diesen Angelegenheiten wäre, käme ihm eine Ablenkung des Verdachts auf seinen Neffen nicht ungelegen. Jedenfalls treibt er Sigurðr, Þórðr und Gautr zu einer Reise nach Norwegen, während derer Þorálfr Sigmundarson, der beim König über den Verbleib der Tributschiffe Rechenschaft ablegen soll, unter mysteriösen, ebenfalls nie tatsächlich aufgeklärten Umständen ermordet wird. Die Erzähltechnik der Saga erweist sich dabei als auf die gleiche Art angelegt wie in der Haleyri-Szene.239 Daraufhin werden Þrándrs Neffen vom König bezichtigt und müssen fliehen. Zurück auf den Färöern kommt es wegen der missglückten Reise zu Spannungen zwischen Þrándr und seinen Brudersöhnen: [L]ét Þrandr illa ifir ferð þeira. þeir sv(oruðu) eigi vel. oc voro þo heima með Þrandi.240 Schon als sie von ihm aufgehetzt werden, nicht weiter untätig zu sein, reagiert Sigurðr heftig, quaz eigi þola fryio Þrandar.241 Und auch, als die drei Verwandten aus Norwegen fliehen, meint Sigurðr verächtlich: [F]ari Þrandr anat sumar með ull sina ef hann vill selia láta.242 Heftig wird der Streit, als Óláfrs Gesandter Karl auf den Färöern eintrifft, und Þrándr sich augenblicklich kooperationsbereit mit ihm zeigt: Wie bereits angesprochen, begegnet er dem Königsgesandten überschwänglich schmeichlerisch. Er bittet ihn auch, sich für die Dauer seines Aufenthalts bei ihm aufzuhalten. Karl lehnt allerdings ab, da er bereits bei Leifr ein Gastquartier erhalten hat. Daraufhin bietet Þrándr an, andere Aufgaben zu übernehmen, die scyllt oc hemilt […] at ør̨ ende konungs und für Karl hilfreich seien.243 Daraufhin bittet ihn dieser, in seinem Auftrag einen Teil der Steuern einzutreiben. Þrándr willigt ohne zu zögern ein. Allerdings kann er auf dem nächsten Þing aufgrund einer plötzlichen Krankheit seine Bude nicht verlassen.244 Leifr und Karl müssen deswegen in die abgedunkelte Bude 237 Vgl. Foote 1984c, S. 178–179. Vgl. auch Ólafur Halldórsson 2001, S. 73–74; North 2005, S. 69. 238 Fær, S. 100–101: [Þ]eir mundi eigi vilia at Þorálfr segði eptir þeim odáðir þær | er hann mani vitat hafa at satt er. en os hefir verit grunr á um morð þꜹ oc illvirki at sendi men mínir hafi þar verit myrðir (›Sie wollten nicht, dass Þórálfr von den Untaten erzähle, von denen er gewusst haben wird, dass sie wahr sind. Wir aber hatten einen Verdacht hinsichtlich dieser Morde und der Übeltat, dass meine Sendboten dort ermordet wurden‹). 239 Vgl. Kap. 5.3; zur Korrespondenz dieser Szene mit der in Haleyri vgl. auch Kap. 8. 240 Fær, S. 106 (Þrándr gefiel ihre Fahrt schlecht. Sie antworteten nicht gut. Und waren dennoch zu Hause bei Þrándr). 241 Fær, S. 97 (Er sagte, er ertrage Þrándrs Vorwürfe nicht). 242 Fær, S. 105 (›Soll Þrándr in einem anderen Sommer mit seiner Wolle fahren, wenn er sie verkaufen lassen will!‹). 243 Fær, S. 1114 (zur Pflicht gehörig und rechtmäßig im Auftrag des Königs). 244 Es heißt, Þrándr fecc […] vanheilso. hafþi ꜹǵ na þunga. oc þo en kramar aðrar (Fær, S. 115; bekam […] ein Leiden. Er hatte ein schweres Augenleiden, und doch auch noch andere Krankheiten). Deshalb lässt er seine Þingbude abdunkeln, indem er sie mit schwarzen Stoffbahnen ausklei-
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eintreten, um die Steuern von ihm abzuholen.245 Ihnen erscheint das Geld dabei aber zweimal nicht gut genug. Þrándr schiebt die Schuld dafür auf zugleich anklagende und schützende Weise seinen Verwandten zu. Er selbst habe sich aufgrund seiner Krankheiten nicht um die Steuereintreibung kümmern können und sie deshalb ausgeschickt: ec hefi sent þa i vár at heimta scatt norðr i eyiar er ec var at engo før i vár en þeir hafa tekit mútur af bǫndum.246 Daraufhin machen Þórðr und Gautr ihrem Onkel heftige Vorwürfe: Satt er hit fornqueþna. Sva ergiz hver sem eldiz. sva er þer oc Þrandr. lætr Karl hin *mørsca reka fe fyrir þer i allan dag,247 die Þrándr in eine hitzige Wutrede verfallen lassen.248 Den dritten Geldbeutel, von dem Þrándr angibt, ihn eigenhändig entgegengenommen und besehen zu haben,249 nehmen Leifr und Karl schließlich an, und zählen ihn vor dem Zelt aus. Ein Budenmann Leifrs ruft während des Auszählens nach diesem, weil Sigurðr einen anderen seiner Budenmänner getötet hat. Nach Leifrs Aufbruch erschlagen Þórðr und Gautr Karl. Zuvor allerdings spielt sich eine rätselhafte Szene ab: [Þ]eir
det. Bereits zuvor konnte aufgrund einer Krankheit nicht gemeinsam mit den anderen färöischen Großen Óláfrs ursprünglicher Einladung an seinen Hof folgen, siehe Fær, S. 90: En Þrandr i Goto biozt til ferðar. en er hann var buin mioc þa toc hann fæli sótt þa er hann var hvergi fǫr oc dvalþiz hann eftir (Aber Þrándr auf Gasse bereitete sich auf die Fahrt vor. Aber als er in der Vorbereitung sehr weit fortgeschritten war, da bekam er eine so schwere Krankheit, dass er nirgends hinfahren konnte, und er blieb zurück). 245 Sie werden von seinen Wachleuten unter Verweis auf Þrándrs Krankheit hineingeschickt: Þrandr hafþi þan ꜹgnaverc at | hann mátti eigi út coma. oc bað hann L(eifr) at þu scyldir in ganga (Fær, S. 116; Þrándr hatte solche Augenschmerzen, dass er nicht herauskommen konnte – ›und er bat darum, Leifr, dass du hineingehen solltest‹). 246 Fær, S. 119 (›Ich habe sie im Frühling ausgeschickt, um die Steuern nördlich auf den Inseln einzutreiben, da ich zu nichts in der Lage war im Frühling, aber sie haben Bestechungsgelder von den Bauern genommen‹). 247 Fær, S. 120 (›Das alte Sprichwort hat Recht: Feige wird man im Alter. So auch bei dir, Þrándr! Karl von Møre lässt den ganzen Tag Geld vor dir verstreuen!‹). 248 Zur steigenden ›Unmännlichkeit‹ alternder Männer in der Sagaliteratur, auf die dieses Sprichwort gemünzt ist, vgl. Ármann Jakobsson 2005. Zwar handelt es sich bei der Aussage nur um ein solches, dennoch fällt damit auch ein ergi-Vorwurf, siehe hierzu auch Kap. 5.3.3. Dass die Reaktion ›nur‹ so glimpflich ausfällt, zeigt einerseits, wie wenig Þrándr sich für die Kategorie seiner ›männlichen‹ Ehre interessiert. Zwar ist er zu diesem Zeitpunkt bereits tatsächlich ein alter Mann und Gautr als sein Neffe schwesterlicherseits einer seiner nächsten Verwandten, doch führt ein ergi-Vorwurf in der Sagaliteratur in der Regel zum Totschlag am Anwender. Ein recht drastisches Beispiel zeigt dabei die Njáls saga (Nj c. 44–45, S. 111–118); vgl. hierzu Thoma 2021a; Thoma 2021b, S. 120–121 u. S. 240–256: Sigmundr Lambason wird von Hallgerðr angestiftet, Níð-Strophen auf Njáll zu verfassen, woraufhin ihm letztlich Skarpheðinn den Kopf abschlägt und ihn unter der Frage, ob dieser Kopf der Urheber des Níð sei, an Hallgerðr zurückschickt. Weder Waffengewalt noch übermäßige Reaktion auf Ehrverlust überhaupt befinden sich allerdings in Þrándrs Handlungsrepertoire. Andererseits lässt sich die verhältnismäßig gemäßigte Reaktion auch als versteckter Hinweis auf Þrándrs eigentliches Planspiel verstehen. 249 Fær, S. 121: [E]n þótt ec sia ósygn. þa er þo siálf hꜹnd hollust (›Doch obwohl ich undeutlich sehe, ist doch die eigene Hand am zuverlässigsten‹).
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sa man ganga hia ser oc hafþi refði i hendi oc hꜻ ́tt siþan a hofþe oc heclo grøn̨ a. berføttr knýtt línbrócum at beini. hann setti niðr | refði i vǫll oc gecc fra oc mælti. sé þu við *Møra k(arl) at þer verðr eigi mein at refþi mino.250 Diese Szene gleicht den aus den Fornaldarsögur bekannten Auftritten des Götterfürsten Óðinn, der ebenfalls mit Hut und Mantel bekleidet auftritt, ohne, dass seine Identität aufgeklärt wird.251 Der Mann wird gemeinhin als Þrándr selbst identifiziert.252 Wichtig ist hierbei seine Aufmachung: Seine Barfüßigkeit und die an die Beine geknüpfte Leinenhose sind Zeichen eines Mannes, der eben aus dem Bett aufgestanden sein dürfte.253 Der Hut dient der Verhüllung seines Gesichts,254 und könnte gleichzeitig Þrándrs schmerzende Augen vor dem Tageslicht schützen. Der dezidiert grüne Umhang dürfte als Symbol des grünen Landes der Färöer zu verstehen sein: Ólafur Halldórsson assoziiert diese seltene Farbe des Kleidungsstücks mit dem Aussehen der färöischen Basaltinseln, die sich grün und an die Form eines Mantels erinnernd aus dem Atlantik emporheben.255
250 Fær, S. 122 (Sie sahen einen Mann auf sich zu gehen, und er hatte einen Stock in den Händen und einen langen Hut auf dem Kopf und einen grünen Umhang, barfuß, mit einer Leinenhose an die Beine geknüpft. Er stieß den Stab nieder in die Erde und ging davon und sprach: ›Sieh zu, Møre-Kerl, dass dir kein Unglück von meinem Stab geschieht!‹). 251 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 471–473. Zu Þrándrs Verbindung mit heidnischen Götterfiguren vgl. Kap. 3.6.3 u. Kap. 8.3.2. 252 So Ólafur Halldórsson 1990b; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxiv; Ólafur Halldórsson 2001, S. 76–77. Vgl. auch North 2005, S. 69–70. 253 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 472–473 unter Bezug auf Falk 1919, S. 119–120; siehe hierzu auch das Glossar bei Sauckel 2014, S. 152 s. v. línbrœkr. So wird etwa König Óláfr Tryggvasons Kleidung vor dem Schlafengehen folgendermaßen beschrieben: [S]ið um kvelld er hann sat berfættr. ok knytt lín brok at beíni (ÓT c. 213 [II, S. 140]; Spät am Abend, als er barfüßig und mit an die Beine geknüpfter Leinhose dasaß). 254 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 473. 255 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 474; North 2005, S. 70. Falk 1919, S. 189 zufolge sind dezidiert grüne Umhänge mit der Bezeichnung hekla neben der Færeyinga saga nur im Norna-Gests þáttr und der Þorsteins saga Víkingssonar belegt, insofern extrem selten. Brückmann 2012, S. 37 zählt drei Belege für grüne Mäntel (mǫtull bzw. kápa) auf, offenbar in Unkenntnis der Belegstelle in der Færeyinga saga zur Verbindung der Farbe Grün mit Kleidungsmaterialien. Er hält eine allgemein positive Konnotation der Farbe und eine Semantik des Wachsens und Gedeihens fest, die insbesondere mit Pflanzenwachstum verbunden ist (S. 39–40). Eine Verbindung zu Landschaft und Natur erkennt einleitend auch Zanchi 2006, S. 1096, die anschließend aber eine weitergehende Verbindung grüner Kapuzenmäntel mit »the wearer’s air of secrecy, his anonymity or concealed identity« für die Isländersagas (Víga-Glúms saga, Reykdœla saga und Hallfreðar saga) erkennt (S. 1099). Sie vergleicht anschließend diese Belege mit der Kleidung Óðinns im Norna-Gests þáttr und der Szene in der Færeyinga saga (wobei sie fälschlich angibt, Þrándr habe Karl mit dem Stab des Mannes erschlagen!) und weiteren Belegen aus isländischen ›Folktales‹, in denen Grün mit dem Huldufólk verbunden ist. Zanchi schließt, dass sich eine Assoziation von Grün mit Elementen des ›Übernatürlichen‹ nicht aufrechterhalten lasse. Damit entspricht die Funktion der Färbung des Mantels des Mannes in der Færeyinga saga jedoch auffällig den wenigen Belegen aus den Isländersagas. Die Färbung wäre damit auch als Hinweis auf die verborgene Identität des Mannes zu sehen und würde seine Identifikation mit Þrándr zusätzlich wahrscheinlich machen. Dass Grün anderweitig vor allem mit Land verbunden scheint, bestärkt zugleich Ólafur Halldórssons und Norths Annahme.
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Das refði deutet Ólafur als »eins konar scepter«, das häufig als Attribut von Königsfiguren greifbar wird.256 Es ist ein Symbol der Macht, und zwar weniger, wie Ólafur annimmt, der eines königsfreien Bauernstandes, sondern vielmehr von Þrándrs »own claim to rule the Faroes«.257 Handelt es sich bei dem Mann also um Þrándr selbst, inszeniert er sich hier in königlicher Aufmachung.258 Symbolisch deutet er durch das königliche refði, mit dessen Hilfe schließlich der Repräsentant der fremden Königsmacht erschlagen wird,259 seinen eigenen Anspruch auf die Führungsposition auf den Färöern an, mit deren Symbol, dem grünen Umhang, er sich umgibt. Damit wird ein eindringliches Bild evoziert: Þrándr identifiziert sich, passend zu seiner Herrschaftsmethodik, mit den Färöern, mit denen er sich buchstäblich bekleidet, während die Umhüllung durch den Mantel zugleich doch ihn selbst und sein refði, das seine herrschaftliche Macht verdeutlicht, ins Zentrum stellt. Er ist das Alpha und Omega auf den Färöern, er ist im Besitz aller Deutungshoheit in diesem Raum; die Welt dort ist seine persönliche Semiosis.260 Diese Identifizierung entlarvt Þrándrs Handeln zuvor als inszeniertes Katz-undMaus-Spiel, als in Karls und Leifrs Augen gestreuten Sand. Er war keineswegs krank oder im Streit mit seinen Neffen,261 sondern arbeitet im Gegenteil mit diesen zusammen bzw. setzt sie für seine Belange gezielt als die ausführenden Hände ein. Im
256 Ólafur Halldórsson 1990b, S. 473 (eine Art Szepter). Für eine genauere Diskussion dieser Identifizierung im Vergleich mit weiteren Quellen siehe Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxvi–ccxxxvii. 257 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 474; North 2005, S. 70. 258 Vgl. auch Sauckel 2014, S. 17–18 (mit diversen Beispielen bis S. 25), derzufolge Kleidung allgemein vor allem auf Þingversammlungen zur Verdeutlichung des eigenen sozialen Status von Figuren verwendet werden kann. 259 Fær, S. 123: Gꜹt́ r rꜹð́ i liop at oc hió með handeyxi ifir herðar monnom oc com hǫg þat i hǫfuð K(arli) oc varð sár þat ecki micit. Þorðr lági greip up refþit er stoð i vellinom oc *lystr a ofan ø̨xar hamarin. sva at ø̨xin stóð i heila (Gautr der Rote lief auf ihn zu und schlug mit der Handaxt über die Schultern der Männer, und dieser Schlag traf Karl am Kopf und die Wunde war nicht groß. Þórðr der Kleine griff den Stab, der in der Erde steckte, und schlug von oben auf den Axthammer, sodass die Axt im Hirn stecken blieb). 260 Der Zusammenhang von semiotischer Raumsemantik und Figurenhandlung wird an dieser Stelle besonders deutlich, da er von Þrándr selbst auf der Figurenebene ausagiert wird. Þrándr ist die Färöer. Er besitzt auf der Handlungsebene ihre Ländereien buchstäblich und symbolisiert auf der konzeptionellen Ebene der Narration die Semantik dieses Raumes, die in seiner Figurendarstellung manifest wird. 261 Als Hinweis in diese Richtung mag sich verstehen lassen, dass Þrándr zum Zeitpunkt seiner ursprünglichen Zitation nach Norwegen einen plötzlichen Anfall einer fæli sótt (Fær, S. 90) erleidet. Schon der Wortgebrauch kann als lexikalischer Wink gedeutet werden, siehe Bonté 2014a, S. 143 (Fn. 588): »The term fælisótt […] is often understood to mean ›sham fever‹, […] and this reading might also fit with his [Þrándr’s] supposed eye infection later in the narrative«. Eine andere Interpretation würde nahelegen, dass Þrándr sein Gesundheitsbild ähnlich anderen ›natürlichen‹ Gegebenheiten kontrollieren kann, vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 353. Eine direkte Korrelation zwischen Krankheit und Wettermagie lässt sich zwar nicht herstellen, aber sie passt durchaus ins Bild von Þrándrs gerade auf der Natur basierten Fähigkeiten, vgl. hierzu Kap. 3.6.3.
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Angesicht dieses Auftritts (bei Zutreffen der Identifikation) liegt nahe, dass tatsächlich Þrándr die gesamte Zeit über hintergründig König Óláfr entgegengearbeitet hat. Er hat die königlichen Steuern verschwinden und Þórálfr durch seine Neffen ermorden lassen, ebenso wie er den Streit mit diesen augenscheinlich nur inszeniert hat, um Karl in falscher Sicherheit zu wiegen und den Verdacht von sich abzulenken. Letztendlich ist er es, der durch sein Eingreifen, und durch das refði dinglich-konkret, Karls Tod in die Wege leitet. Leifrs Vorsicht vor dem Eintritt in die verhangene Bude seines Ziehvaters war insofern nicht unbegründet. Wie in einem narrativen Echo der Haleyri-Szene wird diese Lesart der Vorgänge durch die Erzählstimme allein mittels ihres Endpunkts, den Auftritt des unidentifizierten Mannes, eröffnet. Dessen Identität wird ebenso verschwiegen wie die des Diebes in Haleyri, und nur durch den weiteren Zusammenhang der bisherigen Figurendarstellung sowie der nachfolgenden Ereignisse wird diese Erscheinung als Þrándr selbst identifizierbar. Erneut sind es nachträglich erzählte Informationen, die das bisher Dargestellte rückwirkend in seinem Wahrheitsgehalt destabilisieren.262 Aufbau und Ablauf der Haleyri-Szene werden somit zur narrativen Ressource zum vollen Verständnis der hier entfalteten Geschehnisse, die die zuvor erzählte Vignette von Þrándrs Darstellung Punkt für Punkt wiederholt und spiegelt.263 Þrándr inszeniert
262 Dabei zeigen sich in den unterschiedlichen Textredaktionen durchaus Abweichungen. Version B der Óláfs saga helga-Handschriften (enthalten in AM 68 fol. und dem ersten Teil von AM 61 fol., dem Teil der Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, vgl. hierzu Ólafur Halldórsson 1987, S. xxxv) verändern die destabilisierte Erzählweise des Textes, indem sie eine Unterhaltung zwischen Þrándr und Sigurðr vor der Norwegenfahrt einfügen und bei der Rückkehr von Þrándrs Neffen zusätzlich angeben, dass er allein fyrir alþýðu (vor der Allgemeinheit) nichts von ihrer Fahrt gehalten habe, siehe Fær, S. 98 Anm. z. Z. 31 u. S. 106 Anm. z. Z. 93, vgl. auch Kap. 5.3.2 (Fn. 102). Damit wird ein geheimer Pakt auf Þrándrs Betreiben hin deutlicher im Text suggeriert, sodass sich die Figurenkonzeption ändert. Weitere Zusätze unterstreichen diesen Befund: Die Schmeicheleien Þrándrs gegenüber Karl werden noch überschwänglicher inszeniert, siehe Fær, S. 113 Anm. z. Z. 19 u. z. Z. 22–28. Ebenso reagiert Þrándr auf Gautrs ergi-Vorwurf in direkter Rede mit der Gegenanklage, seine Neffen seien eigi meþal mann fylor (Fær, S. 120 Anm. z. Z. 72; ›keine durchschnittlich erbärmlichen Lumpen‹ – dabei geht die Wortkomponente fýla deutlich in die ergi-Richtung und ließe auch wesentlich vulgärer mit »Fotze« übersetzen). Diese und ähnliche kleinere Eingriffe in den Text sorgen insgesamt dafür, dass Þrándrs Schachspiel noch perfekter, zugleich aber noch abgründiger erscheint. Seine Untaten und Negativität werden dadurch stärker pointiert: Er ist ein widerwärtiger Schurke und wird deutlicher zum intriganten und verurteilenswerten Verbrecher, der sich gegen den rechtmäßigen, königlichen Willen stellt. Diesen Antagonisten gilt es aus der Diskursperspektive der texttragenden Óláfs saga dieser Redaktion so deutlich wie möglich zu diskreditieren. Damit entfernt sich der Text stärker von der destabilisierten Narartion, die die meisten anderen Redaktionen (insbesondere die der oben untersuchten Flateyjarbók) auszeichnet. Dennoch wird auch hier die charakteristische Rätselhaftigkeit der Szene nicht eindeutig aufgelöst, indem etwa erklärt würde, wer der Mann mit dem refði ist. Ólafur Halldórsson 1987, S. lxiii hält allerdings schon die Gewichtsverschiebung der Darstellung für einen groben Verstoß gegen die sonstige Erzählweise und entsprechend für nicht ursprünglich. Unabhängig von dieser Frage bleibt jedoch die Andersartigkeit der Inszenierung als textlicher Fakt bestehen. 263 Hinsichtlich der Textüberlieferung ergibt sich damit ein uneindeutiger Befund. Da die HaleyriSzene einzig in der Redaktion der Færeyinga saga in der Flateyjarbók überliefert ist, ergibt sich nur
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sich hier erstmals öffentlich, wenn auch in Verkleidung, als eigentliche Herrschermacht auf den Färöern. Noch wagt er allerdings nicht, gänzlich offen als solche aufzutreten. Dies geschieht erst, als sein Plan zur Fülle aufgegangen ist, denn Þrándrs Inszenierung findet nach dem Totschlag an Karl noch nicht ihr Ende. In Folge der Tat werden Sigurðr, Þórðr und Gautr auf Betreiben Leifrs und seines Cousins Gilli geächtet, obwohl Þrándr trotz seines öffentlich bekundeten Missfallens über die Tat Geldbußen anbietet.264 Þrándr stattet seine Verwandten daraufhin mit einem Schiff aus, sodass sie das Land verlassen können. Sie scheiden im Streit:265
in dieser Handschrift die strukturelle Rahmung der Erzählung durch beide destabilisierte Szenen und eine konsistente narrative Darstellung Þrándrs, siehe auch Kap. 8.4. Während er in den abweichenden Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar u. a. durch die Auslassung der Haleyri-Szene als Antagonist der Erzählung dargestellt wird (vgl. oben sowie Kap. 4 u. Kap. 7.4.3), unterlässt die Óláfs saga helga eine Auflösung der Ereigniskette fast vollständig. Dass es sich bei dem Mann mit dem refði um Þrándr handeln muss, wird am deutlichsten durch den Abschluss der Vorgänge, der nur in der Flateyjarbók-Redaktion als c. 49 nach Ólafur Halldórssons Zählung angeschlossen ist. Insgesamt bleibt so die Erzählung von Karls Gesandtschaft als Teil der Óláfs saga helga recht rätselhaft. Insofern scheint es durchaus schlüssig, anzunehmen, »daß Snorris Urteil über den skrupellosen Königsfeind Þrándr milder ausfällt als jenes des geistlichen Kompilators der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta« (Glauser 1994, S. 115). Zugleich berechtigt die unterbliebene Auflösung der Ereignisse die Annahme, der Textproduzent der Óláfs saga helga habe eine originale Saga verwendet und deren Details als bekannt vorausgesetzt: Andernfalls bliebe die Szene unverständlich. Eindeutig zeigt sich hier lediglich, dass die Fahrt Karls nicht mit rechten Dingen abgelaufen sein kann, was der Auftritt des Mannes mit dem refði klarmacht – wer allerdings dahintersteckt, bleibt völlig im Verborgenen. Im Kontext der Óláfs saga helga verdeutlicht die Textpartie so insbesondere das Scheitern des norwegischen Königs beim Ausgriff auf die atlantischen Kolonien im Parallelverlauf zu Island (vgl. hierzu auch Kap. 7.4.4): Óláfr ist ein guter König des norwegischen Reiches, sollte seine Herrschaft aber auf diese Länder beschränken. Dieses nordatlantische Scheitern Óláfrs ereignet sich zudem kurz vor seiner Vertreibung aus Norwegen, bereitet diese narrativ also vor. Die Erzählstrategie dieses Abschnitts zeigt sich jedoch als umso kunstfertiger, und es wurde angenommen, ihr angenommener Autor Snorri habe sie »modellbildend für die jüng[ere] Sagapropsa adaptiert« (Glauser 1994, S. 116; siehe auch Bjarni Aðalbjarnarson 1945, XLIV–XLV). Eindeutig belegen lässt sich dies mangels eines Autographen hingegen freilich nicht, zumal die unterschiedlichen Handschriften auch abseits der Flateyjarbók Unterschiede in der Textgestaltung erkennen lassen. Keine allerdings löst das Rätsel im Kern des Abschnitts unmissverständlich auf. 264 Fær, S. 124: Þrandr lét illa ifir verki þeso oc bꜹð þo fe til sátta fyrir frændr sina. Leifr oc Gilli gengo at eptir máli oc com þar eigi febótum fyrir (Þrándr gefiel diese Tat schlecht und er bot doch Geld zum Vergleich für seine Verwandten an. Leifr und Gilli gingen der gerichtlichen Verfolgung nach und da wurde nichts aus der Geldbuße). 265 Wenn Gautrs Vorwurf an Þrándr in seinem Sprichwort, argr mit dem Alter zu sein, ernstgemeint war, lässt sich die offenbar geringe Ausstattung seiner Neffen auch als Rachereaktion verstehen. Handelt es sich nur um eine Finte, wäre anzunehmen, dass Þrándr geschickt mit den gesellschaftlichen Erwartungen spielt, und seine Neffen absichtlich nur unterdurchschnittlich versorgt, weil er weiß, dass eine bessere Ausstattung angesichts ihres schlechten Verhältnisses und der Tat Verdacht erwecken könnte.
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Þrandr fek þeim skip haf færanda ok fe nockut ok þotuzst þeir litiliga af hondum leystir hafa þeir atὀlur myclar vid Þrand sogdu at hann ha|fde undir síg dregít fodur arf þeirra en midlade þeim ecki af. Þrandr sagdi þa myklu mæíra hafa en þeir ætti sagdizst hafa annazst þa leingi ok midlat þeim oft fiar hlutí en illa j þok lagit.266 (Þrándr verschaffte ihnen ein seetüchtiges Schiff und etwas Geld, und sie glauben, es sei ihnen wenig seinerseits geholfen. Sie erhoben große Vorwürfe gegen Þrándr; sie sagten, er hätte ihr Vatererbe an sich gerissen, teile aber nichts mit ihnen. Þrándr sagte da, sie hätten viel mehr, als ihnen gebühre; er sagte, er habe sie lange versorgt und ihnen oft Geld zugeteilt, und wenig sei es gedankt worden.)
Die drei Geächteten verlassen die Färöer bei ungünstigem Wetter in Richtung Island und erleiden Schiffbruch. Im folgenden Winter beginnen sie, auf Austrey umzugehen: [O]k er aleid haustit funduzst rekar af skipi þeirra j Austr ey. ok er uetr kom gerduzst aftur gὀngur myklar j Gὀtu ok vida j Austr ey ok synduzst þeir oft frændr Þrandar. ok uard mὀnnum at þessu mikit mein sumir fengu bæín brot edr ὀnnur meitzsl þeir sottu Þrand suo míog at hann þordi huergi æínn at ganga vm uetrinn.267 (Und als der Herbst verging, fand man die Bruchstücke ihres Schiffs auf der Ostinsel. Und als der Winter kam, gab es großen Wiedergängerspuk in Gasse und weit auf der Ostinsel, und oft erschienen die Verwandten Þrándrs. Und den Leuten entstand daraus viel Übel; einige erlitten Knochenbrüche oder andere Verstümmelungen. Sie suchten Þrándr so oft heim, dass er im Winter nirgends alleine hinzugehen wagte.)
Vor dem nächsten Þing betätigt sich Þrándr der Öffentlichkeit gegenüber einmal mehr als Friedenswächter und bittet Leifr und Gilli im Angesicht der Ereignisse auf dem letzten Þing, zu verfügen, dass nur unbewaffnete Männer das Þing besuchen dürfen. Gilli und Leifr zeigen sich allerdings misstrauisch und verfügen dies nur gegenüber der Allgemeinheit, sie selbst als Gefolgsmänner des Königs bleiben allerdings unter Waffen.268 Dennoch können sie nichts gegen die auf dem Þing völlig unerwartet auftauchenden Neffen Þrándrs ausrichten, zumal Þrándr sich ihnen mit seinen Männern anschließt, die alle ebenfalls unter Waffen stehen.269 Þrándr ver266 Fær, S. 126. 267 Fær, S. 126. 268 Fær, S. 126: [N]u uillda ek fostri minn sagdi Þrandr. at þat væri logtekit gert med ockru rade at menn hefdi alldri uopnn til þings þar er menn skulu lὀgskil sin tala ok spectar mal. L(eifr) q(uad) þetta uel mællt […]. G(illi) suar(ar) suo L(eifi). brigt þiki mer at trua Þrandi ok munu vit iata þui at handggnir menn allir hafui uopnn sín ok nockurir þeir er ockur fylgía en almenníngr se uopnnlaus (›Nun wollte ich, mein Ziehsohn‹, sagte Þrándr, ›dass es auf unseren Rat in die Gesetze aufgenommen wird, dass die Männer nie Waffen zum Thing führen sollen, wo die Männer ihr Rechtsverständnis sprechen sollen und überlegte Rede.‹ Leifr nannte das wohl gesprochen […]. Gilli antwortet Leifr folgendermaßen: ›Unsicher scheint es mir, Þrándr zu trauen, und wir werden es annehmen, dass alle Dienstmannen des Königs ihre Waffen haben und einige, die uns folgen, aber die Allgemeinheit soll waffenlos sein‹). 269 Fær, S. 127: Þrandr geinngr vr bud sinní motí S(igurdi) ok margt manna med honum ok hans menn med uapnum allir (Þrándr geht aus seiner Bude heraus und Sigurðr und seinen Leuten entgegen und viele Männer mit ihm, und alle seine Leute mit Waffen).
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hindert erneut eine größere Eskalation und Blutvergießen, indem er Leifr dazu auffordert, ihm die Entscheidung zu überlassen, andernfalls werde er seine Neffen nicht daran hindern at þui er þeir vilia at hafazst.270 Der gesamte Verlauf dieses Abschnitts gilt weithin als der größte Coup Þrándrs. Er scheint implizit derjenige zu sein, der die gesamten Geschehnisse aus dem Hintergrund plant und orchestriert und der alle Fäden in seinen Händen hat.271 Er allein kennt alle Vorgänge und Zusammenhänge und hat allen anderen Akteuren gegenüber einen erheblichen Informationsvorteil, den er ausnutzt, um sein Puppenspiel zu arrangieren. Wenn er hinter dem Verschwinden der Tributschiffe steckt und Þorálfr Sigmundarson davon weiß, kommt die Aufhetzung seiner Neffen einem gezielten Mordauftrag gleich – so sie denn tatsächlich die Täter sind. Wenn er der Mann ist, der in Verkleidung vor Karl und Leifr mit dem refði auftaucht, ist er an dessen Totschlag direkt und maßgeblich beteiligt. Der gesamte Konflikt mit seinen Neffen und selbst deren ›Spuk‹ wäre dann eine raffinierte Inszenierung, die nur dazu dient, der Allgemeinheit Sand in die Augen zu streuen, um die Machenschaften im Hintergrund verdeckt halten zu können. Wie in der ersten Szene am Anfang von Þrándrs Geschichte aber lässt die Darstellungstechnik der Saga diese Feststellung nur als Vermutung zu, da die Beweise in der Erzählung konstant unterschlagen werden.272 Mehrfach wird nur die von den Figuren wahrgenommene Erzählperspektive eingenommen, die einen verkleideten Mann auf dem Þing sehen, ohne ihn zu erkennen, die Þrándr im Streit mit seinen Neffen sehen und hören, die Wrackteile vom Schiff der Neffen Þrándrs finden, den Sturm bei ihrer Ausfahrt sehen, vom Wiedergängerspuk hören und schließlich ihre Rückkehr auf dem Þing mit ansehen. Diese Wahrnehmung wird für den Verlauf der Ereignisse kongruent mit der der Rezipienten – und aus dem Nachgang als unzutreffend entlarvt. Doch erneut ist es den Rezipienten selbst überlassen, Þrándr als den Schurken hinter dem Geschehen auszumachen und ein entsprechendes Urteil über seine moralischen Defizite zu fällen. Der Text enthält sich dieses Urteils konsequent und entlastet Þrándr auf der Textoberfläche. Þrándrs Figurenkonzeption und ihre Darstellung zeigen sich im Zuge dessen als vollständig konsistent:273 Er zieht alle Register und scheut vor nichts zurück, um sich seine Position zu sichern, doch wird er von der Erzählstimme nicht als ein Schuldiger inszeniert, sondern als mächtige Herrscherfigur, auf deren skrupellose Machenschaften erst die Ergebnisse ihres Handelns im Rückblick schließen lassen, ohne direkt erzählt zu werden. Implizites Ziel und letztendliches Ergebnis dieser Aktionen ist nämlich, dass Þrándr sich wie ein König der Lösung des Konflikts zwischen beiden Parteien, Leifr
270 Fær, S. 127 (was sie haben wollen). 271 Vgl. etwa Foote 1984c, S. 177–184; Ólafur Halldórsson 2001, S. 73–77; North 2005, S. 69–70. 272 Vgl. Heinrichs 1974, S. 203–205; Foote 1984c, S. 177–181; Ólafur Halldórsson 2001, S. 73–77. 273 Dies kann als wichtiges Argument für die Einheit des Textes gewertet werden, obwohl er nur so zerissen überliefert ist.
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und Gilli auf der einen und Sigurðr, Þórðr und Gautr auf der anderen Seite, annehmen kann. Leifr muss ihm notgedrungen die alleinige Entscheidung überlassen, ok lykr hann þegar gerd upp. segir at hann mun ecki sidarr vitrari er su gerd min segir Þrandr at ek vil at þeir frændr minir se frealsir at vera þar j Færeyium sem þeim likar […] riki þau er her erv j Færeyíum vil ek þat skipti a gera at ek hafui þridung annan L(eifr) þridea s(ynir) Sigmundar hafua riki þessi leíngí at ὀfund ordít ok bitbæínum þer Læifr fostri.274 (und er entscheidet sogleich. Er sagt, er wird später nicht weiser sein. ›Das ist meine Entscheidung‹, sagt Þrándr, ›dass ich will, dass diese meine Verwandten frei sind, dort auf den Färöern zu sein, wo es ihnen gefällt […]. Bei den Herrschaftsbereichen hier auf den Färöern will ich die Veränderung setzen, dass ich ein Drittel habe, das zweite Leifr, das dritte die Söhne Sigmundrs. Diese Herrschaftsbereiche haben dir lange zu Missgunst gereicht und waren ein Streitgrund für dich, Ziehsohn Leifr.‹)
Damit erweist Þrándr sich, stärker noch als während des Konflikts mit Sigmundr, als der eigentliche Herrscher der Färöer. Nicht der König, der nominell über die Herrschaftsverhältnisse auf den Färöern zu entscheiden hätte, trifft die Entscheidung, wie diese eingeteilt werden sollen, sondern Þrándr und Þrándr allein. Im Mikrokosmos der Färöer ist er das Zentrum, er ist der König, auch wenn er keinen Titel trägt. Hier nun tritt er offen als solcher auf. Eine Verkleidung und Benutzung von Symbolen wie vor dem Totschlag an Karl von Møre scheint endlich nicht mehr notwendig. Die norwegische Königsmacht ist fern und Þrándrs gleichwertige Macht ist für jeden offen erkennbar. Der lakonische Kommentar, er könne sofort entscheiden, da er später nicht weiser sein werde, zeigt, wie sehr er sich selbst in dieser Rolle gefällt, und wie unverhohlen er seine Macht zu demonstrieren wagt, nachdem er König Óláfrs Männer in ihre Schranken verwiesen und ausgeschaltet hat. Wenn er die Tributzahlungen des Königs in Besitz genommen hat, dürfte er seine finanzielle Vorherrschaft zudem um ein weiteres ausgebaut haben. Obwohl er die Herrschaft drittelt und sich selbst nur ein Drittel zuweist, ist er in seiner Spitzenposition auf den Inseln so unanfechtbar. Er hat seine Macht unmissverständlich aufgezeigt und demonstriert, dass er die Zentralinstanz der Färöer, seines persönlichen Reiches, darstellt. Þrándrs Identifizierung mit den Färöern ist allumfassend: Ihm gehören ihre grünen Ländereien, er kontrolliert die dortigen Vorgänge, er besitzt die völlige Deutungshoheit. An epistemischem Informationsvolumen ist er in diesem, seinem Raum, scheinbar sogar dem Erzähler selbst voraus, wie sich zeigt, wenn die Darstellung von Vorgängen durch diesen offenbar unzuverlässig ist. Während dieser letzten Auseinandersetzung Þrándrs mit der Macht des norwegischen Königshauses ergeben die einzelnen Vorgänge unmittelbare Bedeutung nur für Þrándr selbst. Die Rezipienten können sich im Nachvollzug der Ereignisse nur nach dem Erzähler und dessen Bericht richten, und ganz offenbar weiß auch die Erzählstimme weniger als die von ihr inszenierte Figur – jedenfalls dem erweckten Eindruck nach. Wiederum
274 Fær, S. 127.
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handelt es sich hierbei um ein geschicktes Spiel der Ebenen von Schein und Sein: Was auf der Figurenebene durch Þrándr an seiner Umgebung vollzogen wird, Täuschung und Irreführung, inszeniert auch der Erzähler vor den Rezipienten des Textes. Dass der Erzähler im Gegensatz zur Haleyri-Szene allerdings Þrándrs Rolle überhaupt nicht mehr kommentiert, sondern dessen Pläne nur noch durch Handlungen und Figurenreden und das bloße Aufzeigen einer Differenz von Schein und Sein erahnbar macht, statt sie aufzulösen, steigert Þrándrs Macht um eine Ebene. In ihrer Machtfülle unterläuft Þrándrs Position also gewissermaßen sogar die narrationsordnende Macht des Erzählers. Er scheint diesem selbst überlegen – wobei es sich bei diesem Eindruck wiederum nur um einen Schein handelt. Die eigentliche Meisterschaft und Macht der Textgestaltung obliegt der vermittelnden Instanz des Erzählers, die ihre Figur derartig inszeniert. Bemerkenswerter Weise inszeniert sich der Erzähler dieser aber selbst als unterlegen. Bei den Ereignissen dieses Erzählabschnitts jedenfalls handelt es sich um den endgültigen Test von Þrándrs persönlicher Macht handelt als der selbstgemachte König auf den Färöern. Um in diese Position zu gelangen, musste Þrándr jeden Einfluss der eigentlichen, nominellen Herrscher hinter sich lassen. Die manipulative Ausschaltung der ursprünglichen Herrscher garantiert die Loslösung von Þrándrs semiotischem Mikrokosmos vom umgebenden Herrschaftraum des norwegischen Reiches. Nach Sigmundrs Rückkehr muss Þrándr der wiedererstarkten norwegischen Herrschaft passiv widerstehen. Der Erfolg dieses Widerstand gründet sich auf seine hintergründige Kontrolle der Ländereien ebenso wie auf Sigmundrs persönliche Defizite und die Tatsache, dass dieser schon aufgrund seiner konzeptionellen Ausgestaltung nicht mehr in den semiotischen Kosmos passt, den Þrándr auf den Färöern errichtet hat.275 Erst nachdem Þrándr die Schwierigkeiten seiner nominellen Machteinbuße unter Sigmundrs Vorherrschaft überwunden hat, beginnt er Zug um Zug, seine Herrschaftsmacht öffentlich anzuzeigen. Durch seinen Einsatz des Hochzeitspakts mit Sigmundrs Familie sichert er seine Macht bereits wie ein Aristokrat, indem er einen Frieden in seinem Zeichen und als sein Konstrukt, verpflichtet auf ihn, schafft. Seine erste Begegnung mit Karl von Møre scheint als Verzerrung höfischen Sprachgebrauchs modelliert, anschließend parodiert er die freiwillig angenommene Rolle eines königlichen Steuereintreibers geradezu:276 Der Beutel mit dem Silber, den er Karl zuerst überreicht und in dem sich die Steuerzahlungen für den König von den nördlichen Inseln befinden, enthällt hverr sa peningr er illr er i Norþreyiom.277 Anschließend überreicht Þrándr einen zwar besseren, aber in qualitativer Hinsicht trügerischen und ungenügenden Silberbeutel aus seinen landsculdir.278 Der letzte, mit den schließlich angenommenen Zahlungen, enthält das Silber,
275 276 277 278
Siehe hierzu näher Kap. 4. Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 359–360. Fær, S. 118 (jedes Geldstück, das schlecht ist auf den Nordinseln). Siehe Fær, S. 119 (Landsbesitzungen).
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er landbuar minir hafa før̨ t mer heim i vár.279 Þrándr lässt sich hier ein zynisches Spiel mit den unterschiedlichen Bedeutungsnuancen der verschiedenen Wörter unterstellen.280 Nach den Zahlungen tritt er in verdeckter Inszenierung herrschaftlich auf, und am Ende verteilt er Machtbereiche auf den Inseln, als wären sie sein zu vergebendes Lehen. Er zeigt sich schrittweise offener als Zentralinstanz färöischer Herrschaft, der keine norwegische Autorität beikommen kann. Insofern ahmt er deren Machtmechanismen subvertiertend nach, wie Harlan-Haughey betont.281 Somit parodiert Þrándr die norwegische Herrschaft zwar in gewisser Weise, jedoch stellt sein herrschaftliches »Mimikry« viel eher ein zynisches Spiel mit seinen Gegnern dar, denen er dadurch die Differenz zwischen nomineller und faktischer Macht, von Schein und Sein, vorführen kann. In Þrándrs persönlichem Königreich der Färöer hat hingegen keine norwegische Kolonialmacht Einfluss: Diese eigentliche Autorität hat er mit allen Mitteln erfolgreich ausgeschaltet. Dieser Höhepunkt von Þrándrs Macht kurz vor dem Ende der Erzählung der Færeyinga saga widerspricht Glausers Bewertung, der zweite Handlungsteil der Saga, den er mit Sigmundrs Tod und Þrándrs erneuter Vorherrschaft beginnen lässt, zeichne sich durch eine schrittweise Desintegration von Þrándrs herrschaftlicher Macht aus.282 Glauser zufolge verliere Þrándr »zusehends die Kontrolle über die Ereignisse«, »Thematik und Figurenkonstellation« der Erzählung seien »diffuser organisiert«.283 Jedenfalls bis zum Zeitpunkt seiner königsgleichen Entscheidung über die Machtsphären auf den Färöern bleiben Þrándrs Ziel und sein Erfolg in sich völlig konsistent. Funktional ist auch der Eingriff Óláfrs des Heiligen in die färöischen Angelegenheiten nichts als ein weiterer, äußerer Störfaktor in Þrándrs alleiniger
279 Fær, S. 121 (›den meine Ansässigen mir im Frühling heimgebracht haben‹). 280 Landbúar bezeichnet im isländischen Sprachgebrauch nur benachbarte Anwohner, während das Wort im norwegischen Sprachgebrauch Pächter bezeichnet, vgl. Foote 1970, S. 164. Þrándr benutzt dieses Wort erst bei seinem dritten Silberbeutel, der nicht in seinen, eindeutig Pachtländer bezeichnenden, landsculdir eingetrieben wurde. Auch diese werden in einem Duktus der persönlichen Herrschaft im aristokratischen Sinne formuliert; vgl. Baetke 2008, s.v. landskuld, -skyld: »Pachtzins; Grundsteuer, jährliche Abgabe (für Landbesitz) an den König« (meine Emphase) – Fritzner 1954 s. eadem v. hat dagegen nur »Leie«. Dass den dritten Beutel Þrándrs landbúar bezahlt haben, enthält also womöglich eine kalkulierte Doppelbödigkeit mit den Semantiken von landbúi als »Landbewohner« und »Pächter«. Offenbar handelt es sich bei den landbúar nicht um die gleichen Leute, die Þrándr die fälligen landsculdir entrichten müssen – welche andere Jursidiktionsgewalt besitzt er dann aber, wenn ihm diese, seine Leute einen Tribut bezahlen? Wenn er den Begriff landbúar benutzt, spricht er dem Anschein nach allein von benachbarten, aber freien Bauern, die dennoch im Wortsinne in seiner Tasche (nämlich seiner Geldbörse) stecken. Der Unterschied zwischen offizieller Machtverteilung und impliziter Dominanz Þrándrs, gestützt auf Landbesitz und Pachtabhängigkeiten, wird hier deutlich. 281 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 359–360. Ihre Lesart einer postkolonialen Mimikry, aufgrund derer eine unterdrückte und stumm gehaltene Minderheit der norwegischen Kolonialmacht zum Sprechen gebracht werde, greift allerdings entschieden zu weit. 282 Vgl. Glauser 1989, S. 216–222. 283 Glauser 1989, S. 220.
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Herrschaft, gleichwertig mit Sigmundrs Bemühungen um die Kontrolle der Inseln. Aufgrund seiner überlegenen Position in seiner heimischen Semiosis kann er ihn mit Leichtigkeit abwehren. Mit diesem Höhepunkt seiner uneingeschränkten Macht auf den Färöern ist allerdings Þrándrs Zenit erreicht und zugleich überschritten. Bei der Aufteilung der Herrschaftsbereiche übergeht er seine eigenen Neffen, die ihm die gesamte Zeit über als Handlanger ideal gedient haben, überdies, obwohl er seinen offenen Aufstand gegen Sigmundr mit deren Machthunger begründet. Zu seinem Ziehsohn Leifr pflegt er offenbar ein verhältnismäßig herzliches Verhältnis und hat mit ihm bereits zuvor die Herrschaft geteilt.284 Ihm weist er Herrschaftsrechte zu, und, wohl um die alten Konflikte nicht wieder aufbrechen zu lassen, auch den Sigmundssöhnen. Sigmundr Leifsson bittet er in Ziehvaterschaft zu sich. Wie bereits ausgeführt verfolgt er damit wohl den hintergründigen Plan, ihn mit seiner Tochter zu vermählen und so auf lange Sicht sein eben unter Beweis gestelltes färöisches Königtum ohne Namen quasi-dynastisch weitergeben zu können, vorerst wohl an Leifr und langfristig an seinen eigenen Erben. Zugleich sichert er sich damit, wie bereits durch die Verheiratung Leifrs mit Þóra, vor Angriffen durch die königstreue und gegnerische Partei ab. Jedoch macht er den entscheidenden Fehler, Sigurðr, Þórðr und Gautr überhaupt nicht zu berücksichtigen. Im Gegenteil, er wirft sie unter dem Vorwurf von oþrifnnat und at ferdar leyse285 aus seinem Haushalt und zwingt sie damit zu dem Versuch, sich eigene Herrschaftsbereiche und Unterhalte zu sichern. Dieser Moment des Höhepunkts ist also zugleich der Kreuzungspunkt zweier fataler Fehlberechnungen in Þrándrs Spiel der Macht, er löst letztlich die Desintegration seiner Herrschaft aus.286 Dass Þrándr dieser Fehler unterläuft, scheint mit
284 Wohl in ähnlich kontrollierter Weise und bereits bekannte Erzählverläufe spiegelnd (vgl. Kap. 8.2), wie schon Jahre zuvor mit dessen Vater Ǫzurr. Charakteristischerweise unterscheiden sich die Formulierungen der Herrschaftssituation allerdings deutlich: Während Þrándr zu Ǫzurrs Lebzeiten red bzw. stíornnade nu ỏllu æinn j Færeyíum (Fær, S. 21 bzw. S. 47; nun allein alles auf den Färöern beherrschte), wird bei seiner erneuten Vorherrschaftsübernahme explizit von ihm und Leifr zugleich die Herrschaft übernommen, siehe Fær, S. 86: Þrandr ok L(eifr) Ozsurar son toku nu undir sig allar Færeyiar ok hofdu ualld yfir (Þrándr und Leifr Ǫzurarson unterwarfen sich nun alle Färöer und hatten die Gewalt darüber). Diese betonte Gemeinsamkeit der Herrschaftsübernahme ist effektiv ein Trugschluss und bedeutet eher die Aufteilung nomineller Herrschaft (Leifrs, der bald Königsmann wird) und implizit-faktischer Dominanz Þrándrs, weist aber gleichzeitig auf Leifrs letztendliche Machtposition hin, begründet diese im Grunde überhaupt erst (vgl. Kap. 6.3). Zugleich mag hier mitschwingen, dass Þrándr seinem Ziehsohn als einzigem durchaus wohlwollend gesonnen und dazu bereit ist, ihm ein gewisses Maß an persönlicher Macht zuzugestehen, wenn auch wohlkalkuliert und bereit, Leifr für seine eigenen Ziele zu instrumentalisieren. 285 Fær, S. 128 (Trägheit und Untätigkeit). 286 Harlan-Haughey 2015, S. 354 u. S. 371–372 argumentiert hingegen, Þrándrs herrschaftliche Desintegration sei dadurch bestimmt, dass sich die zuvor kontrollierten Naturmächte auf den Färöern gegen Þrándr selbst wendeten, was sie insbesondere am Auftritt Sigurðrs, Þórðrs und Gautrs als Wiedergänger festmacht. Diese Interpretation ist angesichts der auf dem Þing quicklebendigen Männer als unzutreffend abzuweisen. Harlan-Haughey selbst betrachtet die drei Neffen auch lange nach der hier vollzogenen Trennung noch als in Þrándrs Diensten stehend. So etablierten diese ihr
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Blick auf seine fast übermenschliche Gabe für politische Taktik über den gesamten Rest seines Lebens zunächst geradezu frappierend leichtsinnig.
3.4.5 Folgenschwere Fehlkalkulationen: Die Desintegration von Þrándrs Herrschaftsmacht Wenn die Spannungen zwischen Þrándr und seinen Neffen während des vorhergehenden Konflikts mit den Männern des norwegischen Königs nur eine geschickte Inszenierung waren, wirkt mithin unverständlich, weshalb er in diesem Moment den gleichen Vorwurf der unziemlichen Tatenlosigkeit erneut erhebt. Immerhin haben ihm Sigurðr, Þórðr und Gautr wie bereits während der Angriffe auf Sigmundr beste Dienste als ausführende Hände seines Willens geleistet. Es stellt sich also die Frage, welche Motivation Þrándr dazu bringt, sich harsch und im Streit von seinen Neffen zu trennen.287 Glauser schlägt vor, die aufbrechenden Spannungen zwischen Þrándr und der Nachfolge-Generation seiner Familie »als Audruck allgemeinmenschlicher Probleme von Vätern und Söhnen« zu verstehen, betont aber zugleich, dass es »auch und vor allem […] um handfeste Interessen wie persönlichen Einfluß, soziales Prestige, politische Macht geht.«288 Schlichte familieninterne Streitigkeiten und Spannungen wären als Erklärungsmodell möglich und immerhin durch die zuvor so ostentativ ausgestellten Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Parteien narrativ vorbereitet. Jedoch erscheint eine solche Erklärung für den durchgeplanten Lebensweg Þrándrs um einiges zu einfach und insofern wenig überzeugend. Es könnte durchaus sein, dass Þrándr seinen Vorwurf ernst meint und einen Aufstieg nach seinem eigenen Vorbild für seine Neffen im Sinn hat. Jedoch würde er dabei ihre Persönlichkeiten und Sigurðrs Schwur, nicht mehr nach Norwegen zurückzukehren, nicht bedenken.289 Eine Fahrt ins Ausland, wo sie sich die materielle oder konzeptionelle Basis für einen Aufstieg auf den Färöern beschaffen könnten, scheint für Sigurðr, Þórðr und Gautr nicht in Frage zu kommen, und sie sind eindeutig weit weniger taktisch begabt als ihr Onkel. Auch diese Erklärung wirkt also wenig überzeugend, muss man
zufolge eine »money-lending racket under his aegis in place of legitimate tribute-gathering« im Zuge von Þrándrs »travesties of imperial mechanisms of power« (Harlan-Haughey 2015, S. 360), obwohl er selbst ihnen durch den ›Einsatz‹ der norwegischen Kaufleute, mit denen sie in Konflikt geraten, »a taste of their own medicine« verabreiche. Offenbar liegen dieser Interpretation folgenschwere textliche Missverständnisse zugrunde. 287 Fær, S. 128: Sigurdr suar(ar) illa q(uad) hann illz æíns unna ollum frændum sínum ok segir hann sitia yfir fỏdur arfui sínum attuzst þa hart vid j ordum (Sigurðr antwortet übel; er sagte, er vergönne allen seinen Verwandten nur Übles, und er sagt, er säße auf seinem Vatererbe. Sie gerieten da in einen heftigen Wortstreit). 288 Glauser 1989, S. 220. 289 Vgl. hierzu Kap. 5.
3.4 Réð nú einn o˛llu: Þrándrs Herrschaft auf den Färöern
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doch davon ausgehen, dass ein Mann wie Þrándr Fähigkeiten und persönliche Voraussetzungen der drei Männer, die er so lange in seinem Haushalt aufgezogen und beherbergt hat, überdiemaßen gut einschätzen kann. Der Schlüssel zum Verständnis von Þrándrs Vorgehen dürfte dementgegen in der Erwähnung seiner Tochter in gerade diesem Augenblick und Sigurðrs Gegenanschuldigung zu suchen sein.290 Wie bereits überlegt, lässt sich Guðrúns Erwähnung kaum anders als über Þrándrs nie explizit gemachten Erbfolgeplan rechtfertigen, und Sigurðr wirft seinem Onkel insgesamt zwei Mal vor, at hann ha|fde undir síg dregít fodur arf þeirra en midlade þeim ecki af.291 Beide Elemente machen klar, dass es hierbei allerdings um »handfeste Interessen« geht.292 Sigurðr, Þórðr und Gautr haben die ganze Zeit über auch Þrándrs eigene Position gefährdet.293 Der innerfamiliäre Konflikt, den Þrándrs erster Erfolg in der Erbangelegenheit mit seinem Bruder begründet hat, bricht hier nun auf. Die eigene Machtposition hat Þrándr in der Verbindung von Land und Geldbesitz um den Preis der Loslösung von Familienbindungen erkauft, und bereits den Aufstand gegen Sigmundr begründet er mit dem neuen Hinzukommen der Machtansprüche seiner Verwandten. Sie bedrohen seine eigene Machtposition gleichsam von innnen, weshalb er sich ihrer entledigen muss, um das Drittel der Herrschaft, das er sich offiziell zugeteilt hat, gefahrlos und unangefochten sicherzustellen. In seinen Berechnungen mag auch eine Rolle spielen, dass Sigurðr im Zuge seiner – wenn auch inszenierten – Norwegenreise durchaus sein Potenzial als Gefahr auch für Þrándr unter Beweis gestellt hat.294 Will er zudem tatsächlich Leifrs Sohn Sigmundr mit seiner eigenen Tochter verheiraten, kann er die Störfaktoren, die seine Neffen darstellen, kaum in seinem Haus brauchen, insbesondere, wenn diese vor den erst jungen Kindern und einem potenziellen Nachkommen ihre eigenen Rechte beanspruchen könnten.295 So trennt sich Þrándr mehr als nur »ihrer überdrüssig geworden« von seinen Neffen296 – einmal mehr aus hartem, realpolitisch begründetem Kalkül. Damit zahlt er aber auch den Preis, sich selbst ins Abseits aller aktiven Eingriffsmöglichkeiten in Konflikte zu befördern. Zudem verhalten sich Sigurðr, Þórðr und Gautr gerade nicht in für Þrándr günstiger Art und Weise: Sie verlassen das Land nicht und halten auch nicht still. Für sie ist das von Þrándr eingerichtete, herrschaftliche »Gleich-
290 Vgl. North 2005, S. 71–72. 291 Fær, S. 126 (er hätte ihr Vatererbe an sich gerissen, teile aber nichts mit ihnen). Diese Formulierung findet sich bereits vor der zweitweiligen Landesverweisung, wird aber inhaltlich durch die Anschuldigung, segir hann sitia yfir fỏdur arfui sínum (Fær, S. 128; er sagt, er säße auf seinem Vatererbe) klar wiederholt. 292 Glauser 1989, S. 220. 293 Vgl. North 2005, S. 71. Siehe hierzu auch Kap. 5.4.1. 294 Siehe hierzu Kap. 5.3.2. 295 Norths Überlegung, Sigurðr oder einer der anderen könne selbst einen Nachkommen mit Guðrún zeugen wollen (North 2005, S. 71–72), scheint hingegen reichlich weit gegriffen. 296 Bick 2005, S. 11.
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gewicht zwischen den drei Parteien unbefriedigend«.297 So versuchen sie in ihrem Heimatgebiet zu eigener Macht zu kommen, einem Raum, der von anderen Parteien klar und eindeutig beherrscht wird. Diese Beteiligung anderer sollte Þrándrs fein austariertes Herrschaftssystem sichern und bedingt in Folge dessen unbedingtes Gleichgewicht zwischen den (nominellen) Machtsäulen. In diesem System fordern folglich die unglücklichen und wenig überlegten Aktionen der drei Männer den Preis der Destabilisierung.298 Sie geraten in erneuten Streit mit Leifr und der Familie Sigmundrs, und gehen letztlich unter. Mit dieser folgenschweren Fehlentscheidung paaren sich die Auswirkungen von Þrándrs zweitem langfristig wirksamen Fehler: Er hat im Zuge seiner Machtsicherung Leifr mit Þóra verheiratet (und aufgrund der Umstände wohl verheiraten müssen). Er vertraut offenbar darauf, dieses Ehebündnis unter Kontrolle halten zu können, weil er auf Leifr größere Stücke hält als auf seine eigenen Neffen, wie sich nicht zuletzt in dessen bereits langjähriger Co-Regentschaft trotz seiner Assoziation mit dem König deutlich zeigt. Obwohl Þrándr auch ihn schmerzvoll ausmanövriert hat und sich mit der Aufzucht des jungen Sigmundr gegen mögliche Härtefälle eines Konflikts absichert, teilt er ihm fraglos einen Teil der nominellen Herrschaft zu. Dass er Leifr unter Kontrolle halten kann, ist allerdings ist ein Trugschluss: Er bringt durch dessen Hochzeit seinen zuvor fest mit ihm verbundenen Ziehsohn in eine neue, mit ihm in Konkurrenz stehende Familie ein, und Leifrs Loyalitäten wechseln mit diesem Übergang.299 Zudem unterschätzt er die Schläue der ihm als Einzige ebenbürtigen,300 langfristig planenden und überlegt handelnden Þóra Sigmundardóttir, die ihren Mann Leifr ähnlich steuern kann wie Þrándr selbst seine Mitmenschen. Als Leifr und Þóra durch die ›Entführung‹ des jungen Sigmundr Þrándrs vermutliche Erbfolgepläne zunichtemachen, erweist sich das Opfer seiner Neffen als ebenso fatal, wie sich die vermeintlich über Leifr ausgeübte Kontrolle als inexistent herausstellt. Am Ende seines Lebens hat Þrándr sich selbst ausmanövriert. Trotz, oder treffender, gerade wegen seines politisch-taktischen Könnens und seiner kompromisslosen Orientierung an den tagespolitischen Realitäten, ist er in diesen beiden Situationen gezwungen, Kompromisslösungen einzugehen, die letztendlich auf ihn selbst zurückfallen und seine langfristigen Pläne zerstören. Auf der politischen Bühne können sich Entwicklungen selbst für Männer wie Þrándr als zu unkontrollierbar herausstellen, und situativ notwendige Entscheidungen, um die Komplexität der momentanen Ereignisse unter Kontrolle zu behalten, langfristig zu Fehlentscheidungen mutieren. Nicht alles lässt sich kontrollieren, nicht alles planen und über-
297 Glauser 1989, S. 219. 298 Vgl. allgemein Meulengracht Sørensen 1993, S. 148–157 zur auf Balance ausgerichteten Gesellschaftsordnung; S. 193–206 zur Rolle von Aggression und Herausforderung in dieser Ordnung. Siehe hierzu näher Kap. 5.4. 299 Vgl. Kap. 6. 300 Vgl. Arge Simonsen 2004, S. 17; Steinsland 2005, S. 82. Vgl. Kap. 7.3.3.
3.5 Þrándr, der Erzähler der Færeyinga saga und die Implikationen der Macht
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blicken. Zurückgezogen auch aufgrund seines Alters, der Eigenaktivität ohnehin nie zugeneigt, der Verwandten, die von ihm gelenkt als Akteure auftreten könnten, aus eigenem Verschulden beraubt und mit der Schmach der intellektuellen und politischen Niederlage gegen Þóra versehen, also auch ohne seinen letzten persönlichen Trumpf, der Rache an dem Jungen für den Tod seiner Neffen, stirbt Þrándr schließlich af helstride.301 Sein Tod ist dabei wohl weniger die Folge von Trauer wegen des Todes von Sigurðr, Þórðr und Gautr oder des endgültigen und erwiesenen Bruchs mit seinem Ziehsohn Leifr, sondern Ausdruck seines Grams, dass sich sein Traum von einer färöischen Monarchie in seinem Namen zerschlagen hat.
3.5 Aufstieg und Niedergang, Moral und Politik – Þrándr, der Erzähler der Færeyinga saga und die Implikationen der Macht Insgesamt zeigt sich das Leben Þrándrs als Aufstieg und letztendlicher Niedergang eines politisch ambitionierten Mannes als Alleinherrscher auf den Färöern. Er opponiert aus egoistischen Motiven gegen die Oberhoheit der norwegischen Herrscher, und die Unabhängigkeit des nordatlantischen Archipels ist in seinen Plänen nur in Betracht gezogen, um seine eigenen Herrschaftsambitionen verfolgen zu können. Folglich kann er kaum als Symbolfigur einer impliziten Unabhängigkeitsideologie gelesen werden, wiewohl Ansatzpunkte für ein solches Verständnis durchaus geliefert sind. Denn der Erzähler der Færeyinga saga nutzt für seine Darstellung Erzählkonventionen, die an die Darstellungsstrategien der Isländersagas erinnern. Muster, die für die literarischen Abbilder der Isländer topischen Charakter entwickeln, werden in der Færeyinga saga aufgegriffen, aber sehr speziell umgesetzt, bisweilen sogar invertiert.302 Manches wird auf der Textoberfläche ähnlich stilisiert, als handle
301 Fær, S. 137 (vor verzehrendem Leid). 302 Die nähere Beurteilung dieser Tatsache steht und fällt mit der Frage der Datierung der Saga. Bekannte Konventionen unterlaufen kann die Færeyinga saga nur, wenn man sie später als zum Zeitpunkt der Niederschrift der meisten Isländersagas datieren würde, also in Übereinstimmung mit ihrer Überlieferung in der Flateyjarbók. Geht sie ihnen prototpyisch hingegen voraus, ist ihre konsequente Enttäuschung erweckter narrativer Erwartungen umso erstaunlicher. Sie würde in diesem Fall Muster aufgreifen, die ggf. für die mündlichen Vorläufer der Sagas anzusetzen wären, oder aber Modelle entwickeln, die sich erst in der späteren Schriftform der Sagas kanonisieren. Dass sie selbst diese Modelle nicht den Konventionen gemäß umsetzt, ließe sich dann von ihrem frühen Datum her erklären – Erfüllung (noch) nicht existenter Konventionen wäre ihr dann schlicht nicht möglich gewesen. Die hier vertretene Erklärung von der Thematik der Saga her kann jedoch diese Datierungsproblematik mit ihren zugehörigen Spekulationen über Ursprünge und Sagakonventionen umgehen: Um ihr Zentralthema der Macht, ihres Wesens und ihrer Auswirkungen zu entwickeln, kann die Saga ein durch Regelhaftigkeit absanktioniertes Erzählparadigma nicht gebrauchen. Um Macht im Sinne der Durchsetzungsfähigkeit eines Akteurs gegenüber anderen an sich
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3 Þrándr í Go˛tu
es sich bei den Protagonisten um typische Isländer, wodurch im Kontext der Sagaliteratur narrative Erwartungen erweckt werden, die jedoch durch den Erzählverlauf oder die tiefere Textdimension enttäuscht und negiert werden. Die Rezipienten (und gerade in den Konventionen der Isländersagas geschulte Wissenschaftler) werden dadurch leicht irregeführt: Denkt man vor allem an den isländischen Entstehungskontext der Erzählung, wie so viele ihrer Interpreten, verleitet die oberflächliche Stilisierung Þrándrs schnell zu ihrer Identifikation mit einem isländischen Unabhängigkeitsdiskurs. Wie die Bauern, die der isländischen Ursprungsmythologie zufolge Norwegen unter Haraldr hárfagri zuhauf verlassen, will Þrándr sich keiner übergeordneten Autorität beugen.303 Jedoch dehnt er sein Verständnis dieses Unabhängigkeitsbewusstseins ganz erheblich aus: Er will nicht allein Angehöriger einer freien Oberschicht von Großbauern sein, er will diese Oberschicht selbst beherrschen und eine Position einnehmen, die für gewöhnlich ein König innehat, obgleich er dazu weder rechtliche Grundlage, noch moralischen Anspruch hat. Obwohl er mitunter auf Gemeinschaftlichkeit zur Entscheidungsfindung rekurriert, steuert er doch die ablaufenden Prozesse ganz allein. Und auch, wenn er sich als Friedenswächter der öffentlichen Ordnung zu inszenieren weiß, so ist doch sein Verhalten absolut nicht um ein soziales Prinzip bemüht. Ihm geht es nicht im Mindesten um ein »auf die Gemeinschaft ausgerichtet[es]« Verhalten,304 sein Handeln ist allein auf seine eigene, als überlegen definierte Identität hin ausgerichtet. Der textoberflächlichen Inszenierung Þrándrs als unbeugsamer Prätendent quasi-aristokratischen Selbstbewusstseins auf einer Linie mit den freiheitsliebenden Gründern der isländischen Gesellschaft, einschließlich seines Kampfes gegen die norwegische Autorität, steht so die hintergründige Abweisung des für Island so bedeutsamen sozialen Ideals entgegen. Für Þrándrs Handeln gibt es keine Richtgröße jenseits seiner selbst und seines persönlichen Machtzuwachses. Die norwegischen Herrscher bekämpft er nicht aus Ablehnung des Königtums an sich, sondern nur, weil deren Herrschaft die Seine unmöglich macht. Weiterhin scheint auch der Ablauf von Þrándrs Leben zu Beginn des Textes entsprechend der Vorstellungswelt der Isländersagas konzipiert:305 Als junger Mann zeigt er eigene Initiative und zieht ins Ausland, um sich dort die Grundlage seiner Ambitionen zu erarbeiten. Durch diese Auslagerung können seine ambitionierten Pläne die zu diesem Zeitpunkt in sich balancierte Gesellschaft auf den Färöern nicht destabilisieren.306 Erst als er zurückgekehrt und mit den notwendigen Ressourcen
erzählen zu können, die sich ihrem Wesen nach selbst definiert und erst ex post erklärt werden kann, ist die Missachtung regulativer Kategorien eine Notwendigkeit. 303 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 137–143; bes. Weber 2001a; Weber 2001b zum isländischen »Freiheitsmythos«. Vgl. auch Kap. 2.3.1. 304 Bick 2005, S. 11. 305 Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen 1993, S. 216–226. 306 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 224.
3.5 Þrándr, der Erzähler der Færeyinga saga und die Implikationen der Macht
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ausgestattet ist, destabilisiert sich diese Lage ohne sein Zutun selbst. Seine Rolle legt bereits in diesem Moment den tatsächlich aktiven Part ab. Doch ist Þrándrs Ziel gerade nicht die Aufrechterhaltung des Status quo.307 Im Gegenteil ist er bis ins hohe Alter bemüht, seinen Vorteil weiter auszubauen. Zugleich ist er dezidiert nicht allein der Typus eines »selfmade man«,308 der seinen noch höheren Aufstieg mit dem Schwert in der Hand bewerkstelligt. Sein Charakter entspricht ganz und gar nicht den Vorstellungen eines Wikingers und ›Mannes‹ der isländischen Sagagesellschaft. Er ist feige, niederträchtig und hinterhältig, schreckt vor dem Waffengebrauch zurück, ergibt sich und ordnet sich schein-demütig selbst unter. Er ist sogar bereit, größte Gesichtsverluste hinzunehmen, wenn es ihm einen Vorteil verschafft. Damit wird die für die Isländersagas, insbesondere für männliche Protagonisten,309 zentrale Kategorie der Ehre völlig aus Þrándrs Verhaltensweise ausgeklammert. Und doch ist er in seinen herrschaftlichen Aspirationen über ange Zeit überaus erfolgreich. Im letzten Teil der Handlung scheint er trotzdem als älterer und jedenfalls vorgeblich zunehmend kränklicher Mann in steigendem Ausmaß auch der Handlungsausführung durch jüngere Männer zu bedürfen. Er selbst kann weniger aktiv am politischen Tagesgeschehen teilnehmen, erneut in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Sagagesellschaft.310 Indessen ist der zunehmende Kontrollverlust am Ende der Erzählung gnadenloser Effekt von Ereignissen, die Þrándr in seinem Machtstreben selbst in die Wege geleitet hat; von Entscheidungen, die zur gegebenen Zeit notwendig waren, um seine Macht erhalten zu können. Zudem bedeutet seine geringere Prominenz im Text nach dem langen Konflikt mit Sigmundr um die Herrschaft gerade keine Änderung der Konzeption seiner Taten: In den Vordergrund spielt er sich nie. Im Gegenteil intrigiert er schamlos und verschwiegen im Heimlichen und benutzt andere, um seine Ziele zu erreichen, seine eigenen Neffen ebenso wie die ursprünglichen Machthaber auf den Inseln. So ist er bemüht, sämtliche Gegebenheiten selbst im Moment der scheinbaren Niederlage soweit als irgend möglich zu seinem eigenen politischen Vorteil ausnutzen. Die Elemente, die Þrándr für ein isländisches Verständnis im angenommenen Zeithorizont des 13. Jahrhunderts als Symbolfigur greifbar machen, bleiben damit oberflächlich, seine monarchischen Intentionen und fehlende Moral werden nicht geschönt, sondern im Gegenteil deutlich betont. Seine oberflächliche Darstellung nach den Prinzipien der freien Isländersaga-Protagonisten wird in seiner Figurenkonzeption deutlich unterlaufen. Dies zieht weitere Kreise: Eine solche Figur widerspricht jedem Idealbild, das ein Rezipient an den Text herantragen mag. Als skrupelloser Intrigant und Egoist
307 Wie er im Zuge des protypischen Entwicklungswegs von Sagaprotagonisten anzusetzen wäre, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 221–222. 308 Vgl. Berman 1985, S. 114. 309 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993. 310 Vgl. Jón Viðar Sigurðsson 2008, bes. S. 229–233; Ármann Jakobsson 2005, S. 310–312. Vgl. besonders Ármann, S. 301–308 für einen Überblick zur Forschung bezüglich des Alters im Mittelalter allgemein.
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ist Þrándr alles andere als die Vorstellung eines ›Helden‹, nach welchem Verständnis dieses Begriffs auch immer. Er führt dadurch jedoch nicht alleine die Bilder des freiheitsliebenden Proto-Aristokraten, wie sie aus den Isländersagas gewohnt sind, ad absurdum, sondern weitergehend vermeintlich mittelalterliche Erzählkonventionen an sich.311 Tugendhaftigkeit, Kampfkraft, sozialer Ausgleich und gesellschaftlich produktive Leistungen, rechtliche oder sogar gottgegebene Legitimität im Sinne der Hierarchie von König und Untertan, moralische Integrität und deren Sichtbarkeit in Auftreten, Handeln und Äußerem: All diese Paradigmen der Figurengestaltung von Protagonisten in mittelalterlichen Texten des Kontinents und Islands greifen für die Figurenkonzeption Þrándrs nicht. Er rebelliert somit nicht nur auf der Plotebene als Figur gegen gültige Ordnungsprinzipien der Gesellschaft, auch seine narrative Ausgestaltung läuft vermeintlich für das Mittelalter unhinterfragt gültigen narrativen Ordnungen der Figurendarstellung von Protagonisten zuwider. Damit hat Þrándr wenige bis keine rehabilitierenden Faktoren der Rezipientensympathien auf seiner Seite – mit Ausnahme vielleicht seines überlegenen Geschicks im Ausmanövrieren anderer und seiner überragenden Intelligenz. Beides muss allerdings als gebrochener Sympathiewert angesprochen werden, dient doch keine seiner Aktionen einem größeren Guten oder einem moralisch rechtfertigbaren Ziel. Diese Delegitimation anhand fehlender mittelalterlicher Konventionen steht indes quer zu Þrándrs Rolle im Gesamtzusammenhang der Narration: Er ist unzweifelhaft die wichtigste Figur der Færeyinga saga, diese Saga ist seine Biographie. Zugleich zur negativen Reaktion, zu der Þrándrs Figurenzeichnung die Rezipienten herausfordert, ist darüber hinaus festzuhalten, dass das Negativurteil, das die Erzählstimme implizit über ihn präjudiziert, nicht ihr eigenes ist. Durch die wiederholt destabilisierte Perspektivwechseltechnik, der sich der Erzähler bedient, wenn Þrándrs verbrecherische Untaten sich vermeintlich am deutlichsten zeigen würden, wird die Figur vom Erzähler gewissermaßen geschützt. Während gleichzeitig Þrándrs moralische Defizite klar herausgestellt und insbesondere in seiner Kontrastierung mit Sigmundr unterstrichen werden,312 reduziert der Erzähler durch seine Erzählweise die Anschuldigungen,
311 Das Mittelalter dachte einer Verbreiteten Aufassung nach generell stark in den Kategorien des ordo, wie ihn Augustinus definierte, vgl. Krings 1982. Entsprechend notwendig scheinen in der mittelalterlichen Literatur demnach feste Ordnungsprinzipien, wie etwa im Weltentwurf des höfischen Romans, der in ein höfisches Inneres und ein nicht-höfisches Äußeres zergliedert ist, vgl. hierzu Schulz 2015, S. 243–244. Ein durch die Legitimität seines Wesens und seines darin sichtbar werdenden Standes sanktionierter Held lernt darin schließlich musterhaft alle Anforderungen der höfischen Ordnung zu erfüllen. Auch in den Isländersagas äußern sich solche Ordnungsprinzipien, wenn Protagonisten zum Großteil die prototypisch vorgesehenen, gesellschaftlich abgesegneten Entwicklungsstufen durchlaufen und sich in ihrem Handeln nach dem Normcodex der Gesellschaft zu richten versuchen. Das Ziel des ordo bestimmt so den final den Narratonsablauf – deren Stabilität wird durch sein Ende und das gültige Ordnungsprinzip absanktioniert und garantiert. 312 Vgl. Kap. 4.
3.5 Þrándr, der Erzähler der Færeyinga saga und die Implikationen der Macht
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die die Rezipienten Þrándr konkret anlasten können.313 Er protegiert Þrándr und lädt ihn zugleich mit einer Aura des Mysteriösen und Sinistren auf.314 Diese Erzähltechnik hat den Effekt, Þrándr den Rezipienten gleichzeitig näher zu bringen und ihn zu distanzieren. Þrándrs schlimmste Taten werden verschwiegen, was eine einfache Verdammung unmöglich macht, während er gerade deswegen so undurchsichtig bleibt, dass die Rezipienten ihm misstrauisch begegnen müssen. Insbesondere jedoch müssen sich die Rezipienten der Erzählung infolgedessen ein eigenes Urteil über Þrándrs Charakter bilden: Sie werden zu selbstständigen Sinnbildungsmaßnahmen aufgerufen. Ein durch den Erzähler vorgegebener Verständnisrahmen entfällt für Þrándrs Figurenzeichnung bzw. wird doppeldeutig angelegt. Seine narrative Darstellung macht Þrándrs Wesen in seinem Kern uneindeutig. Sie offenbart, dass ihm nicht mit Absolutheiten beizukommen ist. Anstatt in der Interpretation vom Erzähler geleitet zu werden, werden die Rezipienten mit Þrándrs überaus komplexer und ambivalenter Charakterisierung geradezu alleine gelassen. Damit wird eine hohe Offenheit im Text der Saga erzeugt. Þrándrs Figurenzeichnung bleibt in ihrer vielschichtigen Widersprüchlichkeit unfasslich, weil ein abschließendes Bewertungskriterium fehlt. Angesichts dessen können allein die Rezipienten die Offenheit der Þrándr-Figur durch ihre Bewertung schließen. Diese Tatsache macht deutlich, dass Þrándr nicht einfach verurteilt und als Negativfigur dargestellt werden soll. Genauso wenig aber werden übermäßige Entlastungsstrategien aufgeboten, ohne selbst unterlaufen zu werden. Es scheint daher letztendlich, dass die Moral von und über ihren Protagonisten nicht das Hauptaugenmerk der Færeyinga saga darstellt. Þrándr genießt seinen Erfolg im Rahmen der Diegese und der Narration nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Antimoral und Regellosigkeit. Wertethik ist eine Bewertungskategorie, die sich auf ihn kaum anwenden lässt, und Regeln, die er nicht selbst geschaffen hat, beugt er sich nicht. Entsprechend lässt sich festhalten, dass die Belehrung der Rezipienten und Erfüllung narrativer Konventionen und Erwartungen nicht das Anliegen des Textes in der Darstellung Þrándrs sind. Fokussiert wird stattdessen allein sein persönlicher, politischer Werdegang. Dieser ist unmoralisch, aber höchst erfolgreich, und eine daraus erschließbare Lehre müsste lauten, dass erfolgreiche Politik und Fragen insbesondere moralischer Rechtmäßigkeit weitgehend keine passenden Bettgenossen sind: »[A]ny political reading of [the saga] is necessarily a bleak one for a modern audience.«315 Gerade diese desillusionierte und desillusionierende Botschaft aber hält die Færeyinga saga in Þrándrs Figurenentwurf für ihre Rezipienten bereit: Moral, Rechtmäßigkeit, Ordnung und Legitimität – all diese Thematiken verlieren ihre Bedeutung im ungebremsten Spiel der Macht, das sich in der großen Mühle der Politik offenbart.
313 Während er gleichzeitig die potenzielle Zahl möglicher Untaten, die in Interpretation mit Þrándr verbunden werden können, fast bis ins Maßlose steigert. 314 Vgl. hierzu auch Kap. 3.6 u. Kap. 8. 315 Shortt Butler 2016, S. 347. Vgl. ihren gesamten Artikel sowie Miller 2017 für ähnliche Befunde in der Hrafnkels saga Freysgoða.
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3 Þrándr í Go˛tu
Þrándrs Ziel ist die unbegrenzte Macht, und letztlich macht er sich selbst zum Inbegriff der Macht auf den Färöern. Die Macht, die Þrándr in der Færeyinga saga ausübt, ist nicht diejenige heldenhafter Kriegerprotagonisten, wie sie etwa ein Kjartan Óláfsson oder Bolli Þorleiksson, auch dessen Sohn Bolli Bollason, aus der Laxdœla saga oder Gunnarr von Hlíðarendi in der Njáls saga darstellen. Er ist im Gegenteil Zeit seines Lebens ein Langzeitstratege, der es versteht, Gelegenheiten, die sich ihm bieten, geschickt auszunutzen und sogar im Moment der offenbaren Niederlage noch Spielräume eigendefinierten Handelns für sich offen zu halten. Þrándrs Macht ist nicht körperlicher, sondern gänzlich politischer Natur und in seiner überragenden Intelligenz begründet. Für ihn definiert Macht sich nicht über die Fähigkeit, sich gewaltsam gegen andere durchsetzen zu können, sondern seine Umgebung in seinem Sinne zu steuern, durch unmerkliche, aber unwiderstehliche Planspiele, die Überlistung anderer und die Schaffung von Konstellationen, die ihm in die Karten spielen. Þrándr muss im Grunde niemanden töten, um mächtig zu sein. Die Frage, um die sich die gesamte Erzählung dreht, ist letztendlich die, weshalb und auf welcher Grundlage Þrándr so mächtig sein kann, was seine Macht eigentlich ist, wie er sie erlangt, erhält und verliert. Wie kann es sein, dass ein Mann wie Þrándr die mächtigste Figur auf den Färöern ist? Wie funktioniert Macht, wie konstituiert sie sich, worin besteht sie und wer kann sie ausüben? Die Antwort, die die Saga bietet, liegt gerade in Þrándrs Skrupellosigkeit und seiner Normwidrigkeit: Macht besteht nicht in der Erfüllung von Erwartungen oder einer Selbstbeschränkung des Handelns durch denjenigen, der sie anstrebt. Macht erhält, wer sie sich nimmt und dabei alle Regeln hinter sich lässt. Da Þrándr sich nicht so verhält, wie es ein ›Mann‹ nach den Normen der isländischen Sagagesellschaft zu tun hätte, und weil er einen Lebensweg beschreitet, der nicht den Erwartungen entspricht, gelangt er in eine Position, in der er die Macht über die Färöer in seine Kontrolle bringen kann. In seiner oftmals verdeckten, nur implizit erkennbaren Vorgehensweise handelt er dabei dem Offenkundigkeitsprinzip zutiefst zuwider, das unter anderem den Ehrbegriff der Sagagesellschaft bestimmt. Maßgeblich für die häufige Unkenntlichkeit seiner Aktionen ist ihre Präsentation durch den Erzähler, die destabilisiert und verdeckt arbeitet, ebenso wie die durch sie gezeichnete Figur. Scheinbar ›objektiv‹ berichtet die Erzählstimme nur, was offensichtlich ist – die sich daraus entwickelnden Tatsachen aber sind ganz andere als die, die sie zunächst zu sein scheinen. Sowohl Erzählstimme als auch Figur arbeiten somit häufig auf dem Prinzip der Differenzierung zwischen Schein und Sein. Mit dieser undeutlichen Zeichnung wird eine Figur entworfen, die auf den Färöern um sich herum eine eigene Erzählwelt zu erschaffen im Stande ist. Auf der Figurenebene bringt Þrándr die Länder der Inseln in seinen persönlichen Besitz und geht eine enge Verbindung mit diesen ein, wodurch er zur Zentralinstanz aller Vorgänge auf den Färöern wird. Die Erzählung der Ereignisse dort ist wesentlich über die Kongruenz zwischen der charakterlichen Nonkonformität Þrándrs und ihrer inhärent mehrdeutigen Darstellungsweise durch den Erzähler geprägt. Seine Figurenzeichnung prägt insofern den
3.5 Þrándr, der Erzähler der Færeyinga saga und die Implikationen der Macht
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Bericht aller Vorgänge auf den Färöern, in ihr werden die Parameter festgelegt, wie sich Macht auf diesem Archipel konstituiert. Diese Tatsache bedingt die in Kapitel 2.3 herausgearbeitete Semantik der Räume in der Færeyinga saga zwischen Norwegen und den Färöern. Auf den Färöern unpassend ist, auch in narrativer Hinsicht, was für Þrándr und seine narrative Zeichnung unpassend ist. Die Regeln, denen Þrándr sich nicht unterwirft, werden durch ihn so umgeschmolzen zu einer neuen Ordnung: Seiner eigenen. Ungezügelte politische Macht eines Einzelnen zeigt sich also nur so lange ungezügelt, wie sie eine durch Zügel definierte Ordnung abstreift. Ist dies geschehen, wird sie selbst zur neuen, gültigen Ordnung. In Þrándr zeigt sich dadurch in mehrfacher Hinsicht das Wesen der Macht: Auf der Figurenebene äußert sie sich in der Abweisung vermeintlich unhinterfragt gültiger Normen, auf der Ebene der narrativen Darstellung durch mehrdeutige Offenheit. Macht selbst lässt sich nicht eindeutig definieren. Sie bezeichnet die Fähigkeit, den eigenen Willen durchzusetzen, Ziele zu erreichen, ohne sich anderen Interessen beugen zu müssen. Letztlich besteht sie darin, Verhalten und Denken sozialer Umgebungen zu prägen und damit auch deren Wahrnehmung. Wege zu dieser Fähigkeit und Möglichkeiten, sie anzuwenden und durchzusetzen, gibt es viele. Insofern scheint es nur angemessen, diese Thematik narrativ nach einem Prinzip der Offenheit und Uneindeutigkeit zu bearbeiten. Da derjenige, der Macht besitzt, Verhalten und Wahrnehmung seiner Umgebung beeinflussen kann, scheint es angesichts der Kongruenz zwischen der Selbstinszenierung des Erzählers und der Þrándrs nur folgerichtig, wenn eine Verständnisanleitung von dessen Figurendarstellung durch einen regelhaft sanktionierten Rahmen entfällt. So wird nicht nur eine zynische Analyse eines Machtmenschen geboten, sondern Fragen der Machtkonstitution selbst zum Thema der narrativen Verhandlung. Die Frage ergibt sich, welche Macht Þrándr nicht nur auf den Färöern, sondern über die Erzählung selbst und in der Wirkung des Narrationsvorgangs sogar über die Rezipienten entfaltet. Durch seine Figurenzeichnung werden viele Fragen gestellt oder impliziert, fast keine aber beantwortet: Ist Þrándr als böse zu verstehen? Kann nur ein solcher Mann erfolgreich Macht erlangen? Ist wahre, politische Macht überhaupt in festgefügten Kategorien greifbar? Und wenn nicht, welche Auswirkungen entfaltet dann wahre Macht über die historischen Verständniskategorien, die für die Entstehungszeit des Textes üblicherweise festgesetzt werden? Ist dem Erzähler zu trauen, inbesondere wenn er gerade solche Fragen aufwirft, ohne sie zu beantworten? Nur durch dieses inhärent mehrdeutige, gewissermaßen unbestimmte, Erzählprinzip kann jedoch Macht an sich narrativ bearbeitet werden – durch Regeln oder in Absolutheiten abgefederte Standards wäre das Thema der Macht nicht zu bewältigen. Die Færeyinga saga setzt sich nicht mit der Begründung oder Abweichung von gültigen Ordnungen auseinander, sondern interessiert sich zentral für die Frage der Entstehung von Ordnungen, insbesondere solcher von machtpolitischer und damit zusammenhängend auch narrativer Natur. So ist Þrándr ein unermesslich erfolgreicher Machtmensch, der in der egoistischen Skrupellosigkeit, die seinen Erfolg begründet, aber jegliche mildernden Um-
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stände hinter sich lassen muss. Doch sein Erfolg strahlt hell, und er deckt fast den gesamten Plotverlauf der Færeyinga saga ab. Zugleich aber endet die Erzählung nicht im Moment von Þrándrs Einnahme seines unausgesprochenen Königtums der Färöer, sondern mit seiner Desintegration als Herrscherfigur und seinem Tod im Moment der vollständigen Niederlage. Dies ist jedoch nicht einer Einbuße seiner Handlungsmacht als alter Mann oder einer anderen narrativen Funktion seiner Figur zuzuschreiben. Der Realpolitiker wird hingegen schließlich von der Realität überholt. Zurückzuführen ist dies auf eigene, kleine Fehler, die letztendlich aber politischen Notwendigkeiten für die langfristige Durchsetzung seiner Ambitionen entspringen. Nicht alles lässt sich allerdings von Þrándr kontrollieren, und die Welt der Politik beinhaltet stets Unwägbarkeiten, die sich nicht vorhersehen lassen. Nur insofern verliert Þrándr schlussendlich die Kontrolle, aufgrund der Unmöglichkeit, den Ablauf des Weltgeschehens zu kontrollieren.316 So wird also auch untersucht, wie Ordnungen der Macht in sich zusammenfallen können. Persönliche, politische Macht ist endlich, und jede noch so erfolgreiche Ordnung, die sich über die vormals gültigen Regeln hinwegsetzt und eigene an ihre Stelle setzt, ist selbst anfällig für Veränderungen. Jeder Machtpolitiker erlebt auch Momente der Schwäche, die sich als fatal herausstellen können, wenn entsprechende Konstellationen anderer, mächtiger Akteure um sie herum entstehen. Insgesamt ist Þrándr somit ein Antiheld, über den kein eindeutiges Urteil gefällt wird. Seine Taten werden zwar nicht grundsätzlich gerechtfertigt, dennoch sind sie durch den Platz, der ihnen in der Narration eingeräumt wird, aus seiner Perspektive heraus durchaus »nachvollziehbar«.317 Þrándrs Figurenzeichnung ist derartig ambi316 Vgl. Berman 1985, S. 124–125. Diese Feststellung ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Bermans Hypothese, die Ideologie hinter diesem Ende zeige, dass »restisting monarchy is wisest – but the historical perspective teaches otherwise«. Dies ist nur eine der möglichen Lesarten, die sich aus dem Gesamtverlauf der Saga ziehen lassen. Neutral gesprochen zeigt Þrándrs Ende lediglich die Grenzen von Machtpolitik und die Einsicht, dass jede politische Ordnung notwendigerweise ein Ende hat. Auch persönliche Macht ist endlich und selbst ein Mann wie Þrándr kann in den Mühlen der Politik schlussendlich zerrieben werden. Zu bedenken ist hierbei freilich, dass das abschließende Teilstück der Færeyinga saga im Kontext der Óláfs saga helga überliefert ist. Am Ende ist wieder die Ausgangslage erreicht, die Färöer sind wieder Teil des norwegischen Reiches, wodurch die übergreifende Logik der Erzählung von den norwegischen Königen befriedigt wird (vgl. Glauser 1989, S. 221). Dabei muss Þrándr notwendigerweise ebenso von der Bühne verschwinden wie seine beiden großen Gegenspieler Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson. Deren Geschichten sind an diesem Punkt zu Ende erzählt – nach dem Abschluss der beiden Óláfs sögur beginnt in der Flateyjarbók eine neue Zeit. Zum ursprünglich wohl geplanten Ende des Codex nach diesen beiden Texten vgl. Ólafur Halldórsson 1990a, S. 430; zur womöglich finalen Zielsetzung des Codex vgl. Zernack 1999; Ashman Rowe 2005, bes. S. 54–61 u. S. 200–204. Die neue Zeit bricht in der Færeyinga saga mit Leifr Ǫzurarson an, der die prägenden Gegensätze des vorherigen Konflikts in sich aufheben kann und sich somit noch besser als Herrscher eignet, als Þrándr dies mit seiner rücksichtslosen Machtpolitik kann, siehe hierzu Kap. 6. Das Ende der Saga bestätigt insofern funktional ihren Anfang, enthält sich im Kern aber ebenso einer Wertung des Erzählten wie über den Gesamtbericht hinweg. 317 Bick 2005, S. 10. Entsprechend ist es möglich, ihm mit Sympathien zu begegenen, vgl. Almqvist 1992b, S. 54. Jedoch besteht dazu kein narrativ erzeugter Zwang.
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valent und vielschichtig, dass sie viele Zugänge möglich macht, und so lebensnah, dass selbst ein Rezipient, der ihn moralisch verurteilt, ihn mit Spannung verfolgen dürfte. Þrándr und sein Leben, ebenso wie deren narrative Umsetzung, werden so zum Signum der Erzählung, ja zur Vignette der Færeyinga saga selbst:318 Offen ist in ihr nicht nur die Inszenierung Þrándrs allein, sondern auch seine Zuordnung zu den ihn umgebenden Figuren, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird. Dabei können die hier ausgeführten Argumentationen und Ergebnisse Anspruch auf Gültigkeit nur für die Redaktion der Færeyinga saga in der Flateyjarbók erheben. Insbesondere die kürzeren Textredaktionen in anderen Óláfs saga Tryggvasonar-Handschriften ändern Þrándrs Figurenzeichnung dramatisch ab. Er wird dort durch verschiedene Strategien nicht zum Protagonisten, sondern rundheraus zum Antagonisten stilisiert. Eine Kongruenz zwischen der Erzählstimme und ihrer Darstellung Þrándrs sowie seinem Handeln und Wesen als Figur lässt sich hier keinesfalls feststellen, indem die dafür grundlegende Haleyri-Szene mittels eines negativen Erzählerkommentars über sein Verhalten und dessen Erfolg abgekürzt wird. Zugleich wird am Ende seiner Auslandsreise Þrándrs abgründiger Charakter durch den Erzähler mit derselben Vehemenz wie in der Flateyjarbók klargemacht. Es handelt sich hier dabei um die einzige nähere Beschreibung Þrándrs, anders als in der Flateyjarbók-Redaktion wird er somit nicht widersprüchlich eingeführt.319 Dadurch wird die Etablierungsszene von Þrándrs Persönlichkeit vom grundsteinlegenden Element seiner Figurenzeichnung, und damit Dreh- und Angelpunkt der Kristallisation einer Aussageintention der Saga, zur Vorstellung eines ungeschönt widerlichen Antagonisten. Die inhärente Mehrdeutigkeit, die die Færeyinga saga der Flateyjarbók bei Þrándrs Figurendarstellung auszeichnet, wird bereits durch diese Tatsache vollständig getilgt. Seine abgründige Persönlichkeit dringt hier deutlich durch den Text, nicht etwa eine Strategie der Narration, über seine Darstellung einen multiperspektivischen Diskurs über Macht, ihre Generierung und ihre Auswirkungen, auch in erzähltechnischer Hinsicht, in Gang zu setzen. Die Dinge gestalten sich in diesen Redaktionen wesentlich geradliniger und eindeutiger, die Textaufnahme durch die Rezipienten wird hier deutlich über den Erzähler als Instanz geleitet. Þrándrs erste Äußerung in direkter Rede, ja seine erste Aussage im Text überhaupt, ist durch die Auslassung der Haleyri-Szene die im Wortlaut zwar weniger überdramatische, aber ebenso drastische Hetzrede vor Hafgrímr und die darin aufscheinende Arglist.320 Danach fordert er unmittelbar und mehrfach die Ermordung von Sigmundr und Þórir. Sein scheinheiliges Angebot der Ziehvaterschaft als angebliche Buße dagegen fällt
318 Vgl. hierzu auch Kap. 8. 319 Er und sein Bruder Þorlákr werden zwar zuvor als miklir menn ok styrkirr (Fær, S. 4 [Text A]; große und starke Männer) bezeichnet, dies kommt aber keineswegs der mehrfachen und inhärent mehrdeutigen Figurenvorstellung in der Flateyjarbók und deren strukturell verunsichernder Funktion gleich. 320 Siehe Fær, S. 15 (Text A). Þrándr beschimpft Hafgrímr hier (etwas) weniger dramatisch als mannskræfa statt als skauð.
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noch wortreicher und somit schmieriger aus.321 Auch das Bestechungsgeld, das er dem Händler Hrafn für die Annahme der Jungen als Sklaven bezahlt, fällt hier mit fünf Mark Silber um drei höher aus als in der Flateyjarbók.322 Danach wird von ihm bis zur Rückkehr Sigmundrs aus dem Exil nicht mehr berichtet. Zu diesem Zeitpunkt scheint er noch mehr im Hintergrund zu agieren: Ǫzurr hält ihm gegenüber die Hälfte der Inseln in Besitz und hat die Besitzungen von Sigmundrs Familie auf sein Anraten hin übernommen.323 Þrándr nimmt somit wesentlich weniger Platz in der Erzählung ein, wodurch allein sich der Fokus auf andere Figuren verschiebt. Im Zentrum dieser Erzählungen im Kontext der größeren Óláfs saga Tryggvasonar stehen eindeutig Sigmundr und sein späterer, christlicher König.324 Þrándr ist nur deren Gegenspieler, der im Lauf der Erzählung zu verurteilen und auszuschalten ist. Dabei setzen die unterschiedlichen Redaktionen im Detail durchaus eigene Schwerpunkte,325 verändern aber in der Gesamtansicht die Textkonzeption und Figurenzeichnung im Vergleich mit der Flateyjarbók ganz erheblich. Eine solchermaßen geänderte Konzeption Þrándrs findet sich auch in der Version B der Handschriften des zweiten Teils der Saga in der Óláfs saga helga.326 In der Flateyjarbók hingegen ist er die Fokusinstanz der Erzählung und sie nutzt seine Darstellung, um einen vielschichtigen und offenen Diskurs über das Wesen der Macht zu entwickeln, den seine Korrelation mit den weiteren Figuren, wie sie im Weiteren zu zeigen sein wird, noch um einiges komplexer und offener gestaltet.
3.6 Magie und Heidentum? Zu Þrándrs Glauben Der oben ausgeführten, vielleicht sehr modern anmutenden Auffassung der ÞrándrFigur steht der Befund entgegen, dass er scheinbar auch als Repräsentant eines antichristlichen oder jedenfalls heidnischen Weltbildes fungiert. Eine solche Figurenkonzeption erscheint in Hinblick auf den mit Sicherheit christlichen Entstehungskontext der Erzählung und ihres ursprünglichen Adressatenkreises auf den
321 Zum Textvergleich siehe Fær, S. 16–17. 322 Zum Textvergleich siehe Fær, S. 19. Zusätzlich wird bei der Freilassung der Jungen durch Hrafn in Norwegen die Erklärung durch den Händler eingeschoben, er tok […] ok fyrir þa skylld við ykkr at ek þottumz sea huersu erfiðliga Þrandr mundi við ykkr bua (Fær, S. 21 [Text A]; ›nahm […] euch auch hauptsächlich deswegen auf, weil ich glaubte, zu sehen, wie schlimm Þrándr mit euch verfahren würde‹). Diesen Zusatz spart Redaktion D aus, siehe Fær, S. 21 (Text D), womit Þrándr dort erneut weniger poitiniert als bösartig dargestellt wird. 323 Siehe Fær, S. 51 (Text A). 324 Vgl. hierzu näher Kap. 4 u. Kap. 7.4.3. 325 Die Ausnahme der hier beschriebenen Darstellungstendenz bildet so in gewisser Weise Redaktion D, in der Þrándr immerhin ein wenig weniger abgründig dargestellt wird, vgl. Kap. 3.2.3 (Fn. 146). Redaktion B (AM 53 fol.) hingegen geht in ihrer Verdammung Þrándrs eindeutig am weitesten, was sich insbesondere in der Christianisierungsszene zeigt, siehe hierzu Kap. 3.6.1. 326 Siehe auch Kap. 3.4.4, Kap. 5.3 u. Kap. 7.4.4.
3.6 Magie und Heidentum? Zu Þrándrs Glauben
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ersten Blick nicht mit dem verbreiteten Bild eines ›christlichen Mittelalters‹ vereinbar. Entsprechend wurde in der Forschung Þrándr neben seiner Funktion als Symbolfigur eines isländischen Unabhängigkeitsbewusstseins auch die Rolle eines halsstarrigen heidnischen Zauberers zugewiesen.327 In Bezug auf die Figur Þrándrs und ihre moralische Einordnung gewinnt diese Tatsache besondere Bedeutung. Grundsätzlich ist hierzu zu bemerken, dass das verbreitete Bild ›des‹ christlichen Mittelalters in seiner Strenge als reichlich übertrieben betrachtet werden muss.328 Es verdankt seinen Ursprung im Grunde dem Großnarrativ der vernunftgestützten Höherentwicklung des Menschen, das in der Epoche der Aufklärung geprägt wurde.329 Zudem sind die isländischen Umstände in dieser Hinsicht schon historisch besonders.330 Auch literarisch scheint der Schritt von der heidnischen in
327 Vgl. Foote 1984c, S. 178. Vgl. allgemein auch Berman 1985, S. 124; Haugan 1987, S. 78; Bonté 2014b, S. 102–103. Vgl. weiterhin North 2005, S. 67–68 mit Emphase auf dem politischen Hintergrund; so auch Bick 2005, S. 3, die die moralische Komponente dahinter einschränkt. 328 Vgl. zu dieser Überlegung auch Schmidt 2016, S. 299–301. 329 Vgl. Koschorke 2013, S. 270–277 u. S. 388–395. Die Abwertung eines »Mittelalters« zwischen Antike und Moderne speißt sich letztendlich nachhaltig aus der Abwertung der Vergangenheit und Glorifizierung der antiken Vor-Vergangenheit in Renaissance und Humanismus. Auf diese sattelt wiederum das prägende Master-Narrativ der vernunftbegabten Fortentwicklung des Menschen auf, das sich ab der Aufklärung und ihrer vermeintlichen Lösung von transzendenten Weltdeutungsmustern unbedingte Gültigkeit einschreibt. Obwohl solche Gedankenkonstrukte narrativ verfasst sind, müssen sie als kulturbegründende ›Mythen‹ bis zu einem gewissen Grad von jedem Kulturteilnehmenden geglaubt werden, um sich nicht der Kritik und Ausstoßung durch die soziale Umgebung (den anderen Kulturangehörigen) ausgesetzt zu sehen, vgl. Koschorke 2013, S. 249–266; auf abstrakterem Niveau S. 177–202. Sie stiften so eine Wir-Identität, die eine Abgrenzungsbewegung gegen eine abqualifizierte ›andere‹ Identität bedingt. So grenzt sich die ›Moderne‹ in ihrem Wesen als sekulär, rational, innerlich-psychologisierend gegen die ›Vormoderne‹ und ihren Glauben an Transzendenz, äußerlich-göttliche oder schicksalhafte Bestimmheit und vermeintlich deswegen unhinterfragbare Gültigkeit ihrer Konzepte ab. Dabei verlangt das Konzept dieser ›Moderne‹ eine im übertragenen Sinne ebenso letztbegründete, nicht zu dekonstruierende Gültigkeit für sich. Diese Position informiert letztendlich noch Forschungen wie Alt 2010, der die Gültigkeit seiner Ästhetik des Bösen erst ab der Moderne ansetzt, weil im Mittelalter per se ein transzendenter Sinnrahmen bestanden habe, der das Böse pauschal als Teufelswerk habe apostrophieren müssen. Wenn allerdings die Sagaliteratur dieselbe Problematik umreißt wie die Literatur, die Alt untersucht (vgl. Schmidt/Hahn 2016, S. 17–18) und sich Alts Konzept in seinem Kern unzweifelhaft übertragen lässt (vgl. Schmidt 2016, S. 299–304), stellt sich die Frage, inwiefern die Prämisse der ›Alterität des Mittelalters‹ als solchem sich als haltbar herausstellt. 330 Zwar wird in den isländischen Quellen im Einklang mit der kontinentalen Literatur regelmäßig ein christlich geprägtes Weltbild apparent, vgl. grundlegend etwa Baetke 1973; Lönnroth 1969; Düwel 1985; Weber 2001a; Weber 2001b; als Überblick der unterschiedlichen Positionen der älteren Forschung bezüglich der christlichen Durchdringung der altnordischen Literatur siehe Schottmann 1981. In der jüngeren Forschung steht die grundsätzliche Richtigkeit dieser Befinde kaum mehr zur Debatte. Nichtsdestoweniger scheinen aufgrund der verhältnismäßig gewaltfreien Konversion Islands (eine Vorstellung, die hauptsächlich durch Ari Þorgilssons Íslendingabók geprägt wurde, vgl. auch Gschwantler 1976) die Kontinuitäten zwischen vorchristlicher und christlicher Zeit, jedenfalls im fassbaren literarischen Abbild, um einiges stärker gewesen zu sein als auf dem Kontinent.
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die christliche Zeit weniger bedeutend, als angenommen werden könnte. So ändert sich etwa der Verhaltenscodex der Figuren in den Isländersagas im Moment des Glaubenswechsels kaum je signifikant.331 Das gleiche trifft grundsätzlich auf die Færeyinga saga zu.332 Daneben ist es für eine so unorthodox dargestellte Figur wie Þrándr, die sich ohnehin abseits gesellschaftlicher Normen und sogar gängiger Erzählkonventionen befindet, nicht unstattgemäß, auch anzunehmen, dass in seiner Figurenzeichnung ein vermeintlich für das Mittelalter derartig zentrales Paradigma wie das des rechten, christlichen Glaubens in erheblichem Maße abgewandelt und pervertiert wird.
3.6.1 Der halsstarrige Heide? Þrándrs Religiosität im Konflikt mit Sigmundr Þrándr verweigert sich dem christlichen Glauben im Moment der auf Óláfr Tryggvasons Anstoß hin eingeleiteten Konversion sofort. Dies tut er jedoch weniger aus prinzipiellem Unwillen, sondern viel eher, weil er unmittelbar erkennt, welche einschränkenden Auswirkungen sie auf seine Machtposition haben könnte. Nominell hat er zu diesem Zeitpunkt bereits jede Autorität verloren. Eine Konversion würde Sigmundrs Autorität als Repräsentant und Missionar im Namen des norwegischen Königs stärken und insbesondere dem Missionskönig Óláfr Tryggvason verstärkten Zugriff in Þrándrs Einflusssphäre garantieren. Diese Entwicklung kann Þrándr nicht tolerieren, wenn er seine Macht erhalten will. Er verlangt eine Besprechung der Angelegenheit unter den auf dem Þing anwesenden Männern, und überredet diese, die Bekehrung abzulehnen, um Sigmundr daraufhin offen mit dem Tod zu bedrohen:
Das reiche Eigenkirchenwesen, das auf Island entstand (vgl. Schäferdiek 1986) förderte eine Alphabetisierungsrate, die vergleichsweise hoch war (vgl. Einar Ól. Sveinsson 1956). Literatur war daher, anders als in den meisten anderen Ländern des europäischen Mittelalters, nicht allein an kirchliche Institutionen geknüft. Zwar ist auch dieser Punkt streitbar (vgl. Lönnroth 1964), jedoch dürfte dieser historische Hintergrund dazu beigetragen haben, dass die isländische Literatur trotz ihrer unbestreitbaren ›Mittelalterlichkeit‹ vergleichsweise deutliche Sonderwege ausgeprägt hat. Kein anderes Land des europäischen Mittelalters hat eine mit Snorri Sturlusons Edda vergleichbare, vorchristliche Mythensystematik hervorgebracht, selbst wenn sich in Snorris Kompendium deutlich sein christliches Weltbild niederschlägt; hier steht in der Forschung lediglich zur Debatte, wie genau, vgl. etwa Weber 1994, S. 9–15; gegenteilig van Nahl 2013; Beck 2013. Zudem sind auch jenseits von Snorri vorchristliche Inhalte auf Island in einer Menge überliefert, die ihresgleichen sucht. Dementsprechend ist die isländische Sagaliteratur unbestreitbar eminent weniger von christlichkirchlichen Diskursen geprägt als etwa der höfische Roman. Zur grundsätzlich klerikalen Bedingung der Literaturproduktion auf dem Kontinent, die auch in der höfischen Literatur noch nachwirkt, wobei diese sich vom geistlichen Primat abzusetzen beginnt, vgl. Bumke 1986, S. 595–633. Die Protagonisten der Isländersagas sind trotz ihrer Prägung durch christliche Verständnismuster etwas diametral anderes als die emphatisch christlichen Ritter der Artusepik. 331 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 87–89. 332 Vgl. auch Kap. 4.5.
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[G]engu þeir Þrandr þa anan vegh ꜳ vὀllinn. Telr Þrandr þꜳ vm fyrir bondum. at þeim er eínsætt at neíta þessum boð skap skiott ok lykr sva með hans for tolum at þeir verða allir ꜳ eitt sattir. […] Þa m(ællti) Þrandr […] En þer er þat at segia S(igmundr) frændi […] at ver vilivm með engu moti taka siða skipti ok her munu ver ueita þer at gὀngu ꜳ þinginv ok drepa þik nema þv lettir af ok heitir þvi til fasta at flytia alldri þenna boð skap siþan her í eyiunvm.333 (Sie und Þrándr gingen da auf einen anderen Platz des Feldes. Da redet Þrándr auf die Bauern ein, dass es das einzig Richtige sei, diese Botschaft sogleich abzulehnen, und es endet so mit seinem Zureden, dass sie alle einig werden. […] Da sprach Þrándr: ›[…] Aber es muss dir gesagt werden, Verwandter Sigmundr, […] dass wir keinesfalls einen Glaubenswechsel annehmen wollen und wir werden dich hier auf dem Thing angreifen und dich töten, es sei denn, du lässt ab und schwörst fest, diese Botschaft nie wieder hier auf den Inseln vorzutragen‹.)
Für den Moment ist Þrándr erfolgreich mit seiner Widersetzung gegen die Bekehrung, doch sein Kontrahent gibt nicht so leicht auf. Im folgenden Frühling überfällt ihn Sigmundr auf seinem Hof in Gata. Als er ihn mit dem Tod bedroht, falls er sich nicht taufen lässt, antwortet Þrándr zunächst mit dem Satz Ecki mun ek bregdaz hinum fornum vínum minvm,334 scheut dann allerdings wenig standhaft zurück, als er sieht, dass Sigmundr es ernst meint. Bevor er sich für seine »alten Freunde« töten lässt, zieht er es also doch vor, sie zu »verraten«. Nach der Regierungszeit Óláfr Tryggvasons heißt es allerdings wiederum: [Þ]at er sagt fra Þrandi at hann kastar raun míog tru sínne ok allar hans kumpanar.335 Die vorgeblich demokratische Entscheidung, die Þrándr hier einfordert, entstammt bewusstem Kalkül. Die Männer, die er zur Ablehnung von Sigmundrs missionarischer Botschaft überredet, dürften aufgrund seiner Landbesitzungen als von ihm abhängig zu betrachten sein. Seine rhetorische Überlegenheit dürfte ein Übriges dazu beitragen, sein Ziel erreichen zu können. Wie stets, wenn er eine Entscheidung auf die Allgemeinheit übertragen möchte, kann er sich also wohl bereits vorher seines Sieges sicher sein. Die Wendung an die Gemeinschaft, über die Þrándr mehr oder minder nach Belieben verfügen kann, dient auch der öffentlichen Demütigung Sigmundrs, der schwören muss, von seinem königlichen Auftrag abzulassen. Þrándr führt Sigmundr seine politische Allmacht auf den Färöern in diesem Moment zwar nicht so deutlich vor Augen wie später Leifr und Gilli, doch Sigmundr erkennt seinen Fehler: Of mikit valld hefi ek nv fengit Þrandi.336 Þrándr präsentiert sich zugleich als der althergebrachten Lebensweise verbunden und entlarvt damit Sigmundr als Fremdkörper. Seine Macht hingegen gründet sich auf seine unverbrüchliche feste Verbindung mit den Färöern. Diese äußert sich in seiner alten Religion,
333 Fær, S. 74–75. 334 Fær, S. 76 (›Ich will meine alten Freunde nicht verraten‹). Diese fornir vinir lassen sich als Chiffre für die heidnischen Gottheiten verstehen, mit denen Þrándr offenbar eine fruchtbare Verbindung pflegt, vgl. North 2005, S. 67–68, siehe auch Kap. 8. 335 Fær, S. 81 (Von Þrándr wird erzählt, dass er seinen Glauben ganz abwarf und all seine Kumpane). 336 Fær, S. 74 (›Zu viel Macht habe ich Þrándr nun gegeben‹).
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deren Gottheiten als Symbole für Þrándrs Herrschaftsmacht und ihre Basierung auf seiner Identifikation mit dem färöischen Land verstanden werden können.337 Zudem geriert er sich öffentlich erneut als um Frieden bemüht, immerhin hält er die Männer davon ab, sich sofort gegenseitig zu erschlagen,338 und droht Sigmundr zwar mit Gewalt, setzt sie aber doch nicht ein. Þrándr lehnt den Religionswechsel ab, weil er einen Machtzuwachs für die norwegische Partei, die Sigmundr repräsentiert, im Kampf um die Herrschaftsposition auf den Färöern bedeutet. Durch einen Glaubenswechsel würde er sich dem Willen des aus seiner Sicht fremden Königs Óláfr beugen müssen, der ihn mit der fremden Religion Machtstrukturen unterwerfen würde, die nicht seine eigenen sind. Die Bande zwischen norwegischer Großmacht und färöischem Mikrokosmos, die Þrándr mühevoll getrennt hat, würden durch die Konversion enorm gestärkt.339 Zudem würde eine Niederlage gegen Sigmundr in dieser Angelegenheit dessen Position stärken und erweisen, dass dieser seinem Gegner den eigenen Willen und die vom fremden Herrn zugewiesene Autorität aufzwingen kann. Es würde sich somit erweisen, dass doch der norwegische König der eigentliche Machthaber auf den Färöern ist, und dass auch Þrándr in seinem Mikrokosmos dieser Macht letztlich unterworfen ist. Ein Glaubenswechsel, mehr noch als der nominelle Machtverlust, den Þrándr ohnehin bereits erlitten hat, aber wenigstens hinterrücks aushebeln kann, käme so potenziell einer völligen Neuordnung der Dinge auf den Färöern gleich. Diese muss Þrándr unbedingt verhindern, will er die von ihm erschaffene Ordnung aufrechterhalten. Es ist also vor allem der Symbolwert des Christentums, mit seinem expliziten Ursprung im norwegischen König Óláfr Tryggvason, gegen den Þrándr sich wendet: Er lehnt die Konversion nicht ab, weil er den christlichen Glauben als solchen ablehnt, sondern weil diese einer Verstärkung des norwegischen Elements auf den Färöern gleichkommt,340 und vielleicht auch, weil ein explizit kirchlicher Einfluss die Erweiterung des politischen Parketts um eine für ihn unkalkulierbare Größe bedeuten würde. Ein weiterer Grund ist die Darstellung seiner selbst in der Öffentlichkeit: Anders als Sigmundr mit der Lokalbevölkerung verbunden, als Anführer geeignet, bestimmt und doch gnädig und nicht nach Gewalt trachtend, wenn er seine Ziele auch anders erreichen kann.
337 Vgl. North 2005, S. 67–68. Vgl. hierzu auch Kap. 8. 338 Fær, S. 74: Þa m(ælti) Þrandr. Setiz menn niðr ok geri sik ecki sva oða (Da sprach Þrándr: ›Die Männer sollen sich hinsetzen und nicht so wütend werden‹). 339 Vgl. Bick 2005, S. 3–4; Bonté 2014b, S. 103. 340 Die zentrale Wendung taka siða skipti in der Ablehnung von Sigmundrs Missionsauftrag auf dem Þing ist in der Redaktion der Flateyjarbók selbst vielsagenderweise auch gar nicht enthalten, es heißt dort lediglich uer bændr uerdum allir a æitt sattir um þat eyrende er þu fluttir at uer ulium med ỏngu moti (Flat I, S. 366; ›Wir Bauern sind alle einer Ansicht hinsichtlich der Rede, die du vorgetragen hast, nämlich, dass wir keinesfalls annehmen wollen‹). Der Fokus auf die Christianisierung als solche wird dadurch zusätzlich massiv geschwächt. Siehe hierzu auch Kap. 4.5.1.
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Es zeigt sich somit, dass Þrándr Religion keineswegs aus sich selbst heraus wichtig ist, sondern stets nur in einem politischen Zusammenhang bedeutungsvoll erscheint. Seine Ziele und sein Handeln sind politisch, und so ist auch sein Verständnis von Religion: Er will die Herrschaft, und »[f]or a while, Þrándr’s paganism is a means to this end«.341 Als er sich aber schließlich mit dem Tod bedroht sieht, willigt er bereitwillig genug ein, sich taufen zu lassen: [S]kal ek taka þann sið er þu uill.342 Der Verlauf dieser Zwangstaufe illustriert zum einen Þrándrs Feigheit im Angesicht einer gewalttätigen Auseinandersetzung, in der er nicht in der Übermacht ist (wie zuvor auf dem Þing), macht zum anderen aber auch sehr deutlich, wie wenig Bedeutung er Religion beimisst. Wäre er ein überzeugter und standhafter Heide, könnte er auch den Tod wählen. Sein Glaube bedeutet Þrándr aber um vieles weniger als sein politischer Einfluss, und ist insofern wenig mehr als eine Variable, die nach Bedarf verändert werden kann. Er kehrt nach der Herrschaft Óláfrs denn offenbar auch wieder zu seinem Glauben in der vorherigen Form zurück. Dies zeigt zweierlei: Einerseits endet die Strahlkraft der religiösen Neuordnung der Färöer mit ihrer Garantie durch eine enge Bindung Sigmundrs an seine Lehnsherrn,343 andererseits erweist Þrándr, wie unbedeutend Religion in seinem Leben ist. Er wechselt sie zum (nominellen) Christentum und wieder zurück, womit die gesamte Angelegenheit letztlich Episode verbleibt. Den Rest von Þrándrs Leben über spielt seine Religiosität ebenso wenig mehr eine Rolle, wie sie das vor Sigmundrs Missionsbotschaft zu tun scheint. Diese Interpretation ergibt sich dabei nur aus der Betrachtung des in der Flateyjarbók überlieferten Gesamttextes der Færeyinga saga. In den anderen Versionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta ist die Bekehrungsepisode der Endpunkt der Darstellung färöischer Ereignisse. Allein dadurch ergibt sich eine völlig andere Perspektive.344 Die Erzählung von den Färöern endet zu dem Zeitpunkt, als Þrándr sich feige der Konversion beugt, es danach aber doch schafft, nicht nach Norwegen verbracht (und dort vermutlich gerichtet) zu werden. Von einem späteren Abwurf des Glaubens durch Þrándr wird in diesen Versionen des Textes ebenfalls nicht berichtet.345 König Óláfr bleibt durch die Taten seines Gesandten Sigmundr in seiner
341 North 2005, S. 60. 342 Fær, S. 76 (›Ich werde den Glauben annehmen, den du willst‹). 343 Die Færeyinga saga macht diesen Konnex explizit, siehe Fær, S. 81: [N]u for vm kristni j Fær eyium sem uidara annarstadar j riki j(arla) at huer lifde sem villde (Nun ging es mit dem Christentum auf den Färöern ähnlich wie weiter andernorts im Reich der Jarle, dass jeder so lebte, wie er wollte). Zur Bedeutung der Information, dass huer lifde sem villde vgl. Kap. 3.4. Vgl. auch Bonté 2014b, S. 103. 344 Siehe hierzu Kap. 4 u. Kap. 7.4.3. 345 Entsprechend sollte die Bewertung dieses oben zitierten Satz im Kontext der Flateyjarbók nicht überbewertet werden. Zwar ist der Einschätzung von Bonté 2014a und Bonté 2014b durchaus zuzustimmen, dass dadurch eine Perspektive eröffnet wird, die isländische und färöische Konversion parallel stellt, jedoch rückt dieser Satz allein nicht die Religionsthematik in der Færeyinga saga in den Vordergrund. Dass im weiteren Rahmen darauf gerade nicht wieder zurückgekommen wird,
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Missionierung der Färöer damit auf ganzer Linie erfolgreich.346 Þrándr erscheint dadurch tatsächlich als halstarriger Heide, der durch Sigmundr und das Wort seines Herrn Óláfr folgerichtigerweise auch unter Zwang zum rechtmäßigen Glauben gebracht wird, selbst wenn er diese Gnade angesichts seines schurkischen Charakters und fortgesetzten Widerstands kaum verdient. Die einstweilige Verweigerung auf dem Þing und Þrándrs Erfolg bei den Bauern illustrieren dabei gleichermaßen den Einfluss des bösartigen Widersachers von König und Untergebenem und die Hilfsbedürftigkeit der färöischen Bevölkerung. Diese lässt auch Gewalt gegen den Widerständler als gerechtfertigtes Mittel erscheinen, um sie in christlichem Verständnis vor jenem Einfluss zu retten. Þrándr Charakter zeigt sich durch seine schmierige Feigheit vor der Konversion in diesen Textredaktionen als konstant negativ, als Abbild all dessen, was an der vorchristlichen Welt verwerfenswert ist.347 Diese Redaktionen zeigen damit ein diametral anders geartetes Þrándr-Bild als die Flateyjarbók auch in Bezug auf die Religionsthematik. Hier ist er sehr wohl sinster-heidnischer
macht deutlich, dass der Satz insbesondere dazu dient, die Bedeutungslosigkeit von Glaubensfragen für die Figur Þrándrs zu illustrieren. Nichtsdestoweniger befindet sich der Satz in jenem Teil der Færeyinga saga, der in der Flateyjarbók den Übergang zwischen beiden Óláfs sögur auffüllt. Þrándrs Apostasie ist dadurch dezidiert keiner der beiden Regierungszeiten Óláfr Tryggvasons und seines Nachfolgers zuzuordnen, sondern ereignet sich in der gleichsam rechtlosen Zeit der Herrschaft der Hákonarsynir dazwischen. 346 Statt einer Apostasie des königlichen Widersachers Þrándr ist der Fokus hier zur Gänze auf Sigmundr verschoben, der offenbar trotz seiner Konversion und Missionsreise nicht Christ genug ist, um auf Óláfrs weiseren Rat bezüglich seines Rings zu hören, siehe Kap. 4.5.2. Dass in einem Vorausblick in kurzen Sätzen vom Tod Sigmundrs erzählt wird und der König in seiner Voraussage recht behält, macht deutlich, dass die Zentralinstanz hier eindeutig der Missionskönig ist, siehe auch Kap. 7.4.3. 347 Am weitesten in der Verurteilung Þrándrs geht dabei Textredaktion B (AM 53 fol.). Anstatt wie die anderen Redaktionen neutraler zu formulieren, bei Þrándrs Reden vor den Bauern auf dem Þing lykr sva með hans for tolum at þeir verða allir ꜳ eitt sattir (Fær, S. 74; endet es so mit seinem Zureden, dass sie alle einig werden), wird hier ausführlich konstatiert, dass er sua getr […] vm talt at þui iatta allir bændir sem hann uill at se ok a þat verda þeir sattir (Fær, S. 74 Anm. z. Z. 21–22; so darüber sprechen kann, dass alle Bauern das annehmen, von dem er will, dass es so ist, und darüber kommen sie überein). Þrándrs hinterlistige, betörende Redekunst wird so noch stärker betont. Zugleich wird die Schuld Sigmundrs ein wenig reduziert, wenn er hier nicht zugibt, Þrándr selbst zu viel Macht zugestanden zu haben, sondern meint: Of mikit valldr hefi[r] þrꜳndr nv fengit (Fær, S. 74 Anm. z. Z. 23; ›Zu viel Macht hat Þrándr nun erhalten‹). Durch diese Formulierung scheint Sigmundr weniger an Þrándrs Machtposition beteiligt und dieser schon durch diese kleinen Änderungen umso finsterer. Überraschenderweise schickt diese Redaktion aber gerade Þrándr nach seiner Zwangsbekehrung auf die Missionsreise über die Färöer (siehe Fær, S. 76 Anm. z. Z. 25). Diese krasse Änderung des Textes ließe sich auf zwei Arten interpretieren: Entweder soll damit die schier grenzenlose Macht Sigmundrs und König Óláfrs verdeutlicht werden, die ihren schlimmsten Gegner gegen seinen Willen nun für ihre Zwecke benutzen können, oder die Übernahme der Fahrt durch Þrándr soll dessen trügerische Persönlichkeit unterstreichen und den Denkanstoß geben, ob dieser Mann seine Aufgabe so erfüllt, wie er es sollte. Alternativ ließe sich ein derartiger Eingriff in den Text nur als Schreibfehler erklären.
3.6 Magie und Heidentum? Zu Þrándrs Glauben
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Unhold, während er in der Færeyinga saga fast als Atheist avant la lettre, oder jedenfalls religiös völlig unbekümmerter Mensch erscheint, der seinen Glauben ebenso zu verändern bereit ist, wie alle anderen Parameter seines Lebens, wenn es der Vergrößerung oder dem Erhalt seiner Macht dient. Sigmundr gegenüber droht Þrándr in der Flateyjarbók jedoch ein Aufbegehren an, als dieser sich weigert, seine Geldforderung zu Händen Leifrs zu bezahlen, und meint: [Þ]u hefir mer margar skammir gert sagde Þrandr. ok þa mesta er þu kugadir mig til sida skiptis er ek vní uerst vid allar stunder er ek gek undir þat.348 Dieser Satz lässt sich so verstehen, dass Þrándr seinen neuen, aufgezwungenen Glauben nicht erträgt – aber auch so, dass er die Schmach der Art und Weise, wie er ihm aufgezwungen wurde, nicht ertragen kann. Die letztere Interpretation überzeugt aufgrund der Tatsache, dass Þrándr Sigmundr nicht seines Glaubens wegen angreift, sondern aus machtpolitischer Notwenigkeit angesichts seiner für seine Position möglicherweise gefährlichen Ziehsöhne. Es dürfte vor allem die öffentliche Schande sein, die Sigmundr Þrándr durch die Zwangskonversion zugefügt hat, die er nicht ertragen kann.349 Zwar gibt Þrándr nicht viel auf seine Ehre als solche, jedoch liegt ihm insbesondere seine öffentliche Inszenierbarkeit eindeutig am Herzen. Mit der Zwangsbekehrung und vor allem der öffentlichen Degradation, die Sigmundr damit verbindet, indem er let Þrandr þa fara með ser [ok] for […] þa vm allar Færeyiar,350 hat Þrándrs Gegner dessen Ruf, den er zuvor auf dem Þing als Bekehrungsgegner inszeniert hat, empfindlich beschädigt. Den alten, mittlerweile zwangsbekehrten Feind an seiner Seite, kann sich Sigmundr während seiner Missionsbemühungen als erfolgreicher Herrscher inszenieren, der Widerstand zu brechen im Stande ist, während er gleichzeitig Þrándrs Autorität auf den Inseln sichtbar untergraben kann. Þrándrs schlimmste Befürchtungen im Hintergrund seiner Ablehnung des Glaubenswechsels sind damit wahr geworden. Diese Art und Weise seiner Bekehrung kann Þrándr weder in Hinblick auf ihre öffentliche Wirkung hinnehmen, noch persönlich ertragen. Als unterstützendes Element dieser Auffassung lässt sich darauf verweisen, dass die Flateyjarbók das Kapitel von Þrándrs Zwangsbekehrung als þrꜳndr kugadr,351 »Die Überwindung Þrándrs«, bezeichnet, in Abweichung von anderen Redaktionen.352 Die Aufmerksamkeit wird hier insofern auf den Kampf zwischen Sigmundr und Þrándr um den Glaubenswechsel, nicht den
348 Fær, S. 82 (›Du hast mir große Schande zugefügt‹, sagte Þrándr, ›und am meisten, als du mich zum Glaubenswechsel gezwungen hast, was ich am wenigsten mochte die ganze Zeit, die ich darunter verbracht habe‹). 349 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 207–211 zur Rolle der Öffentlichkeit und ihrer Meinung innerhalb der ›Ehrökonomie‹ der Sagagesellschaft. 350 Fær, S. 76 (Þrándr da auf seiner Fahrt mitnahm, als er getauft war [und] […] da über die gesamten Färöer fuhr). 351 Flat I, S. 366; siehe auch Fær, S. 75 Anm. z. Z. 31.1. 352 Redaktion D trennt kein Kapitel ab, B hat keine Überschrift. Redaktion C allerdings nennt das Kapitel vielsagenderweise »Die Christianisierung der Färinger«, siehe Fær, S. 75 Anm. z. Z. 31.1.
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Glauben selbst, und die machtpolitische Natur von Sigmundrs Sieg gelenkt.353 Es ist diese machtpolitische Komponente, die Þrándr schlussendlich an Sigmundr rächt. Ein zusätzliches Element mag auch die persönliche Feindschaft zwischen beiden Männern sein. Ein Glaubenskonflikt ist hier allerdings ebenso wenig angedeutet wie im Konflikt mit Óláfr Haraldsson, dessen Titel der Heilige offenbart, dass er potenziell noch christlicher als sein Vorgänger Óláfr Tryggvason ist – Óláfrs Herrschaftsverständnis ist allerdings ebenso politisch wie das Þrándrs.354 So wie Sigmundr kaum als tatsächlicher Repräsentant des Christentums gelten kann, oder in dieser Hinsicht wenigstens mit eindeutigen Makeln behaftet ist,355 so problematisch ist in Anbetracht der obigen Beobachtungen auch die Identifikation Þrándrs als eines heidnischen Widerständlers. Er ist ein Widerständler, aber ein explizit heidnischer nur solange, wie er sich ungefährdet der Konversion entziehen und die Ablehnung des Glaubenswechsels als Instrument für Sigmundrs öffentliche Demütigung benutzen kann. Sobald Sigmundr aber unter Beweis stellt, dass er gewillt ist, den Auftrag seines Königs unter allen Umständen durchzusetzen, endet auch Þrándrs heidnischer Widerstand. Er wirft seinen Glauben später ostentativ wieder ab, aber Religion spielt für den Rest seines Machtkampfes, ebenso wie vor Sigmundrs Bekehrung zum Christentum, keine prominente Rolle mehr in seinem Leben. Es ist sogar er, der zum Ende der Saga hinter einer christlichen Skaldenstrophe steht.
3.6.2 ›Ok er slíkt eigi á eina lund rétt‹ – Þrándrs kredda im Gesamtkontext der Færeyinga saga Als Leifr und Þóra vor der geplanten Ausschaltung von Sigurðr, Þórðr und Gautr ihren Sohn Sigmundr aus Þrándrs Obhut entführen und damit auch vor einer potenziellen Rachetat retten, unterhält Þóra sich mit dem Jungen: [M]odir hans spurde huat Þrandr hefde kent honum en hann kuezst numít hafa allar sak soknir at sækía ok rettar far sitt ok annarra la honum þat græitt firir þa spyrr hon huat fostri hans hefde kent honum j helgum frædum Sigmundr kuezst numít hafa pater noster og kredduna hon kuezst heyra vilia. ok hann gerde suo ok þotti henni hann syngía pater noster til nockurrar hlítar. en kredda Þrandar er a þessa læid. Gangat ek æínn ut fiorir mer fylgia fimm guds æínglar ber ek bæn firir mer bæn firir Kristi syng ek salma víȷ ́ siai gud hluta min
353 Siehe auch Kap. 4.5.1 u. Kap. 7.4.3. 354 Vgl. North 2005, S. 69. Vgl. auch Kap. 7.4.4. 355 Vgl. Bick 2005, S. 8 und Glauser 1989, S. 217. Vgl. genauer Kap. 4.5.1.
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ok j þessu kemr Þrandr j stofvna og spyrr huat þau tale. Þóra suar(ar) ok segir at Sigmundr son hennar hafui flutt firir henni fræde þau er hann hafde kent honum ok þiki mer æíngí mynd a segir hon akredo. þui er suo hattat sem þu uæítzst segir Þrándr. At Kristr attí xíȷ ́ læri suæína edr flæíre ok kunne sínna kreddu huerr þeirra nu hefí ek mína kreddu en *þu þa er þu hefir numit ok erv margar kreddur ok er slígt segir hann æígi aæína lund rett. skilia nu tal sitt […].356 (Seine Mutter fragte, was Þrándr ihn gelehrt habe, aber er sagte, er habe alle Arten der Rechtsverfolgung gelernt, Anklage zu erheben, und seine Rechte und die anderer. Das war auch gut bei ihm vorhanden. Da fragt sie, was ihm sein Ziehvater hinsichtlich der heiligen Lehre beigebracht habe. Sigmundr sagte, er habe das Pater Noster und das Glaubensbekenntnis gelernt; sie sagte, sie wolle es hören. Und er tat das und er schien ihr einigermaßen zufriedenstellend das Pater Noster zu singen. Aber das Glaubensbekenntnis Þrándrs lautet folgendermaßen: Nicht allein geh’ ich hinaus; vier folgen mir, fünf von Gottes Engeln; ein Gebet bet’ ich für mich, ein Gebet für Christus; sieben Psalmen sing’ ich. Gott seh’ auf meinen Teil! Und in diesem Augenblick kommt Þrándr in die Stube und fragt, worüber sie sprächen. Þóra antwortet und sagt, dass ihr Sohn Sigmundr vor ihr die Lehren aufgesagt habe, die er ihm beigebracht habe, – ›und ich halte sein Glaubensbekenntnis‹, sagt sie, ›für verkehrt.‹ – ›Das ist deswegen so, wie du weißt‹, sagt Þrándr, ›dass Christus zwölf Apostel hatte oder mehr, und jeder von ihnen konnte sein Glaubensbekenntnis; nun habe ich mein Glaubensbekenntnis, aber du das, das du gelernt hast, und es gibt viele Glaubensbekenntnisse, und solches ist‹, sagt er, ›nicht auf eine Art richtig.‹ Sie beenden nun ihre Unterredung […].)
Hierbei handelt es sich um die Einzelszene aus der Færeyinga saga, der bisher, losgelöst vom Kontext, die meiste Aufmerksamkeit der Forschung gewidmet wurde. Eine besondere Rolle kommt ihr in einer historischen Forschungsperspektive zu: Handelt es sich hierbei um eine authentische Strophe aus der Bekehrungszeit, die aus mündlicher Tradition ihren Eingang in den schlussendlichen Sagatext der Flateyjarbók gefunden hat, oder ist die Strophe späte Zutat eines christlichen Sagaschreibers? Einigkeit besteht hierüber nicht.357 Fest steht, dass es sich dabei um die einzige Strophe aus der Færeyinga saga handelt, und dass es sich bei dem, was Sigmundr aufgrund von Þrándrs Ausbildung zum Besten gibt, um alles andere handelt als das, was seine Mutter erwartet. Schon die verwendeten Lexeme sind unterschiedlich: Þóra spricht vom kredó, sie benutzt das lateinische Fremdwort für das von ihr gewünschte Glaubensbekenntnis, das Credo in Deum oder Symbolum Apostolicum. Sigmundrs, und das heißt implizit
356 Fær, S. 134. 357 Lange 1958a, S. 11; Lange 1958b, S. 60–65 hält die Strophe für authentisch, im Anschluss an ihn auch Kuhn 1971, S. 31–32. Foote 1984d argumentiert dagegen für ein Verständnis als Erzeugnis eines mittelalterlichen Sagaautors. Vgl. zusammenfassend auch Bick 2005, S. 5.
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Þrándrs, Bezeichnung für das Gedicht ist allerdings die verballhornt wirkende Form kredda. Diese kredda weist Ähnlichkeiten mit vor allen Dingen spätmittelalterlich und postreformatorisch erhaltenen, sogenannten »Engelsgebeten« auf, die in diversen Sprachen überliefert sind.358 Das älteste deutsche Beispiel etwa lautet: Ich wil heint schlafen gehen, Zwölf engel sollen mit mir gehen, Zwen zur haupten, Zwen zur seiten, Zwen zun Füßen, Zwen, die mich wecken, Zwen, die mich decken, Zwen, die mich weisen Zů dem himlischen paradeise. Amen.359
Diese Gebete sind in ganz Europa verbreitet 360 und werden mitunter als Credo-lePetit, Petite Patenôtre Blanche oder auch White Paternoster bezeichnet.361 Die Formalia müssen untereinander jeweils nicht zwingend übereinstimmen, alle aber stellen populäre Kleingebete dar, die als Schutzinvokationen an Stationen des Tagesablaufs (morgens, abends, beim Ausgehen) gebetet wurden.362 Der gleichen Funktion dienten das allgemein verbreitete Standardgebet Pater Noster und das Glaubensbekenntnis,363 sodass letzteres häufig (im Unterschied zu anderen Gebeten) auch als commune crede oder se læsse créda (Englisch), kleine crede (Deutsch) oder de corte crede (Niederländisch) bezeichnet wird.364 Hierzu passt auch die Bezeichnung kredda in der Færeyinga saga als Diminutiv.365 Þóra ist mit dieser kredda allerdings keineswegs zufrieden. Þrándrs Entschuldigung der zwölf verschiedenen Glaubensbekenntnisse der xíȷ ́ læri suæína edr flæíre führt Foote auf die verbreitete Lehre zurück, die Apostel selbst hätten zur Sicherung ihres Glaubens das Symbolum komponiert, die im Mittelalter vor allem ikonographisch weit verbreitet war.366 Die Bildtradition entwickelt im Laufe der Zeit eine feste Zuordnung von einzelnen Aposteln zu bestimmten Versen aus dem Credo und stellt je einen Apostel, und optional auch andere Heilige, mit einem entsprechenden Schriftband dar.367 358 Als erster hat dies Konrad Maurer gesehen, vgl. Maurer 1867, S. 234–236. Vgl. als Überblick auch Foote 1976 und Foote 1984d. 359 Zitiert nach Köhler 1860, S. 448–449. 360 Für diverse Belege siehe Köhler 1860; Köhler 1866. 361 So in der Sammlung bei Köhler 1866, S. 443–445. 362 Vgl. Foote 1984d, S. 192–194. 363 Vgl. Foote 1984d, S. 193–194. 364 Vgl. Foote 1984d, S. 192. 365 Vgl. Foote 1984d, S. 190–192. 366 Vgl. Foote 1984d, S. 194–196. Es handelt sich dabei um eine ursprünglich auf Rufinus von Aquileia und Ambrosius von Mailand zurückgehende Vorstellung. 367 Vgl. hierzu etwa Kilström 1952, weitere Hinweise bei Foote 1984d, S. 195–196 (Fn. 31). Unter die ältesten Belege dieser ikonographischen Tradition sind die Malereien in der Kirche des Klosters Oberzell auf der Abtei-Insel Reichenau zu zählen.
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Jenseits dieser Zuordnung von Quellen ist die kredda im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga bisher kaum untersucht worden. Auf den ersten Blick scheint die Szene lediglich eine einigermaßen kuriose Digression darzustellen, und so fassen sie implizit auch die historisch orientierten Untersuchungen auf.368 So wird sie nicht selten ohne weitere Vertiefung der Argumentation als Beleg für Þrándrs fortgesetzten Widerstand dem Christentum gegenüber gewertet.369 Foote bezieht den Kontext stärker in seine Argumentation ein, bleibt aber ebenfalls stark auf die historischen Prämissen bezogen. Er plädiert für eine Unechtheit der Strophe im Sinne mündlicher Tradition, sieht hingegen einen humorvollen Kleriker als Sagaverfasser am Werk. Dieser erlaube sich einen Scherz auf Kosten des in religiösen Dingen im Kontrast zu seiner souveränen Rechtskenntnis dilettantisch agierenden Þrándr und stamme entsprechend aus einem in Glaubensfragen toleranten Milieu.370 Bick versucht einen strengeren Blick auf den Gesamtzusammenhang und gibt zu bedenken, dass Þrándr bei Sigmundrs Unterricht auf den Frieden zwischen sich selbst und der Familie seines Ziehsohns achten muss.371 Wohl deshalb unterrichtet er ihn überhaupt in christlicher Lehre, die er in ihrer üblichen Form kennen muss. Weshalb er Sigmundr aber falsche Glaubensinhalte beibringt, könne Bick zufolge »letztlich wohl nicht geklärt werden«.372 Seine spitzfindige Antwort auf Þóras Mahnung aber »klingt doch ganz nach ihm. Geschickt zieht er sich aus der Affäre und behält wie so oft das letzte Wort«.373 Tatsächlich scheint wenig mehr zur Figurenzeichnung Þrándrs zu passen als die hier vorgestellte krude Adaption des christlichen Glaubens seitens eines Mannes, der einige Jahre zuvor noch kastar raun míog tru sínne.374 Bedenkt man, wie passend die Strophe und die schlagfertige Antwort auf Þóras Kritik in Þrándrs Figurenzeichnung eingewoben wirken, ist wenig überzeugend, dass es sich hierbei lediglich um einen humoresken Scherz auf seine Kosten oder ein Zeichen seiner Halsstarrigkeit als Vertreter des heidnischen Glaubens handeln sollte. Weshalb sollte der Erzähler, der seine Hauptfigur bisher mit tiefstem Ernst behandelt und beißenden
368 So hält sie etwa Wolfgang Lange aufgrund ihrer Einmaligkeit für einen authentischen Beleg frühchristlicher Glaubensverwirrung. Er bemerkt dabei die fehlende Untersuchung der Stelle im Sagakontext und unternimmt einen reichlich kurios anmutenden Versuch, die einzelnen Abschnitte der Strophe den Ereignissen in der Saga zuzuordnen. So stelllt er etwa den Anvers Gangat ek einn út in Zusammenhang mit Þrándrs »Heimsuchung durch Gespenster« nach dem (vermeintlichen!) Seetod von Sigurðr, Þórðr und Gautr, die er als Folge seiner Totenbeschwörung anspricht, siehe Lange 1958b, S. 63. 369 Vgl. Bonté 2014b, S. 103, implizit auch Norths Rede von Þrándrs »creed of an idiosyncratic kind« (North 2005, S. 72). 370 Vgl. Foote 1984d, S. 196–197; Foote 1984a, S. 207. Im Anschluss an ihn so auch Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxiv–ccxxx. Ohne Entscheidung zwischen beiden Positionen Glauser 1994, S. 114. 371 Vgl. Bick 2005, S. 4–6, zur Funktion der Strophe im Kontext S. 6. 372 Bick 2005, S. 6. 373 Bick 2005, S. 6. 374 Fær, S. 81 (seinen Glauben ganz abwirft).
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›Humor‹, wenn überhaupt, von ihr selbst hat ausgehen lassen, sie an dieser Stelle plötzlich karikieren? Bedenkt man Þrándrs vorhergehende Figurenzeichnung, passt eine unfreiwillig komisch wirkende Glaubensverwirrung kaum ins Bild. Mit seiner schnippischen Replik zeigt er sich der Abweichung zwischen seiner kredda und dem eigentlichen Credo hingegen sehr bewusst. Zudem lehnt er den christlichen Glauben doch eigentlich ostentativ ab. Da Sigmundr aber das Pater Noster til nockurrar hlítar beherrscht,375 kennt Þrándr die heilige Lehre offenbar dennoch gut genug. Wollte er mit der kredda allein sein fortgesetztes Anti-Christentum anzeigen, weshalb sollte er seinem Ziehsohn dann überhaupt korrekte christliche Lehre beibringen? Hinter der kredda muss sich demnach ein anderer Sinn verbergen. Viel eher als auf ihn selbst zurückzufallen, stellen Strophe und Begründung einen ›Scherz‹, oder treffender eine scharfe Spitze dar, die von Þrándr ausgeht. Gerichtet ist sie, wie stets, wenn es ihm um Glaubensinhalte geht, gegen die Familie seines toten Konkurrenten Sigmundr. Zeit seines Lebens war Þrándr ein von Skrupeln weitgehend freier Machtpolitiker, der stets seine färöische Identität Sigmundr gegenüber betont hat, und dessen Figurenkonzeption ganz auf eine Identifizierung mit seinem färöischen Landesbesitz hin ausgelegt scheint. Sigmundr hingegen und seiner gesamten Familie, wie seiner hier anwesenden Tochter, ist im Kontrast eine explizit norwegische Identität zugewiesen.376 Genau auf diese Gegensätzlichkeit ihrer Identitäten spielt Þrándr in seiner kredda selbst an. Die Bezugnahme auf christliche Ikonographietradition spricht zwar gegen eine historische Authentizität der Strophe, sondern zeugt von einer bewussten Komposition der Szene in der Schreibezeit. Dass es aber gerade Þrándr ist, dem sie (über einen Stellverterter) in den Mund gelegt ist, zeigt eine funktionale Bedeutung dieser Anspielung in seiner Figurenkonstruktion an. Sie bedeutet zwar insofern einen Anachronismus, da die Figur im Zeithorizont der Plotereignisse die erst später in größerem Stil aufkommende Bildtradition kaum kennen kann. Wenig glaubhaft erscheint auch, dass ein Färinger der Bekehrunsgzeit die die Bildtradition begründenden Schriften eines Kirchenvaters wie Ambrosius gekannt haben sollte. Offenbar ist diese Inkonsequenz aber weniger bedeutend als ihr Effekt, und vielleicht soll gerade Þrándrs überragende Kenntnis selbst in theologischen Überlegungen des christlichen Glaubens angezeigt werden, so unwahrscheinlich sie wirken mag.377 Umso bedeutender wäre die bewusste Verfälschung des Glaubensbe375 Fær, S. 134 (einigermaßen zufriedenstellend). 376 Vgl. hierzu Kap. 4, Kap. 6.3 u. Kap. 7.3.3. 377 Ein Vorsprung Þrándrs an Informationsvolumen jeglicher Art wirkt gerade glaubhaft angesichts seiner stets besseren Informiertheit seinen Konkurrenten gegenüber. Da Þrándr den Lebensabend seiner Herrschaft offenbar alleine auf seinem Hof zubringt, ist es zumindest nicht gänzlich unmöglich, sich vorzustellen, er vertiefe sich in christliche Dogmatik, um auch aus dieser in seinen neuen Lebensumständen noch einen Vorteil ziehen zu können. Dabei kann es sich freilich nur um ein sehr großzügiges Gedankenspiel handeln. Der Anachronismus sollte es unmöglich machen, dass Þrándr entsprechende Kenntnisse besitzt. Dass er dennoch auf spätere, christliche Traditionen anspielt, indem der Erzähler seinem Schüler die kredda in den Mund legt, bewirkt einen Ebenensprung zwischen der erzählenden und der erzählten Zeit. Dieser Übersprung des Erzählers und die
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kenntnisses. Insofern würde sich hier keineswegs eine mangelnde Kenntnis Þrándrs in christlichen Glaubensinhalten zeigen, sondern ein fast selbstherrliches Spiel seinerseits mit jenen, die er für intellektuell unterlegen hält. Dabei ist hervorzuheben, dass sich Þrándr wohl kaum über den christlichen Glauben als solchen lustig macht, sondern andere Maßgaben gelten. Das Christentum musste er, vor allem aus politischer, aber schlicht auch physischer, Überlebensnotwendigkeit annehmen. Er findet sich in dessen Inhalten aber sehr wohl zurecht, auch wenn er sich der Taufe zunächst verweigert hat. Jedoch bringt er Sigmundr ein explizit verballhorntes378 Glaubensbekenntnis bei, und nicht etwa eine apostatische Formel oder einen heidnischen Zauberspruch – aus politischem Kalkül,379 aber auch, weil es ihm nicht um die Differenz zwischen Heidentum und Christentum geht. Þóra erwartet ein regelkonformes kredó, einen kanonisch verbürgten Glaubensinhalt, wie ihn die kirchliche, und damit auch ausländische, Autorität vorsieht. So wie ihr Vater Sigmundr sich zeitlebens den Aufträgen seiner norwegischen Lehnsherren gefügt hat, unterwirft sie sich in Glaubensfragen unter den Deutungsprimat der christlichen Kirche, deren Ausgangspunkt für färöische Belange in diesem Zusammenhang in Norwegen zu verorten ist. Was sie von ihrem jungen Sohn und damit implizit Þrándr aber erhält, ist die kredda, eine populäre Adaption des kanonischen Symbolum, die mit dessen Inhalt nichts mehr gemein hat. Diese kredda verweist damit auf den Unterschied zwischen aufoktroyiertem Glaubensinhalt und tatsächlicher Auslebung im Alltagsleben, womit sie Þrándrs Persönlichkeit gleichsam selbst symbolisiert. Nichtveränderbare Grundgegebenheiten akzeptiert er notgedrungen, aber er versucht immer, diese so zu wenden, dass er größtmögliche persönliche Freiheiten, Handlungsspielräume und Vorteile daraus erhält. Insofern illustriert die nicht-kanonische Form seines Glaubensbekenntnisses seine Nicht-Unterwerfung unter den Deutungsprimat eines anderen Herrn und den funktionellen Unterschied zwischen hierarchisch-kirchlicher Autorität und einem freier adaptierten Alltagsglauben, der sich deren Kontrolle entzieht. Angesichts der Einschränkung seiner persönlichen Machtbefugnisse vor erstgenannter Autorität entscheidet Þrándr sich für letzteres, nicht etwa, weil ihm der Glaube selbst fremd wäre, sondern weil ihm dadurch eine Betonung seiner eigenen Identität gelingt, die der Familie Sigmundrs auf den Färöern fehlt. Er kann in der neuen, christlichen Zeit nicht
Bezugnahme Elemente seiner Zeit innerhalb der Handlungsebene scheint im Kontext der Einswerdung zwischen seiner Selbstinszenierung und der Darstellung Þrándrs jedoch als legitimes und kaum überraschendes Merkmal. Der Erzähler inszeniert so eine Figur, deren Rang und Bedeutung gleichsam die Handlungsebene transzendieren. 378 Ólafur Halldórsson legt genaure Rechenschaft über die Quellen der einzelnen Abschnitte der Strophe ab und vermutet, der Verfasser habe Þrándr mehrere geläufige Gebete zusammenwerfen lassen. Im Zuge dessen bemerkt Ólafur auch die merkwürdige Verwendung des Dativs statt des erwartbaren Akkusativs (Krist bzw. noch richtiger Christum) bei firir Kristi, vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxv–ccxxviii. 379 Vgl. Bick 2005, S. 6.
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mehr gänzlich frei in Glaubensdingen entscheiden. Schon weil er den Frieden zwischen sich und der Familie seines Ziehsohns nicht aufs Spiel setzen kann, muss er Sigmundr wenigstens einen Teil der erwarteten Lehre beibringen. Durch die Adaption einer populären Glaubensform kann er sich aber einen privaten Rückzugsbereich offenhalten, in dem noch immer nur seine eigenen Regeln gültig sind. Dem gegenüber steht Sigmundrs Familie: Sie hält sich keine persönlichen Freiräume offen, sondern gehorcht, in Glaubensangelegenheiten ebenso wie in politischen. Noch immer besteht so eine unausgesprochene Gleichsetzung des christlichen Glaubens mit fremder Autorität und Uneigenständigkeit in Þrándrs Verständnis, und dieses Verständnis gibt er über die kredda, die er ihren Sohn lehrt, Þóra zu spüren. Besondere Qualität gewänne diese Interpretation vor dem Hintegrund von Footes Überlegung, ob sich hinter der ungewöhnlichen Form des Eingangsverses nicht eine frühe, eigens färöische Form verbergen könnte.380 Dass Þrándr die kredda Sigmundr beibringt und dieser sie vor seiner Mutter aufsagt, ist ein bewusst gesetzter Nadelstich Þrándrs gegen die Autorität und Identität dieser Familie, auch wenn der Schauplatz von der öffentlichen Demütigung Sigmundrs auf dem Þing zur Privatheit des eigenen Hauses gewechselt hat. Bewusste Demütigung bleibt Þrándrs Agieren zwar, nicht aber heidnische Opposition. Der auf den ersten Blick so kurios wirkenden kredda kommt damit in der Gesamtbetrachtung der Saga strukturelle Bedeutung zu: Diese Szene bildet ein Korrespondenzpaar mit dem Diebstahl in Haleyri. Dabei wird in diesem Fall nicht die Erzählstimme destabilisiert, doch lässt sich die kredda-Szene ebenso als Gesamtvignette der Figurendarstellung Þrándrs lesen wie die Sequenz am Anfang des Textes, in der Þrándr als Protagonist etabliert wurde. Beide Textelemente rahmen Þrándrs Figuren-
380 Vgl. Foote 1984a. Er bemerkt, dass die Formulierung Gangat ek… zu Beginn des Textes eine jedenfalls merkwürdige Wortform biete. Da ein Stab fehlt, emendiert die Forschung vor ihm meist auf Basis der färöischen Übersetzung Schrøters in Rafns Ausgabe von 1832 eine Halbzeile Gefnir eru englar góðir (af Guði) als erste Zeile, was Foote jedoch abweist (S. 199–202). Das isländische, deutsche und dänische Vergleichsmaterial, das er heranzieht (S. 202–205) legt einen Beginn der Strophe mit einer Form von »Hinausgehen« in einer negativen Verbform nahe. Dann allerdings müsste ganga im Isländischen hier schwach als ōn-Stamm gebeugt sein, oder es müsste sich um eine selten belegte subjunktivische Form der 1. Person Singular handeln. Zudem wäre bei enklitischem Negativ (-at) auch eine Enklise des ek zu erwarten, welches hier aber (auch?) separat im Text enthalten ist (S. 205–206). Als Ausweg schlägt Foote vor, Gangat ek als emphatisch-färöische Wortform zu lesen. Im Färöischen wird ganga heute als gangi, gongur, gongur im Präsens-Singular gebeugt, vgl. Petersen u. a. 2004, S. 148. Die Annahme eines älteren *gang in der ersten Person scheint dabei möglich, vgl. Petersen u. a. 2004, S. 206–207. Aufgrund der Quellendürftigkeit zur lautlichen Entwicklung des Färöischen lässt sich diese Annahme jedoch nur schwerlich beweisen, vgl. Petersen u. a. 2004, S. 370 – eine Übersicht über diachrone Varianz bieten S. 369–444. Trifft Footes Hypothese jedoch zu, kommt der kredda zusätzliche Bedeutung in der Betonung von Þrándrs färöischer Identität und seiner Spitze gegen Sigmundrs Familie zu. In eine ähnliche Richtung, nämlich die der Einbindung färöischer Wortelemente in die kredda grundsätzlich, könnte die im Isländischen in diesem Fall ungewöhnliche Verwendung des Dativs Kristi deuten (vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxviii).
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zeichnung ein und verklammern sie. Die Vielschichtigkeit, die die Haleyri-Szene narrativ entworfen und auserzählt hat, wird von Þrándr in seinem Kommentar zur kredda selbst ausformuliert: [E]r slígt […] æígi aæína lund rett.381 Diesem Satz kommt in der vorliegenden Szene herausragende Bedeutung zu, umreißt er doch, was Þrándr mit seiner kredda aussagen will: Über bedeutsame Dinge muss selbst entschieden werden, in Glaubensdingen ebenso wie in der Politik. Damit verbalisiert Þrándr aber gleichzeitig die Bedeutung, die die Færeyinga saga ihm einschreibt. In der einführenden Haleyri-Szene wurde eine Erzähldarstellung etabliert, die gerade nicht eine autoritative Bedeutungsebene samt Anleitung zur Interpretation durch Erzählerkommentar einzieht, sondern die die Rezipienten offen zur eigenen Sinnkonstruktion auffordert. Diese Vorgehensweise wird zum Symbol von Þrándrs Figurenkonzeption und somit letztendlich der gesamten Erzählung.382 Gerade das, eine eigenständige Sinngebung, vollzieht Þrándr mit seiner kredda und weist noch selbst darauf hin, dass eine mehrdeutige und nicht-autoritative Auslegung seine Art des Umgangs mit einem vorgegebenen Text ist. Er symbolisiert sich und seine Lebensweise selbst in der kredda und formuliert damit zugleich den Umgang der Erzählung mit seiner Figur – eine so vielschichtige und ambivalente Figur ist kaum á eina lund rétt zu interpretieren. Anhand dieser Aussage macht Þrándr letztlich deutlich, was seine Saga insgesamt zum Ausdruck bringt: Fragen der Macht und ihrer Natur, in Politik wie Glauben, lassen sich nicht in absolute Deutungsrahmen fassen, sondern müssen selbst erfahren und anschließend eingeordnet werden – so auch bei Sagas, die in ihrem Kern solche Fragen verhandeln. Sinn müssen ihnen die Rezipienten selbst abgewinnen, die Angelegenheit des Textes ist nur, dafür eine Grundlage zu bieten.383 Vielsagenderweise kristallisiert sich diese Aussage in der kredda-Szene, die letztendlich kaum eine Aussage darüber zulässt, wie weit Þrándr seinen neuen Glauben tatsächlich adaptiert hat, sondern die vielmehr verdeutlicht, wie unbedeutend für ihn Religiosität im Angesicht prägenderer Faktoren seiner Identität ist.
3.6.3 Þrándrs magische Fähigkeiten zwischen dämonischer Kunst, komplexer Darstellung und narrativer Offenheit Þrándr kann im Lichte der obigen Analyse nicht oder nur sehr bedingt als Repräsentant eines heidnischen Weltbildes verstanden werden. Dieses bedient er hingegen nur insofern, als dass er zum Erhalt seiner eigenen Macht gezwungen ist, eine christliche Zentralregierung durch Óláfr Tryggvason von Norwegen aus zu verhindern zu versuchen. Durch die Berufung darauf kann er Sigmundr gegenüber zudem zeigen, dass er selbst derjenige ist, der die Macht auf den Färöern innehat. Einem heidnischen
381 Fær, S. 134 (›Solches ist […] nicht auf eine Art richtig‹). 382 Vgl. auch Kap. 8. 383 Siehe weiterführend Kap. 9.1.
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Weltbild entspricht aber gegebenenfalls seine magische Begabung, jedenfalls aus der Perspektive des kanonischen Rechts.384 Obwohl Þrándrs Religiosität dem politischen Diskurs, den seine Konzeption als Figur zum Ausdruck bringt, untergeordnet ist, wird er explizit als Magier gezeichnet. Bezeichnenderweise geschieht dies am deutlichsten in demjenigen Abschnitt der Erzählung, der nach Óláfr Tryggvasons Regierungsende mit der Nachricht beginnt, Þrándr habe den ihm aufgezwungenen Glauben gänzlich wieder abgeworfen.385 Wird damit hinterrücks doch wieder eine Türe aufgestoßen, die Þrándr zum finsteren Anhänger eines verwerflichen Heidentums stilisieren soll, ist seine magische Fähigkeit eindeutiges Signum diabolicum?386 Bedenkenswert ist diese Möglichkeit nicht zuletzt, weil die Totenbeschwörung, die Þrándr in Sandvík durchführt, den einzigen deutlich ausgemalten Bericht über ein solches Ritual darstellt, der im Korpus der altnordischen Literatur enthalten ist.387 Nekromantie stellt in christlicher Perspektive unzweifelhaft ein Signum des Teuflischen dar.388 Im Verständnishorizont, der einem mittelalterlichen Publikum von der Forschung in der Regel zugeschrieben wird, erscheint eine solche Zuordnung Þrándrs in keiner Weise mehr entschuldbar. Grundsätzlich ist aber zu bemerken, dass der Entwurf von Þrándrs Persönlichkeit bereits in einem allgemein moralischen Verständnis ohnehin
384 Nur aus dieser lässt sich letztlich eine Scheidung von (heidnischer) Magie und (christlicher, d. h. höher entwickelter) Religion zweifelsfrei treffen, vgl. hierzu zum Überblick der Magie/ReligionsProblematik Petzold 2001, S. 145–146; Hultgård 2003, S. 429–431, bes. S. 430. 385 Siehe bereits oben. Der Textabschnitt befindet sich damit im Übergangsteil der Flateyjarbók zwischen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta und der Óláfs saga helga. Durch die (verstärkte) Versammlung der Erweise von Þrándrs Zauberkunst an dieser Stelle werden im Codex deren Rahmendiskurse von solchen Elementen reingehalten. In einem christlichen Verständnis mag dieser Zwischenbericht daneben auch die Fortsetzung der Gesamterzählung notwendig erscheinen lassen, vgl. zu diesem Gedanken Glauser 1989, S. 216. Deren zweiter Teil, im Kontext der Óláfs saga helga, enthält vielsagenderweise überhaupt keine Berichte über Þrándrs Zauberkunst mehr – wohl aber den Auftritt Þrándrs in an Óðinn gemahnender Aufmachung, siehe Kap. 3.4.4. Trotzdem lässt sich dem Gesamttext der Færeyinga saga selbst keine eindeutig christlich durchdrungene Botschaft unterstellen. Die Positionierung des Berichts von Þrándrs Totenmagie an dieser Stelle der Erzählung ist auch strukturell und funktional durch den Plotverlauf bedingt, siehe hierzu Kap. 8.4. 386 So Ármann Jakobsson 2009, S. 59. Zur häufigen Negativdarstellung von Magiern in den Isländersagas siehe Merkelbach 2019, S. 125–147 u. S. 196–208; zur Absonderung magischer Fähigkeiten in eine zeitlich distanzierte »bygone world« aus Sicht der Schreibezeit vgl. Mitchell 2011, S. 74–116. Dabei dürfen die Ergebnisse jedoch nicht verabsolutiert werden, wenn auch Protagonisten ungestraft mit Magie hantieren können, wie in der Egils saga c. 72, S. 229–230, oder, wie in der Vatnsdœla saga, Herrschergeschlechter, die später als Zaubererschlächter auftreten, selbst ursprünglich auch magisch bedingt diese Rolle einnehmen. 387 Vgl. Foote 1984b, S. 210. 388 Vgl. Kieckhefer 2014, S. 152–153. Als Überblick zur Nekromantie im Mittelalter siehe auch Klaassen 2019. Zu bemerken ist allerdings, dass die mittelalterliche Begriffsverwendung letztlich reichlich unscharf bleibt, da ›Nekromantie‹ rasch zur ›Nigromantie‹ volksetymologisiert wird. Damit wird eine breite, aber stets dem Ruch des Ungehörigen unterworfene Kategorie der ›Schwarzen Magie‹ bezeichnet, für die sich unterschiedlichste Zwecke und Einsatzgebiete aus den Quellen versammeln lassen. Eine Übersicht zu Begriffsverwendung und Quellen bietet Schneider 2020.
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nicht rettbar ist. Auch ohne seine nekromantischen Kräfte ist er hinn versti maðr […]
ꜳ norðr lỏndvm.389 Insofern ändern weder seine explizite Totenmantik, noch generell seine unchristlichen magischen Fähigkeiten etwas Grundsätzliches an seiner Auffassung in einer solchen Interpretation. Allenfalls verstärken sie seinen ohnehin antiheldischen Charakter. Wie oben argumentiert ist eine einfache Schwarz-/Weiß-Dichotomie von Verurteilung oder Preis Þrándrs aber kaum das Anliegen der Færeyinga saga. Insofern lässt sich auch zur Erklärung seiner Stilisierung als Schwarzmagier eine gehaltvollere Argumentation anführen, die aus strukturellen Gründen allerdings erst zu einem späteren Punkt der vorliegenden Studie erfolgen kann.390 Indes lassen sich auch in der vordergründig einfachen Darstellung verschiedene Komplexitäten aufzeigen, die im Folgenden erläutert werden sollen. Bereits bevor Þrándr explizit magische Rituale durchführt, zeigen sich Anzeichen dafür, dass er mit übermenschlichen Mächten im Bunde steht. Er kann offenbar das Wetter auf und um die Färöer kontrollieren oder zumindest seinem Willen unterwerfen, um es zu seinem Nutzen zu wenden. »Þrándr uses weather magic to hinder and subvert the Norwegian ruler’s attempts to control the Faroese people«, wie Harlan-Haughey konstatiert.391 Dass es sich um Zauberkraft handelt, die von Þrándr selbst ausgeht, wird in der Darstellung der Færeyinga saga zwar bis zu einem gewissen Grad offengelassen, indem es nie explizit ausformuliert wird,392 doch liegt der Verdacht aufgrund der späteren Darstellung von Þrándrs Magie nahe. Stets wendet sich das Wetter gegen Versuche norwegischer Einflussnahme auf den Färöern und stellt sich insbesondere gegen Sigmundr. Dieser kann verschiedentlich aufgrund der schlechten Wetterbedingungen nicht dafür sorgen, dass Þrándr vor seinem Lehnsherrn in Norwegen erscheint. Zum ersten Mal geschieht dies, als Sigmundr nach seiner Rückkehr auf die Färöer die Entscheidung in der Angelegenheit zwischen sich und Þrándr an Jarl Hákon in Norwegen überträgt. Auch Þrándr soll dorthin kommen, doch er erscheint nicht, und koma nu skip af Færeyíum ok sὀgdu at Þrande hefdi ordit aftr reka ok lest sua skip hans at æigi væri fært.393 Hierbei mag es sich nur um eine von Þrándr verbreitete Scheinnachricht handeln, doch als Sigmundr ihn nach seiner Zwangskonversion an den Hof Óláfr Tryggvasons bringen
389 Fær, S. 79 (der schlimmste Mensch in den Nordlanden). 390 Siehe Kap. 8.3. 391 Harlan-Haughey 2015, S. 349. 392 Þrándr wird nie mit dem Vokabular der Magie im Altnordischen beschrieben (siehe zu diesen als kurze Übersicht etwa Dillmann 2006, S. 13). Er ist weder fjǫlkunnigr, noch führt er etwa einen seiðr oder dergleichen aus oder benutzt galdrar, tǫfrar oder trolldómr. Tatsächlich wird keine seiner Taten explizit auf eine magische Kraft zurückgeführt. Þrándr führt seine Handlungen aus und gewisse Dinge geschehen daraufhin, oder ein bestimmtes Wissen seinerseits stellt sich ein. Dass dabei Magie explizit nie erwähnt wird, passt zur oben behandelten Darstellungstechnik seiner Figur insgesamt, vgl. hierzu auch Kap. 8.4. 393 Fær, S. 59 (Nun kommen Schiffe von den Färöern und es hieß, Þrándr sei zurückgetrieben worden und sein Schiff sei so beschädigt worden, dass es nicht fahrtauglich sei).
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will, werden sie zweimal von Stürmen und Strömen zurückgeworfen und erleiden Schiffbruch: Sigmundr s(agði) at honum þótti mikit farbann ꜳ liggia. Þrandr s(agði) at sva mundi fara huersu opt sem þeir leitaði til. sva at þeir flytti hann nauðigan með ser.394 Kann Þrándr als Magier also über die Gezeiten rund um seine Heimatinseln herrschen? Der Eindruck entsteht, da auch bei Sigmundrs erster Ankunft auf den Inseln Þrándr in Gata, das er eigentlich überfallen will, nicht von ihm erreicht werden kann, denn er þa berr at eyiunne kemr amot þeim bæde *straumr ok stormr sua at ekki er nalęgt vm at þeir næde eyíunne.395 Auch als Sigmundr Þrándr zum Zwecke der Bekehrung überfällt, herrschen Wetterbedingungen, die Þrándr zunächst zu beschützen scheinen. Sigmundr bricht auf [v]m varit einn tíma þa er stravmar voro nærr sem mestir. ok mỏnnum þotti v fært ꜳ sia milli eyianna.396 Zwar überwindet Sigmundr die widrigen Umstände in diesem Fall augenscheinlich problemlos,397 doch ist vielsagend, dass sich ihm auch in diesem Fall das Wetter entgegenstellt. Es sträubt sich dem Anschein nach gegen die norwegische Herrschaft über die Färöer, womit es sich nach Þrándrs Willen richtet und sich implizit mit dessen Handlungsagenda deckt.398 Selbst das Wetter auf den Färöern scheint sich also unter Þrándrs Kontrolle zu befinden, und damit die See ebenso wie das Land, das er politisch beherrscht. Dies illustriert einerseits die bereits naturräumliche ›Andersartigkeit‹ der Färöer und macht andererseits klar, dass in diesem Raum nur herrschen kann, wer sich mit seiner Natur zu arrangieren weiß, sie in Planungen mit einbezieht und eine Affinität zu den schon naturgegeben ›anderen‹ Bedingungen auf den Färöern aufweist. Þrándr ist derjenige, der dazu fähig ist. Die Natur der Färöer selbst
394 Fær, S. 77 (Sigmundr sagte, es schiene ihm ein großer Fahrtbann vorzuliegen. Þrándr sagte, es werde jedes Mal so gehen, so oft sie es versuchten, ihn gegen seinen Willen mit sich zu führen). Dies wiederholt fast verbatim Þrándrs Angabe zuvor, at eigi mundi þeim ferðin takaz slett ef þeir leti hann nauðigan fara (Fær, S. 77; dass ihnen die Fahrt gänzlich nicht gelingen werde, wenn sie ihn gegen seinen Willen fahren ließen). 395 Fær, S. 52 (als es sie zur Insel treibt, kommen ihnen Strömung und Sturm entgegen, sodass es ihnen nicht möglich ist, die Insel zu erreichen). 396 Fær, S. 75 (im Frühling, eines Tages, als die Strömungen fast am stärksten waren, und es den Leuten zwischen den Inseln auf der See unpassierbar schien). 397 Aus der Perspektive der texttragenden Óláfs saga Tryggvasonar wird dadurch die Rechtmäßigkeit der Bekehrung unterstrichen. Alleine während dieser Fahrt, die dazu dient, den größten Widersacher des Christentums auf den Färöern unter vorgehaltener Waffe zu bekehren, ist Sigmundr in der Lage, die widrigen Wetterumstände um Þrándrs Heimstatt zu überwinden – um das konungs erendi (Fær, S. 75; den Auftrag des Königs) durchzuführen. In seiner, vom Blickwinkel des diskursiven Rahmens der Óláfs saga aus betrachtet, wichtigsten Aufgabe kann Sigmundr unmöglich scheitern; Gott und seine Allmacht scheinen mit ihm zu sein, als er explizit den Willen des Königs durchsetzt. Vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 351. 398 Ergänzend ist zu bemerken, dass Þrándrs Neffen hingegen, als sie aus Norwegen fliehen, auf erstaunlich gute Wetterbedingungen treffen, siehe Fær, S. 105–106; vgl. Bonté 2014a, S. 133; HarlanHaughey 2015, S. 372. Die verschwundenen Tributschiffe des Heiligen Óláfr könnten ebenfalls (unausgesprochen) auf schlechte Wetterbedingungen zurückgeführt werden, siehe Fær, S. 93–94, vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 353–354.
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scheint konsequent mit ihm im Bunde zu stehen. Er selbst wird dadurch in gewisser Weise zu einer liminalen Mittlerfigur der Kultur-/Natur-Opposition.399 Dies ist insofern bedeutsam, als dass Þrándrs Affinität zu den natürlichen Gegebenheiten der Färöer sich insbesondere im Kontext verstärkten norwegischen Drucks auf sein Reich während der Bekehrungszeit zeigt.400 Bisweilen ist so der Natur der Färöer selbst eine betont heidnische Komponente eingeschrieben.401 Damit wird Þrándrs anzunehmende Wettermagie und gute Verbindung mit der Natur der Färöer zum Symbol seiner auf Landbesitz ausgerichteten Herrschaft, zumal auch Þrándrs Vater Þorbjǫrn als einzige Figur der Saga explizit dem heidnischen Brauch gemäß heygdr bestattet wird.402 Der Mann, der mit den Färöern derartig eins wird, dass er mit ihnen identifiziert ist, beherrscht nicht alleine politisch ihr Land, sondern dominiert vermeintlich übernatürlich sogar ihre Natur. Wenn Þrándr in der Færeyinga saga zum Symbol der absoluten Macht auf den Färöern stilisiert wird, und die Raumsemantik der Erzählung maßgeblich über die Darstellung seiner Figur geregelt wird, wundert es kaum, dass selbst die natürliche Beschaffenheit der Inseln sich seinem Willen beugt. Offenbar tatsächlich mit Zauberkraft ausgestattet zeigt sich Þrándr während des Angriffs auf Sigmundr. Schon zu Beginn der Fahrt seiner Getreuen zu Sigmundrs Hof meint er, ihm sei im Traum ein günstiger Ausgang verheißen worden.403 Als Sigmundr aus seinem belagerten Haus entkommen kann, setzt Þrándr offenbar seine magischen Fähigkeiten ein, um ihn aufzuspüren: [N]u geingr Þrandr rangsælis vm bęinn ok blistrar. Þrandr kemr nu at iardhus munna eínum er stund þa var brott fra bænum hann ferr þa sua at hann hafde nidre adra hὀndina a íordu ok bregdr henne annat skæid at nosum ser ok mællti her hafa þeir farít ííȷ ́ S(igmundr) Þorír ok Æinar. nu ferr Þrandr vm hrid ok þefade sem hann rekti sport sem hundar. hann bidr þa ekki vit sig koma.404
399 Vgl. Harlan-Haughey 2015, bes. S. 357–361. Ihre Identifizierung Þrándrs gleichsam als eines Hybridwesens geht jedoch zu weit. Er zeigt keine Anzeichen eines tierisch-monstrenhaften Wesens abseits seiner magischen Spurensuche und konzeptionell ggf. seiner Fuchstypik, die seine Haarfarbe anzeigt. Siehe zu Letzterer jedoch Kap. 3.2.2. 400 Vgl. Bonté 2014a, S. 133 u. S. 142. Die oben ausgeführte Szene, in der Sigmundr ein Abtransport Þrándrs durch die ungünstige See verwehrt wird, ereignet sich im Anschluss an seine Zwangstaufe, siehe Fær c. 31–32, S. 76–78. Seine Zauberkraft zeigt er während der aktiven Rebellion gegen Sigmundr, siehe Fær c. 37, S. 84–85. 401 Vgl. Kap. 2.3.2.2; Bonté 2014a, S. 131–132; Bonté 2014b, S. 99–100; North 2005, S. 68. 402 Fær, S. 4 (in einem Grabhügel beigesetzt). 403 Fær, S. 84: [S]egir Þrandr at þa skulu þeir læita afund Sigmundar kuezst suo dreymt hafa at þa mune honum nærr styrt verda (Þrándr sagt, dass sie da Sigmundr aufsuchen sollen; er sagt, er habe geträumt, dass ihm da am nächsten beizukommen sein müsse). Träume sind im Mittelalter als komplexe Erscheinung in den Schnittmengen von Vision und Zukunftsmantik zu verstehen (vgl. etwa Ernst 2006), wobei ihre prophetische Natur vor allem in der Sagaliteratur vordringlich durchscheint. Sie waren dabei immer wieder ein produktives Forschungsfeld der Altnordistik, vgl. als neuere Beiträge einschließlich Literaturübersichten Cochrane 2004; Groß 2016; Groß 2021. 404 Fær, S. 84.
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(Nun geht Þrándr entgegen dem Uhrzeigersinn um den Hof und pfeift. Þrándr kommt nun zur Öffnung eines Erdhauses, das sich da ein kurzes Stück Wegs vom Hof weg befand. Er verfährt da so, dass er eine Hand auf dem Boden hatte und bewegt sie hin und wieder zu seiner Nase und sprach: ›Hier sind sie gegangen, zu dritt, Sigmundr, Þórir und Einarr.‹ Nun geht Þrándr eine Weile und schnüffelte, als ob er Spuren rieche wie ein Hund. Er bittet da, ihm nicht nahe zu kommen.)
Die hier geschilderte Szenerie entspricht der Darstellung von Magieanwendung im Zuge von Konflikten in den Isländersagas.405 Die Bewegung eines Zaubernden entgegen dem Uhrzeigersinn wird dort häufiger berichtet.406 In der Regel soll dadurch ein Zauber ausgeführt werden, der die aktuellen Gegebenheiten verkehrt.407 Auch die Bitte, nicht angesprochen zu werden, ist ein bekanntes, wenn auch nicht weit verbreitetes Motiv.408 In Þrándrs Fall dient dieser Zauber offenbar der Aufklärung von Sigmundrs Verbleib, ebenso wie das Pfeifen – beides scheint ihn in die Lage zu versetzen, Spuren zu riechen »wie ein Hund«.409 Er ist damit auch erfolgreich, obwohl ihm Sigmundr letztlich durch den Sprung ins Meer entkommt. Seinen zweiten und berühmtesten Zauber, das nekromantische Ritual, führt Þrándr aus, als er Sigmundrs Tod als Preis Þóras für ihre Einwilligung in die Hochzeit mit Leifr aufklären muss: Þrandr hafde þa latít gera ellda mykla j ellda skala ok grindr fiorar lætr hann gera med fíorum hornnum ok íx ræíta ristr Þrandr alla uega vt fra grindunum en hann setzst astol mille elldz ok grindanna hann bidr þa nu ekki vid sig tala ok þeir gera suo. Þrandr sítr suo vm hrid ok er stund leíd þa geingr madr jnn j ellda skalann ok var allr aluotr þeir kenna mannin at þar var Æínarr Sudr eyíngr hann geingr at elldínum ok rettir at hendr sinar ok litla hrid. ok snyrr vt eftir þat ok er stund lidr geingr madr jnn j ellda husit hann geingr at ellde ok rettir til hendr sínar ok geingr vt sidan þeir kendu at þar var Þorir. bratt eftir þetta geingr hínn þride madr j ellda skalann þessi var mikill madr ok míog blodugr hann hafde hofudít j hendi ser þenna kenna þeir aller at þar var
405 Vgl. mit Beispielen auch Ólafur Halldórsson 1987, S. cxc–cxci. 406 So verfährt etwa Auðbjǫrg in der Gísla saga, S. 59: Veðr var kalt úti ok heiðríkt. Hon gengr nǫkkurum sinnum andsœlis um húsin ok viðrar í allar ættir ok setr upp nasarnar. En við þessa hennar meðferð þá tók veðrit at skipask […] (»Es war kalt draußen, windstill und klar. Sie geht einige Male entgegen dem Sonnenlauf ums Haus und schnaubt in alle Himmelsrichtungen und zieht die Nase kraus. Während sie das tat, begann das Wetter umzuschlagen […]«; Strerath-Bolz [Übers.]/Schier [Überarb.] 2011, S. 133–134). 407 Vgl. Dillmann 2006, S. 112–118. 408 Vgl. Dillmann 2006, S. 118 (bes. Fn. 89). In der Landnámabók S 289/H 250, S. 304–305 bittet Loðmundr inn gamli darum, nicht beim Namen genannt zu werden. 409 Harlan-Haughey 2015, S. 357–358 leitet daraus ab, dass »Þrándr’s […] superb senses of smell […] align [him] more with nature than the human world, making [him] an uncanny blend of beast and man« (S. 358). Diese Interpretation, die im Zusammenhang mit Harlan-Haugheys Auffassung Þrándrs als aus norwegisch-kolonialer Perspektive »defective native« (S. 357) steht, ist zu weit gegriffen. Dennoch verstärkt die Betonung seines als tierisch dargestellten Geruchssinns die Verbindung, die Þrándrs Handeln mit der Natur der Färöer verbindet.
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S(igmundr) Brestis s(on). hann nemur stadar nokkura stund agolfinu ok geingr vt sidan ok eftir þetta riss Þrandr af stolínum ok uarpar mædiliga ondunne.410 (Þrándr hatte da große Feuer im Feuerraum entzünden lassen, und vier Gitter mit vier Ecken lässt er errichten, und neun Felder ritzt Þrándr in jede Richtung von den Gittern weg, er aber setzt sich auf einen Stuhl zwischen das Feuer und den Gittern. Er bittet sie nun, ihn nicht anzusprechen, und sie tun das. Þrándr sitzt so eine Weile, und als eine Weile verging, da kommt ein Mann in den Feuerraum herein und er war ganz nass. Sie erkennen den Mann, dass es Einarr Südinselbewohner war. Er geht zum Feuer und richtet seine Hände auch eine kurze Weile darauf. Und er wendet sich danach wieder hinaus. Und als eine Weile vergeht, kommt ein Mann hinein in die Feuerstube. Er geht zum Feuer und richtet seine Hände darauf und geht dann hinaus. Sie erkannten, dass es Þórir war. Kurz darauf geht der dritte Mann in die Feuerstube, dieser war groß und sehr blutig, er hatte den Kopf in seinen Händen. Sie alle erkennen, dass es Sigmundr Brestisson war. Er bleibt eine Weile auf dem Boden stehen und geht danach hinaus, und danach erhob sich Þrándr vom Stuhl und seufzt tief.)
Die Szene ist einzigartig.411 Tote kehren in der Sagaliteratur in der Regel nur ungerufen und gerade gegen den Willen der Lebenden als Wiedergänger zurück.412 Hier aber werden sie allem Anschein nach explizit gerufen und kehren unproblematisch wieder dorthin zurück, woher sie offenbar gekommen sind. Auch versuchen sie nicht, den Lebenden zu schaden. Formal identifizieren Foote und Ólafur Halldórsson eine Vorlage von Þrándrs Ritual-Aufbau in der Maríu saga,413 wo dem Herzog Romaldus vorgeworfen wird: Þá er þú skalt fara at beriaz [við óvini þína, fyrr en þú takir til orrostu, þá ferr þú á brot frá öðrum mönnum ok þræll þinn með þér, sá er samvitandi er glœps þíns, til skógar í einnhvern leyndan stað, ok þó nærr borg þinni, ok lætr þú þar breiða niðr uxahúð blóðga, ok sezt þar yfir ofan siálfr ok rístr umhverfis á iörðunni hiá þér með blóðrefli sverðs þíns níu reita, ok magnar [þú með diöfuligum gölldrum.414
410 Fær, S. 88. 411 Vgl. Foote 1984b, S. 210. Zur Interpretation und Einordnung der Szene in der vorliegenden Studie vgl. bereits Schmidt 2022. 412 Vgl. hierzu als Überblick mit historischer Ausrichtung Bodner 2006; zur literarischen Funktion von Wiedergängern siehe Merkelbach 2019, S. 31–49 u. S. 189–196. Für zwei intensiv besprochene, prominente Beispiele von Wiedergängererscheinungen aus der Eyrbyggja saga, den Wiedergang Þórólfr bægifótrs und das sogenannte Fróðárundr, einschließlich reichlicher Forschungsliteratur vgl. Böldl 2005, S. 117–133. Ein Berührungspunkt ergibt sich sowohl im Fróðarundr als auch Þrándrs Nekromantie zudem mit christlichen Wundererzählungen, in der Tote zeitweilig auferstehen können, um Vorhersagen zu treffen, wie etwa in der Eiríks saga rauða c. 6, S. 214–217, oder Sigmundrs späterer Traumerscheinung vor seiner Witwe in der Færeyinga saga selbst. Im Gegensatz zu christlichen Totenerscheinungen haben Wiedergänger keine Nachrichten an die Lebenden zu übermitteln und sie wenden sich gegen diese, vgl. auch Böldl 2005, S. 119. 413 Foote 1984b, S. 214; Ólafur Halldórsson 1987, S. cxcii. Bereits Strömbäck 2000, S. 129 weist auf die Parallele hin. 414 Maríu saga, S. 147–148. Die Stelle existiert in mehreren Redaktionen, vgl. auch S. 730 u. S. 737. Die älteste davon, ein Fragment, ist in Ungers Ausgabe im Vorwort aufgeführt, siehe S. XXXIII–
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(›Wenn du gegen deine Feinde kämpfst, bevor du die Schlacht beginnst, entfernst du dich von anderen Menschen und einer deiner Knechte begleitet dich, ein Mitwisser deines Verbrechens, an einen verborgenen Ort in den Wäldern, und doch nahe an deiner Burg, und dort lässt du eine blutige Ochsenhaut niederbreiten und setzt dich selbst darauf und ritzt mit der Spitze deines Schwertes um dich herum neun Felder in den Boden und verstärkst dies mit teuflischen Zaubersprüchen.‹)
Zwar spricht die Formulierung, besonders der ältesten Handschrift, nio reta alla vega fra vt, durchaus für eine Beeinflussung, und eine Version der Maríu saga mag vielleicht als Inspirationsquelle für einige Szenen aus der Færeyinga saga gedient haben.415 Jedoch ist die Situation hier eine ganz andere. In der Maríu saga trifft Romaldus den Priester Barbatus, der ihm Höllenqualen prophezeit, falls er seine Sünden nicht bereuen will, woraufhin Romaldus einen Beweis für die Wahrheitskenntnis des Priesters verlangt. Dieser erzählt ihm daraufhin von seinem Ritual, obwohl er eigentlich nichts davon wissen kann. Das Ritual steht eindeutig in einem teufelsmagischen, also kirchlich stark dämonisierten Kontext. Davon ist in der Færeyinga saga wenig bis gar nichts zu spüren. Im Gegenteil steht Þrándrs offenbares Herbeibeschwören der Toten augenscheinlich zunächst im Kontext eines Indiziensammelns gegen Sigmundrs Mörder und soll Informationen über Verbleib und Schicksal dieses Mannes, des christlichen Missionars, zu Tage fördern. Generell dienen mantische Rituale dem Ziel »to acquire specific knowledge of future or hidden events by supernatural means«.416 Die Gulaþingslǫg verbieten mit der útiſeta at vekía troll upp die einzige vermutlich nekromantische Praktik,417 die verhältnismäßig gut im altnordischen Material belegt
XXXIV. Sie schreibt an dieser Stelle þa fortv i scog þann er ner var borg þinne meþ þioni þinom þem er þv truþir oc breddir þar niþr bloþga nꜹtshvþ oc settisc þar niþr oc gorþir nio reta alla vega fra vt meþ sverþi þino meþ diofoligo lioþi […]. 415 Vgl. auch Kap. 4.5.2. Zur Bewertung der Vorbildfunktion der Maríu saga für die Færeyinga saga siehe auch Schmidt 2018. 416 McKinell 2001, S. 246. 417 Gulaþingslǫg § 32. In den Vitæ Patrum der Heilagra manna sögur (S. 411) ist hinn frægazti at útisetum der sepulcrorum violator, vgl. Strömbäck 2000, S. 127. Strömbäck argumentiert für zwei geschiedene Formen der útiseta: Passiv durch Sitzen an Kreuzwegen, Grotten, Anhöhen o. ä. als Methode der Divination und aktiv zur Beschwörung von Toten (S. 128–129). Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass Óðinn in der mythologischen Überlieferung die beschworenen Seherinnen befragt, um an Wissen zu gelangen. Ebenso sollte bedacht werden, dass die ›Übersetzung‹ der Heilagra manna sögur den Ausgangstext bisweilen sehr frei adaptiert, etwa indem der die útiseta Durchführende beschließt, eine Jungfrau zu rauben, anstatt eine Kirche der heiligen Maria plündern zu wollen. Die útiseta könnte so auch symbolisch für heidnische Bräuche im Allgemeinen stehen, denen der später heilige Protagonist abschwört und für die er Buße tut. Sie ist somit an dieser Stelle nicht zwangsweise als Totenbeschwörung zu verstehen. Auch ein genauer Blick auf die Gulaþingslǫg macht die útiseta als explizite Totenbeschwörung fraglich. Sie steht dort im Kontext eines Verbots heidnischer Praktiken als nur ein Element unter weiteren, wie unspezifischem »Hexenwerk« (fordæðo skap) sowie den verruchten Verbrechen Diebstahl und Mord, dient dem Ziel at fremia heiðrni (das Heidentum zu promulgieren) und erweckt troll. Dieses Wort besitzt eine sehr breite Semantik,
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ist.418 Berichte über diese útiseta fallen allerdings sehr spärlich aus und werden »nur spät und stark literarisiert […] greifbar«.419 Eine konkrete Vorstellung vom Ablauf des zugehörigen Rituals ist aus den Quellen nicht ableitbar, die die útiseta in der Regel lediglich erwähnen, ohne näher auf sie einzugehen.420 Simek führt diese Spärlichkeit auf die »z. T. drastischen Kirchenstrafen auf diese Form Schwarzer Magie« zurück.421 In größerer Ausgestaltung bekannt ist die Nekromantik sonst lediglich aus Eddaliedern, wie etwa den Baldrs draumar und gegebenenfalls auch der Vǫluspá,422 in denen jeweils der Götterfürst Óðinn eine tote riesische Seherin erweckt, um sie nach der Zukunft zu befragen, sowie der Hervarar saga.423 Das Besondere bei Þrándrs Ritual ist allerdings, dass weder er als Mantiker noch ein anderer aus der Gruppe der Zusehenden in irgendeine Form von Kontaktaufnahme mit den beschworenen Toten tritt, um Wissen zu erhalten. Ihr bloßes Auftreten scheint in diesem Sinne zu genügen. Darüber hinaus sitzt Þrándr auf einem Stuhl innerhalb eines Hauses, und nicht, wie es schon dem Namen nach für eine útiseta notwendig scheint, unter freiem Himmel. Ebenso wenig spricht er Beschwörungsformeln, wie Óðinn, der in den Baldrs draumar die Seherin durch die Hilfe von valgaldr qveða erweckt,424 oder Hervör. Damit passt das hier beschriebene Ritual nicht in den Rahmen, den vergleichbare Evidenz im Korpus der altnordischen Literatur zu Tage fördert. Es handelt sich insofern um die einzige detaillierte, wenn auch dennoch in den Details obskure,425 Schilderung eines nekromantischen Rituals in der altnordischen
deren gemeinsamer Nenner lediglich die Bezeichnung eines transgressiven und disruptiven »evil being« ist, siehe Ármann Jakobsson 2008, bes. S. 52–55. Statt einer Totenerweckung könnte also auch nur eine unspezifische Beschwörung unchristlicher Geistwesen oder Gottheiten gemeint sein. 418 Vgl. McKinell 2001, S. 250; Simek 2006, S. 81–82. 419 Simek 2006, S. 82. 420 In der Hákonar saga herðibreiðs aus Snorris Heimskringla etwa heißt es lediglich, Hákons Mutter habe während eines Konflikts eine Seherin ein útiseta-Ritual til sigrs (S. 366; für den Sieg) vollführen lassen. Daraufhin habe diese als erfolgreiche Kampfstrategie vorausgesagt, nur nachts gegen den Kontrahenten zu ziehen. Vgl. auch Hultgård 2005, S. 119. 421 Simek 2006, S. 82. 422 Zur Möglichkeit, die Vǫlva der Vǫluspá als Tote zu betrachten, vgl. McKinnell 2001, S. 251. Locus classicus dieser Interpretation ist Ohlmarks 1936. Jedoch kennen viele der von Ohlmarks als Totenbeschwörungen gewerteten Stellen lediglich einen Schlaf der ›erweckten‹, weissagenden Frauenfigur. 423 Siehe Hervarar saga ok Heiðreks c. 4, S. 13–23. Die Schildmaid Hervör beschwört hier ihren verstorbenen Vater in einem langen eddischen Lied, um das Schwert Tyrfingr als Familienerbstück zurückzuerhalten. Das zugehörige Ritual bleibt jedoch erneut unklar, der Fokus liegt allein auf beschwörenden Worten und der folgenden, ebenfalls lyrischen, Antwort des Toten einschließlich einer Prophezeiung. Eine ähnliche Situation und Invokationsformel stellt der eddische Grógaldr (S. 207) dar, in dem die verstorbene Gróa ihrem sie beschwörenden Sohn Ratschläge erteilt. 424 Baldrs draumar 46, S. 277 (»Totenzauber […] sagen«; Krause [Übers., komm. u. hrsg.] 2004, S. 182). Hultgård 2007, S. 773 übersetzt das hapax legomenon valgaldr wörtlicher mit »Walstattzauberlied«. 425 Vgl. Foote 1984b zu den Unklarheiten in der Szene. So scheint es u. a. schwierig, sich den Ritualaufbau konkret räumlich vorzustellen, obwohl er in so großer Detailliertheit ausgeführt wird.
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Prosa. Deshalb überlegt Almqvist, ob es sich nur um eine Täuschung und Inszenierung von Seiten Þrándrs handeln könnte, ganz nach dem Muster der Haleyri-Szene. Es könne sich bei den erscheinenden ›Toten‹ womöglich um Sigurðr, Þórðr und Gautr in ihrer üblichen Rolle als Erfüllungsgehilfen handeln.426 Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass hier keinesfalls eine vermeintlich korrekte Figurenwahrnehmung sekundär mit den tatsächlichen Vorgängen korrelliert wird. Nichts deutet in der Darstellung der Szene auf die typische, irreführende Erzähltechnik hin, die die Zeichnung Þrándrs prägt. Auch die Szene, in der seine Neffen dem Vernehmen nach ›wiedergehen‹ ist diametral von der Nekromantie-Szene unterschieden.427 Weiter bemerkenswert an der Szene ist in diesem Zusammenhang, dass sie bei näherem Blick kausal fast unterdeterminiert und überflüssig im Kontext der Aufklärung von Sigmundrs Tod erscheint: Þrándr scheint von Anfang an zu wissen, was geschehen ist. Þorgrímr ist sein lndzsete428 und Þrándr fährt zielgerichtet zu ihm, oder jedenfalls wird von einer Suche an anderen Orten nichts erzählt.429 Er beginnt zudem sein Gespräch bereits in einer Art und Weise, die Gewissheit über Þorgrímrs Schuld ausdrückt.430 Hieraus ließe sich, entsprechend der Verschwiegenheit des Erzählers hinsichtlich der Untaten Þrándrs, überlegen, ob nicht Þorgrímr einen Auftragsmord für seinen Grundherren Þrándr ausgeführt haben könnte, und dessen genaues Wissen um seine Schuld daher rührt. Dem widerspricht allerdings die als Motiv angegebene Goldgier Þorgrímrs,431 auch wenn dieses nur vergeschoben sein könnte, um seine Söhne zu überzeugen, die sich seinem Plan zunächst
Foote gibt als möglichen Grund für die Ungenauigkeiten der Beschreibung an, der Sagaverfasser könnte ihren Hintergrund selbst nicht genau verstanden haben, was für eine Verwendung authentischen Materials spräche (S. 219). Diese Interpretation lässt sich zwar kaum ausschließen, scheint aber heuristisch im Sinne des hier verwendeten Zugriffs wenig befriedigend. 426 Vgl. Almqvist 1992b, S. 52–53. 427 Siehe Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3.3. 428 Fær, S. 86 (Hintersasse). 429 Fær, S. 87: Lítlu eptir þetta byzst Þrandr hæiman ór Gotu […] ok erv xíȷ ́ saman þeir fara til Sudr eyiar ok koma j Sand uik til Þorgrims illa (Kurze Zeit darauf rüstet sich Þrándr zur Ausfahrt von zu Hause aus Gasse […] und sie sind zusammen zwölf. Sie fahren zur Südinsel und kommen in die Sandbucht zu Þorgrímr dem Bösen). 430 Er fragt Þorgrímr zunächst – augenscheinlich unverfänglich – nach den sich im Umlauf befindlichen Gerüchten. Das erste, nämlich dass Þrándr und seine Verwandten Sigmundr auf der Flucht selbst getötet haben könnten, weist er vehement zurück. Als Þorgrímr daraufhin einen Mord ganz nach der Art, wie er tatsächlich geschehen ist, ins Spiel bringt, meint Þrándr: [Þ]at er mín ætlan at […] þu ser ualldr dauda S(igmundar) (Fær, S. 88; ›Es ist mein Glauben, dass […] du der Verursacher von Sigmundrs Tod bist‹). Als Þorgrímr abstreitet, meint er: [Æ]igi mantu þessa þurfa at þræta […] þuiat ek þikíumzst vita at þu ert þessa uerks sannr (Fær, S. 88; ›Du brauchst das nicht leugnen […]. Denn ich glaube zu wissen, dass du dieser Tat schuldig bist‹). 431 Fær, S. 86: S(igmundr) hefir suo mikít fe at ser at þui at mer litzst sagde hann at ver hafim alldri sligs æigande vordít ok er gull hringr hans hardla dígr (›Sigmundr hat so viel Reichtum bei sich, wie es mir scheint‹, sagte er, ›dass wir solchen noch nie erlangt haben, und sein Goldring ist sehr schwer‹). Zur Rolle des Rings vgl. näher Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3.
3.6 Magie und Heidentum? Zu Þrándrs Glauben
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verweigern.432 Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Þorgrímr Þrándr nach der Tat informiert hat. In diesem Fall wäre jedoch die Ausgestaltung der Unterhaltung zwischen ihnen unsinnig. Sie findet unter vier Augen statt, also explizit nicht öffentlich, da Leifr und der Rest von Þrándrs Fahrgemeinschaft vor der Stube beim Feuer sitzen.433 Weshalb sollte Þorgrímr vor Þrándr alleine leugnen, wenn er ihm zuvor einen Bericht diesbezüglich abgegeben hätte? Oder weshalb sollten in diesem Fall von ihrer Unterhaltung überhaupt Einzelheiten berichtet und nicht eher ein geheimnisvolles Gespräch abseits der anderen Männer im Haus angedeutet werden? In jedem Falle scheint das Ritual auch deswegen überflüssig, weil es bei näherer Betrachtung im Grunde nicht im Zuge eines Indiziensammelns stattfindet. Þorgrímr und seine Söhne werden bereits zuvor gefesselt, und nach dem Ritual muss zusätzlich eine Hausdurchsuchung stattfinden, um Þorgrímr zu überführen. Diese hätte, angesichts der Tatsache, dass Þrándr sich seiner Sache ohnehin sicher genug ist, die Verdächtigen fesseln zu lassen, wohl auch ohne ein nekromantisches Ritual stattfinden können. Weiterhin wird, wie bereits festgestellt, in keiner Weise mit den Toten interagiert, Feuer und gegebenenfalls auch die Gitter und reitar dürften sogar apotropäische Funktionen erfüllen.434 Dennoch kann Þrándr danach sehr genau den Hergang der Geschehnisse erzählen, und die Leute glauben ihm. Während der folgenden Hausdurchsuchung weist Þrándr darüber hinaus erstens seine Helfer auf die Kiste hin, in der sich Sigmundrs Ring befindet, und gibt ihnen zweitens den Rat, sie umzudrehen. Dadurch erst kommt das Lumpenbündel zum Vorschein, in dem nur Þrándr selbst den Ring auffindet.435 Er scheint das Ritual also kaum zu benötigen – oder dient es nur der Überzeugung seiner Begleiter? Angesichts der Tatsache, dass sie Þorgrímr bereits vorher bereitwillig fesseln, scheint dies kaum von Nöten zu sein. Hat Þrándr seine Vermutung zum genauen Tathergang erst von der Erscheinung der Toten? In diesem Fall wäre der gesamte Hergang der Szene, die Þrándrs Gewissheit schon vor dem Ritual als unzweifelhaft darstellt, in hohem Maße erklärungsbedürftig. Þrándr agiert hier jedenfalls nicht wie eine Detektivfigur. Die Frage stellt sich also, welche narrative Funktion diese genaue und überaus seltene Ritualbeschreibung erfüllt. Eine Interpretationsmöglichkeit für die ausführliche Beschreibung von Þrándrs magischen Fähigkeiten ist seine Zeichnung als böser Schwarzmagier aus christlicher Perspektive, doch ist eine eigens solchermaßen begründete Betonung seines defizitären Charakters kaum notwendig. Diese Interpretation steht daher im Konflikt
432 Fær, S. 86: [S]ynir hans mæla j moti um hrid en samþyktu honum vm sidir (Seine Söhne sprechen sich eine Weile dagegen aus, aber stimmten ihm schließlich zu). 433 Fær, S. 87: Þrandr geingr til stofu ok Þorgrimr bonde en þeir L(eifr) sítea frammi j husum vit ellda er upp voru kuæktir firir þeim (Þrándr und der Bauer Þorgrímr gehen in die Stube, aber Leifr und die anderen sitzen vorne im Haus bei den Feuern, die für sie entzündet wurden). 434 Vgl. Foote 1984b, S. 215–218. 435 Almqvist 1992b, S. 53 vermutet sogar hierbei eine List Þrándrs, der den Ring in der Kiste (oder sogar den Lumpen) platziert haben könnte.
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mit Þrándrs restlicher Darstellung in der Færeyinga saga. Zudem dienen seine durchgeführten Zauber, die übersinnliche Spurensuche und das nekromantische Ritual kaum einem aus sich heraus verurteilenswertem Zweck. Der Aufspürzauber erscheint aus seiner Sicht notwendig, um Sigmundr verfolgen zu können und eben nicht länger an dessen Haus at beriazst uid hofut lausa menn zu müssen.436 Da er Sigmundrs erfolgreiche Flucht so verhindert, ist sein Zauber aus dessen Sicht negativ. Aus Þrándrs Sicht aber ist er nur logisch und dient sogar dem positiven Zweck, seinen eigentlichen Gegner persönlich zu stellen, also auch nach den Normen der Sagagesellschaft vergleichsweise noch ›ehrbar‹ zu handeln. Die Spurensuche ist so nicht per se ein Schadenszauber, der im Kontext der Isländersagas eine Verdammung nach sich zöge.437 Auch ist im Moment der Totenbeschwörung Þrándrs Ziel die Aufklärung des Mordes am als moralisch höherwertig dargestellten Sigmundr und, jedenfalls vordergründig, die Wiederherstellung von Frieden auf den Färöern und Ausgleich zwischen den Familienzweigen im Konflikt. Diente die Beschreibung des Rituals der Darstellung eines bösen Þrándr, so ließe sich Sigmundrs Familie in diesem Abschnitt gleichsam auf einen Pakt mit dem Teufel ein – jedoch erwachsen ihr daraus keine unmittelbar negativen Folgen. Zwar dient die hierdurch in die Wege geleitete, einstweilige Aussöhnung der Konfliktparteien in erster Linie Þrándrs Herrschaftssicherung, und ist insofern für Sigmundrs Familie negativ. Jedoch würde man im Falle einer Stilisierung der Verbindung als ›Teufelspakt‹ eine moralisierendere Darstellung seitens des Erzählers erwarten, die jedoch gänzlich unterbleibt, wie auch im Falle von Sigmundrs Ring.438 Passenderweise spricht auch seine kredda nicht für eine Entstehung des Textes in einem intoleranten, klerikalen Milieu. Jedenfalls scheint Þrándrs Figurenanlage auch in diesem Punkt kaum mit einer christlich begründeten Pro-/Contra-Interpretation beizukommen zu sein. Es lässt sich so insgesamt festhalten, dass auch Þrándrs magische Fähigkeiten in der Færeyinga saga nicht einfach einer Schwarz-/Weiß-Dichotomie unterworfen sind. Sie sind nicht aus sich heraus als negativ dargestellt. Folglich kann seine Magieanwendung Þrándr auch nicht pauschal negativ zur Last gelegt werden, er wird kaum mit explizit dämonischen Zügen versehen. Seine Wettermagie wird im wahrsten Sinne des Wortes zum ›natürlichen‹ Zeichen seiner Beherrschung der Färöer und dient ihm in seiner Auseinandersetzung mit dem Außen von Norwegen. Um
436 Fær, S. 84 (gegen führungslose Leute kämpfen). 437 Zum zwiespältigen sozialen Status von Magiern in den Isländersagas vgl. Dillmann 2006, S. 457–584; Merkelbach 2019. Maßgeblicher Bewertungsparameter ist demnach, welchen Effekt ein vollbrachter Zauber erzeugt: Verurteilenswert erscheint in der Sagagesellschaft allein für Protagonisten und Gesellschaft schädlicher Zauber, die Bewertung von Zauberei ist intrinsisch an die Perspektive des jeweils fokussierten Protagonisten gebunden, der sie je nach Eigenbedarf bewertet. Sichtbar werden in der sehr ambigen Darstellung von Magie im altnordischen Korpus so in erster Linie immer wieder narrative Hierarchien (Begriff nach Hahn 2020, S. 236–237), indem Nebenfiguren als negative, auch magische Störenfriede, Hauptfiguren aber sehr komplex dargestellt werden. 438 Siehe Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3.
3.6 Magie und Heidentum? Zu Þrándrs Glauben
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auf diesen Inseln mit ihren besonderen natürlichen Gegebenheiten wahrhaft herrschen zu können, muss Þrándr sogar eine enge Affinität zu Land und See aufweisen. Einsatz von Zauberei im Konflikt mit Sigmundr erscheint aus Þrándrs Perspektive durchaus sinnvoll, immerhin zieht er im Machtkampf auch politisch alle Register. Seine Beherrschung arkaner Künste unterscheidet sich so nicht grundsätzlich von Þrándrs übriger Figurenzeichnung, wird ebenso wie das Thema seines Glaubens nur bedingt fokussiert und überdies multiperspektivisch in Blick genommen. Gerade seine potenziell verwerflichste Tat, die Totenbeschwörung, wird mit einem Überangebot an möglichen Erklärungsperspektiven beinahe schon überfrachtet und bleibt doch unklar. Die gesamte Sequenz ist in hohem Maße narrativ destabilisiert und enthält so einen Mehrwert, der ganz verschiedene Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, aber stets nicht vollständig aufgeht. Wenigstens ein Element steht in jeder möglichen Erklärung quer zu einem anderen. Damit zeichnet sich die Szene insbesondere durch ihre Ungewöhnlichkeit aus: Sie fällt aus dem Rahmen. Gerade deswegen aber passt sie auch nicht recht in ein Interpretationsschema, das Þrándr in eine einfache Dichotomie einfassen will. Somit ist die einzig eindeutige Funktion der Szene die Inszenierung dieser Figur als Experte des ›Nicht-Alltäglichen‹. Þrándr ist in vielerlei Hinsicht eine exzeptionelle Persönlichkeit und auch eine exorbitante Figur: Er scheint aus der ›gewöhnlichen‹ Welt herauszuragen.439 Erneut symbolisiert eine Einzelszene von Þrándrs Figurenzeichnung damit den Gesamtumgang der Erzählung mit ihm: Das einzig mit Sicherheit zu bestimmende Element ist, dass sein Wesen unbestimmbar bleibt. Insgesamt zeigt sich Þrándr somit auch hinsichtlich seiner religiösen Überzeugung als regelwidrige, ambivalent konzipierte Figur. Er inszeniert sich zeitweise als emphatisch heidnischer Opponent Sigmundrs, doch im Grunde zeigen sein Verhalten während der Bekehrungszeit und später seine kredda, dass Religiosität im eigentlichen Sinne keinen Platz in seinem Leben hat. Der politische Opportunist erscheint so auch als Atheist, dem in Glaubensangelegenheiten insbesondere die Komponente Macht bewusst ist. Er setzt Religion als Kampfmittel ein, misst ihr aber kaum eigenständige Bedeutung zu. Das in der Forschung bisher so stark betonte Element von Þrándrs heidnischem Glauben offenbart sich so mit Blick auf die Gesamterzählung als abgewertet und dem politischen Diskurs von Þrándrs Aufstieg und Fall als Herrscher der Färöer untergeordnet. Nichts Anderes gilt letztlich für seine Zauberkraft: Diese setzt er ebenso als politisches Machtinstrument ein wie seinen Glauben. Seine explizit schwarzmagischen Künste verstärken vorderhand den Eindruck, den seine anti-moralische Figurenzeichnung in den Rezipienten ohnehin erzeugen muss, sind bei näherem Blick aber widersprüchlich codiert, immerhin verfolgt er damit keine ausdrücklich negativ gewerteten Ziele. Hingegen bricht die ausführliche Darstellung seines Beschwörungsrituals mit gängigen Erzählkonventionen der altnordischen Literatur. Von keinem anderen Protagonisten
439 Die hier angedeuteten Gedanken werden in einem folgenden Kapitel unter Bezug auf die Narrationsstruktur noch näher auszuführen sein, siehe Kap. 8.
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wird ähnliches berichtet. Þrándrs Darstellung sprengt insofern die gültige Norm der Sagaliteratur ebenso wie mit seiner dezidiert skrupellosen und delegimierten politischen Agenda. Ergebnis all dessen ist schließlich ein hochkomplexes Bild einer in vielfacher Hinsicht außergewöhnlichen Hauptfigur. Þrándr ist das Urbild eines Machtpolitikers auf allen Ebenen: Alles, was ihm zum persönlichen Vorteil gereicht, ist er bereit, einzusetzen, und erzeugt damit das Bild einer Persönlichkeit, die nur schwer festzumachen ist. Er sprengt die Regeln, wendet sich, ruft Abscheu hervor; zugleich aber auch zynische Bewunderung. Denn egal, was er tut, wie amoralisch er sich verhält und an welche Abgründe seine Figurenzeichnung heranmanövriert, er bleibt so lange erfolgreich, bis sich seine eigenen Fehler an ihm rächen, weil nicht einmal er am Ende den Lauf der Welt bestimmen kann. Þrándr ist ein politisches Ungeheuer im wahrsten Sinne des Wortes – kaum begreifbar und jenseits gängiger Kategorisierungen. Er ist, letztlich, das Bild der Ambivalenz an sich, und die Færeyinga saga entscheidet sich dafür, gerade diese Figur in ihr Zentrum zu setzen: Den abgründigen Machtmenschen, der dem Erfolg jede Konvention opfert, und so selbst zum Bild grenzenloser, selbstbestimmter Macht wird. Dies lässt Rückschlüsse auf Ideologie und Weltbild des Textes zu, dem eine solche Figur zur Vignette wird.440 Keine andere der im Folgenden zu untersuchenden Figuren ist ihm gleich, doch gerade in der Gegenüberstellung Þrándrs mit dem restlichen Figurenensemble wird deutlich, was die Færeyinga saga auszusagen bestrebt ist: In der Politik ist Þrándrs deviante, regellose und unkonventionelle Persönlichkeit Voraussetzung für Erfolg. Doch dessen Preis ist die Opferung jeglicher menschlicher Werte und Normen. Im Gegensatz dazu stehen andere Figurenkonzepte, die in der Færeyinga saga präsentiert werden, und die in den folgenden Kapiteln untersucht werden sollen.
440 Siehe weiterführend Kap. 8.3 u. Kap. 9.1.
4 Sigmundr Brestisson 4.1 Der strahlende Held als blasser Verlierer? Sigmundrs Figurenzeichnung im Kontrast zu Þrándr í Gǫtu Sigmundr Brestisson ist der Widerpart Þrándrs in der Færeyinga saga. Er scheint diesem auf fast sämtlichen Ebenen völlig entgegengesetzt gezeichnet. Wo Þrándr sich moralisch deviant verhält, ist Sigmundr ganz die integre und rechtschaffene, positive Figur der Saga. Wo Þrándr sich als feiger Intrigant erweist, der Konfrontationen jeglicher Art zu vermeiden versucht, der zurückweicht, sich herausredet und politischen Gegnern schmeichelt, zeigt sich Sigmundr als dem Waffengang nie abgeneigter Kraftmensch und typischer Wikingerführer. Er setzt eher auf die Stärke seines Arms denn geschickte Verhandlungstaktik und beugt sich einem Gegner nie freiwillig. Darüber hinaus ist er ein loyaler und treuer Gefolgsmann, Freund und Verwandter, ein gerechter, milder und beliebter Herrscher, ein überaus mutiger, tapferer und behänder Krieger. Im späteren Teil seines Lebens wird Sigmundr ein guter Christ, der nach seinem Tod von Gott selbst die Erlaubnis erhält, seiner Frau noch einmal zu erscheinen und eine Prophezeiung vor ihr auszusprechen.1 Kurz, er ist ein Ausbund an wikingerzeitlicher und proto-mittelalterlicher Tugendhaftigkeit. Tatsächlich entspricht er ganz dem, was im strukturalistisch–Propp’schen Sinne als ›Held‹ einer Erzählung angesprochen werden müsste.2 Er ist rein positiv dargestellt und entspricht gängigen Vorstellungen einer rechtmäßigen Hauptfigur. Jedoch scheint er seinem Gegner Þrándr intellektuell kaum gewachsen,3 impulsiv und durchaus brutal in seiner Vorgehensweise. Aus streng christlicher Sicht ist er außerdem mit einem heidnischen Makel versehen.4 So ist es nicht er, obwohl im Vergleich zu Þrándr als die leuchtendere, sympathischere Figur gestaltet, der den Streit um die Vorherrschaft auf den Färöern gewinnt. Er stirbt hingegen – wenig heldenhaft 5 – bereits nach etwa zwei Dritteln der Handlung.
1 Siehe Fær, S. 131: [E]k er her komínn ok er mer þetta lofath af gude sealfum (›Ich bin hierhergekommen, und dies wurde mir von Gott selbst erlaubt‹). 2 Siehe Propp 1972, bes. S. 31–66. Ohne Zweifel ist Sigmundr ein Held im Sinne einer Figur, die »als exemplarischer Handlungsträger […] repräsentative Funktionen erfüllt und maßgeblich die Lenkung der Sympathie des Lesers beeinflusst« (Immer 2007, S. 308). Zu weiteren ›Helden‹-Konzepten, die in Sigmundrs Figurenentwurf angelegt werden, siehe Kap. 4.2.1–2. 3 Vgl. Ólafur Halldórsson 1967, S. xvii; Glauser 1989, S. 204–205, S. 215 u. S. 217. Inbesondere betrifft dies strategische Langzeitplanungen. 4 Vgl. Glauser 1989, S. 217. 5 Vgl. Steinsland 2005, S. 83–84, basierend auf ihrem Konzept des tragischen Fürstenschicksals, vgl. hierzu Steinsland 1991. Zur Bewertung dieses Ansatzes siehe Kap. 4.2.3 u. Kap. 8.3.3. Vgl. auch Haugan 1987, S. 77. Gegenteilig setzt Foote 1984c, S. 182–184 eine Art bewundernswerten Heldenmut in Sigmundrs Todesszene an, ebenso Johnston 1975, S. 13. https://doi.org/10.1515/9783110774979-004
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Entsprechend wurde er in der Forschung zwar einerseits als der ›Held‹ der Færeyinga saga angesprochen,6 andererseits aber, gerade im Vergleich zu Þrándr, häufig als blassere und »naivere«7 (bzw. schlicht »dümmere«8) Figur abgewertet. Tatsächlich erscheint seine Figurenzeichnung weitaus weniger vielschichtig als die Þrándrs. Jedoch ist sie letztlich komplexer angelegt, als ein Großteil der bisherigen Forschung geneigt war, ihr zuzubilligen.9 Diese reduzierte Sigmundr in der Regel auf das Abbild einer »neuen Zeit«, auf das Symbol »ein[es] christl[ichen], zentralistische[n] und feudalaristokratische[n] [mittelalterlichen] Weltmodell[s]«.10 Trotz dieses vermeintlich zukunftsweisenden Symbolgehalts aber verliert Sigmundr seinen Kampf und ist darüber hinaus eng mit den norwegischen Herrschern verbunden, steht insofern also auch für eine lehnsrechtliche Abhängigkeit der Kolonie. Versteht man die Færeyinga saga als eine Apologie der isländischen Unabhängigkeit, so ist eben diese unselbstständige Rolle der Sigmundr-Figur ein Problem im Widerstreit mit seiner leuchtend-heldenhaften Charakterzeichnung. Wie oben dargelegt kann die Færeyinga saga jedoch kaum als ein Unabhängigkeitsdiskurs gelesen werden. Textintern versucht Sigmundr so mit Hilfe der norwegischen Herrscher nur die Position zurück zu erkämpfen, die sein Vater vor ihm innehatte und auf die er daher einen Anspruch hat. Die Tatsache aber, dass Sigmundr trotz dieser Rechtmäßigkeit und seiner Heldenhaftigkeit und moralischen Integrität seinen Kampf verliert und weit vor seinem Gegner stirbt, macht ihn, mit einer treffenden Formulierung von Guldager, zu »den ubrugelige hero«.11 Allerdings ist die Rolle, die Sigmundr spielt, komplexer, als dass sie sich lediglich auf diese Feststellung reduzieren ließe. Auch jenseits der Dichotomie von positiver Darstellung und frühem Tod als Repräsentant ›fremder‹ Herrschaftsmächte vor dem vermeintlichen Entstehungshintergrund des Textes ist seine Figurenanlage von diversen Spannungsverhältnissen durchzogen.12 Aus seiner Kontrastierung mit Þrándr ergeben sich zudem nicht alleine Unterschiede hinsichtlich Tugendhaftigkeit, Moral und politischem Erfolg, sondern auch in Bezug auf die erzähltechnische Ausgestaltung beider Figuren. Insgesamt mögen Sigmundrs charakterliche Eigenschaften weniger facettenreich und schwierig sein, doch fällt die Detailfülle ihrer Ausgestaltung ins Auge. So bleibt seine grundlegende Figurenanlage von Beginn an gleich der eines ›Helden‹; allerdings werden seine Eigenschaften vom Erzähler über den Lauf der Geschichte verteilt graduell entwickelt, im ausführlichen Bericht über Sigmundrs Jugendexil und seinen Aufstieg in Norwegen in immer neuer Variation eingehend aus6 So etwa Møller 1956, S. 10; Guldager 1975, S. 16; Harris 1986, S. 204–210; Haugan 1987, S. 77; Schier 1992a, S. 562; Steinsland 2005, S. 76–77; Ewering/Krosing 2011, S. 86. 7 So Haugan 1987, S. 77; Skyum-Nielsen 1973. Johnston 1975, S. 13 meint sogar, Sigmundr sei allgemein »a less interesting character«. 8 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 8 u. S. 11. Vgl. auch Almqvist 1992b, S. 48. 9 Vgl. auch Bick 2005, S. 8; Harlan-Haughey 2015, S. 361–368, die jedoch zum Teil stark überbetont. 10 Glauser 1994, S. 115 samt dort aufgeführter Literatur. 11 Guldager 1975, S. 16 (dem unbrauchbaren Held). 12 Als Übersicht über die Spannungen der Sigmundr-Figur vgl. fortlaufend auch Schmidt 2019, S. 66–69.
4.2 Sigmundrs Persönlichkeit
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gestaltet. Dieser Erzählabschnitt zeichnet sich durch den Wandel in Sigmundrs Rolle »vom leidenden Objekt zum aktiven Helden« aus.13 Seinen Kulminationspunkt findet dieser Wandel in Sigmundrs Rückkehr auf die Färöer. Erst in diesem Moment, indem er, nunmehr körperlich erwachsen und ein Wikingerkrieger, sein norwegisches Exil verlässt, ist seine Figurenetablierung abgeschlossen. An diesem Höhepunkt seiner Entwicklung aber lässt sich ein abrupter erzählerischer Bruch feststellen, denn die Rolle der Sigmundr-Figur ist zyklisch angelegt. In seiner Kindheit ist Sigmundr nichts weiter als ein Hindernis für Þrándr, das es auf dem Weg zur alleinigen Herrschaft auszuschalten gilt. Dieselbe Rolle nimmt Sigmundr wieder ein, sobald er auf die Färöer zurückkehrt. Nachdem er intensiv als Hauptfigur aufgebaut wurde – womit die Rezipientenerwartung hervorgerufen wird, er müsse für den verbleibenden Teil der Erzählung weiter als solche agieren – wandelt sich seine Rolle erneut, und seine Figurenkonzeption wird in ihrer Problematik offenbart. Die gleichen Eigenschaften, die Sigmundr im vorherigen Erzählabschnitt zum »aktiven Subjekt« gemacht haben, erweisen sich als fatal im folgenden Abschnitt. Dass gerade dieser Augenblick als Umschlagplatz seiner Erfolgsgeschichte hervortritt und seine Rolle in der Erzählung sich wieder zu der Stufe ›zurückentwickelt‹, auf der sie zu Beginn des Konflikts war, offenbart auch ein raffiniertes Verwirrspiel der Erzählführung mit Darstellungskonventionen und Rezipientensympathien. Der hier skizzierte Überblick über die Gesamtentwicklung der Sigmundr-Figur erweist sie als durchaus komplex angelegt. Erzähltechnisch ist Sigmundr dementsprechend keineswegs eine blassere Figur als sein Gegner, sondern vielschichtig inszeniert. So werden verschiedene Erzählschablonen eröffnet, anhand derer Sigmundr aufgebaut wird, die dadurch erzeugten Erwartungen aber durch das zyklische Modell seines Lebenslaufs gebrochen. Im Folgenden soll die komplexe Konzeption dieser Figur im Zentrum stehen. Ein Vergleich mit Þrándr zeigt dabei, wie paradox die Gegenüberstellung von Recht und Unrecht mit politischem Sieg und Niederlage, und damit die Bedienung erzählerischer Konventionen sowie die Steuerung der Rezipientensympathie in der Færeyinga saga ausgestaltet werden.
4.2 Sigmundrs Persönlichkeit 4.2.1 Sohn eines Lehnsmannes und einer Norwegerin: Sigmundrs Eltern und gedoppelte Figureneinführung – Grundmatrizen einer ›höfisierten‹ Gestaltung Eingeführt wird Sigmundr als Sohn von Brestir Sigmundarson, einem Cousin Þrándrs, und der Norwegerin Cecilía, auf recht stereotype Weise im Kontext isländischer SagaProtagonisten. Er wird beschrieben als snemma mann uęnlígr14 und bæde mikill ok 13 Glauser 1989, S. 213. 14 Fær, S. 9 (bereits in jungen Jahren vielversprechend).
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skỏrulígr.15 Auffällig ist jedoch die doppelte Einführung Sigmundrs und seiner Familie. Bereits in Kapitel 4, in dem Sigmundrs Vater und sein Onkel vorgestellt werden, werden deren Wohnorte, Geliebte und Söhne aufgeführt. In Kapitel 7 werden die Wohnsitze Brestirs und Beinirs erneut genannt, ihre Geliebten und Söhne ein zweites Mal eingeführt und beide Männer in ihren Eigenschaften erneut beschrieben.16 Schon dadurch ergibt sich ein Kontrast zwischen sagatypischer Stilisierung und exzeptioneller Ausgestaltung dieser Figur. Sigmundr wird mit Eigenschaften beschrieben, wie sie gängig Protagonisten einer isländischen Erzählung kennzeichnen, durch die doppelte Einführung aber wird diese typisierte Gundsatzcharakteristik modifiziert.17 Dieser im Folgenden zu untersuchende Befund ergibt dabei allein für die Version der Færeyinga saga in der Flateyjarbók. Die abweichenden Textzeugen in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta halten Sigmundrs Figureneinführung noch knapper. Dort werden zu Beginn der Saga vor allem Sigmundrs Vater Brestir und dessen Bruder beschrieben.18 Erwähnt wird, dass beide unverheiratet gewesen seien, ihre Söhne werden als Sigmundr und Þórir vorgestellt. Nur Sigmundr wird dabei näher als bæði mikill ok manvęnligr bezeichnet.19 Doppelungen unterbleiben in diesen Redaktionen völlig. Damit wird Sigmundr hier als Protagonist eingeführt, über den als Kind noch nichts Nennenswertes jenseits seiner typisierten, physischen Potenz zu berichten ist.20 Der Fokus verschiebt sich insgesamt auf die Auseinandersetzungen
15 Fær, S. 13 (sowohl groß als auch mannhaft). 16 Siehe Fær, S. 8–9: [B]rædr tuæír eru nefnndir […] het annar Brestir en annarr Bæínir […] Sigmundr het son *Brestis (Zwei Brüder werden genannt […], der eine hieß Brestir, der andere Beinir. […] Sigmundr hieß der Sohn Brestirs), und später erneut: Brestir atte konu […] son attu þau er Sigmundr het (Fær, S. 13; Brestir hatte eine Frau […], sie hatten einen Sohn, der Sigmundr hieß). Finnur Jónsson 1927, S. VII nimmt in seiner Ausgabe entsprechend an, es handle sich um hierbei um Elemente, »der vidner om en bearbejder« (die einen Bearbeiter bezeugen). Solche Wiederholungen könnten »absolut ikke […] stamme fra forfatteren selv, da denslags er ellers ukendt i sagaerne« (absolut nicht vom Verfasser selbst stammen, da solcherlei anderweitig in den Sagas unbekannt ist). 17 Im Gegensatz zu Finnur Jónssons Ansicht sind hingegen mehrfache (auch widersprüchliche) Figurenbeschreibungen und Einführungen in der Sagaliteratur keineswegs unerhöhrt, vgl. etwa auch Shortt Butler 2016, S. 320–326 zur Etablierung Hrafnkells in der Hrafnkels saga sowie der Figur des Snorri goði in der Eyrbyggja saga. 18 Siehe Fær, S. 8–13 (Text A u. D). 19 Fær, S. 13 (Text A; S. 14 [Text D]; sowohl groß als auch vielversprechend). 20 Zum frühentwickelten »Held als Kind« siehe einige Beispiele bei Kreutzer 1993, S. 159–160, zur Übertragung auf die Færeyinga saga vgl. Ewering/Krosing 2011, S. 85–86. Kindheit und Jugend treten in den altnordischen Quellen generell kaum in Erscheinung. Für die Phase des Heranwachsenden gibt es nicht einmal ein eigenes Wort, vgl. Larrington 2008, S. 151. Ein Kind wird daher meist als Präfiguration des Erwachsenen dargestellt, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 217–220. Bei aller Bedeutsamkeit der Übergangsphasen im Männerleben ist von Interesse so doch hauptsächlich die Phase jugendlicher Ungebundenheit und erwachsener Verwaltung des Erreichten. vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 216–226. Somit definieren sich im Grunde alle Entwicklungsschritte des Alters negativ über die Spitzenposition des freien Mannes auf dem Höhepunkt seiner persönlichen Ehrposition als bóndi. Dies bedeutet keineswegs eine Abwesenheit von Kindheitskonzepten im nordischen Mittelalter oder einer Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen Kindern und ihren
4.2 Sigmundrs Persönlichkeit
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in der Elterngeneration, ehe Sigmundr überhaupt in die Handlung eingreifen kann. Insbesondere die Dichotomie zwischen den herausragenden Brestir und Beinir, die waffentüchtig und stets einig sind,21 und den als Kontrastpaar entwickelten, zwielichtigen Gestalten von Þrándr mit seinen svikum […] ok vndir hyggiu22 und seinem nicht weniger unsympathischen und unbeliebten Onkel Bjarni23 tritt dadurch deutlich hervor. Bezeichnenderweise werden letztere nach dem Tod von Brestir und Beinir auch in einer Meinungsverschiedenheit gezeigt.24 Die Figur des Hafgrímr erscheint wegen der nur grobmaschigen Zusammenfassung seiner Streitigkeiten mit Brestir und Beinir dabei allein als Handlungsauslöser.25 Aus dieser Darstellung resultiert insgesamt eine wesentlich flacher und einfacher gehaltene Zeichnung von gut und böse bereits von Beginn der Saga an: Þrándr ist der Gegenspieler Sigmundrs und seiner Familie, ihn gilt es zu überkommen. Sigmundr hingegen ist der an dieser Stelle noch kindliche Held, dessen späterer Charakter in der Zeichnung seines Vaters vorausgedeutet wird. Dazu greifen die Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar ähnliche Konventionen auf wie die Flateyjarbók und etablieren ähnliche Erzählmatrizen, sind aber weniger vielschichtig gehalten, auch, weil die Erzählung weniger lang entwickelt wird.
Eltern, wie sie etwa die Þorðar saga hreðu zum Ausdruck bringt, oder auch die Jugendbiographien der Outlaws, zu diesen vgl. Merkelbach 2016. Sie spielen allerdings bei den meisten Sagafiguren keine prominente Rolle. Entsprechend verwundert es kaum, dass Sigmundrs Persönlichkeit bei seiner Einführung im Kindesalter nur in wenigen Worten in nuce angelegt wird. 21 Siehe Fær, S. 9 (Text A): Brestir var allra manna mestr ok sterkaztr ok huerium manni betr vígr þeim er þa var iFæreyium. hann var friðr maðr synum ok fimr við alla leika. Beinir var likr broður sinum vm margt. en komz eigi til iafns við hann (Brestir war der größte und stärkste aller Männer und tüchtiger als jeder Mann, der damals auf den Färöern war. Er war von schönem Aussehen und geschickt in jeder kämpferischen Hinsicht. Beinir war in vieler Hinsicht gleich seinem Bruder. Aber er kam nicht an ihn heran). Die noch kürzere Redaktion D bietet diese Charakterisierung nicht, legt in ihrer Konzeption also nachgerade wieder mehr Aufmerksamkeit auf Sigmundr selbst, der damit neben Þrándr und Bjarni als einziger in seinen Eigenschaften beschrieben wird. Siehe auch S. 11– 12 (Text A u. D): Þeir bræðr voro allar stundir vel sattir ok samþyckir sin ímilli (Die Brüder waren stets sehr einig und einträchtig untereinander); Redaktion D variiert den Text auf der lexikalischen Ebene in vernachlässigbarem Ausmaß. 22 Fær, S. 6 (Täuschungen und Heimtücke). 23 Bjarni wird beschrieben als auðigr ok ekki vinsæll ok vndir hyggiu maðr mikill (Fær, S. 10 [Text A]; ein wohlhabender Mann und nicht beliebt und ein arglistiger Mensch). Redaktion D nennt nur die letzte Eigenschaft, siehe Fær, S. 10 (Text D). 24 Siehe Fær, S. 16–17 (Text A). Es geht dabei um Þrándrs Rat, die Söhne von Brestir und Beinir zu töten, dem sich Bjarni verweigert. Daraus ergibt sich ein Kontrast zur betonten Einigkeit der beiden Brüder auf der Gegnerseite. 25 Zwar nimmt Hafgrímr auch in der Færeyinga saga der Flateyjarbók keine große Rolle ein, doch werden ihm immerhin einige Aktionen als Gegner Brestirs zugebilligt, was hier vollständig entfällt. Auch hier ist Hafgrímr es, der Þrándr durch seine Bezahlung ins Spiel bringt, jedoch hat die Kontrastierung der beiden Brüder mit Þrándr und Bjarni den Effekt, diese als eigentliche Handlungsträger zu markieren. Þrándrs Aufstieg erscheint so weniger als geschicktes Ausnutzen einer sich bietenden Gelegenheit, sondern als Antagonismus gegen die Familie Sigmundrs.
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Sigmundrs Einführung ist auch in der Flateyjarbók trotz ihrer Doppelung überaus knapp. Sein Charakter wird so nur im Kern, als Verweis auf seine künftige Entwicklung, angerissen. Ausführlicher wird Sigmundrs Elterngeneration beschrieben, die zu diesem Zeitpunkt in die Handlung eintritt. Sigmundrs Vater und Onkel sind demnach agætir menn, hofdíngíar yfir helminge eyíanna, hirdmenn Hakonar j(arls) ok hínir kærstu vinir.26 Brestir wird weiter beschrieben als allra manna mestr ok sterkazstr. ok huerium manni betr uígr er þa uar *j Færeyíum […] sialigr madr fimr vid alla læika.27 Erneut wird er später als bæde mikill ok sterkr ok hueríum manne betr uopnn færr vítr madr ok vínsæll vid alla sína vine vorgestellt.28 Dieser Beschreibung macht er seinem Kampf mit Hafgrímr alle Ehre, als er varde þar klettinn er hægra var til atsoknar. en verra til uarnar.29 Die Art und Weise der Verbindung zwischen Brestir und Sigmundrs Mutter Cecilía wird hingegen widersprüchlich angegeben: So wird bei ihrer ersten Einführung erzählt, Brestir und Beinir seien beide æigi […] kuongadir30 gewesen und hätten nur nicht angetraute Partnerinnen (frillur) gehabt. Wenige Kapitel später heißt es allerdings, Brestir habe konu þa, er Cecília het hon uar norræn ætt gehabt,31 während Beinir weiterhin nur eine frilla zugebilligt wird. Insgesamt determinieren Sigmundrs Elternfiguren ihn selbst von Beginn an. Ebenso wie sein Vater ist Sigmundr ein Krieger, die Eigenschaften des Vaters spiegeln sich in denen des Sohnes.32 Wie sein Vater wird auch er über die Maßen stark und waffentüchtig sowie bedingslos treu gegen Verwandte und Freunde. Als Jarl Hákon später von Sigmundr verlangt, sich sialfr […] j ætt at færa,33 geschieht dies insbesondere durch den Erweis, ebenso mutig und geschickt im Umgang mit Waffen zu sein wie sein Vater.34 Dabei präfiguriert Brestirs Verhalten und Rolle Sig-
26 Fær, S. 9 (ausgezeichnete Männer; Oberhäupter über die Hälfte der Inseln; Gefolgsleute Jarl Hákons und die liebsten Freunde). 27 Fær, S. 9 (der größte und stärkste aller Männer und kampftüchtiger als jeder Mann, den es damals auf den Färöern gab, […] ein ansehnlicher Mann, geschickt in jeder kämpferischen Hinsicht). 28 Fær, S. 13 (sowohl groß als auch stark und jedem Mann in der Waffentüchtigkeit überlegen, ein kluger Mann und freundlich zu all seinen Freunden). 29 Fær, S. 15 (die Klippe dort verteidigte, wo sie einfacher anzugreifen, aber schwerer zu verteidigen war). 30 Fær, S. 9 (nicht verheiratet) 31 Fær, S. 13 (eine Frau, die Cecilía hieß, die war von norwegischer Abstammung). 32 Vgl. auch Klettskarð 2000, S. 51. 33 Fær, S. 38 (selbst seine Abstammung unter Beweis zu stellen). 34 Obwohl das isländische Verwandtschaftssystem charakteristischerweise kognatisch und egozentriert konstruiert ist (vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 166–167), kommt der männlichen Abstammungslinie doch gesteigerte Bedeutung zu, wie Hastrup 1990b bemerkt, besonders im Zusammenhang mit »the notion of koma í ætt, ›to come into ætt‹, that is to be affiliated with one’s father’s kin group«: »The bond between father and child seems to have been of high cultural value, so to speak, and of utmost significance« (S. 55). So entfällt auf den Vater neben dem Sohn und dem Bruder das höchstmögliche Wergeld, innerhalb der ætt-Gruppe wird der väterlichen Linie ein Vorrecht eingeräumt und ein Kind gilt erst als vollständiges Mitglied der Gesellschaft »[o]nce paternity had been established and acknowledged by the father« (vgl. S. 50–51, Zitat S. 51).
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mundr nicht alleine durch die überragende Kampfkraft, die er während Hafgrímrs Überfall unter Beweis stellt, sondern bereits zuvor. Als Hafgrímr im vorausgehenden Rechtsstreit wegen der Auseinandersetzung zwischen Eldjárn kambhǫttr und Einarr suðreyingr ein Selbsturteil verlangt, lehnt Brestir kategorisch ab, was zunächst sein kriegerisches Selbstwertgefühl betont. Brestir selbst aber argumentiert mit der höheren Gerechtigkeit eines gemeinschaftlichen Ausgleichsurteils durch die Führungsschicht der Färöer. Dies präfiguriert Sigmundrs später mehrfach demonstriertes, grundsätzlich soziales Ethos. Indessen zeigt sich Brestir wiederum als Krieger, als er das Gericht vor seinem Gegner gewaltsam sprengt.35 Neben der vorausdeutenden Entsprechung zwischen Brestir und seinem Sohn erzeugt seine Abstammung von diesem Mann aber vor allem Erwartungen für Sigmundr. Der Sohn muss erweisen, dass er kein geringerer Mann als sein Vater ist, um den Anforderungen seines vornehmen Geschlechts gerecht werden.36 Sigmundr erfüllt diese Maßgabe. Damit entspricht seine Figurenzeichnung dem Ideal der Isländersagas, und er misst seinen Sippenbanden entsprechende Bedeutung zu. Als er auf die Färöer zurückkehrt, begründet Sigmundr seine Bitte an Hákon, ihn bei der Umsetzung seiner Pläne zu unterstützen, damit, dass er kuetzst æigi læíngr uilea heyra þat at hann hefnde eigi fỏdur síns ok honum se þui brigslat.37 Er weiß, dass er den Normen seiner Gesellschaft nach zur Blutrache verpflichtet ist.38 Darüber hi-
35 Vgl. auch Foote 1970, S. 167–168 zum distinkt isländischen Gepräge dieser Rechtsvorgänge. 36 Genealogie ist zentral in der in den Sagas sichtbar werdenden Weltanschauung verankert, sie strukturiert wesentlich deren Zeitverständnis mit, vgl. Gurevich 1969, S. 50–51. Damit wird das persönliche Vorankommen eines Individuums maßgeblich an seine genealogische Vergangenheit geknüpft. Laut Gropper 2017, S. 200 hängen die Taten eines Mannes in den Sagas häufig mit seinen Vorfahren zusammen, in ihnen werde »the present […] made continuous and contiguous with the past«, sodass »saga time is conceived of as genealogical, […] with every individual living inside a genealogical framework that evokes a transparent consciousness of one’s connection with the past« (S. 205). Diese Zeitvorstellung manifestiert sich konkret in der Vorstellung einer Emulation der Vorfahren in eigenen Taten, vgl. auch Gurevich 1969, S. 51: »The past was revived, personified in a man whose character and deeds repeated those of his ancestor«. Innerhalb der Sippengemeinschaft wird diese Vorstellung zur Anforderung, nicht hinter der Größe jener vorausgegangenen Menschen zurückzubleiben, an deren Taten die eigenen anschließen sollen, immerhin ergibt sich damit eine gewisse Wesenskongruenz zwischen Individuum und Vorfahren. Vgl. auch Meulengracht Sørensen 1993, S. 165: Die Terminologie von Geschlecht und Sippe zeigt eine »sammenhørighed i kraft af henholdsvis fælles natur og fælles art« (Zusammengehörigkeit kraft gleicher Natur beziehungsweise gleichen Wesens) an. Entsprechend werden Figuren wie etwa die jugendlichen Kohlenbeißer von ihren Familienangehörigen gemaßregelt oder jedenfalls kritisiert. Dabei liegt »die Hauptproblematik nicht in ihrer Untätigkeit begründet. Vielmehr handelt es sich um die hohe Bedeutung von Ebenbürtigkeit: Der Sohn gerät nicht nach seiner Familie, er stört die Ordnung, was Unwillen bei seinen Verwandten hervorruft« (Jakob 2016, S. 261). 37 Fær, S. 48 (sagt, er wolle es nicht länger hören, dass er seinen Vater nicht rächte und dass ihm das vorgeworfen wird). 38 Den altnordischen Quellen lässt sich zwar objektiv keine ›Pflicht‹ zur Blutrache unterstellen (vgl. Beck/Böttcher 1978, S. 85, S. 94 u. S. 96), dennoch ist das Racherecht zweifelslos anerkannt (vgl. auch Beck 2003, S. 46), wie Miller 1990, S. 181 konstatiert: »[T]he overarching image, the nonreducible core
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naus ist Sigmundr dazu angehalten, einen ähnlich herausragenden Status zu erreichen, wie ihn sein Vater innehatte, sodass seine Eroberung der Herrschaft auf den Färöern auch eine Verpflichtung seiner Abstammung gegenüber darstellt. Außerdem scheint Sigmundrs enge Verbindung zum norwegischen Reich und dessen Herrschern bereits in seinen Eltern vorbestimmt: Seine Mutter ist Norwegerin.39 Doch nicht nur genealogisch ist Sigmundr Norwegen zugeordnet, auch seine spätere Herrschaft in lehnsrechtlicher Abhängigkeit spiegelt sich in seinem lehnsnehmenden Vater.40 Seine Elternfiguren präfigurieren damit beide Sigmundrs spätere Identität. Er ist wenigstens zur Hälfte Norweger und das Herrschaftsrecht seiner Familie gründet sich von vorne herein auf die lehnsrechtliche Verbindung zum norwegischen Herrscherhaus. Sigmundr und Þórir machen sich im Exil auf den Weg zum Hofe Hákons, weil þikia þeim ser þat likligazst til nokkurs gods er fedr þeirra hofdu honum þionat.41 Ein weiterer Signalgeber, der auf Künftiges verweisen dürfte, ist der Name von Sigmundrs Mutter, Cecilía. Bisher nicht selten hinsichtlich seiner historischen Korrektheit befragt,42 lässt sich unzweifelhaft festhalten, dass der Name ein dezidiert christlicher ist.43 Damit kann dem Namen auch abseits der Frage nach seiner
of what it meant to be in a state of feud […] was ultimately the obligation to have to kill.« Das Fehdewesen lässt sich so als »bedrock of Icelandic medieval culture« (Byock 1982, S. 36) beschreiben. Gerade im Zusammenhang der ætt, im Falle des für das Geschlechterdenken so wichtigen Vaters, lässt sich eine ethische Verpflichtung auf eine Rachehandlung in der Mentalität der Sagagesellschaft kaum ernstlich bestreiten: »[U]pprättelse genom h[ämnd] ansetts som det mest ärofulla« (Wallén 1962, Sp. 246; Wiedergutmachung durch Rache wurde als am ehrenvollsten betrachtet). Vgl. bereits Heusler 1911, S. 48: »Unsere Sagas sind voll vom Preise der Rache«; dabei sei »die Triebkraft […] das verwundete Ehrgefühl des Rächers«. 39 Dadurch, dass Cecilía in den Redaktionen außerhalb der Flateyjarbók keine Erwähnung findet, wird das Gewicht der Darstellung etwas verlagert. Offensichtlich genügt diesen Textversionen die Begründung der Herrschaft von Sigmundrs Vater in Norwegen, um auch den Sohn zu einem norwegischen Lehnsnehmer werden zu lassen. Andererseits wird dadurch Sigmundrs Identität gleichsam als Norweger nicht im Vergleich mit der Þrándrs problematisiert, die sich über dessen Anwesenheit auf den Färöern definiert, siehe hierzu Kap. 3. 40 Siehe Fær, S. 9: Brestir und Beinir besitzen ihren Teil der färöischen Herrscher j len af Hakoni j(arli) Sigurdar syni (als Lehen von Jarl Hákon Sigurðarson). 41 Fær, S. 22 (sie glaubten, es käme ihnen sehr wahrscheinlich zugute, dass ihre Väter ihm gedient hatten). 42 Lind (Hrsg.) 1905–1931, I, Sp. 188 nimmt Cecilías Namen als ältesten Beleg für diese Namensform im Norden. Ólafur Halldórsson 1987, S. cc–cci hingegen argumentiert aufgrund seiner Seltenheit und seinem dezidiert christlichen Hintergrund, entweder sei die historische Cecilía Norwegerin gewesen oder habe diesen Namen getragen. 43 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. cc–cci, Arge Simonsen 2004, S. 18, Fellows-Jensen 2005, S. 156 sowie Bonté 2014a, S. 129–130. Auch diese Untersuchungen haben einen historischen Impetus. So fragt Arge Simonsen, ob diese Namensform auf »kristindóm í Skúvoy, ið hevur verið undan kristindóminum, ið Sigmundur boðaði« (ein Christentum auf Skúvoy, das vor dem Christentum, das Sigmundr verkündete, vorhanden war) hinweisen könnte. Fellows-Jensen nimmt Cecilías Namen als Anzeichen einer keltischen Abstammung (so, vorsichtig, auch Arge Simonsen). Unter weiterer Einbeziehung archäologischen Materials stellt Bonté 2014a Überlegungen an, inwiefern auf den Färö-
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Authentizität ein narrativer Verweischarakter unterstellt werden, weit mehr als der von Harlan-Haughey so interpretierten Nennung der Auðr djúpauðga,44 deren christliche Assoziationen ja gerade verschwiegen werden.45 Cecilía ist ein betont und auffällig christlicher Name, gerade innerhalb der ersten Kapitel der Saga, die das pagane Element auf den Färöern betonen.46 Aus diesem Kontext lässt sich erschließen, dass der Name seiner Mutter narrativ auf Sigmundrs spätere Missionarstätigkeit vorverweist. Die Grundkonstanten von Sigmundrs späterer Identität werden in seinen Eltern somit bereits festgelegt. Vorweise auf seine Charakteristik und eine enge Verbindung zum norwegischen Reich werden ebenso etabliert wie ein Hinweis auf seine spätere Übernahme des christlichen Glaubens und eine soziale Verpflichtung Sigmundrs auf seine herausragende Sippe. Darüber hinaus werden noch weitere Erzählschablonen geöffnet, nach deren Prinzipien er als Figur aufgebaut wird. Sigmundr ist insgesamt eine narrativ in hohem Maße standardisierte Figur, für deren Konstruktion verschiedene Erzählschemata aufgegriffen und – jedenfalls zeitweilig – vollumfänglich bedient werden. Wenigstens oberflächenstrukturell wirkt er wesentlich stärker im ›flacheren‹ Schema einer Typencharakteristik entworfen als Þrándr.47 Da von Anfang an klar gemacht wird, welche Eigenschaften Sigmundr auszeichnen, und diese im weiteren Verlauf wieder und wieder durchgespielt werden, entsteht ein recht statischer Eindruck seiner Persönlichkeit. Er erscheint in seiner Charakteristik deshalb weniger ›gerundet‹ als sein Kontrahent, dessen ursprüngliche Etablierung in der Erzählung den Rezipienten in ihrer Ambivalenz und Komplexität geradezu erschlägt.48 Aus dieser Tatsache resultiert nicht zuletzt Sigmundrs Abwertung in bisherigen Forschungen.49 Das Korpus der Isländersagas weist zwar einige Figuren von der Grundsatztypik eines Sigmundr auf,50 aber auch diese kennzeichnet in der Regel eine höhere literarische Individualisierungstendenz. Indessen sind vergleichbar entworfene Figuren in kontinentalen Epen häufi-
ern bereits vor dem Ende des 10. Jahrhunderts eine (womöglich den britischen Inseln entstammende) christliche Bevölkerungsschicht existiert haben und insbesondere Sigmundrs Heimatinsel Skúvoy ein christliches Zentrum gewesen sein könnte. 44 Vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 376. 45 Vgl. Bonté 2014a, S. 135. Siehe auch Kap. 2.2 (Fn. 66). 46 Vgl. Bonté 2014a, S. 131–132; Bonté 2014b, S. 99–100. 47 Vgl. auch Almqvist 1992b, S. 53. 48 Zur Figurenkonstruktion zwischen ›Rundung‹, die den Eindruck eines echten Menschen im Rezeptionsvorgang hervorbringt, und ›flacher‹ Typik vgl. im theoretischen Überblick Köppe/Kindt 2014, S. 128–146, vergleichend zu Þrándrs Figureneinführung siehe Kap. 3.2. 49 Wie etwa Skyum-Nielsen 1973, S. 8, der ihn als »brave, but stupid« bezeichnet, Johnston 1975, S. 13 mit seiner Rede von Sigmundr als »less interesting«, oder Harris 1986, S. 210, der trotz einer Bemühung um eine Aufwertung Sigmundrs nicht verhehlen will, dass »Þrándr is […] the much more interesting character«. 50 Ármann Jakobsson 2009, S. 56–57 nennt als Vergleichsstücke Sigurðr Fáfnisbani, Gunnarr von Hlíðarendi aus der Njáls saga und Kjartan Óláfsson aus der Laxdœla saga.
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ger vertreten,51 sodass sich zur Erhellung von Sigmundrs Darstellung der Vergleich mit dem höfischen Roman anbietet.52 Es sind dabei insbesondere dessen im Vergleich zu den Konventionen der isländischen Sagaliteratur verschiedenartigen Darstellungsweisen, an die Sigmundrs Figurenzeichnung erinnert. Für sie werden verstärkt konzeptionelle Matrizen aufgegriffen, die kaum ›originär isländisch‹ wirken.53 Damit sei nicht gesagt, dass sich in der Dichotomie von Sigmundr und Þrándr auch ein Widerstreit zwischen ›einheimischer‹ und ›fremder‹ Erzähltradition zeige: Þrándrs Darstellung entspricht vehement nicht isländischen Erzählstandards, er ist in diesem Kontext nicht weniger ungewöhnlich als Sigmundr.54 Zudem handelt es sich bei Sigmundr nicht einfach um eine Ritterfigur aus dem höfischen Roman. Er ist unzweifelhaft Protagonist einer isländischen Saga und keine aus der kontinentalen Literatur gleichsam importierte Figur. Dennoch nähert sich seine Darstellung den dort gängigen Konventionen an, indem sie Erzählkonzepte benutzt, die Sigmundrs Leben eine Oberflächenstruktur verleihen, wie sie eher für einen höfischen Ritter als einen SagaWikinger kennzeichnend sind. Während Sigmundr dabei auf der inhaltlichen Ebene seiner Gestaltung den Normen der Sagagesellschaft entspricht und sich gerade nicht wie ein Ritter der Affektkontrolle und der Klaviatur höfischen Zeremoniells unterwirft,55 sondern ganz Wikingerkrieger bleibt, ist seine Darstellung erzählstrukturell und konzeptionell gewissermaßen ›höfisiert‹ – als Spiegel seiner tatsächlichen Anbindung an den norwegischen Hof.
51 Zur Figurentypik der kontinentalen Literatur vgl. Schulz 2015, S. 12–16. 52 Zur Berührung der Færeyinga saga durch höfische Literatur vgl. auch Klettskarð 2000, S. 56–57. 53 Dieser Begriff bezieht sich in diesem Rahmen auf die sich jedenfalls im unmittelbaren Eindruck aufdrängende Einzigartigkeit der Sagaliteratur (oder immerhin der Isländersagas) in einem europäisch-mittelalterlichen Kontext. Der Eindruck ist der einer »realistische[n], künstlerisch hochstehende[n] Prosaerzählkunst«, die es »im Mittelalter und noch Jahrhunderte danach nirgendwo sonst in Europa gab«, sodass man »die Isländersagas lange Zeit als autochthone, von allen fremden Einflüssen unberührte Schöpfung Islands« ansah (Schier/Böldl 2009, S. 151). Dieser Eindruck ist insofern irreführend, als dass die Entstehung dieser Gattung außerhalb einer reichen, außerskandinavischen Literaturwelt und auch vorhergehender und paralleler Entwicklungen der Literaturproduktion in Skandinavien und der geistlichen Literatur nicht denkbar ist. Siehe etwa Schier/Heizmann 2009a, bes. S. 249–251 zu Kontextualisierung und Binnenchronologie der Sagaliteratur und den spezifischen Voraussetzungen auf Island in der Entstehung dieser Literatur. Nichtsdestoweniger wirkt die Erzählkunst der Isländersagas emphatisch ›eigenartig‹, das heißt spürbar verschieden von der zeitgleichen Literatur des Kontinents. Vor allem die Figurenportaits wirken oftmals erstaunlich ›modern‹ im Sinne literarischer Individuation von Hauptfiguren, die mit vermeintlich mittelalterlicher Typenschematik meist wenig gemein haben, vgl. hierzu auch Schmidt/Hahn 2016, S. 9–10 u. S. 18–19. Einen solchen Eindruck hinterlässt Sigmundrs Figurenzeichnung weit weniger stark als die Þándrs. 54 Vgl. hierzu Kap. 3. 55 Zum höfischen Gesellschaftsideal für Männer vgl. allgemein Bumke 1986, S. 381–451, zum ritterlichen Tugendkatalog bes. S. 416–438. In stärker literaturimmanenter Perspektive vgl. zur disziplinierten hövescheit als Anforderung feudalen Zeremoniells auch Schulz 2015, S. 152, zur affektkontrollierten mâze und zuht S. 114–115 sowie zur Allgemeingültigkeit und ständigen Sichtbarkeit dieser Prinzipien im Ritter S. 97.
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So eröffnet der Blick auf die Herrschaftsposition von Sigmundrs Vater die Dimension der Legitimität in Sigmundrs Figurenkonzeption. Brestir ist wenigstens einer der lehnsrechtlich bestimmten Herrscher der Inseln, angebunden an und legitimiert durch den norwegischen Hof, der unwidersprochen die Oberherrschaft auf den Färöern innehat. Diese Nullpunktsituation der Narration und ihre hierarchische Organisation werden kraft ihrer Ursprünglichkeit als ›korrekt‹ wiedergegeben.56 Sigmundrs Herrschaftsanspruch ist damit genealogisch über die Rechtmäßigkeit der Herrschaft seines Vaters bestimmt.57 Wenn Sigmundr in die Fußstapfen seines Vaters tritt, wird er damit nicht alleine dem Erbe seiner Sippe gerecht, und Brestir ist nicht lediglich abstraktes Vorbild für den sozialen Status seines Sohnes.
56 Zur eminenten Bedeutung erzählerischer Anfangssetzungen, insbesondere in ›umkämpften‹ Zusammenhängen vgl. Koschorke 2013, S. 61–63: Der Anfang definiert demnach »[w]as gilt«, und »von dem jeweils festgesetzten Beginn an [läuft] gleichsam der Zähler des Unrechts mit, das einer Konfliktpartei zugefügt wurde und das ihre Gegenwehr legitimiert«. Folglich definiert der Anfang die gültige Ordnung einer Erzählung. 57 Vgl. Andenna/Melville 2015, S. 18: »Genealogisches Denken stellte [im Mittelalter] zweifelsohne einen der zentralen Faktoren dar, die zur Plausibilisierung der dynastisch bedingten Erlangung eines Amtes und damit entscheidend zur Herrschaftsakzeptanz beitrugen.« Vgl. weiterhin Melville 2015, S. 295: (Herrschafts-)Adel habe sich demnach selbst begriffen als »vertikaler Verband diachroner Vererbung von Rang, Besitz, Renommee und Ehre«. Dies betrifft insbesondere das mittelalterliche Island mit seiner Vorliebe für ausgreifende Genealogien. Dort ist das genealogische Interesse zwar aufgrund der fehlenden Herrschaftsinstanz weniger politisch-herrschaftsrechtlich überformt, dennoch kommen Abstammung und Sippe herausragende Bedeutung bei der Definition des sozialen Status einer Figur zu. So werden Statusunterschiede unter anderem über den Sippenverband begründet, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 173–179. Vgl. auch Jakob 2016, S. 16, mit Blick auf die Zeit der Textniederschrift, die ihren eigenen Rang über die genealogische Verbindung zu den textlichen Repräsentanten legitimieren kann. Die Færeyinga saga enthält diesbezüglich eine ironisch wirkende Brechung, indem Brestir im Zuge des ursprünglichen Rechtskonflikts mit Hafgrímr zusätzlich zum ohnehin rechtskräftigen Sieg in der Verhandlung und trotz seiner eigens betonten Gesetzeskundigkeit das Gericht gewaltsam auflöst, siehe Fær c. 5, S. 11; vgl. Foote 1970, S. 167–168. So löst er selbst die rechtmäßige und vorgesehene Ordnung der Dinge durch das Recht des Stärkeren ab. Durch den Gewalteinsatz bricht Brestir die Billigkeit des Rechts, die auch seine eigene Position absichert. Der Konflikt der Færeyinga saga beginnt somit gewissermaßen mit einer Aussetzung der bestehenden Ordnung durch ihren Repräsentanten selbst, noch ehe Þrándr seine ›neue Ordnung‹ durch die Ausnutzung dieser Tatsache implementieren kann (vgl. Kap. 3). Das vorgängige System gebiert so selbst eine reine Vorherrschaft des Mächtigsten. Dabei zeigt sich ein markanter Unterschied in den verschiedenen Sagaredaktionen: Die Óláfs saga Tryggvasonar en mesta außerhalb der Flateyjarbók beschreibt lediglich indirekt, dass [þ]essu næst hófuz deilur með þeim bræðrum iSkvfey ok Hafgrimi (Fær, S. 11 [Text A; D nur mit Abweichungen im Lexikon]; als nächstes Streitigkeiten zwischen den Brüdern auf der Buschinsel und Hafgrímr entstanden). Durch diese weniger konkrete Darstellung stürzt das Regierungssystem auf den Färöern wesentlich weniger fundamental in eine Krise. Die Legitimität der zuvor gültigen Ordnung wird so weniger stark beschädigt, sodass sie die gesamte Resterzählung über als Parameter beibehalten werden kann, siehe hierzu auch Kap. 4.3.1 u. Kap. 4.4.
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Das Herrschaftsrecht des Vaters pflanzt sich hingegen ganz konkret im Sohn fort.58 Was Sigmundr durch seine Rückkehr aus dem Exil folglich durchzusetzen versucht, ist, die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen, und den ihm legitim gebührenden Platz in dieser Ordnung zurückzuerobern, aus der er stammt. Dies verleiht seinem Leben konzeptionell einen ähnlichen Rahmen wie den Heldenfiguren der höfischen Epen. Aus einer ursprünglich ausbalancierten (jedoch in sich prekären, weil von paradoxen Spannungen durchzogenen59) Ordnung scheiden diese aus, um sich ihren Platz innerhalb wieder zurückzuerstreiten. Sie stellen ihre höfische Identität unter Beweis und weisen sich damit als rechtmäßige Angehörige des Artushofes aus. Ihnen kommt insofern die Funktion zu, »die Welt so zu bewahren, wie sie sein soll«.60 Dabei ist im höfischen Roman diese Erzählstruktur typischerweise gedoppelt. Die ursprüngliche, gleichermaßen von inneren wie äußeren Faktoren bedingte Störung der arturischen Hofordnung wird vom Protagonisten, einem anfänglich ungeformten Ritter, zunächst vermeintlich beseitigt. Im Anschluss begeht jedoch der Protagonist selbstverschuldet einen gravierenden Normverstoß, der seine Identität substanziell gefährdet, und muss in einem zweiten Âventiure-Kreisweg die erwünschte Norm restituieren.61 Durch die letztendliche Wiedereinnahme des gebührenden Platzes erweist der Ritter im Nachhinein, dass er die legitime Hauptinstanz der Erzählung ist, was durch das Schema vorbestimmt und begründet ist. Die biographische Matrix des Protagonistenlebens im höfischen Roman ist also »teleologisch bestimmt«, indem der ›Held‹ »nur wird, was er werden muß«, während die Zirkelbewegung seiner Âventiuren, die stetig die gleiche Struktur der Normwiederherstellung durchspielen, ihn als »einzig legitime[n] Grenzgänger« ausweist.62 Dieser Erzählmatrix bedient sich kon58 Der höfische Roman bringt eine Vorstellung von transpersonaler Identität zum Ausdruck. Wenn genealogisches Denken die Herrschaftslegitimitation im Kern ausmacht, dann deshalb, weil die dahinterstehende Vorstellung von einer exakten Entsprechung der Mitglieder einer Sippe ausgeht, »der Vorstellung, daß […] Elternteil und Kind nur einen gemeinsamen Leib bilden«, vgl. Schulz 2015, S. 18–19, Zitat S. 18: »›Adelig sein‹ bedeutet […] dass man zu solchem Verhalten und zur Herrschaft […] durch die eigene Geburt vorbestimmt ist, in dem Sinne, dass man die vortrefflichen Eigenschaften der Väter und Vorväter leiblich implantiert bekommen hat: […] Tugendadel wird im Geburtsadel begründet« (Schulz 2015, S. 97–98). Dass Sigmundr als das genaue Abbild seines Vaters Brestir entworfen wird, legt ein konzeptionell ähnliches Strukturschema im Hintergrund der Færeyinga saga nahe. 59 Vgl. Schulz 2015, S. 43–53. 60 Schulz 2015, S. 272. 61 Es handelt sich hierbei um das vielzitierte – und nicht zuletzt umstrittene, weil durch die Forschung prototypisierte und in Reinform nur im Yvain-Roman nachweisbare – Prinzip des arthurischen Doppelwegs, dessen Erforschung maßgeblich auf Kuhn 1948 und dessen Erweiterung bei Haug 1971 zurückgeht. Vgl. hierzu im Überblick Schulz 2015, S. 241–271. Zu Begriff und Prinzip der Âventiure vgl. Schulz 2015, S. 127–128. Der Fall aus der Ordnung kann dabei ganz unterschiedlich motiviert sein, vgl. Schulz 2015, S. 265–266; so etwa im Iwein Hartmanns von Aue durch Iweins Überbetonung ritterlicher Âventiure gegen seine Ehefrau. Erecs Versagen hingegen besteht in seinem verligen, also gerade der gegenteiligen Überbetonung der Minne. 62 Alle Zitate Schulz 2015, S. 270. Zu Sigmundrs Identität als ›Grenzgänger‹ vgl. auch Schmidt 2019, S. 66–69.
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zeptionell auch die Færeyinga saga in ihrer Modellierung Sigmundrs. Die ursprüngliche, aber aufgrund ihrer Zweiteilung in sich prekäre Ordnung der norwegischen Herrschaft über die Färöer kommt aus den Fugen, als Þrándr die Herrschaftsparteien ausschaltet und Sigmundr exiliert, womit Þrándr das Moment der äußeren Ordnungsstörung übernimmt. Sigmundr muss daraufhin seine Tauglichkeit unter Beweis stellen, um den ihm gebührenden und genealogisch vorherbestimmten Platz als Herrscher der Färöer zurückerobern zu können. Folglich wird er schon im Moment seiner Einführung mit dem zugehörigen Eigenschaftsbündel ausgestattet: Als Repräsentant der Erzählmatrix von Rechtmäßigkeit und Ordnung ist er – wie die höfischen Ritter – gleichsam natürlich von schönem Äußeren und physisch zum Bestehen seiner ›Âventiuren‹ geeignet.63 Diese finden in einem »Raum [statt], der zwar einerseits massiv höfisch geprägt ist, andererseits aber auch von einer verkehrten Ordnung«:64 In Norwegen. Ihr Ergebnis ist gleichermaßen die Erringung von Ehefrau und Reich (in Form der Färöer).65 Eine Sollbruchstelle ergibt sich allerdings, als Sigmundr tatsächlich die ursprüngliche Ordnung wiederherstellt. Die Erzählung offenbart in diesem Augenblick, dass das Muster von Legitimität und Ordnung auf Þrándrs mittlerweile permutierten Färöern nicht mehr gültig ist.66 Sigmundrs Biographie aktualisiert damit konzeptionell nur den ersten Teil eines höfischen Doppelwegs: Er stellt die ausgehebelte Ordnung nur oberflächlich wieder her und verursacht nicht danach, sondern dadurch einen Bruch seiner Identität, die sich in diesem Moment als so prekär erweist, dass sie nicht mehr ordnungsgemäß restituiert werden kann. Die eigentlich unnötige, doppelte Einführung kontrastiert Sigmundr zudem schon im ersten Moment der Erwähnung seiner Figur mit seinem Gegenspieler Þrándr. Ebenso wie bei Þrándr erweckt die mehrfache Figureneinführung den Eindruck der Überflüssigkeit, doch wie bei seinem Gegner trägt auch Sigmundrs mehr-
63 Zur höfischen Entsprechung von körperlichem Außen und innerem Wesen vgl. Schulz 2015, S. 41–43 u. S. 76–77. 64 Schulz 2015, S. 263. 65 Vgl. Schulz 2015, S. 263, mit Beispielen S. 264. 66 Diese Problematik ergibt sich nur aus der weiteren Entwicklung des Plots und Sigmundrs verhältnismäßig frühem Tod, den allein die Flateyjarbók in konkreter Ausführung überliefert, sowie im Vergleich mit der dort sehr prominenten Rolle Þrándrs. Die abweichenden Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar entwerfen mit Sigmundrs Figurenzeichnung und der kürzeren Plotentwicklung eine anders gelagerte Problemsituation: Sigmundrs Scheitern ist hier nicht schon in der konzeptionellen Unmöglichkeit der Erfüllung aller Erwartungen begründet, auf die seine narrative Ausgestaltung ihn verpflichtet, sondern hauptsächlich in seinen persönlichen Unzulänglichkeiten. Die legitime Ordnung stellt er in diesen Redaktionen erfolgreich genug wieder her, um in seiner Verbindung mit Óláfr Tryggvason und seinem christlichen Glauben eine neue Epoche einleiten zu können. Auch hier ist sein Schicksal im Grunde bei seiner Rückkehr auf die Färöer besiegelt, doch erhält die Saga durch abweichende Gewichtungen eine gänzlich andere Stoßrichtung: Dadurch, dass Þrándr im Vergleich zur Flateyjarbók-Redaktion dramatisch abqualifiziert wird (vgl. Kap. 3), wirken Sigmundrs politische Fehler in diesen Textversionen viel eher wie entschuldbare Erweise seines absolut reinen Charakters.
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fache Vorstellung Bedeutung und etabliert Unterschiede zwischen beiden Figurenkonzeptionen. Þrándr wird, wie unter 3.2 gezeigt, einmalig als Figur eingeführt und danach mehrfach erneut und abweichend von der ursprünglichen Einführung beschrieben. In Sigmundrs Fall sind beide Figureneinführungen stilisiert, als handle es sich um eine gänzlich neue Einführung. Zudem haben beide Vorstellungen den exakt gleichen Inhalt. Es handelt sich, anders als bei Þrándr, also nicht um eine Modifikation der Figureneinführung, sondern um eine einfach gedoppelte. Dies deutet auf den Umgang der Narration mit der Entwicklung der Sigmundr-Figur voraus: Seine Persönlichkeit ist von Anfang an die gleiche, diesbezüglich wird der Rezipient nicht, wie anfänglich bei Þrándr, in die Irre geführt. Anders als bei Þrándr enthält Sigmundrs Figurenkonzeption aber auch nicht nicht eine Einzelszene, die initial alle Erzählstrategien etabliert, die für sie von Bedeutung sind. Stattdessen werden mehrere, aneinandergereihte Sequenzen verwendet, die strukturell gleich aufgebaut sind und Sigmundrs Persönlichkeit dadurch in wiederholender Steigerung Nuance für Nuance langsam aufbauen. Er wird so auf eine Art und Weise narrativ konstruiert, die der konzeptionellen Anlehnung seiner Figur an den höfischen Roman entspricht: »Das Grundprinzip narrativen Zusammenhalts ist die variierende Wiederholung.«67 Die Erzählhaltung des höfischen Romans ist geprägt von »auffälligen Wiederholungsstrukturen«,68 es handelt sich oft um »ein serielles Erzählen, das immer wieder die gleichen oder zumindest sehr ähnliche Basiskonfigurationen durchspielt«.69 Sigmundrs Biographie aktualisiert damit den höfischen Entwicklungsweg: Einmal aus der ursprünglichen Ordnung gefallen, muss der Protagonist immer wieder in verschiedenen, aber ähnlichen Konstellationen seine Tauglichkeit für die für ihn legitime Position unter Beweis stellen. Dadurch wird nicht nur sein Lebensweg teleologisch und final bestimmt, sondern auch in der charakteristisch zyklischen Erzählstruktur präsentiert, die den Erweis der Legitimität erst erbringt.70 Dass eine oberflächliche Typencharakteristik, wie sie sich schon in Sigmundrs Figureneinführung zeigt, dabei durchaus erzähltechnische Tiefe beanspruchen kann, erweist der spätere Plotverlauf: In Sigmundrs Fall läuft die erzählerische Irreführung der Rezipienten nicht auf eine interne Komplexion wie bei Þrándr und der Ambivalenz seiner Persönlichkeit hinaus, sondern wird gewissermaßen externalisiert. Sie spielt sich im Zwischenraum all jener Erzählstrategien, nach denen Sigmundr regelkonform als Figur konzipiert wird, und ihrer Konfrontation mit der ›wirklichen‹ Welt des späteren Plotverlaufs ab, in der solche Idealvorstellungen
67 Schulz 2015, S. 322. 68 Schulz 2015, S. 323. 69 Schulz 2015, S. 343. Zu diesem episodisch reihenden »Erzählen im Paradigma« vgl. auch Warning 2001. 70 Vgl. Schulz, S. 270–271 zur Biographiestruktur des höfischen Romans; S. 343–348 zum seriellen Erzählen; S. 267–269 mit Beispielen zu den verschiedenen kompensatorischen Tugenderweisen, die durchlaufen werden müssen.
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nicht greifen können. Sie resultiert also aus der Unvereinbarkeit von Schein und Sein bzw. ›Regel‹ und ›Realität‹. Während sich bei Þrándr inhaltliche Divergenzen zwischen erzählkonventioneller Idealvorstellung und ausgeführter Figurenkonzeption ergeben, kommt es bei Sigmundr zu erzählstrukturellen Bruchsituationen.71 Darin spiegelt sich andererseits – gewissermaßen in erheblicher Ausdehnung – dieselbe Täuschung der Rezipienten, die Þrándrs Figurenetablierung durchzieht.
4.2.2 ›Nema vér reynim oss framar‹, oder Leben und Sterben im Hier und Jetzt: Die Momenthaftigkeit des Kriegers und sein Blick auf das ›Schicksal‹ – Grundmatrizen ›heroischer‹ Figurengestaltung Sigmundr zeichnet sich sogleich durch eine gewisse Abenteuerlust aus, als er, neunjährig, zusammen mit seinem Cousin Þórir ihre beiden Väter zum Eintreiben des Schlachtviehs begleiten will.72 Auf dieser Reise kommt es zum Angriff Hafgrímrs und seiner Männer auf Brestir und Beinir, und beide Väter der Jungen finden den Tod. Während der zwei Jahre ältere Þórir (verständlicherweise) den Verlust beweint, mahnt Sigmundr lediglich mit einer markigen Sentenz: [G]ratum eigi frændi en munum læíngr.73 Hierbei handelt es sich um Sigmundrs erste direkte Rede im Text. Seine hervorstechendste Charaktereigenschaft wird so bereits mit seiner ersten Äußerung in der Kindheit etabliert: Bedingungsloses Heldentum.74 An Sigmundr ist nichts sanft oder weich, er ist das Urbild eines Wikingers, dessen Bestimmung gleichsam das Le-
71 Sigmundrs Figurenkonzeption entspricht damit viel eher als die Þrándrs dem ›Agonalen Prinzip‹, das nach Schulz 2015, S. 119 (mit implizitem Blick auf den mittelhochdeutschen höfischen Roman) kennzeichnend für das ›mittelalterliche‹ Erzählen sei. Dieses funktioniere nach dem Prinzip der »präsentativen Symbolifikation« (Begriff nach Bertau 1983, S. 81–84). Konkurrierende Handlungslogiken und Spannungen würden ohne »diskursiv-erörtende Abhandlung« durch Erzählstimme oder Figuren nebeneinander fortprozessiert. Dieses Prinzip führe dazu, dass Problematiken dadurch ›bewältigt‹ würden, dass sie »exemplarisch vor Augen geführt« würden. 72 Siehe Fær, S. 13: [S]uæinanir bæiddu at fara med þeim Sigmundr Þorir þeir brædr letu þat eftir þeim ok fara nu til eyiarinnar (Die Jungen Sigmundr und Þórir verlangten, mit ihnen zu fahren, die Brüder ließen das nach ihrem Willen zu und fahren nun zur Insel). Hinter dieser unschuldigen Bitte dürfte zunächst wenig mehr als kindliche Neugier stecken, dennoch macht die aktive Bitte der Jungen klar, dass Sigmundr alles andere als ein Stubenhocker (an. kolbítr) ist. Unmittelbar nach seiner (zweiten) Einführung zeigt sich der Junge gewillt, loszufahren und sich am ›Geschäft‹ seines Vaters zu beteiligen, selbst wenn es nur um die Abholung von Schlachtvieh geht. »Wenn die Kindheit eines Helden Erwähnung oder ausführlichere Darstellung erfährt«, so Kreutzer 1993, S. 159, »geschieht dies auf zweierlei Art. Entweder wird die kindliche Entwicklung als besonders schnell geschildert oder als auffallend verzögert«. Sigmundr entspricht zweifelsohne Kreutzers erstem Typus. 73 Fær, S. 17 (›Lass uns nicht weinen, Verwandter, sondern uns umso länger daran erinnern!‹). 74 Die unabhängigen Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar perpetuieren diese Redeweise zur hervorstechendsten Charaktereigenschaft in Sigmundrs Jugend, auch indem die Konversation zwischen ihm und Þórir im winterlichen Dovrefjell hier direkt wiedergegeben wird. Sigmundrs Heldenmut wird durch diese Darstellung umso mehr betont.
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ben eines Kriegers ist. Entsprechend wird er später auch zum größten Kämpfer, den die Färöer hervorgebracht haben – als Spiegel seiner Abstammung, aber aus eigener Fähigkeit. Sigmundr ist hinsichtlich der altnordischen Vorstellungen von einem ›Mann‹ in jeder Hinsicht hypernormativ gezeichnet:75 Er verhält sich stets aktiv und selbstständig,76 beweist hohes Selbstwertgefühl und verteidigt seine persönliche Ehre um jeden Preis. Dazu ist er jederzeit bereit, sich kämpferisch mit anderen zu messen, kann aber gleichzeitig, so die Notwendigkeit dazu besteht, auch auf seine Umgebung eingehen und so auch den ehrenhaften Wert eines Gegenübers anerkennen. In seiner Aussage weist Sigmundr so auf den Lebensweg voraus, den in seinem Verständnis der Ablauf der Ereignisse bereits vorgezeichnet hat: Lange an den Tod seines Vaters erinnern möchte er sich, um ihn entsprechend rächen zu können. Den Vorwurf mangelnder Mannbarkeit, den eine unterbliebene Vaterrache hervorrufen würde, kann Sigmundr im Gegensatz zu Þrándr unmöglich ertragen. Als Krieger erwartet er die Rachtat und die entsprechende Geisteshaltung bereits im Kindesalter von sich selbst. Damit zeigt er sich nicht nur als ›Held‹ der Erzählung und ihrer Schemata, sondern weist Züge jener ›heroischen‹ Disposition auf, die für die Heldendichtung kennzeichnend ist:77 Sigmundr überragt andere in seiner Kampfkraft und auch seiner Be-
75 Zur altnordischen Vorstellung von ›Männlichkeit‹ vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 187–248; Clover 1993; Rau/Greulich 2014; Evans 2019; Thoma 2021b. »Die Maskulinität definiert sich […] über Unabhängigkeit und aktive Machtausübung – die Fähigkeit zum Agieren. ›Männliche‹ Personen sind in der Lage, sich selbst zu versorgen und für sich selbst einzustehen. Kennzeichen maskulinen Handelns sind Souveränität und das Vermögen, die eigene physische und soziale Integrität zu verteidigen. Diese Integrität, helgi, ist im altisländischen ausbalancierten Ehrsystem permanent bedroht und muss fortlaufend aufrechterhalten und verteidigt werden« (Rau/Greulich 2014, S. 88). 76 ›Selbstständig‹ bedeutet in diesem Fall, dass Sigmundr durchaus seine eigenen Ziele zu verfolgen versucht. Vgl. Niedner 1929, S. 16–17, der Sigmundr allerdings deutlich zu viel Eigenständigkeit zuspricht. Insbesondere in der Konfrontation mit Þrándr agiert er im Vertrauen auf die eigene Stärke, statt auf Begleitumstände nur zu reagieren, wie es sein Gegenüber tut. Im politischen Zusammenhang hingegen ist Sigmundr alles andere als ›selbstständig‹ – auch hier im Gegensatz zu seinem Konkurrenten. Auf dieser Ebene verkehrt sich in ironischer Weise die ›Männlichkeit‹ beider Gegner: Þrándr, der sich stets entgegen der Gendernorm verhält, ist in politischen Angelegenheiten absolut selbstständig (vgl. Kap. 3) – und damit ›männlich‹. Gerade auf den hypermaskulinen Sigmundr trifft in politischer Hinsicht diese Charakterisierung nicht zu. Indes muss Sigmundr aufgrund der Legitimität seiner Herrschaft, wie oben ausgeführt, politisch nicht selbstständig agieren – seine Existenz ist auf seine Anbindung an den Herrscherhof hin ausgerichtet. Innerhalb dieser Erzählmatrix kann selbstständiges Handeln auf dem politischen Parkett in Hinblick auf die Maskulinität seiner Figurenzeichnung unproblematisch durch treue Pflichterfüllung ersetzt werden. 77 Reichert 1999, S. 262 definiert als Muster eines »Heldenlebens« (zu diesem vgl. auch de Vries 1961, S. 281–301): Berühmtheit aufgrund kämpferischer Leistungen oder Tugenden sowie eine »›heldische Lebensform‹«, die sich u. a. in einer »hohe[n] Schätzung des Manneswertes«, »Großgesinntheit (bisweilen mit Neigung zum Großsprechen)« und insbesondere einer Bevorzugung des Kampfes als Lebensform vor allen anderen Tätigkeiten äußert. Diesem Idealtypus enstpricht Sigmundr umfänglich. Uecker 1972, S. 9 beschreibt den ›Helden‹ als außergewöhnlichen Menschen, der deutlich mache, »was dem Menschen möglich ist«, allerdings »jedem andern verwehrt« bleibe. »Mehr als nach allem
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reitschaft zum Kampf als dauerhafte Lebenssituation. Er zeigt sich dabei als einer ›archaischen‹ Form von Gewaltanwendung zugeneigt, die nicht entsprechend der oben beschriebenen ›höfisierten‹ Erzählmatrix seiner Lebensbeschreibung angelegt ist und damit »eingehegt und kontrolliert« wird.78 Im Gegenteil interessiert sie sich gerade nicht höfisch, sondern wenig ›verfeinert‹ für das ›Extreme‹ und stellt sich zu einem gewissen Grad als Selbstzweck dar.79 Sigmundr ist, trotz der konzeptionellen Anlehnung seiner Figur an Schemata der höfischen Literatur, kein Ritter.80 Er kämpft nicht zeremonialisiert, sondern âne mâze und af móði stórum,81 weil es seinem Naturell entspricht. So ist er jederzeit zur Gewaltanwendung zur Durchsetzung der eigenen Ziele bereit, zieht den Kampf einer friedlichen Lösung vor und betont in großem
anderen« strebe dieser ›Held‹ nach »Ehre« und ernte deshalb »Ruhm« in der Nachwelt, sein Tod sei »meist tragisch«, aber »durch seine Vorbildhaftigkeit gemildert.« Ählich auch Weber 1990. Nach von See 1978, S. 30–37 liegt die Faszination des ›Helden‹ dagegen insbesondere »darin […], daß sie das Exorbitante, das Regelwidrige tut« (S. 31). Auch ohne die Moralisierung von Sees und seiner Betonung von Antisozialität, ›Individualismus‹ und Regelverstoß in der Heldenfigur (vgl. als Gegenstimme Weber 1990), die auf Sigmundr in der Færeyinga saga gerade nicht zutreffen, bleibt der Befund der Exorbitanz übrig, der sprichwörtliche ›Über-Mut‹ des Helden. Teilhabe am ›heroischen Kräfteüberschuss‹ kennzeichnet den ›Helden‹ (vgl. Müller 1998, S. 237–242), das »rauschhaft vermessene Spiel mit der tödlichen Gefahr« (von See 1971, S. 171): »Der Held ist immer ein Mensch, der das normale Maß hinter sich lässt« (Hoffmann 1987, S. 131; vgl. auch Reichert 1999, S. 264 – zur Zeitabhängigkeit positiver oder negativer Heldenbilder außerdem Teichert 2008, S. 20–21). Nach Müller 1998, S. 237 liegt der »Kern«, die »Epiphanie des Heros«, »in überlegener Stärke«. Als Überblick des Heldenkonzepts einschließlich Aufbereitung des reichen Forschungsmaterials vgl. Deichl 2019, S. 17–48. Hinsichtlich seiner Kampfkraft und auch seines ›heroischen‹ Übermutes ist Sigmundr zweifelsohne als »exorbitant« zu charakterisieren. Er ist vor allem über seine überlegene physische Stärke definiert und lässt dabei das ›Normalmaß‹ eines einfachen, wikingischen Kriegers deutlich hinter sich. Die hier verwendete Terminologie bezeichnet die entsprechende Figur als ›Held‹, wobei als zugehöriges Adjektiv ›heroisch‹ gebraucht wird. Die Debatte, inwiefern das Konzept des griechischen ήρως als Halbgott mit dem des germanischen ›Helden‹ in seiner meist profanen Natur vergleichbar sei, kann in diesem Rahmen dabei nicht aufgegriffen werden. Beide Konzepte sind nicht identisch (vgl. von See 1971, S. 31–37; Uecker 1972, S. 9; Teichert 2008, S. 17), aber letztlich doch hinreichend ähnlich, um in diesem Rahmen als alternierende Bezeichnungen gebraucht werden zu können. Als Überblick dieser Problematik siehe Deichl 2019, S. 79–104. 78 Schulz 2015, S. 73. 79 Vgl. Schulz 2015, S. 152–158. 80 Diese Spannungen zwischen konzeptionellen und charakterisierenden Eigenschaften Sigmundrs zeigen sich maßgeblich in der Færeyinga saga der Flateyjarbók, die abweichenden Textredaktionen vereinen ›höfisierte‹ und ›heroische‹ Konzepte viel eher zur Genese Sigmundrs als Protagonisten der Erzählung, wie noch näher auszuführen. 81 Übersetzt etwa: »ohne sich auf höfische Effektkontrolle zu besinnen« und »aus heroisch-hochgestimmter Geisterhaltung heraus«. Mâze bezeichnet die »›Mitte zwischen zwei Extremen‹, ›Angemessenheit‹« (Schulz 2015, S. 114). Der Heros aber kämpft gerade ›maßlos‹ – im Gegenteil zur höfischen Kontrolliertheit, vgl. auch Schulz 2015, S. 152–153. Die Formulierung af móði stórum fällt in der Atlaqviða in grœnlenzca (98, S. 241), und auch im Zusammenhang mit anderen, ähnlichen Heldentaten, vgl. von See 1978, S. 32–34. Zum Gegensatz ritterlicher und ›heroischer‹ Heldentypen vgl. auch Deichl 2019, S. 17–79.
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Selbstbewusstsein die eigene Ehre und Fähigkeit,82 entschieden entgegen etwaiger höfischer Bescheidenheitstopoi. Sigmundr erweckt den Eindruck eines Kriegers, der die Konfrontation sucht und dabei das Wissen um die eigene Fähigkeit ausdrücklich und provokativ betont: Rücksichtslose Konsequenz prägt seine verhältnismäßig limitierten Handlungsoptionen, die in der Regel auf bewaffnete Gewalt hinauslaufen,83 während er den persönlichen Wert seiner selbst (aber auch anderer) durchaus ›großgesinnt‹ hochschätzt. Er präsentiert sich insofern in einer »gefährlich authentischen, habituellen Aggressivität, die jederzeit kenntlich ist, und nur auf den kleinsten Anlass wartet, um einen Sturm der Gewalt loszutreten.«84 Grundbedingung für seinen Erfolg als Krieger und seine Fähigkeit zum Kampf ist seine Furchtlosigkeit und der Wille, sein Schicksal auf die Probe zu stellen. Sigmundr ist begierig auf Waffengänge und schreckt nicht vor Auseinandersetzungen zurück. Sein dadurch implizierter Umgang mit dem diffusen Moment des menschlichen Fatums85 charakterisiert ihn gleichzeitig als vollkommenen ›Helden‹ und ver-
82 So lehnt er Ǫzurrs Vergleichsangebot (Fær c. 24, S. 54) wohl weniger deswegen ab, weil ihm bewusst ist, dass es für seine Belange negativ ausfallen dürfte, sondern aus Selbstüberhöhung. Weniger als ein sjálfdœmi betrachtet er als unter seiner Würde – dabei wäre ein solches in diesem Konflikt ironischerweise nutzlos für ihn, vgl. Kap. 3.4.2. Einem Kampf ist er derweil nicht abgeneigt und vertraut darauf, ihn zu gewinnen. Insofern lässt sich seine Replik an den Gegner auch als implizite Herausforderung verstehen: Beugt sich Ǫzurr einem Selbsturteil Sigmundrs, erkennt er seine Überlegenheit an – ein Gesichtsverlust, den Ǫzurr kaum in Kauf nehmen dürfte. Bewusst setzt Sigmundr also auf eine Eskalation, statt bereits hier auf eine Entscheidung durch seinen norwegischen Herrn zu drängen. Als Þrándr Sigmundr später überzeugen will, trotz Hákons Urteil ein Selbsturteil zu sprechen, bemerkt Sigmundr nur fast süffisant, en æigi sidr kiosa at þeir væri vsattir (Fær, S. 61; er werde weiterhin nicht zuletzt wählen, unverglichen zu bleiben). Dies zeigt im Rückschluss mit der vorigen Szene einerseits, wie unwichtig ihm das sjálfdœmi tatsächlich gewesen sein dürfte, es war wenig mehr als Mittel zum Zweck der Herausforderung. Andererseits offenbart sich so seine Strategie im Konflikt mit Þrándr, gegen den er ohne zu zögern seine Axt zückt (Fær c. 26, S. 64). Entsprechend ist er nie um die selbstbewusste Bemerkung verlegen, dass es annar mun uerri (Fær, S. 64; ähnlich auch zuvor in c. 24, S. 58; sonst schlimmer werde), wenn sich sein Gegenüber seinem Willen verweigert. 83 Vgl. auch Schulz 2015, S. 153. 84 Schulz 2015, S. 154. 85 Umstritten (und letztendlich im altnordischen Bereich wenig spezifisch erforscht, vgl. Gropper 2017, S. 198), ist der Begriff des ›Schicksals‹, und wie er zu verstehen sei. Als neueren Überblick zu diesem Thema in der Heldendichtung vgl. Deichl 2019, S. 367–388. Die frühe Forschung beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Verhältnis des ›Schicksals‹ zum benachbarten Bereich der Religion und dem Walten göttlicher Mächte im menschlichen Leben, siehe im Überblick Gropper 2017, S. 198–200. Gehl 1939 hingegen geht, in recht deutlicher Zeitprägung, von einem grundsätzlich unpersönlichen Schicksalsbegriff aus, der in den altnordischen Quellen fassbar werde und eher weltanschaulich denn religiös sei (vgl. auch Gropper 2017, S. 199). Die Quellen verliehen »dem Gefühl einer ungreifbaren, unpersönlichen Macht Ausdruck, einer Macht, die nach Maß und Ordnung hinter den Dingen der Sinnenwelt steht und ihren Bezug und ihr Sein in der Zeit nach unabänderlichen Gesetzen festlegt« (Gehl 1939, S. 39). Dabei käme es Gehl 1939, S. 15 zufolge den Quellen aber vor allem auf die Kategorie »der Ehre, jenem germanischen Grundgefühl« an, letztlich auf die menschliche Reaktion auf das unfassliche Fatum; diese stehe in den nordischen Quellen im Vordergrund. »[U]nter den tausend Möglichkeiten des Lebens für den Helden« gäbe es deswegen »nur selten ein Schwanken und Zö-
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dammt ihn zum letztendlichen Untergang.86 Für Sigmundr gewinnt das Wort ›Schicksal‹ jedoch nicht einmal dann an Bedeutung, wenn es darum geht, es aufs Spiel zu setzen. Er geht immer ein hohes Risiko im Kampf ein, um siegreich aus der
gern«, »weil ihn das Ehrgefühl als ein untrüglicher Instinkt zu seinem Schicksal hinlenkt, einem Schicksal, in dem Wollen und Müssen, Innermenschliches und Außermenschliches, skap und skǫp untrennbar verbunden sind« (Gehl 1939, S. 199). Dem stellt Brøndsted 1958 ein Entwicklungsmodell des ›Schicksalsglaubens‹ qua literarischer Gattung entgegen. Das ›Schicksal‹ versteht er dabei primär als ästhetische Kategorie in Reaktion auf die Erfahrung der Begrenzung des menschlichen Willens (Brøndsted 1958 S. 7–48, bes. S. 7–11). Von einer unpersönlichen Schicksalsmacht, der sich das Individuum stellen müsse und die es sich im Idealfall durch die Bereitschaft, sich den schicksalhaften Ehranforderungen zu unterwerfen, selbst aneigne, in der Heldendichtung (vgl. Brøndsted 1958, bes. S. 122–136), wandle sich der Schicksalsbegriff in eine rein äußerliche Konstante in den Vorzeitsagas (Brøndsted 1958, S. 147–157). In den Isländersagas herrsche hingegen ein inwendiges Schicksalsverständnis, das das Schicksal als »en hemmelighedsfuld, medbestemmende magt i mennesket, forskellig fra dets vilje og bundende i dets æt« (Brøndsted 1958, S. 159; eine geheimnisvolle, mitbestimmende Macht im Menschen, verschieden von seinem Willen und bindend in seiner Sippe) begreife. Der Fokus verschiebe sich so von der namenlos-numinosen Machtinstanz außerhalb des Menschen auf immanente Charaktereigenschaften und persönliche Dispositive – entsprechend vielgestaltig könnten die Reaktionen von Protagonisten wie Erzählverläufen auf die Thematik des ›Schicksals‹ ausfallen (Brøndsted 1958, S. 157–187). Mit ähnlich literarischer Zielsetzung arbeiten auch mehrere jüngere Studien, die sich u. a. mit dem Verhältnis von ›Schicksal‹ und Zeitverständnis auseinandersetzen, vgl. hierzu im Überblick Gropper 2017, S. 200–202. Das Schicksal sei oft mit der Sippe und ihrer Vergangenheit verknüpft. Dabei werde es nur von außen, in konkreten Taten erfahrbar, weil es selbst außerhalb von Logik und Zeit existiere. Taten brächten deshalb die innere, schicksalhafte Wahrheit eines Menschen ans Tageslicht, die jedoch zum Teil in seiner Abstammung bereits vorbestimmt sei. Während die ältere Forschung, wie Gehl, vornehmlich mit einem »germanischen« Schicksalskonzept zu arbeiten versuchte, betont die Forschungsliteratur neueren Datums nicht selten die christliche Prägung des altnordischen Schicksalsverständnisses und erkennt antiheidnische Muster, vgl. im Überblick Simek 2004. Dabei entsteht insgesamt der Eindruck, dass »[d]efining what fate is proves more difficult than what it is not« (Gropper 2017, S. 201). Entsprechend lässt sich festhalten: »[E]ach text seems to have an individual concept of fate as well as an individual handling of the topic. […] [N]either fate nor luck is depicted as a power which completely overrides man’s free will. Instead, fate or luck complement a man’s personality […]« (Gropper 2017, S. 207). 86 Weniger bedeutend als eine Bewertung des in der Færeyinga saga womöglich vorgefundenen ›Schicksalsglaubens‹ in historischer Perspektive ist der auch bei Gehl 1939 und Brøndsted 1958 betonte Konnex zwischen ›Schicksal‹ und individueller Reaktion auf selbiges, der besonders in ›Helden‹Erzählungen hervortritt. Inbesondere die ältere Forschung – von See 1971, S. 166–168 nennt Otto Höfler und Jan de Vries als Beispiele – sah dabei die annehmende, das unverrückbare Schicksal akzeptierende Haltung des Helden, während von See gerade die »Ungebundenheit« und »Unvernünftigkeit« (von See 1978, S. 38) des ›heroischen‹ Umgangs mit dem Schicksal, das »rauschhaft vermessene Spiel« (von See 1971, S. 171) hervorhebt. Bedeutsam ist im vorliegenden Rahmen allerdings weniger die Frage, inwiefern das Moment des ›Schicksals‹ eine Rolle im Heldenleben spielt und ob es affirmativ bejahend oder trotzig verachtend hingenommen wird. Die Motivationen ›heroischen‹ Untergangs bzw. riskanten Verhaltens sind letztlich vielschichtig (vgl. Reichert 1999, S. 270–271). Allein die Tatsache, dass der ›Held‹ mit dem ›Schicksal‹ in engen Kontakt tritt, wenn er vor allem anderen seinem Primärtrieb zu Kampf und Ehre nachgibt, genügt in diesem Zusammenhang. Siehe Gropper 2017, S. 200: »[Fate] was not regarded as a power one simply had to accept; rather, fate was a challenge,
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Schlacht hervorzugehen. In der Seeschlacht gegen den Wikingerführer Randvérr etwa sagt er zu seinem Gefolge:87 [Æ]igi munu ver sigrazst a þeim til þrautar nema ver reyním oss framar.88 Damit bezieht sich Sigmundr gerade nicht direkt auf das Schicksal, sondern spricht von der Erprobung der Kampfkraft seiner Männer, um den Ruhm des Sieges zu erlangen. Im Ausdruck reyním oss schwingt so zwar Sigmundrs Wille mit, zu testen, ob das Schicksal ihm und seinen Männern gewogen ist oder nicht, doch um diese Dimension seiner Taten scheint er sich gar keine Gedanken zu machen. Er ist in der Schlacht stets fremzstr sínna manna,89 und schätzt Angriff über Verteidigung, wenn er auf seinem Schwedenfeldzug meint, at ver skulum hlaupa at fylkíngu þeirra ok víta at ver komimzst sua j gegnum.90 Dies illustriert sein Verhältnis zur Macht des Schicksals: Er vertraut a matt min ok megin,91 und räumt Mächten außerhalb seiner eigenen Handlungsmacht keinen Einfluss auf sein Leben ein. Effektiv ignoriert er die Komponente des Schicksals in seinem Leben: Es ist für ihn nicht von Belang. Er will kämpfen und richtet sein Handeln danach aus, dies bestmöglich zu tun, was einen entsprechend riskanten Lebensstil bedingt. Es geht ihm um die ruhmreiche und unerschrockene Erprobung seiner Kraft,92 und der Kampf a force to confront«, sodass »[i]n this sense, fate is the possibility of becoming a hero, a chance to live up to all the possibilities with which one has been born« (Gropper 2017, S. 202). Das Leben des ›Helden‹ zielt einzig nach dem Ruhm der Schlacht. Dass er dabei Risiken eingehen muss, die ihn das Leben kosten können, ist nicht mehr als natürlich. Vgl. auch Deichl 2019, S. 28: »Letztlich zwingt sein eigenes heroisches Wesen den Helden zum Wagnis ohne Rücksicht auf Verluste«. Die Frage, ob er sich damit gegen sein ›Schicksal‹ auflehnt, es negiert oder bejaht, ist hierbei zweitrangig. Ein Leben als Krieger führt irgendwann zwangsläufig zum Tod, und ein Sieg im Leben als Kämpfer ist nicht ohne eine gewisse Todesverachtung zu erlangen. Letztlich ist, wie Müller 1998, S. 440 formuliert, »[d]as Heros-Werden […] ambivalent; es bedeutet unvergängliche Ehre, doch führt es geradewegs in den Untergang; […] es läßt sich nicht konsistent ethisch begründen, sondern nur schlüssig erzählen«. Gerade dieses Dilemma umkreist die Heldendichtung, die die Paradoxie von notwendigem Tod und teils bewunderswertem, teils abstoßendem Kampfeswillen des Helden als eines geborenen Kriegers in immer neuen Variationen narrativ verarbeitet. 87 Da Sigmundrs Wikingerfahrten in den Textredaktionen außerhalb der Flateyjarbók nur summarisch zusammengefasst werden, werden sie nur knapp als äußerst erfolgreich und positiv dargestellt. Dadurch wird das Gewicht der Darstellung weit weniger auf Sigmundrs ›heroischen‹ Charakter gelegt, wie er besonders in hier beschriebenen Taten und Aussagen zum Vorschein kommt. Dieser Effekt der Darstellung wird noch näher auszuführen sein. 88 Fær, S. 41 (›Wir werden sie nicht vollständig besiegen, es sei denn, wir versuchen uns weiter vorwärts‹). Bereits zuvor ruft er seine Männer zum Kampf auf, indem er sagt, at mer er lítít um at flyia þeirra fund at ỏll v reyndu munu ver ok alldri frama fa nema ver leggím vart rad j hættu (Fær, S. 40; ›dass es mir wenig bedeutet, dieses Zusammentreffen ganz unerprobt zu fliehen. Wir werden auch nie Ruhm verdienen, es sei denn, wir setzen unser Wohlergehen aufs Spiel‹). 89 Fær, S. 41 (der Vorderste seiner Männer). 90 Fær, S. 43 (›dass wir zu ihrer Schlachtordnung laufen und sehen, dass wir da hindurch kommen‹). 91 Fær, S. 49 (auf meine Kraft und Stärke). Zur religiösen Komponente dieses Satzes vgl. Kap. 4.5.1. 92 So beteuert Sigmundr auch gegenüber seinen Männern: [O]ftar sigrazst þeim æigi uel er fleíre eru saman ef menn eru skeleggir til motz (Fær, S. 42; ›Öfter gelingt denen, die insgesamt in der Überzahl sind, kein guter Sieg, wenn ihnen unerschrockene Männer entgegenstehen‹).
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ist sein Lebenselixier. Entsprechend ist es ihm auch egal, wohin ihn sein Herr, Jarl Hákon, schickt: Hauptsache, er kann seiner Berufung nachgehen, fara j vikíng ok fa þar annat huort nokkurn frama edr bana.93 Ex silentio dürfte dies auch bedeuten, dass er seinen Tod im Bilde klassischer Helden schlicht akzeptieren würde. Als ihm sein Cousin und Ziehbruder Þórir einen baldigen Tod prophezeit, wenn er den in seiner Gewalt befindlichen Þrándr nicht töten lässt, lautet Sigmundrs einzige Antwort in der Tat at hætta skylldi þa ꜳ þat.94 Sigmundr kennt weder Furcht vor dem Schicksal, noch Gefahren. Er ist begierig darauf, die Probe mit beiden einzugehen, und stellt dies von frühester Jugend an unter Beweis. So ist er es, der seinen Ziehbruder dazu überredet, den verbotenen Wald bei Úlfr-Þorkell zu betreten: Sigmundr mællti til Þoris huat mun verda þo at vít farim j skog þenna er her er nordr fra garde Þorir suar(ar). a þui er mer æínge forvitne segir hann. ekki er mer sua gefít segir Sigmundr. ok þangat skal ek fara.95 Der Wald ist den Heranwachsenden von ihrem Ziehvater explizit verboten worden,96 und obwohl Þórir warnt, die beiden brächen damit das Gebot ihres Ziehvaters, meint er schließlich nur: [Þ]u munt rada hliota.97 Es ist nicht allein Neugier, die Sigmundr antreibt, sondern Abenteuerlust. Gerade der verbotene Wald zieht ihn an, entweder, weil er in ihm mit Gefahr rechnet – entsprechend nimmt er auch eine Holzaxt mit, mit der er dann den Bären erschlägt – oder zumindest, weil er damit das Risiko des Zornes seines Ziehvaters auf sich nimmt. Über dessen Verbot setzt er sich eigenmächtig hinweg, weil er begierig ist, den Grund dafür zu erfahren: Er will sich erproben. So handelt er stets ohne Bedenken möglicher Folgen, alleine aus dem Antrieb heraus, seine Grenzen herauszufinden, indem er sie im Vollzug einer Tat erreicht. So ist es auch Sigmundr, der auf den Abschied vom Ziehvater drängt, und ihn zunächst damit begründet, dass þikir mer litil okkr afdrif verda munu ef uit foruitnumzst æigi til annarra manna.98 Auch in dieser Aussage mag der Wunsch mitschwingen, andere Menschen nicht allein kennen zu lernen, sondern sich insbesondere mit diesen zu messen. Zwar begründet Sigmundr seinen Fortgang im Nachhinein mit seiner nicht
93 Fær, S. 39 (auf Víking fahren und dort entweder Ruhm oder Tod verdienen). 94 Fær, S. 76 (dass man dies dann wagen solle). Eine ähnliche Szene wiederholt sich kurz vor Sigmundrs Tod, als ihm Þórir empfiehlt, den im Meer treibenden Þrándr nach einem seiner Überfälle zu töten. Sigmundr verweigert sich diesem Rat erneut, siehe Fær c. 36, S. 83. Vgl. hierzu Glauser 1989, S. 203–206. Zu den folgenschweren Auswikungen dieser Einstellung siehe weiter auch Kap. 4.3.3. 95 Fær, S. 28 (Sigmundr sagte zu Þórir: ›Was wird wohl geschehen, wenn wir in diesen Wald gehen, der hier nördlich des Anwesens liegt?‹ Þórir antwortet: ›Danach habe ich keine Neugier‹, sagt er. ›So ist es mir nicht gegeben‹, sagt Sigmundr, ›und dorthin will ich gehen‹). Vgl. auch Kap. 7.5.1. 96 Siehe Fær, S. 27. 97 Fær, S. 28 (›Du wirst entscheiden müssen‹). 98 Fær, S. 31 (›Mir scheint, es wird uns wenig weit bringen, wenn wir nicht andere Menschen kennen zu lernen suchen‹).
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offiziell erlaubten Beziehung zu Þuríðr,99 und so wenig ›heldenhaft‹.100 Dennoch ist sein Ziel im eigenen Vorankommen durch den kämpferischen Vergleich mit anderen Männern auszumachen. Dies kontrastiert Sigmundr mit Þrándr, und auch seiner restlichen Umgebung: Sigmundr ist dazu disponiert, sein Schicksal herauszufordern. Voraussagen wie die seines Ziehvaters, der Sigmundr prophezeit, dass munu her morg eftir fara þín afreks verk,101 hört er sicher gerne. Doch sein Umfeld ist es, das die Kategorie des Schicksals auf sein Leben anwendet. Selbst spricht Sigmundr im Gegensatz zu seinen Mitmenschen aber nie vom ›Schicksal‹,102 im Gegenteil. Die Zukunft, zumal eine festgeschriebene, scheint ihm wenig zu bedeuten. Ihm geht es um Bewährungsproben auf dem Schlachtfeld, und damit im ›Hier und Jetzt‹. Dazu ist Sigmundr charakterlich prädisponiert. Beim Kampf in vorderster Front sind vor allen Dingen Wagemut und Einsatzbereitschaft gefordert, weniger taktisches Geschick. Für den Krieger sind schnelle Reaktion, kühne Probe aufs Exempel und kurzfristige Aufmerksamkeit bedeutsamer als abwägende Abschätzung, weil sich die situativen Bedingungen eines Kampfes sehr schnell ändern. Um siegreich zu sein, müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden, und die Möglichkeit eines negativen Ausgangs in Kauf genommen, aber ausgeblendet werden – im Vertrauen allein auf die eigene Überlegenheit.103 Diesen Grundsatz der Kampfsituation verabsolutiert Sigmundr zu seiner Lebenseinstellung: Er denkt in kurzen, situativen Zeitspannen, denen er seinen vollen Einsatz widmet. Sein Leben betrachtet er implizit so als dauerhaften Kampf, als ›Held‹ darauf ausgerichtet, durch sein Vorgehen Ruhm zu gewinnen. Faktisch geht es ihm damit nicht einmal vordringlich um die
99 Fær, S. 36: [E]n nu vil ek segía þer at ek hefui æigi vel launat þer þínn velgeorning ok fostr. þuiat dottir þín sagde mer þa er vit skildum at hon værí med barnne ok er þar æinge madr j tíge til nema ek ok þuí for ek mest j brott at ek hudge at okkr munde þat askilia (›Doch nun will ich sagen, dass ich dir deine Wohltat und Erziehung nicht gut gelohnt habe. Denn deine Tochter erzählte mir, als wir uns trennten, dass sie schwanger sei, und daran ist kein anderer Mann beteiligt als ich, und ich bin vor allem deswegen fortgegangen, weil ich glaubte, dass uns das trennen würde‹). 100 Indes ist auch eine geheime Beziehung ein Spiel mit dem Risiko väterlichen Zorns und bezeugt wiederum Sigmundrs Willen, seine Grenzen aktiv und ohne Bedenken zu testen und auszureizen. 101 Fær, S. 30 (›hierauf noch viele deiner Großtaten folgen werden‹). 102 In den Textversionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta abseits der Flateyjarbók tut er dies hingegen sehr wohl. Als Þrándr bei ihrem ersten Zusammentreffen nach Sigmundrs Rückkehr aus dem Exil versucht, ihn zu überreden, selbst ein Urteil zu sprechen, statt die Entscheidung an Jarl Hákon zu übertragen, verweigert sich Sigmundr, indem er angibt, er bliebe anderenfalls gerne unverglichen ok ætla ek þat makligaz at skeiki at skỏpuðu hvarr ockar berr hæra lut. ef vit eigumz ilt við (Fær, S. 58 [Text A; D verbatim]; ›und ich halte es für am angemessensten, dass das Schicksal entscheide, wer von uns die Oberhand behält, wenn wir ein schlechtes Verhältnis haben‹). Auch dadurch zeigen diese Redaktionen an, dass Sigmundr in seiner Charakteranlage hier weniger die Komponente des Schicksals ignoriert, als dass vielmehr sein Lebensweg in schicksalhaften Bahnen verläuft. 103 Gerade deshalb steht dem ›Helden‹ meist nur ein begrenzter Fundus an Handlungsoptionen zur Verfügung, die auf »die Ausübung archaischer Gewalt« hinausläuft und ohne tiefgreifende »Reflexion« auskommt (vgl. Schulz 2015, S. 153) – vor allem anderen ist er ein exorbitanter Krieger.
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Differenz von Sieg oder Untergang, sondern rein um die Momenthaftigkeit der Kampfsituation an sich. Negative Konsequenzen dieser Haltung ignoriert er ebenso wie sich bietende Gelegenheiten durch abweichende Vorgehensoptionen. Weist ihn seine Umgebung, in der Regel in Form von Þórir, oder sogar in Gestalt seines Königs,104 auf eine negative Zukunft hin, zeigt er sich zum einen wenig beeindruckt und zum anderen erstaunlich unwillig, was das Einschlagen eines alternativen, erfolgversprechenden Handlungswegs angeht. Damit agiert er in gewisser Weise sogar ›beratungsresistent‹.105 Es geht ihm jedoch ausschließlich darum, Ehre zu gewinnen. Diese ›heroische Gesinnung‹, der gerade nicht regulierte Übermut, drängt letztlich auf die ein oder andere Weise dem Untergang zu.106 Sigmundrs Schicksal lässt sich nicht abändern, es ist durch sein Naturell als ›Held‹ schon auf seinen negativen Ausgang hin vordeterminiert. Diese interne, charakterliche Ausgestaltung der Sigmundr-Figur konterkariert damit von vorne herein ihren ›höfisierten‹ narrativ-strukturellen Aufbau als legitime Herrscherfigur. Deren strukturelle Logik muss Sigmundr auf den ihn gebührenden Platz führen, während die interne Logik seiner Persönlichkeit ihn in der Untergang treibt.107 Doch nicht nur diesbezüglich tut sich durch seine ›Helden‹-Gesinnung eine strukturelle Bruchstelle in Sigmundrs Figurenzeichnung auf: Sein ›heroischer‹ ›Drang in den Untergang‹ steht auch quer zum Prinzip des sozialen Zusammenlebens, dem er sich auf den Färöern unterordnet.108
104 Vgl. näher auch Kap. 4.3.3 u. Kap. 7.5.1. 105 Auch dies ist kein seltenes Motiv einer Heldenbiographie, vgl. von See 1978, S. 34–35. Eine ›rationalistische‹ Abwendung vom riskoreichen Leben des Schlachtenkämpfers steht für Sigmundr und ähnliche Heldenfiguren nicht zur Debatte. 106 Vgl. Müller 1998 S. 439–441: Das ungezügelte, freibrechende Heldentum münde letztendlich »in rücksichtloser Vernichtung«. Es zeige einen »heroischen Raptus in den Untergang«, der am Ende des Nibelungenliedes gerade als der rehte heldes muot in seiner »Monstrosität« deutlich werde. 107 So ergibt sich innerhalb der Sigmundr-Figur eine komplexe Schichtenlage ›höfisierter‹ und ›heroischer‹ Erzählmuster, wie sie die Welt des Nibelungenliedes als Ganzes durchziehen, vgl. hierzu exemplarisch Müller 1998, bes. S. 389–434. Diese Narrationsstrukturen, die »sich […] gegenseitig durchdringen, perspektivieren, widersprechen und destruieren, ohne, daß sich eine eindeutige Botschaft ableiten ließe«, sind »auf vielfältige Weise [mit]einander überkreuz[t] und miteinander kombiniert«, sodass sie »sich gegenseitig kommentieren, in Frage stellen, unterlaufen« (Müller 1998, S. 389–390). Diese widersprüchliche Doppelcodierung der Erzählmatrizen hinter der Figur Sigmundrs zeigt sich etwa, wenn der Maßstab der Legitimität seiner Biographie den Rahmen eines normwiederherstellenden Ritter-Cursus verleiht, während mit Blick auf seine ›heroische‹ Gestaltung derselbe Lebensverlauf auch als Variante der »Exile-and-return-Fabel« gelesen werden kann, die viele Heldendichtungen kennzeichnet (Schulz 2015, S. 153), und das Bedürfnis nach Rache für den getöteten Vater zugleich zutiefst dem Normsystem der Sagagesellschaft entspringt. 108 Heldenerzählungen sind qua der Exorbitanz ihrer Handlungsträger stets individualistisch ausgelegt. Der ›Held‹ kann erst nachträglich in ein Verhältnis zur Gesellschaft treten, seine primäre Triebkraft ist die eigene Ehre. Dieses ältere, ›heroisch‹-kriegerische Ideal tritt nach Andersson 1970 in den Isländersagas aber hinter ein soziales Ideal zurück, das sich an der Disruption der Balance durch allzu ›heroisches‹ Verhalten stößt. Grundsätzlich schließen sich der radikale Individualismus des ›Helden‹, der im Untergang endet, und die vordingliche Verfolgung eines sozialen Ethos gegenseitig aus. Im Zuge der Isländersagas kann das ›heroische‹ Ideal in voller Entfaltung demzufolge
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Auch die einzigen Entscheidungen seines Lebens, die sein Leben langfristig bestimmen werden, trifft Sigmundr auf dieser Basis letztlich unter einer auf den Augenblick ausgerichteten Agenda. Úlfr-Þorkells Einödhof erreicht er zufällig, als er sich auf dem Weg zu Jarl Hákon befindet, von dem er sich Hilfe verspricht. Dort nimmt er die Einladung zur Rast an und anschließend den Hinweis auf die schwierigen Grundbedingungen auf: Er ist erst zwölf Jahre alt, der Winter streng und der Weg weit. Aus dieser Situation verliebt er sich in Þuríðr und nimmt anschließend das Angebot der Aufzucht an, aus dem er maximalen Gewinn schlägt. Als er Hákons Hof dann zum ersten Mal erreicht, muss Sigmundr sich zunächst des Misstrauens Hákons erwehren, der von ihm verlangt, sich als Sohn seines Vaters zu erweisen. Sigmundr zeigt sich nicht entmutigt, sondern wendet sich an die mit ihm gleichaltrigen Söhne des Jarls, deren Gunst er dadurch erlangt, dass er lekr firir honum [Sveini Hákonarsyni] marga fimlæika ok hendi j(arls) son mikit gaman at honum.109 Sigmundr setzt hier seine beschränkten Möglichkeiten in maximalen Erfolg um, und erweist sich somit durchaus nicht als ›dumm‹. Im Gegenteil zeigt er Geschick in der Verfolgung der Ziele, die er sich gesetzt hat, und beweist damit auch eine grundsätzliche Fähigkeit, die Zukunft in die eigene Hand zu nehmen. Exiliert hat er jenseits seiner körperlichen Tüchtigkeit nichts anzubieten, um die Aufmerksamkeit des Herrschers zu erlangen. Doch diese setzt er gezielt ein, um sich im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Vorankommen zu sichern. Zuvor reagiert er gewinnbringend auf die immer neuen, wohlwollenden Angebote des Geächteten. Auch zögert er seine ausstehende Rache an den Männern, die seinen Vater erschlagen haben, so lange hinaus, dass seine bis dahin erreichte Position maximalen Erfolg garantieren kann. Er hält sich somit an die eigene Aufforderung, die Kränkung durch den Totschlag an seinem Vater læíngr in Erinnerung zu behalten, tatsächlich so lange, wie es notwendig erscheint, um sicher Erfolg zu haben.110 Er könnte seinen Rache-
nur im Rahmen der Reiseepisoden nutzbar gemacht werden, indem es narrativ in einen Außenraum verlagert wird, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 224–226. Ein ähnliches Prinzip liegt dem Strukturschema des Artusromans zugrunde, wobei hier die Trennlinie weniger zwischen ›heroischem‹ und ›sozialem‹, sondern vielmehr ›archaischem‹ und höfischem Verhalten verläuft, vgl. Schulz 2015, S. 152–158. In soziale Produktivität lässt sich Sigmundrs Heldentum entsprechend nur umwandeln, solange es zugleich nach außen verlagert und an einen legitimierenden Hof gebunden ist. Beide Prinzipien brechen zusammen, als er auf die Färöer zurückkehrt, vgl. hierzu Kap. 4.3. 109 Fær, S. 38 (erprobte vor ihm [Sveinn Hákonarson] viel seiner Geschicklichkeit, und der Jarlssohn hatte viel Spaß an ihm). 110 Er sucht damit gerade die Balance im Racheakt, die so kennzeichend für die isländischen Quellen ist, und die Grettir Ásmundarson sentenzhaft formuliert: ›Þræll einn þegar hefnisk, en argr aldri‹ (Grettis saga, S. 44; »›Ein Knecht nur rächt sich gleich, ein Feigling nie‹«; Seelow [Hrsg. u. übers] 1998, S. 39). Damit zeigt Sigmundr aber auch, dass der permanente Kampf des Wikingerlebens, das er zuvor führt, keineswegs nur ein notwendiger, aber im Grunde störender Schritt auf seinem Weg zu dieser Rache ist. Die Jahre, die er an Hákons Hof verbringt, stärken seine Position im Hinblick auf seine Rache zwar zusätzlich, er beendet diese Lebensphase aber – aus Liebe zum Kampf selbst – auch nicht früher als notwendig. Er tritt seine Rache in Folge seines langjährigen Verbleibens in Norwegen auf dem Höhepunkt seiner persönlichen Stellung an Hákons Hof an, und
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feldzug schon im ersten Sommer an Hákons Hof im Zuge seiner wikingischen Expeditionen durchführen oder wenigstens versuchen, immerhin bekommt er zu diesem Zeitpunkt insgesamt drei Schiffe und einhundertzwanzig Männer von Hákon und seinen Söhnen gestellt,111 doch gerade das tut er nicht. Insofern versucht er durchaus, langfristig und geplant zu handeln. Auffällig ist dabei allerdings die reine Beschränkung dieses ›Planungsgeschicks‹ auf die (relativ gesehen) unmittelbare Zukunft und die Einengung auf die Felder ›Kampf‹ und ›körperliche Stärke‹. Schon anhand dieser, seiner hervorstechendsten Eigenschaft scheint Sigmundrs Schicksal im Gesamtkontext der Færeyinga saga und seiner Konfrontation mit Þrándr im Grunde besiegelt, mit dessen langfristiger, politischer Planung er nicht konkurrieren kann, wie unter 4.3 aufzuzeigen.
4.2.3 Das Kind und der Ächter. Sigmundrs Jugend im Dovrefjell Dabei ist Sigmundrs Schicksal zunächst die Sklaverei. Doch obwohl er und sein Cousin þrutnir j andlite af harmi sind,112 als Þrándr sie an den Händler Hrafn verkauft, bleiben sie dennoch fridír síonum.113 Die innere Disposition des Helden, die sich, der mittelalterlichen Vorstellung gemäß, physisch auch nach außen hin zeigt,114 kann durch äußere Umstände nicht gebrochen werden. So gibt sich Sigmundr auch nicht weniger markig als im Angesicht des Todes seines Vaters, als er von Hrafn gefragt wird, wie er seine Behandlung einschätzt: [V]el hía þui sem þa er vit uorum j ualldi Þrandar.115 Hrafn zeigt sich als gütiger Mann, überlässt den Jungen Þrándrs Bestechungsgeld und lässt sie frei. Sigmundr und Þórir bleiben zwei Jahre lang in der Viken und treffen danach den tollkühnen Plan, den Lehnsherrn ihrer Väter aufzusuchen, von dem sie sich Hilfe erwarten. Sie brechen allein und zu Fuß auf und kommen ins Dovrefjell, wo sie der Winter überrascht. Sigmundr stellt hier seine Heldenhaftigkeit zum ersten Mal auch in der Tat unter Beweis, in einer Szene, die bereits auf die Umstände vor seinem Tod vorausdeutet:116 [F]ara uillt ok liggia vti sva at morgum dęgrum skíptí mata lausir ok þa lagdizst Þorir firir ok bidr Sigmund þa hialpa ser ok læíta af f[i]allínu hann kuat at þeir skylldu badir af koma edr huorgi þeirra ella en sa var munr krafta þeirra at Sigmundr leggr Þori abak ser ok væit þa helldr firir ofan dasadizst nu míog.117
kann somit auf dessen maximal mögliche Unterstützung vertrauen. Doch dies macht auch deutlich, dass die Vaterrache eindeutig nicht Sigmundrs Gedankenwelt völlig beherrscht. 111 Siehe Fær c. 17, S. 39. 112 Fær, S. 19 (mit geschwollenen Gesichter vor Leid). 113 Fær, S. 19 (von schönem Aussehen). 114 Vgl. Schulz 2015, S. 41–42. 115 Fær, S. 20 (›Gut, verglichen mit dem, als wir in der Gewalt Þrándrs waren‹). 116 Vgl. auch Almqvist 1992b, S. 47. 117 Fær, S. 23.
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(Sie verirren sich, und halten sich viele Tage lang fern von menschlichen Behausungen auf, ohne Nahrung. Und da brach Þórir zusammen und bittet Sigmundr da, sich selbst zu helfen und einen Weg vom Fjell herunter zu finden. Er sagte, sie würden beide entkommen oder keiner von ihnen, aber der Kraftunterschied zwischen ihnen war derartig, dass Sigmundr sich Þórir auf den Rücken legt, und oberhalb wird es da besser. Er ermüdet nun sehr stark.)
Im Gegensatz zur Szene vor Sigmundrs Tod wird die Konversation der beiden Jungen hier nur indirekt wiedergegeben.118 Die Doppelung bzw. Spiegelung demonstriert sehr deutlich den symmetrischen Aufbau des Textes der Færeyinga saga,119 und dient als vorausdeutendes Moment. Die Botschaft ist klar: Sigmundr wird eher sterben als seinen Verwandten, treuen Freund und ständigen Begleiter Þórir zurückzulassen,120 ein Befund, der sich Jahre später tatsächlich erfüllt. Die Jungen werden schließlich auf dem Einödhof von Úlfr-Þorkell, zunächst von den beiden Frauen, aufgenommen. Für Sigmundr erweist sich dies in der Folgezeit als Glücksfall. Der Ziehvater wird ihm zum Ersatzvater, bildet ihn aus und verdeutlicht ebenso wie Brestir in Vorläuferfunktion Sigmundrs eigene Charaktereigenschaften. Ulfr var mikill madr ok sterkr ok þat skildu þeir *frændr. at hann var hinn mesti jþrotta madr121 und bezeichnet sich selbst, beziehungsweise sein jugendliches Alter Ego, beim Erzählen seiner æfisaga als efnnilígr madr mikill ok sterkr.122 Sigmundr erlernt von ihm alsbald die íþrottir des Schwimmens und Bogenschießens. Es heißt dabei: [V]ard Sigmundr skíott askynía allra jþrotta Vlfs sva at hann vard hínn mesti jþrotta madr.123 Nach dem Abschluss seiner Erziehung im Dovrefjell berichtet die Saga sogar, er þat skiotazst af honum at segía at hann hefír næst geingít um Olafui T(ryggva) syne vm allar jþrottir.124 Sowohl Vater als auch Ziehvater sind somit als Rollenmodelle für Sigmundr ausgestaltet.
118 Dies nur in der Flateyjarbók, die weiteren Redaktionen geben Sigmundr eine direkte Redepassage. Sie enthalten allerdings auch Sigmundrs Todesszene nicht mehr, sondern blicken nur summarisch voraus. 119 Vgl. Almqvist 1992b, S. 46–47. Siehe hierzu auch Kap. 8. 120 Zur Funktion Þórirs in der Zweierkonstellation mit Sigmundr siehe näher auch Kap. 7.5.1. 121 Fær, S. 27–28 (Úlfr war ein großer Mann und stark, und die Verwandten begriffen, dass er der beste Mann in allen Fertigkeiten war). 122 Fær, S. 32 (einen sehr vielversprechenden Mann und stark). 123 Fær, S. 27 (Sigmundr war schnell beim Erlernen aller Künste Úlfrs, sodass er der beste Mann in diesen Fertigkeiten wurde). 124 Fær, S. 30 (es ist am ehesten von ihm zu sagen, dass er Óláfr Tryggvason am nächsten kam hinsichtlich aller Kunstfertigkeiten). Mit dieser Angabe wird im Kontext der Überlieferung der Færeyinga saga die Texteinbindung in die Óláfs saga Tryggvasonar gerechtfertigt und eine enge Verknüpfung zwischen dem später auftretenden Missionskönig und Sigmundr als einer Art »active embodiment« des Königs erzeugt (Bonte 2014b, S. 103). Der Vergleich in der Version Flateyjarbók im Gesamthandlungsgang erfolgt dabei wesentlich früher als in den anderen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar, in denen sich Óláfr und Sigmundr bald darauf persönlich begegnen, vgl. Krakow 2009, S. 57–58, einschließlich eines genauen Vergleichs der Formulierungen der unterschiedlichen Redaktionen. Dies kann als Moment der Spannungserzeugung gedeutet werden, gerade in der
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Grundsätzliche Veranlagung und Legitimation seiner späteren Herrschaft, mit Blick auf die Narration die ›höfisierte‹ Struktur seiner Biographie, ererbt sich Sigmundr von seinem leiblichen Vater. Die Verfeinerung dieser Grundlagen und ihre Kanalisierung hin zu einer Kämpferpersönlichkeit, die im Kontext von Hákons Hof in entsprechender Weise auftreten kann, geschieht in der Obhut des Geächteten. In dieser Sequenz erweisen sich erstmals Sigmundrs ›heroische‹ Charaktereigenschaften in der Tat, indem er ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit seinen Begleiter rettet und sich später dem ziehväterlichen Verbot widersetzt, als er den Bären im Wald erschlägt. Jedoch wird er in Þorkell mit einer Figur konfrontiert, die den sich in ihm offenbarenden Helden ›einbremst‹. Þorkell beschreibt Sigmundrs Lebensweg in ›schicksalhaften‹ Kategorien,125 die quer zu seiner ›heroisch‹-momenthaften Entwicklung stehen. Zudem lehrt er ihn mit seinen íþróttir mehr als nur berserkerhafte Wikinger-Schlachtkunst.126 Der Ersatzvater unterzieht Sigmundr damit einer Ausbildung, die nach den ersten Anzeichen seiner innerlich ›heroischen‹ Disposition erneut an höfische Erzählkonzepte erinnert. Steigernde Ausbildungsprozesse, die den Weg eines Ritters vom Kind bis zum etablierten Mann begleiten, sind notwendiger Teil der höfischen Kultur.127 Þorkell bereitet Sigmundr damit auf ein Leben in der Kriegeraristokratie des norwegischen Hofes vor, in die er nach Beendigung seiner Ausbildung eingeht. Dadurch wirkt er der durchbrechenden Heldencharakteristik des Jungen entgegen.
sehr umfangreichen Flateyjarbók, die ihre Rezipienten damit aufmerksam hält: Beide Männer müssen und werden sich nach diesem Vergleich begegnen. 125 Bereits am zweiten Tag, den die Jungen in seinem Unterschlupf verbringen, meint der Geächtete: [A]udit vard þess at ykkr bæri hingat at husum mínum (Fær, S. 27; ›Es war vorherbestimmt, dass es euch hierher zu meinem Hause tragen sollte‹). Auch bei seiner Einladung an die Jungen zum endgültigen Verbleib auf seinem Hof spricht er mehrfach von der ›Verheißung‹, siehe Fær, S. 27: [E]f ykkr þíkir æigi annat synna fyrir liggía en vera her þa skal ykkr þat heímillt ok víta at þít þroskizst her ma vera at oss se nokkurir fleíre hlutir saman ætladir (›Wenn euch nichts anderes, Besseres vor euch zu liegen scheint, als hier zu sein, soll euch das freistehen und darauf deuten, dass ihr hier erwachsen werdet. Es mag sein, dass uns noch andere Dinge zusammen bestimmt sind‹). Es folgt die oben zitierte beeindruckt-überschwängliche Prohezeiung, nachdem Sigmundr den Bären im Wald erschlagen hat, dass von ihm noch viele solcher Heldentaten zu erwarten stehen. Auch Sigmundrs Ziehbruder und Cousin Þórir bemerkt bei der Bärentötung: [Þ]er vard þessa þrekuirkís audit frændi […] en æigi mer (Fær, S. 29; ›Dir war diese Heldentat bestimmt, Verwandter […], aber nicht mir‹). Auch zuvor, als er meint, Sigmundr müsse über die Entscheidung, in den Wald zu gehen, rada hliota (Fær, S. 28; siehe bereits oben), changiert die Semantik zwischen einem einfachen »müssen« und einem »zufallen« durch das Lenken einer höheren Macht, einem ›bestimmt sein‹, vgl. Baetke 2008 s.v. hljóta. 126 Die Semantik des altnordischen Begriffs íþróttir umfasst eine »elitäre Sozialtopographie der von ihm subsummierten Tätigkeiten […], die an die Institution des Fürstenhofes gebunden ist« (Teichert 2014a, S. 5). Zur Deckungsgleichheit der altnordischen íþróttir als »körperliche[r] und geistige[r] Fähigkeiten« mit den »Übungen, die auch an den Fürstenhöfen im übrigen Europa zu finden sind«, vgl. auch Ebel 2001, hier S. 229 u. S. 231. 127 Vgl. Schulz 2015, S. 82–88; zum höfischen Ausbildungsideal bes. S. 84–85.
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Selbst nur Bauernsohn, aber im Umgang mit der Aristokratie erfahren,128 ›höfisiert‹ Þorkell vorbereitend Sigmundrs im Kern ›heroische‹ Veranlagung auch auf der Handlungsebene. Er gibt Sigmundrs Fähigkeiten einen Rahmen, der ihn auf sein Leben bei Hofe ausrichtet. Die Narration überformt die ›heroische‹ Konzeption der Figur somit wiederum und hegt sie in einem ›höfisierten‹ Erzählprogramm ein. Dabei wird allerdings auch eine Bruchstelle angelegt. Einerseits erfolgt Sigmundrs Ausbildung nicht nach vollends höfischen Maßgaben: Er erhält weder Unterricht in Sprachen noch in Musik, und die erlernten íþróttir sind verengt auf die im späteren Plotverlauf wichtige Schwimmkunst sowie Bogenschießen.129 Sigmundrs Fähigkeiten wird durch seinen Ziehvater somit zwar eine ›höfisierte‹ Entwicklungstendenz eingespeist, aber sie ändert dezidiert nicht seine grundsätzliche Natur als zum Kampf prädestinierter, wikingischer ›Held‹ in die eines tatsächlichen Ritters am aristokratischen Hof. Mit seinem Erziehungsprogramm ist Þorkell andererseits auch nicht rundheraus erfolgreich – Sigmundr bricht mit 15 Jahren aus ›heroischer‹ Abenteuerlust sein Gebot. Þorkell warnt seine Ziehsöhne ursprünglich davor, in den nahegelegenen Wald zu gehen, besonders während er nicht auf dem Hof ist: [E]n æinn er sa hlutr at ek vil vara ykkr vid at þít farit æigi j skog þann er nordr er fra bænum.130 Begründet wird dieses Verbot durch den Geächteten im Nachhinein mit seiner Furcht vor dem dort lebenden Bären: [Þ]at munda ek vilea at hann [bjǫrninn] ellti ykkr æigi oftar en þo er þetta dyr sua at ek hefir æigi traust aborit at glettazst vid.131 Sigmundr jedoch drängt darauf, den Wald aufzusuchen. Die Jungen erreichen schnell eine Lichtung und dort sa þeir beornn mikinn hardla ok grimligan. þat var víd beornn mikill ulfrgrar at lit.132 Sigmundr, im Gegensatz zu seinem ziehväterlichen Ausbilder, hat weder Angst vor noch Schwierigkeiten mit dem Bären. Beide Jungen lau-
128 Zur ›doppelten‹ Natur der Charakterzeichnung Úlfr-Þorkells vgl. auch Kap. 7.2. 129 Zu den íþróttir zählen in der Regel auch Runen- und andere Schriftkundigkeit, Dichtkunst, Brettspiel, und an körperlichen Fähigkeiten Skilaufen, Reiten und Rudern, vgl. Ebel 2001, S. 231; Teichert 2014a, S. 5. Das kontinentale Anforderungsprogramm kennt zusätzlich etwa Fechtkunst und Jagd, zudem grundsätzliche Rhetorik und Logik ebenso wie Ringen und andere militärische Fähigkeiten, vgl. Teichert 2014a, S. 5 (Fn. 16) zu den sieben ritterlichen Fähigkeiten in Petrus Alphonsis Disciplina Clericalis; Schulz 2015, S. 84–85, auf Basis der Fürstenlehre des Aegidius Romanus. In den abweichenden Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta hingegen lernt Sigmundr bei Þorkell skylmingar ok skot fími. svnd ok aðrar iþrottir (Fær, S. 27 [Text A; D in der Formulierung leicht abweichend]; Fechtkunst und Geschicklichkeit im Schießen, Schwimmen und andere Fähigkeiten). Das ›höfisierte‹ Ausbildungsprogramm wird also als umfassender dargestellt. 130 Fær, S. 27 (›Doch eine Sache gibt es, vor der ich euch warnen will, dass ihr nicht in den Wald geht, der nördlich am Hof liegt‹). Zum dabei verschiedentlich angesetzten »Tabu« vgl. Kap. 2.3.2.2 (Fn. 203). 131 Fær, S. 29 (›Ich würde mir wünschen, dass er [der Bär] euch nicht öfter verfolgt. Aber dennoch ist dieses Tier so, dass ich nicht gewagt habe, es zu reizen‹). 132 Fær, S. 28 (sehen sie einen sehr großen und grimmigen Bären, das war ein großer Braunbär von wolfsgrauer Farbe).
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fen zunächst davon und werden vom Bären verfolgt. Als der Waldpfad, den sie benutzen, sich zu verengen beginnt, snyr [Sigmundr] þa skíott ut af stignum millum treanna ok bidr þar til er dyrít kemr jafnnfram honum þa hỏggr hann jafnnt medal hlusta adyrínu med tueim hondum sua at exín sokkr en dyrit fellr afram ok er dautt þuiat þat hefir æínge fiorbrot.133 (dreht sich [Sigmundr] da rasch aus dem Pfad heraus zwischen die Bäume und wartet, bis der Bär gleichauf mit ihm kommt. Da schlägt er genau zwischen die Ohren des Tieres mit beiden Händen, sodass die Axt einsinkt, und der Bär fällt vorwärts und ist tot, denn er hat keinen Todeskampf.)
Þórir rühmt seinen Ziehbruder und Cousin für diese Tat, und Sigmundr schlägt vor, das tote Tier wieder aufzurichten: [S]ua gera þeir ok geta upp ræist suæigía sua at tren at eigi ma falla reka kefli j munnín ok þykir dyrít þa gapa munínum.134 Sie kehren zum Hof zurück, wo sie den besorgten Ziehvater treffen. Dieser nimmt sie unmittelbar mit in den Wald, um den Bären zu erschlagen, der nach Sigmundrs und Þórirs
133 Fær, S. 29. Die Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar stellen Sigmundrs Bärentötung mitunter als noch ›heroischer‹ dar, indem Sigmundr sich hier im Laufen umdreht, um das Tier zu erschlagen, siehe Fær, S. 28–29 (Text A). Die kürzeste Redaktion D berichtet hingegen nur indirekt und zusammenfassend von dieser ersten Tat Sigmundrs, siehe Fær, S. 28–30 (Text D). Da gleichzeitig das ›höfisierte‹ Erziehungsprogramm Þorkells als umfassender dargestellt wird, wird an dieser Stelle deutlich, dass hier keine Konzeptproblematik in Sigmundrs narrativer Ausgestaltung angelegt wird. Almqvist 1992a zufolge verweist diese Todesszene des Tieres auf eine konkrete mittelalterliche Tiervorstellung: Er nimmt die Formulierung þuiat þat hefir æínge fiorbrot wörtlich und nicht als Ausdruck des in der Sagaliteratur üblichen, unvermittelten Tempuswechsels. Auf dieser Grundlage schließt er auf einen ›Volksglauben‹ oder ein verlorenes, mittelalterliches Bestiarium, demzufolge Bären keine Todeszuckungen besäßen, weil ihnen die Sehnen fehlten. Er verweist dabei auf ein ähnliches Motiv im deutschen Material, das Bären als knochenlos kennt (vgl. Peuckert 1927, Sp. 884) sowie eine fast verbatim übereinstimmende, aber ausführlichere Formulierung in der Vilmundar saga viðutan. Beide Textstellen bringt er mit der Angabe der Gylfaginning zusammen, derzufolge Gleipnir, die Kette, mit der der Fenriswolf gefesselt wird, unter anderem aus den Sehnen der Bären zusammengesetzt sei. Die Snorra Edda beschreibt diesen mythischen Gegenstand als gefertigt aus dyn kattarins, skeggi konunar, rótum bjargsins, sinum bjarnarins, anda fiskisins und fogls hraka (Gylfaginning 34, S. 28; »dem Lärm der Katze und dem Bart der Frau, aus den Wurzeln des Felsens und den Sehnen des Bären, aus dem Atem des Fisches und dem Speichel des Vogels«; Krause [Ausg., übers. u. komm.] 1997, S. 42). Almqvist bezieht sich unterstützend auf die Untersuchung von Magerøy 1976, bes. S. 361–364. Dieser erklärt die Gylfaginning-Stelle entweder Almqvist entsprechend, alternativ mit einem recht wenig überzeugenden Schreibfehler (bjarnar sinum statt dem eigentlichen hornum). Almqvist Bemerkungen sind tentativ, aber durchaus glaubhaft. 134 Fær, S. 29 (Dies tun sie und können es [das Tier] aufrichten; sie beugen es so an einen Baum, dass es nicht umfallen kann. Sie stecken einen Stock ins Maul und das Tier scheint da das Maul aufzusperren). Die Präparation wird in den Versionen der Óláfs saga Tryggvasonar A und C (B hat an dieser Stelle eine Lakune) nur als Aufrichten beschrieben (siehe Fær, S. 29 [Text A]). D, die am stärksten rafft, berichtet in der indirekten Schilderung der Tat nichts dergleichen. Dort wird auch der Wald von Þorkell nicht explizit verboten, sondern nur sehr allgemein vor Neugier gewarnt, falls die Jungen sich selbstständig bewegen (siehe Fær, S. 27 [Text D]).
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Präparation offenbar sehr lebendig wirkt. Þorkell bemerkt erst, dass er bereits tot war, nachdem er ihn selbst mit einem Speer durchbohrt hat. Þórir schreibt die Tat Sigmundr zu. Þorkell lobt daraufhin überschwänglich das mesta þrekuirke seines Ziehsohns und prophezeit: [M]unu her morg eftir fara þín afreks verk.135 Die Bewährungsprobe durch das Erschlagen eines Bären ist auch aus den Isländersagas bekannt. Dadurch erweist der jeweilige Protagonist sich als tauglich zur Tat.136 Ein ähnliches Motiv findet sich auch in der Hrólfs saga kraka.137 Das Wieder-Aufrichten des toten Tieres dient in Hrólfs saga und Finnboga saga der einstweiligen Verschleierung der Heldenkräfte. In der Færeyinga saga hingegen besitzt das Wiederaufrichten hingegen, wenn es zur Verschleierung dient, auf der Plotebene keinen rechten Sinn und wirkt so wie ein blindes Motiv. Dennoch lässt sich eine ähnliche Agenda auf konzeptioneller Ebene vielleicht auch Sigmundrs Handeln unterstellen. Auffällig ist jedenfalls, dass Þorkell sofort in Lobesworte verfällt, die (ebenso wie Þórirs Worte) bemüht sind, Sigmundrs Tat ein ›schicksalhaftes‹ Korsett anzulegen. Ihrer tatsächlichen, aus momentanem ›Übermut‹ und ›heroischem‹ KräfteÜberschuss entstandenen Natur ist dies allerdings fremd. Sigmundrs innere Disposition wird somit durch die umgebenden Figuren unmittelbar extern ›einzufangen‹, gewissermaßen ebenso zu ›verschleiern‹ versucht. Der Durchbruch der Heldennatur in der Tat kann so für den Moment noch in die ›höfisierten‹ Kategorien überführt werden, für die Þorkell metonymisch steht. Der gesamte Abschnitt von Sigmundrs Aufzucht im Dovrefjell kann somit als Initiationssequenz verstanden werden:138 Strukturell wird er auf seinen Anschluss 135 Fær, S. 30 (größte Heldentat; ›Hierauf werden noch viele deiner Großtaten folgen‹). 136 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 244–245; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxiii–clxxxiv. Ólafur verweist auf die Víga-Glúms saga c. 3, S. 9–10, die Grettis saga c. 21, S. 74–77, und die Finnboga saga c. 11, S. 273–275. Nur die letztgenannte Stelle weist eine engere Nähe zur Erzählung der Færeyinga saga auf. Auch Finnbogi präpariert den von ihm getöteten Bären so, wie er ihn zuvor lebend aufgefunden hat (ohne dass jedoch Details genannt würden). Dies dient wohl dem Zweck, seine übermenschlich anmutenden Kräfte nicht sofort bei dem nordnorwegischen Bauern, bei dem er sich Winterquartier genommen hat, offen zu legen. Dieser greift den Bären anschließend selbst an, erkennt aber, dass er tot ist und damit auch Finnbogis Qualitäten. 137 Der Abschnitt findet sich in Hrólfs saga kraka c. 23, S. 77–82. Bǫðvar-Bjarki tötet ein nicht näher spezifiziertes Untier mykid og ögurligt, og hefur vængi ꜳ̋ bakinu (S. 78; groß und schrecklich, und es hat Flügel auf dem Rücken), und präpariert es im Anschluss so, at menn hyggi kuÿkt muni vera (S. 80; dass die Leute denken, es sei am Leben). Die Art und Weise der Präparation wird nicht näher ausgeführt. Sinn des Verfahrens ist es, dem ängstlichen Hǫttr damit zu Anerkennung am Königshof zu verhelfen. Bǫðvar-Bjarki gibt ihm das Blut des Tieres zu trinken und Teile seines Herzens zu essen, wodurch Hǫttr stärker und mutiger wird. Am nächsten Tag ›erschlägt‹ er sodann das bereits tote Untier öffentlich erneut. 138 Vgl. zum Konzept Maier/Meier 2000, S. 439–440. Nach van Gennep 2005 und Turner 1964 im klassisch-dreischrittigen Schema von Loslösung, liminaler Phase und Reintegration entfernt sich Sigmundr aus bewohnten Gegenden und seiner bisherigen sozialen Umgebung, in der er mittellos und unbekannt (hellzsti farad[r] j vkunnu lande; Fær, S. 21; recht hilflos in einem unbekannten Land) gelebt hat. Er erreicht mit Úlfrs Hof einen Ort in der Ödnis des Hochlandes, fern von menschlicher Siedlung, trennt sich somit auch räumlich von der Gesellschaft ab und erfährt eine Ausbil-
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an den Herrscherhof vorbereitet, den bereits die Matrix seiner Legitimität als Herrscher der Färöer angelegt hat, und somit weiter in ›höfisierten‹ Erzählschemata aufgebaut. Zugleich macht die Bärentötung als initiale Bewährungsprobe Sigmundr als trotz seiner erzählstrukturellen ›Höfisierung‹ ›heroische‹ Figur deutlich und kennzeichnet ihn im Rahmen der narrativen Großmatrix erstmals ›in der Tat‹ als Protagonisten.139 Neben dieser Doppelcodierung Sigmundrs in ›höfisierten‹ und ›heroischen‹ Erzählkonzepten und der engen Verbindung zwischen ihm und seinem Ziehvater erscheint an dieser Passage auch das Auftreten der prominenten Frauenfiguren bemerkenswert, namentlich Sigmundrs späterer Ehefrau Þuríðr. Sie wird zunächst beschrieben als hín fridazsta kona synum ok mikil udlig.140 Auf dieser Grundlage werden in Sigmundrs Jugenderzählung diverse Erzählelemente aufgenommen, die ihre konzeptionelle Bedeutung erst im späteren Verlauf des Plots offenbaren. Die hier eingeführte Þuríðr etwa wird weit nach Sigmundrs eigenem Tod eine entscheidende Rolle bei der Lösung des färöischen Machtkampfes spielen.141 Die Sequenz weist dabei vermehrte Motive aus dem Bereich der Fornaldarsögur, ›Folktales‹ und Märchen auf. Durch die Aufladung mit dieser Art von Motivik wird das Dovrefjell als ein ›anderer‹ Ort jenseits der Menschenwelt greifbar.142 Gleichzeitig kann das Berplateau als Symbol des norwegischen Reiches in der altnordischen Literatur fungieren und ist intrikat mit dem norwegischen Königtum verbunden.143 Schon
dung zum Krieger. Was dem folgt, ist seine gesellschaftliche Neueingliederung, nunmehr in erhöhter Position am Hof des norwegischen Herrschers: Die Initiation war erfolgreich. Steinsland 2005, bes. S. 78–83 (erneut Steinsland 2011, S. 52–58; Steinsland 2014, S. 205–212) möchte in Sigmundrs gesammtem Norwegen-Exil ein »mythological pattern underpinning the text« (Steinsland 2005, S. 76) erkennen. Rituell werde Sigmundr in die Rolle eines Fürsten initiiert und dabei mit dem Gott Óðinn verknüpft. Dieser selbst sei hinter der Figur von ›Úlfr‹ auszumachen, wenn er mit sprechendem Decknamen Sigmundr diversen »trials in the mountains« unterziehe (Steinsland 2005, S. 80– 81), u. a. der Lektion des Eros mit seiner Tochter, einer riesisch anmutenden Frau (Steinsland 2005, S. 82). Der graue Bär, den Sigmundr erschlägt, sei entsprechend eine Anspielung auf die Berserker des Kriegsgottes, »clear and […] surely intended by the author« (Steinsland 2005, S. 80). Ihre Argumentation überzeugt insgesamt und insbesondere an dieser Stelle allerdings wenig, vgl. Schmidt 2015, S. 124–127, hier bes. S. 126. Siehe weiter auch Kap. 8.3.3. 139 In den höfischen Epen erweist sich die Hauptfigur als würdig, indem sie kompensatorisch an der Peripherie tätig wird (vgl. Schulz 2015, S. 127–129), und zwar gewaltsam (vgl. Schulz 2015, S. 72– 75), womit sie sich paradoxerweise gerade der ›archaischen‹ Handlungsweisen bedienen muss, die der Hof eigentlich zu überwinden hat (vgl. Schulz 2015, S. 152–158). Dadurch, dass diese ›Archaik‹ aber gezielt und kontrolliert eingesetzt und damit im Sinne der Ordnung nutzbar gemacht wird, ist sie rechtmäßig (vgl. Schulz 2015, S. 73). Gerade dies kann durch Þorkells Ausbildung und seine Einrahmung von Sigmundrs Heldentat an dieser Stelle geleistet werden. 140 Fær, S. 26 (die schönste Frau und von imponierendem Aussehen). 141 Vgl. hierzu näher Kap. 7.3.3. 142 Zu den Motiven und dem ›Nicht-Ort‹-Charakter des Dovrefjell vgl. Kap. 2.3.2.2 u. Kap. 7.2. 143 Vgl. im Folgenden Steinsland 2014, bes. S. 135–216. Steinsland deduziert aus der intrinsischen Verbindung des Dovrefjells mit dem norwegischen Königtum und seinen riesischen Bewohnern in seinem Symbolismus für das gesamte Reich eine ›norröne Fürstenideologie‹. Für die dabei wichtige Grundthese des Hieros gamos vgl. Steinsland 1991. Der spätere Fürst durchlaufe demnach eine Initia-
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in der frühesten norwegischen Königsgeschichte, der lateinischen Historia Norwegie, ist die Berglandschaft Norwegens als Symbol des gesamten Landes vertreten,144 und Hákon, der Jarl von Hlaðir, wird im Skaldengedicht Vellekla als Dófra dróttinn bezeichnet.145 Das Dovrefjell fungiert also bereits hier als »en gangbar metafor for hele landet Norge«.146 Auch wählen die nordisierten Gründungserzählungen der Flateyjarbók, Hversu Noregr byggðisk und Fundinn Nóregr, eine Abstammungsmythologie der Norweger, die Snorris südlich-asiatischem Einwanderungsnarrativ widerspricht.147 Sie führen das Volk und insbesondere die Herrscher von Norwegen und den Orkneys auf quasi-mythische Wesen zurück, die Phänomene der Natur des Äußersten Nordens der Welt codieren.148 Bedeutsam ist dabei, dass der Stammvater Norwegens, Nórr, seine Nachkommenschaft mit einer Riesin aus dem Dovrefjell zeugt.149 Der ›Reichseiniger‹ Haraldr hárfagri wächst, dem Hálfdanar þáttr svarta zufolge, als Ziehsohn des Bergkönigs Dofri auf.150 Durch seine Ehe mit Snæfríðr, die ebenfalls hier situiert wird,
tion: Das Durchqueren der Wildnis und die Aufnahme bei den Riesen des Dovrefjell entspreche symbolisch Tod und Wiedergeburt. Zusätzlich werde ein exogamer Hieros gamos-Mythos, die Liebesbeziehung zu einer Frau aus dem Riesegeschlecht, eingeflochten. Dieser werde im Mittelalter sozial und ethnisch überformt, die exogame Allianz stehe für eine Verbindung mit den sozial und ethnisch ›anderen‹ Samen. Schon Steinslands Grundthese ist diskutabel (vgl. Hultgård 1994), und ihr Ansatz besonders im Falle der Færeyinga saga wenig überzeugend, siehe oben (Fn. 138). Ein narratives Muster von Grenzüberschreitung und Verbindung mit dem ›Anderen‹ ist zudem kennzeichnend für ein Erzählsujet an sich, vgl. Lotmann 1993, S. 329–340. Bedeutsam sind die literarische Doppelcodierung des Dovrefjell und seine Symbolfunktion gerade in der Figurenkonstruktion Sigmundrs nichtsdestoweniger. 144 Vgl. Steinsland 2014, S. 136 u. S. 138. 145 Vellekla 257–8. 146 Steinsland 2014, S. 153 (gangbare Metapher für das ganze Land Norwegen). 147 Siehe zu diesem SnE Prologus. Zur Einordnung vgl. Weber 1994, bes. S. 9–15; gegenteilig van Nahl 2013, bes. S. 84–88; Beck 2013. 148 Siehe Flat I, S. 21–24 u. S. 219–221. Der mythische Urahn trägt den Namen Fornjótr, seine Abkömmlinge heißen Hlér, Eponymus von Hlésey (Læsø), er vér kǫllum Æigi (Orkneyinga saga, S. 3; den wir Ægir nennen), Logi, Kári, Frosti oder Jǫkull, Þorri, Nórr, Górr und Gói. Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen 2001b, S. 221; in Zusammenfassung auch Schmidt 2015, S. 30–32. 149 Siehe bereits Kap. 2.3.2.2 (Fn. 218). Vgl. auch Steinsland 2014, S. 141–145. 150 Siehe Flat I, S. 563–566: Die Erzählung betont dabei vor allem Haraldrs Integrität, indem er zweimal gegen Befehle seines Vaters verstößt, um Leben zu retten. Als Nahrungsmittel für das Weihnachtsfestmahl vom Hof Hálfdan svartis verschwinden und dieser zunächst einen zauberkundigen Finnen beschuldigt, befreit Haraldr den Finnen und sie erreichen gemeinsam die Halle eines hǫfðingi, der sich des Essensdiebstahls schuldig bekennt. Er erteilt Haraldr auch eine Prophezeiung seiner Zukunft und schickt ihn nach Hause, weil dort jemand seiner Hilfe bedürftig sei, den nur Haraldr retten könne. Als später Wertgegenstände vom Hof Hálfdans entfernt werden, kann ein allmikinn jỏtun (überaus großer Riese) gefangen werden, der Dofri heißt, wie das nach ihm benannte Fjell. Haraldr schenkt auch diesem die Freiheit, woraufhin sein Vater ihn vertreibt. In der Wildnis findet Haraldr daraufhin den freundlichen Dofri troll, der den erschöpften Jungen in seine Höhle bringt und von dem er fünf Jahre lang aufgezogen wird, uar hann þa kalladr Haralldr Dofrafostri (er wurde dann Haraldr Dofrafostri genannt). Vgl. bereits Kap. 2.3.2.2.
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vollendet er symbolisch zudem seine Reichseinigung durch die Einbeziehung der – wenn auch dämonisierten – Samen.151 Später führt der wichtige ›Königsweg‹ der norwegischen Herrscher vom 17. bis ins 19. Jahrhundert ebenso über das Dovrefjell wie der Pilgerpfad zum Olafsheiligtum im Nidarosdom.152 Daher rühmt sich König Eysteinn im 12. Jahrhundert im Mannajafnaðr mit seinem Bruder Sigurðr Jórsalafari explizit damit, den Weg mit Berghütten gesäumt zu haben.153 Auf der Eidsvollversammlung von 1814 schließlich findet der Wahlspruch »Enige og troe, indtil Dovre falder!« Verwendung.154 Für Sigmundr bedeutet diese Aufladung des Dovrefjell konzeptionell eine Stärkung seiner Bindung an den norwegischen Herrscherhof: Er wird ebenso hier erzogen wie der berühmte Reichseiniger des Landes. Þorkell übernimmt für Sigmundr somit gewissermaßen die Rolle, die der eponyme Riese Dofri als Ziehvater Haraldr hárfagris für diesen spielt,155 was Sigmundr in enge konzeptionelle Nähe mit der norwegischen Königsfigur rückt. Andererseits aber verschwindet Sigmundr für die Zeit seiner Aufzucht so gewissermaßen ›aus der Welt‹, an ein Ort, der sich auch narrativ als eigenes, geradezu ›märchenhaftes‹ Erzählreich gestaltet.156 Für Sigmundr führt dies zu einer Assoziation mit diversen, im Rahmen der Diegese und vor allem im Vergleich zu anderen Figuren, insbesondere Þrándr, randständigen Narrationselementen. Der Erzählabschnitt seines Aufwachsens im Dovrefjell bringt ihn in einen Raum fern menschlicher Gesellschaft, in die Ziehvaterschaft eines Geächteten. Der gesamte Abschnitt behandelt einerseits die liminale Phase seiner Jugend, zwischen den Positionen eines mittellosen Exilanten im Kindesalter und eines erwachsenen, herrschaftlich legitimierten Herrn der Färöer, andererseits zeigt diese Phase seine erzählstrukturelle Doppelposition zwischen ›höfisierten‹ und ›heroischen‹ Konzepten. Im Kontext seiner ersteren von beiden Identitäten befindet er sich, vom Hof aus gesehen, in einem nicht-höfischen Raum.157 Dies ist ist für seine konzeptionelle Entwicklung so notwendig wie als Defizit zunächst restituier-
151 Vgl. Steinsland 2014, S. 194; siehe Haralds saga ins hárfagra c. 25, S. 125–127. 152 Vgl. Steinsland 2014, S. 80–88 zu den herrscherlich-symbolischen Königsreisen; S. 93–131 zum Pilgerweg. 153 Magnússona saga c. 21, S. 261; vgl. Steinsland 2014, S. 74–75. 154 Steinsland 2014, S. 221 (Einig und treu, bis Dovre fällt!). 155 Daher wird Þorkell in oberflächlicher Stilisierung motivlich gewissermaßen zum Bergkönig, der den späteren Herrscher rettet und erzieht, vgl. Kap. 2.3.2.2; zu Auswirkung und Anziehung zwischen Þorkells Konzeption und der des Dovrefjell Kap. 7.2. 156 Vgl. Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 4–5. Zur ›märchenhaften‹ ›Erzählatmosphäre‹ des Abschnitts siehe bereits Kap. 2.3.2.2. Sigmundrs Aufenthalt im Dovrefjell wird damit geradezu zur narrativen Anderweltfahrt, vgl. die oben ausgeführten Initiationselemente sowie Kap. 7.2. 157 Der höfische Roman ist von der raumsemantischen Dichotomie des zentralen Hofes und des peripheren Raumes außerhalb geprägt, sei letzterer Wald oder ein alternatives, nicht eigentlicharturisches Reich, vgl. hierzu Schulz 2015, S. 243 u. S. 263–265. Das Dovrefjell als ›Nicht-Ort‹, bewohnt nur vom Geächteten Úlfr, und jenseits des Einflusses von Hákons Hof, entspricht in dieser Hinsicht funktional dem nicht-höfischen Raum des höfischen Romans, in den sich der Protagonist begibt, um seine Âventiuren zu bestehen.
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bar, sobald er sich auch formal dem Hof anschließt. Im Dovrefjell kann Sigmundr in seine spätere Rolle initiiert werden, und erstmals seine Tauglichkeit im Rahmen des ›höfisierten‹ Erzählprinzips unter Beweis stellen.158 Andererseits jedoch befindet sich aber an einem Ort, der, zumal in seinem Symbolgehalt für das norwegische Reich, das raumsemantische Gegenbild des färöischen Innenraums in der Færeyinga saga darstellt, wie unter 2.3 aufgearbeitet. Dieser war das ursprüngliche Zentrum von Sigmundrs Identität und stellt eigentliche Ziel seines Verlangens dar, zum Herrscher aufzusteigen. Doch davon entfremdet sich Sigmundr in der Zeit seiner Ausbildung im Exil zunehmend. Die ›höfisierte‹ Ausbildung, die der ›Held‹ im Dovrefjell erhält, wertet unmerklich auch die Parameter seiner Identität um. Nunmehr ist diese nur noch vom Zentrum des norwegischen Hofes aus funktional. Das ideelle Zentrum von Sigmundrs Figurenanlage und Handlungsweise wechselt: Er wird in Bezug auf seine Rolle an Hákons norwegischen Hof in ›höfisierten‹ Erzählstrukturen eingefasst, nicht länger hinsichtlich seiner legitimen Herrschaft auf den Färöern. Elemente des DovrefjellAbschnitts unterstreichen daher insbesondere Sigmundrs Gegensatzkonzeption zu der Þrándrs. In dessen Familie scheinen etwa auch Frauen nur eine marginalisierte Rolle einzunehmen, während Sigmundrs Assoziation mit dem norwegischen Reich bereits durch die Herkunft gerade seiner Mutter genealogisch vordeterminiert ist, und er im Dovrefjell mit seiner große Liebe Þuríðr die gemeinsame Tochter Þóra zeugt. Zudem erhält Sigmundr vielsagender Weise einen Outlaw als Rollenmodell und Ausbilder.159 In direkter Konfrontation mit Þrándr auf den von ihm dominierten und gegen jede Form von Fremdheit abgeschirmten Färöern, wird sich diese erzählerische Inszenierung der Sigmundr-Figur als entscheidende Bruchstelle seines gescheiterten Versuchs der Rückeroberung des väterlichen Erbes erweisen. In diese, im späteren Verlauf der Erzählung fatale Rolle wird Sigmundr im Dovrefjell gleichsam initiiert. Die hier ausgearbeitete Argumentation trifft auf die Redaktionen der Færeyinga saga in den übrigen Versionen der Óláfs saga Tryggvasonar dabei nicht oder nur sehr bedingt zu. Auch in diesen fungiert der Geächtete Þorkell als Sigmundrs Ausbilder und auch hier zeigt sich Sigmundr durch den Übertritt des Verbots und die Tötung des Bären als ›heroischer‹ Krieger, doch gehen beide Erzählkonzepte von Sigmundrs Heldentum eher ineinander auf, als eine Bruchsituation gegeneinander zu ergeben. Die herrschaftlich-symbolische Aufladung des Dovrefjell und damit Sigmundrs enge Knüpfung an den norwegischen Hof lässt sich auch hierher nachver-
158 Aufgrund der Raumdichotomie im höfischen Roman, muss die Âventiure-Handlung in einem anderen Raum als dem ideell als perfekt inszenierten Zentrum stattfinden, vgl. Schulz 2015, S. 127. Sigmundrs Tauglichkeit vor dem Hintergrund der ›höfisierten‹ Großstruktur seiner Konstruktion kann somit nur ein einem Ort außerhalb des Hofes erfolgen, wozu das Dovrefjell mit seiner Raumsemantik prädestiniert scheint. 159 Zur Bedeutung des Ächter-Elements vgl. Harlan-Haughey 2015, S. 362; siehe auch Kap. 4.2.4 u. Kap. 4.3.2.
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folgen. Allerdings fungiert das Dovrefjell in diesen Versionen wesentlich weniger deutlich als ›Nicht-Ort‹, besonders in narrativer Hinsicht. Die starke Markierung des Einödhofs und seiner Bewohner durch Motivverwendung aus den Bereichen von ›Folktales‹ und Märchen wird entdramatisiert.160 Auch die retrospektive Erzählung von Þorkells Schicksal nach Sigmundrs Anbindung an Hákons Hof wird linear eingepasst und seine metadiegetische Lebensgeschichte ›logischer‹ eingeflochten, indem sie von Anfang an aus der Ich-Perspektive von ihm erzählt wird.161 ›Logischer‹ und weniger märchenhaft wirkt auch, dass die Jungen nicht erst im Moment ihres Abschieds nach ihrer Herkunft gefragt werden, sondern unmittelbar nach ihrer Ankunft auf dem Hof.162 Dadurch, dass Sigmundr in diesen Redaktionen später nie wieder in der Gesellschaft von Geächteten auftritt, wirkt auch Þorkells Dasein als solcher weniger als Vorausdeutung: Er ist ein im Grunde guter, zu Unrecht geächteter Mann, der bald seine Erlösung durch die Mithilfe Sigmundrs erreichen kann. Damit wird der Fokus mehr auf Sigmundr denn seinen Ausbilder verschoben. Er hilft diesem, sobald er die Gelegenheit dazu erhält, anstatt dass Þorkell und seine Darstellung intrinsisch mit der problembehafteten Identität seines Zöglings rückgebunden würden. Der Abschnitt dient so eher der Präsentation eines jugendlichen Abenteuers des Protagonisten Sigmundr, die zwar ebenso daraufhin abzielt, ihn in seine spätere Rolle zu initiieren, ihn aber wesentlich weniger stark mit narrativen Bruchstellen und Fehlassoziationen im Vergleich zu seinem Kontrahenten konfrontiert, sondern vielmehr lebhaft von der Phase der schweren Kindheit in ein heldenhaftes Erwachsenenalter überleitet.
4.2.4 Der Weg des Kriegers: Sigmundr in Hákons hirð Sigmundrs Initiation in seine spätere Rolle ist im Moment des Abschieds vom Ziehvater noch nicht vollends abgeschlossen. Oberflächenstrukturell zieht sie sich weiter über seine Ankunft am Hof Hákons bis zu seiner letztendlichen Rückkehr auf die Färöer, weil die Erzählmatrix seiner legitimen Herrschaft dort eine Fortsetzung des Plots in dieser Richtung verlangt. Jedoch hat sich das Zentrum von Sigmundrs Leben bereits unwiederbringlich verschoben. Es liegt nach der Ausbildung bei Þorkell nunmehr in der Kriegeraristokratie am norwegischen Hof, in die er eingehen muss. Sobald er von Hákon eine erste Erlaubnis zum Wikingerzug und, dank der Mithilfe von dessen Söhnen, auch eine entsprechende Ausrüstung erlangt hat, etabliert er sich dort entsprechend vollends als Krieger. Seine in den folgenden vier Kapiteln auserzählten Wikingerzüge wurden als »stereotyp und schablonenhaft«
160 Vgl. bereits Kap. 2.3.2.2; siehe auch Kap. 7.2. 161 Siehe Fær, S. 32–36 (Text A u. D) zur Lebensgeschichte Þorkells; S. 41–42 (Text A u. D) zur linear eingebauten Achtlösung. 162 Siehe Fær, S. 25–26 (Text A u. D).
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kategorisiert.163 Tatsächlich laufen alle nach einem sehr ähnlichen Schema ab. Sigmundr sieht sich von einer Anhöhe aus wie ein Kundschafter zunächst persönlich um. Er erkennt die lauernden Gefahren in Form von in der Nähe ankernden Wikingerschiffen, kehrt zu seiner Mannschaft zurück und warnt sie, sich vorzubereiten. Tags darauf kommt es zum Kampf, dessen Taktik Sigmundr bestimmt, und den er stets selbst in vorderster Front bestreitet, während seine Männer ihm treu und tapfer folgen.164 Die Inszenierung der Kämpfe ist deutlich hyperbolisch. Erneut zeigt sich in dieser abschließenden Sequenz von Sigmundrs Aufstieg in Norwegen eine Doppelcodierung seines erzählstrategischen Aufbaus als Figur. Während Ton und Duktus der Erzählführung sich Mustern annähern, die in ihrer reduzierten, schalonenartigen ›Flächenhaftigkeit‹ im altnordischen Bereich insbesondere aus den Fornaldarsögur, genauer der Untergruppe der ›Wikingersagas‹, bekannt sind,165 verweist die Erzählstruktur erneut auf die ›höfisierte‹ Großmatrix von Sigmundrs Figurenanlage. Konzeptionell setzt dieser Erzählabschnitt insofern Sigmundrs Anreicherung mit der distinkten Oberflächentextur der Märchenmotivik des Dovrefjells in Variation fort, wie bereits unter 2.3.2 argumentiert. Inhaltlich folgt
163 Bick 2005, S. 6. 164 So in den Kämpfen gegen Randvérr (Fær c. 18, S. 40–41) und Vandill und Aðill (c. 19–20, S. 43– 44). Im Kampf gegen Bjǫrn (c. 19, S. 42–43) dazwischen und dem abschließenden Kampf gegen Haraldr járnhauss (c. 21, S. 45) unterbleibt jeweils Sigmundrs Erkundungsgang. Nur im letzten Kampf wird auch keine Schilderung von Sigmundrs Bestimmungen hinsichtlich der Schlachttaktik und seiner führenden Rolle im Kampf vorgenommen. In den drei übrigen Kämpfen erläutert er seinen Männern hingegen zunächst, wie der Kampf ablaufen soll. In den Kämpfen gegen Randvérr und Vandill entert Sigmundr jeweils als erster das gegnerische Schiff und fordert seine Krieger auf, mannhaft zu folgen. Auch in der Feldschlacht gegen Bjǫrn steht er an der Spitze seiner Schlachtreihe. 165 Die Fornaldarsögur werden verschieden unterteilt, als Überblick siehe Beck 1995, S. 336. Allen Unterteilungen ist aber eine Trennung zwischen Heldensagen-basierten Sagas und Texten gemein, die Lebensbeschreibungen von (Wikinger-)Kriegern aus der Zeit vor Islands Besiedelung im nordischen Raum in abenteuerlicher Stilisierung bearbeiten. Die hier verwendete Einteilung und Terminologie, inbesondere der Terminus »Wikingersagas«, folgt Schier 1970, S. 72–91; vgl. auch Schier/Heizmann 2009b, S. 95. Besonders diese Gruppe von Vorzeitsagas kennzeichnet eine »Neigung zur Reihung von Abenteuern, eine oft schematische Personenzeichnung, zuweilen eine ermüdende Lust an langen Kampfschilderungen« (Schier/Heizmann 2009b, S. 94) und »inhaltlich ein gewisse[r] unrealistisch-phantastischer Charakter« (Beck 1995, S. 335). Dies unterscheidet die Textgruppe grundsätzlich von den Isländersagas mit ihrem häufigen Lemma des ›Realismus‹. Eine solche Gattungsdefinition ist zwar weder in der einen noch der anderen Richtung tatsächlich befriedigend und insofern problematisch, jedoch unterscheidet sich der Erzählduktus der ›Wikingersagas‹ in seiner spürbaren Reduktion deutlich von der narrativen Komplexität wenigstens der als ›klassisch‹ erachteten Isländersagas. Der Erzählmodus dieser Texte erinnert so eher an die narrativ eindimensionale, ›flächenhafte‹ Erzählkultur des Märchens, vgl. Bausinger 1999, Sp. 259–260; zur in der vorliegenden Studie verwendeten Märchendefinition insgesamt Kap. 2.3.2.2. Aus Märchen werden so auch nicht selten motivische Anleihen aufgenommen, vgl. Schier/Heizmann 2009b, S. 94. Zu Bedenken ist hierbei indes, dass Wikingerzüge auf Auslandsepisoden in den Isländersagas im Rahmen von deren »Travel Pattern« (vgl. Lönnroth 1976, S. 71–76; siehe hierzu bereits Kap. 2.3) eine nicht unähnliche Neigung zur flächenhaften Kampfschilderung in abenteuerlicher Manier aufweisen.
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er dabei der ›höfisierten‹ Struktur, die Sigmundrs herrschaftliche Legitimität seinem Leben von Beginn an eingeschrieben hat, und die durch Þorkells Ausbildung weiter herausgebildet wurde. Hier nun, in seinem Dienst in Hákons Gefolgschaft, erweist Sigmundr in dreimaliger Wiederholung seine Würdigkeit als höfische Figur. Er ist mit vollem Recht Angehöriger des Hofes, seinen Aufgaben dort gewachsen und deshalb auch rechtmäßiger ›Held‹, im Zeichen seiner ordnungsgemäßen Sanktionierung ebenso wie in narrativer Hinsicht als Fokusinstanz der Erzählung. Die vervielfachten Wikingerzüge aktualisieren somit das höfische Âventiure-Prinzip in struktureller wie auch inszenatorischer Hinsicht.166 Doch scheint sich das aus dieser Stilisierung resultierende Muster nur auf den ersten Blick »schablonenhaft« zu wiederholen: Insgesamt sind auch Sigmundrs Wikingerjahre von einer graduellen Entwicklung, einer aufsteigenden Tendenz und sogar einer zunehmenden Emanzipation in seiner Handlungsmacht gekennzeichnet. Die folgenden Überlegungen betreffen dabei erneut nur die Færeyinga saga, wie sie die Flateyjarbók überliefert. Sigmundrs Zeit an Hákons Hof vor seiner Rückkehr auf die Färöer wird in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta anderweitig nur suammarisch zusammengefasst: [F]oro þeir Sigmundr i hernat vm sumarit. komo at hausti aptr við mikin afla ok herfang. voro þeir frændr með jarlínum vetr anan vel halldnir. komz Sigmundr þa ihína mestu kærleika við j(arl) ok gerðiz hirð maðr hans. […] for nu sva fram .íííȷ ́. vetr. at Sigmundr var með jarlínum um uetrum með hinni mestu virþing. en for ihernat vm svmrum ok aflaði ser fiar ok ꜳgiætis i fræknligum fram gỏngum ok mỏrgum frægdar verkum.167 (Sigmundr und sein Vetter gingen im Sommer auf Heereszüge. Sie kamen im Herbst mit großem Gewinn und Beute zurück. Die Verwandten waren einen zweiten Winter beim Jarl in guter Fürsorge. Sigmundr kam da in ein überaus herzliches Verhältnis mit dem Jarl und wurde sein Gefolgsmann […]. So ging es nun vier Jahre weiter, dass Sigmundr im Winter beim Jarl in höchster Ehre war. Aber er fuhr im Sommer auf Heeresfahrt und verschaffte sich Reichtum und Ruhm mit kühnem Vordringen im Kampf und vielen Ruhmestaten.)
Somit lässt sich hier keine graduelle Entwicklung der Sigmundr-Figur erkennen. Er ist ein Held, als er nach der Aufzucht durch Þorkell an den Jarlshof kommt, kann sich dort schnell ins Vertrauen des Jarls dienen und ist danach überaus erfolgreich in dieser Stellung. Zwar wird seine gute Beziehung zu Hákon herausgestellt, ein so
166 Im höfischen Roman muss der Protagonist wiederholt den Hof verlassen, um im Außen durch Âventiure-Handlungen dessen Ordnung zu restituieren und sich damit als tauglich und legitim zu erweisen, vgl. Schulz 2015, S. 243–271. Seine Gewaltanwendung und hintergründig ›heroische‹ Disposition kann dadurch im Sinne der höfischen Ordnung eingehegt und dienstbar gemacht werden, vgl. Schulz 2015, S. 72–73. Konzeptionell ist es dabei notwendig, immer wieder ähnliche Konfigurationen narrativ durchzuspielen, vgl. Schulz 2015, S. 343–346 mit dem Beispiel der Wiederholungsstruktur der Ehebruchsthematik im Tristan, siehe auch Warning 2003. 167 Fær, S. 38–44 (Text A; Version D ist durch die Auslassung jeglicher Informationen jenseits der Heerfahrten als solcher noch weit knapper und somit weniger ekstatisch-überschwänglich im Lobpreis Sigmundrs).
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enges Verhältnis wie in der Flateyjarbók aber wird aufgrund der Kürze der Erzählung nicht erzeugt. Sigmundr wird dadurch wesentlich stärker auf seine erst später erfolgte Bekanntschaft mit König Óláfr bezogen, während sein Verhältnis zu Hákon im Vergleich abgemildert erscheint.168 Er erreicht den Gipfel seiner persönlichen Entwicklung daher erst in der Zeit, die er an Óláfrs Hof verbringt, ist aber bereits vorher als in sich konstante Figur entworfen. In der Flateyjarbók aber wird Sigmundr in diesem Abschnitt graduell zur vermeintlichen Hauptfigur weiterentwickelt: So dient der erste Wikingerzug gegen Randvérr, den Sigmundr auch selbst in die Wege leitet, seiner initialen Etablierung als Kämpfer, sowohl an Hákons Hof als auch in der Realität eines wirklichen Schlachtfeldes. Zuvor hat er als Kind verbal Mut und Tüchtigkeit unter Beweis gestellt, seine Treue gegenüber dem verwandten Þórir auch in der Tat gezeigt und schließlich seine Kampfkraft in seiner ersten handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem Bären, also einem Tier, erprobt. Bei Randvérr handelt es sich nunmehr erstmals um einen menschlichen Gegner. Er besiegt ihn durch seine offenbar bei Þorkell erworbenen Fähigkeiten nach dramatischem Kampf: [N]u synir Sigmundr jþrott sína ok kastar suerde sínu ok fleygde j loft upp ok tekr vinstri hendi suerdít en skíolldinn hægre hendi ok hỏggr med suerdinu til Randuers ok tekr vndan honum fotínn hægra firir nedan kne Randuerr fellr þa Sigmundr uæitir honum halshỏgg þat er af tok hỏfudít.169 (Nun zeigt Sigmundr seine Fähigkeiten, und wirft sein Schwert hoch in die Luft und nimmt das Schwert mit der linken und den Schild mit der rechten Hand auf und schlägt mit dem Schwert nach Randvérr und trennt ihm das Bein unterhalb des Knies ab. Randvérr fällt da. Sigmundr schlägt ihm auf den Hals, sodass der Kopf abfiel.)
Diese Technik ist Sigmundrs ›Spezialwaffe‹, er setzt sie im Verlauf seiner Kämpfe in Norwegen später erneut ein.170 Als er im Jahr nach dem Kampf gegen Randvérr in Hákons Auftrag Schweden verheert, tötet er den landvarnarmaðr Vandill auf die gleiche Art und Weise: Sigmundr hefir id sama bragd sem fyrr skíptir vm| uopnn j hondum ser ok hỏggr hínne vinstri hendi til Vandils ok af honum hondína hęgra ok fell nidr suerdit þat er hann vegít med. Sigmundr georir þa skiott vm vid hann ok drepr hann.171 Ein drittes Mal zeigt Sigmundr die Kampftechnik, als er mit Hákon gegen die Jómswikinger zu Felde zieht:
168 Vgl. hierzu auch Kap. 7.4. 169 Fær, S. 41. 170 Alle Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta außer D berichten ebenfalls von dieser akrobatisch anmutenden Technik als Zeichen von Sigmundrs überragender Kampfesfähigkeit, siehe Fær, S. 44 (Text A). Sie entwickeln daraus aber anders als die Flateyjarbók-Version keine Tendenz in der Darstellung. Direkt auf die Erwähnung dieser Kampftechnik folgt der Vergleich Sigmundrs mit Óláfr Tryggvason, die Technik dient hier also der Unterstreichung der Parallele zwischen König und Untergebenem. 171 Fær, S. 44 (Sigmundr verfährt auf gleiche Weise wie zuvor, er wechselt die Waffen in den Händen und schlägt mit der Linken nach Vandill und trennt ihm die rechte Hand ab, und das
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[Þ]eir mætazst bratt Buí ok Sigmundr ok æigazst vid uỏpna skíptí er Buí madr sterkari en Sigmundr fímarí ok uígkęnní. Sigmundr skíptír en uopnum j hỏndum ser þuíat hann gerír ser badar hendr iafnn fímar til uígs at hafua en vid gatu faír menn geort e(dr) ỏngir ok j þessu suipan hỏggr Sigmundr hond af Bua j ulflid ok brátt adra […].172 (Bald treffen Búi und Sigmundr aufeinander und tauschen Hiebe mit den Waffen aus. Búi ist stärker, Sigmundr aber geschickter und kampftüchtiger. Sigmundr tauscht wieder die Waffen in den Händen, denn er ist mit beiden Händen gleich geschickt beim Töten, aber wenige Männer konnten widerstehen oder gar niemand, und in diesem Moment schlägt Sigmundr Búi die Hand am Gelenk ab und sogleich die andere […].)
Diese Kampftechnik findet drei Parallelstellen im Saga-Korpus: In der Droplaugarsona saga ermöglicht sie Helgi Droplaugarson den Sieg über Hjarrandi,173 in der Víglundar saga wird sie vom Protagonisten beherrscht 174 und in der Konráðs saga Keisarasonar175 wird sie im Katalog der Künste von Kaisersohn Konráðr aufgezählt.176 Dass die Technik bei ihrer ersten Anwendung als íþrótt bezeichnet wird, verdeutlicht, dass Sigmundrs Figurenzeichnung sich hier trotz ihres ›wikingischen‹ Gewandes in einem ›höfisierten‹ Modus bewegt: Er zeigt sich des verfeinerten Umgangs mit Waffen fähig, den auch ein Kaisersohn in seinem Repetoire hat.177 Sein
Schwert, mit dem er getötet hatte, fiel zu Boden. Sigmundr macht da kurzen Prozess mit ihm und tötet ihn). 172 Fær, S. 68. 173 Droplaugarsona saga, S. 164: Þá sýndi Helgi vígfimi sína ok kastaði upp skildi sínum ok sverði ok tók sverðit vinstri hendi ok hjó til Hjarranda, ok kóm á lærit (»Da zeigte Helgi sein Kampfgeschick und warf seinen Schild und sein Schwert in die Luft, ergriff das Schwert mit der linken Hand und schlug damit nach Hjarrandi, so dass es ihn am Oberschenkel traf«; Wamhoff [Übers.] 2011, S. 247). 174 Siehe Víglundar saga c. 16, S. 93: Þó þóttist Víglundr sjá, at honum mundi eigi endast at berjast við Jökul til þrautar saka sára ok mæði. Kastar hann þá upp skildinum ok öxinni, því at hann var jafnvígr báðum höndum, tók þá inni hægri hendi skjöldinn, en inni vinstri öxina; við því gat Jökull eigi sét, ok hjó Víglundr af honum höndina hægri í olbogabót (»Dennoch schien Víglund davon überzeugt zu sein, wegen seiner Verletzungen und seiner Müdigkeit nicht bis zum Äußersten weiterkämpfen zu können. Da wirft er seinen Schild und seine Axt in die Luft, da er mit beiden Händen gleich gut kämpfen konnte. Er fing den Schild mit der rechten, die Axt mit der linken Hand. Darauf war Jökull nicht gefasst, und Víglund schlug ihm den rechten Arm bis zur Ellenbeuge ab«; Esser [Übers.] 2011b, S. 226). 175 Konraðs saga, S. 44: Sw war onnur jþrott hans […], at hann kastadi vpp bædi senn skilldi sinum ok suerdi ok hendi ꜳ þannveg a lopti, at hann tok medalkafla suerdzins med þeirri hendi, er hann hellt adr a skilldinum, en skiolldinn tok hann med þeirri, er adr hiellt hann ꜳ suerdinu (Das war seine zweite Fertigkeit […], dass er sowohl seinen Schild als auch sein Schwert hochwarf, und es geschah so in der Luft, dass er das Metalstück des Schwertes mit der Hand ergriff, mit der er zuvor den Schild hielt, aber den Schild ergriff er mit der, mit der er zuvor das Schwert hielt). 176 Vgl. insgesamt Ólafur Halldórsson 1987, S. clxx–clxxii. 177 Die Kampftechnik scheint insgesamt als Ausweis höfischer Identität durch die hier genannten Quellen. Auch die Víglundar saga zeigt sich in Figurenkonzeption und Handlungsverlauf massiv durch die höfische Literatur beeinflusst, vgl. Kalinke 1994. Wenigstens bemerkenswert ist im hier untersuchten Zusammenhang, dass beide Isländersagas, die diese Kampftechnik kennen, auch eine Verbindung zu den Färöern aufweisen. Wie in Kap. 2.2 untersucht, flieht Droplaug, Helgis Mutter
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Waffengebrauch mutet durch die mehrfache Wiederholung gewissermaßen ritualisiert an.178 Seine Kampftechnik übersteigt so überbordende, ›heroische‹ Gewaltanwendung und stumpfes, ›wikingisches‹ Hauen und Stechen gleichermaßen. Sigmundr überkommt seine Gegner nicht allein wegen eines Überschusses an Kraft, sondern aufgrund einer überlegenen Technik, der íþróttir seiner Ausbildung, die klarmachen, dass er sich im Dienste des Hofes befindet, und durch ihre Anwendung den rechtmäßigen Lauf der Dinge garantiert. Gerade während seiner vordergründig ›holzschnittartigen‹ Wikingerzüge kennzeichnet Sigmundr also ein Waffengebrauch, der höher entwickelt ist, als nur banale Kraftanwendung auszudrücken. Hier zeigt er seine ›höfisierte‹ Identität und die dazugehörigen Fertigkeiten, die abseits ihrer äußerlichen Schematik konzeptionelle Potenz verraten. Auf seinen Wikingerfahrten im Dienst Hákons findet Sigmundrs Figurenkonzeption ihre Erfüllung – und er innerhalb der Diegese den größten Erfolg. Er beweist auf den ›heroisch‹ anmutenden Wikingerzügen in schematischer Weise wieder und wieder seine Tauglichkeit für den Dienst bei Hofe und besiegt seine Gegner auf geschickte Weise durch die Anwendung höfisch konnotierter íþróttir, die er von seinem Ziehvater erlernt hat. Dessen Bemühungen, Sigmundrs Disposition einen entsprechenden Rahmen zu verleihen, waren also erfolgreich: Der ›Held‹ auf Wikingerfahrt dient dem Hof, an den er sich angeschlossen hat, und findet dort auch seinen passenden Platz. Würde Sigmundrs genealogische Legitimität ihn nicht zur Rückkehr auf die Färöer drängen, wäre die Matrix seiner Figurenanlage in dieser Sequenz erfüllt: Auf Fahrten ins Außen des Jarlshofes setzt er dessen Ordnung durch und erweist sich damit immer wieder als tauglich. Dadurch schreibt er zeitweilig auch seinen zurückliegenden Lebensweg in diese Struktur ex post passend ein, er hat schließlich auch seine Jugendproben jenseits der Hofes in einem geeigneten, marginalen Raum absolviert. Vielsagender Weise geht seiner Inszenierung diese höfische Schablone auch hinsichtlich der Art und Weise seiner kriegerischen Betätigung im späteren, weniger schematischen Erzählverlauf verloren. Eine zweite, herausragende Geschicklichkeit im Umgang mit der Waffe beweist Sigmundr beim Überfall auf Ǫzurr, den Sohn des Mannes, der seinen Vater getötet hat, als er kunstvoll eine Wallmauer erklimmt: in der Droplaugarsona saga, dorthin, als sie sich mit einem Mordprozess konfrontiert sieht. In der Víglundar saga ist Þorbjörg, die Mutter der Angreifer, die Víglundr mit seiner Technik besiegen kann, die Tochter Lón-Einarrs, der, wie ebenfalls in Kap. 2.2 untersucht, in der Hauksbók-Landnáma aufgrund einer Walstrandung eine Zaubereiklage gegen eine Frau mit färöischen Eltern führt. Es liese sich spekulieren, ob die ursprünglich aus der Konráðs saga stammende Kampftechnik über die Færeyinga saga ihren Weg in gerade diese beiden mit den Färöern verbundenen Traditionen gefunden hat. 178 Zum ritterlichen Kampfzeremoniell vgl. Bumke 1986, S. 227–236; zum zugehörigen Tugendkatalog S. 413–430. Zur höfischen Natur und Konnotation der íþróttir vgl. Ebel 2001; Teichert 2014a, S. 5. Offenbar beinhaltet Þorkells ›höfisierte‹ Ausbildung Sigmundrs im Dovrefjell neben den betonten Schwimm- und Schießkünsten auch weitere, nicht genannte, wie diese Kampfkunst.
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Sigmundr ser j ænum stad at virkis ueggrinn var hrunin ok var þar *nokkuru auduelldra en annarstadar. S(igmundr) opar fra virkinu ok rennr at skeid ok sua langt upp j at hann færr krækt ỏxínne a virkis uegginn ok þa las hann sig skiott upp eftir ỏxar skaftinu.179 (Sigmundr sieht an einer Stelle, dass die Wallmauer eingefallen war, und dort war es etwas einfacher als andernorts. Sigmundr entfernt sich vom Wall und rennt auf den Abschnitt und so weit hinauf, dass er die Axt in der Wallmauer einschlagen kann, und dann zieht er sich schnell über den Axtschaft hinauf.)
Das Vorbild dieser Szene wurde in der Überlieferung der Sturlunga saga ausgemacht, und auch in der Eyrbyggja saga und der Vatnsdœla saga finden sich Parallelen.180 Der Kampf aber, der entbrennt, nachdem Sigmundr die Mauer erklommen hat, ist nur kurz: Sigmundr macht seine beiden Gegner, darunter auch Ǫzurr, wenig elaboriert durch einen Axthieb in die Brust nieder, nachdem er jeweils einen Schlag pariert hat.181 Eine Kombination aus Geschick und körperlicher Kraft stellt Sigmundr auch während der noch späteren, direkten Auseinandersetzungen mit Þrándr unter Beweis. Auf See von Þrándr und seinen Männern überrascht, befiehlt Sigmundr den mit ihm im Boot befindlichen Þórir und Einarr, die Wanden des gegnerischen Schiffs zu durchtrennen, sodass sich das Segel verheddert. Er selbst þrifur upp fork æinn […] ok rekr vt j hufin a skipe þeirra suo hart at þui næst horfdi kiolrinn upp a skipenu hann færde forkinn j þann huf skípsins er seglit hafde ofan farít ok *þagat halladizst adr. þui huelfdi skipinu skiott med þui at hann fylgde at med ollu aflí.182 (ergreift einen Bootshaken […] und treibt ihn in die mittlere Wand ihres Schiffs, so stark, dass danach der Kiel des Schiffs auftauchte. Er führte den Haken in die Wand des Schiffs, wo das Segel heruntergekommen war, und dorthin neigte es sich zuvor. Deswegen kenterte das Schiff rasch, als er mit aller Kraft zog.)
Auffällig ist an diesen späteren Darstellungen von Sigmundrs Kampfgeschick im Vergleich zu seinem Waffenwechsel im direkten Dienst des Jarls eine stärkere ›Islandisierung‹. Während sein íþrótt auch von einem Kaisersohn beherrscht wird, scheint das Erklimmen eines hölzernen Walls unter Zuhilfenahme einer Axt ganz und gar dem isländischen Bauernmilieu angeglichen und findet seine Parallelen auch ausschließlich in einem solchen Kontext. Und auch das Kenternlassen eines Schiffes auf der Passage durch rohe Körperkraft zeugt nicht von einer verfeinerten Anwendung von Sigmundrs Kampfkunst. Zu diesem Zeitpunkt, als Sigmundr als Lehnsmann des norwegischen Hofes auf den Färöern regiert, hat er auch die ›höfisierten‹
179 Fær, S. 55. 180 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxii–clxxiii. Für die Quellenstellen siehe Íslendinga saga c. 29, S. 259 u. c. 74, S. 333; Eyrbyggja saga c. 62, S. 167; Vatnsdœla saga c. 30, S. 83–84. 181 Siehe Fær c. 24, S. 55–56. Ǫzurr schlägt er dabei in Korrespondenz zu seinen Wikingerkämpfen zunächst noch die Hand ab – augenfälliger Weise aber, ohne seine eigentliche Waffentechnik einzusetzen. 182 Fær, S. 83.
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Erzählschemata seiner Zeit der Wikingerfahrten hinter sich gelassen. Er kämpft hier nicht mehr ausgezeichnet durch eine besondere Technik, sondern basiert auf schlichter, physischer Kraft, mit einer Axt statt eines Schwertes, letztlich nicht länger ›höfisiert‹, sondern ganz wie ein wikingischer Krieger, der sein Gegenüber durch ›heroischen‹ Kräfteüberschuss besiegt und dazu nur verhältnissmäßig rudimentäre Geschicklichkeit benötigt. Das taktische Geschick, das ihn auf seinen Wikingerfahrten auszeichnet, auf denen stets er die Kampfpläne aufstellt, besitzt er nichtsdestoweniger auch noch in den tätlichen Auseinandersetzungen mit Þrándrs Männern. Die Idee, das gegnerische Schiff zum Kentern zu bringen und die genaue Vorgehensweise schlägt er den anderen beiden Männern vor, die ihn um Rat fragen. Ebenso bestimmt er beim ersten Überfall Þrándrs auf Lítla Dímun die Taktik, sich zu trennen und am Landungsaufgang wieder zusammenzutreffen, um den Gegnern zu entkommen. Problemlos schaltet er dabei seine Gegner aus und springt über die Klippe der Insel auf den Strand hinab.183 Auf die gleiche Weise entkommt er bei Þrándrs drittem Überfall zunächst dem Angriff, und erschlägt einen seinen Verfolger in einem halsbrecherischen Manöver: [L]itlu sidar hleypr madr yfir gíana at þeim Þrandi ok hoggr med suerde til Steingrims nabua Þrandar ok klyfr hann j herdar nidr ok var þar S(igmundr). hann hlepr þegar ỏfugr aftr yfir giana.184 Auch wenn er sein Wikingerleben zu diesem Zeitpunkt hinter sich gelassen hat: Im Kampf und dessen Taktiken sowie hinsichtlich körperlichen Geschicks hat Sigmundr wenigstens auf den Färöern nicht seinesgleichen. Wenn Sigmundr seine ›höfisierten‹ Kampftechniken hier nicht mehr einsetzt, so auch deswegen, weil er es gar nicht zu tun braucht. Dass das ›höfisierte‹ Prinzip in der Darstellung allerdings nicht mehr zum Tragen kommt, gar nicht mehr zum Tragen kommen kann, ist das Grundübel von Sigmundrs Rückkehr, wie unter 4.3 näher zu zeigen. In der Intensität des Kampfes und der Stärke seiner Gegner zeigt sich für Sigmundr anhand seiner Waffenwechsel-Kampftechnik indes eine Steigerung. Überkommt er auf diese Weise zunächst einen einfachen Wikingerführer und beweist in der Kampfszene erstmals sein überlegenes Geschick bei der Anwendung seiner íþróttir, so sind die folgenden Gegner, die er dadurch besiegt, ein Verteidiger des schwedischen Reiches und schließlich, mit dem Jómswikinger Búi, eine substanzielle Bedrohung der Herrschaft seines Herrn, der Jarl Hákon sonst nichts entgegenzusetzen weiß.185 Während sich die äußeren Umstände und Schwierigkeiten allerdings 183 Fær c. 36, S. 82–83. 184 Fær, S. 85 (Wenig später springt ein Mann über die Schlucht auf Þrándr und seine Leute zu und schlägt mit dem Schwert nach Steingrímr, dem Nachbarn Þrándrs, und spaltet ihn zwischen den Schultern, und dort war Sigmundr. Er springt sogleich rücklings wieder über die Schlucht). 185 Fær, S. 67: Es heißt, Jarl Hákon habe alle seine Männer aufgefordert, at reka þenna uiking af hỏndum ser (diesen Wikinger vor ihm [zu] vertreiben), doch nu ser Hakon j(arl) at æingi uerdr til þessa þrekuirkis j motí Bua (nun sieht Jarl Hákon, dass niemand diese Heldentat gegen Búi vollbringen wird), sodass er sich an Sigmundr wendet. Búi wird dadurch als entsprechend prominenter Gegner gezeichnet, Sigmundr ist die letzte Hoffnung des Jarls auf einen Sieg gegen die Jómswikinger. Bemerkenswert ist, dass einzig die Færeyinga saga selbst die Tradition von Sigmundrs Teilnah-
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potenzieren, bleiben Sigmundrs Technik und entsprechend seine Disposition als Figur in sich gleich, was durch die Verwendung des Adverbs enn in der dritten Szene auch sprachlich verdeutlicht wird. Sigmundr tut, was er immer tut. Auch wenn die Gegner bedrohlicher werden, so kann sich doch von Anfang an (fast) niemand im Kampf mit ihm messen. Als der ›Held‹, der er seinem Wesen nach ist, ist Sigmundr allen anderen Kriegern von Grund auf überlegen. Diese Tatsache wird von Anfang an deutlich, und auch, wenn Sigmundr sie wieder und wieder unter Beweis stellen muss, so findet doch keine Entwicklung in seiner Figur statt. Seine innere Disposition war und ist stets die Gleiche des unanfechtbaren Kriegers. In anderer Hinsicht jedoch zeigt sich sehr wohl eine Entwicklung in Sigmundrs Figurenzeichnung während dieses Erzählabschnitts. Denn dieselbe Potenzierung, die die Stärke und Bedrohlichkeit seiner Gegner auszeichnet, zeigt sich in Sigmundrs Wikingerzügen an sich. Nachdem Randvérr besiegt ist, hat er sich genug Beute und damit Ruhm erstritten, um in Hákons Vertrauen aufgenommen zu werden. Er wird Teil von Hákons hirð und in der Folge mit entsprechenden Ehrerbietungen behandelt.186 Nachdem sich Sigmundr durch die unter Beweis gestellte Initiative – sich selbst genug Unterstützung beschafft zu haben, um den Wikingerzug und den Kampf gegen Randvérr erfolgreich zu bestreiten187 – selbst í ætt geführt hat, ganz nach Hákons Wunsch, gibt er diese Initiative
me an dieser Schlacht kennt (vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clviii–clxv samt eingehendem Durchgang der verschiedenen Texte) – umso größer der Ruhm Sigmundrs bei dieser Begebenheit. 186 Hákon hat Sigmundr bei seiner ursprünglichen Ankunft ehrenvoll, nicht aber unumschränkt positiv empfangen: Er weist ihm einen Platz hia gestum sínum (unter seinen Gästen) zu, verlangt aber einen Beweis von Sigmundrs Abstammung (Fær, S. 37–38). Als dieser darauf drängt, auf Víking fahren zu wollen, erhält er von Hákon vinmæli (Freundschaftsversicherung), aber die Warnung, seine Mannschaft selbst sorgsam auszuwählen, da flestir munu ekki fusir at fylgia þer vtlendum manni ok vkunnum (Fær, S. 39; ›die meisten nicht bereit sein werden, dir, einem ausländischen und unbekannten Manne zu folgen‹). Nach seiner Rückkehr empfängt ihn der Jarl freundlich. Sigmundr wird in diesem Winter ein frægr madr miok (sehr berühmter Mann), hird madr Hakonar j(arls) (ein Gefolgschaftsmann Jarl Hákons) und verbringt die Zeit am Jarlshof j godum fagnade (Fær, S. 41; in guter Bewirtung). Im nächsten Frühling muss er sich seine Mannschaft nicht mehr selbst aussuchen: Hakon j(arl) færr þa æínuala lid Sigmundi. af hird sinne sumt leidangurs lid (Fær, S. 42; Jarl Hákon verschafft Sigmundr dann eine erlesene Mannschaft aus seinem Gefolge, zum Teil ein Heerbann). Nach seiner Bewährunsprobe gegen Randvérr gibt es von Seiten des Jarls und seiner Männer keine Zurückhaltung mehr gegenüber Sigmundr, sondern er ist akzeptiertes und vollwertiges, geschätztes Mitglied der Hofgemeinschaft. 187 Sigmundr muss sich seine Mannschaft zunächst selbst aus den am Hof Anwesenden aufstellen. Auch drängt er, nachdem ihn Hákon unter seinen Gästen platziert hat, von selbst darauf, j hernat (auf Heerfahrt) ziehen zu können, wozu er die Erlaubnis und Unterstützung des Jarls benötigt. Dazu spricht er zunächst dessen Sohn Sveinn an und bittet diesen um ein gutes Wort bei seinem Vater, nachdem er ihn durch die Vorführung seiner fimlæika (Fær, S. 38; Geschicklichkeit) von sich überzeugt hat. Anschließend wendet er sich auch an Eiríkr, Hákons zweiten Sohn. Eiríkr verspricht ihm, bei seinem Vater für ihn vorzusprechen und stattet ihn im Anschluss an Hákons Erlaubnis mit einem Schiff at ỏllu uel buit (Fær, S. 39; in jeder Hinsicht gut ausgestattet) aus. Sveinn gibt ihm trotz betont geringer Ressourcen ein drittes Schiff mit vierzig Mann aus þíonustu menn
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allerdings vollständig an seinen Herrn ab. Mit Hákons Frage konfrontiert, wohin er seine nächste Fahrt unternehmen wolle, antwortet Sigmundr im folgenden Sommer, at þat skyllde a hans [Hákonar] forsio.188 Hákon schickt ihn auf eine Strafexpedition nach Schweden, wo einige von Hákons Gefolgsmännern zuvor getötet wurden. [V]oru nu allír fusír til Sigmundar,189 sodass er mit großem Gefolge aufbrechen kann. Auch Sigmundrs zweite Fahrt gestaltet sich für ihn äußerst ruhmreich: So fällt er erfolgreich in Schweden ein, verheert das Land und macht reiche Beute. Zudem tötet er zunächst den schwedischen syslumaðr Bjǫrn und kämpft anschließend gegen die vom schwedischen König eigens gegen ihn gesandten landsvarnarmenn Vandill und Aðill, wobei er Vandill, wie oben beschrieben, töten kann und Aðill in die Flucht schlägt.190 Als Sigmundr an Hákons Hof zurückkommt, wird er reich belohnt.191 Sigmundrs dritte Fahrt im Sommer nach seiner Schweden-Heerfahrt ist schließlich der Auftrag, als Hákons persönlicher Henker zu fungieren und den Outlaw Haraldr járnhauss zur Strecke zu bringen. Dieser Auftrag beweist Hákons nunmehr volles Vertrauen in Sigmundr, und erweist Sigmundr sowohl als vollwertiges Mitglied des Jarlshofs, als auch am Ende seiner Einführung ins Kriegerleben angelangt. Haraldr ist der einzige Gegner, auf den Sigmundr trifft, den er nicht ohne Weiteres erschlagen kann, wobei er gegen Haraldr auch nicht dazu kommt, seine Kampftechnik einzusetzen. Nach einem vollen Tag der Schlacht bietet ihm Haraldr hingegen Frieden und ein Bündnis an. Sigmundr jedoch kuat æínn hlut firir standa at þeir munde æigi sættazst,192 nämlich der Auftrag seines Herrn. Bereits hier zeigt sich ein Muster, das sich in Sigmundrs späterem Leben oft wiederholen wird. Er ist innerlich nicht bereit, aufzugeben, solange der Auftrag seines Lehnsherrn nicht erfüllt ist, doch richtet er sich ebenso bereitwillig nach der Meinung der ihn umgebenden Mehrheit an Männern: [N]u attu menn þeirra hlut at med þeim til sættar ok verdr þat at þeir sættazst.193 Er stellt so in der Konfrontation mit Haraldr erstmals seine sozialen Bindungen über seine eigenen Überzeugungen und expliziten Aufträge des Ho-
mínir ok vænti ek at þeir fylgi þer bezst (Fær, S. 39; ›meinen Dienstmannen. Und ich vermute, dass sie dir am besten folgen werden‹). Durch die geschickte Verbindung mit der Jarlsfamilie und eigenen Antrieb hat sich Sigmundr so binnen seines ersten Winters am Hof von geringer Basis ausgehend zur Führung von 120 Mann hochgearbeitet. 188 Fær, S. 42 (dass das nach seinem [Hákons] Willen geschehen solle). 189 Fær, S. 42 (Nun waren alle bereit, Sigmundr zu folgen). 190 Siehe Fær c. 19–20, S. 40–45. 191 Fær, S. 45: [F]agnar [Hákon] vel Sigmundi […] ok þakkar honum þessi verk […] skortir nu æigi fe ([Hákon] begrüßt Sigmundr […] wohl und dankt ihm diese Tat […]. Es fehlt nun nicht an Beute). Der Hinweis auf das überreich vorhandene fé darf wohl so gedeutet werden, dass der Jarl Sigmundrs eroberte Reichtümer an ihn und seine Männer zurückverteilt. 192 Fær, S. 45 (sagte, eine Sache stünde dagegen, dass sie Frieden schlössen). 193 Fær, S. 45 (Nun kümmerten sich ihre Männer darum, dass sie Frieden schlossen, und es geschieht, dass sie sich vergleichen).
4.2 Sigmundrs Persönlichkeit
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fes. Später wird Sigmundr sich oft den ord godra manna beugen,194 die sich in seinem Konflikt mit Þrándr für diesen einsetzen. Dies tut er, obwohl seine Aufträge eigentlich anders lauten, und obwohl er ahnt, dass ein anderes Vorgehen ein für ihn besseres Ergebnis bedeuten würde. Anders als bei persönlichen Vorausdeutungen auf sein eigenes Schicksal, das gewendet werden könnte, würde er auf die damit einhergehenden Ratschläge hören, orientiert sich Sigmundr in solchen Angelegenheiten jedoch an den Meinungen anderer Menschen, die er nicht ad hoc ändern kann. Negative Folgen entwickelt diese soziale Handlungsmaxime in ihrer vollen Konsequenz dabei erst im späteren Verlauf der Erzählung. Für den Moment kann sie noch aufgefangen und abgefedert werden – hauptsächlich, weil der Bruch Sigmundrs mit dem Willen seines Herrn Hákon für die finale Etablierung seiner Figur notwendig ist, aber auch, weil Hákon sich als recht idealer Herrscher herausstellt.195 An diesen Stellen wird deutlich, dass es sich bei der Færeyinga saga um eine Erzählung handelt, die fundamental durch ihre isländische Herkunft und in der Darstellung Sigmundrs durch den Wertekanon geprägt ist, der für die isländische Literatur charakteristisch ist. »Ein an der Gemeinschaft orientiertes Verhalten ist gut«, wie Bick formuliert.196 Die Sagagesellschaft Islands ist vom Prinzip rechtlicher Gleichheit beherrscht,197 was dazu führt, dass dem Normensystem dieser Gesellschaft ein zutiefst soziales Prinzip als Handlungsmaxime für den Einzelnen eingeschrieben ist. Das Ideal besteht darin, »at handle på en sådan måde, at [man] forsvarer sin egen integritet uden unødigt at krænke andres.«198 Auf dieses Prinzip greift die Færeyinga saga in ihrer Modellierung Sigmundrs zurück und lässt dadurch erneut Bruchsituationen entstehen, die unter 4.3 näher aufzuzeigen sein werden. Denn der höfischen Erzählkosmos kreist zwar um die Problematik der Handlung des Einzelnen und der (hof-)gesellschaftlichen Anforderung, doch wird am Ende des höfischen Romans eine automatische Kongruenz zwischen der Idealität des Protagonisten und den Wertvorstellungen der Gesellschaft etabliert.199 Im ›heroischen‹ Erzählen ist das Zurücklassen von Normen in der Heldenfigur hingegen von vorne herein conditio sine qua non der Plotentwicklung, gleichviel, ob die Taten des Helden nachgerade als sozial positiv oder destruktiv aufgefasst werden.200 In Sigmundrs Fall stehen sein Sozialethos und diese beiden Erzählparameter aber gegen-
194 Fær, S. 66 (Bitten guter Männer). 195 Vgl. hierzu auch Kap. 7.4.2. 196 Bick 2005, S. 12. »Gut« bedeutet in diesem Fall allerdings nicht mehr als ›moralisch wünschenswert‹, wie die Darstellung des unsozialen, aber ungleich erfolgreicheren Þrándr klarmacht. Zur Destillation einer Gesamtmoral der Færeyinga saga, wie Bick sie ableiten möchte, taugt diese Erkenntnis insofern deutlich nicht. 197 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 177–178. 198 Meulengracht Sørensen 1993, S. 203–204 (auf eine solche Weise zu handeln, dass man seine eigene Integrität verteidigt, ohne unnötig die anderer zu kränken). 199 Vgl. Schulz 2015, S. 243–244. 200 Vgl. Hoffmann 1987, S. 131. Zur zugehörigen Diskussion siehe auch Kap. 4.2.2.
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4 Sigmundr Brestisson
läufig zueinander. Er wird durch seine Anbindung und die Überlassung seiner Handlungsinitiative an den norwegischen Hof somit bald in einem weiteren Spannungsfeld gezeigt. Hákon verlangt von ihm die Ausschaltung Haraldrs, die soziale Umgebung, seine Männer, hingegen Frieden. Beide Anforderungen zugleich zu befriedigen, erweist sich als unmöglich: Sigmundr kann sich nur für eine von beiden Handlungsoptionen entscheiden.201 Nach dem Friedensschluss mit Haraldr kehrt Sigmundr so zum ersten Mal unruhigen Gewissens zu seinem Herrn zurück, und wagt, im Vertrauen auf seine zuvor ergeben erarbeitete Stellung, eine Konfrontation mit dem Jarl. Er versucht, für Haraldr Frieden von dessen Todfeind Hákon zu erwirken. Hákon verweigert sich dem wütend, bis Sigmundr droht, ihm die Gefolgschaft aufzukündigen: [T]il litils hefui ek þer þíonat ok æigi gods er ek skal æigi eínum manni fa grid ok sætt. skal ek j burt ór landi þessu ok þíona þer æigi leingr ok munda ek þat vilea at þer yrdít til hans at vinna nỏkkut adr en hann værí drepin.202 Sigmundr emanzipiert sich hier deutlich von Hákon. Während er vor diesem Ausbruch ehrerbietig gesprochen hat und versucht, durch den Verweis auf seine eigene Integrität und Haraldrs freiwillige Begleitung sowie das Aufbieten entsprechender Zahlungen, Hákon davon zu überzeugen, Haraldr entgegen seinem Willen zu verschonen,203 bricht er hier erregt in die informelle þú-Form aus, springt danach auf und verlässt den Hof, lässt seinen Worten also unmittelbar Taten folgen.204 Hákon, von dieser erneuten, plötzlich gezeigten Eigeninitiative Sigmundrs beeindruckt und besorgt, seinen offenbar besten Gefolgs-
201 Vgl. auch Andersson 1970 und sein Konzept der Ablösung des »heroic ideal« durch ein Sozialethos in den Isländersagas. 202 Fær, S. 46 (›Zu wenig Nutzen habe ich dir gedient und nicht zum Guten, wenn ich nicht einem Mann Frieden und Ausgleich schaffen kann. Ich will fort aus diesem Land und dir nicht länger dienen, und ich wollte, dass ihr über ihn siegen müsstet, ehe er getötet wird‹). 203 Siehe Fær, S. 46: [H]er er nu komin madrínn herra […] a yduart ualld ok ætla ek at þer munit taka sættum af Haraldi firir min ord […] ek vil bioda handsỏl min herra firir hann […] ok fe sua mikít sem þer vilit mest gera (›Hierher ist der Mann nun gekommen, Herr […] in Eure Gewalt, und ich möchte, dass Ihr einen Friedensschluss von Haraldr annehmt wegen meiner Worte […]. Ich will meinen Handschlag für ihn bieten, Herr […] und so viel an Gut, wie Ihr es am liebsten wollt). 204 Erneut zeigt sich hier die momentane Sprunghaftigkeit, die Sigmundrs Persönlichkeit als ›heroischer‹ Krieger auszeichnet. Er verabsolutiert seine Ehre, die in seinem Versprechen an den Freund und Verbündeten Haraldr liegt, und lehnt sich dafür sogar gegen seinen Herrn auf. An eine mögliche Zukunft denkt er dabei dezidiert nicht: Ohne Hákons Unterstützung wird er kaum seine Rache auf den Färöern durchführen können. Auch ist er seinem Herrn gegenüber eigentlich zu größerer Treue verpflichtet, als gegenüber einem vor kurzem erst getroffenen Outlaw. Doch in Sigmundrs Gedanken sind diese Erwägungen zweitrangig: Er hat sich aufgrund seiner Ehre wegen des Versprechens an seinen Verbündeten für die Machtprobe mit seinem Herrn entschieden und bricht diese Handlungslinie nicht ab, da jedwede Kurskorrektur seine Ehre schmälern würde. Die einmal getroffene Entscheidung, die erneut auf eine Erprobung seiner Kräfte hinausläuft, kann nicht zurückgenommen werden, und nur die Probe selbst diktiert Sigmundrs Vorgehen.
4.2 Sigmundrs Persönlichkeit
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mann zu verlieren, gibt daraufhin schnell nach und willigt in Sigmundrs Wünsche ein.205 Erst nach seiner treuen Etablierung an Hákons Hof und dem daraus folgenden völligen Verlust seiner Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit kann Sigmundr diese Konfrontation wagen, und sie trägt ihm großen Erfolg ein: Durch Hákons Einwilligung in Sigmundrs Bitte erkennt ihn dieser gleichsam als ihm gleichwertig an.206 Der Jarl zeigt dadurch, dass Sigmundr für ihn und seinen Hof unverzichtbar ist, und dass er seine Ehre und persönliche Integrität bedingungslos anerkennt. Obwohl Sigmundr offen seine Treuepflicht Hákon gegenüber gebrochen hat, geht der Jarl auf ihn ein, vergisst seinen Groll und erkennt Sigmundrs Bedingungen an, statt seinen Krieger aus seiner Gunst zu entlassen. Er gibt damit zu verstehen, dass er Sigmundrs Ehre nicht seiner eigenen unterordnet, sondern dass er Sigmundr neben sich akzeptiert, nicht als Untergebenen, sondern als selbstbestimmten und eigenmächtigen Freien von eigenem persönlichen Wert. Nach dieser Machtprobe ist Sigmundr schließlich etabliert genug, um sein Exil zu beenden und Hákon um die nötige Unterstützung zu bitten, um auf die Färöer zurückzukehren und seine ausstehende Rache ausführen zu können. Letztlich erst durch die Machtprobe mit Hákon konstituiert Sigmundr sich vollwertig als eigenständig handlungsmächtiges Subjekt der Narration.207 Nach Norwegen ist er ohne eigenes Zutun gelangt, den Entwicklungen dort hat er sich situativ ergeben und versucht, sie bestmöglich zu seinem Vorteil zu wenden. Er hat aktiv seine Position an Hákons Hof gesucht, aber erreicht hat er sie durch günstige Fügungen und gerade die Aufgabe seiner Initiative. Die gesamte Etablierung seiner Figur bis zu diesem Punkt der Erzählung dient allein diesem Ziel: Als großer Krieger und mit der Autorität ausgestattet, die auch seinen Vater zum Herrscher der Färöer gemacht hat, kann Sigmundr zurückkehren, um sein Lebensziel, die Vaterrache, durchzuführen, und seine rechtmäßige Stellung als Herrscher der Färöer einzunehmen. Sigmundrs Zeit in Norwegen wird so nach zwei konzeptionellen Großmatrizen auserzählt. Einerseits nach dem Schema seiner ›höfisierten‹ Legitimität: Durch all seine Taten in Norwegen erweist Sigmundr nur immer wieder – in einer auch an den seriellen Modus höfischen Erzählens erinnernden narrativen Stilisierung – dass er der rechtmäßige Garant der königlichen Ordnung auf den Färöern ist. Andererseits stellt seine schlussendliche, gleichberechtigte Anerkennung durch Hákon Sigmundrs gesamtes Jugendexil auch in strukturelle
205 Siehe Fær, S. 46–47: Direkt nach Sigmundrs Ausbruch hofft Hákon zunächst noch, dieser sei nicht ernst gemeint. Doch als seine Männer ihm das Gegenteil klarmachen, lenkt der Jarl sogleich ein und schickt Sigmundr Männer mit der Einwilligung in seine Forderung hinterher. Er gibt explizit zu, sich keinesfalls von Sigmundr trennen zu wollen. 206 Im Unterschied zu Sigmundrs späterem König Óláfr Tryggvason, vgl. hierzu Kap. 4.5; aus anderer Perspektive Kap. 7.4. 207 Vgl. auch Guldager 1975, S. 25.
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Parallele zum »Travel Pattern«, wie es aus den Isländersagas bekannt ist.208 Auch Sigmundrs Lebenslauf setzt seine ›Reise‹ in die Phase der Jugend: Aus den Färöern nach Norwegen gekommen, erweist er dort seine Qualitäten und kommt mit einem gesteigerten Kapital an Ruhm und Prestige in seine ursprüngliche Gesellschaft zurück, in der er dann aufgrunddessen eine gehobene Position einnimmt. Dabei ist sein Aufenthalt in Norwegen jedoch nicht lediglich jugendliche Episode, sondern ein prägender, langer Abschnitt seines Lebens. Zudem ist die Erzählschablone in Sigmundrs Fall durch ihre ›höfisierte‹ Matrix erheblich modifiziert, seine Rückkehr die des legitimen Herrschers. Der Topos der Auslandsreise wird in der Færeyinga saga so als das Aufwachsen des ›Helden‹ aktualisiert, und seine Bindung an den Hof ist keine Reise in ein fremdes Prestigesystem, sondern in das eigentlich ursprüngliche. Teil des Hofes zu sein, ist im Rahmen der ›höfisierten‹ Matrix Sigmundrs eigentliche Bestimmung. Vollständig hat Sigmundr die ihm gebührende Position in Norwegen erst erreicht, als er schließlich abreist. So »stereotyp und schablonenhaft«209 Sigmundrs Etablierung als Wikingerführer und Kämpfer im Auftrag seines späteren Lehnsherrn zunächst auch wirken mag, offenbart sie dennoch eine graduelle Entwicklung. Zunächst verdeutlicht er seine Disposition verbal, anschließend gegen einen Bären und letztendlich gegen Menschen, die sich vom Wikingerführer über Untergebene des schwedischen Königs bis zum einzigen gleichwertigen Gegner seines Lebens spannen. Die notwendigen Fähigkeiten für Sigmundrs späteres Leben werden in der Obhut seines Ziehvaters entwickelt, der Figur, die ihm zum zweiten Vater wird, und die seine Eigenschaften ebenso spiegelt, wie diese das Erbe von Sigmundrs Vater illustrieren. All dies geschieht in Norwegen, dem Land, mit dem er durch seine Mutter und den Lehnsdienst seines Vaters genealogisch wie herrschaftsrechtlich verbunden ist. Sigmundr ist zu dem Leben gleichsam prädestiniert, das er an Hákons Hof führt. Dort kann seine ›heroische‹ Kraft in geordnete Bahnen gelenkt und zielgerichtet eingesetzt werden, in Hákon hat er letztendlich einen Herrn gefunden, mit dem ihn eine tiefe persönliche Freundschaft verbindet, die ihre formale, bloß hierarchische Verbindung weit übersteigt.210 In Norwegen, letztendlich, hat er seinen Platz gefunden: Hier kann Sigmundr ganz er selbst sein und damit erfolgreich. In Diensten des Hofes, eng verbunden mit seinem Herrn, kann er einen legitimen Platz in der Ordnung einnehmen. Seine Kriegerpersönlichkeit kann optimal eingesetzt werden, um durch seine Wikingerexpeditionen die Ordnung von Hákons Hof auch nach außen hin zu stablisieren und durchzusetzen. Dabei ist weit nicht jede Episode seines Aufstiegs an diesem Hof gleich. Steigende Intensität zeichnet seine
208 Zur Strukturparallele zwischen Sigmundrs Exil und dem »Travel Pattern« vgl. Klettskarð 2000, S. 51–53; Harlan-Haughey 2015, S. 363. Siehe hierzu auch Kap. 2.3; zur Motivkette Lönnroth 1976, S. 71–76; Meulengracht Sørensen 1993, S. 220–226; ergänzend Boulhosa 2005, S. 182–197 209 Bick 2005, S. 6. 210 Vgl. Bick 2005, S. 7–8.
4.3 »Den ubrugelige hero«: Sigmundrs Herrschaft
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Bewährungsproben ebenso aus wie sein Verhältnis zu Hákon. Muss er sich zunächst dem Jarl beweisen und danach zu einem bloßen Befehlsempfänger werden, kann er sich zuletzt in seiner Rolle im Dienst des Jarls emanzipieren. Er gewinnt seine Eigeninitiative zurück und bringt den Jarl dazu, ihm als eigenständigem Subjekt Ehre zuzuerkennen und ihn sogar wie einen gleichwertigen Mann zu behandeln. Er ist vollwertiges Mitglied des Hofes, in vielen Schlachten erprobt und von hohem Wert bewiesen, von Hákon letztlich sogar als sozial gleichrangig bestätigt. Sigmundr hat in diesem Land das Maximum erreicht, das er erreichen konnte. Dennoch ist er erst in diesem Moment in der Lage und Position, seine Rückkehr einleiten zu können. Nach der so ausgreifend erfolgten Etablierung seiner Figur als großer Kämpfer – im Kontrast zu Þrándr – kommt es schließlich zum direkten Vergleich zwischen beiden Figuren. Doch ist dies zugleich der fatale Fehler. Sigmundr lässt durch seine Rückkehr den Lebensabschnitt hinter sich, der seine Erfüllung war. Auf den Färöern hingegen muss er sich mit Þrándr auseinandersetzen und letztendlich anerkennen, dass dessen Einfluss die Inseln in einer Art und Weise grundsätzlich verändert hat, die dafür sorgt, dass seine eigene Herrschaft dort nicht länger die legitime und richtige ist. So werden bereits in den Szenen von Sigmundrs Aufwachsen in Norwegen Hinweise auf sein späteres Schicksal und die Gründe seines letztendlichen Scheiterns angelegt: Er ist primär ein wenig langfristig denkender Krieger, der loyal seinem explizit norwegischen Herrn dient und vor allen Dingen dessen Willen in die Tat umsetzt, zugleich aber auch bereit, sich wider besseres Wissen nach der Meinung bzw. den Bitten einer öffentlichen Allgemeinheit zu richten. Zudem arbeitet seine Figurenkonstruktion mit Erzählmodellen und -schemata, die an den höfischen Roman erinnern, ist durchdrungen von Märchenmotiven und schließlich den übersteigerten Abenteuerberichten eines Wikingerlebens. All dies sind Erzählelemente, die sein Schicksal in Gegenüberstellung mit Þrándr letztendlich besiegeln.
4.3 »Den ubrugelige hero«: Sigmundrs Herrschaft Nach der über die Hälfte des bisherigen Textes einnehmenden Etablierung und Fortentwicklung der Sigmundr-Figur kehrt die Færeyinga saga zurück an ihren ursprünglichen Handlungsort. Auf den Färöern schließlich kommt es zur Konfrontation zwischen Sigmundr und Þrándr, und in dieser Konfrontation unterliegt Sigmundr. Denn im Moment seiner Rückkehr ergibt sich ein Bruch in der Erzählung: Diejenige Figur, welche in den zurückliegenden Abschnitten ausführlich als Hauptfigur des Erzählstranges im Fokus etabliert wurde, wird in ihrer tragisch anmutenden, letztendlichen Niederlage vorgeführt. Dies konterkariert die zuvor aufgebaute Erwartungshaltung der Rezipienten. Der ihnen zuvor eindringlich nahegebrachte Sigmundr wird letztlich doch nicht zum ›Helden‹ – im Sinne des eindeutigen Protagonisten – der restlichen Erzählung. Zwar bleibt er an der Oberfläche des Textes
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weiterhin Fokusfigur, doch werden seine Defizite als Herrscher in dem Moment deutlich, in dem er im direkten Vergleich mit Þrándr gezeigt wird. Er gerät angesichts von dessen Machtposition gerade in dem Augenblick, in dem er nach ausführlich vorbereitendem Aufbau als Subjekt der Erzählung hervortritt, wieder in den Hintergrund und in jene Rolle, die er als Kind auf den Färöern bereits hatte: Die eines passiv getriebenen Hindernisses der Vorherrschaft Þrándrs. Die bisherige Forschung zur Færeyinga saga hat Sigmundrs Scheitern in der Mehrheit darauf zurückgeführt, dass er eine »neue Ordnung« repräsentiere: Eine Abhängigkeit der Färöer vom norwegischen Herrscher, ein feudalaristokratisches Sozialsystem, den christlichen Glauben, mithin ein »mittelalterliches Weltmodell«.211 Zwar nennt diese Interpretation durchaus überzeugende Gründe, die für Sigmundrs Scheitern verantwortlich sind, jedoch erweist er sich tatsächlich noch multikausaler als ›unbrauchbarer Held‹ als durch eine bloße Symbolfunktion vor den bisher angesetzten, vermeintlichen Hintergrunddiskursen der Færeyinga saga. Einige der Gründe seiner Niederlage im Machtstreit auf den Färöern werden bereits im Zuge von Sigmundrs Figurenentwurf angelegt, treten jedoch erst deutlich sichtbar hervor und werden zu Nachteilen, sobald er sich in sein Heimatland begibt. Es ist letztlich Þrándrs in die diegetische Realität überführte Konzeption des narrativen Raumes der Färöer und das damit zusammenhängende Prinzip von Herrschaft,212 in das Sigmundr als der Mann, der er ist, nicht mehr passt. Sigmundrs Tod wird innerhalb der Færeyinga saga so von fünf hauptsächlichen Faktoren verursacht. Erzählstrukturell resultiert, erstens, sein Aufbau als liminale Figur in Bruchstellen, weil die in seiner Figurenkonstruktion bisher angelegten Erzählmatrizen entweder nicht zur Gänze auserzählt oder gebrochen und invertiert werden. Konzeptionell und zweitens ist sein Tod Konsequenz seiner Zuordnung zum norwegischen Raum und damit seiner ›norwegischen Identität‹ im Vergleich zu Þrándr. Ausgedrückt wird dies im Rahmen des Plots drittens anhand seiner Persönlichkeit als Krieger statt als Herrscher, und seinem damit einhergehenden Mangel an langfristigem, politischem Planungsvermögen. Daher gründet sich viertens seine Herrschaftskonzeption, im Gegensatz zu der Þrándrs, auf abstrakte Konzepte statt eine materielle Basis. Die fünfte Ursache seines Todes ist die Gehorsamsverweigerung gegenüber dem christlichen Missionskönig Óláfr Tryggvason. Im Folgenden sollen diese Faktoren kontrastiv zu Sigmundrs Widersacher Þrándr näher aufgearbeitet werden.
4.3.1 Sigmundr im Widerstreit divergierender Erzählkonzepte Bereits die obige Analyse von Sigmundrs Charakterzeichnung erweist, dass er nur in oberflächlicher Betrachtung als eigentlich ›flach‹ (oder gar »uninteressant«213) 211 So Glauser 1994, S. 115, mit Hinweis auf Skyum-Nielsen 1973; Guldager 1975 Haugan 1987; Glauser 1989. 212 Vgl. hierzu Kap. 3. 213 Johnston 1975, S. 13.
4.3 »Den ubrugelige hero«: Sigmundrs Herrschaft
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konstruierte Figur betrachtet werden kann. Zwar ist das Bild seiner Persönlichkeit weit weniger komplex und schwierig als das des verschlagenen Þrándr. Er wirkt als Figur nicht so stark ›gerundet‹. Allerdings sticht dementgegen seine hochkomplexe narrative Inszenierung ins Auge. In deren Angesicht wirkt er als »ambivalent, troubled and heroic figure«.214 Bereits Sigmundrs Jugenderzählung verdeutlicht ein Spannungsverhältnis der unterschiedlichen Erzählmatrizen, die für seine Figurenzeichnung verwendet werden, wie oben erläutert. So wird er einerseits im Wortsinne als ›Held‹ entworfen, als exorbitante Figur, die das Maß des Gewöhnlichen weit hinter sich lässt, insbesondere was ihre Affinität zur Gewaltanwendung und die Kunstfertigkeit im Ausüben derselben betrifft. Andererseits aber wird über die Legitimität seines Anspruchs auf die Herrschaft über die Färöer, seine enge Bindung an den Hof Jarl Hákons und das schematische Immer-wieder-Erzählen seiner in sich gleichen Taten ein Rahmen für sein Leben angelegt, der an die Ritter-Protagonisten des höfischen Romans erinnert. Darüber hinaus wird er als Kind aus seinem Heimatland vertrieben und wächst außerhalb zum Mann heran. Er erweist seine Tugend und Tauglichkeit in einem Raum, der den Färöern konzeptionell als Außenraum zugeordnet ist, wie unter 2.3.2 gezeigt. Dort besteht er seine initiatorischen Mannesproben, nach deren Absolvierung er sich, nach Hause zurückgekehrt, reintegrieren muss: Sein Jugendexil ist auch die drastisch verlängerte Erprobung des Heranwachsenden. Weiterhin ist die Rückkehr ebenso Teil der Normerwartung der Sagagesellschaft wie Sigmundrs eigener innerer Antrieb: Er kann nicht sein Leben in Norwegen verbringen, ohne seinen Vater gerächt zu haben. Aus dieser Mehrfachcodierung von Sigmundrs Persönlichkeit und Lebensweg resultiert erzählstrukturell seine Darstellung als ›Zwischenfigur‹, die ihn auch auf anderen Ebenen der Narration in eine liminale Position setzt, wie noch näher auszuführen sein wird. Denn die beiden narrativen Großmatrizen von ›heroischer‹ Exorbitanz und höfischer Ordnung folgen einem jeweils entgegengesetzten Impetus: Während die ›höfisierte‹ Struktur auf die Wiederherstellung der legitimen, durch den Hof sanktionierten Ordnung drängt, bedeutet das Prinzip ›heroischer‹ Lebensform gerade das Zurücklassen, sogar Sprengen ordnungsgemäßer Bande. Beide Prinzipien zugleich zu erfüllen, ist unmöglich, und so ist Sigmundrs Figurenzeichnung von Beginn an einer paradoxen Zielsetzung unterworfen. Sie befindet sich im Spannungsfeld divergierender Tendenzen. Eines der beiden Konzepte muss sich schließlich durchsetzen – Sigmundr kann nur entweder regelgebundener Repräsentant der Hofordnung auf den Färöern werden, seinen legitimen Anspruch durchsetzen und in ihm angemessener Weise regieren oder ein Ende im ›heroischen‹ Untergang finden.215 Dies liegt daran, dass die Welt, die die Diegese der Færeyinga saga entwirft,
214 Harlan-Haughey 2015, S. 361. 215 Die Tatsache, dass Sigmundr zunächst regiert und danach stirbt, erfüllt nicht die Anforderungen beider narrativer Strukturprinzipien nacheinander, da die höfische Erzählmatrix ihr strukturelles Ende nur in der vollgültigen Restitution der Ordnung findet (vgl. Schulz 2015, S. 268–270). Entsprechend müsste die Narration mit Sigmundrs Herrschaftsübernahme ihr Ende erreichen.
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im Gegensatz zur Heldendichtung keine ›heroisch‹-ideale Welt ist, in der der größte ›Held‹ per definitionem auch der beste Herrscher ist.216 Im Gegenteil, die Færeyinga saga weist den nonkonformen, aber dezidiert nicht ›heroischen‹ oder heldenhaften Þrándr als dominante Herrscherfigur der Färöer aus.217 Sigmundrs Figurenentwurf bewegt sich dabei nicht alleine zwischen den Polen von ›Heldentum‹ und ›höfisierter‹ Identität als Handlungsalternativen, sondern auch konkret räumlich zwischen seiner Heimat auf den Färöern und dem norwegischen Hof. Letzten Endes setzt sich mit seiner Rückkehr auf die Färöer Sigmundrs charakterliche Grunddisposition als ›Held‹ durch. Die Legitimität seiner Herrschaft sieht vor, dass Sigmundr aus seinem Exil zurückkehren muss, um seine lehnsherrschaftlich rechtmäßige Position einzunehmen. Doch gerade dies ist der Moment, in dem Sigmundrs ›heroische‹ Persönlichkeitsstruktur nicht länger eng an seine Präsenz bei Hofe geknüpft ist: Auf den Färöern herrscht er im eigenen Recht, wenn auch nominell Hákon unterstellt. Daher kann sein in Norwegen noch eingehegtes ›Heldenwesen‹ freier zum Ausdruck kommen. Deutlich wird darin eine doppelte Sinnbesetzung auch der ›höfisierten‹ Matrix von Sigmundrs Leben. Oberflächenstrukturell ist seine Rückkehr auf die Färöer Sinn und Zweck seines Daseins. Indes erweisen die Ereignisse der Handlung, dass das ›höfisierte‹ Prinzip vollständig nur in Norwegen von ihm realisiert werden kann. Dort, wo er dem Hof direkt verbunden ist, fügt er sich in die ihm angemessene Gesellschaft ein und stabilisiert sie durch seine Taten. Dort ist seine Kampfkraft unter dem direkten Befehl Hákons in hohem Maße produktiv, dort kann er sich in eine vorgefundene Ordnung integrieren. Hákons Hof ist in der Erzählstruktur von Sigmundrs ›höfisierter‹ Lebensmatrix der prädestinierte Lebensmittelpunkt für ihn. Der Anschluss an diesen ideell zentralen Hof funktioniert so in Norwegen auch schema-logisch problemlos. Doch zwingen die Prinzipien von Legitimität und ausgedehntem »Travel Pattern« sowie gesellschaftliche Normwerte Sigmundr handlungslogisch zu einer Rückkehr. Auf den Färöern aber wäre Sigmundrs eigene Herrschaftsposition der ideelle und erzählstrukturelle Fixpunkt der ›höfisierten‹ Matrix. Sein eigener Hof müsste zum Zentrum werden, einen solchen müsste er gründen. Die Errichtung eines solchen aber ist unmöglich, weil Sigmundr bereits Hákons Hof als Zentrum seiner Taten zugeordnet ist. In dieser Perspektive stellt auch die Reise auf die Färöer nur eine weitere, repräsentativ ordnungswiederherstellende Restitutions-Handlung dar. Durch seine gleichzeitige Zuordnung zum Hof und der legitimen Herrschaftsposition auf den Färöern bewegt er sich so im Grunde zwischen beiden Polen, ohne einem davon eindeutig zugeordnet zu sein. Seine Handlungen können daher aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden. Einerseits ›reist‹ er vom Ursprungspunkt der Erzählung aus gesehen nach Norwegen, ins Außen, und durchlebt dort seine Âventiuren. Durch den Anschluss an Hákons Hof und seinen Erfolg dort verschieben sich aber unmerklich die Parameter:
216 Vgl. zu dieser Weltkonzeptionierung der Heldendichtung Deichl 2019. 217 Siehe Kap. 3.
4.3 »Den ubrugelige hero«: Sigmundrs Herrschaft
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Ideelles Zentrum seiner Taten ist nicht die strukturell als legitim vorgeschriebene Herrschaftsposition auf den Färöern, sondern konkret der Hof von Jarl Hákon, an den er sich angeschlossen hat. Seine Tugendproben besteht er im Ausland so im Dienst eines eigentlich anderen Hofes, führt seine ordnungsrestituierenden Handlungen unter gewissermaßen falscher Zielsetzung aus. Daher kehrt er vom Ursprung aus gesehen nur halbvollendet zurück. Schon wegen dieser paradoxen Zuschreibung Sigmundrs zu erzähllogisch unterschiedlichen Zentren wird seine Herrschaftsübernahme auf den Färöern als brüchig und krisenanfällig ausgestellt. Aus diesen Differenzen ergibt sich die narrative Bruchstelle von Sigmundrs Darstellung und die erzählstrukturelle Crux seiner Existenz: Der ›Held‹ kann in Dienst eines Hofes treten und sich diesem als würdig erweisen, aber er kann selbst kein höfisches Zentrum errichten – zumal nicht auf den Färöern, die durch Þrándrs Kontrolle im Vergleich zur Initialsituation der Erzählung grundlegend verändert sind.218 Produktiv agieren kann der Teilhaber an der grenzensprengenden und regellosen Exorbitanz nur, solange er im Rahmen der Stiftung einer Ordnung durch andere eingesetzt wird. Die Fatalität von Sigmundrs Position zeigt sich konsequent, als der Hof auf den Färöern nur wenig präsent ist, indem die Söhne Hákons eine nur recht laxe Regierungsgewalt entwickeln. In diesem Moment begehrt Þrándr wieder auf. Sigmundr müsste nunmehr alleine die eigene Herrschaft stabilisieren, doch die Struktur des ›Helden‹-Lebens führt nicht in die Stabilisierung, sondern einzig in die Exorbitanz des Untergangs. Sigmundrs Scheitern ist damit erzählstrukturell bereits durch den Zusammenprall seines ›höfisiert‹-legitimen Lebenswegs mit seiner ›heroischen‹ Persönlichkeitsstruktur motiviert. Sobald er nominell zum Herrscher aufgestiegen ist, indem er Ǫzurr ausschaltet und Jarl Hákon den Schiedsspruch zwischen sich selbst und Þrándr überlassen hat, endet die Erzählschablone, die ihn auf die legitime Position befördert hat. Die Erzählung aber geht weiter. Alles ›Höfische‹, das Sigmundr noch übrigbleibt, wie seine fortgesetzte Lehnsbindung, ist nun nutzlos für ihn. Dennoch enden Sigmundrs ›heroische‹ Charakterzüge nicht etwa in der zügelosen Vernichtung zehntausender toter Hunnen, wie dies beim Nibelungenlied der Fall ist, das ein ähnliches Gegeneinander von Erzählstrukturen präsentiert.219 Charakteristisch für die Erzählweise der Færeyinga saga ist hingegen die paradoxe Verschränkung der beiden Erzählstrukturen in ihrer Zeichnung der Sigmundr-Figur, die nach seiner Figurenetablierung auch für seine Desintegration bestimmend bleibt. Ihre Auflösung wird im Versuch der gleichzeitigen Realisierung beider Tendenzen erreicht. Die letztendliche, gegenseitige Inversion beider Erzählstrukturen ist in ihrer unauflösbaren Verschweißung begründet. So ist Sigmundrs Scheitern auf den Färöern nicht Ergebnis eines Durchbruchs untergangsbestimmten Kraftüber-
218 Zu Þrándrs Einfluss auf die Färöer siehe Kap. 3 u. Kap. 8. 219 Vgl. hierzu Müller 1998, zur Destruktion der Erzählstrukturen und dem Ende im Blut bes. S. 435–455.
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schusses gegen dann ausgehebelte Ordnungsprinzipien, sondern strukturell bestimmt. Hier schlägt sich das ›agonale Prinzip‹ mittelalterlich-höfischen Erzählens in Sigmundrs Figurengestaltung in seiner Paradoxie nieder.220 Sigmundr kann einerseits die Position an Hákons Hof und seine damit verbundene Rückkehr auf die Färöer nur erreichen, weil er charakterlich zum ›Heldentum‹ disponiert ist: Ordnung lässt sich nur durch entsprechenden Gewalteinsatz durchsetzen und aufrechterhalten.221 Andererseits offenbaren sich in der Rückkehr auf die Färöer zugleich Sigmundrs narrative raison d’être und der strukturelle Umbruchsort seines Daseins. Damit wird eine widersprüchliche Figuration zur Grundkonstante seiner Inszenierung. Erzählstrukturelle Doppelungen und damit einhergehende Mehrdeutigkeiten machen Sigmundrs Figurenanlage als Pole aus. Sein Exil ist als ›höfischer Cursus‹ und ›isländisches‹ Initaitionsschema mehrfach codiert, sein Aufbau erfolgt zugleich nach den Maßgaben ›heroischer‹ Persönlichkeits- und ›höfisierter‹ Strukturprinzipien. Und sie werden gerade nicht balanciert oder entschieden, sondern untrennbar miteinander verschränkt. Gerade in ihrer paradoxen Verbindung, im logischen Widerstreit, wird diese Doppelcodierung im Akt des Erzählens von Sigmundr als Figur »vor Augen geführt«.222 So befindet sich Sigmundr im Spannungsfeld widerstreitender Erzählprinzipien, in einem liminalen Feld erzählerischer Gestaltung. Umso charakteristischer ist diese Tatsache für den auch auf der Figuren- und Konzeptebene stets mediierenden Sigmundr, wie er noch näher zu untersuchen sein wird. Damit offenbart der erzählstrukturelle Umbruch im Zuge von Sigmundrs Rückkehr in die Heimat auch ein raffiniertes Verwirrspiel der Færeyinga saga mit narrativen und rezeptiven Erwartungshaltungen. Sigmundrs vordringliche Stilisierung als idealer Saga-Protagonist – sein Heldentum schon von Kindesbeinen an, sein Waffengeschick und seine Kampfkraft, seine beschädigte Familienehre durch den Totschlag am Vater und sein ungerechtfertigtes Jugendexil, seine vielfach unter Beweis gestellte Integrität, Treue und Vorbildhaftigkeit: All diese Elemente seiner Charakterzeichnung binden von Beginn an Rezipientensympathien. Sigmundr ist der rechtschaffene, gerechte und gerechtfertigte, rundheraus gute und zu Unrecht aus seiner Heimat exilierte Mann, zu dem die Rezipienten der Erzählung ohne Schwierigkeiten eine positive Beziehung aufbauen können, ein leuchtendes Vorbild und ein strahlender Held.223
220 Zum Prinzip der ›Agonalität‹ des höfischen Erzählens mit ausführlichen Beispielen vgl. Schulz 2015, S. 119–158. 221 Vgl. Schulz 2015, S. 75. 222 Schulz 2015, S. 119; zur offenen Widersprüchlichkeit konkurrierender Logiken als höfisches Erzählprinzip vgl. auch S. 348–350. Die paradoxe Offenheit, die dadurch bezüglich Sigmundr entsteht, ist deckungsgleich mit derjenigen in Þrándrs Figurenanlage, vgl. hierzu Kap. 3. Sie ist entsprechend in der Gesamt-Aussageintention der Færeyinga saga begründet, kann also nicht als Folge der vermeintlich mittelalterlichen ›Altertität‹ der verwendeten Narrationskonzepte wegerklärt werden, siehe hierzu weiterführend Kap. 9.1. 223 Zu Sigmundrs Entsprechung mit dem Typus des ›strahlenden‹ Helden vgl. auch Ármann Jakobsson 2009, S. 56–57. Zur affektiven Anteilnahme an den als real imaginierten, fiktiven Figuren von Erzähltexten in einer ›unkritischen‹ Lektüre (d. h. unvoreingenommen rezipierend), vgl. Köppe/
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Dies führt zu einer gesteigerten Anteilnahme der Rezipienten am Schicksal der so entwickelten Figur, und zum Wunsch, sie möge entsprechenden Erfolg erzielen, das ihr zugefügte Unrecht rächen und sich im Plotverlauf durchsetzen. Doch nicht allein durch die Ausgestaltung von Sigmundrs Eigenschaften auf der Figurenebene wird diese Erwartungshaltung erzeugt, sondern gerade auch durch seinen erzählstrukturellen Aufbau. Die konzeptionelle Übereinstimmung zwischen Sigmundrs Exil und der initiatorischen Auslandsreise nach den Normvorstellungen der Sagagesellschaft designiert ihn ebenso zum Protagonisten der Erzählung wie die ›höfisierte‹ Matrix der Legimität seiner Herrschaft, derzufolge er als der zentrale Handlungsträger der Ordnungsrestitution hervortreten müsste. Denselben Effekt hat die groß angelegte Erzählzeit, die Sigmundrs Aufstieg in Norwegen abdeckt. Sigmundr befindet sich über zwölf Kapitel in der Position der Hauptfokusinstanz der Erzählung, ehe er auf die Färöer zurückkehrt.224 Diese Präsentationsstrategien rufen auch narrativ gesehen die Erwartungshaltung hervor, Sigmundr müsse entsprechend für den Gesamtverlauf der Geschichte als Protagonist figurieren. Bereits seine durch ihre Verdoppelung unterstrichene Einführung weckt diese Erwartung durch die Markierung dieser Figur als wichtig und auffällig. Sein schematischer Aufbau und der alleinige Textfokus in der Folgezeit nähren die Erwartungshaltung, es bei ihm mit der Hauptfigur der Erzählung zu tun zu haben, weiter. Während Þrándrs folgenschwere Herrschaft auf den Färöern und ihre Methode nur kurz nach Sigmundrs Verkauf in die Sklaverei und kurz vor seiner Rückkehr in einer Art ›Bulletin‹225 umrissen und anderweitig nur in Andeutungen greifbar werden,226 wird Sigmundr stufenweise vom mittellos versklavten Kind zum besten Krieger an Norwegens Hof entwickelt. Die Narration folgt diesem Aufstieg
Kindt 2014, S. 116–125, bes. S. 124. Vgl. auch Schulz 2015, S. 10–11 zur Dichotomie quasi ›natürlicher‹, emotional-psychologisierender Lesehaltung und sekundärem, ›technischem‹ Textblick. Vgl. weiterhin Immer 2007, S. 307–308, der den ›Helden‹ definiert als »Zentralfigur […], die als exemplarischer Handlungsträger […] repräsentative Funktionen erfüllt und maßgeblich die Lenkung der Sympathie des Lesers beeinflusst«. 224 Damit entsprechen sich die Jahre der erzählten Zeit, die Sigmundr im Exil verbringt, grob mit den Kapiteln der Erzählzeit: Er ist neun Jahre alt, als er an Hrafn verkauft wird, und etwa 22, als er auf die Färöer zurückkommt, vgl. auch North 2005, S. 64. Jedoch werden seine Kindheits- und Jugendjahre zum Großteil gerafft und insbesondere die drei Jahre seiner Wikingerzüge eingehend auserzählt. Auch diese Führung der Erzählzeit dient dazu, Sigmundr den Rezipienten näherzubringen. Fokussiert werden seine kämpferischen Auseinandersetzungen, die einerseits seine Kriegerpersönlichkeit (und damit seine ›wikingische‹ Vorbildhaftigkeit) unterstreichen, und andererseits als Spannungsmomente dienen, in denen sich die Rezipienten mit ihrer Sympathiefigur in der Kampfsituation identifizieren und ›mitfiebern‹ können. Anderseits illustriert die gedehnte Erzählzeit von Sigmundrs Wikingerjahren auch eindrucksvoll, wie sehr er für ein Leben dort ›geschaffen‹ ist, und wie gut er sich in diesen Kontext einfügt: Es sind diese Jahre, die Sigmundr im Zenit seines Erfolgs verbringt. Der große Anteil von darauf entfallender Erzählzeit unterstreicht, wie Sigmundrs Leben in Norwegen auch weiter verlaufen könnte und verdeutlicht somit die Tragik seines Zwangs zur letztendlichen Rückkehr auf die Färöer. 225 Ausdruck nach Berman 1985, S. 123. 226 Vgl. Kap. 3.3.
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aufs Genaueste und ohne Störfaktoren, die etwa Þrándrs wachsende Besorgnis ob Sigmundrs Karriere zum Ausdruck brächten und so Identifikationspotenzial mit Sigmundrs Gegenseite einbringen würden. Doch bereits mit der Rückkehr Sigmundrs auf die Färöer und der Durchsetzung seiner Vorherrschaft beginnt die Desintegration dieser Herrschaftsposition und damit in narrativer Hinsicht auch der Fokuszentrierung auf Sigmundr. Solange seine Herrschaft Bestand hat, bleibt er zwar im narrativen Vordergrund, und die Ereignisse werden größtenteils aus seiner Perspektive erzählt.227 Doch offenbart sein Scheitern letzten Endes, dass nicht Sigmundr, sondern Þrándr hintergründig im Zentrum der Plotentwicklung steht,228 auch wenn die Erzähloberfläche diese Tatsache verschweigt und erst ex post kenntlich macht. Damit korrespondiert die Erzählführung um Sigmundr insgesamt mit der destabilisierten Darstellung Þrándrs. Þrándr ist am Ende die erfolgreiche Figur, obwohl er vehement nicht erzählerischen Standardkonventionen entspricht und mit Sigmundrs Rückkehr bereits besiegt scheint, während der erzählschematisch regelkonform aufgebaute Sigmundr in seinem Scheitern vorgeführt wird. Dieses Scheitern wirkt entsprechend umso tragischer. Sigmundrs gesamte Inszenierung bis zum Punkt seiner Rückkehr aus Norwegen (und vordergründig auch weitergehend bis zu seiner Niederlage), die sich präsentiert, »som om én havde villet göre alt for at forherlige Sigmund«,229 wird nachträglich durch seinen Tod und seine Chancenlosigkeit im Konflikt mit Þrándr als rein vordergründiger Schein erwiesen, der sich nicht mit den Realitäten auf Þrándrs Färöern messen kann. Die Rezipientensympathie wird damit enttäuscht und die ›höfisierte‹ Matrix von Sigmundrs narrativem Konstruktionsprinzip ad absurdum geführt. Somit sehen sich im Rückblick auf die bisherige Erzählführung die Rezipienten auf ähnliche Art und Weise getäuscht wie bei Þrándrs Figurendarstellung. Dies verkompliziert in erheblichem Maße die Gesamtinterpretation des Dualismus von Sigmundr und Þrándr. Deutlich wird hingegen, dass das Erzählprinzip der Færeyinga saga wesentlich auf Inversion, Konventionsbruch, dem Unterlaufen von Erwartungen und Irreführung basiert. In Sigmundrs Fall ist diese Irreführung und Komplexion erzählstrukturell bedingt, indem ihm mehrere normative Erzählschablonen eingeschrieben werden, die aber aber entweder nicht erfüllt
227 Ohne freilich den Saga-Erzählstil zu verlassen und etwa Introspektionen anzubieten. Dennoch führt die Schilderung von Sigmundrs Vorgehensweise ohne näheren Bericht von den Ereignissen in Þrándrs Umfeld zu einer narrativen Perspektivierung der Plotereignisse aus Sigmundrs Sicht. Die Figur, die im Fokus des Textes steht, bedingt die Auffassung der Ereignisse durch die Rezipienten. Erneut wird nicht Sigmundrs Gegenseite in den Vordergrund gespielt, sodass die Ereignisse aus Þrándrs Perspektive nachvollziehbar erscheinen würden. Zur Frage erzählstruktureller Perspektiven und ihrer Auswirkung auf Erwartunsghaltungen in der Sagaliteratur vgl. auch Shortt Butler 2016, S. 328–334. 228 Während der Christianisierungssequenz geht die hintergründige Agency zudem auf König Óláfr über, siehe Kap. 4.5 u. Kap. 7.4.3. 229 Finnur Jónsson 1927, S. VIII (als ob man alles dafür hätte tun wollen, Sigmundr zu verherrlichen).
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werden (können), oder durch die gegenteilige Erzähltendenz von Sigmundrs ›Heroismus‹ durchdrungen und aufgelöst werden. Ganz anders präsentiert sich hingegen der erzählstrukturelle Aufbau Sigmundrs in den Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta außerhalb der Flateyjarbók. Auch hier durchdringen sich zu einem gewissen Grade die ordnungsstiftende Matrix seiner legitimen Herrschaft auf den Färöern und seine ›heroische‹ Charakterzeichnung. Doch arbeitet der Erzählfluss wesentlich weniger stark mit logischen Konkurrenzen zwischen den verwendeten Erzählprinzipien. Sigmundr wird zunächst stereotyp als Protagonist eingeführt, wie oben gezeigt. Ab seiner Einführung befinden er und seine Familie sich durch die Kürze der Darstellung fast ungebrochen im Fokus der Erzählung, und die geänderte Schlusssetzung unmittelbar nach der Christianisierung der Färöer verändert im Vergleich zur ausführlicheren Flateyjarbók grundlegend die Textkonzeption. Sigmundr wird weniger in der Aussichtslosigkeit seiner Position im Vergleich mit seinem Konkurrenten Þrándr gezeigt, sondern in einer kontinuierlichen Aufwärtsbewegung seiner persönlichen Erfolgsbilanz. Er kommt als Sklave nach Norwegen, wird befreit und wächst beim hilfreichen Þorkell auf, der ihm als Ersatz des Vaters eine Ausbildung in Waffenkunde, körperlichen Fähigkeiten und íþróttir angedeihen lässt. Er tötet den Bären und beweist dadurch seine überragende Geschicklichkeit als Krieger. Schnell steigt er in eine hochgeachtete und ehrenvolle Position am Hof Jarl Hákons auf und stellt während der vier Jahre, die er dort verbringt, sein militärisches Führungsgeschick und seine Kampfkunst unter Beweis – allerdings ohne, dass dies ausführlich narrativ durchgespielt würde. Der Aufenthalt an Hákons Hof ist damit ebenso wie der in der Obhut Þorkells im Dovrefjell nur Zwischenstation im Entwicklungsgang des Protagonisten, der seinen Höhepunkt erst in dem Moment findet, indem er persönlich mit König Óláfr Tryggvason zusammentrifft.230 Sigmundrs Beziehung zu Hákon erscheint weniger komplex und persönlich und seine Figurengestaltung enthält keine langsam steigernden Etappen, wie der lange Bericht von Sigmundrs Jugend in der Flateyjarbók sie entwickelt. Auch wirkt seine Aufzucht bei Þorkell weniger wie eine Reise in eine märchenhafte Anderwelt. Sigmundr ist hier insofern von Anfang an eine konstant heldenhafte Figur, die auch narrativ kaum entwickelt wird. Er spricht bereits als Kind in markanten Sentenzen, die seinen Charakter deutlich zu erkennen geben.231 Durch die Kürze der Darstellung unterstreicht
230 Vgl. auch Kap. 4.5.1 u. Kap. 7.4.3. 231 So beim Tod seines Vaters (Gratvm eigi frændi. festum helldr þenna dag íminni; Fær, S. 17 [Text A]; ›Lass uns nicht weinen, Verwandter! Lass uns lieber diesen Tag in unserer Erinnerung verankern!‹), als ihn Hrafn nach seiner Behandlung durch sich fragt (Vel hia þvi sem þa er vit uorum ꜳ ualldi Þrandar; Fær, S. 20 [Text A; D formuliert leicht abweichend]; ›Gut verglichen mit dem, wie es uns ging, als wir in Þrándrs Gewalt waren‹) und beim Abschied von diesem mit dem Wunsch, drengiliga [at] fara (Fær, S. 21 [Text A; D verbatim]; tapfer zu fahren), im Dovrefjell (þat skal verða alldri at vit skilím sva. skulv vit anat huart badir til bygda komaz e(ðr) deyia ella; Fær, S. 20 [Text A; D fast verbatim]; ›Es soll nie geschehen, dass wir uns so trennen! Entweder wir kommen beide zu bewohnten Gegenden, oder wir sterben!‹); in Version D auch später, als er bei seinem Zusammen-
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sein durchschlagender und unproblematisch dargestellter Erfolg auf dem Schlachtfeld diese Charakterkonzeption lediglich. Er kehrt schließlich mit der Unterstützung Jarl Hákons auf die Färöer zurück, rächt seinen Vater am Sohn von dessen Totschläger und kann Þrándr durch seine unverbrüchliche Treue zu Hákon und das unumstößliche Beharren, diesem die Entscheidung zu übertragen, in die Defensive zwingen. Er setzt sich kraft seiner Persönlichkeit und der Legitimität seiner Position allein durch. Zwar ist er auch hier Þrándr gegenüber nicht iafnslægr,232 jedoch kann er ihn durch die Festigkeit seiner Überzeugung und Vorgehensweise, auch unter vorgehaltener Waffe, zum Einlenken in seinem Sinne zwingen. Dass er sich in seinem Nachgeben gegen Þrándr den orð goðra manna beugt,233 wirkt hier konsequent eher wie ein Erweis seiner charakterlichen Integrität denn fatale, politische Kurzsichtigkeit – eben weil das Ende der Erzählung sein Scheitern durch den nur indirekten Bericht seines Todes nicht derartig schmerzhaft vor Augen führt, wie die Færeyinga saga der Flateyjarbók. Sigmundr ist hier der unmissverständliche Protagonist des Erzählganges, zwar nicht ohne Fehler, aber soweit durch das Interesse des Textes abgedeckt erfolgreich. Die Erzählung arbeitet bei dieser Darstellung wesentlich oberflächlicher als die hochkomplexe Færeyinga saga der Flateyjarbók. Þrándr wird entsprechend von Beginn an viel flacher als Schurke gezeichnet.234 Für die tiefergehende Begründung von Sigmundrs Scheitern, die schon seine erzählstrukturelle Figurenanlage anlegt, interessiert sich der Text in der Óláfs saga Tryggvasonar darüber hinaus nicht. Hier gehen legitimer Anspruch auf die färöische Herrschaft, Bedingung dieser Herrschaft durch den norwegischen Hof und ›heroische‹ Persönlichkeitsstruktur Hand in Hand, statt in Widerstreit zu geraten. Sigmundr als Protagonist der Erzählung kann unproblematisch einen heldenhaften Charakter unter Beweis stellen, wenn sein nur summarisch berichteter Aufenthalt an Hákons Hof nicht mehr als eine Art Hilfselement darstellt, um die ihm gebührende Herrschaftsposition auf den Färöern wieder zu erlangen. Hier verschieben sich nicht die Parameter von Sigmundrs ordnungsstiftender Zuordnung. Sein Leben ist hingegen ab dem Zeitpunkt seiner Exilierung darauf ausgerichtet, zurückzukehren. So resultiert sein Lebensweg nicht in einer erzählstrukturellen Bruchstelle zwischen den Zentren seines Tuns, sondern norwegische Sanktion seiner Herrschaft und Erweis seiner Eignung für diese Position gehen ineinander auf. Dabei ist seine Disposition zum ›Heldentum‹ hilfreich statt hinderlich: Mit ihrer Hilfe kann er sich durchsetzen und seinen Gegner Þrándr jedenfalls oberflächlich genug, als dass er selbst die Oberhand behält, in seine Schranken verweisen. Somit entsteht für diese
treffen mit Ǫzurr nur kurz angebunden und deutlich mit selldv mer síalfdęmi antwortet (Fær, S. 54 [Text D]; ›Überlass mir das Selbsturteil!‹). 232 Fær, S. 59 (Text A; D verbatim; gleichermaßen gerissen). 233 Fær, S. 66 (Text A; D hat als Beschreibung dvganndi [rechtschaffen]; Worte guter Männer). 234 Siehe hierzu Kap. 3.
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Textredaktionen keine gegensätzliche Konzeption von Sigmundr als ›Held‹ und Sigmundr als Repräsentant einer Hofordnung, die sich zwischen den Polen ihrer entwickelten und ursprünglichen Zuordnung zwischen norwegischem Hof und färöischer Herrschaft aufreibt. Diese Einschätzung ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass sich Sigmundr hier am Ende seines Lebens nicht als Herr im eigenen Recht und mit nur schwacher norwegischer Unterstützung erweisen muss. Stattdessen kann er die gesamte Zeit des präsentierten Erzählganges über auf Rückendeckung aus Norwegen bei seinen herrschaftlichen Aspirationen zählen. Damit zeigen die Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar eine fundamental andersgeartete Textkonzeption als die Flateyjarbók, in der Sigmundrs erzählstrukturelle Liminalität ab seiner Rückkehr auf die Färöer schließlich auf die Ereignisse des Plotverlaufs durchschlägt.
4.3.2 Der ›Narrative Outlaw‹: Norwegische Identität und Ortslosigkeit als erzählerischer Urgrund von Sigmundrs Scheitern Während Sigmundr als liminal konzipierte Figur erscheint, ist seine Zuordnung zum Handlungsraum Norwegen fast absolut. Sie ist schon genealogisch begründet, wenn er diesem Raum über seine Mutter Cecilía entstammt und sich sein Herrschaftsanspruch auf den Färöern von der Lehnsposition seines Vaters ableitet. Machtpolitisch repräsentiert er durch seine lehnsrechtlichen Verbindungen die Unterordnung der Färöer unter das norwegische Reich. In denjenigen Forschungen, die die Færeyinga saga in erster Linie als Unabhängigkeits- bzw. Kolonialdiskurs verstehen, wurde dieser Punkt bisher stark betont. Wenig beachtet wurde dabei, dass Sigmundr aufgrund seiner genealogischen Legitimität keineswegs eine »neue Ordnung« symbolisiert. Als die »neue« Ordnung diesbezüglich ist im Gegenteil Þrándrs zeitweiliges Kappen der Herrschaftsverbindungen zum Mutterland der Färöer und die Errichtung seiner eigenen Vorherrschaft anzusprechen. Diese erschaffen einen abgeschnittenen Erzählraum auf den Färöern, den Þrándr seiner Dominanz unterwirft, und dessen Regeln eng mit seiner Figur verknüpft sind. Es ist damit dessen Semiosphäre, in die Sigmundr nach seinem Exil zurückkehrt.235 Ebenso selten wurde Sigmundrs eigene, wenigstens narrativ vielschichtige Figurenzeichnung ins Auge gefasst und damit die Tatsache, dass er nicht allein eine Chiffrenfigur darstellt.236 Die widersprüchliche Vielschichtigkeit seiner Figurenanlage schlägt sich hingegen auf mehreren Ebenen der Narration nieder und begründet sein Scheitern. Seine raumsemantischen Zuordnungen spielen dabei eine prominente Rolle. Wie bereits ausgeführt steht Sigmundrs gesamtes Jugendexil an der Textoberfläche in struktureller Parallele zum sogenannten »Travel Pattern« der Isländersagas.
235 Vgl. Kap. 2.3, Kap. 3 u. Kap. 8. 236 Vgl. jedoch Berman 1985, S. 123–124; Harris 1986, S. 208; Bick 2005, S. 8; Harlan-Haughey 2015, S. 361.
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Im Rahmen seiner ›Auslandsreise‹ kann Sigmundr soziales Kapital in Form von Ruhm, Autorität und eigenmächtiger Handlungsmacht versammeln. Damit erweist er sich als ›Mann‹ und als Faktor in der Konstitution der färöischen Gesellschaft. Durch die Legitimität seiner Vorherrschaft auf den Färöern wird dieses Erzählschema zusätzlich überformt. Der Erweis seiner Tüchtigkeit muss erzähllogisch sowohl vor dem schematischen Muster sagagesellschaftlicher Normen als auch im Zuge der ›höfisierten‹ Erzählmatrix in einem narrativen Außenbereich stattfinden.237 Aufgrund der Raumdichotomie, die als narrative Basis die Færeyinga saga in verschiedenen Konstellationen prägt, wird Sigmundrs Exil daher in Norwegen verortet. Seine Bindung an die norwegischen Herrscher ist also eine erzählstrukturelle Notwendigkeit, und entsprechend auch auf der Handlungsebene der Saga nur logisch. Jarl Hákon war der Lehnsherr seines Vaters und stellt die einzige erreichbare Ressource größerer Autorität und materieller Ausstattung dar. Dass dieser Hof von vorne herein Sigmundrs legitime Herrschaftsposition auf den Färöern garantiert, begünstigt die Darstellung zusätzlich, zumal die Paradigmen der ›höfisierten‹ Matrix, nach der Sigmundrs Lebensweg angelegt ist, hier bestens erfüllt werden können. Fatal ist für Sigmundr jedoch die Tatsache, dass sein langjähriges Exil gerade nicht nur eine ›Auslandsreise‹ zum Zweck von Tugenderweisen und Ehrerwerb darstellt und sein Anschluss an Hákons hirð konzeptionell seinen ›höfisierten‹ Lebensweg umschreibt: Für ihn ist Norwegen nicht mehr Außenraum, sondern Lebensmittelpunkt. Damit hat die Erzählschablone ›höfisierter‹ Legitimität spätestens mit Sigmundrs offiziellem Eintritt in Jarl Hákons Gefolge ihr eigentliches konzeptionelles Zentrum verloren. Er agiert fortan nicht mehr in einem Außenraum seiner raumsemantischen Zugehörigkeit, sondern hat gewissermaßen die semantische Grenze unumkehrbar überschritten.238 Er gehört nun auch erzähllogisch dem Bereich Norwegen an.239 Wenn Sigmundr in der Folgezeit als Handlungsträger in Erscheinung tritt, restituiert er dadurch nicht länger das initiale Ordnungsprinzip auf den Färöern in seinem eher indirekten Bezug auf den norwegischen Hof. Das relative Eigenrecht seiner Herrschaft findet sich hingegen vollständig in eine reine Abhängigkeitsherrschaft
237 Zur narrativen ›Auslagerung‹ der ehrvermehrenden Tugenderweise im Rahmen der Sagagesellschaft durch das Reisemotiv vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 224–226, zum räumlichen Innen/ Außen-Prinzip der höfischen Literatur vgl. Schulz 2015, S. 127–129 u. S. 177. 238 Zur raumsemantisch-erzählerischen Grenze und ihrer Überschreitung vgl. Lotmans »Sujet« (Lotman 1993, S. 329–340). Wenn Sigmundr entsprechend einen endgültigen Übertritt zwischen den beiden semantischen Feldern der Räume Färöer und Norwegen vollzieht, kann erst seine Rückeroberung der Färöer, der Übertritt zurück im semantischen Narrationsraum, die Fortsetzung des Sujets darstellen, mit vertauschter Ausgangslage vom Innen Norwegens ins Außen der Färöer. Indes stellen auch die Wikingerfahrten »sujethafte« Ereignisse dar, indem Sigmundr sich ins Außen – nach Schweden und auf die Orkneys – begibt. Wichtig ist dabei jedoch, dass diese Ereignisse »sujethaft« vom neuen Innen, dem Hof des norwegischen Reiches aus, gedacht sind. 239 Im Rahmen höfischer Erzählschemata kann es stets nur einen einzigen, gültigen Hof geben, vgl. Schulz 2015, S. 243–244: Alles, was nicht unmittelbar dem Artushof zugeordnet ist, kann zwar höfisch geprägt, nicht aber gleichrangig sein.
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transformiert.240 In dieser Perspektive verkommt die Rückeroberung seiner Vorherrschaft zum Eroberungsversuch im Namen eines fremden Landes. Diese Erzählperspektive wird in der Erzählung ab Sigmundrs Rückkehr aus Norwegen plötzlich deutlich und verwandelt auch die Färöer in einen Außenraum in der Raumsemantik der Færeyinga saga. Den Wechsel von Sigmundrs raumsemantischer Zugehörigkeit macht eine wiederholt verwendete Phrase im Text in ironischer Gegenüberstellung mit dem Handlungsverlauf deutlich, die auch Sigmundr selbst benutzt. So hält er seine Männer davon ab, die fliehenden, gegnerischen Soldaten nach der siegreichen Schlacht gegen Bjǫrn auf seinem Schwedenfeldzug zu verfolgen, sagde at þeir hefde ekki afla til þess j v kunnu lande.241 Die Phrase j vkunnu lande, »in einem unbekannten Land«, benutzen neben Sigmundr selbst auch der Händler Hrafn und König Óláfr Tryggvason, beide mit Bezug auf Sigmundrs zunächst aussichtslos scheinende Position als aus der Sklaverei entlassener Jüngling in Norwegen.242 Doch ist Norwegen für Sigmundr zu keinem Zeitpunkt tatsächlich ein »unbekanntes Land«, in dem er »keine Mittel« besitzt. Zwar ist er zuerst auf die Güte Hrafns angewiesen und anschließend auf die Ziehvaterschaft Úlfr-Þorkells und das Wohlwollen Hákons, um sein Vorankommen zu bewerkstelligen, jedoch fügt er sich aufgrund seiner Disposition zum Kriegertum reibungslos in die Struktur der Hofgesellschaft ein und besitzt insofern sowohl »Mittel« als auch »Kenntnis« in diesem Raum der Erzählung. Buchstäblich »unbekannt« ist ihm hingegen die Heimat, in die er zurückkehrt. In diesem Zusammenhang augenfällig sind die Umstände von Sigmundrs erstmaliger Rückkehr auf die Färöer. Obwohl er damit seine eigenen, lange geschmiedeten Rachepläne ausführen will, bittet er seinen Herrn Jarl Hákon darum, gefua sier rad til huersu hann skal til hatta.243 Tatsächlich scheint Sigmundr seine alte Heimat derartig fremd zu sein, dass er es überhaupt nur durch die Kenntnisse von Hákon und den Männern, die er von seinem Herrn zugeteilt bekommt, erreichen kann. Es ist Hákon, der ihn darüber informiert, dass hafit er torsottligt til eyianna ok brim mikit
240 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, bes. S. 3; Guldager 1975, S. 27; Harris 1986, S. 205; insgesamt HarlanHaughey 2015. Die Herrschaft von Sigmundrs Familie wird von Beginn an einzig lehnsrechtlich durch ihre Verbindung zu Jarl Hákon begründet, siehe Fær, S. 8–9. Indes lässt die Formulierungsweise – Brestir und Beinir werden zuerst als hǫfðingjar bezeichnet und anschließend mit Jarl Hákons als Lehnsherrn verbunden – den Schluss einer relativen Eigenständigkeit ihrer Herrschaft zu. Im Gegensatz zu Sigmundr wird zu Beginn des Textes auch nie von einer Interaktion oder überhaupt Kontaktaufnahme zwischen Lehnsherrn und Lehnsnehmern berichtet, der ursprüngliche Konflikt findet zudem autonom statt. So sind die Färöer zwar a priori Teil des norwegischen Reiches, jedoch wird Brestir und Beinir, anders als Sigmundr, wenigstens ein Status jenseits des bloßen Befehlsempfängertums eingeräumt. Diesen Ausgangspunkt erreicht die Færeyinga saga erst wieder mit Leifr, siehe Kap. 6. 241 Fær, S. 43 (er sagte, dass sie dazu in einem unbekannten Land nicht die Mittel hätten). 242 Siehe Fær, S. 21 u. S. 71. 243 Fær, S. 48 (ihm Rat zu geben, wie er verfahren soll).
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ok þangat ma æigi langskípum hallda.244 Als Sigmundr die Inseln erreicht, eru þeir menn a med S(igmundi) at kenna landzleg ok eru þeir míog komnir at Austr ey.245 Sigmundrs Begleiter sind diejenigen, die die Landschaft der Inseln kennen und geographische Auskunft erteilen können, wo sich sein Schiff befindet, dezidiert nicht er selbst. Sigmundrs Kenntnis seines Heimatlandes beschränkt sich darauf, zu wissen, wo sich seine Feinde aufhalten. Sein Wissen spiegelt so seine spätere Herrschaftsausübung: Er ist diesbezüglich ein Mann des Abstrakten, nicht des KonkretMateriellen. Wiederum wird als Zeichen seiner ›heroischen‹ Grunddisposition deutlich, dass Sigmundr vor allem weiß, was für eine direkte, kämpferische Konfrontation notwendig ist. So will er, nachdem er erfahren hat, dass er sich sehr nah an Þrándrs Heimathof befindet, hellzt kiosa at fa ualld a Þrandi.246 Sein Wunsch nach Rache richtet sich also – im moralischen Sinne gerechtfertigt – gegen den Mann hinter dem Totschlag an seinem Vater und den Verursacher seiner Entehrung durch den Verkauf als Sklave, nicht jedoch gegen die Familie des Mannes, der seinen Vater erschlagen hat und der gegenüber er folglich das Recht der Blutrache besäße.247
244 Fær, S. 48 (das Meer bis zu den Inseln schwer zu überwinden ist und es eine starke Brandung gibt – ›und dorthin kann man nicht mit Langschiffen fahren‹). 245 Fær, S. 51 (sind Männer bei Sigmundr, die die Beschaffenheit des Landes erkennen, und sie sind sicherlich zur Ostinsel gekommen). 246 Fær, S. 51–52 (am liebsten Þrándr in seine Gewalt bekommen). 247 Die isländischen Gesetze kennen scharfe Einschränkungen des Racherechts nach Personen und Zeiträumen, vgl. Heusler 1911, S. 53–55 und Miller 1990, S. 192–193. Dabei stimmen jedoch die Sagaberichte nur selten überein und besonders Vaterrachen können lange hinausgezögert werden, vgl. insgesamt Heusler 1911, S. 55–59; Miller 1990, S. 193–207. Þrándr nimmt – wohlweislich – während des Totschlags an Brestir an keinerlei Kampfhandlungen teil und kann insofern rechtlich für keine Untat verantwortlich gemacht werden, siehe auch Kap. 3.4.1. Sigmundr stellt hier aber unter Beweis, dass er sogar bereit wäre, innerfamiliäre Gewalt gegen seinen recht nahen Verwandten, seinen Großonkel, walten zu lassen, was jedenfalls in einem isländischen Kontext verpönt ist, vgl. Miller 1990, S. 159–161; Jakob 2016, S. 265–267. Er kann für eine versuchte Rache an Þrándr zwar verständliche Gründe aufbringen, zeigt durch den Willen, ihn anzugreifen, aber, dass ihm das nominelle Recht seiner Rache gleichgültig ist. Er setzt insofern die von seinem Vater mit der Auflösung des Gerichts vor Hafgrímr begonnene Desintegration des Ordnungsprinzips und der Billigkeit rechtlicher Bestimmungen ungebrochen fort, vgl. hierzu Kap. 4.2.1 (Fn. 57). Auffällig ist insofern, dass Sigmundr entweder überaus gut über die Verstrickung Þrándrs in den Tod seines Vaters Bescheid weiß – was seine spätere Laxheit im Umgang mit seinem Kontrahenten als umso frappierender erscheinen ließe – oder dass für sein ›heroisches‹ Wesen die eigene Entehrung, die er durch den Verkauf als Sklave von Seiten Þrándrs erfahren hat, letztendlich schwerer wiegt und seine Motivation stärker prägt als der Tod seines Vaters. Darin äußert sich vielleicht die Dichotomie von Sigmundrs erzählstruktuereller Zuordnung. In diesem Moment, noch ehe er seine Herrschaftsposition eingenommen hat, reist er als Repräsentant des norwegischen Hofes auf die Inseln und zeigt sich dabei in einem ›heroischen‹ Modus von Gewaltlust. Seine Aggression richtet sich vor allen Dingen gegen den Verursacher der Ordnungsstörung aus norwegischer Sicht, den Usurpator Þrándr. Somit missachtet Sigmundr Ordnung und Rechtsprinzipien seiner Heimatgesellschaft, weil er hier, als ›archaischer‹ Gewaltausübender, noch durch den Hof in Norwegen eingesetzt ist. Nach Erlangen seiner Herrschaftsposition aber versucht er, in den Modus rechtlich verbürgten, sozialen Ausgleichs
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Aufgrund der ungünstigen Wetterlage werden Sigmundr und seine Männer allerdings nach Svíney abgetrieben, wo Bjarni lebt. Auch dieser war zwar auch am Totschlag an Brestir beteiligt, hat sich jedoch für eine Verschonung der Kinder ausgesprochen. Sigmundr scheint sich an diesen Hergang der Geschehnisse zu erinnern, was er demonstriert, indem er Bjarni letztlich Frieden zusichert.248 Zunächst überfällt seine Mannschaft den dortigen Hof jedoch unmittelbar nach ihrer Ankunft auf der Insel. Erneut muss sich Sigmundr danach die Kenntnisse anderer zu Nutze machen. Er will nach wie vor Þrándr überfallen und verlangt von Bjarni, mit ihm und seinen Männern dorthin zu fahren. Doch þangat kemzst þu æigi helldr j hímínen upp sagde Biarni. at þessi uedr stỏdu.249 Erst als ihm auch Bjarni, der direkt vor Ort lebt, nochmals versichert, dass ein Versuch, Þrándr zu erreichen, ein sinnloses Unterfangen wäre, gibt Sigmundr seinen ursprünglichen Plan auf und richtet seinen Wunsch nach Rache gegen Ǫzurr Hafgrímsson, um die ausstehende Blutrache gegen das auch rechtlich adäquate Ziel auszuführen. Von Ǫzurr weiß Sigmundr, dass er auf Skúfey, Sigmundrs eigener alter Heimatinsel, lebt, und er bringt den nächsten Überfall dort vor. Indem Sigmundr in dieser Passage erstmals nach seiner Ankunft an Hákons Hof wieder eigene Zielsetzungen verfolgt, zeigt er sich zwar einerseits als handlungsmächtiges Subjekt der Erzählung, seine Abhängigkeit von äußeren Umständen aber kann er nicht abschütteln. Weiterhin reagiert er vorwiegend auf die Umstände, die sich ihm präsentieren, anstatt sie nach seinem Dünken lenken zu können. Diese Abhängigkeit wird durch seine Hilfsbedürftigkeit schon in der Durchführung seiner Pläne deutlich illustriert. Er benötigt nicht allein Hákons Autorität und materielle Unterstützung, sondern auch informationelle Hilfestellungen, selbst eines ortsansässigen Feindes wie Bjarni, um sich in seinem eigenen Heimatland zurechtzufinden. Sigmundr ist nach seiner Rückkehr aus Norwegen buchstäblich zum Fremden in der eigenen Heimat geworden.250 Deren Geographie ist ihm unbekannt, und diese überzuwechseln. Dies misslingt auch, weil er dessen Prinzipien selbst bei der so erfolgten Rückkehr noch zu destruieren bemüht ist. 248 Fær c. 24, S. 52–53. 249 Fær, S. 53 (›dorthin kommst du nicht eher, als hinauf in den Himmel‹, sagte Bjarni, ›bei diesen Wetterverhältnissen‹). 250 Sichtbar wird diese Tatsache auch anhand der ausführlichen Beschreibung seiner Aufmachung während seines Überfalls auf Ǫzurr: S(igmundr) […] var sua buinn at hann hafdi hialm ahofde ok gyrdr suerde ỏx j hendi silfr rekín ok snaghyrnd ok hit bestzta uopnn ok uafit skaftít hann var j raudum kyrrtle ok brynstakkr lettr vm vtan ok var þat mal vína ok uvína at æigi hefde slikr madr komit j Færeyiar sem hann var (Fær, S. 54–55; Sigmundr […] war so angetan, dass er einen Helm auf dem Kopf hatte und mit einem Schwert gegürtet war. Eine Axt hatte er in der Hand, silbern verziert und halbmondförmig, eine überaus gute Waffe, und der Schaft war eingewickelt. Er hatte ein rotes Obergewand an und eine kurze, leichte Brünne darüber, und es hieß unter Freunden wie Feinden, dass nie ein solcher Mann, wie er es war, auf die Färöer gekommen sei). Diese Beschreibung erinnert in ihrer Pracht an die überbordend reiche Ausstattung Bolli Bollasons auf seinem Rachefeldzug in der Laxdœla saga c. 63, S. 187; vgl. auch Sauckel 2014, S. 31–32. Im Zusammenhang von Sigmundrs ›höfisierter‹ Gestaltung wirkt sie aber primär als Ausweis seiner buchstäblichen Ritterlich-
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Fremdheit kann er nie überkommen. Þrándr hingegen kennt und weiß alles auf den Färöern, und dominiert sie entsprechend. Innerhalb der von Þrándr erschaffenen Semiosphäre ist Sigmundr nach seinem langen Exil ein Fremdkörper. Dieser Paradigmenwechsel begründet die strukturell angelegte Tragik der Sigmundr-Figur. Erzähllogisch ist er schon im Moment seiner Rückkehr auf die Färöer wieder, was er in seiner Kindheit war: Ein Hindernis auf Þrándrs Weg zur Vorherrschaft, das dieser beseitigen muss und letztendlich wird. So ist Sigmundrs Lebensweg insgesamt ein Zyklus. Aus dem Nichts der unrechtmäßigen Verbannung kommt er über seinen kometenhaften Aufstieg am norwegischen Hof schließlich zurück in die zwar unrechtmäßige, aber aufgrund seiner Persönlichkeit und seines narrativen Aufbaus nur logische Position des Störfaktors einer anderen Herrschaft und das Nichts seines Endes. Dieser Zyklus ließe sich als Inversion der ›höfisierten‹ Erzählmatrix ansprechen. Anstatt aus der Ordnung zu fallen und sich wieder in diese zu integrieren,251 ist Sigmundrs ›Cursus‹ ein Weg aus der Unordnung der Auflösung bisheriger Machtstrukturen durch Þrándr über die Ordnungsgarantie in Hákons Diensten zurück in die Unordnung der eigenen herrschaftlichen Desintegration. Mit dem Wechsel der Zuordnung Sigmundrs einher geht auch seine liminale Position zwischen beiden Räumen der Erzählung. Er ist, wie Richard North formuliert, ein »wanderer«,252 der schlussendlich nirgendwo eindeutig und gesichert zugehörig ist, der nirgends eine tatsächliche Heimstatt hat. Sigmundr gehört im Kern weder vollständig auf die Färöer, auf denen er scheitert, noch nach Norwegen, wo er gut aufgehoben ist, aber nicht bleiben kann. Und so schlägt sich diese raumkonzeptionelle Zwischenposition in Sigmundrs lehnsrechtlich begründeten Reisen während der gesamten Zeit seiner Vorherrschaft nieder, in der er jährlich von den Färöern zurück nach Norwegen reist.253 Sigmundrs Leben erweckt auch nach seiner Rückkehr und der Rückeroberung seiner Herrschaft den Eindruck eines Rastlosen, eines Mannes, der nie dort angekommen ist, wo er ankommen sollte, und setzt insofern seinen letztlich stets mobilen Lebensweg im Exil fort. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr hat Sigmundr bereits eine weite Wanderschaft hinter sich: Er wird aus
keit und an die Figurenbeschreibungen des höfischen Romans angelehnt, vgl. Klettskarð 2000, S. 56–57. Sein reiches Äußeres entspricht dem Inneren, vgl. Schulz 2015, S. 41–43 u. S. 76–77. Hervorgehoben werden Pracht und Güte seiner Ausstattung – und die Tatsache, dass solche abseits von ihm auf den Färöern nicht existieren. Zwar ist das mal vína ok uvína als Lobpreis von Sigmundr zu verstehen, jedoch macht es auch klar, dass er bei seiner Rückkehr auf die Färöer hier einerseits als reiner Repräsentant des Hofes, nämlich als Ritter, auftritt, und dass andererseits ein solcher Auftritt auf den Färöern unerhört ist. Sigmundr befindet sich schon in seinem Aussehen in einem Modus, der auf den Färöern fremd wirkt und keinen wirklichen Platz besitzt. Konsequenterweise sparen die Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta abseits der Flateyjarbók, die Sigmundrs höfische Konnotation, wie oben ausgeführt, nicht zum Problem werden lassen, auch den größten Teil dieser Schilderung aus, siehe Fær, S. 54–55 (Text A; D verzichtet gänzlich auf eine Beschreibung). 251 Zur Struktur vgl. Schulz 2015, S. 261–272. 252 North 2005, S. 67. 253 Siehe Fær c. 24–34, S. 58–81.
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seiner Heimat nach Norwegen exiliert, lebt dort kurze Zeit in der Viken, wandert sodann ins Dovrefjell, wo eine lange Ruhephase seiner Wanderschaft eintritt. Danach begibt er sich weiter nach Hlaðir, von wo aus er die dänische See, Schweden und die Orkneys bereist, ehe er wieder auf die Färöer zurückkehrt. Ein geographischer Zirkel, der fast die gesamte bekannte nördliche Welt abdeckt, führt ihn damit von seinem Heimatland fort zurück in die Heimat. Statt direkt zurück auf die Färöer führt ihn die zeitweilige Aufgabe seiner Selbstbestimmung im Dienst Jarl Hákons zunächst nach Osten, in noch größere Entfernung von seinen Heimatinseln also. Die lange Dauer und der weite Weg drücken einerseits Sigmundrs Geschick im Erreichen der Position aus, die ihm auch seinen anfänglichen Erfolg auf den Färöern beschert, jedoch zugleich seine Vorliebe für den Moment seines Kämpferlebens, und insbesondere die grundsätzliche Ortslosigkeit, die ihm anhaftet. Sigmundr befindet sich stets in Bewegung, ohne lange zu verweilen254 – am Ende ›gehört‹ er nirgends ›hin‹, er ist ein Heimatloser, ein Getriebener, und fällt durch die Raster. Diese mangelnde stabilitas loci ist schlägt sich auf mehreren weiteren Ebenen nieder: Raumsemantisch überquert Sigmundr wieder und wieder die Grenze zwischen Norwegen und den Färöern, sodass er in sich in ihrem Dazwischen letztendlich aufreibt. Das wirkt ironisch, da doch die ›höfisierte‹ Matrix seiner erzählerischen Gestaltung ein gewisses Grenzgängertum von ihrem Protagonisten einfordert. Dieses ist allerdings durch ihre eigentlich vorgesehene Finalstruktur abgesichert.255 In Sigmundrs Fall entfällt jedoch die finale Rechtfertigung, sobald mit seiner Rückkehr auf die Färöer nach seinem Anschluss an Hákons Hof das Restitutionsmoment nicht mehr greift, bzw., aus Perspektive des Hofes, dieser Höhepunkt seines Lebensweges nur ein weiteres Analogon seiner Wikingerfahrten darstellt. Er selbst wird so ein Opfer der Grenzziehung. Er ist von der ursprünglichen Ordnung entfremdet und aus deren Sicht ein Eindringling. Damit und mit seinem fortgesetzten Hin und Her zwischen beiden Räumen und Herrschaftsbereichen befindet sich Sigmundr in einer Mittlerposition. Er vermittelt, im Grunde pausenlos, zwischen diversen Polen: Raumkonzeptionell zwischen den
254 Vgl. North 2005, S. 67. 255 Vgl. Schulz 2015, S. 270. Die höfische Ordnung kann nur von einem Protagonisten aufrechterhalten und durchgesetzt werden, der sich der verworfenen Muster wenn nötig bedienen kann, etwa durch ›archaische‹ Gewaltausübung. Wiederholt muss er, sowohl geographisch durch ÂventiureFahrt als auch hinsichtlich seines Aktionsrepertoires, in den Bereich des Nicht-Höfischen überwechseln, um den Grenzverlauf stabilisieren zu können. Dieses transgressive Moment des Protagonisten kann allein über die finale Zwecksetzung der Ordnungsverteidigung und des Grenzstabilisierungsmechanismus gerechtfertigt werden. Sigmundr erfüllt diese Voraussetzung schon durch seine ›heroische‹ Persönlichkeitsstruktur, doch herrscht in seinem Fall ein grundlegendes Ungleichgewicht. Durch die Ständigkeit des Ortswechsels vom jeweiligen Diesseits ins Jenseits der Grenze wird letztendlich die Grenze selbst zu Sigmundrs eigentlichem Lebensbereich. Sein Ziel, eine dauerhaft restrukturierte Scheidewand der Ordnungsprinzipien, die eindeutige und gesicherte Unterordnung der Färöer unter das norwegische Primat, wird nicht erreicht und kann schon strukturell bedingt nicht mehr erreicht werden.
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Semantiken von Innen und Außen für jeweils Norwegen und die Färöer, entsprechend zwischen seiner Heimat und einer Kolonialmacht, zwischen der Krone und einer jedenfalls nominell königslosen Gesellschaft.256 Er vermittelt zwischen Hákon und seinem Ziehvater Þorkell ebenso wie zwischen Hákon und Haraldr jarnhauss, und damit zwischen Henkern und Gejagten bzw. der Royalität und den marginalisierten Outlaws.257 Zuletzt wird auch zwischen verschiedenen Glaubenssystemen vermitteln, indem er in Óláfrs Auftrag die Färöer zum Christentum bekehrt und die alten Sitten damit in neue überschreibt, während er sich gleichzeitig weigert, völlig mit seiner eigenen paganen Vergangenheit zu brechen.258 In letzter Konsequenz vermittelt er durch seine zweimalige Rückkehr aus dem Reich der Toten sogar zwischen dem Dies- und dem Jenseits.259 All diese Elemente, zwischen denen Sigmundr sich befindet und insofern ihr Verhältnis aushandelt, sind Ergebnis seiner konzeptionellen Ortslosigkeit: Erzählstrukturell und daraus folgend auch auf der Handlungsebene ist Sigmundr dauerhaft ›Betwixt and Between‹, eine liminale Figur.260 Dies »is the fatal opposite of Þrándr’s influence as a landlord at home.«261 Während auch Þrándr eine zweideutige Grenzfigur darstellt, ist seine Ambiguität doch eine rein charakterliche.262 Die Liminialität der Sigmundr-Figur hingegen speist sich weitgehend aus externen bzw. erzählstrukturellen Gründen. Inbesondere aber ist Þrándr nach seiner eingänglichen Auslandsfahrt auf den Färöern ortsfest verwurzelt, und seine konzeptionelle wie raumsemantische Zuordnung eindeutig: Sein Bereich sind die Färöer. Durch seine machtpolitischen Bestrebungen ist Þrándr bemüht, die ursprünglich einheitliche Semiosphäre, die der Erzähltext raumsemantisch entwirft, in zwei Hälften zu zerschneiden und ein von ihm beherrschtes Innen der Färöer einem norwegischen Außen entgegenzusetzen, einen Raum, der von allen fremd markierten Elementen reingehalten werden muss. Insbesondere aus der Gegenüberstellung mit Þrándrs Blickwinkel wird daher deutlich, dass Sigmundr in einer Art und Weise narrativ konnotiert ist, die in auf Þrándrs Färöern keinen Ort mehr hat. Sigmundr als Agent des Jarlshofes ist unzweifelhaft ein solches. Auch in narrativer Hinsicht ist er als fremdes Element in der Erzählwelt der Färöer ausgewie-
256 Vgl. Skyum-Nielsen 1973 und Guldager 1975 mit ihren Interpretationen der Sigmundr-Figur sowie Harlan-Haughey 2015, S. 362, mit allerdings deutlich übertriebener Sympathiezuschreibung für die Kolonisierten an Sigmundr. 257 Siehe Fær c. 21, S. 45–47, u. c. 26, S. 62–63, vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 362–364. 258 Vgl. Harris 1986, S. 208; North 2005, S. 67; Bick 2005, S. 8; Bonté 2014a, S. 141; Harlan-Haughey 2015. Vgl. auch Kap. 4.5. 259 Einerseits bei seiner Beschwörung durch Þrándr in Fær c. 40, S. 88, und andererseits durch seine Erscheinung vor seiner Frau Þuríðr in c. 54, S. 131. Zur daraus ableitbaren Vermittlung vgl. Bonté 2014a, S. 141. Siehe hierzu auch Kap. 4.5.1 u. Kap. 6.5. 260 Für Formulierung und Konzept siehe Turner 1964, zur Lektüre Sigmundrs als Mediatorenfigur vgl. Schmidt 2019, S. 66–69. 261 North 2005, S. 67. 262 Vgl. Kap. 3.
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sen, denn die Verkehrtheit von Sigmundrs norwegischer Assoziation wird auch durch ihre Darstellungsweise unterstrichen. So ist er nicht nur über weite Teile seines Lebens dem Raum Norwegen physisch zugeordnet, sondern seine Figurenzeichnung ist auch mit Motiven verknüpft, die dezidiert anderen Mustern folgen als denen, die innerhalb des Narrationsraums der Färöer verwendet werden. Es ist Sigmundr, der vermehrt mit denjenigen Motiven verknüpft ist, die in der Forschung als Fornaldarsaga- und ›Folktale‹-Motive angesprochen wurden.263 Deutlich ist ihre massive Verwendung im Zuge der Outlaw-Episode. Dort spielt sich Sigmundrs primäre Assoziation mit anderen Figuren ab, diese Episode etabliert ihn initial als Hauptfigur und stellt in seinem Leben als »wanderer«264 auffälligerweise die einzige Ruhephase dar, in der Sigmundr sich nicht konstant von Ort zu Ort bewegt. Es ist die grundsätzliche Konzeption, die er dort erwirbt, der Sigmundr nie entrinnen kann. Seine Identität ist determiniert durch seine Erziehung am ›Nicht-Ort‹ des Dovrefjell, dessen Wildheit und ›Otherness‹ sich auch in der Verknüpfung mit Motiven aus ›anderen‹ Erzähldomänen niederschlägt. Der so erzielte Aufbau der SigmundrFigur steht im starken Kontrast zur üblichen Erzählführung bei Protagonisten von Isländersagas, während er gleichzeitig seine normative Idealität – Kampfbereitschaft, den Erwerb einer tüchtigen Ehefrau und eine unüberwindliche persönliche Integrität – deutlich macht. Beide Gesichtspunkte wiederum stehen quer zu den narrativen Prinzipien, die sich in Þrándrs Figurengestaltung offenbaren und daraus folgend auch die Erzählführung auf den Färöern prägen. Diese ist weitgehend ›naturalistisch-nüchtern‹, den Parametern des Stils der Isländersagas verpflichtet, zugleich aber in hohem Maße irreführend und destabilisiert in ihrer Darstellungsweise. Normerfüllung wird von Þrándrs Figurenkonzeption, gerade erzählerisch, nicht bedient.265 Sigmundr als ›Held‹ aber entspricht ganz den für seinen Figurenaufbau verwendeten Erzählnormen und seine Fähigkeiten werden während seiner Kämpfe auf Víking sehr evident und eindeutig illustriert. Auch narrativ gesehen ist Sigmundr auf den Färöern in einer marginalen, nicht zugehörigen Position. Er ist ein Fremdkörper auch jenseits seiner buchstäblichen Fremdheit und Unkenntnis in seiner alten Heimat. Konzeptionell ließe sich diese Inszenierung Sigmundrs unter Rückgriff auf seine Vergangenheit verschlagworten: Er läuft den Gesetzen, auch denen der Erzählführung, auf den Färöern zuwider. Somit ließe sich seine Figur als ›Gesetzloser‹ in narrativer Hinsicht fassen. Sigmundrs Jugendzeit im Dovrefjell assoziiert ihn mit einer Outlaw-Figur als Rollenmodell und verbindet ihn mit Motiven und Erzählkonzeptionen, die in den Isländersagas für Outlaws kennzeichnend sind. Gerade durch seine Verbindung zu Jarl Hákons útlagi Haraldr járnhauss gewinnt er vielsagender Weise
263 Zu dieser Identifikation siehe näher Kap. 2.3.2.2. Vgl. auch Kap. 4.2.3 u. Kap. 7.2. 264 North 2005, S. 67. 265 Vgl. Kap. 3 zur Normabweichung Þrándrs sowie Kap. 2.3.2.2 zur Abweichung des DovrefjellAbschnitts vom ›Standard‹ der ›typischen‹ Darstellungsweise der Isländersagas.
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seine Handlungsmacht bei Hofe zurück und erweist sich damit als vermeintlich bereit für die Übernahme der Herrschaft auf den Färöern. Gegründet auf diese Tatsachen kann Sigmundr seinen Kampf nicht gewinnen – er ist gebunden an ›andere‹ narrative Räume als die Inseln, auf die er zurückkehrt. Sigmundr lässt sich somit als ein ›Narrativer Outlaw‹ im diesem Erzählraum kategorisieren, welcher Gesetzen unterworfen ist, die sich an der Þrándr-Figur kristallisieren. Die Elemente jedoch, die ihn innerhalb von Þrándrs Erzählwelt als fremd markieren, sind gleichzeitig die Grundpfeiler seiner Identität, die über den Bericht seines Jugendexils etabliert wurde. Zwar wurde er nicht formalrechtlich geächtet, doch kommt sein Exil einer Ächtung durch Þrándr vor dessen gleichsam selbstgeschriebenen Gesetzen gleich, auch in narrativer Hinsicht. So ist erzählstrukturell und auch konzeptionell Sigmundrs Schicksal bereits besiegelt, als er nach seinem Exil dorthin zurückkehrt, wohin er eigentlich gehört. Er wird intensiv und langwierig als die Hauptfigur der Færeyinga saga aufgebaut, nur um alle Erwartungen zu zerstören, sobald er die Erfüllung seines Daseinszwecks als färöischer Herrscher in die Wege leitet. Dabei ist sein Scheitern jedoch nicht allein narrativ begründet, sondern auf der Handlungsebene auch auf vielfältige persönliche Fehler, Unterlassungen und Misskalkulationen zurückzuführen, die in ähnlich großer Breite dem Rezipienten vor Augen geführt werden, wie die dafür verantwortlichen Gründe bereits während der lang andauernden, rezipientennahen und strahlenden Etablierung seiner Figur eingeflochten wurden.
4.3.3 Die Kurzsichtigkeit des Kriegers: Abstraktes Recht, Fremdgebundenheit und Kampftaktik als Grundpfeiler der politischen Niederlage Das Element der Fremdheit in Sigmundrs narrativer Konzeption zeigt sich auch in seiner charakterlichen Disposition zum Wikingerkrieger. Diese macht ihn zum idealen Mitglied des norwegischen Herrscherhofs, nicht aber zum adäquaten Teilnehmer der Prozesse in der färöischen, nunmehr von seinem Gegner dominierten Gesellschaft, auch wenn er nach seiner Etablierung als Herrscher im Namen Hákons vínsæll þar j *eyíunum ist.266 Die Färinger akzeptieren ihn widerspruchslos als ihren Herrscher und beugen sich den durch ihn verkündeten Entscheidungen. Was Sigmundr jedoch zum Herrscher macht, ist sein abstraktes moralisches Recht als Nachfolger seines Vaters. Durchgesetzt werden kann dieses Recht nur aufgrund der Autorität und der nie in Frage gestellten Herrschaftsernennung Hákons, vor allem aber durch Þrándrs zeitweilige Scheinunterwerfung. Seinen Herrschaftsanspruch kann Sigmundr nur so lange aufrechterhalten, wie er Þrándr, notfalls mit Waffengewalt, dazu zwingen kann, sich seinen und den Entscheidungen seiner Lehnsherren zu beugen. Dazu muss er im spürbar engen Kontakt zu den norwegischen Herrschern stehen, die seine eigene Autorität verbürgen. Sigmundrs Herrschaft speist sich al-
266 Fær, S. 65 (dort auf den Inseln beliebt).
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lein aus der Rechtmäßigkeit seiner Unterordnung unter den norwegischen Hof, und der Machtbasis, an die er sich jenseits des Meeres angeschlossen hat. Da diese Ordnung der Dinge im moralischen und rechtlichen Sinne legitim ist, vertraut Sigmundr auf die Autorität, mit der er ausgestattet wird. Bei seiner Figurenzeichnung wird Komplexität durch narrative Externalisierung, den Bezug auf verschiedene Erzählschablonen und damit vor allem auf einer abstrakt-konzeptionellen Ebene erzielt. Das spiegelt sein Herrschaftsverständnis, gegründet auf dessen legitimen Geltungsanspruch. Wie im Falle Þrándrs entsprechen sich damit die Figurengestaltung durch ihre erzählerische Inszenierung und ihr Charakter und Vorgehensweise auf der Handlungsebene.267 Doch gründet sich Herrschaft im von Þrándr eingerichteten System auf den Färöern auf materielle Ausgangsbasen, und nicht auf abstraktrechtliche Konzepte, wie unter 3.3 aufgezeigt – in dieser Tatsache liegt Þrándrs fortgesetzte, tatsächliche Machtbasis im Hintergrund begründet. Daher ist Þrándrs Herrschaftsprinzip mit bloßem Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit und Billigkeit der Dinge nicht auszuhebeln. In Sigmundrs Verständnis aber wird er zum Herrscher der Färöer, weil es sein Recht ist, diese zu beherrschen. Da ihm das Land selbst aber weitgehend unbekannt ist, konzentriert er sich nicht darauf, es zu erobern, um seinen Herrschaftsanspruch durchzusetzen, sondern konzentriert sich allein auf die Unterwerfung jener, die er – erneut auf das Abstraktum seines Erfahrungshorizonts gegründet – als seine primären Gegner erkennt. Er gibt sich allerdings mit einer bloßen Unterordnung zufrieden, jedenfalls in Þrándrs Fall. Zwar setzt er seinen Herrschaftsanspruch durchaus physisch durch und beruft sich auf seine Möglichkeit, den Kontrahenten buchstäblich zu vernichten, jedoch bleibt sein Herrschaftsprinzip bei dieser Drohung stehen. Solange formal seine Herrschaft gesichert ist, sieht Sigmundr keinen Handlungsbedarf. Dabei verkennt er aber, dass im Gegenzug sein bloß ideelles Herrschaftsrecht nur so lange in konkrete Vorherrschaft überführt werden kann, wie er das enge Band zwischen sich und dem für seine Autorität einstehenden Hof nicht abreißen lässt. Konzeptionell bedeutet dies, er herrscht, solange sein konstantes geographisches Wechseln zwischen den Färöern und Norwegen auf der Handlungsebene seine Existenz als erzählerisch liminaler »wanderer« spiegelt.268 Sobald die Bindung lockerer wird, verliert Sigmundr zusehends an herrschaftlichem Boden, weil er eine Herrschaft in eigenem Recht nicht konkret genug vor Ort durchgesetzt hat, indem er etwa Þrándr getötet, oder die Inseln herrschaftlich durch Besetzung mit ihm treuen Männern durchdrungen hätte. Als jedoch die Herrschaftsinstanz in Norwegen in
267 Vgl. hierzu Kap. 3.5. 268 Auch im Rahmen der ›höfisierten‹ Erzählstruktur von Sigmundrs Aufbau ist eine konstante Rückkehr an den norwegischen Hof, das Zentrum von Sigmundrs Welt, insofern notwendig, als dass aus dieser Sicht seine Vorherrschaft auf den Färöern nur eine weitere, restituierende ÂventiureHandlung darstellt, die einer zentralen, formalen Bestätigung bedarf. Solange diese Bindung aufrechterhalten werden kann, ist Sigmundr noch kein Opfer seiner erzählstrukturellen Entwurzelung.
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Person der Hákonarsynir Sveinn und Eiríkr wesentlich distanzierter bleibt als unter ihren Vorgängern, wird Sigmundrs Ende in die Wege geleitet. Dies äußert sich konkret auch in Sigmundrs unterbliebener Sommerreise. Im ersten Jahr nach der Durchsetzung seiner Herrschaft verbringt Sigmundr noch die Zeit von Frühling oder Frühsommer bis zum nächsten Frühlingsanfang in Norwegen, danach hält er sich zweimal nur den Sommer über dort auf und kehrt schon im Herbst auf die Färöer zurück. Auffällig ist, dass er bei seinem letzten Besuch bei Hákon verspätet ist, und so die Zeit von Herbst bis zum folgenden Sommer in Norwegen verbringt. Seine Bekehrung unter Óláfr Tryggvason ereignet sich zur Sommerszeit, während er zu Herbstbeginn als Missionar zurückkehrt. Seinen zweiten Besuch am Hofe Óláfrs absolviert Sigmundr nach einem zweiten unfreiwillig auf den Färöern verbrachten Winter im Frühling und fährt bereits im Frühsommer auf die Inseln zurück. Er reist somit regelmäßig im Sommer nach Norwegen, um die Steuern zu entrichten, und damit das Band seiner Autorität zu stärken. Einzig die Reise an den Hof von Hákons Söhnen wird zeitlich nicht näher fixiert.269 Þrándrs Aufstand wird schließlich in der Zeit zwischen Sommer und Winteranfang verortet – jener, die Sigmundr in Norwegen verbracht hätte, wenn er seine Hofbesuche im üblichen Modus fortgesetzt hätte. Doch offenbar reist er nur ein einziges Mal an den Hof von Hákons Söhnen und bleibt im Jahr darauf untypischerweise auf den Färöern. Bereits die abnehmende bzw. sich nicht unmissverständlich einstellen wollende Regelmäßigkeit seiner Norwegenaufenthalte offenbart so einerseits seine prekäre Position. Andererseits werden die Angaben zum zeitlichen Rahmen des Plots damit als auffällige Marker eingesetzt: Zunächst bricht die eindeutige zeitliche Fesetzung seiner Reisen, die um sumarit oder mit ähnlichen Formulierungen erfolgen, unvermittelt ab, danach hält sich Sigmundr in einem Zeitraum auf den Färöern auf, der als ungewöhnlich gelten kann. Er mag auf seine erneut bestätigte und zu diesem Zeitpunkt bereits langjährige Vorherrschaft vertrauen, doch erweist sich dieses Vertrauen aufgrund seines Fremdbezugs und seiner bloßen Nominalität als Trugschluss. Sigmundr muss geographisch liminal agieren und seine Existenz als »wanderer«270 spiegeln, um die Defizite seiner Figurenstruktur ausgleichen zu können. Seine Vorstellungen bleiben jedoch zu sehr an den abstrakten Gedanken und den Glauben an die eigene, legitime Macht gebunden, die konkret aber in Fremddominanz von Norwegen aus resultiert, um langfristig gegen Þrándrs Macht bestehen zu können. Nachdem Sigmundr Ǫzurr erschlagen hat, handelt er mit Þrándr einen Frieden aus und es kommt zur Zusammenkunft auf der Þingstätte der Färöer. Þrándr tritt dort, trotz seines in diesem Moment augenscheinlichen Machtverlustes, als hinn ka-
269 Sie ist aufgrund der Rückkehr vm haustít (Fær, S. 81; im Herbst) aber auch im Sommer zu vermuten. 270 North 2005, S. 67.
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tazsti auf.271 Er versucht, Sigmundr zu schmeicheln und bietet ihm freimütig das Selbsturteil (sjálfdœmi) in ihrem Konflikt an, wobei hinter dieser ›Unterwerfung‹ der Plan stehen dürfte, ein Selbsturteil Sigmundrs für ungültig zu erklären,272 und so die eigene Herrschaft auch rechtlich zementieren zu können. Sigmundr verweigert sich – Þrándrs wiederholtem Zureden zum Trotz – diesem Angebot, »out of habit, perhaps«, wie North kommentiert.273 Tatsächlich dürfte Sigmundrs Vorhaben von Anfang an gewesen sein, den Fall durch seinen Herrn in Norwegen entscheiden zu lassen. Das Beharren auf dem Selbsturteil vor Ǫzurr lässt sich als reines Moment der Provokation kategorisieren.274 Gegebenenfalls steht aber auch hinter seiner Weigerung Þrándr gegenüber die Hoffnung auf einen Kampf, dem Þrándr nur entgeht, weil er erkennt, at annar man hardare.275 Sigmundr vollzieht die für ihn logische Handlungsoption: Er wendet sich an den Mann, der seinen Aufstieg in Norwegen möglich gemacht hat, den Kopf der hirð, der er angehört, der ihm die Rache an Ǫzurr und seine Rückkehr überhaupt erst ermöglicht hat. Damit trifft Sigmundr zwar die richtige Entscheidung, doch ist sie im konzeptionellen Kontext der Færeyinga saga den falschen Motiven geschuldet und führt zum falschen Ergebnis. Seine Handlungsmacht in Selbstbestimmung hatte er zuvor mühevoll über Jahre hinweg in Norwegen aufgebaut und durch sein Eintreten für den Outlaw Haraldr schließlich zurückerobert. In dem Moment, in der er die Position erreicht hätte, auf die ihn sein Lebensweg führen sollte, gibt er durch seine Wendung an den Jarl allerdings eigenhändig – wenn auch in der Logik des Legitimitätsdenkens und als treuer Gefolgschaftsmann nur folgerichtig – vollends wieder jegliche Eigenständigkeit ab. Diese Entscheidung besiegelt im Rahmen des Plots seinen Untergang, und Sigmundr trifft sie ungezwungen. Er könnte zu diesem Zeitpunkt durch eigenverantwortliches Handeln auch noch tatsächlich die ursprüngliche Ordnung wiederherstellen, sich vom Hof in Norwegen emanzipieren und im eigenen Recht herrschen. Indes zeichnet sich Sigmundr nicht durch die Rechtskenntnis aus, die für seinen Vater festgehalten wird,276 und Brestir selbst ersetzt maßgeblich den Rechtsbezug von Konfliktbeilegungen auf den Färöern durch ein gewaltbasiertes Recht des Stärkeren, wenn er zu Beginn der Saga trotz seines Sieges im Þingstreit gewaltsam das Gericht auflösen lässt.277 Diese Tat des Vaters stellt damit bereits zu Beginn des Textes stillschweigend die Frage, inwiefern Recht auf diesen Färöern überhaupt gül-
271 Fær, S. 57 (sehr gut gelaunt). 272 Siehe näher Kap. 3.4.2. 273 North 2005, S. 64. 274 Vgl. auch Kap. 4.2.2 (Fn. 82). 275 Fær, S. 58 (dass es anders härter käme). 276 Vgl. Fær, S. 11: Brestir var vitr madr ok lỏgkęnn (Brestir war ein kluger Mann und gesetzeskundig). Der Sohn spiegelt insofern ironisch gebrochen den Vater, wenn Sigmundr gerade hinsichtlich des Rechts und seiner Anwendung nicht mit Þrándr konkurrieren kann. 277 Siehe Fær c. 5, S. 11. Vgl. auch Kap. 4.2.1 (Fn. 57) sowie Kap. 4.3.2 (Fn. 247) zur Fortsetzung der Rechtsauflösung durch Sigmundr selbst.
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tig sein kann, wenn selbst ein rechtskundiger und gerechter Mann wie Brestir im Angesicht eines einwandfreien Sieges im Gericht nichtsdestoweniger Gewalt bemüht. Es verwundert so kaum, dass für Sigmundr mit der Billigkeit des Rechts auf den Färöern nichts zu erkaufen ist. Doch auch weil Sigmundr der Anschluss an den Jarlshof bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist, steht die Option des Bezugs auf eine unabhängige Rechtsnorm nicht mehr zur Debatte. Sigmundr unterschreibt so gewissermaßen selbst sein Urteil: Seine Herrschaft wird damit auch formal uneigenständig und er fungiert nur noch von norwegischen Gnaden als verlängerter Arm der Hegemonie des Jarlshofes.278 Hákon trifft dennoch eine Entscheidung, die auch für Þrándr zunächst katastrophale Folgen nach sich zieht, indem dessen bisherige Macht auf fast allen Ebenen gebrochen werden soll: [Þ]ar geri ek manngiolld tuen firir huornn þeirra brędra hínu þrídu firir fíor rad vid ykkr er Þrandr uillde at þit værut drepnir þa er hann let drepa fedr ykkra hinu fiordu manngiolld skulu koma firir þat er Þrandr selldi ykkr mansali en þann fiordung er þu att j manna foręde j Færeyíum. þar skal af taka huornn tueggia hlut Þrandar ok arfua Ozsorar sua at þín eígnn skal nu uera helmingr eyianna en helmingr skal falla j minn gard firir þat er Hafgrimr ok Þrandr drapu hirdmenn mína Bresti ok B(æini). Hafgrimr skal vera ugilldr firir uíg Brestís ok atfor vid saklausa menn. Oszor skal æigi fe bæta firir þann viafnnat er hann settizst j eignir þínar ok var þar drepínn […] Þrandr hafui landzuist sína ef hann helldr sęttir þessar. eyiar allar skalltu hafua j len af mer […] ok giallda mer skatta af mínum hluta.279 (›Ich erhebe zwei Wergelder für jeden der Brüder, ein drittes für den Mordanschlag gegen euch, als Þrándr wollte, dass ihr getötet würdet, als er eure Väter töten ließ. Das vierte Wergeld soll dafür erhoben werden, dass Þrándr euch in die Sklaverei verkauft hat. Aber zu dem Viertel, dass du als Thingherrschaft auf den Färöern hast, soll je von dem Teil Þrándrs und dem Erbe Ǫzurrs etwas hinzukommen, sodass dein Eigen nun die Hälfte der Inseln sein soll, und eine Hälfte soll mir zufallen, dafür, dass Hafgrímr und Þrándr meine Gefolgsleute Brestir und Beinir getötet haben. Hafgrímr soll bußlos gefallen sein wegen des Totschlags an Brestir und des Überfalls auf unschuldige Männer. Für Ǫzurr soll kein Geld bezahlt werden wegen des Unrechts, dass er sich auf deinen Besitzungen ansässig gemacht hat und dort getötet wurde […]. Þrándr soll seine Aufenthaltserlaubnis besitzen, wenn er diesen Vergleich hält. Die ganzen Inseln sollst du als Lehen von mir haben […] und mir für meinen Teil Steuern bezahlen.‹)
Mit diesem Schiedsspruch Jarl Hákons scheint zunächst eine klare Bereinigung der Konfliktsituation gegeben. Þrándr verliert seine Herrschaft, ein Teil seines Landbesitzes geht an Sigmundr über und er wird durch die hohen Bußzahlungen eines substanziellen Teils seiner wichtigsten Herrschaftsressource – seines Geldes – beraubt. Sigmundr hingegen steht nominell wieder in Macht und Ehren, sein Vermögen und sein Landbesitz erhöhen sich beträchtlich. Persönlich besitzt er nun die südliche Hälfte der Färöer, über die nördliche Hälfte besitzt er Hákons lehnsrechtliche Herrschaft.280 Jedoch besiegelt diese Entscheidung auch Sigmundrs Schicksal,
278 Vgl. zur daraus folgenden Perspektive der norwegischen Herrscher auch Kap. 7.4. 279 Fær, S. 59–60. 280 Vgl. North 2005, S. 65.
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indem sie ihn dazu verpflichtet, finanzielle Abfuhren an den Jarl zu leisten. In der Folgezeit nämlich zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen Þrándrs hintergründiger Herrschaftskompetenz und Sigmundrs Mangel an für eine Herrschaft notwendigen Charaktereigenschaften sehr deutlich. Der erste grundsätzliche Fehler unterläuft Sigmundr bereits, als er vid bæn manna einwilligt, die von Hákon angesetzten Bußzahlungen im Laufe von drei Jahren bezahlen zu lassen.281 Eine fristgerechte Bezahlung, wie von Hákon festgesetzt binnen eines halben Jahres, hätte Þrándr auf einen Schlag einen großen Teil seiner finanziellen Ressourcen gekostet. So aber kann er seine nur wenig substanziell beschädigten Finanzen weiterhin dazu einsetzen, Land zu erwerben.282 Im Umgang mit seinem Geld offenbaren sich Sigmundrs gravierende Schwächen als Herrscher der Färöer. Anders als Þrándr, der alles erworbene Geld kontinuierlich in die eigene Tasche wirtschaften kann, ist Sigmundr dazu verpflichtet, wenigstens einen Teil seiner potenziellen Einnahmen in Form von Steuern außer Landes abzuführen. So entrichtet er zeit seiner Herrschaft jeden Sommer seine fälligen Tribute und nimmt sich dadurch selbst seine wichtigste Herrschaftsressource. Dies zeigt ihn zwar einerseits als treuen Mann seines Herrn, der seinen Verpflichtungen ohne Zögern nachkommt, und insofern moralisch als vorbildlich, andererseits unterstreicht Sigmundr somit selbst seine Konzeption als Fremdkörper auf den Färöern. Als er später, beim Versuch, Þrándr an den Hof König Óláfrs zu bringen, Schiffbruch erleidet und dabei auch die Steuern verliert, die er dem König zu überbringen hat, [t]ok S(igmundr) þa skiph anat ok fe sitt at færa konungi fyrir skattinn. þviat Sigmund skorti eigi lausa fe.283 Auch das zweite Schiff kann das Land allerdings nicht verlassen, sodass Sigmundr im folgenden Sommer dem König fe þat er hann greiddi fyrir skatta af Færeyium þa er tyndz hỏfðo hit fyrra svmar. Ok sva þa skatta er nv áttu at lukaz überbringt.284 Mit anderen Worten: Sigmundr übernimmt den Steuerausfall König Óláfrs durch seine eigenen Finanzen. Auch im ersten Winter nach seiner Rückkehr auf die Färöer bewirtet Sigmundr mart manna seiner Mannschaft auf seinem Hof: [H]afde S(igmundr) rausn mykla. ok at faung mikil j bu sitt.285 Zwar wird die Menge von Sigmundrs Vorräten an diesen beiden Stellen unterstrichen, sodass die getätigten Aufwendungen als unproblematisch und rühmenswert erscheinen, jedoch ergibt sich die Problematik dieses Lebensstils aus seinem impliziten Vergleich mit dem Þrándrs.286 Von diesem wird nie berichtet, dass er Leute bewirtet habe, und seine Neffen wirft er schlussendlich aus dem Haus, weil
281 Fær, S. 61–62, Zitat S. 61 (auf Bitten der Leute). 282 Vgl. North 2005, S. 64–66. Siehe näher auch Kap. 3, bes. Kap. 3.3. 283 Fær, S. 77 (Nahm Sigmundr da ein anderes Schiff und sein Geld, um es dem König statt seiner Steuern zu überbringen. Denn es mangelte Sigmundr nicht an losem Besitz). 284 Fær, S. 78 (das Geld, das er für die Steuer von den Färöern bezahlte, die im letzten Sommer verloren gegangen waren, und auch die Steuern, die nun bezahlten werden mussten). 285 Fær, S. 58 (Sigmundr besaß großes Ansehen und große Vorräte auf seinem Hof). 286 Vgl. North 2005, S. 65.
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sie durch ihre »Untätigkeit« die Einnahmen des Hofes nicht zu vermehren wissen.287 Während Þrándrs Finanzpolitik stets auf die Vermehrung seines eigenen Haushalts ausgelegt ist, entspricht Sigmundrs Verhältnis zum Geld dessen Bedeutung in einer um einen Hof zentrierten Kriegergesellschaft: Die Zirkulation von Einnahmen und nicht deren Hortung ist für ihn zentral.288 Auch wenn sein Vermögen die Bewirtung einer Mannschaft und die Ersetzung der königlichen Tribute durch eigene Finanzmittel zu erlauben scheint, dürfte es dadurch dennoch drastisch vermindert werden. Diese Tatsache ist letzten Endes Ziel ›höfischer‹ und auch ›heroischer‹ Gabe und Gegengabe: Der erfolgreiche und gute Herrscher definiert sich demzufolge über einen nicht enden wollenden Fundus an Reichtümern, die er freimütig unter seinem Gefolge verteilt.289 Sigmundrs Umgang mit finanziellen Ressourcen macht seine persönliche Disposition deutlich, die nach den Prinzipien von Hofhaltung und Heldentum gleichermaßen funktioniert.290 Mit dem wenigstens ideellen und nominellen Erreichen seiner legitimen Position beginnt Sigmundr Gefolgschaftsbindung nach den Mustern, die ihm aus der Kriegergesellschaft am norwegischen Hof bekannt sind. Er betreibt eine Ökonomie, die nach den Maßgaben der Ehrerbietung abläuft – freimütig mit seinen Finanzen umzugehen ist ebenso Signum ehrenhaften Kriegerund Hofmannsverhaltens, wie es eine Ehre ist, reichhaltige Gaben zu erhalten. Zugleich verdeutlicht diese Einstellung Sigmundrs Hang zur Momenthaftigkeit. Ein Horten seines Goldes in Hinblick auf die Sicherung seiner Zukunft kommt nicht in sein Gesichtsfeld. Er denkt erneut kurzfristig, auch dies nach der Logik des ihm zur Verfügung stehenden Handlungsrepertoires nur korrekterweise: In der dafür nötigen Gesellschaftsstruktur bedeutet die Ehre des momentanen Geschenks ein Versprechen an zukünftige Gefolgschaft.291 Erfolgreich ist dieser Lebenshaltungsstil im Geltungsbereich der Færeyinga saga – jedenfalls auf den Färöern – aber nicht. Sigmundrs nachlässiger Umgang mit Geld trägt so zur hintergründigen Stärkung
287 Siehe Fær, S. 128: [O]þrifnnat sínn ok at ferdar leyse (Ihrer Trägheit und Untätigkeit). Mit dem gleichen Vorwurf stachelt er sie auch an, dass Land zeitgleich mit Þórálfr Sigmundarson zu verlassen, was zu dessen Ermordung in Norwegen führt, siehe Fær c. 45, S. 94–106. Vgl. hierzu näher Kap. 3 u. Kap. 5. 288 Zur Rolle von Gaben und Geschenken in der Hofkultur vgl. Haferland 1988, S. 150–159. 289 Vgl. Bumke 1986, S. 314: »Je wertvoller die Geschenke waren, umso deutlicher offenbarten sie Macht und Reichtum des Gastgebers und umso schöner bewies sich seine höfische Tugend der Freigiebigkeit«. Vgl. auch Haferland 1988, S. 151–156 zu den Maßgaben der höfischen Gabenzirkulation, die zwangsläufig in der Maßlosigkeit enden müssen. 290 Zur ›Archaik‹ des Gabentausches als älteres Reziprozitätssystem, das im höfischen aber bedeutend bleibt und überformt wird, vgl. Haferland 1988, S. 150–151. Die Gabe als Mittel der Herstellung von Bindung zwischen Schenker und Beschenktem und somit impliziter Verpflichtung des Letzteren auf den Ersteren ist demnach das der höfischen Kultur bereits vorausgehende Prinzip, die höfische Komponente löst es aber von seinem ursprünglichen Zweck: Gabe um ihrer selbst willen wird das neue Ideal. 291 Vgl. Haferland 1988, S. 157–158: »Der Empfänger einer Gabe ist dem Geber ein für alle Mal verpflichtet« (S. 158).
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Þrándrs bei, der seine Gefolgschaft durch das Erhalten ihrer Pachtzahlungen bindet, statt seine Finanzen gesellschaftlich zu reintegrieren. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Problematik um Þrándrs Bußzahlungen entscheidende Bedeutung. Dadurch, dass dieser den Zahlungsaufschub durchsetzen kann, und schließlich sogar eine Vaterbuße zu Händen Leifr Ǫzurarsons von Sigmundr einzufordern wagt, führt er Sigmundr vor Augen, woran dessen Herrschaftspolitik scheitert. Während Sigmundrs Vermögen sich stetig verringert, steigt das von Þrándr, und es arbeitet hintergründig für dessen erneute Vormacht. Während Sigmundrs Herrschaftsanspruch wie die Art und Weise seiner Herrschaft abstrakt und ans Ausland gebunden bleibt, richtet sich Þrándrs Machtpolitik ganz auf die konkrete, materielle Vereinnahmung der Inseln. Landbesitz und Geld als Stützen der Herrschaft Þrándrs kristallisieren sich an dessen Herauszögern der finanziellen Bußleistungen an Sigmundr als die eigentlichen Bezugsgrößen, auf die die Ausübung von Herrschaft auf den Färöern gebunden sein muss, wenn sie erfolgreich sein will.292 Zu dieser Erkenntnis jedoch scheint Sigmundr nicht fähig. Die erste Bußzahlung erreicht er trotz Þrándrs »Jammern« scheinbar problemlos,293 wohingegen er beim zweiten Mal bereits mit der erhobenen Axt drohen muss.294 Beide aber treibt er noch ein. Das dritte jedoch lässt er firir ord godra manna ausstehen,295 auch wenn er betont, er wolle »es nicht aufgeben«.296 Doch später wird das ausstehende Geld nie wieder erwähnt. Als Þrándr ungebührlich die Vaterbuße für Leifr erneut einfordert, erinnert ihn Sigmundr zwar an die Entscheidung Jarl Hákons,297 macht aber im Gegenzug keine Anstalten, das Geld einzufordern, das Þrándr ihm noch schuldig ist. So unterbleibt letztlich die Bezahlung des letzten, aufgeschobenen Drittels von Þrándrs Buße, der nach dem Fall Óláfr Tryggvasons sogar wagt, zusätzliche Forderungen an Sigmundr wegen Leifrs zu stellen:298 Zu diesem Zeitpunkt ist der Machtkampf im Hintergrund bereits entschieden. An diesem Ablauf der Dinge zeigt sich Sigmundrs politische Kurzsichtigkeit in doppelter Weise. Zum einen gibt er bereitwillig der Öffentlichkeit auf den Färöern nach, obwohl deren Forderungen seinen eigenen Zielen entgegenstehen. Zum anderen tötet er Þrándr
292 Vgl. hierzu Kap. 3 u. Kap. 8. 293 Siehe Fær, S. 62: [Þ]a gelldr Þrandr upp æinn þridiung fiaríns ok stankade þo míog vid (Da bezahlt Þrándr ein Drittel des Geldes und jammerte doch sehr dabei). 294 Siehe Fær, S. 64: S(igmundr) gekk þar at Þrandi ok hafde ỏxe j hendi […]. hann setti ỏxar hyrnuna firir briost Þrandi ok kuetzst mundu þrysta su at hann kennde vtæpiliga nema greidde hann þegar fet (Sigmundr ging da auf Þrándr zu und hatte eine Axt in der Hand […]. Er setzte Þrándr das Axtblatt auf die Brust und sagte, er würde so zudrücken, dass er es hinreichend spüren werde, es sei denn, er zahle das Geld sofort). 295 Fær, S. 66 (wegen der Worte guter Männer). 296 Fær, S. 66: [E]n æigi gef ek þat upp. 297 Fær, S. 81: S(igmundr) q(uaz) þeim domi mundu þar um hlita er Hakon j(arl) hafde dęmt mille þeirra vm oll mala ferlle þeirra (Sigmundr sagte, dabei solle sich an das Urteil gehalten werden, das Jarl Hákon zwischen ihnen getroffen hatte über alle ihre Angelegenheiten). 298 Vgl. North 2005, S. 68; Kap. 3.4.3 u. Kap. 6.3.
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nicht, wider besseres Wissen und obwohl er ihm bei der Eintreibung des zweiten Drittels schon die Axt auf die Brust setzt. Sigmundr verhält sich dauerhaft inkonsequent seinem Gegner gegenüber. Zwar wirft er Þrándr vor, sich nicht an ausgehandelte Abmachungen zu halten: S(igmundr) sagde at Þrandr helldi enn lítt sættina.299 Auch erkennt er, dass er ihm zu viele Zugeständnisse entgegen bringt: Of mikit valld hefi ek nv fengit Þrandi.300 Doch Sigmundr macht zu keinem Zeitpunkt Anstalten, seinen Konkurrenten tatsächlich zu beseitigen. Er will ihn im Moment seiner Rückkehr in seine Gewalt bringen und bedroht ihn mehrfach seiner Kriegernatur entsprechend mit der süffisanten Bemerkung annar mun uerri.301 Zweifach bedroht er Þrándr sogar mit dem Tod, bei der Forderung des zweiten Drittels der Bußzahlungen und im Angesicht der Christianisierung.302 Doch er schaltet ihn nie tatsächlich aus. Neben seinen beiden offenen Todesdrohungen hat Sigmundr diese Gelegenheit wenigstens einmal vor seinem eigenen Tod, während Þrándrs zweitem Angriff auf sich, als dieser wehrlos im Wasser vor ihm treibt. Þórir weist ihn auf diese Möglichkeit hin, doch Sigmundr schlägt sie aus: Þorir mællti at þeir skyllde drepa huernn þeirra sem þeir næde. S(igmundr) q(ua)zst þat æigi uilea sagdizst helldr uilldu hrekia þa sem mest.303 Sigmundr zeigt sich als allzu siegessicher. Tatsächlich scheint es ihm wichtiger, seinen Gegner möglichst stark zu demütigen, als den Konflikt ein für alle Mal zu beenden. Zu stark vertraut er auf sein Recht, der unangefochtene Herrscher der Färöer zu sein und wähnt sich wohl aufgrund dieser Autorität und seiner überlegenen, zu diesem Zeitpunkt wenigstens zweimal auch gegen Þrándr selbst demonstrierten, Kampfkraft immun gegen eine tatsächliche Bedrohung durch seinen Kontrahenten, der sich im Waffengang niemals mit ihm messen könnte. Auffällig in diesem Zusammenhang ist aber, dass Sigmundr nach Þrándrs erstem Angriff durchaus safnnade mỏnnum at ser ok ætlade at taka þa Þrand,304 ehe er erfährt, dass dieser sich bereits zurückgezogen hat. Auch will er ihn ursprünglich bei seiner Rückkehr überfallen und in seine Gewalt bringen.305 Bewusst scheint Sigmundr die Bedrohung insofern also durchaus. Doch jedenfalls vordergründig kann er seine Herrschaft bis zu diesem Zeitpunkt stets durchsetzen – und aus seiner Perspektive damit offenbar ausreichend. Aus beiden Angriffen geht er ohne große Schwierigkeiten siegreich hervor. Handelt es sich bei seinem Verhalten also um reine Selbstüberschätzung, und Sigmundr wiegt sich in trügerischer Sicherheit? Zeigt sich hier also tatsächlich »Dumm-
299 Fær, S. 61 (Sigmundr sagte, dass Þrándr den Ausgleich nur noch wenig halte). 300 Fær, S. 74 (›Zu viel Macht habe ich Þrándr nun gegeben‹). 301 So Fær, S. 64 (›sonst wird es schlimmer‹). 302 Siehe jeweils Fær c. 26, S. 64, u. c. 31, S. 75–76. Zur Christianisierung siehe Kap. 4.5.1. 303 Fær, S. 83 (Þórir sagte, dass sie jeden töten sollten, den sie erreichten. Sigmundr sagte, er wolle das nicht, er sagte, er wolle sie lieber mit größtem Schimpf und Schande davonjagen). 304 Fær, S. 83 (Männer um sich sammelte und Þrándr und seine Leute überwältigen wollte). 305 Siehe Fær c. 24, S. 51–52.
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heit«,306 oder ist Sigmundrs Verhalten nicht eher aus anderen Facetten seiner Persönlichkeit heraus zu erklären? Die Inkonsequenz in Sigmundrs Handeln auf den Färöern zeigt ihn, im Gegensatz dazu, »dumm« zu sein, viel eher als konstant in seinem Denken und Handeln als Akteur. Grundsätzlich denkt er als Krieger kurz- statt langfristig – wie es für ein erfolgreiches Kriegertum notwendig ist. Als Krieger gilt Sigmundrs gesamte Aufmerksamkeit nur dem Moment, in dem er sich erproben will. Er plant nicht weiter voraus, und die Zukunft ist für ihn nicht von Belang. Insofern genügt ihm eine jeweils situative Vormachtstellung, die er gegen Þrándr durchsetzen kann. Zudem bewertet er Taten und ihre Folgen nach den Maßstäben, die ihm einerseits aus seinem Leben im Exil vertraut sind und die andererseits seinen innersten Vorstellungen entsprechen. Da Sigmundr selbst Ehre über alle Maßen anstrebt und Schande für ihn unerträglich ist, verabsolutiert er diesen Lebensgrundsatz. Als der Krieger, der er ist, mit denen er sich in Norwegen verglichen und unter denen er gelebt hat, wäre ein derartig entehrter Mann wie Þrándr, der in seiner Schande nicht einmal des Waffengangs oder der Exekution gewürdigt wird, schon nach der Auseinandersetzung bei Sigmundrs Rückkehr nicht mehr weiter von Belang.307 Sigmundr orientiert sich damit auf den Färöern allerdings präzise an den falschen Wertmaßstäben. Erneut verhält Sigmundr sich dadurch wie ein Fremdkörper auf den Inseln und erweist sich den Abläufen dort gegenüber als unverständig. Im gleichen Maße, wie Sigmundr auf seine Kraft und sein abstraktes Herrschaftsrecht vertraut und uneinsichtig gegenüber den tatsächlichen Mechanismen färöischer Machterhaltung ist, scheint er unfähig zu der Erkenntnis, die Streitigkeiten nur beenden zu können, indem er seinen Gegner tötet. Vielleicht mag sich darin auch seine Treue seinen Lehnsherrn gegenüber spiegeln. Den Rezipienten wird zunehmend der Eindruck vermittelt, Sigmundr hätte Þrándr nur getötet, wenn es ihm von seinem Jarl oder König explizit befohlen worden wäre. Sigmundrs Heldentum markiert so seinen zentralen Nachteil im Kampf gegen Þrándr: Sein Vorgehen entspricht nicht den »Maximen eines informationsadäquaten Handelns«,308 ganz im Gegensatz zu dem seines Konkurrenten, der mit Blick auf die Zukunft und seine Machtposition kleinere Niederlagen in der Gegenwart und seinen Gegnern schmeichelnde Selbsterniedrigun-
306 Vgl. Skyum-Nielsen 1973, S. 8. 307 Die Verteidigung der eigenen Ehre ist der zentrale Handlungsparameter für ›Männer‹ der Sagagesellschaft, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, bes. S. 197–203; Clover 1993; Rau/Greulich 2014; Evans 2019; Thoma 2021b. Kann die eigene Ehre nicht verteidigt werden, »så er konsekvensen tab af prestige og status for den krænkede og en ny social balance« (Meulengracht Sørensen 1993, S. 197; dann sind die Konsequenzen Prestige- und Statusverlust des Gekränkten und eine neue soziale Balance), oder, wie Bjørn Bandlien 2005, S. 108 zusammenfasst: »[T]he accused should use his right as a free male to defend himself, or else he had nothing worth defending«. An diesen Maßstäben gemessen müsste Þrándr angesichts seiner fortgesetzten Entehrungen durch Sigmundr sozial erledigt sein. Sie sind die Maßstäbe Sigmundrs, und dass sie nicht greifen, kann er weder erkennen noch verstehen. 308 Glauser 1989, S. 217.
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gen in Kauf zu nehmen bereit ist.309 Anders Sigmundr: Er ist ein Kämpfer und insofern ein ›Mann des Augenblicks‹. Wo Þrándrs Taten stets mit weiter Voraussicht geplant und ausgeführt werden, wirkt Sigmundrs Handeln von Impulsivität und Spontaneität geprägt. Hierin äußert sich vor allem Sigmundrs mangelndes Geschick in der Sphäre der Politik. Mehrfach wird er auf die Nachteiligkeit seiner Entscheidungen hingewiesen, vor allem von seinem Cousin und Ziehbruder Þórir, der ihm den Tod prophezeit, wenn er Þrándr nicht erschlägt: [Þ]at er þin bani ok þinna vína. s(egir) Þorir ef hann gengr nv vndan.310 Auch seine Lehnsherrn weisen Sigmundr auf Þrándrs Opposition als das maßgebliche Hindernis seiner Herrschaft hin: [Æ]igi hafui þít ordit jafnnslægir þit Þrandr, meint Jarl Hákon.311 König Óláfr gibt sogar zu bedenken, dass spillir þat miok bygð yðvari […] er hann uerðr eigi þaðan braut flæmdr. þviat þat er ætlan mín at þar siti hinn versti maðr ꜳ norðr lỏndvm er hann er.312 Alle diese Hinweise nimmt Sigmundr zur Kenntnis, und angesichts des Eingeständnisses, er habe Þrándr zu viel Macht verliehen, scheint ihm ihre Richtigkeit auch bewusst. Dennoch unterlässt er es, die Situation grundlegend zu verändern. Dies mag Kurzsichtigkeit, auch ›Naivität‹ seiner Taten ausdrücken, offenbart aber gleichzeitig die Tragik seines Schicksals. Sigmundr ist mit jeder Faser seines Wesens ein Krieger, der sich ab seiner Rückehr in die Heimat aber plötzlich in der Sphäre der Politik betätigen muss, einer Welt, für die er nicht geeignet ist und die für seine Figur – im Gegensatz zu Þrándr – auch nicht narrativ etabliert wurde. Als ›Held‹ benötigt er, der oben ausgearbeiteten Konzeption nach, die Rahmensetzung einer Ordnung, die er vertritt. Die Hofordnung Norwegens selbst aber, die als zentraler Angelpunkt hinter Sigmundrs Agenda steht, bedroht Þrándr nicht. Aus dieser Perspektive gibt es also keinen Grund, ihn gänzlich auszuschalten. Spätestens mit der Herrschaftsübernahme der Hákonarsynir ist die Verbindung zwischen Hof und ›Held‹ dann weitestgehend ineffektiv, sodass der ›Held‹ nur noch nach seinen eigenen Vorstellungen handeln kann. Und diese sind diametral anders geartet als diejenigen eines geborenen Machtpolitikers wie Þrándr. Für Sigmundr stellt sich der eigene Lebensweg als verabsolutiertes Schlachtfeld dar – er agiert auch in der Politik wie in einem Zweikampf auf einem Wikingerschiff. Sein Handeln ist immer geprägt durch reine Kampftaktik. Deshalb schaltet er den vordergründig besiegten Gegner nicht endgültig aus, deshalb bleibt sein Bewertungsparameter der der Ehre, deshalb verteilt er gewonnene ›Beute‹ statt sie zu investieren, deshalb denkt er kurz- und nicht langfristig, geht ein gewagtes Risiko ein und vetraut auf die eigene, physische Überle-
309 Vgl. Kap. 3. 310 Fær, S. 76 (›Das ist dein Tod und der deiner Freunde‹, sagt Þórir, ›wenn er nun davonkommt‹). Vgl. hierzu auch Kap. 4.2.2 u. Kap. 7.5.1. 311 Fær, S. 59 (›Ihr seid nicht gleich schlau gewesen, du und Þrándr‹). 312 Fær, S. 78–79 (›es eure Siedlung sehr verdirbt […], wenn er nicht vertrieben wird. Denn es ist meine Ansicht, dass dort der schlimmste Mensch in den Nordlanden sitzt, wo er ist‹).
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genheit, die Rechtmäßigkeit seines Anliegens und die legitime Macht des durch den Hof verbürgten Rechts, das er in diesem ›Kampf‹ vertritt. Wie ausgeführt ist er als Mann der Schlacht dazu prädisponiert, sein Schicksal herauszufordern. Doch in der Politik sind all diese Eigenschaften unbrauchbar. Sigmundr scheitert an der Unvereinbarkeit seiner charakterlichen Disposition mit den Anforderungen des Feldes, auf dem er als Herrscher agieren soll. Das gleiche Muster zeigt sich in Sigmundrs Eingehen auf die Bitten der färöischen Öffentlichkeit. Während er in der Schlacht gegen Haraldr járnhauss durchaus auf die Bitten seiner Männer um Ausgleich hören kann, und sich diese Tat auf lange Sicht sogar als Notwendigkeit erweist, um sich als gleichwertiges Subjekt vor Jarl Hákon konstituieren zu können, ist sein Nachgeben gegenüber den »Worten guter Männer« auf den Färöern fatal.313 Diese befinden sich sämtlich unter Þrándrs Kontrolle, der die Öffentlichkeit geschickt für seine Ziele manipulieren kann.314 Solche politische Manipulation ist Sigmundr fremd, er hört auf die Männer, die ihn umgeben, obwohl ihm selbst klar ist, dass dies ein Risiko für ihn darstellt. Dies tut er sogar, wenn er weiß, dass sie explizit im Unrecht sind: Als im Zuge von Þrándrs wiederholter Bitte um eine Vaterbuße margir menn leggia nu ord til at þeir skuli vel semía [suar(ar) S(igmundr)] æigi gelldr Þrandr Læífuí fet en mer en firir ord godra manna skal fe þetta standa.315 Die Ehrenposition und der gute Ruf dieser Männer sind es wohl, die Sigmundr ihre Entscheidung akzeptieren lassen. Sein Verständnis der Welt und somit auch von Herrschaft gründet sich maßgeblich auf persönliche Integritäten. Er will diejenige seiner Landsleute nicht verletzten, sondern ist in diesem Fall sogar bereit, die eigene aufs Spiel zu setzen. Neben dem ›heroischen‹ Ideal des unbedingten Kriegertums vertritt Sigmundr damit auch das soziale Ideal der Sagagesellschaft, das Ausgleich, Konsens und gesellschaftliche Balance zwischen freien Männern höher preist als Selbstsucht.316 Auch unnötige Gewaltanwendung zur Durchsetzung der eigenen Ziele ist in dieser Perspektive unangemessen, und so steckt Sigmundr um des höheren Gemeinwohls willen zurück. Dies kontrastiert ihn
313 Ironisch und zugleich bestätigend wirkt das narrative Echo, das dadurch auf Sigmundrs Vater Brestir in seinem Verhalten nachhalt: Im Zuge des initialen Konflikts zwischen sich und Hafgrímr ist es Brestir, der die Entscheidung zwischen beiden Parteien leggia […] j hinna bezstu manna dom (Fær, S. 11; den besten Männern […] zum Urteil überlassen) will, und damit den Konflikt mit Hafgrímr zur Eskalation kommen lässt. Ironisch ist der Zusammenhang insofern, als dass Sigmundrs Vater das Kollektiv der »besten Männer« der Färöer wohl nur ins Spiel bringt, weil er sich dadurch seines Sieges sicher wähnen dürfte – ganz im Gegensatz zu seinem Sohn. Zugleich bestätigt sich die Fatalität des Einbezugs der Öffentlichkeit in Machtstreitigkeiten, wenn es gerade dieser Verweis Brestirs ist, der den Konflikt weiter zu Eskalation bringt, jedenfalls, solange diese Öffentlichkeit unkontrolliert bleibt. 314 Vgl. North 2005, S. 65; Kap. 3. 315 Fær, S. 65–66 (sich viele Leute nun dafür aussprechen, dass sie sich gütlich einigen sollen [antwortet Sigmundr]: ›Þrándr zahlt Leifr das Geld nicht eher als mir, aber wegen der Worte guter Männer soll das Geld ausstehen‹). 316 Siehe Andersson 1970; Meulengracht Sørensen 1993, bes. S. 203–204; vgl. auch Kap. 4.2.4.
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scharf mit Þrándr, der sich zwar auch auf öffentliche und vorgeblich demokratische Mehrheiten beruft, allerdings stets sicherstellt, dass diese Mehrheiten in seinem Sinne entscheiden bzw. ihre Entscheidung sogar von ihm selbst eingeflößt treffen.317 Konkret zeigt sich hier, dass Sigmundr nach der Eroberung seiner Herrschaft bemüht ist, sein kriegerisches Wesen in eine sozial ausgerichtete Konsensherrschaft zu überführen und damit auch der Billigkeit von Rechtsnormen und gesellschaftlichen Werten zu erneuter Prominenz zu verhelfen.318 Seine Verschonung von Þrándr etwa kann so auch als Ausdruck der gesellschaftlichen definierten Hemschwelle gegenüber Gewaltanwendung im engen Familienkreis betrachtet werden.319 Sigmundr versucht damit die Quadratur des Kreises: Sein Vater, wie auch er selbst bei seiner ersten Rückkehr, lassen zunächst keinen verstärkten Respekt vor allgemeinen Rechtsnormen erkennen. Insbesondere Sigmundr hebelt durch die Fremdbestimmung seiner Herrschaft eine eigenwertige, auf gesellschaftlichem Konsens basierte Ordnung auf den Färöern von vorne herein aus. Zugleich aber versucht er sich an einem sozialen Ideal zu orientieren. Dabei setzt gesellschaftlich ausgerichtete Interaktion das Vorhandensein eines verlässlichen, sozialen Netzwerkes voraus – jenes, aus dem Sigmundr durch den Tod seines Vaters und sein Exil nachhaltig entfernt wurde.320 Wieder verfährt er in der ihm gewohnten Art und Weise, wie in der Sphäre, für die er prädestiniert ist, dem Kampf. Während ein Einwilligen in die Meinung der Untergebenen für einen Heerführer jedoch eine gute Entscheidung darstellen kann, ist dieselbe Einstellung angesichts der Orchestrierung der öffentlichen Meinung durch den Gegner für einen Politiker nicht opportun, sondern fatal. Sigmundr gesteht Þrándr auf Bitten seiner färöischen Mitmenschen zu große fortgesetzte Macht zu und stirbt letzten Endes wegen seiner sozialen Bindungen. Aufgrund seiner sozialen Verpflichtung gegen Hákon als ehemaligem Herrn und ihrer persönlichen Freundschaft verweigert er sich so auch König Óláfr Tryggvasons Verlangen nach seinem Ring.321 Auf Suðrey kann er nur deshalb kraftlos ermordet werden, weil er zuvor seinen Ziehbruder und Einarr zu retten versucht hat, wodurch er andererseits seine Heldenhaftigkeit tatkräftig unter Beweis stellt. Sein soziales Gewissen geht sogar soweit, dass er seinen ärgsten Feind Þrándr vor dem Ertrinken rettet, als er ihn an König Óláfr Tryggvasons Hof bringen soll und Schiffbruch erleidet.322 Der ›Held‹ Sigmundr findet also sein Ende, weil er sich sozial gewissen317 Vgl. Kap. 3. 318 Vgl. Andersson 1970 zur Dichotomie eines ›heroischen‹ und eines gesellschaftlich verbürgten Balance-Ideals in den Isländersagas. Dieses Gegeneinander, das Andersson als konstitutiv für die Gattung ansieht, wird damit in der Færeyinga saga konkret in der Figurenanlage Sigmundrs durchgespielt. 319 Vgl. Miller 1990, S. 159–161; Jakob 2016, S. 265–267. 320 Vgl. Ewering/Krosing 2011, zu Sigmundrs Situation speziell S. 86–87. 321 Siehe hierzu näher Kap. 4.5.2 u. Kap. 7.4.3. 322 Siehe Fær, S. 77: [Þ]a híttv þeir i strauma ok storm mikinn. vurðu við þat aptr reka til Færeyia ok brutu skip ispán ok tyndo fe ỏllv. en mỏnnum varð borgit flestum. Sigmundr barg Þrandi ok mỏrgum auðrum (Da trafen sie sowohl Strömungen, als auch einen großen Sturm. Sie wurden
4.3 »Den ubrugelige hero«: Sigmundrs Herrschaft
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haft und vorbildlich zu verhalten versucht, wobei diese Diskrepanz seine todesverachtende ›Heroennatur‹ in ihrer Unerbittlichkeit erst unmissverständlich ins Relief setzt. Die Diskrepanz zwischen Sigmundrs Bewusstsein für die Nachteiligkeit seiner Entscheidungen und des Nachgebens gegenüber der färöischen Öffentlichkeit und seinem willentlich anmutenden Ignorieren dieses Bewusstseins scheint so zunächst frappierend, fast tragikomisch. Sie deckt sich allerdings mit der Etablierung von Sigmundrs Charakter: Er nimmt Risiken in Kauf, wie es zum Erreichen des Sieges in einer Schlacht notwendig ist, verkennt aber, dass dadurch keine erfolgreiche politische Agenda entwickelt werden kann. Anhand der Figur seines Kontrahenten Þrándr hingegen offenbart sich, dass erfolgreiche Politik in der Minimierung von Risiken, ihrer frühzeitigen Elimination und der Vermeidung offener Konfrontationen besteht. Þrándr greift erst in dem Moment zur Anstiftung gewalttätiger Auseinandersetzungen, in dem alle Zeichen sie opportun erscheinen lassen. Sigmundr verlässt sich im Gegensatz dazu stets auf seine überlegene Kraft, mittels deren Einsatzes er als Ultima ratio seine Vorherrschaft sichern könnte. Zugleich versucht er nach den Maßgaben, die er kennt, denen eines Kriegeradels, ein gerechter und guter Herrscher zu sein – indem er seine Ressourcen für ein gemeinschaftliches Wohl belastet und notfalls opfert, anstatt erneut Steuern von seinen Landsleuten zu fordern, indem er seine Gewaltpotenz nicht eskalieren lässt, sondern sich der mehrheitlichen Meinung beugt, indem er glaubt, eine Entehrung seines Konkurrenten wäre als Herrschaftsinstrument ausreichend und würde keine Bluttat notwendig machen, letztendlich, indem er versucht, ein sozial ausgerichtetes, wenngleich nicht weniger feudalaristokratisch geprägtes, Herrschaftsprogramm zu initiieren. In der Færeyinga saga scheint anhand Sigmundrs allerdings die Botschaft expliziert, dass der Typus des Kriegers mit dem Typus des Politikers unvereinbar ist, genauso wenig wie ein Achten auf eine größere Gemeinschaft Erfolg verspricht. Erfolgreiche Politik bedingt andere, weit egoistischere und weit weniger heldenhafte Charaktereigenschaften, als sie Sigmundr auszeichnen. Diese Inkompatibilitäten zeigen sich schließlich fast schmerzhaft als entscheidend: Nachdem Sigmundr zweimal überfallen wurde und siegreich geblieben ist, ohne den Attackierenden ein für alle Mal exekutiert zu haben, erkennt Þrándr, dass sich das Blatt endgültig gewendet hat: [N]u mun hafa vm skift hamingiu med os S(igmundi).323 Es folgt der dritte Angriff, der zu Sigmundrs Tod und der Beseitigung dieses Fremdkörpers im Machtgefüge Þrándrs führt.
dadurch zurück zu den Färöern getrieben und erlitten Schiffbruch und verloren das ganze Geld, aber die meisten Männer konnten gerettet werden. Sigmundr rettete Þrándr und viele andere). 323 Fær, S. 83 (›Nun wird sich das Glück zwischen uns und Sigmundr gewendet haben‹).
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4.4 Macht und Ohnmacht. Sigmundr im Gesamtzusammenhang der Politik in der Færeyinga saga Die letztendliche Niederlage Sigmundrs enthält eine als anti-moralisch zu kategorisierende Botschaft. Der in jeder erdenklichen Hinsicht positiv sinnbesetzte ›Held‹ der bisherigen Erzählführung, der an der Textoberfläche seit dem unrechtmäßigen Tod des Vaters im narrativen Fokus steht, wird ausgeschaltet und sein amoralischer Gegner obsiegt. Ein großer Krieger, ein treuer Gefolgsmann, ein milder Herrscher, der sogar seinen Gegner oberflächlich großmütig zu verschonen bereit ist, ein vollkommener ›Held‹, ist Sigmundr letztendlich doch derjenige, der gegen den gerissenen und bösen Þrándr seinen Machtkampf verliert. Wie oben argumentiert wurde, ist dies allerdings keineswegs auf eine bloße ›Naivität‹ Sigmundrs zurückzuführen,324 sondern offenbart die Tragik einer Figur, die sich mit dem Zwang zum Agieren auf einem Feld konfrontiert sieht, für das ihre Entwicklung sie nicht prädisponiert hat, und die gegen einen schier übermächtigen Gegner antritt. Trotz Sigmundrs im vorangehenden Kapitel illustrierter Defizite als Herrscherfigur verliert der Erzähler dabei zu keinem Zeitpunkt ein negatives Wort über ihn. Der Dualismus zwischen Sigmundr und Þrándr, der die ersten zwei Drittel der Færeyinga saga prägt, offenbart dadurch ein Verwirrspiel mit den Rezipientensympathien. Während Þrándr oberflächlich als zutiefst abgründige Figur gezeichnet ist, die jedoch geschickt eingesetzte narrative Strategien vor einer offenen Verdammung durch die Rezipienten bewahren sollen, wird Sigmundr ihnen durch den Erzähler eindringlich nahegebracht. So sind sie auch in Sigmundrs ausführlich erzählter letzter Heldentat vor seinem Tod noch angehalten, »the passive courage of endurance« zu bewundern,325 die Sigmundr insgesamt auszeichnet. Obwohl er zuvor so deutlich in seinem – gemessen an den Erwartungen – maßlosen Scheitern vorgeführt wurde, wird Sigmundrs Tod also zugleich nicht als Strafe inszeniert, sondern als bewundernswerte Konsequenz seines bisherigen Lebens. Ein Tod auf dem Schlachtfeld ist ihm nicht vergönnt, weil er sich mit einem Gegner messen muss, dessen verschlagener und bösartiger Charakter solche Ehren nicht zulässt. Und dennoch: Sigmundr kämpft unerbittlich den Kampf, den er sich ausgewählt hat, auch wenn dieser von Beginn an auf verlorenem Posten stattfindet. Er ist konsequent und er stirbt, indem er die Ideale verfolgt, die sein Leben geprägt haben. Seine Vorgehensweise ist in Hinblick auf den eigenen Vorteil damit mit Sicherheit nicht als klug oder nachahmenswert markiert, doch ist es das Wesen des wahren ›Helden‹, »das Exorbitante, das Regelwidrige« zu vollbringen.326 Die Tatsache allein, dass er etwa 15 Kilometer durch die offene See schwimmt und lebendig auf Suðrey ankommt, markiert ihn
324 So Skyum-Nielsen 1973; Haugan 1987, S. 77. Vgl. auch Johnston 1975, S. 13, der Sigmundr unterstellt, »wrong-headed« zu sein. 325 Foote 1984c, S. 183. Auch Johnston 1975, S. 13 bewertet Sigmundrs Ende als »a heroic death«. 326 von See 1978, S. 31.
4.4 Macht und Ohnmacht
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als schon physisch exorbitante Persönlichkeit. Mit seiner letzten Heldentat, dem selbstlosen Einsatz für seine Verwandten, die er sogar tot noch auf dem Rücken trägt, bewegt sich Sigmundr sogar für ein modernes Verständnis in einem heldenhaften Modus. Jegliche Inkonsequenz in seinem vorherigen Handeln wird dadurch, dass Sigmundr eine solche als letzte seines Lebens vollbringt, vordringlich kaschiert. Keine Kritik des Erzählers an seiner Figur wird in diesem Verlauf sichtbar: In den Momenten vor seinem Tod werden sämtliche möglichen Strategien aufgefahren, die Sigmundr als in jeder Hinsicht vortrefflichliche Figur zeichnen. Mit den Rezipientensympathien derart auf sich vereinigt, wirkt Sigmundrs glückloses Vorgehen in seiner Auseinandersetzung zuvor zwar einerseits als naiv-kurzsichtig, andererseits aber gerade dadurch als umso heldenhafter und bewundernswerter. So scheint es jedenfalls. Vergrößert man die Linse auf die Umstände von Sigmundrs Tod aber, so beginnen sich die Elemente schnell quer zu Sigmundrs leuchtender Zeichnung zu stellen. Er stirbt, weil er auf seinem Hof von Þrándr überfallen wird, den er mehrfach hätte ausschalten können, es jedoch nicht getan hat. Darüber hinaus ertrinkt er keineswegs beim Versuch, seine Verwandten zu retten, sondern wird, ohne heldenhaftes ›Last Stand‹ in der Schlacht, wehrlos und entkräftet am Strand liegend ermordet. Mehr noch: Vor seinem heldenhaften Schwimmparcours scheint Sigmundr jegliche Heldenhaftigkeit zunächst abhandengekommen. Er flieht von seinem Hof, allen Kampfdrang und alles ›männlich‹-ehrenhafte Selbstverständnis scheinbar hinter sich lassend, während seine Frau mit der Waffe in der Hand den Hof gegen die Angreifer verteidigt 327 – ein geradezu zynisch anmutender Tausch normativer Verhaltensweisen und umso untypischer für den stets so normgerecht handelnden Sigmundr. Diese Darstellung bricht maßgeblich den sympathiebindenden Wert von Sigmundrs letzter Heldentat, während diese komplementär dazu die vorherigen Umstände in ein paradoxes Licht stellt: Ist Sigmundr nun zu bewundern, zu verlachen, zu bemitleiden? Die paradoxe Reaktion, zu der insbesondere die Erzählung von Sigmundrs Tod in der Færeyinga saga heraufordert, unterscheidet dessen Figurenzeichnung konzeptionell nicht von der Paradoxie der Darstellung in Þrándrs Fall.328 Ein Urteil über beide Figuren und eine Bewertung im Rahmen textimmanenter Maßstäbe wird nicht getroffen.329 Das Gewicht wird stattdessen auf die Darstellung selbst verlegt und jegliche Einordnung allein an die Rezipienten überantwortet. Der einzige Bewertungsparameter der Saga selbst in ihrer Darstellung des Gegeneinanders von Sigmundr und Þrándr ist die Frage der Macht, die beide Protagonisten fundamental unterscheidet. Sigmundr wird in einer Position der Macht geboren, sein rechtmäßiger Herrschaftsanspruch auf den Färöern ist unwidersprochen, ebenso wie der norwegische
327 Vgl. auch Kap. 7.3.3. 328 Siehe Kap. 3.5. 329 Vgl. auch Johnston 1975, S. 10.
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Einfluss auf die Machtverhältnisse auf den Inseln. Aus dieser Position wird Sigmundr verstoßen, als Þrándr eigenständig nach der Macht greift und sie sich aneignet. Er hat damit Erfolg, einerseits, weil die Umstände der Machtkonstellation auf den Färöern ihm in seinen Aspirationen in die Karten spielen, andererseits aber, weil sein Ziel die unumschränkte, politische Macht selbst ist und er bereit ist, jegliches Opfer zu bringen, um sie zu erhalten. Konsequenterweise verhält er sich selbstsüchtig, unmoralisch und entgegen aller geltenden Konventionen. Sigmundr ist sein charakterliches Gegenstück – er erfüllt alle Erwartungen, die die dargestellte Gesellschaft an einen Mann seiner Stellung herantragen könnte, und er ist ein guter Mensch. Doch gerade deswegen hat er keine Chance: Er strebt nicht nach der Macht selbst, sondern lediglich nach dem ihm nach Recht und Konventionen zustehenden Teil, ohne sich selbst über andere zu erhöhen. Somit wird sichtbar, dass in der Færeyinga saga Macht nicht an die Erfüllung von Erwartungen und regelgebundene Absicherung geknüpft ist, sondern präzise an deren Gegenteil. Macht erhält, wer sie sich nimmt, in aller Konsequenz – und mit allen Konsequenzen, denn Þrándrs Persönlichkeitsportrait ist alles andere als nachahmens- oder erstrebenswert. Inbesondere erfüllt Macht sich in den Mühlen der Politik, einem gefahrvollen Betätigungsfeld, das wenig mit den vergleichweise geordneten, regulären Auseinandersetzungen der kämpferischen Wikinger-Welt gemein hat. Hier gilt es nur sehr selten, den Gegner in offener Konfrontation zu besiegen, sondern Winkelzüge zu orchestrieren, Entwicklungen vorwegzunehmen, einen großen Plan zu entwickeln und kleine Zahnrädchen auf dem Weg zu seiner Erfüllung in Gang zu setzen. Sigmundr könnte in seiner geradlinigen und stets auf ein einziges Ziel fokussierten Persönlichkeit nicht schlechter für die unübersichtliche Bühne der großen Machtpolitik geeignet sein. Er versucht nur mechanisch, die alte Ordnung vor Þrándrs Machtübernahme wiederherzustellen und vertraut dabei auf die Macht der norwegischen Herrscher. Damit macht er sich letztlich selbst zum Zahnrad in größeren Interessenspektren und zum Spielball anderer Akteure, degradiert letztlich zum ausführenden Arm norwegischer Großmachtspolitik. Doch deren Reichweite ist begrenzt und kann Sigmundr nur initial dabei helfen, die Herrschaft wieder zu erlangen. Selbstständig ist er aber kaum mehr in der Lage, faktische Macht auszuüben. Þrándrs Handeln führt auf mehreren Ebenen der Erzählung einen fundamentalen Unterschied zwischen Schein und Sein ein, dem Sigmundr letztendlich zum Opfer fällt. Ab seiner Rückkehr besitzt Sigmundr nur noch de nomine Macht, eine nominelle Verfügungsgewalt, die nicht mehr mit Þrándrs faktischer Vorherrschaft, der tatsächlichen Realität hinter dem Schein von Sigmundrs Machtposition, zur Deckung gebracht werden kann. Sigmundr verliert, weil er keine Mittel hat, keine Macht, die grundsätzlichen Gegebenheiten erneut umzuändern. Dazu bräuchte er eine Persönlichkeit wie die Þrándrs, die auch narrativ als derartig machtvoll inszeniert wird, dass ihr Bewusstsein mitunter die Narrationsführung selbst zu steuern scheint.330 Diese Macht über die Handlungsebene und die scheinbare sogar über 330 Vgl. Skyum-Nielsen 1973. Siehe Kap. 3; zu den erzählstrukturellen Auswirkungen dieser Tatsache Kap. 8.
4.4 Macht und Ohnmacht
329
die Ebene der Narration wird durch den Erzähler mittels eines hochgradig komplexen, teils widersprüchlichen, vor alllem aber deutlich unkonventionellen Figurenportraits inszeniert. Macht zeigt sich auch auf der Ebene der narrativen Inszenierung durch den Bruch und die Inversion von Erwartungen und Regeln. Mit einer solchen Macht kann Sigmundr, der als Musterbild eines Protagonisten inszeniert wird, in keiner Hinsicht in Konkurrenz treten. In dieser Inszenierung offenbart sich folglich, dass eine konventionelle Figurenzeichnung an ihre Grenzen stößt, wenn Macht selbst zum Ziel der narrativen Verhandlung wird. Sigmundrs ideelle Idealität, auch in narrativer Hinsicht, scheitert an den Realitäten der Politik und der in ihr enthaltenen Macht. Dies wird durch die Tatsache nur unterstrichen, dass Sigmundrs Gesamtdarstellung denselben inversen Effekt erzielt, der in seinem Scheitern deutlich wird, die Differenz von Schein und Sein im Angesicht der Macht. Dadurch wird letztlich auch klar, dass erzählstrukturell hochgradig komplexe Figurenzeichnungen vermeintlich ›mittelalterlicher‹ Idealart ungenügend sind, um in einem lebensnah und schonungslos entworfenen Diskurs über Macht gewinnbringend eingesetzt werden zu können. Die Færeyinga saga wirkt dadurch erstaunlich ›modern‹: Kein hintergründiges, in der Tradition verankertes Erzählschema federt die zynisch anmutende Gesamtaussage der Dichotomie von Þrándr und Sigmundr ab, dass Macht einen Selbstzweck darstellt und nur derjenige, der in letzter Konsequenz nach ihr strebt, sie erlangen kann.331 Zeit seiner Existenz ist und bleibt Sigmundr damit letztlich in einer Position der Ohnmacht statt der tatsächlichen Macht, die ihm vermeintlich zustünde. Er verliert. Sein Leben ist damit eine lange und detailliert entworfene Geschichte des unvermeidlichen Niedergangs – letzten Endes kann ein wahrer ›Held‹ nur sein, wer unerschrocken auf sein bereits vordeterminiertes Ende hinarbeitet. Sigmundr tut dies, und er kann dabei Bewunderung hervorrufen, nie aber seine Ohnmacht gegen die Machtfülle Þrándrs tauschen. Dies gelingt nur, wenn fundamental die Textkonzeption der Færeyinga saga verändert wird, wie in den Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta abseits der Flateyjarbók. Dort, wo Sigmundr von Beginn an als alleiniger Protagonist der Erzählung fungiert, ist der Weg an die Macht für ihn keineswegs verhindert, im Gegenteil. Bevor König Óláfr selbst in Kontakt mit den Färingern tritt, heißt es dort: [S]iglðu þeir frændr þa vt til Færeyia ok settuz vm kyrt. ok reð Sigmundr þar þa einn ỏllu.332 Allein mit dieser Phrasierung stellen diese Versionen der Erzählung den Plotverlauf der Færeyinga saga auf den Kopf: Etwas »allein zu beherrschen« ist im Rahmen der Flateyjarbók-Redaktion nur dem so regelunkonformen Þrándr möglich.333 Gegensätzlich zeigt sich die Textanlage hier: Zwar kann Þrándr in der Zeit von Sig-
331 Weiterführend zu den hier geäußerten Gedanken vgl. auch Kap. 9.1. 332 Fær, S. 69 (Text A; D fast verbatim; Die Verwandten segelten da hinaus zu den Färöern und ließen sich ruhig nieder. Und Sigmundr herrschte da allein über alles). 333 Der Satz beschreibt dort zweimal seine Alleinherrschaft, siehe Fær c. 9, S. 21, u. c. 22, S. 47; vgl. Kap. 3.4.1.
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mundrs Exil die Herrschaft an sich reißen und behaupten, doch zeigt der Gesamterzählgang hier nur Þrándrs Verlust seiner Position, sobald Sigmundr zurückkehrt. Sigmundr fungiert als Zentralinstanz der Erzählführung, die Ereignisse werden im Grunde durchgängig allein aus seiner Perspektive heraus erzählt. Er wird dabei auf Óláfr Tryggvason bezogen: [H]onum er iafnat vm afl ok vm iþrottir við Olaf konung.334 Damit ist der Hauptzweck der Texteinbindung dieser Redaktionen umrissen: Sigmundr ist hier vor allem »a man who is not so much an echo of his Norwegian patron as an active embodiment of Óláfr Tryggvasons own authority«.335 Der diskursive Zweck der Interpolation diktiert deutlich Gestalt und Gehalt des Textes. Dies wird insbesondere klar, wenn Sigmundr, der im Horizont der Færeyinga saga gegen seinen Konkurrenten so hoffnungslos unterlegen ist, hier unvermittelt reð þar þa einn ỏllu. All die Bruchstellen, die Sigmundrs Charakterzeichnung ausmachen, sind in den Interpolationen der Óláfs saga Tryggvasonar aufgelöst, es ergeben sich keine strukturellen Problematiken seiner Figurenzeichnung. Aufgrund der exklusiven Einnahme von Sigmundrs Perspektive für den Bericht über die Färöer wird hier nicht erkennbar, wie brüchig die Figurationen seines narrativen Aufbaus sind: Der ›Held‹ ist hier der legitime Herrscher auf den Färöern, der die Ordnung im Namen des Hofes wiederherstellt, die Þrándrs zerstört. Die Macht auf den Färöern konstituiert sich hier alleine als Ausfluss der Deutungshoheit des norwegischen Hofes über den Nordatlantik. Die färöischen Belange erregen kein Interesse an sich, sondern nur in ihrem Bezug auf die Vorgänge in Norwegen. Dort hat die Macht auf den Färöern ihren Ursprung, dorthin gelangt Sigmundr und sichert sich unproblematisch Unterstützung, um danach auf die Färöer zurückzukehren. Auch hier muss Sigmundr sich der fortgesetzten Aufsässigkeiten Þrándrs erwehren. Doch dass er ihn nicht tötet und auf die Bevölkerung der Färöer hört, erscheint in dieser Textperspektivierung schon aufgrund ihrer Kürze und der Auslassung von Sigmundrs tragischem Ende als Zeichen seines integren, nachsichtigen und gütigen Charakters, weniger als fatale, politische Kurzsichtigkeit. Unter der Ägide Óláfr Tryggvasons kann Sigmundr schließlich auch den wichtigsten Auftrag seines Lebens, die Christianisierung der Färöer, durchführen und dabei Þrándr die empfindlichste Niederlage seines politischen Lebens beibringen. Auf dieser erfolgreichen Note endet die Textinterpolation, Sigmundrs unerbittliches, politisches Scheitern wird nicht erzählt. Stattdessen verdankt er sein Ende in diesen Textredaktionen seiner Aufsässigkeit gegen den Willen seines Königs. Beide Beobachtungen werden noch näher auszuführen sein. Keinesfalls aber ist Sigmundr hier ohnmächtig. Er ist der Repräsentant der wahren, legitimen und entsprechend erfolgreichen Königsmacht auf den Färöern. Im ungehinderten Politik-Diskurs der Færeyinga saga selbst aber scheint das Ergebnis von Sigmundrs fundamentalem Scheitern nur folgerichtig, zumal da er vor
334 Fær, S. 44 (Text A; Er wird hinsichtlich Kraft und Kunstfertigkeit mit König Óláfr Tryggvason verglichen). 335 Bonté 2014b, S. 103.
4.5 Sigmundrs Glauben und Tod
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dem Hintergrund eines vermeintlichen Unabhängigskeitsdiskurses der Saga in der Regel als Repräsentant einer unselbstständigen Form färöischer Regierung verstanden wurde. Sein Tod symbolisiere insofern die »Überlegenheit heidnischer Praktiken und einer königsfeindlichen, dezentralistischen Politik«, wie Glauser folgert.336 Deshalb bedürfe es des zweiten Teils der Saga, um diese amoralische Botschaft abzuschwächen, auch in Hinblick auf die Ideologien der Óláfs sögur als Haupttexte der Interpolation. Im Kapitel zur Þrándr-Figur wurde auf die grundsätzlichen Probleme dieser Argumentation hingewiesen, und auch Sigmundrs Tod erweist sich als vielschichtig im Text begründet. Sigmundr symbolisiert insgesamt mitnichten eine »neue Ordnung« auf den Färöern. Tatsächlich bringt er lediglich hinsichtlich des christlichen Glaubens eine tatsächliche und langfristig wirksame »neue Ordnung« auf den Archipel. Deshalb wurde sein symbolischer Figurengehalt oftmals auch in seiner Verbindung zum christlichen Glauben ausgemacht. Auch Glauser spricht in obigem Zitat ja von der Prävalenz »heidnischer Praktiken«, die sich in Sigmundrs Tod zunächst offenbarten. Im abschließenden Teil dieses Kapitels soll die Forschungsargumentation geprüft werden, die Sigmundr mit dem Christentum verbinden will.
4.5 Sigmundrs Glauben und Tod 4.5.1 ›Mátt minn ok megin‹: Sigmundrs defizitäres Christentum und die Marginalisierung der Religionsthematik in der Færeyinga saga Den Interpretationen der Færeyinga saga, die Sigmundr als Symbol eines »christl[ichen] […] Weltmodell[s]«337 verstehen, hält Julia Bick entgegen, dass [e]s […] nicht gerechtfertigt [sei], in ihm einen Repräsentanten des Christentums zu sehen. In Bezug auf die Religion stellt er vielmehr einen Menschen der Übergangszeit dar, der weder in dem einen noch in dem anderen Glauben besonders tief verwurzelt ist.338
Tatsächlich wird Sigmundr im Text während seiner Lebenszeit kaum als religiöse Figur gezeichnet. Von Jarl Hákon vor seiner Rückkehr gefragt, woran er glaube, antwortet er: Ek trui a matt min ok megin.339 Im Moment seiner Konversion bemerkt zudem König Óláfr, at þu hafir alldri blotat skurðgoð eptir hætti anara heiðina manna.340
336 Glauser 1989, S. 216. 337 Glauser 1994, S. 115. Für diese Interpretation vgl. Guldager 1975. 338 Bick 2005, S. 8. 339 Fær, S. 49 (›Ich glaube an meine Kraft und Stärke‹). 340 Fær, S. 72 (›dass du nie Götzenbildern geopfert hast nach der Sitte anderer heidnischer Männer‹).
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4 Sigmundr Brestisson
Diese Aussagen sind in der altisländischen Literatur ein Topos, dem in früherer Forschung historischer Quellenwert zugemessen wurde. Lars Lönnroth und Gerd Wolfgang Weber deuten ihn hingegen als literarische Strategie zur Absolution der heidnischen Vorfahren durch einen typologisch denkenden Geist der mittelalterlichen Sagaverfasser.341 Die heidnische Kultpraxis, die im isländischen »Heldenzeitalter« geherrscht habe, werde entsprechend der christlichen Lehre zur unvollkommenen Vorform des Christentums umgedeutet. Schließlich sei der rechte Glaube in der dargestellten Vorzeit noch unbekannt gewesen, sodass ihn die damals Lebenden nicht hätten praktizieren können. Diese Unvollkommenheit äußere sich zudem in der weitgehenden Areligiosität der Protagonisten. Der »Noble Heide« lebe diesem gedanklichen Konstrukt zufolge nach den Regeln einer naturalis gentium religio, einer natürlichen Religion, die Gott in ihrer Umgebung zwar erkenne, nicht aber benennen könne. Sigmundr vollzieht im Moment seiner Konversion exakt diese Argumentation: [E]n sva sem ek skil af yðrum fagrligvm fortỏlum at þessi ꜳ trunaðr sem þer boðit er i alla staði fegri ok far sælligri en hinn er heiðnir menn hafa. þa er ek fuss at fylgia yðrum raðum ok eignaz yðra vínattu. ok fyrir þvi uilldi ek eigi blóta skurð at ek sa laungu at sa siðr var engu hæfr. þo at ek kynni engan betra.342 (›Aber, da ich von Eurem schönen Zureden begreife, dass dieser Glaube, den Ihr verkündet, in jeder Hinsicht schöner und glückhafter ist als der, den heidnische Männer haben, bin ich bereit, Eurem Rat zu folgen und Eure Freundschaft zu besitzen. Und ich wollte keinen Götzenbildern opfern, weil ich lange sah, dass diese Sitte zu nichts nütze war, obwohl ich keine bessere kannte.‹)
Jarl Hákons Privatkult der Þorgerðr hǫrðabrúðr begegnet Sigmundr zuvor indifferent.343 Entsprechend wird an keiner Stelle etwas von religiösen Handlungen Sigmundrs erzählt; solche werden ihm nur detaillos nach seiner Konversion bescheinigt. Er errichtet nach der erfolgreichen Mission der Färöer eine Kirche auf seinem Hof und lebt im ›rechten Glauben‹: S(igmundr) hellt vel tru sína | ok allt lid hans ok let kirkíu gera a bæ sínum.344 Zunächst scheint Sigmundr damit ganz nach der Typencharakteristik des »Noblen Heiden« gezeichnet, prädestiniert zur Übernahme des christlichen Glaubens, den er nach seiner Konversion vorbildlich lebt. Allerdings berichtet die Færeyinga saga über diese Notiz hinaus nichts von irgendeiner Form von Religiosität oder von speziell ›christlichem‹ Handeln seinerseits, im Gegenteil: Auch im Umgang mit der christlichen Religion zeigt sich Sigmundr in seiner Persönlichkeit konstant und ihr gegenüber im Grunde ebenso
341 Vgl. Lönnroth 1969; Weber 2001b, aufbauend auf Arbeiten wie Schomerus 1936; Baetke 1950. 342 Fær, S. 73. 343 Fær c. 23, S. 49–51. Siehe hierzu näher auch Kap. 4.5.2. 344 Fær, S. 81 (Sigmundr hielt seinen Glauben gut und sein ganzes Gefolge, und er ließ eine Kirche auf seinem Hof bauen).
4.5 Sigmundrs Glauben und Tod
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indifferent wie dem heidnischen Kult Hákons.345 Weder wird berichtet, dass er seine Kirche jemals beträte, noch sucht er ein Zwiegespräch mit Gott oder verweist in einer Figurenrede auf ihn oder die christlichen Werte. War ihm Religion vor seiner Konversion nicht sonderlich wichtig, so ändert sich diese Tatsache auch nach den Sagakapiteln, die die färöische Bekehrung schildern, keineswegs signifikant. In ihrer Darstellung der Bedeutung des Religionswechsels stimmt die Færeyinga saga so letztendlich mit der Lage in den Isländersagas überein: Kristendommens indførelse anerkendes som en betydningsfuld begivenhed, men omtales […] i samme form som andre historiske begivenheder […]. Til trods for, at begivenheden kaldes den bedste […] har den ingen som helst indflydelse på sagaens handling eller værdinormer.346 (Die Einführung des Christentums wird als bedeutungsvolle Begebenheit anerkannt, aber […] in der gleichen Form behandelt, wie andere historische Begebenheiten […]. Obgleich die Begebenheit die beste genannt wird […], hat sie absolut keinen Einfluss auf die Handlung oder Wertnormen der Saga.)
Demnach ändert sich die Handlungsweise der Figuren im Korpus der Isländersagas nach der Konversion kaum je substanziell. Wenigstens lässt sich der neue Glauben unproblematisch an die vor der Bekehrung gültigen Wertnormen von Ehre und Rache anschließen.347 Dieselbe Beobachtung lässt sich für die Færeyinga saga festhalten, obwohl Meulengracht Sørensen in seiner Argumentation Joseph Harris’ Ansichten über die Bedeutung des siðaskipti damit ablehnt, dass dieser sich stark auf sie beziehe.348 In der Tat handelt weder Sigmundr noch irgendeine andere Figur nach der Annahme des Christentums anders als zuvor. Mag man in seiner nach der Bekehrung mehrfach demonstrierten Verschonung Þrándrs auch einen Akt christlicher Milde auszumachen versucht sein, gilt es doch zu bedenken, dass Sigmundr Þrándr nach dessen erstem Angriff durchaus überfallen will. Er unterlässt den Angriff nur, weil er zu spät kommt, und begründet seine zweite Verschonung damit, dass er seinem Gegner möglichst große Schande bereiten will. Zudem hat er ihn auch zu früheren Gelegenheiten zwar mit dem Tod bedroht, seine Drohung aber nie in die
345 Sigmundr zeichnet sich bei genauer Betrachtung durch eine bemerkenswerte Skepsis aus, was das Wirken übermenschlicher Mächte in seinem Leben betrifft. Diese stellt sich letztendlich als fatal heraus, begründet sie doch nicht zuletzt sein Festhalten an dem Ring, den er von Jarl Hákon erhalten hat, trotz König Óláfrs Warnung, dieser werde ihm den Tod bringen. Vgl. hierzu näher Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3. Sein Zweifel wirkt sich offenbar aber trotzdem nicht nachteilig auf seine Annahme und Unterstützung durch den christlichen Gott aus. Jahre nach seinem Tod kann er in einer Traumversion seiner Frau erscheinen, was ihm lofath af gude sealfum (Fær, S. 131; von Gott selbst erlaubt) sei. Auch wenn Sigmundrs Annahme und Verbreitung des Christentums letztlich nicht in seiner tiefsten, ureigenen Überzeugung wurzeln, bleibt er für den Glauben dennoch zweifellos präsdisponiert und in ihm wohl aufgehoben. 346 Meulengracht Sørensen 1993, S. 88. 347 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 87–89. 348 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 87 (Fn. 18). Er wendet sich gegen die Gesamtargumentation bei Harris 1986.
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Tat umgesetzt. Auch rät Sigmundr sein ebenso bekehrter Ziehbruder und Cousin Þórir gerade zum Zeitpunkt der Zwangsbekehrung Þrándrs und in der Folgezeit explizit, seinen Kontrahenten zu töten – ein wenig ›christlicher‹ Vorschlag.349 Auch hinsichtlich der Bedeutung der Bekehrung für den späteren Handlungsverlauf lässt sich Meulengracht Sørensens These stützen. Der Effekt der Glaubenserneuerung wird schon bald nach dem sie einführenden Handlungsabschnitt stark eingeschränkt, sogar widerrufen: [N]u for vm kristni j Fær eyium sem uidara annarstadar j riki j(arla) at huer lifde sem villde,350 und Þrándr wirft seinen Glauben wieder ab. Wie in Kapitel 3.6 argumentiert wurde,351 verdankt sich Þrándrs Auflehnung aber kaum einem Glaubenskonflikt zwischen beiden Figuren. Als Figur ist er keineswegs reduzierbar auf den Gehalt eines ›halsstarrigen Heiden‹. Seine Opposition ist im Handlungsverlauf der Færeyinga saga viel grundsätzlicher angelegt. Dabei ist die religiöse Seite des Konflikts für Þrándr nur solange bedeutungsvoll, wie ihre Benutzung als Mittel zum Zweck des Erreichens seiner politischen Ziele opportun erscheint. Für Sigmundr selbst scheint die Tatsache nicht von großer Bedeutung zu sein, dass das Christentum in seinem Herrschaftsgebiet verfällt, von Bemühungen zur Rettung des ›rechten Glaubens‹ jedenfalls berichtet die Færeyinga saga nichts. Folglich geht es auch ihm allein um die Durchsetzung der neuen Religion: Nur im Moment seiner Konfrontation mit Þrándr ist sie Sigmundr tatsächlich wichtig. Nach der Durchsetzung des Glaubenswechsels spielt Religion im Verlauf des weiteren Konflikts keinerlei Rolle mehr, ebenso wenig wie vor dem Auftritt Óláfr Tryggvasons im Sagageschehen. So ist es auch Þrándr, obgleich vom Glauben abgefallen, auf den mit der kredda die einzige, explizit christliche, Skaldenstrophe des Textes zurückzuführen ist. Gerade unter dem ›Heiligen‹ Óláfr in Nachfolge des Missionskönigs wird die Thematik offenbar defizitärer Religion nicht einmal erwähnt.352 Wenn
349 Siehe Fær c. 31, S. 76, u. c. 36, S. 83. 350 Fær, S. 81 (Nun ging es mit dem Christentum auf den Färöern ähnlich wie weiter andernorts im Reich der Jarle, dass jeder so lebte, wie er wollte). 351 Vgl. auch Kap. 3.4.3. 352 Diese Tatsache wirkt umso erstaunlicher, da die Óláfs saga helga zuvor in die Erzählung einflicht: Víða af lǫndum spurði [konungrinn] at siðum manna þá menn, er gløggst vissu, ok leiddi mest at spurningum um kristin dóm, hvernug haldinn væri bæði í Orkneyjum ok á Hjaltlandi ok ór Færeyjum, ok spurðisk honum svá til sem víða myndi mikit á skorta, at vel væri (ÓHHkr, S. 74 = Flat II, S. 49; Weithin von den Landen erkundigte sich [der König] nach den Sitten der Leute bei den Männern, die am besten Bescheid wussten, und er fragte am meisten nach dem Christentum, wie es um seinen Erhalt auf den Orkneys, den Shetlands und den Färöern stünde. Und er erfuhr, dass vielerorts einiges dazu fehlen würde, dass es gut sei). Sobald Óláfr jedoch mit den Einwohnern der Färöer interagiert, scheint der Stand des Christentums auf den Inseln keine Bedeutung mehr zu haben. Zwar ist es möglich, dass die Gesetze, die Óláfr den Färingern verordnen will, christliche Gesetzgebung darstellen sollen, explizit gemacht wird dies jedoch nicht. Religion verschwindet einfach aus dem Blickfeld der Erzählung. Offenbar ist es darüber hinaus zumindest grundsätzlich verwurzelt, immerhin kennt selbst Þrándr mit Pater noster und kredda generelle Inhalte. Es scheint letztlich, als würde in der Überlieferung der Óláfs saga helga generell der politische den religiösen Diskurs aufwiegen, vgl. hierzu auch Kap. 7.4.4.
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der neue Glauben somit kaum Auswirkungen auf die Textwelt und ihre Figuren zeitigt, stellt sich die Frage, welche Faktoren Sigmundr doch zur Konversion bewegen, und welche seiner Eigenschaften der Moment des siðaskipti und sein Umgang mit der Religion verdeutlichen. Ebenso ist zu fragen, welche Rolle der Moment des Religionswechsels dann im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga einnimmt. Sigmundrs Konversion geschieht im Rahmen der Færeyinga saga recht plötzlich und unvermittelt. Óláfr Tryggvason übernimmt die Herrschaft Norwegens und ruft Sigmundr vtan af Færeyium zu sich.353 Noch vor Sigmundrs Ankunft lässt der König ihm mitteilen, dass er skylldi fara sæmdar fỏr. ok konungr mundi gera hann mestan man i Færeyium ef S(igmundr) villdi geraz hans maðr.354 Trotz der Plötzlichkeit ihres Einsetzens reiht sich die Bekehrungsepisode also zunächst gänzlich und passgenau in das zuvor bereits etablierte Erzählmuster der jährlichen Reise zwischen Färöern und norwegischem Hof als langjährige Gewohnheit Sigmundrs ein. Die Einladung des Königs enthält keinerlei Hinweis auf den christlichen Glauben, sondern verspricht Sigmundrs Autorität und Ehre im Gegenzug für Gefolgschaft. Sigmundrs Bindung an Óláfr setzt insofern ungebrochen seine Verbindung zu Jarl Hákon fort. Er ist ein Lehnsmann norwegischer Herrscher, dient diesen treu und erwartet als Lohn dafür die Erhaltung seiner Machtposition auf den Färöern. Erst als Sigmundr am Königshof eintrifft, bringt König Óláfr das Christentum ins Spiel, allerdings auch dies erst nach eigentlich anders begonnener Argumentation. So spricht der König in seiner langen Rede eingangs davon, er habe Sigmundr deshalb eingeladen, at mer er mikit sagt af fræknleik þínum ok atgervi.355 Die Sinnfälligkeit des Bundes beider Männer begründet er mit detailgenau ausgebreiteten, biographischen Parallelen, die er erst nachträglich als göttlichen Willen apostrophiert.356 Erst nach der ganz profanen Begründung, weshalb sich Sigmundr ihm anschließen sollte, argumentiert Óláfr also konkret mit dem Christentum und dessen wortreich ausgestalteten Vorzügen.357 Er schließt mit der Ankündigung: [S]kaltv ok ef þu uill sva hlydnaz minum fortỏlum sem nv hefi ek sagt. ok þiona guði truliga með staðfesti. ỏðlaz af mer vínattu ok virþing. þo at þat se engis vert hia þeiri sęmð ok sælu er almattigr guð faðir mvn þer veíta sem huerium anara þeim er geyma hans boð orda fyrir ast hans híns helga anda. at samrikia sinum sæta s(yni). konungi allra konunga eilifiliga i hinni hæstu himinrikis dyrð.358 (›Du sollst auch, wenn du meinem Zureden gehorsam sein willst, wie ich nun gesagt habe, und Gott treu in Beständigkeit dienen, von mir Freundschaft und Ehre gewährt bekommen.
353 Fær, S. 70 (von draußen auf den Färöern). 354 Fær, S. 70 (eine Ehrenreise antreten sollte, und der König werde ihn zum größten Mann auf den Färöern machen, wenn Sigmundr sein Mann werden wollte). 355 Fær, S. 70 (›dass mir viel von deinem Geschick und Tüchtigkeit erzählt wird‹). 356 Fær, S. 70–72. 357 Fær, S. 72. 358 Fær, S. 72.
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Obgleich das nichts wert ist, verglichen mit der Ehre und dem Glück, die der allmächtige Gottvater dir erweisen wird wie jedem anderen, der sein Gebot achtet, aufgrund der Liebe seines Heiligen Geistes; gemeinsam zu herrschen im Sitz mit seinem Sohne, dem König aller Könige, ewig in der höchsten Würde des Himmelreiches.‹)
Die überbordende, christlich-emphatische Sprache von Óláfrs Rede wurde verschiedentlich als unpassend im Kontext der Færeyinga saga erachtet und entsprechend als spätere Hinzufügung kategorisiert.359 Sie hebt sich in Duktus und Ton auffällig vom Rest der Færeyinga saga ab. Und doch steht und fällt mit ihr die Interpretation der Færeyinga saga unter einer christlichen Ideologie. Denn es ist allein Óláfrs Rede, die den vorhergehenden Sagaverlauf in einem solchen Licht ausdeutet. Der König allein überführt den profanen und ganz diesseitigen Plotverlauf in die Sphäre höheren, göttlichen Willens und damit auch religiös begründeter Rechtfertigung der norwegischen Hegemonie auf den Färöern.360 Die Narration selbst hingegen legt kein verstärktes Gewicht auf Óláfrs Deutung, jedenfalls in der Textredaktion, die die Flateyjarbók bietet. Dass Óláfr erst am Ende seiner Rede auf den christlichen Glauben zu sprechen kommt, verleiht dieser Komponente seiner Verbindung zu Sigmundr zwar zusätzliches Gewicht, und eröffnet eine typologische Perspektive auf die parallelen Lebensläufe beider Figuren.361 Sie zeigt Óláfrs Gewinnungsstrategie aber ins-
359 Vgl. Almqvist 1992b, S. 43, der von einer »svulstiga, predikoartade oration« (schwülstigen, predigtartigen Oratio) spricht, die vom restlichen Stil abweiche und so dem Autor der Óláfs saga Tryggvasonar zuzuschlagen sei. Eine ähnlich dezidierte Meinung vertritt Saga-Herausgeber Finnur Jónsson 1927, S. VII, wenn er davon spricht, die Rede sei »höjst unaturlig« (höchst unnatürlich) und hochtrabend, und könne deshalb unmöglich in einer originalen Sagaversion gestanden haben. Sie sei auf eine Bearbeitung der Óláfs saga durch den Mönch Gunnlaugr zurückzuführen. Ähnlich Niedner 1929, S. 19; Schier 1992a, S. 563 mit ihrer Aufassung der Rede als »Fremdkörper« im Erzählgang. Ólafur Halldórsson 1987, S. xlvi–xlvii gibt dagegen zu bedenken, dass die Übernahme des gesamten Abschnitts in der Flateyjarbók nach einer Vorlage einer Óláfs saga Tryggvasonar-Handschrift ähnlich der Version in AM 62 fol. (Redaktion D) den Schluss, welche Bestandtteile ›originär‹ seien, nicht zulasse. Zugleich spricht Ólafur sich gegen eine Herleitung der Rede aus der Óláfs saga-Version Gunnlaugrs aus, erkennt jedoch Überschneidungen mit Mustern aus der Selbständigen Óláfs saga helga und der Óláfs saga Tryggvasonar-Version von Oddr Snorrason munkr (Ólafur Halldórsson 1987, S. xi–xiii). Da die Færeyinga saga auch in der Flateyjarbók in keiner anderen Textfassung überliefert ist als durch das Prisma der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, wird die Rede hier gleichberechtigt als Teil der vorliegenden Narration analysiert, ohne quellenkritisch über ihre Originalität befragt werden zu müssen. 360 Vgl. Guldager 1975, S. 29–34. Zur Rede als Schnittstelle möglicherweise unterschiedlicher Diskursperspektiven zwischen Færeyinga saga und Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, jedenfalls aber als Kristallisationspunkt der Ansicht Óláfrs über die Natur seiner politsichen Herrschaft, siehe weiterführend Kap. 7.4.3. 361 Sigmundr ist typologisch mehrfach auf Óláfr Tryggvason bezogen. Wiederholt heißt es von ihm, er habe Óláfr næst geingít vm allar jþrottir (sei ihm am nächsten hinsichtlich aller Kunstfertigkeiten gekommen), zunächst nach Abschluss seiner Ausbildung durch Þorkell (Fær c. 13, S. 30; siehe Kap 4.2.3), zum zweiten Mal, als er sich nach der Konversion tatsächlich in Wettkämpfen mit dem König misst (Fær c. 33, S. 79; zu Sinn und Funktion von Schwimmwettkämpfen mit dem König in der Sagaliteratur vgl. Kupferschmied 2014). Darin zeigt sich auch die klare Gesamtstruktur der
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besondere als doppelt angelegt. Dem Christen und baldigen Missionar Sigmundr verspricht Óláfr zwar seine vínattu ok virþing, und wichtiger noch die Gottes, aber auch und insbesondere den Krieger Sigmundr will Óláfr für sich gewinnen. Zugleich ist es bei Sigmundrs Einwilligung »difficult to ascertain to what extent he is committed to the new faith, rather than simply to the power that this new faith grants him«.362 Was Sigmundr an Óláfrs Angebot vor allem hellhörig machen dürfte, ist das Versprechen gesteigerter Autorität im Namen des Königs. Entsprechend zeigt er sich auch zunächst unwillig, die Missionierung der Färöer durchzuführen: Sigmundr mæltiz undan þvi starfi,363 jedenfalls so lange, bis Óláfr ihn zum valldz mann yfir allar Færeyiar364 erklärt und ihm priesterliches und anderes Personal für die Mission stellt.365 Ebenso wie bei seiner ersten Rückkehr auf die Färöer lässt sich Sigmundr vom norwegischen Herrscher also mit den notwendigen Mitteln ausstatten, die seine eigene Herrschaft stützen – von Jarl Hákon mit einer Armee, von Óláfr mit Missionspersonal. Der gewichtige Unterschied zwischen beiden Szenen ist die Tatsache, dass in diesem Fall der Impetus für Sigmundrs Fahrt gänzlich von Seiten Óláfrs ausgeht. Sigmundr wird im Zuge dieser Episode endgültig zu einem reinen Avatar des Königswillens.366 Somit ist Sigmundrs Bekehrung und seine Verbindung mit König Óláfr wenig mehr als ein »Zweckbündnis«,367 dem er sich allerdings mit Blick auf die Stützung der eigenen Position auf den Färöern fügt, obwohl es die Einordnung in eine noch definitivere Hierarchie bedingt.368 Diese Tatsache macht Sigmundr in der Ausführung seiner Mission zum reinen Befehlsempfänger: »Sigmundr is ordered to go.«369 Als er nach seiner Niederlage auf dem Þing beschließt, Þrándr nachts zu überfallen, um die Mission durchzusetzen, spricht er von seiner
Flateyjarbók (vgl. Würth 1991; Ashman Rowe 2005; weiterführend siehe Kap. 9.2.2). Auch Kjartan misst sich in der Laxdœla saga c. 40, S. 116–118, die ebenfalls in den Codex interpoliert wurde, im Schwimmen mit dem König (zu weiteren Parallelen zwischen beiden Sagas vgl. Heller 1998). Zugleich wiederholen sich die Szenen nicht direkt. Kjartans Wettkampf wird zu einer vollen Szene ausgestaltet, während er bei Sigmundr nur erwähnt wird. Dadurch wird im Vergleich mehr Distanz zwischen beiden aufeinander bezogenen Figuren erzeugt. Im Zuge der Konversionsepisode wird Sigmundr dennoch gleichsam zum Avatar Óláfrs selbst, dessen christliche Botschaft er auf den Färöern durchsetzt, vgl. Bonté 2014b, S. 100 u. S. 103. Vgl. auch Harris 1986, S. 207. 362 Bonté 2014b, S. 100. Vgl. bereits Niedner 1929, S. 17, der meint, »[t]otz allem Aufwand von salbungsvollem Pathos seitens des christlichen Königs« nehme Sigmundr seine christliche Mission »zögernd und wohl nur als aus politischer Berechnung« an. 363 Fær, S. 73 (Sigmundr redete sich aus dieser Aufgabe heraus). 364 Fær, S. 73 (Machthaber über alle Färöer). 365 Vgl. auch Bonté 2014b, S. 100. 366 Vgl. Bonté 2014b, S. 103. 367 Bick 2005, S. 7. 368 Vgl. Guldager 1975, S. 29. Zu Sigmundrs vergleichsweise herzlicher und gleichberechtigter Beziehung zu Hákon siehe Kap. 4.2.4. Zum Vergleich der Verbindungen zwischen Sigmundr und Hákon respektive Óláfr siehe auch Kap. 7.4.2–3. 369 Bonté 2014b, S. 101.
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Mission entsprechend als ein konungs erendi.370 Die Annahme des Christentums und der Antritt der Missionsreise sind aus Sigmundrs Perspektive insofern wenig mehr als Zeichen guten Willens und buchstäbliche Unterwerfungsgeste. Sein prospektiver Lehnsherr erwartet, ebenso wie Jahre zuvor Hákon, den Anschluss an seinen Kult von Sigmundr, ehe er ihm vollständige Unterstützung gewährt, also fügt Sigmundr sich dem übergeordneten Willen, teils aus Veranlagung, teils aus Notwendigkeit für die Fortsetzung der eigenen Herrschaft auf den Färöern. Was ihn am Christentum insbesondere anzieht, formuliert Sigmundr bei genauer Betrachtung selbst: Es ist die Tatsache, dass er Óláfrs Glauben – nicht zuletzt auf die Umstände bezogen – als far sælligri erkennt,371 vor allem für die eigene Machtposition. In Sigmundrs Beziehung zu Óláfr und seinem Glauben offenbart sich insofern die generelle Strategie seines voherigen Lebens: Zur Förderung des eigenen Erfolgs auf den Färöern ist er bereit, jede Eigeninitiative aufzugeben. Als er vom Hof Óláfrs zurückkehrt, verkündet Sigmundr die Bestätigung seiner Herrschaftsrechte durch den König ebenso wie den Religionswechsel, und toko flestir bændr þvi vel.372 Entsprechend scheint Sigmundr nach der Überwindung von Þrándrs Widerstand auch keinen Schwierigkeiten bei der Missionierung der Inseln zu begegnen, immerhin wird sie lapidar in einem einzigen Satz abgehandelt: [F]or Sigmundr þa vm allar Færeyiar ok letti eigi fyrr en þar var allt folk kristnat.373 Wie bedeutsam die Konversion der Färinger im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga angesichts einer solch extremen erzählerischen Knappheit in ihrer Darstellung sein kann, ist in höchstem Maße fraglich. Zwar haftet Þrándrs Konversion ein gewisser Pars-pro-toto-Charakter an, doch ist auffällig, in wie hohem Maße die Bekehrungssequenz auf den Kampf zwischen den beiden Protagonisten auch in dieser Hinsicht aufmerksam macht. Während die gesamte Bevölkerung der Färöer ihren Glaubenswechsel in diesem einen, kurzen Satz vollzieht, ist die Ablehnung der Christianisierung durch Þrándr und seine Zwangsbekehrung über zwei Kapitel der Erzählung gestreckt. Erzählzeit und erzählte Zeit sind damit für beide Ereignisse genau umgekehrt gestaltet: Auch wenn die Färöer recht schnell überquert werden können, dauert ihre Bekehrung doch länger als die nur eines einzigen Mannes. Die Zeit aber, die Sigmundr mit dieser Aufgabe verbringt, wird extrem gerafft präsentiert, während narrativ alleine die Zwangsbekehrung Þrándrs in den Vordergrund gerückt wird. Auch im Falle der Konversion ist es vor allem sein Machtkampf mit Sigmundr, der im Zentrum des Interesses steht. Überdies beziehen alle Redaktionen der Saga bei Þrándrs Gegenrede auf dem Þing das siðaskipti als zentrales Moment der Verweigerung ein – explizit nicht jedoch die hier untersuchte Flateyjarbók-Re-
370 371 372 373 dort
Fær, S. 75 (Auftrag des Königs). Fær, S. 73 (glückhafter). Fær, S. 74 (die meisten Bauern nahmen dies gut auf). Fær, S. 76 (Sigmundr fuhr über die gesamten Färöer und ließ nicht eher nach, bis alles Volk christianisiert war).
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daktion, in der die Rede als solche abgelehnt wird, ohne dabei spezifisch die Glaubensangelegenheit anzusprechen.374 Im Gesamtzusammenhang der Saga erscheint die Christianisierungssequenz narrativ folglich in hohem Maße in die bisher bereits bestehende Dichotomie beider Protagonisten und ihres bereits lange andauernden Machtkampfes eingehängt.375 Sie ist nur ein weiterer Schauplatz des Duells der beiden, wohl eingewoben in den bisherigen Handlungsgang und nicht als Zeitenwende oder übermäßig bedeutsame Etappe herausgestrichen. Trotz der wohlmeinenden Erstaufnahme der Nachricht vom Glaubenswechsel durch das Þing kann Þrándr aufgrund seiner Macht über die Lokalbevölkerung zunächst Sigmundrs Bemühungen ein Ende setzen.376 Dieser muss sich unmittelbar fügen, doch likaði allþungt er bændr hỏfðo kwgat hann.377 Erneut lenkt der Text durch diese Formulieung die Aufmerksamkeit auf die sozialen und politischen Implikationen der färöischen Mission statt die Enttäuschung eines missionierenden Christen. Sigmundr begreift seine Niederlage wie ein Krieger, mit dem entsprechenden Gewicht auf seiner Entehrung durch die Niederlage. So verfährt er auch, um seine Ziele doch noch zu erreichen: Im Frühlung, þa er stravmar voro nærr sem mestir. ok mỏnnum þotti v fært ꜳ sia milli eyianna,378 überfällt er Þrándr nachts, bricht seinen Hof auf und befiehlt einem Mann, ihn zu erschlagen, wenn er sich nicht bekehren will. Er zeigt sich in dieser Situation ganz und gar als Krieger. In einem Moment, in dem schon die natürlichen Gegebenheiten enorme Anstrengungen erfordern, um überwunden zu werden, setzt er erneut sein Schicksal aufs Spiel und ist bereit, zu sterben, falls er seinen Auftrag nicht ausführen kann.379 Zur Durchsetzung des christlichen Glaubens und damit seiner eigenen Autorität greift er zur Gewalt, dem Mittel, bei dem er sich sicher sein kann, Erfolg zu haben. Ebenso geht er die Missionsarbeit danach an. Als Kämpfer mit einer Aufgabe vor Augen
374 So sagt Þrándr dort, at ver vilium með engu moti taka siða skipti ok her munu ver ueíta þer at gỏngu (Fær, S. 74–75; ›dass wir keinesfalls einen Glaubenswechsel annehmen wollen und wir werden dich hier angreifen‹). Die Flateyjarbók hingegen lässt die Wendung taka siða skipti aus: uer bændr uerdum allir a æitt sattir um þat eyrende er þu fluttir at uer ulium med ỏngu moti. ok her munu uer uæita þer atgongu (Flat I, S. 366; ›Wir Bauern sind alle einer Ansicht hinsichtlich der Rede, die du vorgetragen hast, nämlich, dass wir keinesfalls annehmen wollen und wir werden dich hier angreifen‹). Entsprechend wird das in Frage stehende Kapitel in der Flateyjarbók auch als Þrandr kugadr (Die Bezwingung Þrándrs) überschrieben, nicht etwa, wie in Redaktion C, als Færey[ngar] kristnadir (Die Christianisierung der Färinger), vgl. Fær, S. 75 Anm. z. Z. 31.1. Insofern zeigen sich maßgebliche Unterschiede zwischen den Textredaktionen. 375 Vgl. auch Johnston 1975, S. 9. 376 Vgl. näher Kap. 3.6.1. 377 Fær, S. 75 (nahm es sehr übel, wie ihn die Bauern bezwungen hatten). 378 Fær, S. 75 (als die Strömungen am stärksten waren, und es den Leuten zwischen den Inseln auf der See unpassierbar schien). 379 Fær, S. 75: [S]agði hann at þa skylldi leggia ꜳ tuí hættu at koma fram konungs erendinv e(ðr) deyia at ỏðrvm kosti (Er sagte, man müsse es darauf ankommen lassen, den Auftrag des Königs voranzubringen oder andernfalls zu sterben).
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lässt er nicht eher von dieser ab, bis dass sie erfüllt ist. Auch in der Durchsetzung des Missionsauftrags offenbaren sich also Sigmundrs hervorstechendste Eigenschaften: Treue Pflichterfüllung, Kriegertum – und politische Kurzsichtigkeit. Trotz der aufgrund dieser Beobachtungen anzusetzenden Marginalisierung der Religionsund Konversionsthematik an sich im Gesamterzählverlauf der Færeyinga saga sind es nämlich letztendlich die Durchsetzung des Christentums und vor allem ihre Art und Weise, die die politische Situation auf den Färöern zum Kippen bringen und Sigmundr sein Schicksal ereilen lassen. Sigmundr möchte Þrándr durch die Zwangsbekehrung entehren, um sich für die eigene Entehrung auf dem Þing zu rächen. Tatsächlich ist dann diese öffentliche Entehrung dasjenige Moment in ihrem Konflikt, auf das Þrándr explizit verweist, um seine Opposition zu begründen, wie bereits in Kapitel 3.6 erörtert wurde. Sigmundr gibt ihm diesen Grund durch seine Entscheidung zur Zwangsbekehrung gleichsam selbst an die Hand. Die Vorgänge um den Glaubenswechsel führen Þrándr deutlich vor Augen, dass selbst seine Macht im Angesicht einer so scharfen Hierarchie, wie König Óláfr sie zwischen sich und Sigmundr errichtet, begrenzt ist. Eine weitere solche Konstellation wird er nicht noch einmal entstehen lassen, und schlägt zu, sobald die Königsherrschaft wieder schwach ist. Unüberlegt erscheint im Zuge dessen Sigmundrs Entscheidung, Þrándr mit auf seine Missionsreise zu nehmen: S(igmundr) let Þrand þa fara með ser .380 Diese Geste kommt einem Triumphzug unter Präsentation des besiegten Feindes gleich, und soll wohl Þrándrs öffentliche Schande zusätzlich zu seiner – ebenfalls öffentlichen – Entehrung durch die erzwungene Konversion weiter steigern. Umso mehr aber hat Þrándr in Folge dessen Grund dazu, die Art und Weise, er þu kugadir mig til sida skiptis,381 nicht ertragen zu können, was im Moment seiner Rebellion schließlich auf Sigmundr zurückfällt. Zudem illustriert dies zwar einerseits Sigmundrs Milde, Þrándr nicht getötet zu haben, lässt sich aber andererseits auch als Verdeutlichung verstehen, dass er zur Durchsetzung seiner Botschaft die Begleitung des Mannes sogar braucht, der zuvor eine Konversion noch vehement bekämpft hat. Diese Herangehensweise ist zunächst eine erfolgreiche Strategie, da Sigmundr anhand seiner Begleitung der Bevölkerung vor Augen führen kann, den stärksten Gegner der Bekehrung für seine Sache gewonnen oder jedenfalls sein Primat durchgesetzt zu haben. Jedoch dürfte die Reise auch Þrándrs eigenen Einfluss auf den Inseln bestärken: Nicht einmal die von ihm bekämpfte Konversion kann auf den Färöern durchgesetzt werden, ohne dass Þrándr persönlich anwesend ist. Dabei schürt diese öffentliche, seine Position untergrabende Parade insbesondere Þrándrs Hass auf Sigmundr. Eine solche Entehrung, wie er sie durch Sigmundrs Durchsetzung des siðaskipti erfährt, kann selbst Þrándr nicht klaglos und ohne Rache zu üben hinnehmen.
380 Fær, S. 76 (Sigmundr nahm Þrándr da auf seiner Fahrt mit, als er getauft war). 381 Fær, S. 82 (›in der du mich zum Glaubenswechsel gezwungen hast‹).
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Angesichts dieser Überlegung scheint es umso nachlässiger von Sigmundr, Þrándr nach Abschluss der Mission auf den Färöern zurückzulassen und nicht, wie gefordert und den widrigen Wetterumständen zum Trotz, nach Norwegen zu bringen. König Óláfr verbalisiert dies entsprechend: [Þ]at er illa er Þrandr kom eigi ꜳ minn fund.382 Sigmundr ignoriert die sich hier mehrfach bietende Möglichkeit, Þrándr auszuschalten und rettet ihn sogar aus einem der sinkenden Schiffe.383 Obwohl er im Moment des Vorbringens der Missionsbotschaft auf dem Þing selbst erkennt, dass er Þrándr zu viel Macht zugestanden hat, lässt er ihn schließlich auf den Inseln zurück, und hält es offenbar für ausreichend at hann sverr trunadar eiða.384 Doch sva sverr Þrandr frekliga sem S(igmundr) kann vandligaz fyrir at skilia.385 Dennoch lässt ihn Sigmundr zurück und stellt damit seine Geschicklosigkeit in der Politik unter Beweis. Sigmundrs Verhalten seinem Gegner gegenüber bleibt in hohem Maße inkonsequent, und gerade die Bekehrungsepisode verdeutlicht das Ausmaß dieser Inkonsequenz. Mehrfach wird sie in diesem Zeitabschnitt verbalisiert, und er selbst erkennt seinen Fehler. Doch wiegen Sigmundrs ›heroischer‹ Lebenscodex und seine lehnsherrschaftliche Treue zu schwer, um sie politischem Erfolg unterordnen zu können. Der Krieger, der durch seine ›heroischen‹ Qualitäten sogar so erfolgreich sein kann, seiner Heimat den langfristig zukunftweisenden, christlichen Glauben zu bringen, vollführt dies erneut in momentaner Kampfwütigkeit. Er begreift seine Mission als Auftrag des Königs, und wie im Kampf gegen Haraldr járnhauss Jahre zuvor ist er nicht willens, aufzugeben, ehe der königliche Wille nicht durchgesetzt ist. Für ihn ist die Mission damit ein Zweikampf gegen Þrándr. Sobald er sich aber in diesem durchgesetzt hat und den Erfolg politisch absichern müsste, findet er sich sogleich wieder zurückgeworfen auf das Feld, auf dem er als Akteur keinerlei Geschick besitzt. Der Krieger kann kämpfen, auch mit Erfolg, aber er ist kein Politiker. Die Konversionsepisode erfüllt im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga so nur eine Hinweisfunktion auf bereits in der Erzählung verdeutlichte Gesichtspunkte: Sigmundrs Disposition zum ›Heldentum‹ offenbart sich in und nach ihr in vollem Ausmaß als fatal und sein Handeln als kurzsichtig. Zwei mal lässt er öffentliche Schande gegen seinen Kontrahenten vor Recht ergehen und tötet ihn nicht, während dieser seinen Aufstand mit den Vorgängen des Glaubenswechsels begründet. Aus dem Zusammenhang hieße das, dass sich für Sigmundr die Bekehrung sogar negativ auswirkt. Wie oben argumentiert wurde, spiegeln die Ereignisse, die auf Sigmundrs Tod hinführen, jedoch lediglich seine charakterlichen Eigenschaften in letzter Konsequenz wieder. Auch seine nachteiligen Eigenschaften ändern sich
382 Fær, 383 Fær, dere). 384 Fær, 385 Fær,
S. 78–79 (›Es ist übel, dass Þrándr nicht an meinen Hof gekommen ist‹). S. 77: Sigmundr barg Þrandi ok mỏrgum auðrum (Sigmundr rettete Þrándr und viele anS. 77 (dass er Glaubenseide schwört). S. 77 (Þrándr schwört so forsch, dass Sigmundr nur schwer verstehen kann).
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charakteristischer Weise durch die Bekehrung absolut nicht. Dieselbe politische Kurzsichtigkeit, die sich nach dem Religionswechsel tödlich an Sigmundr rächt, stellt er bereits in der anfänglichen Auseinandersetzung mit Þrándr unter Beweis, als er die Verzögerung bzw. das völlige Unterbleiben der festgesetzten Bußleistungen erlaubt. In dieser ›Kurzsichtigkeit‹ offenbart sich die Tragik von Sigmundrs Dasein als Krieger, der politisch agieren muss, und die Annahme des Christentums ändert an dieser Tatsache nichts. In diesem Handlungsverlauf zeigt sich überdeutlich, dass Sigmundr tatsächlich nur auf eines vertraut: [A] matt min ok megin, ganz wie er selbst über sich sagt. In einer christlichen Interpretation der Færeyinga saga könnte seine Kompromisslosigkeit zwar auch als positiver Missionarseifer gedeutet werden, aber eindeutig festhalten lässt sich, dass Sigmundr keineswegs besonders christliche Tugenden exemplifiziert oder sein Denken und Handeln in besonderer Weise dem Christentum verpflichtet sind. Im Zuge seines Kriegertums und seiner Untergebenheit unter die norwegischen Herrscher als Quelle seiner Macht auf den Färöern ist hingegen das Christentum nur ein weiteres Moment, das er im Zuge seiner – erfolglosen – Machterhaltungsstrategie im Auftrag seines Königs bedienen muss. Sein Glauben selbst lässt sich daher durchaus als defizitär kategorisieren. So ist denn der Kampf zwischen ihm und Þrándr nicht einmal in dieser Erzählsequenz etwas wie ein ›Glaubenskrieg‹, und die konstante Unterordnung der Konversionsthematik unter die weitergefassten Erzählschablonen, die in den Charakterisierungen beider Protagonisten bedient werden, sowie die daraus resultierende Bedeutungslosigkeit der Religionsthematik an sich, lassen die Bekehrungssequenz im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga nur Episode bzw. Interludium verbleiben. Gleichwohl leitet dieses Interludium bedeutsame Entwicklungen ein – für die Folgeerzählung textintern insbesondere Þrándrs nachhaltig wirksame, völlige Entehrung, die seine neue Strategie der offenen Rebellion begründet. Die Einführung des im Niederschriftszeitraum des Textes gültigen Glaubenssystems dürfte textextern zudem das publikumsseitige Identifikationspotenzial erhöhen. Die Episode vertieft zudem die Gegensätzlichkeit Sigmundrs und Þrándrs und stellt vordringliche Charaktereigenschaften beider Figuren zusätzlich um eine Komponente bereichert deutlich heraus. Gerade die im Vergleich zu ihrer bisherigen Betonung in verschiedenen Interpretationen im Plot selbst marginalisierte Konversionsthematik ist der Katalysator, der Sigmundrs unpassende Figurenstruktur auf Þrándrs Färöern verschärft hervorhebt. Der Missionar bedient alleine den Willen seines fremden, norwegischen Königs, er verkündet einen Glauben, der letztlich ebenso ortsungebunden ist wie er selbst,386 und er setzt ihn auf eine Art und Weise durch, die politisch unklug und von der ›heroischen‹ Lebensart bestimmt ist, die unaufhaltsam dem Untergang entgegendrängt und die insofern auf ihn zurückfallen muss. Das Bekehrungsinterludium wird zum Signum von Sigmundrs gescheiterten, stets inadäquaten Bemühungen, die Herrschaft auf den Färöern zu erobern und zu halten. Die hier
386 Vgl. North 2005, S. 67.
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beschriebene Marginalisierung des Konversionsberichts ist damit vor allen Dingen Konsequenz ihres Kontextes. In der Færeyinga saga wird insgesamt ein wesentlich umfangreicheres Narrativ erzählt, das jeweils vor und nach dem Glaubenswechsel auf den Färöern in der Regierungszeit König Óláfr Tryggvasons etwa gleich viele Kapitel (allerdings unterschiedlicher Länge und Ausführlichkeit) umfasst. Diese Struktur sorgt dafür, dass der Gesamttext in der Flateyjarbók sehr symmetrisch aufgebaut wirkt.387 Auch bildet die Bekehrungserzählung dadurch die Spiegelachse des Gesamtgeschehens, und durch ihre Platzierung recht exakt in der Mitte der Erzählung wird ihre grundsätzliche Wichtigkeit narrativ hervorgehoben. Zugleich aber wird das siðaskipti dadurch in einen ungleich größeren Gesamterzählfluss eingebettet, der Figurencharakteristika auch weit vor und nach seiner Darstellung in derselben Weise zeigt, wie sie während des Kampfes um den christlichen Glauben sichtbar werden. Dadurch wird auch dieser nur in bestehende Dichotomien eingebaut, statt selbst herausgestrichen zu werden. Anders jedoch in den unabhängigen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta: Schon aufgrund der Tatsache, dass in diesen Textversionen von den Färöern nicht weiter berichtet wird als bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Missionskönig und Protagonist der überlieferungstragenden Saga-Erzählung durch seinen Diener Sigmundr den christlichen Glauben in den von ihm beherrschten Nordatlantik tragen lässt, wird die Konversionserzählung als der Höhe- und Endpunkt der färöischen Angelegenheiten markiert. Die Gesamterzählung von Sigmundrs Exil und die Darstellung seiner heldenhaften Qualitäten auch als Krieger führen auf den Zeitpunkt seiner Begegnung mit dem christlichen König hin, der den so ausgestalteten ›Helden‹ durch seine Bekehrung zum miles Christi umformen kann. Dieser verbreitet den christlichen Glauben schließlich im Auftrag seines Patrons auch an die Ränder von dessen Reich. Damit können sich die Färinger zwar nicht des unabhängigen und freiwilligen Bekenntnisses zum rechten Glauben rühmen, den die Isländer als zentral für die eigene Geschichte betrachten,388 doch auch sie werden durch die Macht des christlichen Königs in die neue, bessere Zeit der Christianitas eingeführt. Die Bekehrung der Inseln bildet für die Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar das Hauptaugenmerk der Aufmerksamkeit, der zuvor interpolierte Text umfasst nur etwa doppelt so viele Kapitel statt mehr als die dreifache Zahl in der Flateyjarbók. Entsprechend werden Sigmundrs Beziehungen zum explizit heidnischen Jarl Hákon durch die extreme Verkürzung des Exilberichts massiv umgestaltet, sodass er umso mehr auf König Óláfr persönlich bezogen erscheint, statt generell als nur in Norwegen erfolgreicher Hofangehöriger dargestellt zu werden. Insgesamt steht der norwegische Primat über die Inseln damit nie in Frage und es ergeben sich keine Spannungen zwischen Sigmundrs Hofzuordnung, wodurch ihm auch seine ›heroische‹ Persönlichkeitsstruktur dauerhaft zum Nutzen gereicht, wie bereits aufgezeigt.
387 Vgl. auch Kap. 8. 388 Zu diesem Vergleich siehe ausführlich Bonté 2014a; Bonté 2014b.
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Spürbar verändert wird auch sein religiöses Verhältnis zu Jarl Hákon, wenn er dessen Glaubensbekundungen und Eifer für Þorgerðr hǫrðarbrúðr noch distanzierter aufnimmt.389 Überhaupt antwortet er hier nur zögerlich und anders perspektiviert auf Hákons Frage nach seinem Glauben: S(igmundr) svar(ar) helldr seínt. þat er eigi merkiligt herra. s(egir) hann. þviat ek hefir engan ꜳtrunat annan en ek treystumz hamingiu minni ok sigr sæli.390 Sigmundrs späte Antwort verrät eine grundsätzliche Skepsis, sich auf eine solche Thematik überhaupt einzulassen, während die Formulierung eine ganz andere Perspektive erkennen lässt als in der Flateyjarbók. Sigmundr glaubt hier gar nichts, er vertraut auf etwas, und zwar sein persönliches, unter Beweis gestelltes Schlachtenglück und das traditionell verbürgte Heil seiner Sippe.391 Durch den Hinweis auf diese althergebrachten, abstrakten Konzepte verweist Sigmundr implizit auch auf die Geschichte seiner Familie – und damit ihre Lehnsbindung an Norwegen. Obwohl die topische Formulierung von mátt ok megin hier nicht aufgegriffen wird, wirkt Sigmundr umso stärker zur Annahme des Christentums vorbestimmt. Seine Antwort auf Hákons Frage offenbart hier nicht seine ›heroische‹ Persönlichkeit, die selbst dem Glauben König Óláfrs gegenüber letztlich indifferent auftritt, sondern seinen glückhaft gesteuerten Lebensweg. Konsequenterweise, erscheint Sigmundr doch in diesen Redaktionen nicht auf verlorenem politischem Posten, sondern als sogar seinen Feinden gegenüber milder, um Konsens bemühter Herrscher, der prototypisch die Eigenschaften eines christlichen Königs verkörpert und zwar als miles Christi agiert, den kriegerischen Aspekt dabei aber keinswegs überbetont. Gerade deshalb ist ihm der Erfolg beschieden, König Óláfrs Mission erfolgreich durchzuführen. Der Gesamttext wird somit ganz anders ausgerichtet, die Bekehrung erscheint als das erstrebens- und berichtenswerte Ereignis der färöischen Frühgeschichte, während sie in der Flateyjarbók insgesamt nur als Teiletappe eines größeren Machtkampfes Erwähnung findet. Für die Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar lassen sich somit viele der in der Forschung zur Færeyinga saga der Flateyjarbók bisher betonten diskursiven Hintergründe des Textes gerechtfertigterweise ansetzen. Óláfrs Rede zieht hier eine ideologische Ebene in den Text ein, die für eine christlich überformte Hierarchiebeziehung von Protagonisten und König argumentiert, und damit norwegische Herrschaft im Nordatlantik rundheraus rechtfertigt. Dies stellt die christliche Zeit als »neue Ordnung« heraus und bleibt am Ende des Textes unwidersprochen bestehen.392 Im Falle dieser Textredaktionen scheint durchaus gerecht-
389 Zur Textumgestaltung in dieser Hinsicht vgl. Kap. 4.5.2. 390 Fær, S. 49 (Text A; D verbatim; Sigmundr antwortet ziemlich zögerlich: ›Das ist nicht bemerkenswert, Herr‹, sagt er, ›denn ich habe keinen anderen Glauben, als dass ich auf die Schutzkraft meines Glücks vertraue und auf mein Waffenglück‹). 391 Zum Konzept der hamingja als Verkörperung des Sippenheils vgl. Beck 1999. 392 Vgl. die Interpretationen von Guldager 1975; Conroy 1984 S. 580; Berman 1985, S. 124–125; Harris 1986, S. 204–210; Glauser 1989, S. 216–221; Guttesen 1999, S. 147; Mortensen 2005, S. 91; Bonté 2014a; Bonté 2014b; Harlan-Haughey 2015.
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fertigt, anzunehmen, dass »der direkte Anstoß« zur Niederschrift der Erzählung von den Färöern »von dem Interesse isl[ändischer] Geistlicher an Olav Trggvason« und seiner christlichen Missionstätigkeit ausging.393 Damit ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild als für die Textredaktion der hier besprochenen Flateyjarbók, wo die Bekehrung nur Interludium bleibt und Sigmundr im Anschluss an diesen Textabschitt seinen Tod findet.
4.5.2 Der Ring und Sigmundrs Tod Bedeutsam im Zusammenhang mit Sigmundrs Bekehrung, und in der Forschung immer wieder als maßgeblich für eine Interpretation angesprochen, ist Sigmundrs ›heidnischer‹ Ring, den er durch Jarl Hákon von Þorgerðr hǫrðarbrúðr erhalten hat, bzw. seine Weigerung, diesen Ring König Óláfr auf dessen Wunsch hin auszuhändigen. Diese Weigerung wurde überwiegend als Festhalten an einem »Symbol für tiefsten heidnischen Irrglauben« und, angesichts des mangelnden Gehorsams König Óláfr gegenüber, als Defizienz an christlicher Überzeugung und Wertübernahme kategorisiert.394 Sigmundr erhält seinen Ring vor der Rückkehr auf die Färöer von Jarl Hákon, der ihn nach seinem Glauben befragt und die Antwort, ek trui a matt min ok megin, als nicht genügend befindet. Stattdessen solle Sigmundr sich dem Kult zuwenden, den Hákon selbst praktiziert: [V]erdr þu þangat traustz at leíta er ek hefui allan atrunat a þar sem er Þorgerdr hỏrda brudr skulu vit nu fara at fínna hana ok læíta þer þangat heilla. Sigmundr bad hann firir sea ok nu ganga þeir til skogar akbraut æína ok af stig lítínn j skogín ok verdr þar ríodr firir þeim ok þar stendr hus ok skíȷ ́d gardr vm þat hus var hardla fagurt ok gulle ok silfri var rent j skurdína jnn ganga þeir j husit Hakon ok S(igmundr) ok fair menn med þeim þar var fiolde goda glergluggar voru margir a husínu sua at huergi bar skugga a kona var þar jnnar husit vm þuert ok var hon uegliga buín j(arl) kastade ser nidr firir fætr henni ok la læingi ok sidan stendr hann upp ok segir S(igmundi) at þeir skulu færa henni fornn nokkura ok koma silfri þui astolinn firir hana en þat skulum vit at marki hafua segir Hakon huort hon uill þiggia at ek villde at hon leti lausan hring þann er hon hefir ahendi ser attu S(igmundr) af þeim hring heílir at taka en nu tekr j(arl) til hringsins ok þikir S(igmundi) hon beygia at hnefan. ok nadi j(arl) æigi hringnum j(arl) kastar ser
393 Glauser 1994, S. 115. 394 Glauser 1989, S. 217. Harris 1986, S. 208–209 betont zwar die Vielschichtigkeit des Textes und die daraus folgende Unsicherheit, ob Sigmundrs Weigerung negativ oder sogar positiv aufzufassen sei, konstatiert in einer Fußnote mit Blick auf eine Parallelszene im Steins þáttr Skaptasonar aber: »Sigmundr’s resistance to Óláfr was the ultimate cause of his death« (Fn. 57). Eine ähnliche Auffassung liegt Guldager 1975, S. 35–38 zugrunde, demzufolge der Ring als materieller Gegenstand trügerisch sei, während König Óláfr für eine jenseitsorientierte, christliche Fundierung von Macht plädiere, die Sigmundr aber nicht vollständig genug annehme. Somit werde Óláfrs Ideologie über die Sigmundrs herausgestellt. Zu den Grundgedanken der Argumentation dieses Kapitels sowie als Versammlung entsprechenden Vergleichsmaterials siehe bereits Schmidt 2018.
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nídr j annan tíma firir hana ok þat finnr S(igmundr) at j(arl) tarazst ok stendr upp eftir þat ok tekr til hringsíns ok | er þa lauss ok færr j(arl) S(igmundi) hringinn ok mællti sua at þessum hring skyllde S(igmundr) æigi loga ok þui het hann.395 (›Du musst dort Beistand suchen, wohin ich all meinen Glauben richte, auf Þorgerðr hǫrðabrúðr. Wir wollen sie nun aufsuchen gehen und dort Heil für dich suchen.‹ Sigmundr bat ihn, sich darum zu kümmern. Sie gehen nun auf einen Fahrweg im Wald und auf einen kleinen abseitigen Pfad in den Wald hinein, und es tut sich eine Lichtung vor ihnen auf und dort steht ein Haus mit einem Lattenzaun darum. Das Haus war sehr schön und die Schnitzereien mit Gold und Silber verziert. Hákon und Sigmundr gehen hinein in das Haus und wenige Männer mit ihnen. Dort gab es eine Menge Götterbilder. Das Haus hatte viele Glasfenster, sodass es nirgends Schatten gab. Eine Frau stand dort drinnen quer gegenüber im Haus und sie war prächtig ausgestattet. Der Jarl warf sich ihr zu Füßen nieder und lag lange und dann steht er auf und sagt zu Sigmundr, dass sie ihr ein Opfer darbringen sollten und das Silber auf den Stuhl vor ihr legen – ›das aber werden wir als Zeichen haben‹, sagt Hákon, ›ob sie es annehmen will, dass ich wollte, sie ließe den Ring los, den sie am Arm trägt. Du, Sigmundr, hast von diesem Ring Heil zu erwarten.‹ Nun aber greift der Jarl nach dem Ring, und es scheint Sigmundr, als dass sie die Hand zur Faust balle. Und der Jarl erreichte den Ring nicht. Der Jarl wirft sich ein zweites Mal vor sie nieder, und Sigmundr bemerkt, dass der Jarl weint, und danach steht er auf und greift nach dem Ring und der ist da lose und der Jarl gibt Sigmundr den Ring und sagte, dass Sigmundr diesen Ring nicht hergeben sollte, und er versprach es.)
Die Szene enthält viele Details zur Figur der Þorgerðr hǫrðabrúðr, einer Art Privatgottheit, die fast sämtliche Quellen in enge Verbindung mit Jarl Hákon setzten, und wurde daher vermehrt im Zuge religionsgeschichtlicher Forschung herangezogen.396 Dabei wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die Schilderung des Tempels mit seinen Glasfenstern kaum ein authentisch paganes Gebäude beschreiben könne, sondern vielmehr vom Aussehen mittelalterlicher Kirchengebäude abgeleitet sein dürfte.397 Die literarische Anregung der Szene wurde in der Maríu saga respektive den Marienmirakeln (Maríu jartegnir) ausgemacht.398 Tatsächlich dürfte es sich bei der Tempelschilderung wohl kaum um ein ›authentisch‹ heidnisches Element handeln, doch scheint auch die Erzählung aus den Maríu jartegnir als Quelle nicht übermäßig überzeugend: Es handelt sich um die Mirakelerzählung Nr. 202 in der Ausgabe von Carl Richard Unger.399 In dieser zieht
395 Fær, S. 49–50. 396 Für eine Übersicht der Quellenzeugnisse und Interpretationen zu dieser mythischen Gestalt vgl. Böldl 2018 und Halvorsen 1976. Ihre Charakteristika osszilieren zwischen einer dämonischen Schlachthelferin des Jarls Hákon und dessen kultisch verehrter Privatgottheit, vgl. bereits Storm 1885, bes. S. 130–132. Für eine Übersicht der religionsgeschichtlichen Forschungsperspektiven vgl. neben Böldl 2018 auch Schmidt 2015, S. 127–130 (bes. Fn. 455). Siehe näher auch Kap. 8.3.3 (für Vergleichsmaterial bes. Fn. 178). 397 Vgl. etwa Foote 1988, S. 193; Ólafur Halldórsson 1990c, S. 251. 398 So Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxvi–clxxxviii; Foote 1988, S. 193; Almqvist 2005. 399 Maríu saga, S. 1034–1035. Eine weitere Parallele, in der ein Ring dämonische Kräfte symbolisiert, die letztlich für den Tod des Protagonisten verantwortlich zeichnen, nennt Ólafur Halldórsson
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ein Priester, verzückt vom Anblick einer Statue der Gottesmutter, dieser als Zeichen einer Verlobung einen Ring auf den Finger, weshalb der Typus dieser Erzählung als »Marienbräutigam« angesprochen wird. Eine andere Redaktion desselben Motivs, in der ein junger Mann sich mit einer Statue der römischen Liebesgöttin Venus verlobt, bietet, in der ältesten erhaltenen Fassung, William von Malmesbury in seinen Gesta regum Anglorum.400 Der Erzähltypus der »Statuenverlobung« ist indes recht weit verbreitet.401 Jedoch sind die Unterschiede zwischen der Szene aus der Færeyinga saga und dem Erzählmotiv der »Statuenverlobung« augenfällig: So handelt es sich beim Verlobungsring, den der Priester der Marienstatue respektive der Jüngling der Venusstatue in den jeweiligen Redaktionen des Wandermotivs aufsetzt, um einen Fingerring, wohingegen es sich bei Sigmundrs Ring um einen typischen, wikingerzeitlichen Armring handelt.402 Daneben ist die Tatsache zu nennen, dass das Götterbild in der Færeyinga saga nicht wie im Vergleichsmaterial einen Ring erhält, sondern ihn im Gegenteil selbst verteilt. Auch handelt es sich hier nicht um einen plötzlich in verliebte Verzückung versetzten Jüngling (Sigmundr), der eine Verbindung mit der Statue eingeht, sondern im Gegenteil erbittet Hákon den Ring für Sigmundr von seiner Patronin. Bestenfalls vollzieht also der Jarl als Akteur eine symbolische Verlobung an Sigmundr. Entsprechend bekommt Hákon die einzigen Sprechakte des Abschnitts zugewiesen (verdr þu þangat traustz at leíta, attu S(igmundr) af þeim hring heíllir at taka), während Sigmundr als stummer, passiver und recht indifferenter Zuschauer dem Spektakel beiwohnt. Sigmundrs Passivität im Zusammenhang der »Statuenvelobung« wird weiter gesteigert, indem er deutlich als wahrnehmde Instanz markiert wird (þikir S(igmundi); finnr S(igmundr)403). Von ihm geht in dieser Szene keinerlei Handlung aus, er beobachtet lediglich und fügt sich vollkommen den Wünschen und der Initative
1987, S. clxxxvii; Ólafur Halldórsson 1990b, S. 249 (Fn. 31): Die Mirakelgeschichte Af þiof, auch sie in den Maríu jartegnir überliefert, siehe Maríu saga, S. 629–631. Es gibt mehrere Varianten des Stoffes, in dem ein Geschenk des Teufels persönlich einem Übeltäter zunächst Glück bei seinen Untaten bringt, sich aber schließlich als Täuschung des Bösen offenbart. Die Stichhaltigkeit des Vergleichs dieser Erzählung mit der Færeyinga saga muss als verhältnismäßig niedrig eingestuft werden. Sigmundr ist weder ein Übeltäter noch erhält er den Ring vom Teufel (auch wenn König Óláfrs Rede eine gewisse Vergleichbarkeit herzustellen bemüht ist). Zudem behandelt die Erzählung die Thematik des Rings keineswegs in ähnlicher Weise vordringlich. Die Rolle des Rings in der Færeyinga saga kann keineswegs auf den Gehalt eines trügerischen, dämonischen Kleinods herunterreduziert werden, vgl. hierzu auch Kap. 8.3.3. 400 Gesta regum Anglorum II, 205, S. 380–385. Eine abweichende Version bietet die deutsche Kaiserchronik (VV. 13067–13367). Vgl. zu diesen Parallelen Almqvist 2005, S. 22–23. 401 Vgl. als Übersicht und Motivstudien Baum 1919; Nyrop 1933. Umfangreiches, wenn auch recht assoziatives Vergleichsmaterial über die (meist negative) Macht steinerner Wesen versammelt Wais 1952, in das er auch die »Statuenverlobung« mit aufnimmt. Thompson 1955–1958 führt das Motiv als »Young Man Betrothed to a Statue« unter T 376 auf. 402 Vgl. auch zu den folgenden Diskrepanzen Almqvist 2005, S. 24. 403 Beide Fær, S. 50 (es scheint Sigmundr; Sigmundr bemerkt).
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seines Herrn. Zusätzlich distanzieren Sigmundr die gehäuften Wahrnehmungsverben auch narrativ vom Geschehen: Die interne Fokalisierung kann als Strategie der erzählerischen Infragestellung der intrinsischen Tatsächlich- und Wahrhaftigkeit des Geschilderten verstanden werden.404 Auffällig unterschiedlich ist auch die weitere Entwicklung der Geschichte: In den Redaktionen des Wandermotivs verlobt sich einer junger Mann mit einer Statue, wendet sich dann aber einer irdischen Braut zu, was zu einer strafenden oder wenigstens maßregelnden Erscheinung der übermenschlichen Braut führt.405 In der Færeyinga saga hingegen ist Sigmundr zum Zeitpunkt seiner ›Verlobung‹ mit dem Bildnis bereits seit langem seiner irdischen Braut Þuríðr versprochen und die spätere, glückliche und kinderreiche Ehe wird zu keinem Zeitpunkt von einer eifersüchtigen Gottheit gestört. Bemerkenswerter Weise spielt auch der Ring keinerlei Rolle in der Færeyinga saga – bis zu dem Zeitpunkt, an dem König Óláfr ihn bei einem Fest an Sigmundrs Arm bemerkt: Þat er sagt eitt sinn þa er Olafr konungr sat við dryck ok veitti hirð sinni. […] þa var Sigmundr með konungi […]. Sigmundr lagdi hendr sinar fram ꜳ bordit. konungr leít til ok sa at S(igmundr) hafði digran gullhring ꜳ hendi. konungr m(ælti) lat sea hringinn. Sigmundr tok hringinn af hendi ser ok feck konungi. konungr mælti. Vilt þu gefa mer hring þenna. S(igmundr) svar(ar). þat hefi ek ætlat at loga eigi hring þessum. Ek skal gefa þer annan hring imot s(egir) konungr. ok skal sa huarki minni ne vfriðari. Eigi mun ek þessum logha. s(egir) Sigmundr. þvi het ek Hakoni j(arli) þa er hann gaf mer hringinn með mikill ꜹlvð at ek munda eigi logha. ok þat skal ek efna. þviat goðr þotti mer þa nautin er j(arl) var. ok vel gerði hann til mín marga luti. konungr m(ælti) þa lát þer hann þickia sva godan sem þu vill. bæði hringinn ok þann er þer gaf. en giptu fꜳtt verðr
404 So am Beispiel der Njáls saga McTurk 1992. Als Gegenposition Wehrle 2021, der durch die Wahrnehmungsverben eine Betonung des Realitätsgehalts der Darstellung verankert sieht, indem diese mittelalterlichen Theorien gemäß dem geistigen Wesen der Erscheinungen entsprächen. Im Überlieferungshorizont der Óláfs saga Tryggvasonar lassen sich diese passive Rolle Sigmundrs bei der Ringgewinnung und die interne Fokalisierung des Geschehens als Elemente der Distanzierung des »Noblen Heiden« vor den verurteilenswerten Gefahren des heidnischen Glaubens verstehen. Am weitesten geht dabei die kürzeste Textredaktion der D-Handschrift, in der allein sich Sigmundr sogar weigert, Hákons Tempel zu betreten. Es heißt dort, als Jarl und Gefolgsmann am Gotteshaus ankommen: [S]igmvndr stod vtí fyrir hofinv ok villdi eigi inn ganga (Fær, S. 50–51 Anm. z. Z. 23; Sigmundr stand draußen vor dem Tempel und wollte nicht hineingehen). Die folgenden Ereignisse beobachtet er dann vielleicht durch eines der großen Glasfenster des Tempels. Die weitere Entwicklung des Textes in der Flateyjarbók allerdings lässt eine solche, reine Distanzierungsstrategie als einzige Interpretation nicht zu. Hier ist die interne Fokalisierung hauptsächlich als Zeichen von Sigmundrs genereller, religiöser Indifferenz zu verstehen, wie sie oben untersucht wurde. 405 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxvii–clxxxvii; Almqvist 2005, S. 22. In der Venus-Redaktion wird die übernatürliche Braut dabei zur dämonisch-eifersüchtigen Furie, die den untreuen Jüngling verfolgt; in der Kaiserchronik wird der junge Mann sogar ohne Umschweife vom Teufel besessen. Die Marien-Redaktion berichtet hingegen von einer Erscheinung der Gottesmutter, die dem Priester seine Untreue vorwirft. Dieser wird daraufhin von Ängsten geplagt. Die altisländische Version des Mirakels bricht an dieser Stelle ab, doch erweist sich der Priester in anderen Versionen schließlich als seinem Verlobungsversprechen treu, vgl. Maríu saga, S. 1035; zum Motiv Almqvist 2005, S. 22.
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þer nv. þviat þessi hringr verðr þinn bani. þetta veit ek iafngiỏrla ok þat huersu þu hefir hann fengit e(ðr) huaðan hann er at komin. gengr mer meir þat til at ek uilldi fira vini mina vandræðum. en mik lysti i hring þenna. Var konungr þa ravðr sem dreyri i andliti. en tal þetta fell niðr. Ok alldri siþan varð konungr iafn blið[r] við Sigmund sem aðr.406 (Es wird erzählt, dass, als König Óláfr einmal beim Trinkgelage saß und sein Gefolge bewirtete […], Sigmundr beim König war […]. Sigmundr legte seine Hände nach vorne auf den Tisch. Der König sah hin und sah, dass Sigmundr einen dicken Goldring am Arm trug. Der König sprach: ›Lass mich den Ring sehen!‹ Sigmundr nahm den Ring vom Arm und gab ihn dem König. Der König sprach: ›Willst du mir diesen Ring geben?‹ Sigmundr antwortet: ›Ich hatte beschlossen, Herr, diesen Ring nicht fort zu geben.‹ – ›Ich werde dir einen anderen Ring dafür geben‹, sagt der König, ›und der soll weder kleiner noch weniger schön sein.‹ – ›Ich werde diesen nicht hergeben‹, sagt Sigmundr. ›Das versprach ich Jarl Hákon, als er mir den Ring mit großer Freundlichkeit gab, dass ich ihn nicht weggeben würde. Und das werde ich halten. Denn gut schien mir das Geschenk, während der Jarl lebte. Und er tat viel Gutes für mich.‹ Der König sprach da: ›Lass ihn dir so gut scheinen, wie du willst, sowohl den Ring als auch den, der ihn dir gab! Doch wenig Glück wirst du nun haben. Denn dieser Ring wird dein Tod. Das weiß ich ebenso wohl als das, wie du ihn erhalten hast oder woher er gekommen ist. Es geht mir eher darum, dass ich meine Freunde vor Unheil bewahren wollte, als dass es mich nach diesem Ring gelüstete.‹ Der König war da blutrot von Angesicht. Aber diese Rede verstummte. Und niemals danach war der König ebenso milde gegen Sigmundr wie zuvor.)
Diese Szene ereignet sich in der Saga ebenso unvermittelt wie die Ringgewinnung zu Händen Sigmundrs durch Jarl Hákon zuvor. Jedoch ändert sich diametral der Symbolwert des Kleinods. Während Sigmundr den Ring von Hákon til heilla, als Glücksbringer, erhält, ändert König Óláfr die Perspektive und erklärt den Ring zum Zeichen von Sigmundrs bevorstehendem Tod. Dem Gegenstand haftet insofern eine inhärente Mehrdeutigkeit an, die als Kristallisationspunkt alternativer Deutungsebenen von Sigmundrs Lebensverlauf dienen kann.407 Tatsächlich aber wird vom Ring als nächstes in Sigmundrs Todesszene berichtet. Nachdem Sigmundrs Hof von Þrándr überfallen wurde, und Sigmundr erfolgreich fliehen kann, finden sich er, Þórir und Einarr ausweglos auf einer Klippe von Skúfey, zur Verteidigung nicht fähig, weil Sigmundr sein Schwert bei seinem Manöver in der Schlucht verloren hat. Sie entscheiden sich dazu, ins Wasser zu springen, um die nächstgelegene Insel schwimmend zu erreichen.408 In einer Szene, die die Situation aus Sigmundrs Kindheit spiegelt, als er und Þórir sich im Dovrefjell verirren,409 erweist Sigmundr sich wiederum als der kräftigere der nun zum Dreierpaar erweiterten Männergemeinschaft. Als Einarr keine Kraft mehr hat, legt er sich die-
406 407 408 409
Fær, S. 79–80. Siehe hierzu Kap. 8.3.3; Schmidt 2018. Fær c. 37. S. 85. Zur Bedeutung und Charakteristik Þórirs in diesen Zusammenhängen vgl. auch Kap. 7.5.1.
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sen auf den Rücken, bis er schließlich tot ist. Daraufhin ermüdet auch Þórir zusehens: [A]lla æfui okkra S(igmundr) frændi hofum vit asamt verít ok mykla astud haft. huorr okkar vid annan en nu er uænst at þrioti okkra samuístu hefír ek nu fram lagit sligt er ek er til færr vil ek at þu hialpir þer ok lifui þínu en gef æigi gaum at mer þuiat þar gefr þu þítt líf vít frænde ef þu falltrazst vid mig. þat skall alldri verda segir S(igmundr) at vit skilím suo Þorir frænde. skulu vit annat huort badir aland komazst edr huorgi S(igmundr) flytr nu Þori medal herda ser […] ok legzst S(igmundr) þar til er hann kemr at Sudrey brim uar at eyíunne var S(igmundr) þa suo matfarinn at hann dro stundum fra lande en annat skeid hof hann at skolade Þore þa af herdum honum. ok druknade hann en S(igmundr) gat skridit upp vm sidir.410 (›Unser ganzes Leben, Verwandter Sigmundr, waren wir zusammen und hatten große Zuneigung füreinander, ein jeder von uns für den anderen. Nun aber ist es am wahrscheinlichsten, dass unser Zusammenleben endet. Ich habe nun alles eingebracht, wozu ich im Stande bin. Ich will, dass du dir hilfst und deinem Leben, aber achte nicht auf mich, denn dann gibst du dein Leben, Verwandter, wenn du dich mit mir aufhältst.‹ – ›Das soll nie geschehen‹, sagt Sigmundr, ›dass wir uns so trennen, Verwandter Þórir. Wir werden entweder beide an Land kommen, oder keiner!‹ Sigmundr nimmt Þórir nun auf die Schultern […] und Sigmundr schwimmt, bis er zur Südinsel kommt. Brandung war bei der Insel. Sigmundr war da so erschöpft, dass es ihn manchmal aufs Meer hinauszog, aber beim nächsten Mal trieb es ihn. Þórir wurde ihm da von den Schultern gespült. Und er ertrank, aber Sigmundr konnte nach einer Weile hinaufkriechen.)
Anders als in der Szene in Sigmundrs Kindheit wird die Konversation der Ziehbrüder hier direkt wiedergegeben, was deutlich die Dramatik erhöht und die in der Kindheit vorausgedeutete Charakteranlage beider Figuren bestätigt.411 Wie bereits im Dovrefjell verdeutlicht, ist nun die Zeit gekommen, in der Sigmundr seine Heldenhaftigkeit ein letztes Mal uneigennützig demonstriert und beim Versuch, den Ziehbruder zu retten, sein eigenes Leben verspielt. Zu Tode erschöpft liegt Sigmundr nach dem Erreichen des Strandes in einem Tanghaufen, während Þórir nichtdestotrotz ertrinkt. Der Bauer Þorgrímr mit dem Beinamen illi, »der Böse«, findet Sigmundr dort am Morgen, indem er seinen scharlachroten Mantel aus dem Tanghaufen hervorhängen sieht. Sigmundr bittet Þorgrímr und seine Söhne um Hilfe, doch Þorgrímr meint seinen Söhnen gegenüber: S(igmundr) hefir suo mikít fe a ser at þui er mer litzst sagde hann at ver hefim alldri sligs æigande vordít ok er gull hringr hans hardla dígr litz mer þat rad at vær drepim hann ok myrdím hann sidan mun þessa alldri vist verda synir hans mæla j moti um hrid en samþyktu honum vm sidir ok ganga nu þar til er S(igmundr) la ok taka nu j hár honum en Þorgrimr ille hỏggr hofd af S(igmunde) med bol ỏxí ok lætr S(igmundr) suo lif sítt.412
410 Fær, S. 85–86. 411 Vgl. Kap. 4.2.3. Dies unterstreicht allgemein den steigernden Aufbau der Færeyinga saga, siehe hierzu Kap. 8. 412 Fær, S. 86.
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(›Sigmundr hat so viel Reichtum bei sich, wie es mir scheint‹, sagte er, ›dass wir solchen noch nie erlangt haben, und sein Goldring ist sehr schwer. Es scheint mir ratsam, dass wir ihn töten und ermorden. Später wird das nie bekannt werden.‹ Seine Söhne sprechen sich eine Weile dagegen aus, aber stimmten ihm schließlich zu, und sie gehen nun dorthin, wo Sigmundr lag, und greifen ihn nun bei den Haaren, und Þorgrímr der Böse schlägt Sigmundr mit der Holzaxt den Kopf ab. Und so lässt Sigmundr sein Leben.)
Óláfrs Prophezeiung stellt sich in diesem Moment als zutreffend heraus: Es ist tatsächlich der Ring, den er von Hákon erhalten hat, der letztlich direkt zu Sigmundrs Tod führt. Insofern ließe sich der Færeyinga saga hier zunächst eine stark christlich geprägte Ideologie unterstellen: Nach Sigmundrs Bekehrung muss sich das unbedingte Festhalten am Geschenk des größten Heiden der norwegischen Geschichte zu seinem Untergang auswirken. So ließe sich in langfristiger Perspektive schließlich doch auch die eingangs erwähnte Parallele der »Statuenverlobung« in der Venusredaktion ins Feld führen. Sigmundr würde in dieser Perspektive gleichsam vom Geist der Þorgerðr heimgesucht. Ihr Ring, der Ring einer heidnischen Figur, würde dämonische Kräfte symbolisieren, die letztendlich auf den konvertierten Sigmundr zurückfallen. Jedoch kann diese Lesart nicht völlig überzeugen. Diese Einschränkung gilt dabei erneut nur für die Redaktion der Færeyinga saga in der Flateyjarbók. In allen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta mit Ausnahme von dieser wird der spätere Verlauf nicht weitererzählt, sondern der Text endet nach der Voraussage Óláfrs und Sigmundrs Rückkehr auf die Färöer mit einem Vorverweis: En þat for siþan fram sem Olafr konungr sagði. at sa maðr er het Þorgrimr illi með sonum sinum .íȷ ́. myrði Sigmund Brestisson til hringsins Hakonar nꜹtz þa er Sigmundr var aðr sund moðr i Suðdr ey þar er Sand vik heitir. sva sem segir i Færeyingha sỏgu.413 (Aber es geschah danach, wie König Óláfr sagte, dass der Mann, der Þorgrímr der Böse hieß, mit seinen beiden Söhnen Sigmundr Brestisson wegen des Rings Hákonsgabe ermordete, nachdem Sigmundr zuvor erschöpft vom Schwimmen auf die Südinsel gekommen war, dort, wo es Sandbucht heißt, wie es in der Geschichte der Färinger erzählt wird.)
Effekt dieses Ausblicks als Schlusspunkt ist die Zeichnung von Sigmundr als eines doch zum eigenen Unglück nicht ausreichend gehorsamen Gefolgsmanns des Königs. Damit erfolgt der Erweis, dass der zwar strenge, aber weise Óláfr in seiner Warnung Recht behält. Im Fokus stehen so der König und seine gut gemeinte, aber nicht erfolgreiche Warnung. Erfolgreich war Sigmundr schlussendlich nur solange, wie er sich exakt an die Anweisungen seines Königs gehalten hat – doch er hat Þrándr nicht nach Norwegen gebracht, getötet oder verjagt, und er gibt Óláfr den Ring nicht. So ist Sigmundr zwar ein ›Held‹, der aber letztlich nicht besser sein kann als der König, der ihn zum Werkzeug seines Willens macht. Der christliche König
413 ÓT c. 207 (II, S. 124); siehe auch Fær, S. 80 Anm. z. Z. 30 (synchronisierte Version. Die Handschriften zeigen leichte verbale Varianz bei gleichem Inhalt).
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steht über allem, und dass Sigmundr seinen Ansprüchen nicht vollends gerecht wird und so noch einen Rest des überkommenen Heidentums bei sich trägt, fällt am Ende seines Lebens auf ihn zurück. Insofern drückt sich in diesem Ende der Færeyinga saga sehr deutlich Óláfrs Perspektive und damit auch diejenige seiner Saga als Überlieferungsträger aus.414 Nicht jedoch im oben ausgeführten Bericht von Sigmundrs Tod in der Færeyinga saga in der Flateyjarbók. Zwar ist das Christentum dort für Sigmundr primär ein Machtfaktor, bzw. eine notwendige Bedingung des Machterhalts vor dem neuen König Óláfr, und auch ist er nach dem Glaubenswechsel kein sonderlich religiöser Mensch, jedoch ist er offenbar Christ genug, um nach dem Tod in das christliche Jenseits einzugehen, aus dem er seiner Frau erscheinen kann.415 Bei aller Vorsicht, Sigmundr als Repräsentanten des christlichen Glaubens auffassen zu wollen, ist seine Konversion doch zweifelsohne ›echt‹, und er keineswegs pauschal als ›schlechter‹ Christ zu verstehen. Darüber hinaus ist die zeitliche Diskrepanz zwischen Ringerlangung, moralisierender Warnung Óláfrs und tatsächlicher, fataler Auswirkung von Sigmundrs Festhalten am Ring bemerkenswert: In der Zwischenzeit dieser drei Erwähnungen spielt der Ring überhaupt keine Rolle, sodass seine Rolle widersprüchlich und nicht leicht einzuordnen verbleibt.416 Gegen Óláfrs potenziell von christlicher Moralideologie durchdrungene Warnung – wobei unbedingt zu betonen ist, dass auch er nicht konkret auf eine heidnische Gefahr für den Christen Sigmundr verweist 417 – spricht auch, dass der Text der Færeyinga saga selbst keinerlei Moralisierung der Plotereignisse vornimmt. So verzichtet die Erzählinstanz auf jeglichen Kommentar, auch wenn die von ihr präsentierte Ereignisfolge dem König in der Sache recht gibt und der oben zitierte Ausblick mit dem Zusatz, das werde später noch erzählt, auch in dieser Textredaktion enthalten ist. Die Rolle des Rings in Sigmundrs Todesszene wird aber nicht prominent hervorgehoben, wenn Þorgrímr ihn lediglich als ein Beispiel für Sigmundrs reiche Ausstattung heranzieht.418 Jenseits seiner moralischen Wertung ist der Ring auf der Handlungsebene insbesondere von Interesse, weil er deutlich als Mittel der Charakterisierung Sigmundrs dient. Die Szene der Ringübergabe durch Hákon zeichnet Sigmundr als überaus treuen Gefolgsmann seines Herrn. Auch wenn er selbst dem Kultakt indiffe-
414 Siehe auch Kap. 7.4.3. 415 Siehe Fær c. 54, S. 131. 416 Vgl. zu diesen Widersprüchlichkeiten Kap. 8.3.3; Schmidt 2018. 417 Óláfr bezieht sich explizit allein auf Herkunft und Schenker des Rings ([L]át þer hann þickia sva godan sem þu vill. bæði hringinn ok þann er þer gaf […] þetta veit ek iafngiỏrla ok þat huersu þu hefir hann fengit e(ðr) huaðan hann er at komin; Fær, S. 80; ›Lass ihn dir so gut scheinen, wie du willst, sowohl den Ring als auch den, der ihn dir gab! […] Das weiß ich ebenso wohl als das, wie du ihn erhalten hast oder woher er gekommen ist‹). Dass er damit den heidnischen Kontext von Sigmundrs Ringgewinnung verbalisieren will, scheint implizit eindeutig genug. Direkt allerdings wird die heidnisch-christliche Dichotomie gerade nicht aufgerufen. 418 Vgl. auch Schmidt 2015, S. 132.
4.5 Sigmundrs Glauben und Tod
353
rent gegenübersteht, ist er bereit, sich Hákons Wunsch zu beugen. Gerade dieser unbedingten Treue zu Hákon macht sich Sigmundr vor König Óláfr mit seiner Weigerung, den Ring abzugeben, dann gewissermaßen ›schuldig‹. Er lobt seinen ehemaligen Lehnsherrn schon im Moment der Konversion419 und betont dessen persönliche Zuneigung, Freigiebigkeit und Wohltaten auch im Angesicht seines neuen Lehnsherrn, als dieser ihn um den Ring bittet.420 Die Weigerung ist letztendlich Ausdruck der Tatsache, dass Sigmundrs Verbindung zu dem heidnischen Jarl wesentlich tiefer geht als diejenige zu König Óláfr. Eine persönliche Freundschaft unter am Ende weitgehend gleichgestellten Männern steht einem streng hierarchisch organisierten Zweckbündnis gegenüber.421 Es ist mit dem Ring somit auch die eigene Vergangenheit, die Sigmundr nicht bereit ist, aufzugeben.422 Immerhin hat ihn Hákon Jahre lang begleitet, durch die Aufnahme in seine Hofgesellschaft vom mittellosen Exilanten schlussendlich zum färöischen Herrscher gemacht, und ihm insbesondere die Mittel zu Rache und Annahme der rechtmäßigen Position bereitgestellt. Es ist diese persönliche Konstellation, die Sigmundr zu dem gemacht hat, was er ist, die ihn den Ring nicht aufgeben lässt, der in seinem Verständnis seine Lebensumstände und -geschichte symbolisiert. Es ist insofern durchaus unklar, inwiefern seine Weigerung, den Ring auszuhändigen, als »signifying a flaw or integrity of character«423 zu verstehen sei. Immerhin ist Sigmundr Jarl Hákon nicht weniger lehnsrechtlich verpflichtet als seinem Nachfolger, und dass er selbst vor Todesdrohnungen nicht bereit ist, seine Treuebindung zu verleugnen, zeigt ihn einmal mehr als den perfekten Lehnsmann und exorbitant-leichtsinnigen ›Helden‹ zugleich. Damit spiegelt die Szene von Óláfrs Bitte um den Ring in auffälliger Weise den Moment der Irritation zwischen Sigmundr und Hákon, als der Färinger um Frieden für seinen Verbündeten Haraldr járnhauss bittet. Auch in diesem Fall wagt Sigmundr die Probe aufs Exempel, was er seinem jeweiligen Herrscher wert ist. Während Hákon allerdings fähig ist, Sigmundr eine solche Aufsässigkeit und Eigenmächtigkeit zuzugestehen, und ihn in Folge dessen sogar als mehr oder weniger gleichwertig anerkennen kann, ist in Óláfrs Herrschaftsverständnis eine solch flache Hierarchie nicht vorstellbar. Für ihn ist seine Entscheidung als König maßgeblich,
419 Siehe Fær, S. 72–73: [E]k var þionosto bundinn Hakoni j(arli). veitti hann mer gott yfir læti ok vnda ek þa alluel mínu raði. þviat hann var holl ok heilraðr. ỏrlyndr ok astvðigr sinum vinum (›Ich war Jarl Hákon in Dienst verbunden. Er ließ mir gute Behandlung zu Teil werden und ich war da sehr zufrieden mit meiner Stellung, denn er war gnädig und gab guten Rat. Er war freigiebig und liebevoll gegen seine Freunde‹). 420 Siehe Fær, S. 80: [Þ]vi het ek Hakoni j(arli) þa er hann gaf mer hringinn með mikill ꜹlvð […] goðr þotti mer þa nautin er j(arl) var. ok vel gerði hann til mín marga luti (›Das versprach ich Jarl Hákon, als er mir den Ring mit großer Freundlichkeit gab, […] gut schien mir das Geschenk, während der Jarl lebte. Und er tat viel Gutes für mich‹). 421 Vgl. hierzu Bick 2005, S. 7–8. 422 Vgl. Bick 2005, S. 7; Guldager 1975, S. 36. 423 Harris 1986, S. 209.
354
4 Sigmundr Brestisson
und Sigmundrs diesbezüglich gezeigte Eigenmächtigkeit muss sich negativ auswirken. Sigmundr hat mit dieser ›Kraftprobe‹ unvorsichtig den Bogen überspannt – doch erneut ist die mögliche Konsequenz seines Handelns weniger bedeutend als seine rücksichtslos treue Agenda im Hier und Jetzt. Sigmundrs Verhätnis zum Ring symbolisiert insofern auch seine grundsätzliche Lebensart, die Bereitschaft, gegen das Schicksal anzugehen, es herauszufordern, und doch jeden möglichen Ausgang scheinbar gleichmütig zu akzeptieren. Dabei verweigert sich Sigmundr den Erklärungen beider seiner Herren, denen zufolge der Ring als Glücksbringer oder Todessymbol fungiert – so, wie er religiösen Angelegenheiten und Wirkmächten jenseits der menschlichen Sphäre generell skeptisch gegenübersteht. Er scheint weder Hákons noch Óláfrs Rede weitere Bedeutung zuzumessen, indem er nur von Hákon persönlich spricht, nicht von dem Grund, weshalb dieser ihm den Ring verschafft hat, und Óláfrs Warnung rundheraus ignoriert, während im Zuge seiner Machteroberung und Bemühungen um ihre Erhaltung nie von dem Ring berichtet wird. Dies stellt sich letztlich als fatal heraus. So scheint das Anliegen des Textes, das die Rolle von Þorgerðrs Ring ausdrückt, weder die Verdammung des unvollkommenen Christen Sigmundr noch der Lobpreis seiner Standhaftigkeit zur eigenen Biographie zu sein. Im Gegenteil erhöht die Einbindung des Rings in Sigmundrs Todesszene die Dramatik und Tragik seines Lebens. Der Ring symbolisiert Sigmundrs Stärken, wie seine unverbrüchliche Treue und seinen beherzten Einsatz, sein Bekenntnis zum eigenen Selbst und seiner Geschichte, aber zugleich auch seine negativen Eigenschaften, darunter seine ›heroische‹ Persönlichkeitsstruktur und seine insbesondere politische Kurzsichtigkeit. So ist der Tod Sigmundrs keineswegs Resultat seines mangelnden Gehorsams seinem König gegenüber, und ebenso wenig das schmachvolle Ende eines Mannes, der von Anfang an schon aufgrund eigener Defizite zum Scheitern gegen einen übermächtigen Gegner verurteilt war, im Gegenteil. Sein Tod ist seit dem Zeitpunkt seiner Rückkehr auf die Färöer vor allem in erzählstruktureller Perspektive gleichsam unausweichlich. Doch in diesem Moment offenbart sich, dass dieses Ende keine bloße Beseitigung eines Störfaktors darstellt, sondern den dramatischen und tragischen, und gerade deshalb umso bewundernswerteren Exitus einer Heldenfigur, die Besseres verdient hätte und erreichen könnte, die in die gegebene Situation aber nie einpassbar war. So scheitert er nicht, ohne ein letztes Mal im Akt des Schwimmens sein überbordendes ›Heldentum‹ unter Beweis gestellt zu haben, dessen »passive courage of endurance«424 durch die Eindringlichkeit und fast persönliche Nähe ihrer Darstellung noch einmal herausgestrichen wird. Danach allein auf den Strand geworfen, ist es sein Ring, der für seinen Tod verantwortlich zeichnet. Diese Tatsache stellt seinen Tod in Parallele zu dem anderer mächtiger Männer in der altnordischen Literatur, darunter dem Sohn König Óláfr
424 Foote 1984c, S. 183.
4.5 Sigmundrs Glauben und Tod
355
Tryggvasons selbst.425 Die Art und Weise dieses Todes kontrastiert erneut mit der Herrschaftspolitik Þrándrs: Es ist Sigmundrs Reichtum in Form seines Scharlachmantels und seines Rings, der ihn ans Messer Þorgrímrs liefert.426 Sigmundrs Tod spiegelt insofern auch seine Lebensart und den Grund, weshalb er sich gegen Þrándrs faktische Macht nie durchsetzen konnte. Anstatt sein Geld in Landbesitzungen und Machtbindung zu investieren, hat er nach den Maßgaben seiner Persönlichkeit, charismatisch und basiert auf die Zirkulation von Gütern und materielle Darstellung seiner Macht geherrscht. Auch dies fällt in seinem Tod auf ihn zurück. Darüber hinaus aber weckt die Nennung des Rings in dieser Szene eine Assoziationskette, die bis zu Sigmundrs Rückkehr auf die Färöer reicht und so Dramatik und Tragik statt Verantwortungslosigkeit unterstreicht. Die Rezipienten werden zurück erinnert an alles, was Sigmundr ausmacht, im Guten wie im Schlechtem. Durch den Ring wird so, symbolisch kondensiert, die Gesamtheit all dessen aufgerufen und bewusst gehalten, was die bisherige Erzählung von Sigmundrs Aufstieg und Fall und den färöischen Konflikt bestimmt hat. Klar wird dabei letztendlich vor allem eines: Der rechtmäßige Herrscher der Färöer hat sich letztendlich als nicht ihr richtiger Herrscher herausgestellt.
425 Zu den Parallelstellen zu Sigmundrs Tod vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxviii; Ólafur Halldórsson 1990b, S. 249–250; Harris 1986, S. 209 (Fn. 57). Neben dem Tod Tryggvi Óláfssons Tryggvasonar in der D-Redaktion der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta (ÓT III, S. 45–47) nennenswert ist vor allem eine Version des Steins þáttr Skaptasonar (S. 322; die zugrundeliegende Version ist die der Tómasskinna [GKS 1008 fol.], zur Aufschlüsselung dieser Herkunft siehe ÓH, S. 810). In beiden Szenen stirbt ein hǫfðingi, der an seinen Wertsachen erkannt wird, indem er aus Geldgier erschlagen wird. Im Hemings þáttr Áslakssonar wird hingegen ein Großer anhand seines Goldrings erkannt und deshalb gerettet. Insbesondere die erste Parallele spiegelt die Vorgänge in der Færeyinga saga dabei recht eng wieder. In der Flateyjarbók wird der Steins þáttr Skaptasonar markanterweise nicht mit dem Tod des Protagonisten nach einer Seereise wegen seines Goldes beendet, die Harris 1986, S. 209 (Fn. 57) als Argument dafür heranzieht, dass »Sigmundr’s resistance to Óláfr was the ultimate cause of his death«. Steinn schließt sich hier lediglich Óláfrs Gegner Knútr in England an. Darüber hinaus handelt es sich bei dem König Óláfr des Steins þáttr um Óláfr Tryggvasons Namensvetter und Nachfolger Óláfr den Heiligen. Die Textkonzeption Jón Þórðarsons für die Færeyinga saga erklärt der Vergleich damit nur bedingt; eine Korrespondenz zwischen beiden Óláfs sögur bezüglich des Todes je eines königlichen Gefolgsmannes fehlt. Auch der Mord an Tryggvi Óláfsson und seine Aufklärung sind in der Flateyjarbók (im Gegensatz zu anderen Handschriften der D-Redaktion der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta) ausgelassen. Der Hemings þáttr dagegen gehört zur späteren Erweiterung des Codex. Die Texteinbindung der Færeyinga saga kann in diesem Fall also nicht durch Kontraste und Parallelerzählungen im Hauptüberlieferungsträger erklärt werden, womit auch die Rolle des Rings beim Tod Sigmundrs weniger stark aus dem Kontext heraus erklärt werden kann. Sie bleibt letztlich widersprüchlich, siehe hierzu näher Kap. 8.3.3; Schmidt 2018. 426 Vgl. auch North 2005, S. 68–69.
5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr 5.1 Untäter ohne eigene Handlungsmacht? Þrándrs Neffen in Saga und Forschungsansicht Schon im Zuge der Endphase des Machtkampfes zwischen Þrándr und Sigmundr treten mit Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr neue Akteure auf das politische Parkett auf den Färöern. Im Laufe der Zeit entwickelt sich der zentrale Konflikt der Færeyinga saga fort zu einem Machtkampf zwischen diesen drei Männern, ihrem Ziehbruder Leifr Ǫzurarson und auch ihrem Onkel Þrándr. Während zunächst alle drei Parteien im Verbund gegen Sigmundr agieren, zersplittert sich nach dessen Tod die Konfliktsituation, »verwischen sich die scharfen Gegensätze zunehmend und werden ersetzt durch partikularistische Projekte mehrerer Einzelfiguren oder Gruppen«.1 Damit wird gleichzeitig »die Figurenzuteilung auf die einzelnen Erzähldomänen […] heterogener, Wechsel von Freund- zu Feindkategorien finden statt.«2 Die Erzählwelt der Færeyinga saga pluralisiert sich und stellt neue Figuren ins Zentrum ihres Plots. Þrándrs Neffen stellen dabei zwar eine Figurentrias dar, handeln allerdings so einhellig, dass es gerechtfertigt erscheint, sie zunächst als eine Hauptfigur zu behandeln. Da sie das gleiche Interesse und weitgehend die gleiche Vorgehensweise in ihrem Handeln teilen, können die drei Akteure narratologisch als Funktion des gleichen Aktanten gesehen werden.3 Der Konflikt im letzten Teil der Færeyinga saga hat insgesamt weniger Aufmerksamkeit seitens der Forschung erhalten als der vermeintlich klarer geschnittene Dualismus zwischen Sigmundr und Þrándr in den ersten beiden Dritteln des Textes.4 In Folge dessen wurde die Figurentrias von Sigurðr, Þórðr und Gautr im- oder explizit reduziert auf »Tróndurs [= Þrándrs] skyggepersoner […] idet de udfører de listigheder, der på en måde perspektiverer Tróndurs person og gerninger«.5 Tatsächlich agieren Þrándrs Neffen den größten Teil des Erzählzeitraums, in dem sie auftreten, unter der Handlungsagenda ihres Onkels, doch sind sie am Ende, vor ihrer offenen Auseinandersetzung mit Leifr und dessen neuer Familie, gezwungen, sich von Þrándr zu emanzipieren. Im Zuge dieser Emanzipationsbemühungen sieht Bick eine Moralbotschaft der Saga expliziert, die aus Sigurðr, Þórðr und Gautr »Bösewichte
1 Glauser 1989, S. 217. 2 Glauser 1989, S. 217. 3 Zur Unterscheidung von Akteur und Aktant vgl. Greimas 1971, S. 159–160 u. S. 169–171. Im Falle von Sigurðr, Þórðr und Gautr lassen sich dennoch Unterschiede der Figurenzeichnungen der einzelnen Akteure festhalten, wie zu zeigen sein wird. Vgl. zur Konstellation der beigestellten BruderFiguren, die eine Partei als die herausragendste verdeutlichen, auch Kap. 7.5. 4 Siehe weiter auch Kap. 8, zur bisherigen Forschungsansicht bes. 8.1. 5 Klettskarð 2000, S. 61 (Þrándrs Schattenfiguren […], indem sie die Listen ausführen, die auf eine Art Þrándrs Person und Untaten perspektivieren). https://doi.org/10.1515/9783110774979-005
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
357
[mache], deren Verhalten keineswegs toleriert« werde.6 Ihr Verhalten sei »destruktiv und unsozial«, sie handelten »aus niederen Beweggründen« und schadeten der Gesellschaft insgesamt durch ihren Egoismus, kurz: »Die Beschreibung [ihres] Verhaltens […] offenbar[e], was als ›schlecht‹ angesehen [werde].«7 Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern Þrándrs Neffen in der Færeyinga saga tatsächlich nur »Schattenfiguren« bleiben bzw. ob und in welcher Intensität sie als eigene Akteure hervortreten. Weiterhin wird zu überprüfen sein, ob in ihrem Verhalten – gegensätzlich zum Konflikt zwischen Þrándr und Sigmundr zuvor – eine eindeutige moralische Botschaft im Text ausgemacht werden kann.
5.2 Þrír menn eru nefndir til sǫgunnar – Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten 5.2.1 Allir váru þeir miklir menn ok sterkir: Eine typisierte Figureneinführung Sigurðr, Þórðr und Gautr werden als neue Figuren nach der Christianisierungsepisode mit folgenden Worten in die Færeyinga saga eingeführt: Ɖrir menn eru nefnndir til sỏgunnar þeir uoxu upp med Þrande j Gotu. het æínn Sigurdr ok var Þorlaks son brodur son Þrandar. hann var mikill madr ok sterkr. sialigr madr bleikr a hár ok fell med lokkum hann var hladinn jþrottum ok þat var sagt at hann hefde næst geingit vm allar jþrottir S(igmundi) Brestis s(yni). Þordr het brodir hans ok uar kalladr lagr hann var manna þrekligazstr ok sterkr at afli. Gautr hínn raude het hínn þride hann var systur son Þrandar aller voru þeir mykler menn ok sterkir.8 (Drei Männer werden in der Geschichte genannt, sie wuchsen bei Þrándr in Gasse auf. Einer hieß Sigurðr und war der Sohn Þorlákrs, der Brudersohn Þrándrs. Er war ein großer Mann und stark, ein ansehnlicher Mann von blondem Haar, und es fiel in Locken. Er verstand sich auf vieles und es wurde über ihn gesagt, dass er Sigmundr Brestisson in allen Fertigkeiten am nächsten gekommen sei. Sein Bruder hieß Þórðr und wurde der Kleine genannt; er hatte einen überaus robusten Körperbau und war stark an Körperkraft. Gautr der Rote hieß der Dritte, er war der Schwestersohn Þrándrs. Alle waren sie große und starke Männer.)
Auf diese Vorstellung der neuen Figuren folgt ein Hinweis auf Þrándrs Ziehsohn Leifr Ǫzurarson und die Einführung von Sigmundrs Nachkommen in Reihenfolge ihres Alters. Þrándrs Neffen erhalten dabei von allen Beteiligten der zweiten Generation des färöischen Konflikts die ausführlichste Beschreibung. Während von Sigmundrs Söhnen und sogar von Leifr kaum mehr als ein Name und die sagatypische Wendung þeir váru efniligir menn erwähnt wird, ist die einzige der neuen Figuren, die außer Þrándrs Neffen näher in ihren Eigenschaften beschrieben wird, Sig-
6 Bick 2005, S. 10–11. 7 Bick 2005, S. 11 u. S. 16. 8 Fær, S. 81.
358
5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
mundrs Tochter Þóra, die jedoch zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits zuvor in der Saga erwähnt wird.9 Sigurðr, Þórðr und Gautr dagegen werden im textinternen Vergleich der Færeyinga saga eigens vorgestellt. Sogar im Abschnitt der Færeyinga saga innerhalb der Óláfs saga helga abseits der Flateyjarbók sind sie die einzigen Figuren, die eine Einführung erhalten:10 [Þ]eir […] broþur s(ynir) [Þrándar] ij Sigurðr oc Þorðr. þeir voro Þorlacs s(ynir). hin þriði h(et) Gꜹtr hin rꜹði. hann var en frændi þeira. allir voru þeir fostrar Þrandar gerviligir menn. var Sigurðr ellztr þeira oc fyrir þeim mest i ǫllo. Þorðr atti keningar nafn. var hann callaðr Þorðr hin lági. hann var þo mana hęstr oc var hitt þo meir at hann var þrecligr oc ramr at afli.11 (Die […] beiden Brudersöhne [Þrándrs,] Sigurðr und Þórðr waren die Söhne Þorlákrs. Der Dritte hieß Gautr der Rote. Er war noch ein Verwandter von ihnen. Alle Ziehsöhne Þrándrs waren tüchtige Männer. Sigurðr war der Älteste unter ihnen und in jeder Hinsicht der Vorderste von ihnen. Þórðr hatte einen Spitznamen. Er wurde Þórðr der Kleine genannt. Dennoch war er ein überaus großer Mann und doch war es noch mehr so, dass er hartnäckig war und kräftig.)
Die Gegenüberstellung schon im Moment der Einführung etabliert auch durch die Unterschiedlichkeit der gegebenen Details somit vorausdeutend einen Kontrast zwischen den neu auftretenden Akteuren. Zusätzlich zur Ausführlichkeit im Vergleich mit den anderen neu auftretenden Figuren etabliert die Einführung von Þrándrs Neffen diese selbst insgesamt als Figurentrias, die sich recht stereotyp ins Muster von Figureneinführungen in den Isländersagas einfügt. Die drei jungen Männer werden ganz nach den Idealmaßgaben der Sagagesellschaft eingeführt, sie sind stark, schön und vielversprechend. Eine moralische Abwertung, wie sie Bick postuliert, enthält zumindest die Einführung der drei Männer insofern keineswegs, sondern muss im Gegenteil als neutral und sogar eher positiv bewertet werden. Mittels
9 Zu Þóra vgl. näher Kap. 7.3.3. Zu Leifrs insgesamt unterbliebener Figureneinführung in diesem Zusammenhang vgl. Kap. 6. 10 Die hier behandelte Flateyjarbók-Redaktion spart die gedoppelte Ausführung aus. Dennoch erscheint es bemerkenswert, dass in jenem Abschnitt aller überlieferungstragenden Óláfs saga-Handschriften alleine Þrándrs Neffen eine Figureneinführung erhalten. Alle anderen Handlungsträger werden behandelt, als seien sie bereits bekannt, obwohl der Færeyinga saga-Stoff abrupt und neu in der größeren Saga einsetzt. Þrándrs Neffen sind entsprechend diejenigen, die in der Óláfs saga helga während ihrer Reise ins Reich des Königs als bedeutend hervortreten. Þórálfr Sigmundarsons Rolle hingegen besteht einzig darin, ermordet zu werden. Zudem sind sie es, die den Königsmann Karl erschlagen, während Leifr und Gilli als verlängerter Arm des Königswillens vor Ort fungieren. Die Aussonderung von Þrándrs Neffen durch ihre Vorstellung markiert diese somit als die eigentlich wichtigen Akteure des Abschnitts. Sie (und damit implizit auch ihr Onkel) treten durch den späteren Verlauf jedoch als Antagonisten des Königs hervor, vgl. hierzu auch Kap. 7.4.4. Auch hier wird durch die Konterkarierung der Figureneinführung und des späteren Verhaltens eine Bruchsituation erzeugt. Diese lässt sich gegebenenfalls auf eine isländische Unabhängigkeitsagenda zurückführen, vgl. hierzu Kap. 5.3. Diese Beobachtung unterstreicht insgesamt die auch für die FlateyjarbókRedaktion feststellbare Sonderstellung von Sigurðr, Þórðr und Gautr unter den neu auftretenden Akteuren der Saga. 11 Fær, S. 95–96.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
359
Figureneinführungen werden grundsätzliche Muster ihrer Publikums-Rezeption durch den Erzähler angelegt. Gerade bei Antagonisten, Unruhestiftern und anderen Unholden kann die Figur deshalb schon durch die Art ihrer Einführung für die Rezipienten enorm negativ vorgeprägt werden – ein Beispiel hierfür wäre etwa Mǫrðr Valgarðsson in der Njáls saga.12 Auch in der Færeyinga saga erhält der unzweifelhaft unmoralische Þrándr eine diametral anders geartete Beschreibung bei der Etablierung seiner Figur als seine Neffen.13 Nichts von solch grundsätzlicher, moralisch negativ wertender Vorprägung aber wird bei Sigurðr, Þórðr und Gautr greifbar. Ganz im Gegenteil werden sie in den gleichen Eigenschaften und dem gleichen Duktus eingeführt wie die ›Heldenfigur‹ Sigmundr,14 hypothetisch also nicht moralisch niedriger gewertet als dieser. In Kombination mit der Ausführlichkeit der Beschreibung im Vergleich zu ihren Konkurrenten wird anhand der Figureneinführung so eher der Eindruck erweckt, in Sigurðr, Þórðr und Gautr die Protagonisten im Sinne positiv sinnbesetzter ›Helden‹15 des kommenden Handlungsteils benannt zu haben. Dass die drei Männer sich letztlich als die unterlegene (und möglicherweise unmoralischere) Partei im erneuten Machtkampf herausstellen, zeigt in Anbetracht ihrer Einführung eine Darstellungsweise der Saga, die, in großer Ähnlichkeit zur narrativen Behandlung Sigmundrs, rezeptive Erwartungen unterläuft und mit der Unterscheidung zwischen Schein und Sein spielt.16 Inwiefern sich das Postulat einer moralischen Negativwertung der drei Männer durch den Text aufrechterhalten lässt, muss also durch die Analyse ihrer erzählten Taten geprüft werden. Sind beide oben zitierten Einführungspassagen insofern ganz im Rahmen üblicher Figurenetablierungen in der Sagaliteratur gehalten, fallen doch ihre Differenzen sowohl innerhalb der Trias der Figuren als auch beider Textausschnitte zueinander ins Auge. In der Einführung der Flateyjarbók ist Sigurðr die am detailreichsten beschriebene Figur, wohingegen Þórðr in der Redaktion der Óláfs saga helga außerhalb der Flateyjarbók ausführlicher beschrieben wird. Beide Figuren erhalten aber jeweils mehr Aufmerksamkeit seitens des Erzählers als Gautr. Dies ist von einiger Bedeutung: Sigurðr ist insgesamt die am stärksten ausdifferenzierte Figur in der Trias von Þrándrs Neffen, während Þórðr allgemein eine Sonderrolle in diesem Figurengefüge zukommt. Im Kontext der Óláfs saga helga ist er insbesondere deshalb von Bedeutung, weil er Óláfrs Gesandten Karl von Møre erschlägt. In der Figurenkonzeption der drei Männer zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede zwischen der längeren Textredaktion der Flateyjarbók und den davon un-
12 Vgl. Cochrane 2016, S. 119–128. Zur Bedeutung von Figureneinführungen in den Isländersagas allgemein vgl. auch Shortt Butler 2016, S. 320–326. 13 Vgl. Þrándrs Beschreibung am Ende der Haleyri-Szene und ihren Effekt, siehe hierzu näher Kap. 3.2. 14 Siehe Kap. 4. 15 Zu diesem Begriffsverständnis vgl. Immer 2007, S. 308. 16 Zu diesem Prinzip in der Færeyinga saga vgl. bes. Kap. 3.5 u. Kap. 4.4.
360
5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
abhängigen Textzeugen,17 sodass die folgenden Überlegungen nur auf die vollständige Færeyinga saga abzielen können.
5.2.2 Hann var enn frændi þeira – Gautr der Rote, eine Schattenfigur Gautr erhält in seiner Einführung die geringsten Angaben. In beiden Einführungen wird lediglich sein Beiname hinn rauði erwähnt, allerdings nicht weiter erklärt, und auch seine Eigenschaften werden nicht weiter beschrieben. Er wird lediglich mittels des inklusiven allir in das Eigenschaftsbündel miklir ok sterkir bzw. gerviligir, das seine Cousins auszeichnet, miteinbezogen. So wirkt seine Nennung wie ein nachträglicher Einfall. Dieser Eindruck wird durch seine schlichte Aufzählung als hinn þriði und ohne Patronym (und in der Version der Óláfs saga helga durch das additive en) zusätzlich verstärkt. Während Sigurðr und Þórðr Þorlákssynir sind, ist Gautr lediglich ein systursonr Þrándrs. Wie seine Mutter allerdings heißt, wird nicht einmal eigens erwähnt. Auch diese Tatsache unterstreicht die Spärlichkeit von Angaben über weibliche Angehörige in Þrándrs Familie und verdeutlicht in Bezug auf Gautr dessen Randomisierung innerhalb von Þrándrs Neffen-Trias: Er wirkt so unbedeutend, wie es Frauen in der Familie seines Onkels zu sein scheinen.18 Er scheint zu weiten Teilen tatsächlich auf eine »skyggeperson«19 reduziert und nicht als selbstständige Figur konturiert. Allerdings ist er weniger ein Schatten seines Onkels Þrándr als vielmehr eine angedeutete Doppelgänger-Figur Sigurðrs.
17 Die Einführung korrespondiert auch im Rahmen der Óláfs saga helga außerhalb der Flateyjarbók mit der späteren Entwicklung der Ereignisse. Sigurðr erscheint durch seine aus dem Nachgang verschlagen wirkende Durchsetzung in Norwegen gegen König Óláfr und die kontrastierende Einführung als prototypischer Protagonist tatsächlich wie angekündigt als der Vorderste der Verwandtentrias. Er ist erfolgreich und vertritt die Handlungsagenda, hinter der (verstärkt in der Flateyjarbók) Þrándr zu stehen scheint, vgl. hierzu Kap. 3.4.4. Demgegenüber wirken Þórðr und Gautr wie linkische Erfüllungsgehilfen, die sich allein dank ihrer Kraft, der rätselhaften Gestalt mit dem refði (siehe Kap. 3.4.4) und Sigurðrs Planung gegen den König und seine Männer durchsetzen können. Sigurðrs Charakter erscheint dadurch vordergründig reiner, nach den Maßstäben eines rechtmäßigen Sagaprotagonisten ausgestaltet. Hintergründig wirkt er hingegen erfolgreicher, daher umso bewundernswerter in seiner Vorgehensweise und klug. Er bleibt im Ablauf der Ereignisse so aber im Hintergrund, während insbesondere Þórðr hervortritt, wobei er sich hauptsächlich durch die rohe Körperkraft auszeichnet, die ihm seinen ironischen Beinamen einträgt. Diese Figurenzeichnung zeigt sich im Gegensatz zur Færeyinga saga der Flateyjarbók, in der Þórðr seinen Bruder in taktischem Denken überflügelt, der wesentlich mehr der Krieger ist, als der Þórðr im Rahmen der Óláfs saga auftritt. Beide Redaktionen zeigen insofern andersgeartete Textkonzeptionen. Vgl. hierzu näher Kap. 5.3. 18 Vgl. zum Fehlen näherer Angabe über weibliche Familienangehörige Þrándrs näher Kap. 3.2.1. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es angesichts seiner Abstammung aus der abqualifizierten weiblichen Linie von Þrándrs Familie Gautr ist, der im Zuge von Karls Gesandtschaft auf die Färöer seinem Onkel ergi vorwirft, vgl. Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3.3. 19 Klettskarð 2000, S. 61.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
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Gautr verfährt beim Versuch der drei Männer, sich von ihrem Onkel zu emanzipieren und eigene Haushalte zu gründen, miog amynd ok med þeim Þorhalli ok S(igurdi).20 Zwar versucht er die Emanzipation im Gegensatz zu seinem Cousin Þórðr immerhin und erhält so ein ihm gewidmetes Kapitel, allerdings ist dieses Kapitel im Vergleich zur detaillierten Schilderung von Sigurðrs Vorgehen auffällig kurz gehalten und durch die zitierte Wendung weitgehend auf dessen bloßes Abbild ohne große eigenständige Berechtigung verknappt. Auch darüber hinaus verfügt Gautr kaum über eine eigene Handlungsmacht. In der gesamten Færeyinga saga hat er lediglich einen Sprechpart und wirkt allein dadurch schon in die Rolle eines unterstützenden Statisten versetzt, der den Protagonisten spiegelt, selbst aber kaum differenzierte Eigenschaften besitzt. So handelt er, wenn er genannt wird, tatsächlich relativ stereotyp seiner Einführung entsprechend. In den tätlichen Auseinandersetzungen der drei Männer mit den Ausländern wird er als Dritter genannt und überkommt – da er ebenso mikill und sterkr ist wie Sigurðr – seine Gegner ohne Schwierigkeit. Allerdings wirken beide Nennungen angesichts der vorhergehenden und (wenn auch geringfügig) ausführlicheren Beschreibungen der Taten Sigurðrs ebenso nachgeschoben wie in Gautrs Einführung: Gautr raudi hỏggr med ỏxi j hofut Hergrime ok klyfr hann j herdar nidr21 und Gautr [drepr] hinn þridea.22 Dennoch scheint Gautr kein so guter Krieger zu sein wie Sigurðr, immerhin ist er der einzige der drei Männer, der in der finalen Auseinandersetzung gegen Leifr keinen von Sigmundrs Söhnen töten kann, sondern Steingrímr nur verkrüppelt.23 Von diesen wenigen Erwähnungen abgesehen tritt Gautr nur im Abschnitt des Konflikts mit Óláfr dem Heiligen überhaupt explizit in der Saga auf. Er ist insofern eine sehr schemenhaft verbleibende Nebenfigur, deren hauptsächliche Funktion die Doppelung der Taten Sigurðr Þorlákssons zu sein scheint.
5.2.3 Sigmundr Brestissons insgeheimer Nachfolger? Der Krieger Sigurðr Þorláksson Am prominentesten wird unter Þrándrs Familienangehörigen Sigurðr in die Færeyinga saga eingeführt. Durch seinen Cousin Gautr und dessen schattenhafte Ausgestaltung, ebenso wie durch den konstrastierenden Figurenentwurf seines Bruders Þórðr, werden zudem in der Hauptsache seine Taten konturiert und das Interesse der Erzählung auf ihn fokussiert. Er ist ein mikill madr ok sterkr und sialigr, mit blondem, lockigem Haar, hladinn jþrottum. Explizit wird vermerkt, dass er in diesen
20 Fær, S. 130 (sehr nach dem Bilde wie bei Þórhallr und Sigurðr). 21 Fær, S. 129–130 (Gautr der Rote schlägt mit der Axt in den Kopf Hergrímrs und spaltet ihn bis auf die Schultern herab). 22 Fær, S. 132 (Gautr [tötet] den Dritten). 23 Siehe Fær c. 58, S. 137.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
Eigenschaften Sigmundr, Þrándrs großem Konkurrenten, am nächsten kommt.24 Durch diesen Verweis bereits bei der Figureneinführung werden letztlich Sigurðrs gesamte Persönlichkeit und sogar seine Geschichte präfiguriert. Durch das erhöhte Erzähltempo am Ende der Færeyinga saga und die konzise Kürze des Handlungsendes ist Sigurðr dabei weit weniger vielschichtig konstruiert als der Mann der vorgehenden Generation des Konflikts, dem er am nächsten kommt. Er wirkt so noch stärker im Rahmen einer Typenschematik als Figur aufgebaut. Dennoch lassen sich sein gesamtes Leben hindurch Parallelen seiner Eigenschaften und Taten in ihrer Kernkonzeption zu denen Sigmundrs ziehen. Wie Sigmundr gleicht Sigurðr in seinen Anlagen auch der zuvor genannten Vaterfigur, auch wenn sein Vater Þorlákr nur eine winzige Rolle in der Færeyinga saga zugestanden bekommt. Dennoch wird Þorlákrs Name im Gegensatz zum Namen von Sigurðrs Mutter – oder der seines Cousins Gautr – explizit genannt, womit die Rezipienten an dessen kurzen Auftritt erinnert werden. Dort wird Þorlákr als będí mikill ok sterkr und, zusammen mit seinem Bruder Þrándr als efnnilig[r] beschrieben.25 Wie in Sigmundrs Fall spiegeln sich auch bei Sigurðr die Eigenschaften des Vaters in denen des Sohnes.26 Nachdem Þorlákr seine kleine Rolle – gegen seinen Bruder im Losentscheid um den väterlichen Hof zu verlieren – gespielt hat, verschwindet er rasch wieder aus der Saga: [F]or Þorlakr þa j burt ok fek ser annan bustad þar j eyíunum.27 Das gleiche Schicksal wird später Sigurðr teilen: Von Þrándr zusammen mit seinem Bruder und Cousin vom Hof auf Gata verwiesen, muss er sich einen neuen Wohnsitz beschaffen, und dies wird ihm letztendlich zum Verhängnis. Überhaupt etabliert der Streit zwischen Þrándr und Þorlákr bereits den späteren Verlauf seines Konflikts mit den eigenen Neffen und Handlangern. Denn es ist das An-sich-Reißen ihres Vatererbes, das diese, unter besonderer Heraushebung Sigurðrs, ihm vorwerfen, als es zum Streit kommt: Sigurdr suar(ar) illa q(uad) hann illz æíns unna ollum frændum sínum ok segir hann sitia yfir fỏdur arfui sínum.28 Gerade Sigurðr erinnert sich an das Unrecht, das sein Ziehvater seinem leiblichen Vater zugefügt hat, und sieht es als Beschneidung der ihm eigentlich rechtens zustehenden Position an. Sein Konflikt mit Þrándr gründet sich insofern auf den Vorlauf, den die Geschichte zwischen diesem und seinem Vater in die Erzählung eingespeist hat und wirkt wie ein später Versuch, Þorlákr nachträglich ins Recht zu setzen. Nicht allein angerissene Persönlichkeit des Vaters, sondern auch ihm zugefügtes Unrecht prägen Sigurðr nachhaltig. Auch darin ähnelt er dem um sein Vatererbe gebrachten Sigmundr.
24 Zum Vergleich Sigurðrs mit Sigmundr siehe bereits Schmidt 2016, S. 308. Vgl. auch Niedner 1929, S. 19. 25 Fær, S. 4 (sowohl groß als auch stark; vielversprechend). 26 Zur Entsprechung zwischen Sigmundr und seinem Vater vgl. Kap. 4.2.1. 27 Fær, S. 5 (Da ging Þorlákr fort und besorgte sich einen anderen Wohnsitz dort auf den Inseln). 28 Fær, S. 128 (Sigurðr antwortet übel; er sagte, er vergönne allen seinen Verwandten nur Übles, und er sagt, er säße auf seinem Vatererbe). Den gleichen Vorwurf erheben die drei Männer ihrem Onkel gegenüber bereits zuvor, siehe Fær c. 49, S. 126. Vgl. hierzu auch Kap. 3 u. Kap. 5.4.1.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
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Doch nicht nur im Rückbezug auf die Vaterfigur gleicht Sigurðr Sigmundr. Beide zeichnet ähnliche Kampfkraft und Kunstfertigkeit aus, beide sind ihrer charakterlichen Disposition nach geborene Krieger.29 Für beide Figuren wird diese Tatsache bereits anhand der Figureneinführung etabliert und bewahrheitet sich im späteren Leben. Zum ersten Mal zeigt Sigurðr seine Tüchtigkeit, als das Schiff, auf dem er gemeinsam mit Þrándr und dessen Mannschaft Sigmundr angegriffen hat, von diesem zum Kentern gebracht wurde. Es heißt: [H]ann færr rett skípít ok barg mỏrgum mỏnnum.30 Zu dieser Tat scheint niemand anderes aus Þrándrs Gefolge fähig, zuvor sind bereits fünf Männer ertrunken. Nicht nur an Körperkraft ist Sigurðr seiner Umwelt überlegen: In den wenigen Waffengängen, die von ihm berichtet werden, scheint er durch seine Gegner ebenso unangreifbar wie Sigmundr. Allerdings zeichnet er sich dabei nicht durch dessen verfeinerte Kampftechnik aus,31 sondern nutzt eher rohe Gewalt: S(igurdr) hleypr at Biarngrimi ok hỏggr íȷ ́ hỏndum med ỏxi framan j fang honum suo at ỏxin stendr akafuí uar þat þegar bana sar.32 Im Kampf gegen Arnljótr, den Vater des von ihm getöteten Bjarngrímr, geht Sigurðr ähnlich vor: S(igurdr) hỏggr til þess er at honum sotti ok rekr undan honum fætr bada firir ofan kne ok hafde sa bana.33 Nach der Abwehr des ersten Angriffs von Arnljótr erobert Sigurðr im Alleingang dessen Boot: S(igurdr) hleypr abatínn ok drepr æínn þeirra en rekr íȷ ́ akaf.34 Er wird insgesamt dargestellt als jemand, dem im Kampf kaum beizukommen ist und der Gegner ohne Schwierigkeiten töten kann – ganz nach dem Vorbild Sigmundrs das einlösend, was der Erzähler in Sigurðrs Einführung über ihn etabliert. Dennoch liegt das Gewicht der Schilderung von Sigurðrs Kämpfen stärker noch als bei Sigmundr auf seiner schlicht überlegenen Körperkraft. Anders als bei Sigmundr wird von ihm kein Kampf mit Schwert und Schild geschildert, sondern, an der einen Textstelle, die seine Bewaffnung näher spezifiziert, von einer Axt gesprochen, die er beidhändig führt.35 Körperliche Geschicklichkeit in der Auseinanderset29 Zu Sigmundrs Wesen als Krieger vgl. Kap. 4.2.2. 30 Fær, S. 83 (Er schafft es, das Schiff aufzurichten, und barg viele Männer). Viele Männer vor dem Seetod rettet auch Sigmundr, als die Schiffe, die Þrándr an den Hof Óláfr Tryggvasons bringen sollen, aufgrund des Wetters vor den Inseln untergehen (siehe Fær c. 31, S. 77; vgl. auch Kap. 4). 31 Vgl. näher Kap. 4.2.4. 32 Fær, S. 129 (Sigurðr läuft zu Bjarngrímr und schlägt die Axt mit beiden Händen vorne in seine Brust, sodass die Axt eindringt. Die Wunde war sofort tödlich). 33 Fær, S. 132 (Sigurðr schlägt nach dem, der ihn angriff, und schlägt ihm beide Beine oberhalb des Knies ab, und derjenige starb). 34 Fær, S. 132 (Sigurðr läuft auf das Boot und tötet einen von ihnen, und wirft zwei ins Wasser). 35 Dass Sigurðrs Kampfstil sich allein auf grobe Körperkraft gründet, lässt sich als Zeichen einer ›Verwilderung‹ der Kämpfe im Lauf der Færeyinga saga interpretieren, ebenso wie seine Benutzung einer Axt, die einen rein köperlichen Kampfstil privilegiert, vgl. Wetzler 2017, S. 140. Diese Interpretation könnte insofern die These einer Damnatio der Verhältnisse am Ende der Erzählung stützen, die Guldager 1975, S. 41 zufolge geradezu »retsløse og kaotiske tilstande« (rechtlose und chaotische Zustände) zeichneten; vgl. auch Bick 2005, S. 11–12. Insbesondere zeigt der Vergleich zu Sigmundrs, jedenfalls während seiner Zeit in Norwegen einigermaßen verfeinerten, Kampfkunst (die jedoch
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zung mit Gegnern zeigt Sigurðr lediglich während seiner letzten Auseinandersetzung mit Leifr und den Söhnen Sigmundrs: Er kann sich geschickt seines Mantels entledigen, an dem Þuríðr ihn festhält, er läuft schneller als seine Verfolger und weicht geschickt Heri Sigmundarsons Speerwurf aus: S(igurdr) ser at spiotit stefnur a herdar honum þa leggzst hann nídr uit uellínum ok flygr spiotit yfir hann fram ok nam stadar j uellínum. S(igurdr) stendr upp skiott ok þrifr spiotit ok sendr aftr ok kemr þat a Hera midian ok hafde hann skiott bana.36 (Sigurðr sieht, dass der Speer nach seinen Schultern zielt. Da wirft er sich auf das Feld und der Speer fliegt über ihn hinweg und blieb im Feld stecken. Sigurðr steht schnell auf und ergreift den Speer und wirft ihn zurück und er trifft Heri mittendurch und davon starb er rasch.)
An Kampfkraft ist Sigurðr seinem Bruder und seinem Cousin Gautr also deutlich überlegen. Tatsächlich ist er auch stets derjenige, der im Kampf vorangeht, wenn sich die drei einem Angriff stellen müssen, erneut in Parallele zu Sigmundr, der auch stets der Vorderste seiner Männer im Kampf ist.37 Nicht allein das: Im Kampf gegen Arnljótr, der insgesamt die erste Konfrontation zwischen Þrándr und seinen Neffen selbst und Sigmundr vor dessen Tod spiegelt,38 ist Sigurðr auch derjenige, der wie Sigmundr die Kampftaktik bestimmt, sogar unter explizitem Verweis auf diesen: [N]u skulu uær ganga j moti þeim ok hafa rad Sigmundar B(restis) sonar segir S(igurdr). ok hlaupa sidan ser huerr uorr ok finnumzst at skipe voru aller.39 So ist Sigurðr auch derjenige, der seinen Verwandten den Totschlag an König Óláfrs Gesandtem Karl ermöglicht, indem er Leifr und Gilli durch den tödlichen Angriff auf ihren Budenmann ablenkt.40 Abgesehen von Geschick und Kampfkraft spiegelt Sigurðr Sigmundr letztendlich auch im persönlichen Wagemut, der Grundvoraussetzung, um als Kämpfer zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Er ist bereit, sein Schicksal aufs Spiel zu setzen,41 um ans Ziel zu gelangen, was sich deutlich in dem Moment
während seiner Zeit auf den Färöern auch gröber wird, vgl. Kap. 4.2.4) aber, woran es Sigurðr im Vergleich zu diesem grundsätzlich und schon in narrativer Hinsicht fehlt. Seinem Leben ist keine an die Entwicklungsstrukturen kontinentaler Literatur angelehnte, ›höfisierte‹ Erzählmatrix eingeschrieben. Er agiert als reine Kampfmaschine. 36 Fær, S. 136. 37 Vgl. Kap. 4.2.2. Zum Kontrast zwischen ihm und seiner Bruderfigur, der Sigmundr ebenso spiegelt, vgl. auch Kap. 7.5. 38 Die Auseinandersetzung zwischen Þrándr und seinen Neffen und Sigmundr verläuft so, dass Sigmundr die Kampftaktik wählt und seinen Begleitern mitteilt, diese sich trennen und am Landungsplatz wieder zusammenkommen. Das gegnerische Schiff wird gekapert, indem Sigmundr den Wachmann über Bord wirft, siehe Fær c. 36, S. 82–83. Sigurðrs Vorgehen in der Auseinandersetzung mit Arnljótr spiegelt exakt Sigmundrs Verhalten bei diesem Überfall. Vgl. auch Kap. 8. 39 Fær, S. 132 (›Wir wollen ihnen entgegengehen und die Taktik Sigmundr Brestissons benutzen‹, sagt Sigurðr, ›und dann jeder allein fort laufen und wir alle treffen uns auf unserem Schiff‹). 40 Fær c. 48, S. 122–124. 41 Zu dieser Grundbedingung ›heroischen‹ Kriegertums vgl. Kap. 4.2.2.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
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zeigt, indem er – todgeweiht (feigr42), wie ihn sein Bruder Þórðr warnt – darauf drängt, Þuríðr meginekkja aufzusuchen.43 Den Bedenken seines Bruders entgegnet er: [G]er þig æigi at undri segir S(igurdr). ok ver æigi suo hræddr at ỏngri mann raun ok skulu ver at visu æigi ríufa þa stefnu er ver hỏfum sam mælltz a.44 Sigurðr will sein Wort keinesfalls brechen, obgleich er vorgewarnt wird und obwohl er sich angesichts der Gemengelage im Konflikt zwischen seiner und Þuríðrs Familie bewusst sein dürfte, dass der bevorstehende Besuch Risiken bergen könnte. Dass Sigurðr nichtsdestotrotz bereit ist, diese in Kauf zu nehmen, zeigt ihn einerseits als kriegerisch-wagemutig, andererseits aber als politisch ebenso kurzsichtig wie Sigmundr.45 Der gleiche Wagemut und die gleiche Kurzsichtigkeit zeigen sich auch in Sigurðrs Anfälligkeit für Herausforderungen seiner Ehre. Er ist es, den Þrándr anstacheln kann, zeitgleich mit Þórálfr Sigmundarson nach Norwegen zu fahren, indem er implizit seine Mannbarkeit in Frage stellt: Sigurðr liop up oc het a þa Gaut oc Þorð. quaz eigi þola fryio Þrandar.46 Auch wenn Sigurðr anders als Sigmundr nie Angehöriger eines wikingischen Hofes war, scheinen für seinen Ehrbegriff doch dieselben Maßstäbe zu gelten. Als Krieger kann er eine Infragestellung seiner ›Männlichkeit‹ nicht reaktionslos über sich ergehen lassen. Anders als Þrándr entspricht er daher dem Männlichkeitsideal der Sagagesellschaft, das auch Sigmundr repräsentiert. Doch Sigurðr ist nicht allein anfällig für Herausforderungen seiner persönlichen Ehre, er ist sich dieser auch von sich aus sehr bewusst und pocht auf seine Machtbefugnisse als Erbe seines Vaters gegenüber seinem Onkel. So verweist auch Þrándr vor seiner offenen Auflehnung gegen Sigmundr auf den Machthunger seiner bei ihm aufwachsenden Neffen.47 Dabei fehlt zwar ein konkreter Verweis auf Sigurðr persönlich, doch scheint angesichts der Art und Weise, wie Sigurðr sich als der Vorderste unter Þrándrs Neffen darstellt, der Gedanke nicht abwegig, ihn als Trieb-
42 Fær, S. 135. 43 Zum Übereifer als drohendes Zeichen des bevorstehenden Todes vgl. Almqvist 1988, S. 78–82. 44 Fær, S. 135 (›Mach dich nicht lächerlich!‹, sagt Sigurðr. ›Und sei nicht so ängstlich vor einer Prüfung! Und wir werden sicher nicht das Treffen brechen, auf das wir uns geeinigt haben‹). 45 Vgl. näher Kap. 4.3.3 u. Kap. 5.4.3. 46 Fær, S. 97 (Sigurðr sprang auf und drang auf Gautr und Þórðr ein. Er sagte, er ertrage Þrándrs Vorwürfe nicht). Zwischen den Redaktionen zeigen sich leichte Unterscheide. Die hier im Zentrum stehende Flateyjarbók-Redaktion selbst lässt Sigurðr bei gleichem Inhalt leicht anders formulieren, er wolle den vorwurfsvollen Anschuldigen nicht tatenlos gegenüberstehen ([quaz eigi] þetta fryiu ord standazst uilia; Flat II, S. 243; siehe auch Fær, S. 97 Anm. z. Z. 27). Umso deutlicher wird Sigurðrs Disposition: Zwar könnte er vielleicht mit den Vorwürfen leben, jedoch hält er sie mit seiner Ehre für unvereinbar und will sich schlicht nicht auf eine solche Art ansprechen lassen. Vgl. hierzu auch Kap. 3.4.1 u. Kap. 5.4.2. 47 Fær, S. 82: Þrandr mællti […] ma ok vera at þeir frændr minir er upp uaxa med þikir þu lítill iafnnadr madr er þu uill ekki midla riki vit þa. þar er ver æígum meírr en helming vid þig (Þrándr sprach […]: ›Es mag auch sein, dass die Verwandten, die bei mir aufwachsen, glauben, dass du kein sehr gerechter Mensch bist, da du die Herrschaft nicht mit ihnen teilen willst, da wir mehr als die Hälfte dir gegenüber besitzen‹); vgl. Kap. 3.4.3.
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kraft hinter den Wünschen nach größerer Machtbefugnis seitens der Figurentrias auszumachen. Der Grund für dieses Verhalten Sigurðrs ist seine Stilisierung im Geist eines Kriegers, im Sinne seiner Persönlichkeit tatsächlich ganz derjenige, der hefde næst geingit […] S(igmundi) Brestis s(yni).48 Sigmundr ist jedoch nicht die einzige Figur, der Sigurðr konzeptionell nahe zu stehen scheint. Ehe Leifr Ǫzurarson mit Þóra Sigmundardóttir verheiratet wird, treten er und Sigurðr stets gemeinsam auf und wirken fast wie der gespaltene
48 Fær, S. 81 (Sigmundr Brestisson […] am nächsten gekommen sei); siehe bereits oben. Als weitergehende These ließe sich überlegen, ob nicht der reine Name beider Figuren auf einen Zusammenhang ihrer Figurenzeichnungen schließen lassen könnte. Beide Namen als die ›heroischer‹ Protagonisten erscheinen in der nordischen Völsungen-Überlieferung (vgl. hierzu Deichl 2019), Sigmundr in einer vorhergehenden Generation, Sigurðr natürlich als der Name des berühmtesten Helden in den Nordlanden. Bereits Niedner 1929, S. 18 vergleicht Sigmundr in der Færeyinga saga in der Art seines Charakters mit Siegfried. Es stellt sich bei näherer Betrachtung die Frage, inwiefern nibelungisch-völsungische Tradition in die Ausformung der Færeyinga saga eingeflossen sein könnte: Ihre ›heroischsten‹ Figuren tragen die Namen zweier der berühmtesten Männer des nordischen Heldenzeitalters, der Auftritt des Mannes mit dem refði scheint an die barnstokkr-Szene der Vǫlsunga saga angelehnt (siehe Kap. 3.4.4 u. Kap. 8.3.2.1) und beim Angriff auf Sigmundrs Hof geriert sich seine Frau Þuríðr in einer Art und Weise, die den Vergleich mit Guðrún am Hofe Atlis nicht zu scheuen braucht (siehe Kap. 7.3.3). Selbst im Gesamtaufbau der Færeyinga saga lassen sich womöglich strukturelle Analogien zur (deutschen!) Nibelungentradition ausmachen, wenn die Gesamthandlung des zweiten Teils dadurch bestimmt ist, dass eine Frau grausige Rache für den Tod eines engen Familienangehörigen nimmt und dabei die eigenen Verwandten in eine Falle lockt. Auch das Ende von Þrándrs Neffen in Blut und Flammen beim Überfall auf ihren Hof während eines Festes ließe sich gegebenenfalls als entfernte Parallele zum Ende des Nibelungenliedes ansprechen. Diese losen Parallelen dürfen nicht überbetont werden, immerhin fehlen in massivem Umfang konstitutive Elemente der Nibelungen/Völsungen-Tradition wie etwa der Verrat. Zudem rächt Þóra ihren Vater und nicht ihren Ehemann und ist nicht blutsverwandt mit Þrándr und seinen Neffen. Auch die Gesamtfigurenkonstellation ist gänzlich andersgeartet. Eine nähere Überprüfung solcher möglicher Parallelen wäre noch zu bestellen, wobei die Überlieferungsproblematik der Færeyinga saga und die im Vergleich spätere Datierung der Vǫlsunga saga (nach Deichl 2019, S. 3 um 1260) im Detail große Herausforderungen darstellen dürften. Lässt sich eine Verbindung indes aufbauen, wäre im Rahmen einer noch umfangreicheren Hypothese zu fragen, inwiefern eine Anreicherung des Færeyinga saga-Stoffes durch Analogien aus der Völsungentradition bereits auf den Färöern selbst stattgefunden haben könnte, immerhin sind die Balladen des Völsungenzyklus die berühmtesten literarischen Zeugnisse der Inselgruppe, vgl. Schier 1994b. Die Überformung historischer Begebenheiten durch Erzählmuster aus Mythos und vorhandener Sage ist jedenfalls eine gängige Vorstellung des Zustandekommens von Heldendichtung. Zur Frage von Geschichtlichkeit und Mythos in der Genese von Heldensagen vgl. Teichert 2008, S. 22–23 u. S. 39–83 zu den Strategien sekundärer »Mythisierung«; vgl. evaluierend ebenso Deichl 2019, S. 86–89. Ein solcher, später mehrfach wieder überformter Überlieferungskern scheint vor dem färöischen Hintergrund immerhin vorstellbar. Diese Hypothese wird sich aufgrund des Quellenmangels natürlich kaum beweisen lassen und hätte ebenfalls massiv mit der Überlieferungs- und Datierungsproblematik zu ringen. Auch die Tatsache, dass eine detaillierte Untersuchung des Balladenmaterials als färöischer Literatur an sich ein Forschungsdesiderat bleibt, während in der Nibelungenforschung – wenn überhaupt – bestenfalls anekdotenhaft auf die färöische Tradition weiterverwiesen wird, um anzuzeigen, dass der Stoff seine Verbreitung sogar auf solch ferne Inseln gefunden hat, stellen hierbei grundsätzliche Schwierigkeiten dar.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
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Ausdruck derselben Funktion. Sie werden immer im gleichen Moment genannt. Dadurch stehen sie gemeinsam chiffrenhaft stellvertretend für die aktive Handlungsmacht von Þrándrs Familienzweig.49 Beim ersten Angriff Þrándrs auf Sigmundr beraten sich die Gǫtuskeggjar über das Vorgehen und es heißt, dass L(eifr) skuli ganga j moti S(igmundi) ok Þorllakssynir med honum ok hínn fiorde madr med þeim.50 Sigurðr wird hier nicht herausgehoben und das erzählerische Gewicht in der Szene (wie in allen anderen dieses Abschnitts) liegt auf Leifr, dennoch verengen die weiteren Schilderungen das zweite Hauptgewicht der durchgeführten Aktionen auf Sigurðr: So teilt Þrándr bei der Verfolgung Sigmundrs explizit L(eifr) Ozurar son ok Sigurdr Þorllaks son die Führung über den Teil der Männer zu, die er nicht selbst befehligt,51 und als es darum geht, Þorgrímr illi in Ketten zu legen, lässt Þrándr þa kalla a þa L(eif) ok Sigurd.52 Die Parallelisierung von Leifr und Sigurðr in diesem Abschnitt zeigt, auch durch die stetige Nennung Leifrs als Erstem, einerseits dessen Bevorzugung durch Þrándr, andererseits aber die Tatsache, dass Sigurðr in Þrándrs Haushalt noch vor seinem Bruder und Gautr klar die Nummer Zwei nach seinem Ziehbruder darstellt. Gleichzeitig wird bereits hier ein Dualismus angelegt, der die Auseinandersetzungen nach Sigmundrs Tod mehr zum Konflikt Sigurðrs und Leifrs (und im weiteren Sinne auch des nach wie vor im Hintergrund mächtigen Þrándr) macht, als zu einem Konflikt der anderen beiden Neffen Þrándrs. Insgesamt sticht Sigurðr deutlich als die am stärksten ausgestaltete Figur aus der Triade mit seinem Bruder Þórðr und Gautr hervor und nimmt konsequent auch die Führungsrolle innerhalb dieses Trios ein. Er ist zu größten Teilen die die Handlung vorantreibende Figur, er ist die eigentliche agency hinter dem Aktanten, den Þrándrs Neffen zu dritt im Text darstellen. Zusätzlich verdeutlicht wird diese Tatsache durch die Überschreibung des Kapitels, in dem die drei eingeführt werden, mit dem Titel Fra Sigurdi Þorlꜳkssyni.53 Dabei gleicht Sigurðr in seiner Disposition zum Kriegertum, seinem Kampfgeschick und dem persönlichen Streben nach einem Leben zwischen Ehrverteidigung und der Herausforderung von Schicksal und Umwelt, stark Sigmundr. Tatsächlich scheitern er, sein Bruder und sein Cousin auf sehr ähnliche Weise in ihrem Kampf um die Vorherrschaft auf den Färöern, was im Folgenden näher auszuführen sein wird.
49 Vgl. auch Kap. 6.3. 50 Fær, S. 82 (Leifr Sigmundr entgegengehen solle und die Þorlákssöhne mit ihm und ein vierter Mann). Als »vierter Mann« ließe sich Gautr vermuten, der kein Þorláksson ist. 51 Fær, S. 84. 52 Fær, S. 88 (da nach Leifr und Sigurðr rufen). 53 Fær, S. 81 (Von Sigurðr Þorláksson).
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
5.2.4 Þórðr Þorláksson, der weitsichtige Unterstützer Der dritte unter Þrándrs Neffen und stets der zweitgenannte ist Þórðr, genannt hinn lági, »der Kleine«, obwohl er als manna þrekligazstr beschrieben wird.54 Der Beiname ist in doppeltem Sinne ironisch: Körperlich ist Þórðr mitnichten »klein«, und auch innerhalb des Trios mit seinem Bruder Sigurðr und Gautr scheint Þórðr ›klein‹ nur insofern, als dass man vermuten könnte, er sei Sigurðrs jüngerer Bruder. Innerhalb des von Bick postulierten ›Unrechtstrios‹ aber nimmt Þórðr auch ihr zufolge eine Sonderstellung ein, »da er immerhin noch über einen Rest von Unrechtsbewusstsein verfüg[e].«55 Diese moralische Interpretation wird im Folgenden noch näher zu prüfen sein. Jedenfalls aber scheint Þórðr seinem Bruder und auch seinem Cousin insgesamt unähnlich. Eingeführt wird er ebenso wie die anderen beiden mit Betonung auf physischer Stärke, disponiert also zu einem Kriegertum in Ähnlichkeit zu seinem Bruder Sigurðr. Während diese initiale Beschreibung bei Sigurðr in der späteren Figurenzeichnung vollumfänglich eingelöst wird und Gautr eine verhältnismäßig blasse Figur bleibt, scheint die Beschreibung über bloße Körperkraft im Falle von Þórðr irreführend. Zwar besiegt er seine Gegner unter den ausländischen Seereisenden ebenso problemlos wie sein Bruder, wobei seine Totschläge insgesamt noch weniger wortreich ausgestaltet werden: Þordr lagi hỏggr til Hafgrims med suerde a ỏxslína ok snidr ofan siduna alla ok fra hỏndina ok hefir hann þegar bana56 und Þordr drepr mann annan.57 Bemerkenswert ist, dass Þórðr beim Gegenangriff der Sigmundssöhne und Leifrs auf den Hof von Þrándrs Neffen als letzter getötet wird, nachdem er Brandr Sigmundarson und zwei andere Männer getötet hat, womit er am längsten im brennenden Haus ausharrt 58 – durchaus als Zeichen seines potenziellen ›Heldentums‹. Doch entspricht Þórðr insgesamt weit weniger dem kriegerischen Urbild, das Sigurðr in der Nachfolge Sigmundrs repräsentiert. Im Gegensatz zu seinem Bruder schreitet er in den Kämpfen am Ende der Færeyinga saga nicht voran, auch scheint er keinen verstärkten Durst nach Ehrerwerb und -verteidigung zu besitzen. Er sucht sich während des Versuchs der Emanzipation der drei Männer von Þrándr als einziger keine Frau, sondern lebt – offenbar gleichmütig – im neuen Haushalt seines Bruders. Er lässt sich zwar von diesem erst zur Hochzeit auffordern und ihn die Werbung vortragen, scheint aber zu keinem Zeitpunkt von Sigurðrs Plan begeistert. Auf Þuríðr als mögliche Ehefrau hingewiesen, wehrt Þorðr damit ab, er wolle nicht
54 Fær, S. 81 (Mann von überaus robustem Körperbau); siehe bereits oben. 55 Bick 2005, S. 11. 56 Fær, S. 129 (Þórðr der Kleine schlägt Hafgrímr mit dem Schwert in die Schulter und spaltet die ganze Seite von oben und den Arm ab, und er stirbt sofort). 57 Fær, S. 132 (Þórðr tötet einen zweiten Mann). 58 Siehe Fær c. 58, S. 137.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
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so hoch hinaus, zudem stehe das Einverständnis von Sigmundrs Witwe nicht eben zu erwarten.59 Im Gegenteil wirkt der Handlungsverlauf eher, als lasse Þórðr die Angelegenheit über sich ergehen. Seine Replik, mit der er Sigurðr sein Einverständnis in eine Brautwerbungsfahrt gibt, lässt sich sogar so verstehen, dass er seinem Bruder die Werbung für sich selbst nahelegt.60 Statt freigemut seiner Zukunft entgegen zu sehen, trägt er sich mit Bedenken und ahnt den schlimmen Ausgang von Sigurðrs Plänen voraus:61 [U]ndarliga væít þat vid 62 bzw. später Þordr segir at honum er lítít vm at fara […] æigi kemr mer a u uart at æigi komi ver aller hæim hæilír j kuelld.63 Mehrfach nennt er seinen Bruder in diesem Zusammenhang »todgeweiht«: [Æ]tla ek at þu ser fæigr […] er þu akafaz a þetta suo míog bzw. Þordr q(uad) hann feigan mundu uera,64 während er selbst sich den Wünschen seines Bruder kategorisch verweigern möchte.65 Er traut Þuríðr und ihrer Familie sichtlich nicht und versucht deshalb, sich bedeckt zu halten. Sigurðr aber hört nicht auf die Bedenken seines Bruders, schlägt sie als ängstlich aus und führt Þrándrs Neffen so in den Untergang im Kampf gegen Leifr. Auch in der Auseinandersetzung mit Arnljótr zuvor ist es Þórðr, der Sigurðr an die Maßgabe des Ausgleichs in Auseinandersetzungen erinnert: [Þ]at er rad […] at gefa þessum mỏnnum grid er ver æigum allz kosti vít en uær hofum adr unnit Arnlioti mikinn skada.66 Damit zeigt er sich, jedenfalls oberflächlich, konstant als wenig begierig auf kriegerische Auseinandersetzungen, im Kontrast zu seiner Figureneinführung als überaus robust und stark. Während
59 Siehe Fær, S. 133: [E]cki ætla ek mer suo hatt […] man æigi nærr leggia at hon vili mer giptazst (›So hoch will ich nicht hinaus […]. Es wird nicht nahe liegen, dass sie mich heiraten möchte‹). 60 Vgl. Almqvist 1988, S. 79. Der Text hat en þo mattu þessa læíta ef þu uill (Fær, S. 133; ›aber du kannst es versuchen, wenn du willst‹). þessa læíta könnte sich einerseits auf die Brautwerbung im Auftrag beziehen. Andererseits ist aber auch die Verständnismöglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Þórðr seinem Bruder hier vorschlägt, »es«, nämlich die Werbung um Þuríðr, selbst »zu versuchen«, zumal Þuríðr Sigurðr mit ebendiesem Vorwand, dass sie lieber ihn heiraten würde, in die Falle lockt, siehe Fær c. 58, S. 136. 61 Vgl. mit einer Emphase auf der moralischen Komponente dieses Verhaltens Bick 2005, S. 11. 62 Fær, S. 133 (Unerhörtes weist dies voraus). 63 Fær, S. 135 (Þórðr meint, dass es ihm wenig bedeutet, zu fahren […]. ›Für mich ist es nicht unerwartet, dass wir heute Abend nicht alle heil nach Hause zurückkehren‹). 64 Fær, S. 135 (›Ich glaube, dass du todgeweiht bist […], dass du so darauf drängst‹; Þórðr sagte, er müsse todgeweiht sein). Zum Motiv der plötzlichen Aktivität vor dem Tod vgl. Almqvist 1988, S. 78–82. Siehe hierzu auch Kap. 5.4.3. 65 Über sich selbst konstatiert Þórðr, die Werbung nicht versuchen zu wollen (Fær c. 56, S. 133), und weigert sich beim verabredeten Termin, Skúfey zu betreten (Fær c. 58, S. 135). 66 Fær, S. 132 (›Es ist ratsam, […] diesen Männern Frieden zu geben, da wir alle Macht über sie haben, aber wir haben Arnljótr zuvor großen Schaden zugefügt‹). Hier scheint sich auf den ersten Blick eine potenziell moralischere Wesensart Þórðrs im Vergleich zu seinem Bruder zu zeigen. Allerdings ist sich Sigurðr an anderer Stelle dem begangenen ›Unrecht‹ durchaus auch bewusst: Als sie von Sigmundr während ihres Angriffs versenkt werden, spricht Sigurðr von ihren Angriffen als hrak-|farir (Fær, S. 83; ›Schandfahrten‹). Damit könnte Sigurðr allerdings auch die erlittene Schande durch die erlebte Erfolglosigkeit meinen, und nicht die Schändlichkeit der Angriffe an sich.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
sein Bruder als großer Kämpfer vorauseilt, wirkt Þórðr bedächtig, fast zögerlich, und sehr auf seine Umwelt bezogen, die Sigurðr im Gegenteil zu ihm geradezu zu ignorieren scheint. Bick wertet die Zögerlichkeit Þórðrs und seine abwehrenden und mahnenden Konversationen mit seinem Bruder als Anzeichen größerer moralischer Integrität.67 Inwiefern Þórðrs Integrität aber größer ist als die seiner Verwandten, bleibt im Lichte der weiteren Plotentwicklungen in hohem Maße fraglich: Tatsächlich scheint er lediglich vorsichtiger und mehr auf seine Umgebung und deren Reaktionen auf das eigene Tun bedacht als sein Bruder. Gerade in der letztzitierten Szene verweist er auf die Reziprozität von Handlungen. Indes bleibt die Ausnutzung der eigenen Machtposition im Zuge dieser Auseinandersetzung unwidersprochen: Die Gegner sind in erheblicher Unterzahl auf einer Insel gefangen und befinden sich in der Hand von Þórðr und seinen Verwandten. Sigurðr erkennt den Hinweis seines Bruders sogar explizit an, verlangt entsprechend ein Selbsturteil, und Arnljótr muss die Färöer in Schande verlassen.68 Gegen dieses Vorgehen erhebt Þórðr keinerlei Einsprüche. Einem Gegner Frieden zu vollkommen selbstbezogenen Konditionen anzubieten, bedeutet also auch für Þórðr nicht, ihn ehrerbietiger zu behandeln, sondern verhindert lediglich weitere, potenzielle Rachehandlungen durch mögliche weitere Verwandte. Þórðr denkt insofern nur strategischer, nicht moralischer als sein Bruder und zieht seinen Schluss aus der Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit Arnljótr in dessen Wunsch nach Rache für die zuvor von den drei Männern getöteten Söhne begründet liegt. Er bedenkt den gesellschaftlichen Mechanismus des Rückbezugs und der Balance von Handlungen und weiß, dass jede Aktion, insbesondere im sozialen Rahmen, eine Gegenreaktion zeitigt.69 Entsprechend rechnet er auch mit einer feindlichen Gesinnung seitens Sigmundrs Familie, da er sich die Bilanz der Händel zwischen dieser und seiner Verwandtschaft bewusst hält. Er weiß, dass Sigmundrs Witwe keine Sympathien für seine Familie aufbringen wird, und glaubt nicht an das alỏgi,70 die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit von deren Aussagen. Er rechnet eher damit, dass aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit eine ungünstige Reaktion der ehemaligen Gegner zu erwarten ist, wie sie das gesellschaftliche System von Fehde und Ehrausgleich nur logisch erscheinen lässt. Þórðr erkennt so die mögliche Falle, in die Sigurðr in seinem Umgang mit der verfeindeten Familie tappt, während er dieser selbst nicht über den Weg traut. Moralisch argu-
67 Vgl. Bick 2005, S. 11. 68 Siehe Fær, S. 132: S(igurdr) suar(ar). þat er uel mællt […] þat for fram at þeir selldu S(igurdi) sealfdęmi […] gallt Arnliotr allt […] ok hafde hann þat j bætr firir sonu sina ok for vid þat j burt af Fær eyium (Sigurðr antwortet: ›Das ist wohl gesprochen […].‹ Es geschah so, dass sie Sigurðr das Selbsturteil überließen […]. Arnljótr bezahlte das ganze Geld […] und erhielt das als Buße für seine Söhne und fuhr damit fort von den Färöern). 69 Zum gesellschaftlichen Ausgleichsprinzip der Sagagesellschaft vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 148–157, S. 191–193 u. S. 221–226. 70 Fær, S. 133.
5.2 Die neue Generation des färöischen Konflikts und ihre Persönlichkeiten
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mentiert er dabei in keiner Weise, sondern scheint eher kühl und logisch denkend alle Tatsachen in den Blick zu nehmen, ehe er sich für eine Handlungsalternative entscheidet. In dieser Figurenzeichnung spiegelt Þórðr auch im Verhältnis zu Sigurðr Sigmundrs Ziehbruder Þórir.71 Er ist zu kriegerischen Taten durchaus in der Lage, aber weitsichtiger und vorsichtiger als sein Bruder, weil er mehr auf seine Umgebung bedacht ist und diese in sein Denken einbezieht. Er konzentriert sich nicht auf die eigene Ehre und ihre Verteidigung, sondern rechnet mit den Unwägbarkeiten äußerer Einflüsse. Wenigstens ist er weniger zur Herausforderung disponiert und aus taktisch-bedachten Gründen eher zur Mäßigung und daher Balancierung der ›Ehrökonomie‹ der Gesellschaft bereit. Er wirkt dadurch an der Textoberfläche zunächst moralischer und potenziell gegen die aus Sigurðrs und Gautrs rücksichtslosem Vorgehen folgenden Konsequenzen gefeit. Doch bedeutet diese Vorsicht und das Bedenken äußerer Umstände von moralischen Komponenten abgesehen auch größeres politisches Strategievermögen. Þorðr selbst destabilisiert die färöische Herrschaft nach dem Hinauswurf aus Þrándrs Haus nicht und muss selbst auch keine Aufwendungen erbringen, um sich eine gesicherte Stellung zu erarbeiten. Sein Bruder erledigt diese Arbeit, Þórðr braucht sich in dessen neuem Haus und Machtbereich nur einzunisten und beschwört selbst dadurch keine für ihn negativen Folgen herauf. Hätte Sigurðr auf ihn gehört, vielleicht hätte sich ein alternatives Ende des Konflikts einstellen können. Grundsätzlich scheint Þórðr weitsichtig, berechnend und verständig genug, als dass er sich langfristig politischen Erfolg auf den Färöern erstreiten hätte können. Jedenfalls versteht er es, einen günstigeren Moment abwarten zu wollen und nicht blindlings loszuschlagen und damit eigenverschuldet in eine größere Maschinerie der Machtpolitik auf den Färöern und den etablierten Konflikt der Familienzweige hinein zu geraten. Dennoch ziehen die Taten seines Bruders und Cousins Þórðr schließlich mit in den Tod, da er sich gegen seine Verwandten nicht durchsetzen kann.72 Er beugt sich den Banden seiner Familienzugehörigkeit und schert nicht aus der einhelligen Handlungsagenda aus – vielleicht auch hier, weil er ahnt, dass ein offener Verstoß gegen den Willen seines Bruders für ihn zum Boomerang werden könnte. Zwar kann Þórðr die Umstände besser bedenken, doch ändert seine ungünstige Vorahnung nichts an seiner unbedingten Treue zu Bruder und Familie, die ihm, ganz unabhängig von Moral und im Einklang mit sozialen Standardnormen, wichtiger ist als alles andere.73 Auch hierin gleicht Þórðr Þórir eine Generation früher: Er ist derjenige, der weiter voraussieht, der sich letztlich aber stets den Entscheidungen seiner Verwandten und Freunde fügt und diese unterstützt. Þórðrs Moral ist so nur vordergründig höherwertig als die seiner
71 Vgl. näher auch Kap. 7.5. 72 Vgl. Bick 2005, S. 11. 73 Zur Bedeutung von Sippe und Verwandtschaft im System der Sagagesellschaft vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 165–186.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
Verwandten, immerhin macht er auch keine Anstalten, sich aufgrund seiner Bedenken aktiv gegen seine Familie zu stellen. Der Erzähler der Færeyinga saga benutzt Þórðr insofern nicht, »um die Unrechtmäßigkeit ihres [der drei Verwandten Þrándrs] Tuns noch einmal besonders zu betonen«,74 sondern viel eher, um – wie im Falle Þórirs bei Sigmundr75 – politisch klügere, zweckmäßigere und erfolgversprechende Handlungsalternativen aufzuzeigen, die jedoch nie eingelöst werden. Þórðr erscheint so insgesamt als die mahnende, aber ungehörte Stimme des Warners innerhalb der Gruppe von Þrándrs Neffen.
5.3 Ok váru þó heima með Þrandi – Þrándrs Neffen, Þrándrs Werkzeuge 5.3.1 Das Ende des Machtkampfes zwischen Þrándr und Sigmundr Nachdem sie in die Saga eingeführt wurden, vergeht eine große Spanne erzählter Zeit, ehe Sigurðr, Þórðr und Gautr eigenständig als Figuren hervortreten – sofern insbesondere Gautr das überhaupt je tut. Während der Endphase des Konflikts zwischen Þrándr und Sigmundr, in der sie erstmals in Erscheinung treten, führen sie keinerlei selbstständige Handlungen aus, sondern dienen vielmehr als Þrándrs ›Armee‹. Da dieser sich nie durch einen eigenhändigen Griff zum Schwert hervortut, bedarf er seiner Neffen und Leifrs zunächst zur Ausführung seines Willens, um wieder aktiv handlungsfähig zu werden.76 Sobald es in diesem Abschnitt der Færeyinga saga um Gewaltanwendung seitens Þrándrs Familiengruppe geht, werden Leifr und Sigurðr (implizit zu verstehen wohl als pars pro toto auch für seinen Bruder und Gautr) im Text genannt. Zwar wird Þrándr auch darüber hinaus von mehreren Leuten begleitet – seine Truppe von Angreifern besteht zweimal insgesamt aus zwölf und beim dritten Mal aus sechzig Männern – doch liegt der Fokus der Erzählung, wie bereits geschildert, bei der Darstellung von Þrándrs Aktionen eindeutig auf seinen beiden herausragendsten Ziehsöhnen. Solange Sigmundr lebt, haben Þrándrs Neffen überhaupt keine eigene Handlungsmacht, sondern sind lediglich die Arme, die tun, was Þrándr gebietet. Er dominiert den Erzählabschnitt, er ist die eigentlich handelnde Figur. Seine jungen Neffen sind ihm als mittlerweile älteren und ohnehin nie in Kampfhandlungen verstrickten Mann körperlich überlegen und agieren deshalb gewissermaßen als seine ›Elitekrieger‹, stets bereit, seine Befehle in die Tat umzusetzen und seine Feinde für ihn zu bekämpfen. Zugleich aber stellen Sigurðr, Þórðr und Gautr den Grund dar, der Þrándr zum Handeln treibt. Vor dem Ausbruch offener Kampfhandlungen verweist Þrándr expli-
74 Bick 2005, S. 11. 75 Vgl. Kap. 7.5.1. 76 Vgl. Kap. 3.4.
5.3 Ok váru þó heima með Þrandi – Þrándrs Neffen, Þrándrs Werkzeuge
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zit auf frændr minir, die Sigmundr gefährlich werden könnten, da er uill ekki midla riki vit þa.77 Þrándr ist sich des wachsenden Machthungers seiner Neffen bewusst, die zu diesem Zeitpunkt das Erwachsenenalter erreichen. Den eigenen Bruder und Vater Sigurðrs, Þorlákr, hat Þrándr bereits vor Beginn seines Aufstiegs von jeglicher Machtausübung ausgeschlossen und damit ausgebootet. Gerade an dieser Tatsache entzündet sich der Bruch zwischen Onkel und Verwandten am Ende der Saga, wie noch näher darzustellen.78 Gerade ein Krieger wie Sigurðr kann sich unmöglich dauerhaft mit der Rolle des Werkzeugs in den Händen anderer abfinden, und so bedroht er hintergründig seinen Onkel Þrándr selbst.79 Dieser weiß um die aufgestauten, jugendlichen Energien in seinem eigenen Haushalt und insbesondere Sigurðrs Durst nach Ehrgewinn und Macht vor dem Hintergrund der Übervorteilung seines Vaters und muss die Kontrolle darüber behalten. Sigmundr als den gemeinsamen Feind anzugreifen erweist sich daher als probates Mittel zur Bewältigung der schwelenden Konfliktlage in Þrándrs eigenem Lager. Er gibt der nachwachsenden, tatendürstigen Generation damit die Gelegenheit, sich im Kampf hervorzutun und sich auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren, anstatt selbst Machtansprüche zu stellen – zumal Sigmundrs Herrschaft die von Þrándr ohnehin prinzipiell unmöglich macht. Wollen seine Neffen einen Teil der Macht, so müssen sie Sigmundr zuvor ausschalten. Þrándr erweist sich dadurch einmal mehr als gewiefter politischer Taktiker und macht seine Neffen zu reinen Werkzeugen in seinen Händen. Eine tatsächliche Herrschaftsbeteiligung nach getaner Arbeit aber scheint er nie im Sinn zu haben. Regelmäßig übergeht er bei der eigenmächtigen Zuteilung von Herrschaftskompetenzen seine eigenen Verwandten zugunsten Leifr Ǫzurarsons.80 Dies offenbart Þrándrs Sicht auf seine Neffen: Sie sind für ihn nicht mehr als Mittel zum Zweck. Und doch fügen sie sich (noch) bereitwillig in die Rolle, die ihr Onkel für sie vorgesehen hat.
5.3.2 Die Fahrt nach Norwegen und der Mord an Þórálfr Sigmundarson Grundsätzlich die gleiche Konzeption von Þrándrs Neffen lässt sich auch dem Abschnitt der Færeyinga saga zur Regierungszeit Óláfr des Heiligen Haraldssons unterstellen. Dieser fällt allerdings schon überlieferungsgeschichtlich als Bestandteil der Óláfs saga helga besonders aus, der auch in der Flateyjarbók einer Handschrift von Snorris Saga folgt. Einerseits scheint wie stets Þrándr allein Triebkraft der Ereignisse zu sein und sich seiner Neffen für seine Zwecke zu bedienen,81 andererseits geraten
77 Fær, S. 82 (meine Verwandten; da du die Herrschaft nicht mit ihnen teilen willst), vgl. auch Kap. 3.4.3. 78 Siehe auch Kap. 3.4.5. 79 Vgl. auch North 2005, S. 71. 80 Siehe Fær c. 39, S. 86, u. c. 49, S. 127. Vgl. auch Kap. 3.4. 81 So etwa die Interpretationen von Foote 1984c, S. 177–182; Ólafur Halldórsson 2001, S. 73–77; North 2005, S. 69–70. Vgl. näher auch Kap. 3.4.4.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
sie in diesem Teil der Saga erstmals in einen Konflikt mit ihrem Onkel, eine jedenfalls scheinbare Präfiguration der Ereignisse, die in den abschließenden Kapiteln der Færeyinga saga schließlich zum Tod aller drei Männer führt. Zudem treten sie hier – jedenfalls vordergründig – erstmals selbst als Handlungsträger in Erscheinung und werden innerhalb ihres Dreigestirns als Figuren auseinanderdifferenziert. Dies geschieht dabei in auffälliger Abwandlung ihrer Konzeption im Rest der Færeyinga saga. Óláfr der Heilige wird norwegischer König, macht Leifr Ǫzurarson, Þórálfr Sigmundarson und Gilli lǫgsǫgumaðr zu seinen Gefolgsleuten und erhebt Steuern von den Färöern. Jedoch verschwinden seine Schiffe, die die Tribute nach Norwegen bringen sollen, ohne dass aufgeklärt würde, was mit ihnen geschieht.82 Der König beruft daraufhin seine Gefolgsleute zu sich. Gleichzeitig ereignet sich Folgendes auf Þrándrs Hof in Gata: [E]in goðan veðr d(ag) geck Þrandr i stofo. en þeir | lago i pǫllum broþur s(ynir) hans ij Sigurðr oc Þorðr. þeir voro Þorlacs s(ynir). hin þriði h(et) Gꜹtr hin rꜹði. […] þa mælti Þrandr. mart scipaz a mannz æfi. Otítt var þa er ver vorum ungir at menn scyldo sitia e(ðr) liԍia veðrdaga goða þeir er ungir voro oc til allz væl fǫrir. […] mundi eigi sva ef ec vera nokkorum vetrum yngri. Sigurðr liop up oc het a þa Gaut oc Þorð. quaz eigi þola fryio Þrandar.83 (Eines Tages mit gutem Wetter ging Þrándr in die Stube. Aber seine beiden Brudersöhne Sigurðr und Þórðr lagen auf den Seitenbänken. Sie waren die Söhne Þorlákrs. Der Dritte hieß Gautr der Rote. […] Da sprach Þrándr: ›Viel verändert sich im Leben eines Menschen. Unpassend war es damals, als wir jung waren, dass Männer, die jung waren und zu allem bestens geeignet, an einem Tag mit gutem Wetter herumsitzen oder -liegen sollten. […] So wäre es nicht, wäre ich noch einige Winter jünger.‹ Sigurðr sprang auf und drang auf Gautr und Þórðr ein. Er sagte, er ertrage Þrándrs Vorwürfe nicht.)
Daraufhin brechen Sigurðr, Þórðr und Gautr gleichzeitig mit Þórálfr Sigmundarson nach Norwegen auf. Þrándr erhebt seine Vorwürfe der Tatenlosigkeit und mangelnden Mannbarkeit seinen Neffen gegenüber recht unvermittelt, zuvor deutet der Text keinerlei Dissens zwischen den Verwandten an. Indes hätte auch Þrándr nach dessen Regierungsantritt an Óláfrs Hof kommen sollen, doch þa er hann var buin mioc þa toc hann fæli sótt þa er hann var hvergi fǫr oc dvalþiz hann eptir.84 Die scheinbar zufälligen Zeitpunkte von Þrándrs Krankheit und Vorwürfen seinen Neffen gegenüber wirken angesichts seines in der Saga bisher gezeichneten Charakters auffallend verdächtig. Er will nicht nach Norwegen, um sich dem König anzuschließen,
82 Siehe Fær c. 43–44, S. 90–94. 83 Fær, S. 95–97. Die Falteyjarbók-Redaktion spart die erneute Vorstellung der drei Männer aus, da sie bereits zuvor eingeführt wurden. Erwähnt wird so nur, dass alle drei Männer auf den Seitenbänken liegen, siehe Flat II, S. 242–243, vgl. auch Fær S. 95–96 Anm. z. Z 14–20. Zur hvǫt-Komponente von Þrándrs Redeweise vgl. Kap. 3.4.1. 84 Fær, S. 90 (als er in der Vorbereitung sehr weit fortgeschritten war, da bekam er eine so schwere Krankheit, dass er nirgends hinfahren konnte, und er blieb zurück).
5.3 Ok váru þó heima með Þrandi – Þrándrs Neffen, Þrándrs Werkzeuge
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und er wirft seine Neffen in gerade dem Moment aus dem Haus, in dem Þórálfr zu Óláfr reist, um dem König Rechenschaft über dessen Tributschiffe abzulegen. Gerade angesichts der folgenden Ereignisse scheint gut vorstellbar, dass Þrándrs unvermittelte Aufhetzung seiner Neffen zur Handelsfahrt dem Ziel dienen soll, zu verhindern, dass Óláfr erfährt, was mit den Schiffen passiert ist.85 Der Text legt in diesem Abschnitt insofern hauptsächlich einen Dualismus zwischen König Óláfr und Þrándr an.86 Beide Fahrtgemeinschaften, die von Sigurðr, Þórðr und Gautr und die von Þórálfr, kommen gleichzeitig in Herna in Norwegen an Land. Die Ankerplätze liegen nah beieinander. Þat varð til tiþinda um aptaninn er myrct var oc þeir Þoralfr ætlaðo til rekna buaz þa geck Þoralfr a land upp oc anar maðr með honum. leitaðo ser staðar. oc er þeir voro búnir ofan at ganga. þa s(agði) sa sva er honum fylgði. at castað var clæði yfir hofuð hanum. var hann tekin up af jorðu. i þvi bili heyrði hann brest. Siþan var farit með hann oc reiddr til fallz. en þar var undir sær oc var hann keyrðr a kaf. en hann comz a land. for hann þar til er þeir Þorálfr hǫfþo sciliz. hitti hann þar Þoralf oc var hann klofinn i herðar niðr oc var hann þa dꜹðr.87 (Es begab sich da am Abend, als es dunkel war und Þórálfr und die Seinen sich schlafen legen wollten, dass Þórálfr mit einem anderen Mann ans Land hinauf ging. Sie suchten sich einen Platz, um ihre Notdurft zu verrichten. Und als sie bereit waren, herunter zu gehen, da sagte der, der ihm folgte, dass ihm ein Stoff über den Kopf geworfen sei. Er wurde vom Boden hochgehoben. In diesem Moment hörte er ein Krachen. Danach wurde er getragen und zu Fall gebracht. Doch das war unter der See und er wurde untergetaucht. Doch er kam an Land. Er ging dorthin, wo Þórálfr und er sich getrennt hatten. Dort traf er auf Þórálfr, und er war zwischen den Schultern niedergestreckt und war da tot.)
Þórálfrs Männer bergen seine Leiche und benachrichtigen König Óláfr, der ein Þing einberuft, auf dem beide färingischen Parteien erscheinen. Er gibt dort seine Ansichten des mysteriösen Mordes bekannt: [Þ]icki mer þanog hellzt at unit. sem Sigurðr Þorlacss(on) mundi hafa vegit manin. en Þorðr hin lági mundi hin hafa fǫrt a kaf. en þat fylgir at ec munda þes til geta at þat mundi til saca vera funit. at þeir mundi eigi vilia at Þorálfr segði eptir þeim odáðir | er hann mani vitat hafa at satt er. en os hefir verit grunr a um morð þꜹ oc illvirki at sendi menn mínir hafi þar verit myrðir.88 (›Es scheint mir am ehesten so geschehen, dass Sigurðr Þorláksson den Mann getötet hat. Aber Þórðr der Kleine wird den anderen untergetaucht haben. Und es folgt, dass ich vermuten würde, dass als Grund für die Sache angeführt sein muss, dass sie nicht wollten, dass Þórálfr von den Untaten erzähle, von denen er gewusst haben wird, dass sie wahr sind. Wir aber hatten einen Verdacht hinsichtlich dieser Morde und der Übeltat, dass meine Sendboten dort ermordet wurden.‹)
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Vgl. Foote 1984c, S. 178–179; North 2005, S. 69. Vgl. auch Kap. 3.4.4. Vgl. auch Kap. 7.4. Fær, S. 98–99. Fær, S. 100–101.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
Darauf entgegnet Sigurðr: Ecki hefi ec talat fyr a þingum. ætla ec mic mano þickia ecki orðfiman. en þo ætla ec ø̨rna nꜹðsyn til vera at svara nokoro. vil ec þes til geta at rø̨ða þesi er konungr hefir upi haft mani vera comin undan tungo rótum þeira manna er miclo ero uvitrari en hann oc verri. en þat er ecki leynt at þeir mano fullcomliga vilia vera varir uvinir. er þat ulícliga mælt at ec *munda vilia vera scaða maðr Þorálfs. þviat hann var fostbróðir min oc góðr vinr. en ef þar veri nockor ꜹnor efni í oc veri sacir milli ockar Þorálfs þa em ec sva viti borin at ec munda heldr til þesa vercs hætta heima i Færeyiom. en her undir handar jaðri yðrom konungr. nu vil ec þesa máls synia fyrir mic oc fyrir os alla scipveria. vil ec þar bioða fyrir eiða. Sva sem lꜹg yðor standa til. | En ef yðr þickir hitt i nockoro fullara. þa vil ec flytia jarnburð. Vil ec at þer sét siálfir við scírslona. En er Sigurðr hætti rǫðo sinni. þa urðo margir til flutningar oc báþo konung at S(igurðr) scyldi ná undanfǫrslo. þótti S(igurðr) *væl hafa talat oc quaþo hann osanan mundo at vera þvi er honom var kent.89 (›Nichts habe ich zuvor auf Thingen gesagt. Ich denke, man wird mich nicht für wortgewandt halten. Doch dennoch denke ich, es besteht die Anliegensnotwendigkeit, etwas zu antworten. Ich möchte vermuten, dass die Rede, die der König gehalten hat, aus den Zungenwurzeln der Männer gekommen ist, die viel unwissender und schlechter sind als er. Aber es ist kein Geheimnis, dass sie unsere vollkommenen Feinde sein wollen. Es ist unwahrscheinlich gesprochen, dass ich der Totschläger Þórálfrs sein wollte. Denn er war mein Ziehbruder und ein guter Freund. Doch wenn ein anderer Zustand dabei herrschte, und es gewisse Angelegenheiten zwischen mir und Þórálfr gäbe, dann bin ich so klug, dass ich diese Tat eher zu Hause auf den Färöern wagen würde, als hier unter Euren Augen, König. Nun will ich diese Angelegenheit für mich abstreiten und für unsere ganze Mannschaft. Ich will dafür Eide anbieten, so wie Eure Gesetze es vorsehen. Aber wenn Ihr glaubt, jenes sei um einiges vollständiger, dann will ich die Eisenprobe vornehmen. Ich möchte, dass Ihr selbst die Reinigungsprobe beschaut.‹ Aber als Sigurðr seine Rede beendete, da sprachen viele vor und baten den König, dass Sigurðr davonkommen sollte. Sigurðr schien wohl gesprochen zu haben und sie sagten, er sei dessen unschuldig, was ihm zur Last gelegt wurde.)
Der König selbst gibt hier die Interpretation wieder, der das Gros der bisherigen Forschung gefolgt ist: Sigurðr, Þórðr und Gautr sind verantwortlich für den Mord, eines der schlimmsten Verbrechen in der Sagagesellschaft.90 Das Motiv ist die Ausschaltung eines Mannes, der auch andere Verbrechen vor Óláfr hätte berichten können.91 Ein Zusammenhang mit Þrándr wird dabei nicht explizit hergestellt, liegt aber nahe angesichts der Tatsache, dass er seine Neffen nach Norwegen getrieben hat. Sigurðr, Þórðr und Gautr sind nach wie vor lediglich die Erfüllungsgehilfen des Willens ihres Onkels, der seine eigene Macht um jeden Preis erhalten will. Ebenso wie in der Haleyri-Szene am Beginn der Færeyinga saga wird indes das Verbrechen nicht tatsächlich aufgeklärt. Der Erzähler lässt König Óláfr nur eine In-
89 Fær, S. 101–103. 90 Dies, gemeinsam mit dem Diebstahl, wegen des eklatanten Verstoßes gegen das rechtliche Offenkundigkeitsprinzip. Der heimliche und deshalb gesellschaftlich nicht kontrollierbare Mord ist zutiefst unehrenhaft, vgl. Heusler 1911, S. 37; von See 1964, S. 204. 91 Vgl. Foote 1984c, S. 178–179; Glauser 1989, S. 219; Glauser 1994, S. 112; implizit auch North 2005, S. 69.
5.3 Ok váru þó heima með Þrandi – Þrándrs Neffen, Þrándrs Werkzeuge
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terpretation aussprechen, während er gleichzeitig Sigurðr eine noch ausführlichere Gegenrede zugesteht und so ohne Bewertung Aussage gegen Aussage stehen lässt. Ebenso wird in der Szene des Verbrechens die Erzählperspektive auf die Wahrnehmung einer Einzelfigur verengt, Þorálfrs Begleiter. Dessen Augen werden allerdings verdeckt, sodass die Identität der Täter bzw. Angreifer konkret vollständig im Dunkeln verbleibt. Die gleiche Erzähltechnik wird in der Færeyinga saga zuvor eingesetzt, um die Rolle Þrándrs im Zuge seiner unlauteren Eroberung der Macht auf den Färöern zu verundeutlichen.92 Wie dort wird die faktisch interne Fokalisierung der Ereignisse um den Mord als extern fokalisiert dargestellt. Die genauen Vorgänge bleiben so unaufgeklärt, Überlegungsspielräume eröffnet der mehrperspektivisch geschilderte Nachgang. Anders als in der Haleyri-Szene wird dieser allein über Figurenreden und weiteres Handeln der Protagonisten auserzählt und nicht mit einem Erzählerkommentar versehen, wie der abschließenden Figurenbeschreibung Þrándrs auf dem dänischen Markt. Zunächst stehen Óláfrs und Sigurðrs Worte beide kommentarlos im Raum, und es ist den Rezipienten überlassen, welche Interpretation des Mordes ihnen wahrscheinlicher erscheint. Gleichzeitig verhält sich Sigurðr gerade durch seine aufwendigen Unschuldsbekundungen und die keinesfalls überzeugende Gegenanschuldigung König Óláfrs samt der anschließenden Flucht erst recht wie ein Schuldiger. Die Schuld von Þrándrs Neffen liegt durch diese Inszenierung nahe, ohne eindeutig bestätigt zu werden. Die Erzähltechnik der Færeyinga saga ist in diesem Teil damit ebenso konstant inkonsequent wie in der Haleyri-Szene zu Beginn: Während in den Rezipienten durch geschickte Indizienvergabe dauerhaft ein Verdachtsmoment hinsichtlich des Schuldigen am Verbrechen wachgerufen wird, verunmöglicht das Nicht-Erzählen der Vorgänge eine eindeutige Schuldzuweisung. Auch in diesem Abschnitt wird somit die Erzählstimme destabilisiert, denn weder weiß der Erzähler zu berichten, was tatsächlich mit den Schiffen des Königs geschehen ist, außer dass sie verschwunden sind, noch wird eine direkte Verbindung der Vorgänge zu Þrándr eröffnet. Diese lässt sich aufgrund der unvermittelten Aufhetzung seiner drei Neffen zur Handelsfahrt nur vermuten. Insbesondere das letztendliche Ergebnis des Kontakts der Färinger mit Óláfr dem Heiligen eröffnet diese Perspektive, den allerdings bezeichnender Weise allein die Færeyinga saga der Flateyjarbók enthält. Gleichzeitig führt die Saga an dieser Stelle eine Neuerung ein: Die Komponente der öffentlichen Meinung. Glauben die Leute auf dem Þing zunächst der geschickten Rede Sigurðrs und sprechen beim König für ihn vor, verkehrt sich ihre Meinung nach seiner Flucht rasch ins diametrale Gegenteil: [L]agðiz þa þungr orðrómr á um þeirra mál. voro þeir margir at þa cǫlluðu þes ván at þeir S(igurðr) mundo sꜹno sagðir. er aþr hǫfþo syniat fyrir hann oc mælt i moti.93 Durch
92 Vgl. Kap. 3. 93 Fær, S. 106–107 (Es kam da eine schwere öffentliche Meinung hinsichtlich ihrer Angelegenheit auf. Es gab viele, die da sagten, es sei zu erwarten, dass Sigurðr und die Seinen für schuldig zu sprechen seien, die es zuvor für ihn abgestritten hatten und dagegen gesprochen hatten).
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die Kombination der destabilisierten Erzähltechnik mit dem Motiv der öffentlichen Meinung zeigt sich somit deren Manipulierbarkeit sehr deutlich – ein Erzählelement, das im Verlauf des Lebens der drei Männer später eine entscheidende Rolle spielen wird, wie noch zu untersuchen sein wird. In Bezug auf die Figurenkonzeptionierung von Þrándrs Neffen als Heranwachsende ist der Abschnitt ihrer Norwegenreise auch insofern interessant, als dass er erzählstrukturell dem »Travel Pattern« der Isländersagas entspricht,94 aber in inverser Parallele verläuft. Wie alle anderen Haupthandlungsträger der Færeyinga saga führt auch die drei Neffen Þrándrs ihr erster Weg als aktiv auftretende Protagonisten ins Ausland. An der Textoberfläche erzählt der Abschnitt ein Kräftemessen zwischen den drei Männern und dem Hof – in auffälliger Parallele zur Tradition der Isländersagas und -þættir, die sich durchaus auch im Konflikt mit dem Hof aus Perspektive ihres Heimatlandes als tauglich erweisen.95 Im Fall von Sigurðr, Þórðr und Gautr erfolgt dabei jedoch kein Ehrerwerb, sondern ein Mord geschieht. Insofern stellen die jungen Männer zwar ihre ›Tauglichkeit‹ unter Beweis, allerdings höchstwahrscheinlich nur jene zur Ausführung von Þrándrs unsauberen Taten. Sie zeigen sich im Zuge dessen in teils ungewöhnlichen Rollen. Gautr hinn rauði bleibt im Erzählgang dabei randomisiert. Er wird weder beschuldigt noch findet er abseits des Aufbruchs der drei Männer nach Norwegen überhaupt Erwähnung. Angesichts der zurückhaltenden Charakteristik Þórðrs im Rest der Flateyjarbók fällt König Óláfrs Überlegung, er habe Þórálfrs Begleiter ausgeschaltet, allerdings ins Auge. Er würde damit seiner betonten Körperkraft alle Ehre machen und insofern das narrative Versprechen seiner ironischen Einführung einlösen. Ein Angriff von hinten, um seine Identifizierung unmöglich zu machen, würde sich dabei noch mit seiner überlegten Wesensart decken, und auch die Unterstützung seines Bruders als Mörder würde sich ins Muster von Þórðrs unbedingter Treue seiner Familie gegenüber fügen. Damit wäre allerdigs eine vermeintlich moralisch gefestigtere Persönlichkeit Þórðrs, wie Bick sie hervorhebt,96 nachhaltig als Trugschluss entlarvt. Einen Gegner hinterrücks, also heimlich, anzugreifen und ihm sogar noch die Augen zu verdecken, um damit eine Mordtat zu ermöglichen, widerspricht jedem sagagesellschaftlichen Ehrencodex. Die Rolle von Sigurðrs ›Schattenmann‹ passt zudem eher zu Gautr, und wird später hauptsächlich von diesem übernommen. Die Überwältigung von Þórálfrs Mann durch Þórðr würde diesen in Korrelation mit weiteren Ereignissen zurück auf den Färöern also in ungewöhnlicher Rolle zeigen: Er schiene dann keineswegs zurückhaltend und bedacht auf die Verbindung seiner Taten mit der Re-
94 Siehe bezüglich der zugehörigen Forschungsliteratur und des Einsatzes des Motivs in der Færeyinga saga Kap. 2.3 u. Kap. 4. 95 Ein Strukturelement von »Alienation« (darauffolgend aber auch »Reconciliation«, die im Rahmen der Færeyinga saga völlig fehlt) zwischen Protagonist und Herrscherhof sieht Harris 1972, S. 10–13 als konstitutiv für seine Gattungsvorstellung der Íslendingaþættir an. Zum wechselseitigen Test zwischen Isländer und König in den Reiseepisoden siehe auch Boulhosa 2005, S. 182–197. 96 Vgl. Bick 2005, S. 11.
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aktion seiner Umwelt vorzugehen, sondern eher wie ein Krieger, wagemutig und rücksichtslos, selbst wenn er seine Tat verschleiert ausführt. Interessant ist aber insbesondere der Rollenwechsel, den die Sigurðr in diesem Abschnitt durchmacht. Wenn er Þórálfr ermordet, so agiert er hier entgegengesetzt zu den Maßgaben seines Kriegerethos an anderer Stelle und kümmert sich nicht um seine Ehre, die er sonst hochhält. Er handelt nicht offen, sondern als heimlicher Verbrecher. Und auch anderweitig legt er hier einen gänzlich anderen Vorgehensmodus an den Tag als später, zurück auf den Färöern. Sein längster direkter Sprechpart im gesamten Text, die oben zitierte Gegenrede vor König Óláfr, ist auf eine Art und Weise gestaltet, die weniger an Sigmundr als sein Vorbild denken lässt, als vielmehr an seinen geschickten Onkel Þrándr und dessen rhetorische Fähigkeiten, die er auf öffentlichen Versammlungen unter Beweis stellt.97 Sigurðrs Argumentation ist zwar wahrheitswidrig, immerhin ist Þórálfr keineswegs sein fostbróðir, oder jedenfalls erwähnt der restliche Text nichts dergleichen. Inwiefern eine »Freundschaft« oder überhaupt eine Art von Kontakt zwischen beiden Männern besteht, lässt sich nicht belegen, scheint aber ebenfalls unwahrscheinlich. Dennoch ist Sigurðrs Argumentation durchaus logisch (em ec sva viti borin at…). Die anwesende Menschenmenge immerhin kann Sigurðr mit dieser für ihn sehr ungewöhnlichen Rede überzeugen. König Óláfr ist nicht überzeugt, stimmt Sigurðrs Vorschlag der Eisenprobe auf Bitten seiner Leute aber zu. Wenn Óláfrs Anschuldigung korrekt ist, zeigt sich hier die gleiche Problematik in Bezug auf das Eingehen auf die Bitten der Allgemeinheit, die auch Sigmundrs Leben bestimmt und seine Herrschaft letztlich zum Scheitern verurteilt hat. Schein und Sein sind zwei unterschiedliche Dinge, und auf die Allgemeinheit zu hören kann auf dem politischen Parkett ein mitunter gefährlicher Fehler sein. Interessant ist diese Parallele im Fehlverhalten Óláfrs und Sigmundrs unter dem Aspekt des Bezugs zwischen Sigmundr und Sigurðr: Auch im Zusammenhang mit Sigurðr zeigt sich das für seine Vergleichsfigur bestimmende Muster. Doch nicht Sigurðr unterläuft dieser Fehler, er kann daraus einen Vorteil ziehen, wie es üblicherweise sein Onkel Þrándr tut.98 Damit zeigt sich in diesem Abschnitt eine Umwertung der Sigurðr-Figur zum Charakterportrait im Rest der Færeyinga saga. Er scheint hier nicht als Abbild Sigmundrs gezeichnet, als Krieger, dem wenig politische Voraussicht gegeben ist, sondern als ein intelligenter Taktiker auf pari mit seinem Onkel. Er nimmt in diesem Abschnitt so die Rolle ein, die dieser zuvor selbst eingenommen hat und substituiert Þrándr in gewisser Weise, der zunehmend aus dem Sichtfeld der Narration verschwindet.99 Der spätere Konflikt zwischen Þrándr und Sigurðr ist damit insofern
97 Etwa während seines Friedensschlusses mit Sigmundr (Fær c. 24, S. 57–58) oder den Streitigkeiten um die Bußzahlungen (Fær c. 26, S. 63–64), ebenso wie während der Christianisierunsgepisode (Fær c. 30, S. 74–75; vgl. zu Þrándrs »explicitly legalistic language« in dieser Szene Bonté 2014b, S. 102). Vgl. näher auch Kap. 3.4.1. 98 Vgl. Kap. 3. 99 Vgl. Glauser 1989, S. 220.
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präfiguriert, als dass Sigurðr hier unter Beweis stellt, durchaus die notwendigen Fähigkeiten zu besitzen, um Þrándr den Rang ablaufen zu können. Er beweist Potenzial und zeigt an, ein erfolgreicher Politiker werden zu können. Dies nicht nur im Angesicht des Königs, sondern auch, als Sigurðr nachts nach der Rückkehr auf sein Schiff seinen Leuten vorschlägt, die Flucht nach Hause zu ergreifen: Þa m(ælti) S(igurðr) við þa foronꜹta. þat er satt at segia at ver hǫfom comit i micit vandqueþi oc orðit fyrir alygi micilli oc er konungr sia brǫgðóttr oc vélraðr oc mun ꜹðsǽr vár costr ef hann scal ráða. þviat hann let fyrst drepa Þoralf. en hann vill nu | gera os at óbóta monnom. er honom litit fyrir at villa járn burð þena. Nu ætla ec þan verr hafa er til þes hættir við hann. Nu legz oc inan eptir sundino fialla gol nockot. ræð ec þat at ver vindim segl vart oc siglim út á haf. fari Þrandr anat sumar með ull sina ef hann vill selia láta. En ef ec comumz a brot. þa þicki mer þes vón at ec coma aldri siþan til Noregs.100 (Da sprach Sigurðr zu den Fahrtgenossen: ›Man muss wahrhaftig sagen, dass wir in große Schwierigkeiten gekommen sind und mit einer großen Verleumdung beschuldigt wurden. Und dieser König ist listig und wohlberaten. Und unsere Angelegenheit wird offensichtlich sein, wenn er entscheiden soll. Denn er ließ zuerst Þórálfr töten. Und nun will er uns zu geächteten Verbrechern machen. Es ist ein Leichtes für ihn, diese Eisenprobe zu verfälschen. Nun glaube ich, dem geht es schlechter, der es gegen ihn darauf ankommen lässt. Nun kommt auch im Sund eine Brise von den Bergen auf. Ich rate, dass wir unsere Segel hochziehen und aufs Meer segeln. Soll Þrándr in einem anderen Sommer mit seiner Wolle fahren, wenn er sie verkaufen lassen will! Aber wenn ich fortkomme, dann scheint es mir hoffnungsvoll, dass ich nie mehr nach Norwegen komme.‹)
Sigurðr argumentiert ebenso scharfzüngig und (vermeintlich) logisch wie zuvor Óláfr selbst gegenüber. Wenn er sich der Lüge schuldig macht, stellt sein Verhalten eine sehr geschickte Inszenierung dar. Er erhält sogar vor seinen Männern den Schein aufrecht, dass der Impetus seiner Fahrt von Þrándrs Aufforderung zum Wollverkauf ausging und spielt den wütenden, aufgrund seines Onkels in Schwierigkeiten gekommenen Unschuldigen (fari Þrandr anat sumar…). Er beschuldigt sogar König Óláfr – unbestraft, denn die Flucht gelingt. Sigurðr stellt damit ein politisches Geschick auch in der Manipulation seiner Umgebung unter Beweis, das sich mit Þrándrs geschickten Selbstinszenierungen vor der Öffentlichkeit messen kann. Damit erweist sich der zuvor als stereotyper Krieger etablierte Sigurðr hier als fähiger und gewiefter Taktiker, der sogar König Óláfr den Heiligen selbst ausmanövrieren kann und damit davonkommt. Aus diesen Beobachtungen lassen sich gleichermaßen Schlüsse über die hintergründige Agenda der Darstellungsweise ziehen und Aussagen zur Funktionalisierung des hier angewandten »Travel Pattern« für die Figurenzeichnungen der Neffen Þrándrs treffen. Im Zusammenhang des Überlieferungskontexts für diesen Abschnitt der Færeyinga saga treten deutliche Spannungen zwischen dem oberflächlich präsentierten Handlungsgang und der sich möglicherweise dahinter verbergenden Ideologie der
100 Fær, S. 104–105.
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Texteinbindung zu Tage. Der Sinn der Erzählung von den Auseinandersetzungen Óláfrs des Heiligen mit den Färingern innerhalb der Óláfs saga helga wurde bisher vor allen Dingen auf die politische Agenda des axiomatisch festgelegten Autors Snorri Sturluson zurückgeführt, der damit den isländischen Unabhängigkeitsdiskurs konturiere.101 Akzeptiert man die grundsätzlichen Annahmen zur Zeitgebundenheit des Textes und der Autorschaft Snorris, ergeben sich sinnfällige Erklärungsmodelle für die Diskrepanzen der Darstellung. Vordergründig tritt Sigurðr als reiner, recht idealtypisch gestalteter und kluger Protagonist in Erscheinung. Er preist seine Ehre hoch, indem er die Anschuldigungen seines Onkels ob seiner Tatenlosigkeit nicht zu ertragen bereit ist und unmittelbar zur Reise aufbricht, auf der er seine guten Anlagen unter Beweis stellt. Von König Óláfr des Mordes bezichtigt tut er sich weiterhin als auf die Verteidigung der eigenen Ehre bedacht hervor und zeigt sich trotz seiner mangelnden Erfahrung in seiner Replik unerschrocken und überlegt in seiner Argumentation. Er misst sich mit dem König und hat dabei Erfolg, indem er sich weder beirren noch einschüchtern lässt, sondern sich als standhaft und unnachgiebig erweist. Sigurðr erreicht als Inselbewohner am Königshof damit das Maximum dessen, was dem Erzählschema des »Travel Pattern« nach bewerkstelligt werden kann: Er befindet sich gleichauf mit dem König selbst und weicht vor diesem nicht zurück, sondern fordert Autonomie ein. Óláfr lässt ihn, wenigstens auf Bitten seiner Hofgesellschaft, gewähren. Sigurðr erscheint dadurch an der Oberfläche des Erzählganges als Musterbild eines Protagonisten des Reisemotivs, sein Verhalten wirkt vorbildlich und gegebenenfalls sogar rühmenswert.102 Jede Verbindung 101 So Glauser 1994, S. 115. 102 In der Textredaktion B (AM 68 fol. und erster Teil von AM 61 fol.) wird dieser Eindruck hingegen massiv in Frage gestellt. Nach den Vorbereitungen zur Reise der drei Männer heißt es hier zusätzlich Þrandr karl atti lengi eintal við þa Sigurð ok Þorð aðr þeir foro heiman (Fær, S. 98 Anm. z. Z. 31; Der Kerl Þrándr hatte eine lange Unterhaltung mit Sigurðr und Þórðr, ehe sie von zu Hause fortfuhren). Auf See wird eine Abmachung zwischen ihrer Schiffsbesatzung und der Þórálfrs getroffen, at hvarir skyldo vera avðrum liþsinaþir hvers sem þyrfti (Fær, S. 98 Anm. z. Z. 32; dass jeder dem anderen Hilfe leisten sollte, bei allem, was nötig war). Sigurðrs Rede vor König Óláfr wird als absolute Leugnung der Anschuldigung zudem um folgende Sätze ergänzt: [Þ]ickir mer þvi betr er hon er frekari ger oc æk geta sem skiotaz þesso illmæli hrvndit at ollom goðom monnvm se þat avglíost at ver erom þesso lognir. Vil æk glict hrinda hvarotveggia malinv er konvngr stak os sneið um felavgvm at ver myndim hafa myrþa menn hans til fiar (Fær, S. 103 Anm. z. Z. 69–70; ›Es scheint mir besser, wenn sie [die Eisenprobe] strenger gehalten wird, und ich kann diese üble Nachrede schnellstmöglich von mir weisen, sodass es allen guten Männern offensichtlich ist, dass wir dabei zu Unrecht beschuldigt werden. Ebenso will ich die andere der beiden Angelegenheiten abweisen, über die der König uns Fahrtgenossen gegenüber spitze Bemerkungen machte, dass wir seine Männer aus Geldgier ermordet haben‹). Nach der Rückkehr Sigurðrs und seiner Leute wird zudem ergänzt, Þrándr habe nur fyrir alþyþo (Fær, S. 106 Anm. z. Z. 92; vor der Allgemeinheit) die Fahrt seiner Neffen missbilligt, während diese öffentlich ihre Interpretation der Geschehnisse in Norwegen auf den Färöern kundtun (Fær, S. 106 Anm. z. Z. 93). Durch solche Texteingriffe wird massiv die textliche Gesamtkonzeption verändert und Sigurðrs Vorgehen wesentlich stärker als Inszenierung entlarvt, indem deutlich mehr Indizien seiner Schuld im Text versammelt werden. Zudem wird der ganze Abschnitt viel stärker als gezielter Mordauftrag Þrándrs in Szene gesetzt, siehe auch Kap. 3.4.4.
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der Vorgänge zu Þrándr wird an der Textoberfläche zudem negiert.103 Die Färinger bieten damit zunächst ein Musterbeispiel ›freier‹, großbäuerlicher Standhaftigkeit und potenziell einen Paradefall auch isländischen Verhaltens am Königshof. Ironisch gebrochen wird dieser Befund durch die Tatsache, dass diese ›Musterhaftigkeit‹ nur als Ergebnis einer Mordtat möglich ist und insofern mit überaus unlauteren Mitteln erreicht wird. Daraus lassen sich politische Implikationen der textlichen Aussageintention ableiten. Óláfr tritt als gänzlich politischer Herrscher in Erscheinung.104 Dass sich die Färinger gegen ihn durchsetzen können, lässt sich als Ermunterung auch isländischen Unabhängigkeitsbewusstseins verstehen, wobei dieser Ideologie nach sogar drastische Mittel in einem solchen Machtkampf erlaubt zu sein scheinen – jedenfalls, solange sie nicht offensichtlich zu Tage treten. Der Ausgriff König Óláfrs auf die nordatlantischen Kolonien Norwegens erscheint dadurch doppelt abgewertet und in seiner Rechtmäßigkeit verneint: Diese Inseln wollen frei und selbstbestimmt leben, in der beschriebenen Zeit ebenso wie in der der angenommenen Textentstehung im 13. Jahrhundert. Zugleich zeigt sich Óláfr in seinem Eingehen auf die Bitten der Hofgemeinschaft und der Achtung vor der Einforderung des Gottesurteils als guter, christlicher Herrscher, dessen Herrschaft auf Konsens und der Achtung persönlicher Integrität seiner Untertanen ausgerichtet ist.105 Doch nicht allein ideologisch ist die Aufnahme des Abschnitts in den Gesamtablauf der Óláfs saga helga gerechtfertigt. Einerseits verlangt die historische Rahmensetzung einen Bericht der Besteuerung der Inseln durch König Óláfr,106 andererseits offenbart die politische Kurzsichtigkeit, die sich in Óláfrs milder Richtung nach der Meinung der hofgemeinschaftlichen Öffentlichkeit zeigt, dass seine Herrschaft nicht ewig währen wird. Die Rückkehr der Gesandschaft Karls, die er in Folge der Ereignisse auf die Färöer entsendet, erlebt er bereits nicht mehr auf dem Thron, wie der Text vorausdeutet: Karls Leute foro ꜹstr a fund | Olafs konungs. En þes varð eigi ꜹþit fyrir þeim ofriðe er þa hafþi gerzc i Noregi.107 Dieses baldige Ende von Óláfrs Herrschaft lässt seine zwar gerechte, aber kurzsichtige Behandlung der Färinger als narrative Vorausdeutung bereits leise erahnen. Die Abweichungen der Figurenkonzeptionierung insbesondere Sigurðrs lässt sich indes nicht allein vom Kontext ihrer Überlieferung und der Ideologie der größeren, texttragenden Óláfs saga her erklären. Mit Blick auf die Gesamterzählung der
103 Insofern lässt sich die Aussage stützen, Snorri sei dem »Königsfeind« Þrándr zugeneigt (Glauser 1994, S. 115). 104 Siehe auch Kap. 7.4.4. 105 Gerade im Rahmen der Flateyjarbók korrespondiert diese Königsdarstellung mit der Gesamtausrichtung des Codex, vgl. Würth 1991, S. 117–119 u. S. 131–147 zum Bild Óláfr Haraldssons in Saga und þættir. Besonders erscheint Óláfr durch seine Nachgiebigkeit auch gegenüber Sigurðr als gerechter Herrscher, der Männer nach ihren Taten allein beurteilt (vgl. Würth 1991, S. 140). 106 Vgl. Würth 1991, S. 63–64. 107 Fær, S. 124–125 (fuhren in den Osten zum Hof König Óláfrs. Aber es war nicht verheißen für sie, [dort rechtzeitig anzukommen,] wegen des Unfriedens, der da in Norwegen entstanden war).
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Færeyinga saga, also exklusiv im Kontext der Flateyjarbók, zeigt Sigurðr seine politischen Fähigkeiten einzig in diesem Abschnitt der Erzählung, in Norwegen, erzählstrukturell also im Zuge des »Travel Pattern«. Er befindet sich dort in einem narrativen Außenraum, der Potenziale zum Vorschein bringen kann, wie unter 2.3 gezeigt. Ebenso wie bei seinem narrativen Vorbild Sigmundr zuvor scheint dieser Erzählraum für die Entfaltung von Sigurðrs Potenzial geeigneter als die heimischen Färöer. Konzeptionell entspricht Sigurðrs Figurenzeichnung damit erneut recht genau der Sigmundrs, wobei seine Vorgehensweise und deren Darstellung gegenteilig die seines Onkels echot.108 Mit Þrándrs Auslandsfahrt zu Beginn der Færeyinga saga korrespondiert bei Sigurðrs schlagfertig-listiger Manipulation der Öffentlichkeit auch die Erzählentwicklung, die Darstellung eines heimlichen Verbrechens in destabilisierter Weise, die einen Täter nicht klar zu erkennen gibt. Statt Þrándrs Diebstahl ist es hier ein Mord, der begangen wird – und damit das zweite von Heusler so bezeichnete »lichtscheue Verbrechen«.109 Die Gesamtsequenz zeigt also einen den Plot der Saga rahmenden Rückbezug auf die Anfangsszene. Nimmt man König Óláfrs politische Kurzsichtigkeit in seinem Umgang mit Sigurðr hinzu, die an Sigmundr gemahnt, bildet der gesamte Ablauf der Konfrontation zwischen Sigurðr und dem König ein narratives Echo des Zweikampfes von Þrándr und Sigmundr. Ein skrupelloser, aber in politischer Hinsicht taktisch klug vorgehender Färinger schafft es, einen zu selbstbewussten und deshalb nachsichtigen und unklugen norwegischen Herrschaftsapparat zu besiegen. Dadurch erweist die Færeyinga saga, dass sich auch nach Sigmundrs Tod die Parameter nicht geändert haben. Sie stellt in diesem neuen Machtkampf zwei ähnlich auftretende Figuren gegenüber wie die beiden Protagonisten des vergangenen Handlungsteils. Durchsetzungsfähigkeit bedingt völlige Befreiung von Skrupeln, während eine sozial bedachte Handlungsmaxime aufgrund der Manipulierbarkeit der Umwelt als kurzsichtig und erfolglos aufgezeigt wird. Dabei schafft es Sigurðr hier, in Norwegen, die Handlungsweisen und Figurenkonzepte Þrándrs und Sigmundrs in sich zu mediieren. Wie die Darstellung Leifrs erweist,110 handelt es sich bei dieser Kombination letztendlich um die Rezeptur des wahren Erfolgs im Rahmen der Færeyinga saga. Sigurðr agiert hier so erfolgreich wie sein Onkel, während er es dennoch schafft, an der Erzähloberfläche wie eine so regelkonform gezeichnete Protagonistenfigur zu erscheinen wie Sigmundr. Damit erweist Sigurðr im Rahmen seiner initiatorischen Reise ins Außen der Färöer, dass auch er auf den Färöern ein erhebliches Mehr an Macht für sich einfordern und erkämpfen könnte. Doch leistet er zum Abschluss seiner Fahrt gleichsam einen Schwur, nicht mehr dorthin zurückzukehren (þicki mer þes vón at ec coma aldri siþan til Noregs). Mit dieser Entscheidung legt er letztendlich selbst den Grundstein seines Untergangs.
108 Vgl. zu den möglichen Folgen dieser Kombination im Rahmen der Erzählung auch Kap. 8. 109 Heusler 1911, S. 37. 110 Vgl. hierzu Kap. 6.
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5.3.3 Die Sendfahrt Karls von Møre und das Desaster der Königspartei auf den Färöern Wenn es sich bei der Auslandsfahrt von Sigurðr, Þórðr und Gautr nur um eine von Þrándr orchestrierte Inszenierung handelt, ist sie im Moment der Rückkehr der drei Männer noch lange nicht beendet: [L]ét Þrandr illa ifir ferð þeira. þeir sv(oruðu) eigi vel. oc voro þo heima með Þrandi.111 Auch für König Óláfr ist die Angelegenheit allerdings noch nicht beigelegt, und so geht der Konflikt zwischen ihm und den Färingern in eine zweite Runde. In diesem zweiten Abschnitt des Konflikts verändern sich auch die Rollenzuweisungen der anderen beiden Neffen Þrándrs abgesehen von Sigurðr. So erhält Gautr seinen einzigen Sprechakt, während der sonst zögerliche Þórðr sich aktiv mit einer Gewalttat hervortut. Nach der Ermordung Þórálfrs schickt König Óláfr seinen nunmehr mit ihm verbündeten, alten Feind Karl von Møre als seinen Gesandten auf die Färöer. Nur dieser erklärt sich bereit, den Wünschen seines Königs zu folgen, während sich der Rest der Hofgesellschaft aus der Fahrt herausredet.112 Karl fährt auf die Färöer, wo er auf dem Þing mit Leifr und Gilli zusammentrifft, und anschließend mit Þrándr, der ihn unmäßig schmeichlerisch begrüßt. Da er Karl nicht zu sich einladen kann, der bereits von Leifr aufgenommen wird, treibt Þrándr im Auftrag Karls und des Königs die Steuern im nördlichen Teil des Archipels ein. Das folgende Þing im nächsten Jahr besucht Þrándr sem vandi hans var, obwohl er hafþi ꜹǵ na þunga. oc þo en kramar aðrar.113 Wenigstens dem Anschein nach gibt sich Þrándr als alternder, langsam gebrechlich werdender und zudem königstreuer Mann. Wegen seines Augenleidens lässt er seine Þingbude innen schwarz auskleiden und empfängt Leifr und Karl bettlägerig. Er händigt den beiden Männern einen Beutel mit schlechtem Silber aus und schiebt die Schuld an der mangelnden Qualität dieser Steuereinnahmen seinen Neffen zu: [E]igi ero þeir þo meðal man niþingar frændr várir […] en þeir hafa tekit mútur af bǫndum.114 Der zweite Silberbeutel, den Þrándr an Leifr und Karl aushändigen lässt, enthält Einnahmen aus seinen eigenen Besitzungen, doch auch dieser ist den Männern des Königs nicht gut genug, um ihn als Steuerzahlung entgegen zu nehmen. Daraufhin ereignet sich folgende Szene: Maðr ein sá er lá i pallinom kastaði felldi af hofþe ser oc mælti. Satt er hit fornqueþna. Sva ergiz hver sem eldiz. sva er þer oc Þrandr. lætr Karl hin *mørsca reka fe fyrir þer i allan dag. | þar var
111 Fær, S. 106 (Þrándr gefiel ihre Fahrt schlecht. Sie antworteten nicht gut. Und waren dennoch zu Hause bei Þrándr). 112 Fær c. 47, S. 107–111. Siehe hierzu auch Kap. 7.4.4. 113 Fær, S. 115 (wie es seine Angewohnheit war; ein schweres Augenleiden, und doch auch noch andere Krankheiten hatte). 114 Fær, S. 119 (›Dennoch sind unsere Verwandten nicht unter die Verräter zu zählen […]. Aber sie haben Bestechungsgelder von den Bauern genommen‹).
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Gꜹt́ r hin rꜹð́ i. Þrandr liop up við orð Gꜹt́ s oc varð málóðe. veitti þeim stórar átǫlor frændom sinom.115 (Ein Mann, der auf der Querbank lag, warf den Pelz von seinem Kopf und sprach: ›Das alte Sprichwort hat Recht: Feige wird man im Alter. So auch bei dir, Þrándr. Karl von Møre lässt den ganzen Tag Geld vor dir verstreuen.‹ Das war Gautr der Rote. Þrándr sprang bei Gautrs Worten auf und schimpfte wütend. Er hielt seinen Verwandten eine starke Rede.)
Þrándr überreicht nach seinem Wutausbruch seinem ehemaligen Ziehsohn einen dritten Beutel Silber, den ihm die Bewohner seiner Ländereien selbst bezahlt haben. Daraufhin meldet sich nach Gautr auch Þórðr mit Kritik an seinem Onkel zu Wort: [E]igi hliotum ver meðal orða scack af honom Mǫra k(arli) oc veri hann lꜹ ́na firir verþr.116 Das erhaltene Geld wird von Karl vor Þrándrs Þingbude ausgezählt, als der Mann mit dem refði vor ihm erscheint und ihn vor diesem Gegenstand warnt.117 Sigurðr erschlägt einen Angehörigen von Gillis Þingmannschaft, wodurch er Leifr ablenkt, während Gautr und Þórðr Karl erschlagen: En Karl sat eptir. þeir Austmenninir stoðo i hring um hann. Gꜹt́ r rꜹð́ i liop at oc hió með handeyxi ifir herðar monnom oc com hǫg þat i hǫfuð K(arli) oc varð sár þat ecki micit. Þorðr lági greip up refþit er stoð i vellinom oc *lystr a ofan ø̨xar hamarin. sva at ø̨xin stóð i heila.118 (Aber Karl blieb sitzend zurück. Die Norweger standen im Kreis um ihn herum. Gautr der Rote lief auf ihn zu und schlug mit der Handaxt über die Schultern der Männer, und dieser Schlag traf Karl am Kopf und die Wunde war nicht groß. Þórðr der Kleine griff den Stab, der in der Erde steckte, und schlug von oben auf den Axthammer, sodass die Axt im Hirn stecken blieb.)
Obwohl Þrándr Bußzahlungen anbietet, werden seine Neffen daraufhin geächtet. Dieser Abschnitt der Færeyinga saga zeichnet sich, ebenso wie Sigurðrs, Þórðrs und Gautrs Norwegenfahrt, durch einige Besonderheiten in der Figurenzeichnung aus. Þrándr erscheint auf der Textoberfläche selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich defensiv, sogar unterwürfig, und entgegen jeglicher seiner Gewohnheit überaus freigiebig mit seinem Geld.119 Seine Neffen befinden sich unvermittelt in Opposition zu ihm. Bemerkenswert ist, dass der Vorwurf an Þrándr, argr, also ›unmännlich‹, zu sein, gerade vom sonst so blassen Gautr geäußert wird, demjenigen unter seinen Neffen, der am wenigsten eigene Initiative vorweisen kann und der allein als systur son Þrandar eingeführt wurde.120 In seiner kaum vollwertig ausgestalteten Figurenzeichnung entspricht er der scheinbaren Bedeutungslosigkeit weiblicher Figuren in Þrándrs Familienzweig. Das Sprichwort Sva ergiz hver sem
115 Fær, S. 120. 116 Fær, S. 121 (›Wir erhalten keine durchschnittlichen Scheltworte von diesem Møre-Kerl, und er wäre den Lohn dafür wert‹). 117 Siehe hierzu näher Kap. 3.4.4. 118 Fær, S. 123. 119 Zu Þrándrs anderweitiger Versessenheit auf Finanzen vgl. näher Kap. 3.3. 120 Fær, S. 81 (Schwestersohn Þrándrs).
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eldiz ist seine einzige direkte Rede im gesamten Text. Bezeichnender Weise wird der darin implizite Vorwurf damit von gerade der Figur geäußert, die selbst die fehlende Weiblichkeit in Þrándrs Familie symbolisiert, welche dieser auch durch sein eigenes ›unmännliches‹ Verhalten kompensiert. Der zögerliche Þórðr ist daneben derjenige, der den Königsgesandten erschlägt und sich zuvor aktiv für eine Wiedergutmachung des eigi meðal orða scack ausspricht, gänzlich in Diskrepanz zu seiner vermeintlich moralischen Zurückhaltung an anderer Stelle. Immerhin gibt selbst Þrándr an, die Entrichtung der Steuern sei nur recht und billig, wodurch die »Scheltworte« des Norwegers angesichts schlechten Geldes rundheraus gerechtfertigt erscheinen. Sigurðr indes meldet sich überhaupt nicht zu Wort und tritt im gesamten Kapitel nur indirekt in Erscheinung, als er Gillis Budenmann erschlägt. Auch hier ist seine Rolle insofern ungewöhnlich: Zwar tritt er nun wieder als Kämpfer auf, und insofern als Vorderster des Dreiergespanns der Neffen Þrándrs, da er durch sein Ablenkungsmanöver Gautrs und Þórðrs Totschlag ermöglicht, doch ist seine Präsenz in der Erzählung abrupter Weise sehr schwach und zurückgezogen, ganz im Gegensatz zu seiner üblichen Vorreiterrolle. Insgesamt scheint der Abschnitt um den Konflikt zwischen König Óláfr und den Färingern damit eine Rolleninversion in der Zeichnung von Þrándrs Neffen anzulegen. Sigurðr, der zuvor die aktive Kampfkraft seines Onkels symbolisiert hat, erweist sich als kluger und listiger Mann, der sogar gegen Óláfr den Heiligen bestehen kann, während seine im Vorhergehenden nur marginal im Text präsenten Bruder und Cousin sich hier selbst als Figuren im eigentlichen Sinne konstituieren. Dabei agieren sie auf eine Art und Weise, die sie in den Schlusskapiteln der Saga schnell wieder ablegen. In den Ereignissen auf den Färöern in Folge der Norwegenfahrt der drei Männer setzt sich, mit Blick auf die Überlieferungssituation des Textes, insofern die oben ausgearbeitete Textkonzeption, die üblicherweise Snorri zugeschrieben wird, fort. Sigurðr wird an der Textoberfläche geschützt, indem er zwar das Unrecht des Fintenangriffs begeht, der seine Bestrafung durch Acht nach sich zieht, damit jedoch nicht direkt gegen den Gesandten des Königs vorgeht und sich ansonsten im Hintergrund hält. Er scheint so eher das Gehirn hinter den Taten der Königsgegner darzustellen, während seine beiden Verwandten linkisch und verurteilenswert wirken. Sie sind es, die tatsächlich gegen den Mann des Königs vorgehen, die sich lauthals gegen die Rechtmäßigkeit von Karls und Leifrs Bestehen auf den bestmöglichen Tributen aussprechen und die dadurch oberflächlich die Schuld für das Desaster der Königspartei auf den Färöern auf sich ziehen. Auch ihre Darstellung dient somit dem Schutz Sigurðrs und seiner Art des Widerstandes, der durch die Verdeckung der genauen Abläufe bis zum Ende im Totschlag an Karl aus der Perspektive nordatlantischer Unabhängigkeit rühmenswert erscheint. Die Inselgesellschaft, die der oberflächlich als idealer Protagonist dargestellte Sigurðr repräsentiert, lässt sich durch den ausländischen König nicht knechten – und behält Erfolg, schon weil sich die färöischen Angelegenheiten zeitgleich zur politischen Niederlage König Óláfrs in Norwegen ereignen. Die übrigen Männer aus Karls Fahrtgemeinschaft treffen den
5.3 Ok váru þó heima með Þrandi – Þrándrs Neffen, Þrándrs Werkzeuge
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König nicht mehr, der das Land und seine Herrschaft verlassen muss.121 Die Einbindung der Textabschnitte aus der Færeyinga saga in die Óláfs saga helga dient damit insgesamt zur Illustration des politischen Scheiterns des großen Königs: Wie er bei seinem Besteuerungsversuch der Färöer scheitert, so ist auch seine Königsherrschaft in Norwegen an ihrem Ende angelangt. Kristallisationsfigur dieses Scheiterns ist der Färinger Sigurðr Þorláksson, der den König erfolgreich in seine Schranken verweisen kann. Óláfr scheitert damit letztendlich an ihm als Einzelperson. Sigurðrs Zeichnung in diesem Abschnitt ließe sich aus Perspektive des 13. Jahrhunderts und Snorris so womöglich als Symbolfigur isländischen Selbstverständnisses auffassen. Während all dem rückt Þrándr auf der Textoberfläche hier völlig in den Hintergrund des Geschehens. Der Erzähler klammert Þrándr vordergründig aus den Aktionen seiner Neffen aus und lässt den Eindruck eines älter werdenden Mannes entstehen, der seine übrigen Ziehsöhne, die anders als Leifr nicht zu Königsmannen geworden sind, zu größeren Taten anspornen will, indem er sie auf Handelsfahrt schickt. Selbst verhält er sich scheinbar den Konventionen entsprechend: Er gibt vor, seinen Platz zu kennen, und dient sich der Königspartei an. Scheinbar hat er seine Neffen dabei nicht mehr im Griff, denn statt Handel zu treiben, werden sie in Norwegen in einen Mordfall verwickelt, lehnen sich offensiv gegen die Politik ihres Onkels und Ziehvaters auf und handeln in allem entgegengesetzt zu dem, was Þrándr wenigstens vorgibt, für sie im Sinn zu haben. Dieser Eindruck ändert sich nur mit Blick auf den längeren Gesamttext der Færeyinga saga in der Flateyjarbók. Trotz seiner vordergründigen Entfernung aus den Geschehnissen wird der Abschnitt hintergründig von Þrándr als Handlungsträger und Gegner Óláfr Haraldssons dominiert: Er verbirgt sich wohl hinter dem Mann mit dem refði, und der gesamte, öffentlich ausgetragene Dissens zwischen ihm und seinen Neffen scheint letztlich nur eine Inszenierung zu sein.122 Wie zu Beginn der Saga in der Haleyri-Szene sind es so Þrándrs Aktionen, die durch die destabilisierte Erzähltechnik verborgen werden. Wie während der Zeit von Sigmundrs vordergründiger Herrschaft präsentieren sich die Ereignisse auf den Färöern als Machtkampf zwischen Þrándr und den norwegischen Königen als eigentliche Protagonisten um die Vorherrschaft auf dem nordatlantischen Archipel.123 Indizien, die diese Interpretation stützen, finden sich vermehrt auch im folgenden Kapitel der Saga, das nur in der Flateyjarbók überliefert ist und direkt an den Bericht von Karls Tod anschließt. Nachdem die Acht über Þrándrs Neffen verhängt wurde, verschafft er ihnen die Möglichkeit, außer Landes zu gelangen, indem er ihnen ein Schiff gibt. Der (inszenierte?) Streit zwischen Onkel und Neffen hält indes an: [H]afa þeir atὀlur myclar vid Þrand.124 Trotz eines Sturms stechen die Männer unter der Führung des wage-
121 Siehe Fær c. 48, S. 124–125. 122 Vgl. Foote 1984c, S. 177–184; Ólafur Halldórsson 2001, S. 73–77; North 2005, S. 69–70. Vgl. auch Kap. 3.4.4. 123 Siehe auch Kap. 7.4. 124 Fær, S. 126 (Sie erhoben große Vorwürfe gegen Þrándr).
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mutigen Sigurðr in See. Bald darauf werden Bruchstücke des Schiffes an Land aufgefunden, ok er uetr kom gerduzst aftur gỏngur myklar j Gỏtu ok vida j Austr ey ok synduzst þeir oft frændr Þrandar. ok uard mὀnnum at þessu mikit mein sumir fengu bæín brot edr ὀnnur meitzsl þeir sottu Þrand suo míog at hann þordi huergi æínn at ganga vm uetrinn var nu mikit ord aþessu.125 (und als der Winter kam, gab es großen Wiedergängerspuk in Gasse und weit auf der Ostinsel, und oft erschienen die Verwandten Þrándrs. Und den Leuten entstand daraus viel Übel; einige erlitten Knochenbrüche oder andere Verstümmelungen. Sie suchten Þrándr so oft heim, dass er im Winter nirgends alleine hinzugehen wagte. Nun entstand viel Gerede darüber.)
Während Þrándr versucht, das Tragen von Waffen auf dem Þing per Gesetz verbieten zu lassen, erscheinen auf diesem Þing plötzlich die Totgeglaubten vor Leifr und Gilli: [O]k nu sia þeir austr a eyna undir solína at a hofda þann er þar var ganga upp menn æigi allfaír þar til er þeir sea xxx manna þar blika vid sol skínínu skilldir fagrir ok hialmar skrautligir. ỏxar ok spiot ok uar þat líd hít hardligsta þeir sea at madr gek firir mikill ok uaskligr j raudum kyrtli ok hafde half lítann skiolld. blan ok gulan hialm ahofdi ok hogg spíot mikid j hende þeir þottuzst þar kenna S(igurd) Þorlaks son þar gek madr hid næsta honum þrekligr j raudum kyrli ok hafde raudan skiold: at visu þottuzst þeir þenna kenna at þar var Þordr lagí hinn þride madr hafde raudan skiỏld ok dreginn a mannfai ok mikla auxí j hennde þar var Gautr raude.126 (Und nun sehen sie östlich auf der Insel unter der Sonne, dass nicht wenige Männer auf die Landspitze, die dort war, hinauf gehen, bis sie 30 Männer sehen. Dort blinken im Sonnenschein schöne Schilde und prächtige Helme auf, Äxte und Speere, und diese Gruppe war sehr grimmig. Sie sehen, dass ein Mann davor geht, groß und mannhaft, in rotem Oberrock, und er hatte einen zweifarbigen Schild, einen blauen und gelben Helm auf dem Kopf und einen großen Hiebspeer in der Hand. Sie glaubten, dort Sigurðr Þorláksson zu erkennen. Dort ging ein Mann neben ihm, robust und in rotem Obergewand und er hatte einen roten Schild. Sie glaubten, diesen sicher zu erkennen, dass es Þórðr der Kleine war. Der dritte Mann hatte einen roten Schild und eine menschliche Figur darauf gezogen und eine große Axt in der Hand. Es war Gautr der Rote.)
Die cinematographische Szene evoziert eine Überraschung der Rezipienten ebenso wie der sie wahrnehmenden Figuren Leifr und Gilli.127 In diesem Moment offenbart sich Þrándrs vermutete Inszenierung als solche, da er anschließend Sigurðr, Þórðr und Gautr aus der Acht löst und eine Neueinteilung der Herrschaftsbereiche auf den Färöern vornimmt.128 Wie in der Haleyri-Szene und während der Norwegenreise zuvor sind die Erzählstimme und ihre Darstellungsweise an dieser Stelle instabil. Es werden nur sinnliche Eindrücke der beteiligten Figuren geschildert, die ange-
125 Fær, S. 126. 126 Fær, S. 126–127. 127 Für eine nähere Untersuchung der perspektivischen Erzähltechnik, ihres Funktionierens und ihrer Funktion siehe Heinrichs 1974, S. 194–197 u. S. 203–205. 128 Vgl. näher Kap. 3.4.4.
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schwemmte Wrackteile am Strand finden und später Gerüchte über Wiedergängerei hören, oder selbst dabei in Mitleidenschaft gezogen werden. Inwiefern Þrándr in diese Vorgänge eingeweiht ist, oder ob er selbst zunächst auch von seinen Neffen getäuscht wird, wird nicht eindeutig klar.129 Doch da er derjenige ist, der am meisten profitiert und der den Vorschlag der Waffenlosigkeit auf dem Þing macht, scheint es gerechtfertigt, ihn selbst als die Triebkraft hinter den Ereignissen anzunehmen. Sigurðr, Þórðr und Gautr treten unvermittelt wieder in ihren typischeren Rollen in der Gesamterzählung der Flateyjarbók auf: Sie stellen sich als die weiterhin nur von Þrándr benutzten Handlanger heraus. Durch die überraschende Wiederkehr auf dem Þing wird insbesondere Sigurðr in die Rolle zurückversetzt, die er vor seiner Reise nach Norwegen eingenommen hat und die sich nach Abschluss dieses Konflikts vollständig konstituiert. Er ist der vorderste von Þrándrs Neffen, ein Krieger, der dann erfolgreich handeln kann, wenn er von seinem Onkel eingesetzt und geleitet wird. Am nächsten kommt er Sigmundr, wie hier auch sein Erscheinungsbild deutlich macht. Seine an die Pracht höfischer Ritterfiguren erinnernde Aufmachung ist der Beschreibung von Sigmundrs Kampfharnisch und Ausrüstung bei seinem Angriff gegen Ǫzurr verschwistert.130 Insofern zeichnet der hier untersuchte Teil der Færeyinga saga in Bezug auf das Verhältnis zwischen Þrándr und seinen Neffen ein zwiespältiges Bild. Einerseits treten Sigurðr, Þórðr und Gautr hier erstmals als eigenständige Figuren in Erscheinung. Eine Unterschiedlichkeit ihrer Persönlichkeiten untereinander, aber auch im Vergleich zu ihren eigenen Portraits im Schlussteil der Saga sowie zum übermächtigen Þrándr wird etabliert und Konfliktpotenzial angelegt. Andererseits aber erklärt sich der Gesamtablauf der Handlung schlüssig vor allem vor dem Hintergrund des weiter ungebrochenen, bloßen Einsatzes seiner Neffen durch Þrándr. Auch wenn der Streit nur Inszenierung ist, scheint er trotzdem auf den bald folgenden Bruch zwischen Þrándr und den drei Männern vorauszudeuten. Hier schlagen wohl die Besonderheiten der Textüberlieferung zu Buche – die hier zu Tage tretende Konzeption von Sigurðr, Þórðr und Gautr wirkt von der ihrer Figuren im Rest der Saga durchaus verschieden. Im Gesamttext der Færeyinga saga bleiben auch die abweichenden Figurenzeichnungen des Abschnitts dennoch stimmig: Potenzial ist Þrándrs Neffen durchaus gegeben. Sigurðr ist unmissverständlich der Rädelsführer des Trios, Þórðr trägt seinen ironischen Beinamen nicht umsonst und dass gerade Gautr die ergi-Formulierung ausspricht, korrespondiert auf ebenso ironische Art mit seiner schattenhaften Rolle in der Gesamterzählung. Zudem agieren Sigurðr und seine Verwandten eben doch nach wie vor nur als Werkzeuge in Þrándrs Machtspielen. Sie erledigen – ob bewusst oder auch nur unbewusst – den Teil, der ihnen von ihrem Onkel zugedacht ist. Obwohl an der Textoberfläche zunehmend als alternder und schwächlicher werdener Mann gezeichnet, bleibt Þrándr bis zu seiner königs-
129 Vgl. Heinrichs 1974, S. 204. 130 Vgl. Klettskarð 2000, S. 56–57. Siehe auch Kap. 4.3.2 (Fn. 250).
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gleichen Entscheidung über die Herrschaft der Färöer die dominante Figur, und dominiert auch die nächste Generation des Konflikts in Gestalt seiner Neffen vollständig. Genau diese völlige Dominanz aber rächt sich am Ende der Saga: Þrándr teilt die Herrschaftsbereiche auf den Färöern auf, zwischen sich selbst, Leifr und Sigmundrs Söhnen. Dabei bedenkt er allerdings seine eigenen Neffen keineswegs, erstaunlicherweise, angesichts der Tatsache, dass er sich unter Verweis auf sie und ihren Willen zur Machtbeteiligung ursprünglich offen gegen Sigmundr aufgelehnt hat. Dieser gegen Sigmundr vorgebrachte Gedanke scheint für Þrándr aber mittlerweile bedeutungslos, eine Machtbeteiligung seiner Neffen hat er offensichtlich nicht im Sinn. Es ist diese Tatsache und die aus ihr folgenden Entscheidungen, die sich schließlich fatal für Þrándrs Herrschaft auswirken und den färöischen Machtkonflikt entscheidend mitbeeinflussen.
5.4 Der Untergang von Sigurðr, Þórðr und Gautr 5.4.1 Nicht länger benötigte Werkzeuge und die Auswirkungen des Bruderstreits: Þrándrs Trennung von seinen Neffen Tatsächlich eigenständige Handlungen führen Þrándrs Neffen erst während des insgesamt sehr knapp gehaltenen Schlussteils der Erzählung aus, und dies nur gezwungenermaßen. Nachdem ihr Onkel und Ziehvater – dank ihrer Hilfe – den Zenit seiner persönlichen Macht erreicht hat und wie ein König über die anhaltenden Konflikte entscheiden kann, trifft er die zweite fatale Entscheidung seines Lebens.131 Er nimmt eine Teilung der Herrschaftsbereiche auf den Färöern vor. Allerdings denkt er dabei nicht im geringsten an seine eigenen Verwandten und bisher stets treuen Erfüllungsgehilfen: riki þau er her erv j Færeyíum vil ek þat skipti a gera at ek hafui þridung anan L(eifr) þridea s(ynir) Sigmundar.132 Wieder zeigt sich Þrándrs Favorisierung, sogar Nepotismus, des fremden Ziehsohns über seine tatsächlich Blutsverwandten, die er ebenfalls erzogen hat. Ihm schmeichelt er, entgegen der im Text zuvor geschilderten Tatsachen, damit, dass er wegen der Herrschaftsaufteilung Schwierigkeiten habe erdulden müssen – dabei hat Þrándr Leifr als einzigen stets an seiner Herrschaft mitbeteiligt. Auch die Sigmundssöhne, die bisher keinerlei Rolle in der Erzählung gespielt haben, erhalten den ihnen im Grunde schon von Rechts wegen gebührenden Teil der Herrschaft. Seine eigenen Neffen aber erwähnt Þrándr mit keinem Wort, nachdem er die Acht über sie aufgehoben hat.
131 Die erste war die Entscheidung, seinen Leifr Ǫzurarson mit Sigmundrs Tochter Þóra zu verheiraten, siehe hierzu näher Kap. 3.4.5. 132 Fær, S. 127 (›Bei den Herrschaftsbereichen hier auf den Färöern will ich die Veränderung setzen, dass ich ein Drittel habe, das zweite Leifr, das dritte die Söhne Sigmundrs.‹).
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Þrándrs Schmeichelei und die Machtbeteiligung Leifrs entspringen auch politischer Notwendigkeit und Berechnung, da er immerhin Leifrs Machtbereich als Vertreter der nominell einzig herrschenden Königspartei auf den Färöern durch die Dreiteilung der Kompetenzen mit Abstand am stärksten beschneidet. Gleichzeitig nimmt er zwar auch seine Neffen als Ziehsöhne an, doch äußert sich die besonders tiefe Verbindung und große Herzlichkeit zwischen Ziehvater und Ziehsohn, wie die Isländersagas sie kennen,133 nur im Verhältnis zwischen Þrándr und dem nichtblutsverwandten Leifr.134 Darin mag sich eine Ansicht Þrándrs seiner Neffen als gewissermaßen ›notwendiges Übel‹ ausdrücken: Sein Bruder schon stand seinen eigenen Ambitionen im Weg und wurde von ihm entsprechend aus dem Spiel der Mächte ausgeschlossen.135 Dessen Nachkommen bedeuten nun gleichsam eine Rückkehr von Þorlákrs Verlangen nach eigenem Einfluss. Insofern muss Þrándr ihre Interessen bedienen, aber im Grunde sind sie seinen Herrschaftsprinzipien und ihrer Durchsetzung hinderlich. Sie bereichern das politische Parkett um eine Partei, ohne die Þrándrs Amibitionen sich einfacher durchsetzen ließen. Ihr Vorwurf im Zuge der oben untersuchten, wohl inszenierten Streitereien, ihr Vatererbe an sich gerissen zu haben, betrifft Þrándrs maßgeblich auf seine Ländereien begründete Herrschaftsstrategie in ihrem Innersten. Die dort getätigte Aussage mag es also sein, die ihn hellhörig und auf die Problematik im eigenen Haushalt aufmerksam macht. Durch seine in Norwegen zu Tage tretenden Potenziale zeigt sich Sigurðr zudem als Mann, der Þrándr ernsthaft bedrohen könnte. Unvermittelt scheint so die grundsätzliche Gefährdung seiner Machtträume wieder auf, die Þrándr in Gestalt seines Bruders ganz zu Anfang seines Lebens bereits beseitigt zu haben glaubt. Sigurðr entpuppt sich jedoch als wahrer Sohn und Erbe seines Vaters, der nicht bereit ist, die Enterbung um den angestammten Landbesitz ebenso klaglos hinzunehmen, wie es sein Vater getan hat. Þrándrs Taten drohen damit, unvermutet auf ihn selbst zurückzufallen. Damit zeigt die Færeyinga saga, dass in der Politik selbst vermeintlich schnell erledigte Episoden und Taten eine unvermutet große und langfristige Wirkung zeitigen können. Der Konflikt zwischen Þrándr und seinem Bruder wird erstaunlich unproblematisch in nur wenigen Sätzen zu Beginn der Saga abgehandelt, legt aber das Thema an, das sich hier schließlich als der Stolperstein des listigen, selbstgekrönten Königs der Färöer erweist und schließlich sein Schicksal besiegelt. Den eigenen Bruder zu Beginn seiner Karriere notwendigerweise ausgeschaltet haben zu müssen, rächt sich am Ende seines Lebens an Þrándr. Einstweilen glaubt Þrándrs jedoch offenbar, sich der ungeliebten Partei ebenso leicht entledigen zu können wie einst seines Bruders. Obwohl sie nachdrücklich
133 Vgl. Miller 1990, S. 171–173. 134 Vgl. auch Kap. 6. 135 Vgl. Kap. 3.2.2: Den Grundstein seiner gewissermaßen ›landesherrschaftlichen‹ Macht kann Þrándr nur durch die Enterbung des eigenen Bruders und die Verpachtung der Ländereien zu horrenden Preisen legen.
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ihre Machtansprüche angemeldet haben, bedenkt er sie bei seiner Entscheidung nicht und wirft sie sogar unvermittelt aus seinem Haushalt: [Þ]a kemr hann at male vid þa ok sagde at hann vill æigi at þeir se þar leingr vit oþrifnnat sínn ok at ferdar leyse Sigurdr suar(ar) illa q(uad) hann illz æíns unna ollum frændum sínum ok segir hann sitia yfir fỏdur arfui sínum attuzst þa hart vid j ordum foru þeir þa j brott þrír frændr.136 (Da kommt er mit ihnen ins Gespräch und sagte, dass er nicht wolle, dass sie länger dort blieben mit ihrer Trägheit und Untätigkeit. Sigurðr antwortet übel; er sagte, er vergönne allen seinen Verwandten nur Übles, und er sagt, er säße auf seinem Vatererbe. Sie gerieten da in einen heftigen Wortstreit. Die drei Verwandten fuhren da fort.)
Auch in Folge seines aufgrund der Angaben kurz zuvor insinuierbaren Erfolgeplans137 entscheidet Þrándr, dass Sigurðr, Þórðr und Gautr, gerade ohne leiblichen Erben auch gefährlich für seine eigene Position auf den Färöern, sicher aus seinem Haushalt entfernt werden können. Es mag sein, dass er glaubt, sie auch aus der Ferne kontrollieren zu können, oder dass sie – nach einer Vertreibung wie bei Þorlákr – kein aktives Gefahrenpotenzial darstellen. Alternativ wäre auch denkbar, dass er von ihnen eine weitere Handelsreise nach seinem eigenen Vorbild erwartet, zumal Sigurðr in Norwegen seine Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hat. Umso inkonsequenter wirkt jedoch der Glauben, ihn unter Kontrolle halten zu können, indem Þrándr ihn einfach aus seinem Haus entlässt. Þrándr miskalkuliert in diesem Moment in dramatischer Weise. Er selbst sorgt dafür, dass die zuvor vermutlich nur gespielten Unstimmigkeiten zwischen ihm und seinen Neffen in Realität umschlagen. Mit der Verweisung aus seinem Haushalt konfrontiert wirft Sigurðr seinem Onkel wie schon vor dem Aufbruch der drei Männer in die zeitweilige Landesverweisung die ungerechtfertigte Inbesitznahme des väterlichen Erbes vor, eingedenk wohl auch Þrándrs stetiger Bevorzugung seines Ziehbruders. Er verleiht damit seiner verletzten Ehre und dem Gefühl ungerechter Behandlung Ausdruck. Die Entscheidung, sich nicht außer Landes zu begeben, um sich dort die Voraussetzungen für einen Aufstieg zu sichern, mag auch als Trotzreaktion gegen Þrándr zu lesen sein. Sigurðr verspricht vor der Flucht aus dem Einflussbereich Óláfrs des Heiligen, nicht mehr ins Ausland zurückzukehren. Er will seine eigene Macht auf den Färöern umgesetzt sehen, mit oder ohne Þrándrs Unterstützung. Þrándrs Neffen unter Führung von Sigurðr entscheiden sich daher dazu, den Versuch zu unternehmen, eigene Herrschaftsbereiche auf den Färöern zu erstreiten. Dabei bedenken sie allerdings
136 Fær, S. 128. 137 Vgl. North 2005, S. 71–72; vgl. näher auch Kap. 3.3. Angesichts von Þrándrs vermutlicher Erkenntnis der Tatsache, dass seine Neffen ihm die Ausbootung des Vaters tatsächlich vorwerfen, wird dieser Punkt virulent. Stirbt er, mittlerweile im hohen Alter, ohne einen Nachfolger, so ginge all sein Besitz an seine Neffen über. Da er seinem Bruder den väterlichen Besitz bereits nicht gönnen konnte, steht nicht zu erwarten, dass dies sich bei seinen Neffen anders verhält.
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nicht, dass für sie hier kein Platz vorgesehen ist, wie Þrándrs Aufteilung der färöischen Teilherrschaften unterstreicht. Mit seinen Begleitern entscheidet sich Sigurðr dennoch, seine Machtansprüche und Energien auf den Färöern selbst freizusetzen, wodurch sie die dort mittlerweile etablierte Machtbalance stören – ihr Scheitern als reine Störfaktoren in der durch Þrándrs Entscheidung errichteten und fein austarierten Machtstruktur auf den Inseln ist damit vorprogrammiert. Das Vorgehen der drei Männer in den abschließenden Kapiteln der Færeyinga saga wurde in der bisherigen Forschung weitestgehend als inakzeptabel im Rahmen der Moralnormen der Sagagesellschaft, als egoistisch, destruktiv und verbrecherisch, gar terroristisch, beurteilt.138 Sie verübten insgesamt nicht mehr als »deceitful intrigues and assasinations«.139 Grund für diese Interpretation ist hauptsächlich die extrem häufige negative Bewertung ihrer Taten durch das Gerede der Leute, das die Saga an diesen Stellen wiedergibt.140 Neben dieser moralisierenden Interpretation des letzten Handlungsabschnitts der Saga postuliert Ólafur Halldórsson auch, die Kapitel um die Auseinandersetzungen Sigurðrs kämen »aðalefni sögunnar ekki við«,141 sondern dienten lediglich seiner Charakterisierung. Das Urteil, der Abschnitt passe nicht zum Gesamtthema der Saga, ist im Rahmen des hier verwendeten Zugriffs als unzutreffend zurückzuweisen. Wie im Konflikt zwischen Þrándr und Sigmundr und während des Besteuerungsversuches König Óláfrs des Heiligen entspinnt sich auch am Ende der Færeyinga saga eine Erzählung über Macht und die Persönlichkeiten und Strategien derjenigen, die nach ihr streben. Folglich muss der Aussage, der Abschnitt diene vornehmlich der Charakterisierung Sigurðrs, auch vorbehaltlos zugestimmt werden. Allerdings besteht diese weniger aus der bisher häufig angesetzten Moralisierung seines Verhaltens, sondern stellt sich vielmehr als zunächst weitgehend wertfrei vorgeführte Analyse seiner Mängel als Herrscher und seiner politischen Vorgehensweise dar.
5.4.2 Leikr illt orð á Sigurði ok ǫllum þeim frændum: Der Aufstieg von Þrándrs Neffen und seine Rezeption Nach dem Verlassen des Hofes in Gata suchen Þrándrs Neffen auf Straumsey einen Mann auf, er Þorhallr het hínn audge hann atti konu þa er Birnna het […] Þorhallr var 138 So am stärksten Bick 2005, S. 10–12; ebenso Almqvist 1988, S. 78; Glauser 1989, S. 219–220. Auch North 2005, S. 72 spricht von einem »abuse of the law« und »other crimes« durch Sigurðr; Guldager 1975, S. 41 erkennt chaotische, rechtlose Zustände auf den Inseln durch ihr Vorgehen. 139 Almqvist 1988, S. 78. 140 Vgl. Bick 2005, S. 11. 141 Ólafur Halldórsson 1987, S. ccvii (hätten mit der Hauptthematik der Saga nichts zu tun). Ähnlich auch Guldager 1975, der dem Schlussteil der Saga mehrfach abspricht, Wichtiges oder Neues in den Handlungsgang einzubringen (S. 17) und ihn auf nur zwei Seiten abhandelt (S. 40–42). Wichtig sei allein die offenkundige Rechtslosigkeit der Färöer, nachdem mit Sigmundr der rechtmäßige Held augeschaltet worden sei.
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þa synt vid alldr hafde Birnna verit gefin til fiar.142 Sigurðr bietet sich Þórhallr als Schuldeneintreiber an, der bei vielen Leuten auf der Insel Geld ausstehen hat. Dieser gibt widerwillig seine Zustimmung und Sigurðr erwirbt sich durch seine Arbeit rasch ein großes Vermögen. Gleichzeitig berr [oft] saman tal þeirra S(igurdar) ok Birnnu ok er þat mal manna at þar mune vera fiflíngar med þeim.143 Gemeinsam mit seiner neuen Geliebten übertölpelt Sigurðr den alten Þórhallr und reißt nach und nach die Verfügungsgewalt in seinem Haushalt an sich. So ist es Sigurðr, der im folgenden Sommer die gestrandeten Händler Bjarngrímr, Hafgrímr und Hergrímr im nun gemeinsamen Hof aufnimmt, wobei er sie besser behandelt als seinen Miteigentümer. Þórhallr gerät häufig in Streit mit Bjarngrímr und schlägt ihn eines Abends unabsichtlich mit einem Stock: Þorhallr sitr j bek ok hafde staf sprota æínn j hende hann uæifde honum er hann uar mal odr ok uar oskygnn ok kemr stafrinn anasar Biarnngrime.144 Bjarngrímr will den Alten daraufhin sogleich erschlagen, wird aber von Sigurðr aufgehalten. Nachdem der Winter vorüber ist, überlässt Sigurðr seinen Gästen ein Handelsschiff, das er gemeinsam mit Þórhallr besitzt. Während seine Geliebte Birna ihren Ehemann beruhigt, übernachten Bjarngrímr und seine Brüder in den folgenden Nächten auf dem neuen Schiff, kommen tagsüber aber häufig zum Hof zurück. Eines Tages kom S(igurdr) heim ok for til bordz voru kaup menn þa farnir ofan til skips. S(igurdr) spurde er hann kom undír bord huar Þorhallr bonde væri honum uar sagt at hann mun sofa. þat er onatturligr suefnn segir Sigurdr. | edr huort er hann klæddr edr æigi ok vilium ver bida hans at mat nu uar geingít til skala ok la Þorhallr j reckiu sínne ok suaf þat uar sagt S(igurde). hann sprettr upp ok geingr fram ok at rvmi Þorhallz ok verdr bratt þess viss at Þorhallr uar daudr. S(igurdr) leggr af honum klæde ok serr at reckia hans er vida blodug ok fínnr sárr undir vinstri hende honum ok hafde hann ladr verit med míofu iarnne til hiartans. S(igudr) mællti at þat væri hít versta verk ok man hínn armi Biarngrimr vnit hafa.145 (kam Sigurðr heim und begab sich zu Tisch. Die Kaufleute waren da hinunter zum Schiff gegangen. Sigurðr fragte, als er zum Esstisch kam, wo der Bauer Þórhallr wäre. Ihm wurde gesagt, der werde schlafen. ›Das ist ein unnatürlicher Schlaf‹, sagt Sigurðr. ›Und ist er etwa bekleidet, oder nicht? Und wir wollen auf ihn warten mit dem Essen.‹ Man ging nun in die Halle, und Þórhallr lag in seinem Bett und schlief, das wurde Sigurðr gesagt. Er springt auf und geht vorwärts und zum Bett Þórhallrs und wird sich schnell dessen gewiss, dass Þórhallr tot ist. Sigurðr zieht ihn aus und sieht, dass sein Bett weithin blutig ist, und findet eine Wunde unter seinem linken Arm; er war mit einem spitzen Eisen bis zum Herz durchbohrt worden. Sigurðr sprach, das sei die schlimmste Untat, – ›und das wird der elende Bjarngrímr verrichtet haben‹.)
142 Fær, S. 128 (der Þórhallr der Reiche hieß. Er hatte die Frau, die Birna hieß […]. Þórhallr war da sichtlich alt. Birna war ihm des Geldes wegen gegeben worden). 143 Fær, S. 128 (kommen Sigurðr und Birna [oft] ins Gespräch, und die Leute sagen, dass es ein unerlaubtes Verhältnis zwischen beiden gäbe). 144 Fær, S. 129 (Þórhallr saß auf der Bank und hatte einen Stock in der Hand. Er schwenkte ihn, als er wütend schimpfte, und er sah schlecht und der Stock trifft Bjarngrímr auf die Nase). 145 Fær, S. 129.
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Sofort laufen Sigurðr, sein Bruder und Gautr zum Schiff der Händler und erschlagen sie. Im Anschluss ist Sigurðr mit sich selbst durchaus zufrieden, im Gegenteil zur färöischen Öffentlichkeit: [Þ]etta þickizst hann nu vel hefnnt hafa Þorhallz bonda en æigi at sidr læikr illth ord a S(igurdi) ok ollum þeim frændum um liflat Þorhallz.146 Anschließend heiratet Sigurðr Birna. Dieser Handlungsverlauf enthält einige Unklarheiten, wurde aber negativ für Sigurðr ausgelegt.147 Dabei ist zu bemerken, dass die Verführung einer verheirateten Frau und die Hörnung ihres Ehemanns sicherlich kein moralisch einwandfreies Verhalten darstellen, dass aber bei genauer Betrachtung lediglich die illth ord der Menschen auf den Färöern den Verdacht bestärken, Sigurðr sei der »Mörder Þórhallrs«.148 Die Umstände seines Todes und der Auffindung seiner Leiche sind einmal mehr undeutlich erzählt. Zunächst wird durch die Unzufriedenheit Þórhallrs und seine ungerechte Behandlung durch Sigurðr und Birna ein Konfliktpotenzial zwischen beiden aufgebaut. Þórhallrs Streit mit Bjarngrímr, die dafür unterbliebene Rache samt des Einsatzes Sigurðrs für einen Ausgleich und die Besuche der drei Brüder auf dem Hof, zumal in Sigurðrs Abwesenheit, machen Sigurðrs Anschuldigung allerdings nicht unwahrscheinlich. Zugleich ist es Sigurðr, der von der Beseitigung Þórhallrs am meisten profitiert. Auch der Hergang des Geschehens nach seiner Rückkehr auf den Hof macht ihn tatverdächtig: Er erteilt den Auftrag, Þórhallrs Schlaf zu kontrollieren, doch tot ist der alte Bauer erst, nachdem Sigurðr an seinem Bett war – jedenfalls bemerken die Hausangehörigen zuvor diese Tatsache offenbar nicht. Die Erkenntnis, dass Þórhallr tot ist, und insbesondere die Art seines Todes wird deutlich durch Sigurðr selbst als Wahrnehmungs- und Handlungsinstanz fokalisiert: segir Sigurdr, hann verdr bratt þess viss, S(igurdr) leggr […] ok serr […] ok finnr […]. Zudem wird Þórhallrs Schicksal nur in Einzelschritten preisgegeben: Zunächst schläft er, dann findet ihn Sigurðr tot, anschließend macht er sich an der Leiche zuschaffen und erkennt Blut und schließlich die tödliche Wunde. Insofern scheint die Interpretation möglich, dass Sigurðr den alten Mann im Schlaf während seiner ›Untersuchung‹ selbst ersticht und die Schuld danach Bjarngrímr zuschiebt, den er eliminiert. Zudem hat Sigurðr in Norwegen an Þórálfr Sigmundarson wenigstens vermeintlich bereits einen verdeckten und nie aufgelösten Mord begangen – zuzutrauen wäre ihm in dieser Perspektive also auch ein zweiter. Indes zeigt sich Sigurðr wortreich um den Schlaf des alten Mannes besorgt und fordert die Hausleute auf, nach ihm zu sehen. Woher Sigurðrs Sorge und die Bemerkung, Þórhallrs Schlaf sei onatturligr kommen, wird nicht aufgelöst. Dies könnte den Verdacht erhärten, Sigurðr wisse bereits um den Tod des Hausherrn. Die
146 Fær, S. 130 (Dies scheint ihm nun den Bauern Þórhallr gut gerächt zu haben, aber nichtsdestoweniger entstehen böse Worte über Sigurðr und alle die Verwandten hinsichtlich des Todes Þórhallrs). 147 Vgl. Bick 2005, S. 11; North 2005, S. 72. Zur Problematik dieser Ausdeutung vgl. auch Schmidt 2016, S. 306. 148 Bick 2005, S. 11.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
Aufforderung an die Männer, nach Þórhallr zu sehen, könnte jedoch auch zu einer früheren Entdeckung führen – vorausgesetzt, der Alte wäre bereits ab dem Zeitpunkt von Sigurðrs Rückkehr tot. Sigurðrs Sorge scheint angesichts der vorherigen Ereignisse mit Bjarngrímr nicht unbegründet. Bei seinem Verhalten muss es sich insofern nicht um Theatralik handeln, um den Verdacht von sich selbst abzulenken, zumal er explizit als zuvor vom Hof abwesend dargestellt wird. Aus dem Text selbst heraus ist so nicht eindeutig entscheidbar, ab welchem Zeitpunkt Þórhallr tatsächlich tot ist. Beide Zustände, sowohl Schlaf als auch Tod, werden als faktische Gegebenheitsbeschreibungen formuliert, als schlichte bereits eingetretene und andauernde Zustände: [L]a Þorhallr j reckiu sínne ok suaf, gefolgt von Þorhallr uar daudr. Bemerkenswert ist insofern die irreführende und destabilisierte Erzählweise, die zugleich mehrere des Mordes verdächtige Täter als Interpretationsmöglichkeiten aufbaut und es unmöglich macht, einen Verdacht zu konkretisieren. Die so erzählte Szene spiegelt in ihrer Undeutlichkeit in auffälliger Weise Þrándrs initiale Bewährungssequenz in Haleyri und den Konfliktverlauf mit König Óláfr Haraldsson. Die die Rezipienten manipulierende und zum Mitdenken sowie zur eigenständigen Interpretation auffordernde Erzähltechnik149 zieht sich in Folge dessen wie ein roter Faden nicht nur um die Figur Þrándrs durch die Færeyinga saga, sondern betrifft auch die Erzählung um die eigenständige Machteroberung durch seine Neffen.150 Trotz dieser Unklarheiten aber bleibt eine Tatsache bestehen: Sigurðr macht sich im Zuge seiner Selbstetablierung nicht beliebt auf den Färöern. Sein Ruf in der Öffentlichkeit leidet unabhängig davon, ob er am Tod Þórhallrs selbst beteiligt war und ob er den Alten gerächt hat, und schlimme Gerüchte machen die Runde. Die färöische Öffentlichkeit reagiert dezidiert missbilligend auf Sigurðrs Taten. Dies ist vielleicht wenig verwunderlich angesichts der Tatsache, dass er sich einen Ruf als unbarmherziger Schuldeneintreiber aufbaut, indem er sækir til þegar honum þikir þess þurfa,151 zumal, wenn zuvor offenbar Þórhallr wegen seiner Laxheit diesbezüglich ein beliebter Geldverleiher war.152 Die Gerüchte bezüglich der Beziehung zwischen Þórhallrs Frau und Sigurðr entsprechen offenbar der Wahrheit. Allerdings gehen beide, solange Þórhallr lebt, nur eine vorteilhafte Allianz gegen den von Birna ungeliebten Alten ein; fíflingar werden ihnen lediglich durch den Volksmund zugeschrieben. Sie heiraten erst, nachdem Birnas Ehemann tot ist. Es mag insofern sein, dass Sigurðrs schlechter Ruf wenig mit seinen tatsächlichen Taten zu tun hat, sondern sich eher auf die Ablehnung seiner neuen Stellung durch die Bevölkerung gründet. Ob sich Sigurðr über diese öffentliche Unbeliebtheit hinaus schuldig macht, bleibt im Dunkeln. Doch nur die üblen Gerüchte der Bevölkerung werden als Beurteilungsparameter durch die Erzählung herangezogen und sie bleiben als solche stehen.
149 Vgl. Heinrichs 1974, S. 201–204. Siehe hierzu auch Kap. 3 u. Kap. 4.3. 150 Vgl. auch Schmidt 2016, S. 306. 151 Fær, S. 128 (dazu anklagt, wenn es ihm notwendig scheint). 152 Siehe Fær, S. 128: Þorhallr atti nærr fe undir huerium manni ok galltz honum vída litt (Þórhallr hatte fast bei jedem Mann Geld ausstehen, und das wurde ihm weithin wenig vergolten).
5.4 Der Untergang von Sigurðr, Þórðr und Gautr
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Im folgenden Kapitel der Saga werden die Ereignisse um Sigurðr und Birna von seinem Cousin Gautr in knapper Form verdoppelt. [M]iog amynd ok med þeim Þorhalli ok S(igurdi)153 verführt er Þorbera, die Frau eines reichen, alten Bauern namens Þorvaldr auf Sandey, während er reich wird, weil er für diesen als Schuldeneintreiber arbeitet. Þorvaldr stirbt bald darauf in einer ebenso undeutlich erzählten Szene wie Þórhallr zuvor: [Æ]it huert sínn kom sa madr er Þorualldr attí fe ath þat uar fiski madr æínn ok vm kuelldit var myrkt j stofu ok satu menn þar þa hæímti Þorualldr fe sitt af fiski manne en hann suar(ar) sæinlíga ok helldr illa. G(autr) reikade a golfínu ok nockurir menn j myrkrinu en er mínzt varír þa mællti Þorualldr leggþu mann armazstr saxi firir briost gỏmlum manni ok saklausum. hann hne upp at þilínu ok uar þegar daudr ok er G(autr) heyrde þetta hlíop hann þegar at fiski manninum ok hỏgr hann þegar bana hỏgg kuat hann æigi skylldu fleíre ohaupp vínna.154 (Einmal kommt ein Mann, von dem Þorvaldr Geld ausstand, es war ein Fischer. Und am Abend war es dunkel in der Stube und die Männer saßen dort. Da forderte Þorvaldr sein Geld vom Fischer ein, aber er antwortete zögerlich und ziemlich böse. Gautr ging auf dem Hallenboden umher und einige Männer in der Dunkelheit, aber als man es am wenigsten erwartet, sprach Þorvaldr: ›Stich, elendster der Menschen, dein Kurzschwert durch die Brust eines alten und unschuldigen Mannes!‹ Er kniete oben auf der Holzwand und war sogleich tot, und als Gautr das hörte, lief er sogleich auf den Fischer zu und schlägt ihn sofort tot; er sagte, er solle nicht noch mehr Unheil bewirken.)
Die Szene ist ebenso unklar wie Sigurðrs möglicher Mord an Þórhallr. Während die betonte Dunkelheit eine unheimliche Atmosphäre erzeugt und vermuten lässt, im Raum sei es zu dunkel, um die Geschehnisse klar verfolgen zu können, erscheint die Erwähnung Gautrs auffällg unauffällig. Gleichzeitig aber gibt der Text nicht an, Gautr habe vor dem Fischer auch Þorvaldr selbst erschlagen. Der Verdacht ist den Rezipienten nichtsdestoweniger nahegebracht, kann aber nur eine Vermutung bzw. Interpretation bleiben.155 Insgesamt dient das Kapitel um Gautrs Hoferwerb lediglich der Doppelung der Vorgänge um seinen Cousin Sigurðr, eine tatsächliche Etablierung Gautrs als eigenständiger Akteur findet auch hier nicht statt, da er danach nicht mehr selbstständig in Erscheinung tritt. Sigurðr hingegen ist mit seiner Tat in hohem Maße erfolgreich, und er ist auch die Figur, die in den folgenden Kapiteln als dominanter Akteur auftritt. Ein zuvor nicht in der Erzählung präsenter Sohn Þórir Beinissons namens Leifr, ein Händler, wird in die Færeyinga saga eingeführt und sein gutes Verhältnis zu seinem Namensvetter Leifr Ǫzurarson betont. Diesen zweiten Leifr lädt Sigurðr auf seinen Hof ein, und obwohl ihm Leifr Ǫzurarson davon abrät, geht Leifr Þórisson auf diese Einladung ein.156 Sigurðr bittet Leifr alsbald, ihn zu einem aufsäßigen
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Fær, S. 130 (Sehr nach dem Bilde wie bei Þórhallr und Sigurðr). Fær, S. 130. Vgl. auch Schmidt 2016, S. 306–307 (Fn. 98). Siehe Fær c. 53, S. 130.
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Nachbarn namens Bjǫrn zu begleiten, welcher Sigurðr noch Geld schuldig ist. Er möchte Leifr als Ausgleichsstifter dabeihaben, weil er weiß, dass Bjǫrn schwierig im Umgang ist: [V]il ek L(eifr) segir hann at þu farir med mer til samnings med ockr þuiat Boern er miog skap uani […]. L(eifr) quezst fara uilia sem hann uillde […] ok hæimtir S(igurdr) fee sitt en Beornn suar(ar) illa þui næst eru þar up hlaup stor ok uill Beornn hoggua til S(igurdar) en L(eifr) hliop amille ok kom ỏx Bíarnar j hofut honum suo at þat uard þegar at uige. S(igurdr) hlíop þa at Birnne ok hío hann bana hỏgg þessi tidende spyriazst nu. S(igurdr) uar nu æínn her til fra sagnar riss þa en illt ord a S(igudri).157 (›Ich will, Leifr‹, sagt er, ›dass du mit mir fährst und zur Vermittlung zwischen uns dabei bist, denn Bjǫrn hat einen sehr schwierigen Charakter […].‹ Leifr sagte, er wolle mitfahren, wie er wollte. […] Und Sigurðr fordert sein Geld ein, aber Bjǫrn antwortet schlecht. Als Nächstes gibt es dort großen Tumult und Bjǫrn will nach Sigurðr schlagen, aber Leifr lief dazwischen und die Axt Bjǫrns traf ihn in den Kopf, sodass es sogleich zum Totschlag kam. Sigurðr rannte da auf Bjǫrn zu und versetzte ihm den Todesstoß. Diese Neuigkeiten verbreiten sich nun. Sigurðr alleine konnte nun hiervon erzählen. Erneut entstanden schlimme Gerüchte über Sigurðr.)
Dieses Ereignis ist es, das Sigurðr letztlich zum Verhängnis wird. Leifr Ǫzurarsons Schwiegermutter und seine Frau sind sich sicher, dass Sigurðr Leifr Þórisson getötet hat. Explizit ist diese Interpretation falsch,158 und dass diese Falscheinschätzung der Tatsachen durch die Frauen um Leifr Ǫzurarson für den erneuerten Konflikt der beiden Familienzweige verantwortlich ist,159 wirkt in hohem Maße ironisch. Leifr Þórissons Tod ist auf der Textoberfläche eine selbstlose Rettungstat seinerseits gegenüber einem Mann, der ihn während seines Aufenthalts auf dessen Hof gut behandelt hat.160 Zwar mögen die Rezipienten Sigurðr durchaus unterstellen können, Leifrs Tod sei ein eingeplanter Kollateralschaden, oder sogar ein geplanter, vedeckter Totschlag, da er Bjǫrns Verhalten und das Handgemenge bereits vorauszuahnen scheint. Jedoch schildert der Sagatext nur einen tragischen Zwischenfall und Sigurðr verhält sich in keiner Weise unehrenhaft. Die üblen Gerüchte über ihn entstehen, weil er keinen Zeugen für den Hergang der Ereignisse aufbieten kann. Und wieder sind es diese Gerüchte, die von Sigurðrs Taten unabhängig vom tatsächlichen Tathergang unkommentiert und nachdrücklich übrigbleiben. An dieser Tatsache offenbart sich die Unsicherheit der Einschätzung gewisser Sachverhalte durch die Allgemeinheit in der Færeyinga saga: Schein und Sein treten häufig auseinander, wie die spezielle Darstellungstechnik des Erzählers häufig il-
157 Fær, S. 131. 158 Dennoch spricht etwa auch North 2005, S. 72 davon, dass »Sigurðr kills the rich merchant Leifr Þórisson«. Dieselbe Interpretation scheint hinter Almqvists Bezeichnung der Taten von Þrándrs Neffen als »assassinations« zu stehen, siehe Almqvist 1988, S. 78. 159 Vgl. hierzu Kap. 6.4.3 u. Kap. 7.3.3. 160 Siehe Fær, S. 130: [S]etr S(igurdr) hann hít næsta ser ok er uel til hans er hann þar vm uetrínn j godu yfuir lætí (Sigurðr setzt ihn am nächsten zu sich und benimmt sich gut ihm gegenüber. Den Winter über ist er dort in guter Behandlung).
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lustriert.161 Die vermeintliche ›Objektivität‹ der Darstellung in der Sagaliteratur mittels der Wiedergabe der öffentlichen Meinung gilt mittlerweile in der Forschung weithin als Trugschluss,162 schon weil durch die Darstellungweise allein sehr subtile Rezipientensteuerung möglich ist.163 So wird die öffentliche Meinung in der Forschung nicht selten mit der Meinung der Erzählstimme selbst gleichgesetzt.164 Doch scheint die Færeyinga saga diesem Befund entgegen zu stehen.165 Die Gerüchte der Leute bezüglich des Todes von Leifr Þórisson sind faktisch falsch. Der Erzähler liefert einen Hergang der Ereignisse, der Sigurðr als unschuldig darstellt. Er wird an dieser Stelle insofern unverschuldet Opfer seines schlechten Rufs. Zugleich sind die Gerüchte Sigurðrs Verhältnis mit Birna betreffend offenbar korrekt, wie sich herausstellt, als Sigurðr sie sofort nach Þórhallrs Tod heiratet. Wieder andererseits ist die Vermutung, Þrándrs des Landes verwiesene Neffen seien tot, nach Auffinden der Wrackteile ein Trugschluss. Wiedergegeben wird demnach kommentarlos die Ansicht der öffentlichen Meinung, sei sie korrekt oder auch falsch. Gerade Sigurðr zeigt durch seine Rede vor König Óláfr in Norwegen die Beeinflussbarkeit der öffentlichen Meinung klar auf, als er zunächst wegen seiner Redekünste für unschuldig, nach seiner Flucht aber für schuldig gehalten wird, wie oben aufgezeigt. Gerade bei einer solchen Figur ist nicht eo ipso überzeugend, weshalb die über sie so wandelbare öffentliche Meinung als Garant ihrer Schuldigkeit oder Negativität gelten sollte. Dennoch legt der Text durch die vorherige Darstellung Sigurðrs Indizien an, die die Annahme ermöglichen, er habe Leifr absichtlich in den Tod geführt und ihn deshalb als Begleitung angefordert. Allerdings wird die Interpretation ganz den Rezipienten überlassen, und weder gibt der Erzähler seine eigene Meinung wieder, noch lässt er diese durch die der Textoberfläche nach falsche Meinung der Leute ausgedrückt werden. Insofern scheint die Meinung der Öffentlichkeit tatsächlich ›objektiv‹ wiedergegeben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Darstellungsweise insgesamt unter dem Lemma der ›Objektivität‹ fassbar wäre. Der Vermerk nach jeder von Sigurðrs Taten, sein Ruf in der Öffentlichkeit sei gesunken, ist es, der die Rezipienten subtil gegen ihn prädisponiert und zu der Vermutung anregt, in ihm sei der Schuldi-
161 Vgl. Heinrichs 1974, S. 204; mit Beispielen S. 194–195 u. S. 202–203. Vgl. hierzu auch Kap. 3 u. Kap. 4. 162 Vgl. Glauser 1994, S. 116 und Heinrichs 1974, S. 193–194 zur älteren Forschungsansicht der ›Objektivität‹ sowie S. 204 zu ihrem nur scheinbaren Charakter, speziell in der Færeyinga saga. Vgl. dagegen aber Meulengracht Sørensen 1993, S. 64–65, der heraushebt, dass rein narrativ gesehen tatsächlich ›objektiv‹ nur vorhandene Tatsachen und in der Tradition verankerte Vorgänge berichtet werden, d. h. der Erzähler die Echtheit seiner Darstellung jedenfalls fingiert, indem er die Öffentlichkeit als Bürgen seines Zeugnisses bemüht. Als rezenten Überblick zum Problem der Saga-›Objektivität‹ siehe Sävborg 2017, S. 112–116. 163 Vgl. am Beispiel Mǫrðr Valgarðssons in der Njáls saga Cochrane 2016, bes. S. 120–128. 164 Siehe hierzu grundlegend Lönnroth 1970; Meulengracht Sørensen 1993, S. 210. Die gleiche Annahme liegt der Interpretation von Bick 2005 zugrunde. 165 Vgl. auch Schmidt 2016, S. 307. Zur erzähltechnischen Eigenheit der Færeyinga saga bezüglich der öffentlichen Meinung siehe auch Kap. 3.2.3.
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ge an den Toden von Þórhallr und Leifr Þórisson auszumachen. Sigurðr wird allein in seinen unwirschen und moralisch fragwürdigen Taten vorgeführt, während die Interpretation der Vorgänge durch das Prisma der anderweitig zumeist stummen sozialen Umgebung wiedergegeben wird. Hinzu kommt die Doppelung seines Vorgehens mit Þórhallr durch seinen Cousin Gautr, die ebenso zweifelhaft erscheint wie Sigurðrs Machteroberung. Diese Darstellungsweise ist es, die Sigurðr zu einem Unhold in den Augen der Rezipienten werden lässt. Er handelt wenig moralisch, indem er die Frau des Mannes verführt, der ihn reich werden lässt, während ihm zuvor bereits ein Mord angelastet wird. Zudem warnt Leifr Ǫzurarson seinen Verwandten Leifr Þórisson eindringlich vor ihm, wobei Sigurðr zugleich der einzige Zeuge des Todes beider Männer ist. Anschließend spricht die gesamte färöische Bevölkerung übel über ihn. Auf dieser Grundlage ist der gedankliche Schritt, ihm ablehnend gegenüber zu stehen, für den Rezeptionsvorgang vorprogrammiert. Nichtsdestoweniger darf diese Beeinflussung und Steuerung der Rezipientenmeinung nicht mit der Meinung der Erzählinstanz selbst gleichgesetzt werden, die sich einer abschließenden Wertung explizit enthält und divergierende Tatsachen im Text anlegt. Die Meisterhaftigkeit ihrer Darstellung liegt so gerade im Verschweigen einer Wertung bei zugleicher Entlastung Sigurðrs auf der Handlungsebene und negativer Beeinflussung der Rezipienten mittels der scheinbar ›objektiven‹ Wiedergabe der öffentlichen Meinung. Sigurðr wirkt so insgesamt eher unglücklich und ungeschickt denn rundheraus böswillig:166 Er hat einen schlechten Ruf, ob gerechtfertigter oder ungerechtfertigter Weise. Im Gegensatz etwa zu seinem Bruder scheint er aber nicht in der Lage, diesen, oder überhaupt seine soziale Umgebung, in die Planung seiner Taten miteinzubeziehen. Der Ruf, der ihm aus seinem Vorgehen erwächst, scheint ihn weder zu beeindrucken, noch überhaupt zu interessieren. Weder reagiert er in irgendeiner Form auf die aufkommenden Gerüchte, noch ändert er seine Handlungsagenda. Stattdessen handelt er unbedacht weiter und bedenkt die Konsequenzen nicht ausreichend. Er lädt Leifr Þórisson zu sich ein und bittet ihn um die Begleitung zu Bjǫrn, obwohl er um die illt ordh, die ihn begleiten, seitdem er Birna geheiratet hat, weiß. Dieses Vorgehen verkennt die Realitäten auf den Färöern und blendet entscheidende Tatsachen aus, die Sigmundrs Familie noch weiter gegen die Sigurðrs aufbringen kann.
5.4.3 Sigmundr Brestisson der Zweite: Sigurðr Þorláksson und seine Mängel im Rahmen der Færeyinga saga Vor dem Hintergrund dieser Gedanken erweist sich die Argumentation Bicks, in der Darstellung der Taten von Þrándrs Neffen offenbare sich die Moralbotschaft des Sa-
166 Vgl. auch Schmidt 2016, S. 306.
5.4 Der Untergang von Sigurðr, Þórðr und Gautr
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gaverfassers,167 als unhaltbar. Sigurðrs Taten sind keinesfalls unmoralischer als die seines Onkels. Im Rahmen der Færeyinga saga ist Sigurðrs schlussendlicher Tod nicht der Tatsache geschuldet, dass er ein schlechterer Mensch als Þrándr wäre, sondern dass er kein Politiker von dessen Format ist.168 Selbst wenn Sigurðr Þórhallr selbst ermordet und Leifr Þórissons Tod billigend in Kauf nimmt, zeigt er sich dadurch nicht weniger skrupellos oder aus niedrigeren Beweggründen handelnd als Þrándr. Im Gegenteil wäre seine konsequente Selbstdarstellung als unschuldig durch die planvolle Inszenierung der Geschehnisse den Ränkespielen seines Onkels ebenbürtig und würde das Versprechen einlösen, das seine souveräne Meisterung der Auseinandersetzung mit König Óláfr in Norwegen gegeben hat: Sigurðr kann Macht erobern. Nachteilig für ihn ist demzufolge nicht sein Handeln in »destruktiv[er] und unsozial[er]« Art und Weise, »aus persönlichen Interessen ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft zu nehmen«,169 denn ebenso handelt Þrándr auch. Was Sigurðrs Vorgehen von dem seines Onkels unterscheidet, ist die Tatsache, dass er den Effekt, den die sich verbreitenden Gerüchte haben, nicht in Betracht zieht. Seine Taten bringen illth ord unter der färöischen Bevölkerung hervor, Gerüchte, auf die er nicht reagiert, sondern die er ignoriert. Während Þrándr sich in der Öffentlichkeit zu inszenieren weiß, die Meinung des Volkes nach seinem Gutdünken zu steuern vermag und doch ganz allein die Fäden in der Hand behält,170 agiert Sigurðr gewissermaßen an der Öffentlichkeit vorbei, ohne Achtung der Manipulationskräfte, die in der öffentlichen Meinung geborgen sind. Er manipuliert diese nicht selbst, sondern lässt sich von ihr bewerten, ohne die Folgen zu bedenken. Sigurðr handelt insofern, ohne voraus zu planen und spiegelt so Sigmundr. Ebenso wie dieser ist er ein Mann des Augenblicks, der wagemutig und spontan agiert. Er hat das Potenzial eines Kriegers, der in der Schlacht vermutlich eine gute Figur abgeben würde.171 In tätliche Auseinandersetzungen verwickelt ist er als Kämpfer ebenso erfolgreich wie Sigmundr, doch anders als dieser kämpft er nie in einer tatsächlichen Schlacht. Solche finden auf den Färöern nicht statt, und Sigurðr kehrt nicht nach Norwegen zurück. Dort könnte er sich einem Hof anschließen, in dessen Dienst sich unproblematisch Ruhm und Ehre erreichen ließen, und an dem er sein Geschick als Krieger gewinnbringend ausspielen könnte. Doch ist Sigurðr im Gegensatz zu Sigmundr nicht bereits a priori mit einem Hof verbunden. Er gehört hingegen im Dienste seines Onkels gerade den Gegnern der Königspartei auf den Fäöern an. Das Zentrum, dem er als ›Elitekrieger‹ lange Zeit beigeordnet ist, ist der Machtbereich Þrándrs, und solange er für diesen ›Hof‹ in Aktion treten kann, kommen ihm seine Fähigkeiten als Krieger umfänglich zu Gute. Dieses Zentrum seiner
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Vgl. Bick 2005, S. 10–12. Vgl. hierzu auch Schmidt 2016, S. 308 u. S. 311. Bick 2005, S. 11. Siehe Kap. 3. Zur Darstellung Sigmundrs als ›Mann des Augenblicks‹, vgl. näher Kap. 4.
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Handlungsmacht aber wird ihm durch seinen Onkel genommen. Damit spiegelt Sigurðr Sigmundr auch in dessen Ortslosigkeit:172 Seine Taten sind zunächst stets einem anderen Handlungszentrum zugeordnet und dienen diesem als ausführender Arm. Als ihm diese Zuordnung entzogen wird, kann er seine kriegerischen Energien nicht länger zielgerichtet und produktiv einsetzen (lassen), sondern sie kommen in einem freien Spiel zur Geltung. Ihm fehlt fortan der Dienst für einen Herrn, der seinen Weg an die Macht legitimieren würde – und der entsprechend wie bei Sigmundr seinem Leben einen teleologischen Rahmen verleihen könnte, indem er seine Figurengestaltung eine passende Erzählstruktur überführt.173 Er versucht, selbst ein Zentrum für seine Taten zu gründen, einen eigenen Machtbereich. Auf den Färöern aber ist die Macht nach Þrándrs Entscheidung fest in bestimmte Hände verteilt. Dass seine Neffen trotzdem versuchen, sich einen eigenen Machtbereicch zu erstreiten, muss sich konzeptionell zu ihren Ungunsten auswirken. Die Freisetzung überschüssiger Energien in einer ausbalancierten Gesellschaft stört die etablierte Ordnung und muss aus Sicht dieser Ordnung beseitigt werden.174 Für Þrándr, Leifr und die Sigmundssöhne, die faktischen Machthaber, die diese Ordnung repräsentieren, stellen Sigurðr und seine Begleiter so nur Störfaktoren dar. Das Spiel der Macht in der Færeyinga saga ist zu dem Zeitpunkt, als Sigurðr nach ihr greifen will, bereits ausgespielt. So hat er von Anfang an keine echte Chance in seinem Unterfangen, nicht auf die eigenmächtige Art und Weise, die er an den Tag legt. Im Herzen ein Kämpfer scheint Sigurðr zudem pathologisch unfähig zum adäquaten Bemessen des Verhältnisses zwischen sich und seinem Umfeld, das die Politik auf den Färöern unverzichtbar macht. Solange er als Þrándrs personifizierte Waffe agieren kann, trifft Sigurðr auf keine Schwierigkeiten, doch sobald er selbstständig auf dem politischen Parkett tätig werden muss, wirkt er ebenso wenig in seinem Element wie Sigmundr. Zwar kann er sich einige der ihm seiner Meinung nach zustehenden Machtkompetenzen verhältnismäßig leicht erobern, doch um sie langfristig zu verteidigen, fehlt ihm das Planungsgeschick.175 Zunächst aber besitzen er und Gautr trotz der üblen Gerüchte über seine Machenschaften eigene Höfe, und den Angriff von Arnljótr, dem Vater von Bjarngrímr, Hergrímr und Hafgrímr, können die beiden zusammen mit Þórðr ohne Schwierigkeiten unbeschadet überstehen. In diesem Moment befinden sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht.
172 Vgl. näher Kap. 4 zu Sigmundrs Verbindung mit dem ›Nicht-Ort‹ des Dovrefjell als Symbol seiner Liminalität als Figur. Vgl. ebenso Schmidt 2016, S. 308–309 zur Entsprechung der Positionen von Sigmundr und Þrándrs Neffen. 173 Siehe Kap. 4 zum Vergleich mit Sigmundr: Der Krieger kann sich nur solange erfolgreich behaupten, wie sein Leben im erzählstrukturellen Rahmen seiner legitimen Bindung an den Hof final bestimmt ist. Sobald er selbst seine Herrschaft in eigenes Recht umwandeln soll, ergeben sich Brüche. Eine solche Rahmensetzung fehlt in Sigurðrs Darstellung völlig, seine Gestaltung erinnert keineswegs an Erzählmatrizen der höfischen Literatur. 174 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 224–226. 175 Vgl. auch Schmidt 2016, S. 308–309.
5.4 Der Untergang von Sigurðr, Þórðr und Gautr
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In Sigurðr mag die Leichtigkeit seines Aufstiegs ein falsches Gefühl der Unangreifbarkeit auslösen. Selbst wenn er zeitweilig erfolgreich in die Fußstapfen seines Onkels treten kann und man seinen Aufstieg als ähnlich planvoll und skrupellos beurteilt, überschreitet er schließlich seine Grenzen. Er treibt seinen Bruder zur Verlobung mit Þuríðr meginekkja. Die Szene spiegelt Þrándrs Werbefahrt für Leifr Ǫzurarson zu Þóra Sigmundardóttir,176 und Sigurðr scheint damit ein ähnliches Herrschaftskonzept verfolgen zu wollen wie sein Onkel.177 Allerdings verkalkuliert er sich in der Anmaßung, Þrándr kopieren zu wollen, gehörig. Nachdem er durch den Tod Leifr Þórissons den Hass der Frauen in Sigmundrs Familie erneut geweckt hat, liefert Sigurðr selbst ihnen durch die Werbung die Gelegenheit, ihn und seine Gefährten auszuschalten: [Æ]igi se ek annat þat teyge agnn er likara se til at þeir verde at dregnir en þetta,178 erkennt Þóra. Sigurðrs Bruder Þórðr sieht die Bedrohnung, er glaubt zunächst nicht an eine Aussicht auf Erfolg in dieser Angelegenheit. [E]cki ætla ek mer suo hatt,179 entgegnet er auf Sigurðrs ursprünglichen Vorschlag, Þuríðr eine Werbung vorzutragen. Als Sigurðr zurückkehrt und von der Reaktion der Umworbenen berichtet, sieht Þórðr voraus, dass diese undarliga væít […] vid.180 Als sein Bruder ihn und den Rest der Hausmannschaft hetzt, schnell nach Skúfey zu fahren, ist Þórðr klar, dass eine Annahme der Einladung von Sigmundrs Familie und Sigurðrs unbedingter Wille, zu ihnen zu fahren, den Tod seines Bruders bedeuten. Doch Sigurðr lässt sich von seinem Plan nicht abbringen und weist die Bedenken mehrfach unwirsch von sich: [Þ]a sagde Þordr at hann mun æigi leingra fara Sigurd kuezst fara skylldu up til bæiar þo at hann færi æínn.181 Þórðrs Beurteilung der Situation erweist sich jedoch als richtig. Sigurðr wird auf dem Hof von Þuríðr erwartet: [K]ona geingr fra kirkíunne j raudum kyrtle ok blan | mottul aherdum. S(igurdr) kende at þar var Þuridr husfreyía ok uíkr at henni. hon hæilsar honum blidliga ok geingr at tre æínu er la j tunínu þar setíazst þau a tred ok uill hon horfa at kirkiunne en hann uillde horfa at heíma durum ok fra kirkíunne en hon red ok horfdu þau at kirkíunne. […] huat hafa þeir talat um mal uor sidan segir S(igurdr). þat hỏfum ver um talat segir hon at ollum oss konunum litzst bezst aþig ok munde litt sæinkat af minne hende ef þu værir oklusadr. mikill gíptu skortr hefir mer þa ordit segir S(igurdr) ok ma þat ok skiott skipazst at ek se lauss madr. […] ok j þui uilldi hann suæigia hana at ser ok tok hỏndum um hana en hon las at ser tugla mottulinn.182
176 Vgl. Kap. 3.4.3 zu Þrándrs Politik hinter diesem Schachzug; Kap. 6.4.3 zu dessen Auswirkung auf Sigurðrs Ziehbruder Leifr. Vgl. zum symmetrischen Textaufbau und dem Vergleich beider Szenen auch Kap. 8. 177 Vgl. North 2005, S. 72–73. 178 Fær, S. 133 (›Ich sehe keinen anderen Köder, der es wahrscheinlicher macht, dass sie angelockt werden, als dies‹). Vgl. näher auch Kap. 7.3.3. 179 Fær, S. 133 (›So hoch will ich nicht hinaus‹). 180 Fær, S. 133 (›Unerhörtes […] vorausweist‹). 181 Fær, S. 135 (Da sagte Þórðr, dass er nicht weitergehen will. Sigurðr sagte, man solle hinauf zum Hof gehen, und wenn er alleine gehe). Almqvist 1988, S. 78–83 diskutiert die Szene in Hinblick auf Sigurðrs Begierigkeit als folkloristisches Motiv der Todesvorausdeutung. 182 Fær, S. 135–136.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
(Eine Frau geht aus der Kirche, in rotem Obergewand und mit einem blauen Mantel um die Schultern. Sigurðr erkannte, dass dies die Hausherrin Þuríðr war, und dreht sich zu ihr. Sie grüßt ihn freundlich und geht zu einem Baumstamm, der auf der Hauswiese lag. Sie setzen sich auf den Stamm, und sie wollte auf die Kirche schauen, er aber auf die Haustür und von der Kirche weg, aber sie entschied und sie schauten auf die Kirche. […] ›Was haben sie dann über unsere Angelegenheit gesagt?‹, sagt Sigurðr. ›Wir haben besprochen‹, sagt sie, ›dass uns Frauen allen du am besten gefällst, und von meiner Seite wäre wenig gezögert worden, wenn du ungebunden wärst.‹ – ›Dann habe ich großes Unglück gehabt‹, sagt Sigurðr, ›und es mag sich auch bald so wenden, dass ich ein lediger Mann bin.‹ […] Und in diesem Moment wollte er sie an sich drücken und legte die Arme um sie, aber sie zog den Mantel an sich.)
Sigurðrs Vorgehen zeigt sich hier in mehrfacher Hinsicht als unklug. Er lässt sich von Þuríðr in Sicherheit wiegen. So sagt sie, Leifr sei nicht anwesend und setzt sich bei der Blickrichtung zur Kirche hin durch, also vom Versteck ihrer Angehörigen fort. Ihre Schmeichelei gefällt ihm und seinem Selbstbild sichtlich. Durch seine Reaktion beweist er die gleiche Anfälligkeit, von seiner Umgebung benutzt zu werden, wie zu der Zeit, in der ihn sein Onkel nach Norwegen entsandt hat. Daneben zeigt er sich durch die Aussage, es könne sein, dass er bald wieder ledig sei, implizit als skrupellos genug, die Ausschaltung seiner erst kürzlich gefundenen Frau in Betracht zu ziehen. In dem Moment, in dem er sie küssen will, aber wird Sigurðr von Sigmundrs Söhnen und Leifr überfallen und verfolgt. Zwar kann er zunächst fliehen, doch letztendlich holt ihn Leifr am Strand ein und verwundet ihn tödlich mit dem Schwert: [E]r S(igurdr) þa komin at skipenu ok ælade at hlaupa vt ꜳ skipit en L(eifr) lagde þa suerdi til hans asiduna en hann snaradizst vid honum ok gek suerdit ahol at þui er L(eifr) hugde.183 Dennoch entkommen Sigurðr und seine Leute zunächst. Seinem Kriegertum entsprechend steuert Sigurðr das Boot selbst, obwohl er schwer verwundet ist: [Þ]eir S(igurdr) koma at lande j Straums ey ok hafde S(igurdr) styrt skipínu ok uar fa ordr vid þa en hann geingr upp af skípínu. Þordr spurde huort hann munde miỏg sárr vera hann kuest þat ogeorlla uíta. S(igurdr) geingr at naust ueggínum er þar uar nærr síonum ok leggr þar hendr sínar a upp en þeir rydia skipít. ok ganga sidan upp til naust sins ok sea at S(igurdr) stendr þar ok uar þa stírdnadr ok daudr.184 (Sigurðr und seine Leute kommen zur Strominsel und Sigurðr hatte das Schiff gesteuert und war wortkarg ihnen gegenüber, aber er steigt aus dem Schiff aus. Þórðr fragte, ob er schwer verletzt war. Er sagt, das wisse er nicht sicher. Sigurðr geht zu den Wänden des Bootshauses, das dort nahe der See stand, und legt dort seine Arme darauf, aber sie entladen das Schiff und gehen dann zu ihrem Bootshaus hinauf und sehen, dass Sigurðr dort steht. Und er war da erstarrt und tot.)
183 Fær, S. 136 (Sigurðr ist da zum Schiff gekommen und wollte auf das Schiff hinauslaufen, aber Leifr hieb da mit dem Schwert in seine Seite, aber er wandte sich schnell zu ihm und das Schwert drang ins Leibesinnere, wie Leifr glaubte). 184 Fær, S. 136–137.
5.4 Der Untergang von Sigurðr, Þórðr und Gautr
405
Im Tod ist Sigurðr einmal mehr der stolze Krieger, der seinen Tod mannhaft erträgt, seine Aufgabe erledigt und nach ihrem Abschluss stoisch den Tod erleidet. Während des Nachtmahls der übrigen Männer greift Leifr mit großer Mannschaft an. Wie beim Überfall Þrándrs auf Sigmundr wird das Haus angezündet: [O]k er elldr sotti husín þa hleypr G(autr) raude vt ok þolír æigi ínne leingr. Steingrimr. Sigmundar son sotti at honum ok íȷ ́ menn adrir en hann uardizst uel. G(autr) hỏggr akne Steingrime ok af kneskelína ok uar þat mikít sár suo at hann gek iafnan halltr sídan ok drap annan felaga hans ok þa kemr at L(eifr) Ozsorar son ok æígazst þeir uit uopnna skípte ok lykr suo at L(eifr) drepr G(aut). þa hleypr ut Þordr lage ok j mot honum Brandr Sigmundar son ok íȷ ́ menn adrir ok sottu at Þorde en suo lauk med þeim at Þordr drepr Brand ok forunauta hans bada þa kom at L(eifr) Ozsorar son ok leggr suerde þi hínu sama j gegnum Þord er adr hafde hann lagt med S(igurd) brodur hans ok let Þordr skiott lif sitt.185 (Und als das Feuer das Haus ergriff, da läuft Gautr der Rote hinaus und hält es drinnen nicht länger aus. Steingrímr Sigmundarson griff ihn an und zwei andere Männer, aber er verteidigte sich gut. Gautr schlägt auf Steingrímrs Knie und schlug die Kniescheibe ab und das war eine große Wunde, sodass er seitdem immer hinkte, und er tötete einen seiner Gefährten. Da kommt Leifr Ǫzurarson hinzu und sie tauschen Hiebe mit den Waffen aus, und es endet so, dass Leifr Gautr tötet. Da läuft Þórðr der Kleine heraus und ihm entgegen Brandr Sigmundarson und zwei andere Männer und sie griffen Þórðr an, aber bei ihnen ging es so aus, dass Þórðr Brandr und seine beiden Gefährten tötete. Da kam Leifr Ǫzurarson hinzu und stach dasselbe Schwert, mit dem er zuvor seinen Bruder Sigurðr durchbohrt hatte, durch Þórðr, und Þórðr ließ rasch sein Leben.)
Auch Sigurðrs Bruder und Cousin lassen ihr Leben, wie sie es geführt haben: Gautr ist nach Sigurðr am ehesten ein Krieger und läuft als erster auf die Feinde los. Doch er verbleibt nur ein Schatten seines Cousins: Als einziger kann er den gegen ihn kämpfenden Sigmundssohn nicht erschlagen, ehe er von Leifr selbst getötet wird. Þórðr zögert mit seinem Angriff am längsten. Wie stets scheint er der Bedächtigste der drei Männer zu sein, wobei er dadurch heldenhaft am längsten in einem brennenden Haus verbleibt. Sobald er angreift, überwindet er seine Gegner mühelos und es benötigt Leifr selbst, um auch ihn schließlich zu töten. Nach dem Tod der Neffen Þrándrs ist der Machtkampf auf den Färöern zugunsten Leifrs entschieden und auch Þrándr stirbt vor Gram. Seine Pläne haben sich endgültig zerschlagen und Sigurðr, Þórðr und Gautr haben den Versuch, sich selbst Macht zu erkämpfen, mit dem Leben bezahlt. Die Entscheidung, sie aus seiner Verfügungsgewalt zu entlassen, wirkt sich fatal auf Þrándrs Machtposition aus. Allerdings »entgleitet« ihm die Kontrolle186 dabei keineswegs, er gibt sie freiwillig aus der Hand. Aus politischen Notwendigkeiten muss er Sigurðr, Þórðr und Gautr aus dem Machtspiel eliminieren. Doch fällt sein Plan auf Þrándr selbst zurück, als sich seine Rückversicherung zerschlägt, indem Leifr und Þóra ihn durch die Entführung
185 Fær, S. 137. 186 Glauser 1989, S. 220.
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5 Þrándrs Neffen Sigurðr, Þórðr und Gautr
des jungen Sigmundr überlisten, ehe sie seine drei Neffen töten. So hat Þrándr selbst keinerlei Kontrolle mehr über die Situation. Leifr ist für ihn verloren, und Sigurðr, Þórðr und Gautr, die Männer, die stets seine Pläne aktiv ausgeführt haben, hat er selbst von sich gestoßen. Auch sie sind nun tot. Was seine drei Neffen selbst betrifft, scheint ihr Verhalten nach Analyse des sie betreffenden Textteils eher unglücklich und tragisch denn auf »Betrug und Gewalt«187 ausgerichtet und seitens des Erzählers verurteilt, wie dies bisher zum Großteil angenommen wurde. Zwar ist ihr Verhalten nicht moralisch, sicherlich aber auch nicht verurteilenswerter als das Þrándrs. Zudem werden sie durch die gleiche destabilisierte Narrationstechnik von Seiten des Erzählers vor eindeutigen Anschuldigungen durch die Rezipienten geschützt wie Þrándr selbst. Auch wirkt Þórðr nur oberflächlich moralischer und unrechtsbewusster als sein Bruder. Im Unterschied zu diesem scheint er viel eher begabter in Hinsicht auf politische Konstellationen. Die Crux Sigurðrs, und mit ihm die seines Bruders wie Gautrs, ist, dass sie als Krieger wie Sigmundr in die Færeyinga saga eingeführt werden, der Machtkampf auf den Färöern aber die Eigenschaften eines Politikers von einem Herrscher erfordert. Þrándrs Neffen aber sind vor allem seine Kämpfer, und einen eigenen Herrschaftsbereich versuchen sie erst sehr spät zu erstreiten. Sie gehen dabei ungestüm und unüberlegt vor, wenn auch zunächst erfolgreich. Die Eroberung und der Erhalt von Macht aber sind zwei unterschiedliche Angelegenheiten, und wie Sigurðr und am Ende seines Lebens sogar Þrándr scheinen Sigurðr und seine Verwandten besser dazu geeignet, das flüchtige Element der Macht für sich zu beanspruchen, denn es langfristig zu halten. Sie überschätzen sich mit dem Plan, sich über eine Heiratsallianz mit Þuríðr als große Spieler der färöischen Politik neben Þrándr und Leifr zu positionieren. Einzig Þórðr scheint diese Problematik bewusst, doch gerade Sigurðr, der Sigmundr in seiner Figurenzeichnung auffällig spiegelt, scheint zu dessen Einsicht geradezu unfähig. So scheitern er und sein Bruder und Gautr, der nur schwach als eigene Figur innerhalb des Dreiergespanns ausgestaltet ist, letztendlich ebenso tragisch wie Sigmundr. Sie wollen sich in einer Sphäre betätigen, für die ihre Charaktereigenschaften sie nicht brauchbar machen, und versuchen dies darüber hinaus in einem Erzählraum, der Þrándrs Gesetzen unterworfen ist und neben diesem nur von Leifr kontrolliert wird. Für sie ist in der Erfolgs-Narration der Færeyinga saga kein Platz, und die Mittel, mit denen sie versuchen, sich dem zum Trotz einen zu erstreiten, sind im Zuge des politischen Diskurses der Saga nicht die adäquaten. Deshalb sind sie als Herrscher nicht geeignet und müssen folglich in der Erzählung eliminiert werden. Die Färöer haben am Ende ihren Herrscher, und nach dem skrupellosen und unmoralischen Þrándr ist dies sein ehemaliger Ziehsohn Leifr, ein Mann, der weder ein übermäßiger ›Held‹ noch ein Machtpolitiker ist.
187 Glauser 1989, S. 219.
6 Leifr Ǫzurarson 6.1 Der unauffällige Sieger: Leifr als Alleinherrscher am Ende des Konflikts Am Ende der Færeyinga saga heißt der Herrscher der Färöer weder Sigmundr Brestisson noch Þrándr í Gǫtu. Ebenso wenig herrschen Sigmundrs Söhne oder Sigurðr, Þórðr und Gautr, die Neffen Þrándrs. Der färöische Alleinherrscher am Ende der Saga ist Leifr Ǫzurarson: L(eifr) rædr nu æínn ollum Færeyíum ok uar þat um daga Magnus konungs goda Olafs sonar. L(eifr) for til Noregs a fund Magnus konungs ok tekr af honum len yfir Færeyíum kemr heim j Færeyiar byrr þar til elle.1 In der Gesamtansicht der Færeyinga saga scheint es nach all den Machtstreitigkeiten fast ironisch, dass die Herrschaftsgewalt über die Färöer damit dem Enkel Hafgrímrs von Hof zufällt, dessen aufbrausendes Temperament erst den ursprünglichen Anstoß des Konflikts geliefert und damit Þrándrs lange Dominanz der Inseln ermöglicht hat.2 Und dennoch ist es Leifr, der am Ende – als einziger – auf ganzer Linie erfolgreich ist. Er bleibt übrig als derjenige, der die Macht schlussendlich innehat. In der bisherigen Forschung zur Færeyinga saga ist dieser Figur noch weniger Aufmerksamkeit zu Teil geworden als den Neffen Þrándrs. So lautet Norths Einschätzung etwa lediglich, Leifr sei »a good husband and upstanding householder«.3 Mit diesem Minderinteresse für die Figur Leifr Ǫzurarson korrespondiert seine über weite Teile der Handlung relativ unauffällige und weitgehend passive Rolle. Für eine Gesamtinterpretation der Saga scheint Leifr allerdings enorm wichtig: Er zementiert als Lehnsnehmer der norwegischen Könige das Abhängigkeitsverhältnis der Inseln vom norwegischen Reich. Glauser bezeichnet ihn dementsprechend als den »loyalen Leifr«.4 Für beide bisher vorgebrachten Interpretationen der Færeyinga saga unter den Vorzeichen eines Unabhängigkeitsdiskurses ist diese Tatsache enorm bedeutsam, kann sich doch das Verständnis einer pro-norwegischen Botschaft im Text maßgeblich darauf gründen,5 während Leifrs letztendliche ›Unterwerfung‹ das Ansetzen anti-norwegischer Propaganda6 wesentlich stören muss. Innerhalb der erzählten Welt stellt er am Sagaende das ursprüngliche Verhältnis zwischen Archipel und norwegischem Mutterland nach langer Trennung vollum-
1 Fær, S. 137 (Leifr beherrscht nun alle Färöer allein und das war in den Tagen Magnus des Guten Óláfssons. Leifr fuhr nach Norwegen an den Hof König Magnus’ und nimmt von ihm das Lehen über die Färöer entgegen. Er kommt nach Hause auf die Färöer und wohnt dort bis ins Alter). 2 Vgl. zu dessen auslösender Rolle bereits Kap. 3. 3 North 2005, S. 71. 4 Glauser 1989, S. 220. 5 Vgl. Guldager 1975, zum Ende der Saga allerdings nur in einigen kurzen Absätzen auf S. 41–42. 6 Vgl. Glauser 1994, S. 116. https://doi.org/10.1515/9783110774979-006
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6 Leifr O˛zurarson
fänglich wieder her.7 Damit ist das zentrale Paradoxon des Textes im Rahmen der bisherigen Forschungen benannt: Die Gleichzeitigkeit der langen Vorherrschaft Þrándrs entgegen der norwegischen Könige und des Schlusspunkts der Erzählung mit Leifr als norwegischem Lehnsmann. Einen Schlüssel zur Lösung dessen liefert Glauser, der Leifr zugleich einen »Hauptrepräsentant[en] des Neuen« und »von Anfang an vorbildlich königstreu«8 nennt und in seinem Verhalten dennoch eine Ähnlichkeit zu Þrándr bemerkt. Er bezeichnet ihn als »jene Figur, die Þránds Gerissenheit mit Sigmunds Tatenkraft und Gabe zur Schließung vorteilhafter Koalitionen verbindet«.9 Indes ist Leifr wenigstens an der Textoberfläche weder eine so komplexe und schwierige Figur wie Þrándr noch eine so zerrissene und liminale wie Sigmundr.10 Er scheint gleichsam das nur das ›Beste aus beiden Welten‹ zu vereinen. Entsprechend wirkt er zunächst auch unscheinbarer konzipiert als beide anderen Protagonisten. Bereits 1929 hält Niedner fest: Weniger selbständig [als alle anderen Figuren] erscheint [Ǫzurrs] Sohn Leif, der ewig zögernde, der durch seine Verheiratung aus Thrands Vormundschaft in die der beiden klugen und energischen Frauen der Sigmundpartei hinübergeht und erst im Kampf gegen Thrands Neffen heldenhaft hervortritt.11
Damit ist Leifrs Entwicklung als Protagonist der Saga treffend umrissen: Er tritt hauptsächlich als Teil anderer Interessengruppen auf und gleicht damit zunächst seinem Ziehbruder Sigurðr.12 Sein Potenzial als Herrscher stellt Leifr erst kurz vor dem Ende des Textes unter Beweis. Dabei zeigt sich auch, dass er, im Gegensatz zu seinen Vorläufern und Konkurrenten, zur Herrschaft prädestiniert zu sein scheint. Ármann Jakobsson vergleicht ihn nicht zu Unrecht mit Set, dem biblischen Bruder von Kain und Abel, der die Erde nach den Streitigkeiten seiner Vorgänger erbt.13 Ebenso ergeht es in gewisser Hinsicht Leifr: Er ›erbt‹ die Färöer als Herrscher, nachdem alle anderen Kandidaten ausgeschaltet sind. Zum Teil muss er daran zwar gehörig mitarbeiten, allerdings braucht es zur Durchsetzung von Leifrs Herrschaft letztlich ein glückliches Konglomerat verschiedener Faktoren. Dazu gehören neben seiner persönlichen Disposition die politischen Fehlberechnungen Þrándrs und das mangelnde Geschick von Leifrs Gegnern ebenso wie die aktive Mithilfe seiner Frau und seiner Schwiegermutter.14 Dadurch erscheint er gleichzeitig als die personifi-
7 Zur Ursprünglichkeit der rechtmäßigen norwegischen Herrschaft über die Färöer vgl. Kap. 2.3.2 u. Kap. 4. 8 Beide Zitate Glauser 1989, S. 221. 9 Glauser 1989, S. 222 (Angleichung an deutsche Schreibung im Original). 10 Vgl. hierzu näher jeweils Kap. 3 u. Kap. 4. 11 Niedner 1929, S. 19. 12 Vgl. zur Korrelation bereits Kap. 5. 13 Vgl. Ármann Jakobsson 2009, S. 59–60. 14 Vgl. jeweils auch Kap. 3, Kap. 5 u. Kap. 7.3.3.
6.2 Leifrs Abstammung und ungewöhnliche erzählerische ›Geburt‹
409
zierte, perfekte Lösung des langen färöischen Konflikts und als vom Glück begünstigter Aufsteiger.15 Er ist, so darf als Fazit vorweggenommen werden, schlicht zur rechten Zeit mit den rechten Eigenschaften am rechten Ort, sodass seine Herrschaft letztendlich diejenige ist, die aus dem Machtkampf auf den Färöern hervorgeht. Im folgenden Kapitel soll dieser letzte Hauptakteur des Konflikts der Færeyinga saga näher analysiert werden. Dabei ist grundsätzlich zu bemerken, dass er nur in der Flateyjarbók-Redaktion als eigentlich handlungstragend auftritt. Sein Weg an die Herrschaft trägt sich erst im allerletzten Teil der Erzählung zu, der nur dort überliefert ist, weshalb im Folgenden nicht weiter auf unterschiedliche Textzeugen weiterverwiesen werden kann. In allen Abschnitten, in denen Leifr auch von anderen Textzeugen genannt wird, ist seine Figurenkonzeption jedoch unverändert. Vom letztendlichen Herrscher (der Leifr allerdings nur in der Flateyjarbók wird) zeichnen insofern alle Handschriften das gleiche Bild, ein an sich bemerkenswerter Befund.
6.2 Sá maðr er Leifr heitir ok er Ǫzurarson – Leifrs Abstammung und ungewöhnliche erzählerische ›Geburt‹ Leifr Ǫzurarson entstammt einer auf den Färöern bedeutenden Familie. Sein Großvater Hafgrímr wird als Erster nach dem Bericht von Þrándrs Auslandsreise in die Færeyinga saga eingeführt als rikr madr ok hard feíngr audigr at fe […] hofdínge yfir helming eyíanna […] akafa madr mikill ok var ekki kalladr vitr madr.16 Damit gehört Hafgrímr zum ursprünglichen erzählerischen Gleichgewicht und ist der rechtmäßige Herrscher wenigstens eines Teils der Inseln.17 Rechtlich ist eine spätere Herrschaftsbeteiligung seines Enkels damit legitimiert.18 Der Gesamterzählbogen der Saga bestätigt so durch sein Ende den Anfang,19 wenn mit Leifr als Schwiegersohn Sigmundrs und Enkel Hafgrímrs beide ursprünglich die Herrschaft innehabenden
15 Vgl. Schmidt 2016, S. 310–311. 16 Fær, S. 8 (mächtiger Mann, streitbar und reich an Vermögen […] Oberhaupt über eine Hälfte der Inseln […] Mann von heftiger Gemütsart und man nannte ihn keinen weisen Mann). Die narrative Klammer des Textes wird so auch darüber geschlossen, dass der Enkel derjenigen Figur die Herrschaft innehat, die als erste nach der Hauptfigur Þrándr in die Erzählung eingeführt wird. Es sind nicht Brestir und Beinir, und damit Sigmundrs Elterngeneration, die hier genannt werden, sondern der Großvater der Herrscherfigur am Ende der Saga. Dies darf als narrativer Wink des Anfangs gegen Ende der Erzählung gewertet werden und ist gleichzeitig ein Indiz für die nur scheinbare Privilegierung Sigmundrs innerhalb der Færeyinga saga. 17 Zur Bedeutung von Anfangssetzungen in Narrativen generell vgl. Koschorke 2013, S. 61–63; zum Anfang in den Isländersagas als ausbalancierter Nullpunkt vgl. Gaskins 2005, S. 205; Vésteinn Ólason 2011, S. 89. Vgl. auch Shortt Butler 2016, S. 325. Siehe hierzu auch Kap. 4.2.1. 18 Vgl. zum mittelalterlich-dynastischen Legitimitätsdenken Melville 2015 und Weinfurter 2015. Siehe auch Andenna/Melville 2015, S. 12–13 u. S. 18–19; vgl. Kap. 4.2.1. 19 Vgl. generell Koschorke 2013, S. 61–64.
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6 Leifr O˛zurarson
Familien die Färöer beherrschen.20 Doch Leifrs Großvater Hafgrímr verliert zunächst seine Herrschaft sehr schnell, als er wegen seines ungezügelten Temperaments in Streit mit Brestir und Beinir, den anderen beiden Teilherrschern gerät. Zwar geht dieser Streit nicht direkt von ihm selbst aus, doch sind die beiden Auslöser des Konflikts, Eldjárn kambhǫttr und Einarr suðreyingr, beide seine heimamenn.21 Als diese in Streit geraten, verliert Hafgrímr aufgrund mangelnden Rechtsgeschicks und fehlender Stärke, das gewaltsame Vorgehen seiner Gegner zu kontern,22 die Angelegenheit gegen Brestir und Beinir vor Gericht. Sein verletzter Stolz kann diese Niederlage aber nicht ertragen, sodass er gegen die Brüder zu Felde zieht. Diese Ereigniskette befördert letztlich Þrándr in die herrschaftliche Position.23 Hafgrímr zeigt sich während seines kurzen Auftritts in der Færeyinga saga so als impulsiv vorgehender Mensch, der ein übersteigertes Selbstwertgefühl, aber mangelnde Qualitäten als Herrscher an den Tag legt und sich als leicht durch andere manipulierbar herausstellt.24 Zugleich aber stellt er eine gewisse Achtung vor der Billigkeit des Gesetzes unter Beweis, wenn er im Gegensatz zu Brestirs gewaltsamer Auflösung des Gerichts den Rechtsweg immerhin sucht. Er entspricht trotz seines impulsiven Zorns nicht dem Kriegertypus. Gewaltanwendung ist nicht seine primäre Handlungsagenda, auch wenn er durch den kampfwütigen Totschlag an Brestir beweist, dass er durchaus ein fähiger Krieger ist. Noch ehe Hafgrímr Þrándr aufsucht, wird sein Sohn eingeführt, er Ỏzsorr het ok var þa íx vetra er þetta var til tíȷ́denda ok hínn efnnnilígste madr.25 Nach Hafgrímrs Tod und dem Verkauf von Sigmundr und Þórir in die Sklaverei nimmt Þrándr Ǫzurr als Ziehsohn auf. Als erwachsener Mann wird Ǫzurr erneut beschrieben als fræknnligr
20 Dass damit allerdings keine mechanische Erfüllung des Erzählursprungs durch das Ende vorliegt, zeigt bereits die Tatsache, dass Leifr beide Familien vereint und deren legitimen Herrschaftsanspruch somit potenziert. Vgl. hierzu auch Kap. 2.3.2.3 u. Kap. 8. 21 Siehe Fær c. 4, S. 8. Zu diesen beiden Figuren als Urgrund des Konflikts siehe auch Kap. 7.1. 22 Sein mangelndes Rechtsgeschick beweist Hafgrímr, indem er die Vorgänge zwischen Einarr und Eldjárn zu spät öffentlich bekanntgibt, sodass Brestir mit seiner Anklage schneller ist: Brestir hafdi lyst þegar frumhlaupi þui er Kambhỏttr hafde ueítt Eínare þa er ny uordit var (Fær, S. 11; Brestir hatte gleich bekanntgemacht, dass Kammhut einen Angriff gegen Einarr ausgeführt hatte, als es gerade geschehen war). Auch hat er offenbar nichts entgegenzusetzen, als Brestir v nyttí […] malít firir Hafgrimi ok ohelgade Kambhỏtt (Fær. S. 11; die Anklage vor Hafgrímr […] nichtig machte und Kammhut für rechtlos erklärte). Dass er zusätzlich trotz großer Mannschaft nicht in der Lage ist, das gewaltsame Zersprengen des Gerichts durch seine Gegner zu verhindern (Fær, S. 11: [Brestir] hleypti upp domínum firir Hafgrimi; [Brestir] sprengte das Gericht vor Hafgrímr; vgl. auch Foote 1970, S. 167–168), vergrößert seine Schmach und zeigt ihn auf ganzer Linie als erfolglos. Hafgrímr ist trotz seines großen Selbstwertgefühls nicht einmal in der Lage, seine Defizite in der Rechtsanwendung durch Gewaltanwendung zu kaschieren. Vgl. zu diesem ursprünglichen Konflikt auch Kap. 4.2.1 (Fn. 57). 23 Vgl. Fær c. 5–7, S. 10–17; Kap. 3. 24 Siehe etwa Þrándrs Hetzrede, Fær c. 7, S. 15–16. 25 Fær, S. 12 (der Ǫzurr hieß; er war da neun Jahre alt, als sich dies ereignete, und der vielversprechendste Mann).
6.2 Leifrs Abstammung und ungewöhnliche erzählerische ›Geburt‹
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madr at sia ok skorulígr.26 Wichtig scheint hier der Zusatz at sia, denn tatsächlich ist Ǫzurr nur »dem Anschein nach« überaus vielversprechend. Er erhält von Þrándr einen Herrschaftsbereich und Besitzungen zugeteilt: [A]tti Ỏzsorr nu íȷ ́ bu edr ííȷ ́,27 und zwar neben dem väterlichen Sitz die ehemaligen Besitzungen Brestirs und Beinirs, die er befestigen lässt. Hinter dieser ›Teilung‹ der Herrschaft steht damit wohl lediglich Þrándrs Plan, Ǫzurr in die zu erwartende Angriffslinie bei einer Rückkehr Sigmundrs zu befördern.28 Ǫzurr wird zwar dadurch oberflächlich ein mächtiger Mann auf den Färöern, bleibt aber stets im Schatten seines Ziehvaters,29 der mehr faktische Besitzungen hält und intelligenter als sein Ziehsohn ist: [Þ]eir Ozsorr voru æigi iafn slægir.30 Als Sigmundr tatsächlich zurückkehrt und Ǫzurr angreift, verweist dieser bei seinen Ausgleichsbemühungen entsprechend wohl implizit auf Þrándr, als er meint, die Angelegenheit solle von hínir bezstu menn j Færeyíum entschieden werden.31 Auf dieses noch vor jeglicher Kampfhandlung unterbreitete Angebot geht Sigmundr allerdings nicht ein, sondern verlangt das Selbsturteil und provoziert damit einen Waffengang. Dabei erschlägt er Ǫzurr ohne Schwierigkeiten.32 Das erzählerische Versprechen hínn efnnilígste zu sein, löst Ǫzurr so kaum ein; die Bezeichnung findet nur stereotype Verwendung. Er präsentiert sich weder als Krieger noch als Herrscher: Er versucht nicht, Sigmundr Bedingungen abzuringen, und zeigt sich ebenso wenig besonders begierig auf einen Kampf – mit Recht, wie sein schneller Tod erweist. Zugleich aber betrachtet er ein Selbsturteil Sigmundrs deutlich als unter seiner Würde.33 Grundsätzlich zeigt er sich seines Eigenwerts bewusst – jedoch zieht er Mäßigung vor und hofft trotz seiner nominellen Herrschaft auf die Unterstützung seines Ziehvaters.
26 Fær, S. 47 (dem Aussehen nach ein tapferer Mann und eindrucksvoll). 27 Fær, S. 47 (Ǫzurr hatte nun zwei Wohnstätten oder drei). 28 Vgl. North 2005, S. 63. 29 Niedner 1929, S. 19 betont hingegen, dass auch Ǫzurr »keineswegs nur eine von [Þrándr] gelenkte Schachfigur« sei. Seine Bemerkung, Leifr sei noch weniger selbstständig als der Vater, ist dabei zweifelhaft: Leifr wird ein gehöriges Mehr an aktiver Handlungsmacht in der Færeyinga saga zugestanden als Ǫzurr. Indes ist Niedners Implikation, auch Ǫzurr habe eigenständige Wünsche, Ansprüche und Ziele, durchaus zuzustimmen. Diese können gegen die Agenda seines Ziehvaters allerdings kaum bestehen. 30 Fær, S. 47 (Er [Þrándr] und Ǫzurr waren nicht gleich durchtrieben). Vgl. zur geistigen Unterlegenheit Ǫzurrs vor seinem Ziehvater auch Kap. 3.4.1. 31 Fær, S. 54 (den besten Männern auf den Färöern). 32 Vgl. auch Kap. 4. 33 Siehe Fær, S, 54: [Æ]igi mun ek at þui sættazst segir Ozsorr at selia þer sialfdęmi ueít ek ekki þann manna mun okkarnn ok malaferlla mun at ek þurfui þess (›So werde ich mich nicht vergleichen‹, sagt Ǫzurr, ›dir das Selbsturteil zu überlassen. Ich weiß nichts von einem solchen Unterschied zwischen uns und unserer Berechtigung zur Prozessführung, dass ich das müsste‹). Grundsätzlich hat Ǫzurr mit diesem Argument nicht unrecht: Brestir selbst hat das Recht durch seine gewaltsame Gerichtsauflösung gewissermaßen aufgelöst, vgl. Kap. 4.2.1 (Fn. 57). Er ist insofern an den entstandenen Streitigkeiten, der Gewalteskalation und seinem eigenen Tod nicht unschuldig, während er das gleiche Recht auf Herrschaft vorweisen kann wie Hafgrímr.
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6 Leifr O˛zurarson
Beide Männer, Hafgrímr wie Ǫzurr, sind kaum als eigenständige Figuren konzipiert, sondern dienen in der Erzählung vor allem zur Verdeutlichung von Þrándrs Macht und politischer Intelligenz und als Trittsteine seines persönlichen Aufstiegs. Beide zeichnen sich weder durch hohe Intelligenz noch politisches Planungsgeschick aus. Hafgrímr wird von seinem Ziehvater Snæúlfr eindrücklich vor einer Auseinandersetzung mit Brestir und Beinir gewarnt,34 sucht danach aber dennoch Þrándr auf. Ǫzurr steht rechtlich und moralisch das Erbe seines Vaters zu, doch erhält er es von Þrándr lediglich nominell zurück. Sie sind insofern, trotz erkennbarem eigenem Willen, nicht mehr als Bauern in Þrándrs größerem Schachspiel um die Macht auf den Färöern; er vermag sie nach Belieben für seine Zwecke einzusetzen. Damit präfigurieren beide Leifr Ǫzurarson selbst sowohl konzeptionell als auch erzählerisch, kontrastieren aber auch mit ihm. So agiert zwar Leifr nie besonders weise, allerdings durchaus klug bzw. »berechnend«.35 Anders als Hafgrímr ist er nie aufbrausend, sondern fähig, persönliche Niederlagen gleichmütig hinzunehmen. Er weist die Bereitschaft zur Mäßigung auf, die sein Vater in der Auseinandersetzung mit Sigmundr an den Tag legt. Zunächst einen Ausgleich zu suchen und den Kampf nur als letzte Option in Betracht zu ziehen, deckt sich mit Leifrs Verhalten am Ende der Erzählung. Er handelt um einiges bedächtiger als wahre Krieger wie etwa Sigmundr oder Sigurðr Þorláksson.36 Dennoch scheint Leifr die ursprüngliche Beschreibung seines Vaters als efniligr, skǫruligr und frœknligr erzählerisch retardiert einzulösen: Er verhält sich letztendlich so, wie es von seinem Vater Ǫzurr erzählt wird, bei dem die Figurengestaltung allerdings nie damit zur Deckung gebracht wird. Während sein Großvater und Vater jeweils nur einen Kampf ausfechten, den sie mit dem Leben bezahlen, erweist sich Leifr als fähiger Kämpfer. Für lange Zeit teilt er sich mit beiden allerdings die Eigenschaft, unter Þrándrs fast vollständiger Kontrolle zu stehen. Er ist ebenso manipulierbar durch ihn umgebende, handlungsmächtigere Figuren wie seine väterlichen Vorfahren. In gewisser Weise bleibt er trotz seines Gleichmuts den Hetzreden seiner Frau und Schwiegermutter gegenüber stets Werkzeug in den Händen anderer Interessen, wie noch zu zeigen sein wird.37 Was ihn dabei von Vater und Großvater unterscheidet, sind die für seine eigenen Interessen günstigeren Umstände, da sich seine Ziele mit denen der Figuren, die ihn zu manipulieren und einzusetzen wissen, zum Großteil decken. Ebenso wie Ǫzurr und dessen Vater respektiert Leifr dabei grundsätzlich die Maßstäbe von Rechtmäßigund Billigkeit. Er überspannt den Bogen der eigenen Ansprüche nie, erhebt sich nicht selbst über das Wohl der Allgemeinheit und respektiert insofern ein soziales Gesellschaftsprinzip. Indem er das Gesetz vor der Durchsetzung der eigenen Ziele durch Gewalt grundsätzlich vorzieht, und doch bereit ist, seine Ehre mit der Waffe
34 35 36 37
Vgl. Fær c. 6, S. 11–12. Glauser 1989, S. 221. Vgl. hierzu Kap. 4 u. Kap. 5. Vgl. auch 7.3.3.
6.2 Leifrs Abstammung und ungewöhnliche erzählerische ›Geburt‹
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in der Hand einzufordern, wenn es geboten scheint, handelt er nach der Idealvorstellung der isländischen Sagagesellschaft.38 Im Gegensatz zu Hafgímrs gescheitertem Prozess kann sich Leifr dabei auch in Rechtsangelegenheiten durchsetzen, nicht zuletzt dank der Expertise seines Cousins Gilli lǫg(sǫgu)maðr. Wie sein Vater wird Leifr kurz vor desen Tod als Kind in die Erzählung eingeführt: Ozsor atte son er Læifr het ok var þa ungt barnn.39 Später, nachdem Sigmundr Þrándr die Entscheidung Jarl Hákons verkündet und dieser sie zögerlich angenommen hat, wird Leifr zum zweiten Mal erwähnt, als Þrándr ihn aufnimmt: Þrandr baud Leifuí Ỏzsorar s(yni) nu til fostrs heim j Gꜹtu ok þar óx hann upp.40 Die dritte Erwähnung findet Leifr, als Þrándr die Angelegenheit um seine Vaterbuße vor Sigmundr anspricht: [S]ua er hattat frænde sagde hann [Þrándr] at sa madr er Leifr hæitir ok er Ỏzsurar son. ok baud ek honum heim er uid uorum sattir nu uil ek bidia þíg frænde sagdi Þrandr. at þv vnnir Lefui nỏkkurra sæmda eftir fỏdur sinn Ỏzsurr er þu draft.41 (›Es ist so, Verwandter‹, sagte er [Þrándr], ›dass es einen Mann gibt, der Leifr heißt und Ǫzurrs Sohn ist. Und ich entbot ihn zu mir nach Hause, als wir uns verglichen haben. Nun will ich dich bitten, Verwandter‹, sagte Þrándr, ›dass du Leifr wegen seines Vaters Ǫzurr, den du getötet hast, ein wenig Ehre entbietest.‹)
Weitere Erwähnungen findet Leifr im Zuge der nach Þrándrs hier aufgebrachtem Vorschlag entstehenden Spannungen zwischen diesem und Sigmundr. Bei jeder ausstehenden Zahlung wiederholt Þrándr gebetsmühlenartig seine Aufforderung an Sigmundr, Leifr seines Vaters wegen Buße zu zahlen.42 Davon abgesehen wird er nach der Einführung von Þrándrs Neffen noch ein weiteres Mal in der Saga erwähnt, ehe er eine Rolle in der Handlung übernimmt: Leifr var þar at fostri ok voru þeir jafnn alldra.43 Anders als alle anderen Hauptfiguren der Færeyinga saga erhält Leifr damit nie eine Charakterisierung durch den Erzähler, wie eine äußerliche Beschreibung, oder, im Falle Þrándrs, eine Darstellung wichtiger Eigenschaften. Dies unterscheidet ihn auch von seinem Großvater und Vater. Gleichzeitig spiegelt sein unterschwelliges Auftauchen in der Handlung deren geringe Profilierung im Handlungsgang der Saga. Die Vervielfachung der ›Figureneinführung‹ ist durch Ǫzurrs gedoppelte, wenn auch äußerst kurze Beschreibung zudem vorausgedeutet. Leifrs Eintritt in den Handlungsgang wirkt damit so ungewöhnlich wie er selbst als Protagonist. Er wird
38 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 203–205. 39 Fær, S. 54 (Ǫzurr hatte einen Sohn, der Leifr hieß, und er war da ein kleines Kind). 40 Fær, S. 62 (Þrándr entbot nun Leifr Ǫzurarson zur Erziehung nach Hause nach Gasse und dort wuchs er auf). 41 Fær, S. 63. 42 Siehe Fær c. 26, S. 65, u. c. 35, S. 81. 43 Fær, S. 81 (Leifr war dort zur Erziehung und sie waren gleichaltrig).
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inmitten der Konfrontation zwischen Sigmundr und seinem Vater eingeführt, nachdem noch im Satz zuvor Ǫzurrs Mannschaftsstärke dargestellt wird, und damit unmittelbar vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen. Es kommt insofern nicht zur Einführung in einer erzählerischen Nullpunktsituation oder einer Figurenetablierung durch den Erzähler. Stattdessen wird Leifr zum Zeitpunkt ausbrechender Kämpfe, mit denen er nichts zu tun hat, nur erwähnt. Er erscheint so zunächst gar nicht als eigenwertige Figur, die eine Vorstellung nötig hätte, sondern wird schon im Kindesalter zum Spielball fremder Machtinteressen. In einem narrativen Sinn weist er so keinen eigentlichen Ursprungsort auf. Die Einführung und damit einhergehende Beschreibung einer Figur markiert eine Situation, die analog zu einer ›Geburt‹ betrachtet werden kann: Ist diese Situation absolviert, so ist die zugehörige Figur in den Handlungsgang eingebracht und darf als bekannt vorausgesetzt werden. In Leifrs Fall aber unterbleibt eine solche Anfangssituation. Er wird vor seinem Eintritt in den Plot als Akteur und Handlungsträger nur einige wenige Male inmitten der Schilderung vor sich gehender Konflikte anderer Figuren erwähnt, als sei diese Nennung ein nachträglicher Einfall der Erzählinstanz. Dadurch wird seine Rolle im Geschehen verdeckt. Er befindet sich gewissermaßen ›unterhalb des Radars‹ der Rezipientenaufmerksamkeit, die von Leifr fort auf die ihn umgebenden Konflikte dirigiert wird. Zugleich aber ist er in der Erzählung präsent, und wenn er schließlich als Handlungssubjekt in Erscheinung tritt, geschieht dies zwar abrupt und angesichts seiner langen Unscheinbarkeit für die Rezipienten überraschend, scheint aber angesichts seiner bereits langen Anwesenheit im Erzählgang nur logisch. Die RezipientenWahrnehmung wird damit einmal mehr in Frage gestellt, denn Leifr taucht nicht plötzlich als neuer Handlungsträger auf, er ist unmerklich schlicht bereits anwesend. Damit korrespondiert seine unmerkliche narrative Darstellung mit Leifrs unauffälligem Verhalten auf der Handlungsebene. Weder narrativ noch in seinen Taten zieht er unmittelbare Aufmerksamkeit auf sich. Leifrs ›Einführung‹ ließe sich so als inverse Vorausdeutung verstehen: Derjenige, der inmitten des Konflikts gleichsam narrativ ›geboren‹ wird, ohne dessen Subjekt zu sein oder die Aufmerksamkeit der Konfliktparteien (und damit der Rezipienten) auf sich zu ziehen, ist derjenige, der den Machtkampf zuletzt überleben und den Thron erben kann – ein auch narrativer Überlebenskünstler. Leifr erscheint dadurch abgesondert im Kontext der übrigen Figuren der Færeyinga saga. Obgleich seine Vorfahren in gleich zwei Generationen in der Handlung eine (Neben-)Rolle spielen, und sich Analogien zwischen diesen und Leifrs Verhaltensweisen und Charakteristika herstellen lassen, spiegelt er doch nicht im engeren Sinne seinen Vater und Großvater. Dies unterscheidet ihn etwa von Sigmundr oder dessen narrativem Doppelgänger in der zweiten Generation des Konflikts, Sigurðr. Dadurch wird die in der Færeyinga saga aufscheinende Tradition durchbrochen, handlungstragende Figuren durch ihre Umgebung bzw. Vorgänger zu präfigurieren. Dennoch ergeben sich Analogien zu Leifrs direkt unterbliebener und zudem stark retardierter ›Einführung‹: Sie spiegelt das erzählerische Design der Sigmundr-Figur,
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der über einen langen Erzählzeitraum als Figur konzipiert wird und schrittweise hervortritt.44 Wie wiederholt im Falle Þrándrs und seiner Angehörigen wird gleichzeitig die tatsächliche Rolle Leifrs in der Handlung durch die Fokusverschiebung auf seine Umgebung verdeckt. Leifrs Etablierung als Figur ohne eigentliche Einführung spiegelt insofern die destabilisierte Erzähltechnik, auf die die Færeyinga saga zur Darstellung Þrándrs mehrfach zurückgreift.45 Die Unauffälligkeit von Leifrs Einflechtung in die Handlung macht ihn darüber hinaus auf der Ebene der Erzählgestaltung ebenso ›wurzellos‹, wie Þrándrs mangelnde Genealogie diesen dem sozialen Kontext enthebt.46 So wird der Name von Leifrs Mutter ebenso wie bei Þrándrs Neffen nie genannt,47 was die Bedeutungslosigkeit weiblicher Figuren in Þrándrs Familie spiegelt. Dies scheint umso auffälliger angesichts der Rolle, die weibliche Figuren in Leifrs eigenem Leben spielen werden, worauf zurückzukommen sein wird.48 Konzeptionell gleicht Leifrs bemerkenswert unscheinbare Etablierung als Figur insofern zugleich allen und keiner der vorangegangenen Hauptfiguren. Ebenso wie Þrándr wird er nicht bereits durch genealogische Vorgänger determiniert, zugleich ist seine spätere Herrschaft über seine Vorfahren legitim. Wie Sigmundr ist seine ›Einführung‹ über einen großen Erzählzeitraum gestreckt, aber er ist nicht primär ein Kämpfer. Wie Sigurðr, Þórðr und Gautr gehört er der neuen Generation des Konflikts auf den Färöern an, anders als sie aber wird er nicht durch die Erzählstimme in Form einer förmlichen Vorstellung fokussiert.49 Auf dieser Grundlage scheint Leifrs gesamte Figurenetablierung seine untypische Rolle als letztendlicher ›Held‹ der Erzählung vorauszudeuten. Er taucht fast beiläufig in der Færeyinga saga auf. Schon seine narrative ›Geburt‹ markieret Leifr damit als ungewöhnliche Figur. Als ebensolche zeigt er sich im Handlungsverlauf.
6.3 Von Þrándrs ultimativer Schachfigur zu des Königs treuem Diener – Leifr Ǫzurarsons Wechsel der Zugehörigkeit Im Moment seiner ersten Erwähnungen im Text scheint Leifr bereits verloren. Noch ein Kind, ohne jegliche eigene Handlungsmacht, wird zunächst nur über ihn gesprochen. Er wird für die Erzählung dennoch sogleich bedeutsam, weil Þrándr ihn sofort zu einer Schachfigur seiner politischen Ambitionen macht. Er vereinnahmt den jungen Leifr, indem er sein Ziehvater wird, und er setzt ihn ohne Zögern in
44 Vgl. Kap. 4. 45 Siehe Kap. 3 u. Kap. 5. 46 Vgl. Kap. 3.2.1. 47 Es heißt lediglich: Þrandr fęr honum [Ǫzurr] kuonfang þar j eyíunum hínnar bezstu bonda dottur (Fær, S. 47; Þrándr verschafft ihm [Ǫzurr] eine Ehefrau dort auf den Inseln, die beste Bauerstochter). 48 Siehe auch Kap. 7.3.3. 49 Vgl. Kap. 5.2.1.
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seinem Streit mit Sigmundr ein. An Þrándrs Forderung an Sigmundr, dem Jungen eine Bußzahlung für den Totschlag an dessen Vater zukommen zu lassen, kristallisieren sich der fundamentale Unterschied zwischen der Herrschaftsausübung Þrándrs und der Sigmundrs sowie Sigmundrs unüberbrückbare Mängel als Herrscher auf den Färöern zugleich.50 Schon bei der Einforderung des zweiten Drittels der von Hákon festgesetzten Bußgelder wagt Þrándr den Vorschlag, Leifr anstatt Sigmundr das ausstehende Geld zu bezahlen. Unter vorgehaltener Waffe zwingt Sigmundr ihm für diesmal noch das Geld ab, doch ein Jahr später setzt Þrándr zur Unterstützung bereits auf die Allgemeinheit, von der er weiß, dass Sigmundr auf sie hört, und fordert Leifrs Vaterbuße öffentlich (statt wie zuvor offenbar unter vier Augen) ein: Þrandr bæidir fỏdr bota firir hỏnd Læifs Ozsurar sonar ok margir menn leggia nu ord til at þeir skulí vel semía S(igmundr) suar(ar). æigi gelldr Þrandr helldr Læfuí fet en mer en firir ord godra manna skal fe þetta standa.51 (Aber Þrándr bittet um Vaterbuße in Stellvertretung für Leifr Ǫzurarson, und viele Leute sprechen sich nun dafür aus, dass sie sich gütlich einigen sollen. Sigmundr antwortet: ›Þrándr zahlt Leifr das Geld nicht eher als mir, aber wegen der Worte guter Männer soll das Geld ausstehen.‹)
Nachdem Óláfr Tryggvason gestorben ist, erneuert Þrándr seine Forderung und erhöht sie ob des unterbliebenen, letzten Drittels seiner eigenen Bußzahlungen sogar noch: [S]uo er hattat S(igmundr) frænde at ek vil bæida þíg bota firir hỏnd Leifs Ỏzsurar sonar at þu bæitir honum fỏdur sinn.52 Erneut verweist Þrándr dabei auf eine Entscheidung durch die Allgemeinheit, at hínir bezstu menn geri med ykkr [Leifr] her j eyíunum.53 Leifr selbst erscheint während der gesamten Sequenz lediglich als Faustpfand in Þrándrs machtpolitischem Spiel, obwohl er bei seinem letzten ›Einsatz‹ durch Þrándr bereits erwachsen sein muss und von ihm zum Subjekt des Streits deklariert wird. Auch seine nächste Rolle in der Erzählung bekommt er von Þrándr zugewiesen. Dabei übernimmt er, nunmehr erwachsen, unvermittelt eine neue Funktion: Während Þrándrs Angriffen auf Sigmundr ist Leifr im Verbund mit Sigurðr als Chiffre für Þrándrs aktive, kämpferische Handlungsmacht anzusehen. Damit bleibt er selbst weiterhin nur eine Schachfigur in Þrándrs Spiel, doch wird er vom wehrlosen Kind zu einem offenbar fähigen Kämpfer, obwohl zu keinem Zeitpunkt der Erzählung ein Hinweis auf seine íþróttir, Mannbarkeit oder ähnliches erfolgt. Wie oben argumen-
50 Vgl. Kap. 3 u. Kap. 4. 51 Fær, S. 66. Die gesamte Sequenz findet sich in c. 26, S. 63–66. 52 Fær, S. 81 (›Es verhält sich so, Verwandter Sigmundr, dass ich von dir Wergeld für Leifr Ǫzurarson fordern will, dass du ihm seinen Vater büßt‹). Vgl. hierzu auch North 2005, S. 68. 53 Fær, S. 81 (›dass die besten Männer hier auf den Inseln zwischen euch [Sigmundr und Leifr] entscheiden‹).
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tiert scheint seine Kampfkraft eher ein verspätetes erzählerisches Echo der ursprünglichen Figureneinführung seines Vaters Ǫzurr zu sein. Wiewohl auch Sigurðr, der eigentliche Krieger, eine Rolle in Þrándrs Machtkampf spielt, scheint dieser den nicht-verwandten Leifr zu bevorzugen. Während des ersten Überfalls schickt er allen anderen voran Leifr als Ersten gegen Sigmundr: L(eifr) skuli ganga j mote S(igmundi) ok Þorllakssynir med honum.54 Dadurch rückt Leifr ins Zentrum von Þrándrs Kämpfern, während die Þorlákssynir wie eine nachgeschobene Unterstützungseinheit erscheinen. Eine ähnliche Situation ergibt sich nach Sigmundrs Flucht beim dritten Angriff, als Leifr und Sigurðr mit einer Hälfte von Þrándrs Männern die Suche nach Sigmundr durchführen sollen: [N]u skulu uer skípta lide voru segir Þrandr skal L(eifr) Ozsurar son ok Sigurdr Þorllaks son fara firir annan enda giarínnar ok sumt lid med þeim en ek firir anan enda.55 Zwar wirkt die Nennung beider Ziehsöhne Þrándrs in dieser Passage gleichberechtigter als in der zuvor genannten, doch wird erneut Leifr zuerst aufgezählt. Gleichzeitig perspektiviert diese Mannschaftsteilung Sigmundrs erfolgreiche, aber fatale Attacke auf Þrándrs Gruppe – ohne die beiden wahren Kämpfer seiner Familie, seine Ziehsöhne, an seiner Seite wirkt dieser im offenen Kampf verwundbarer. Leifr führt bis ans Ende der Saga zwar nie aktive Kampfhandlungen aus, scheint hier aber vom machtpolitischen Faustpfand seines Ziehvaters zum jungen und fähigen Nachwuchskrieger in Þrándrs Auftrag umfunktioniert. Gemeinsam wird er im Verbund mit seinem Ziehbruder Sigurðr noch ein weiteres Mal als Ausdruck für die Ausführung des Willens von Þrándr genannt, als Þorgrímr illi in Fesseln gelegt werden soll.56 In den wenigen Nennungen derjenigen, die Þrándrs Willen und dessen Dominanz in diesem Abschnitt in die Tat umsetzen, fällt so ein erzählerisches Ungleichgewicht zugunsten Leifrs ins Auge. Der Ausdruck þeir Leifr findet sich zweimal zusätzlich als Chiffre für Þrándrs Männer,57 und Leifr wird nach Þrándr bei Beschreibungen von dessen Mannschaften stets als zweiter genannt.58 Anderweitig spricht Þrándr als erstes zu 54 Fær, S. 82 (Leifr sollte Sigmundr entgegengehen und die Þorlákssöhne mit ihm); siehe bereits Kap. 5.2.3. 55 Fær, S. 84–85 (›Nun wollen wir unsere Mannschaft aufteilen‹, sagt Þrándr, ›Leifr Ǫzurarson und Sigurðr Þorláksson sollen zum einen Ende der Schlucht gehen, und ein Teil der Mannschaft mit ihnen, ich aber zum anderen‹). 56 Fær, S. 88: Þrandr lætr þa kalla a þa L(eif) ok Sigurd ok bidr at Þorgrimr ok s(ynir) hans se fiotradir ok suo var gert (Da lässt Þrándr nach Leifr und Sigurðr rufen und befiehlt, dass Þorgrímr und seine Söhne in Fesseln gelegt werden. Und so wurde es getan). 57 Fær, S. 85: [O]k finnazst þeir L(eifr) nu aller ok Þrandr (Es treffen sich nun alle Leute Leifrs und Þrándrs) – bemerkenswert ist diese Stelle umso mehr, da auch Sigurðr sich in Leifrs Gruppe aufhält; S. 87: [E]n þeir L(eifr) sítea frammi j husum vit ellda (Aber Leifr und die anderen sitzen vorne im Haus bei den Feuern). 58 Siehe etwa Fær, S. 84: [Þ]eir hofdu íȷ ́ skip ok lid ualít þar var j fỏr med Þrande L(eifr) Ozsurar son Sigurdr Þorlaks son […] (Sie hatten zwei Schiffe und eine auserlesene Mannschaft. Auf der Fahrt mit Þrándr waren Leifr Ǫzurarson, Sigurðr Þorláksson […]); S. 87: Lítlu eptir þetta byzst Þrandr hæiman ór Gotu ok L(eifr) med honum (Kurze Zeit darauf rüstet sich Þrándr zur Ausfahrt von zu Hause aus Gasse und Leifr mit ihm).
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ihm oder über ihn. Zudem ist es Leifr, der nach Sigmundrs Tod gemeinsam mit seinem Ziehvater die Herrschaftsposition auf den Färöern übernimmt.59 Mit Leifrs Hilfe also setzt Þrándr den nächsten Schritt seiner Politik in Gang. Darin deutet sich dessen schlussendliche Bedeutung in der Erzählung an: Er, der in der Saga mehr oder minder aufgetaucht ist, statt eingeführt zu werden, gewinnt im Konflikt zwischen Þrándr und Sigmundr unvermittelt an Bedeutung. Urplötzlich ist es dieser Mann, der als Þrándrs vorderster Kämpfer fungiert. Andererseits wird das besondere Verhältnis zwischen Þrándr und Leifr erstmals illustriert: Er ist sein Favorit unter den Ziehsöhnen,60 für ihn hat er größere Pläne und auf ihn verlässt er sich. Das Kind, das Þrándr zunächst nur als wehrloses Instrument im Streit mit seinem Konkurrenten benutzt hat, ist dabei auch zu seinem ›Lieblingssohn‹ gereift. Diese Tatsache zeigt sich insbesondere an Þrándrs bereitwilliger Beteiligung Leifrs an der Herrschaft. Dieser ist der Erste und Einzige, den Þrándr nicht implizit oder offen bekämpft, sobald er auf den Färöern an die Macht gelangt. Nach Sigmundrs Tod scheinen sich beide die Herrschaft zunächst zu teilen. Da Leifr zu diesem Zeitpunkt der Erzählung nach wie vor nicht als eigenständige Figur auftritt, bedeutet dies erneut die alleinige Vorherrschaft Þrándrs. Dennoch erscheint die Zuteilung eines Teils der Herrschaft über die Färöer an Leifr ungewöhnlich angesichts von Þrándrs uneingeschränktem Machthunger. Fraglich bleibt, inwiefern sich hier tatsächlich tiefere Zuneigung Þrándrs äußern könnte – die fast selbstverständlich anmutende Einbeziehung Leifrs in seine Herrschaft und seine Aktionen zeigt den egoistischen Machtpolitiker jedenfalls vordergründig in ungewöhnlicher Rolle.61 Darin zeigt sich jedoch wohl vor allen Dingen eine gewisse Dankbarkeit Þrándrs dafür, dass er Leifr von Beginn an sehr effektiv und ohne Widerstände für sich einsetzen kann. Sein Plan ist und bleibt, Leifr erneut als bloßes Mittel seiner Machtpolitik einzusetzen: Er will ihn mit Sigmundrs Tochter Þóra verheiraten, vordergründig, um die Familie seines nunmehr ausgeschalteten Konkurrenten zu entschädigen und Ausgleich und Frieden auf den unruhigen Inseln zu schaffen. ›Frieden‹ bedeutet in diesem Fall allerdings allein Þrándrs abgesicherte Vorherrschaft. Das Kind, das er bereits im Moment der Annahme der Ziehvaterschaft gegen Sigmundr eingesetzt hat, funktionalisiert er nach dem Kämpfer nun zur ausgleichen-
59 Fær, S. 86: Þrandr ok L(eifr) Ozsurar son toku nu undir sig allar Færeyiar ok hofdu ualld yfir (Þrándr und Leifr Ǫzurarson unterwarfen sich nun alle Färöer und hatten die Gewalt darüber). 60 Zur eminenten, sozialen Bedeutung dieser Art »fiktiver Verwandtschaft« vgl. Miller 1990, S. 171–173. 61 So stellt sich die Frage, ob Leifr in den Befund einzubeziehen wäre, dass Þrándr seine Ziehsöhne, »so oft er sie auch mißbraucht, doch auf seine Art liebt« (Niedner 1929, S. 19). Niedners Blick richtet sich vor allem auf Þrándrs Tod im Gram, den er als Kummer deutet, und somit auf die Verbindung zu seinen anderen Ziehsöhnen. Dass Þrándr diese »liebt« lässt sich mit Blick auf den Text wohl kaum bestätigen, setzt er sie doch dauerhaft allein als Handlanger ein und versucht, sich ihrer nach getaner Arbeit zu entledigen (vgl. Kap. 5; siehe auch Kap. 3.4.5). Wenn es eine Figur in der Færeyinga saga gibt, zu der Þrándr eine Art Zuneigung oder gar Liebe empfinden könnte, so am ehesten Leifr, den er wenigstens deutlich erkennbar unter seinen Ziehsöhnen favorisiert.
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den ›Gabe‹ an die gegnerische Familie um. Wohl auch deshalb muss Leifr von ihm mit einer gewissen politischen Machtstellung versorgt werden, um an Wert zu gewinnen. So leitet Þrándr eine dynastisch anmutende Nachfolge- und Herrschaftssicherungspolitik ein:62 Da Leifr sein ihm eng verbundener Ziehsohn ist, bedeutet eine Verbindung von dessen Besitzungen mit denen von Sigmundrs Familie zunächst Þrándrs Kontrolle über sämtlichen Grundbesitz auf den Färöern. Ein Erbe würde außerdem allen Landbesitz, der ursprünglich Hafgrímr und Brestir und Beinir gehört hat, erhalten. Diesen Erben, den jungen Sigmundr, Sohn von Leifr und Þóra, nimmt Þrándr wiederum als Ziehsohn an. Er betrachtet Leifr offensichtlich mehr als seinen Sohn denn einen eigentlich nicht Blutsverwandten, und vertraut auf sein nicht zuletzt durch seine konstante Patronage erreichtes, gutes Verhältnis zu ihm – durchaus nicht zu Unrecht. Gegebenenfalls hofft er nach den Erfahrungen mit Leifrs Vater Ǫzurr auch darauf, ihn als intellektuell Unterlegenen einfach kontrollieren zu können. Doch trifft er damit die grundsätzlichste und fatalste Fehlentscheidung seines politischen Lebens. Unfreiwillig etabliert Þrándr selbst durch die Verheiratung Leifr als eigenständige Figur in der Færeyinga saga außerhalb seiner Kontrolle. Vielsagenderweise erhält Leifr seine erste direkte Rede in der Saga im Zuge der Aufforderung Þrándrs, eine Frau zu heiraten: [H]uar skal læíta, fragt er seinen Ziehvater und gibt nach dessen Vorschlag zu bedenken: [Æ]igi þiki mer liklega horfa.63 Im Kontext von Leifrs später so bedeutungsvoller Verbindung mit Þóra ist es auffällig, dass er seine ersten Worte im Text bereits im Zusammenhang der Hochzeit mit ihr spricht. Gleichzeitig zeigen Art der Äußerungen und Formulierung ihn als charakterlich sehr defensiv, vorsichtig und abwägend. Sein Plan wäre diese Werbung nicht gewesen, doch lässt er seinen Ziehvater entscheiden und fügt sich dessen Plänen nach wie vor gehorsam. Der plötzliche narrative Bedeutungszuwachs, der Leifr als Þrándrs Schachfigur in diesem Abschnitt zufällt, deutet so Künftiges voraus. Es ist das anfangs so wehrlose Kind, das Þrándrs zweiter Mann wird, ja sogar von diesem selbst dazu designiert wird. Die Bevorzugung Leifrs vor seinem Ziehbruder Sigurðr, der als das aussichtsreichste Mitglied der neuen Generation in den Handlungsgang eingeführt wird,64 begründet den späteren Sieg. Leifr bekommt durch seine Übernahme der Teilherrschaft und seine Verheiratung mit der Tochter des eben besiegten Feindes von Þrándr einen eigenen Handlungsraum auf ›dessen‹ Färöern zugewiesen. Auf dieser Grundlage kann er eine eigene Handlungsmacht entfalten und aus dem Schatten seines Ziehvaters und dessen Machenschaften treten. Es ist diese Entscheidung Þrándrs, die Leifrs Herrschaft am Ende der Saga nicht allein narrativ vorausdeutet, sondern ursächlich bestimmt. Von der Konstellation aus, die dadurch erschaffen wird, kann Leifr werden, was er am Ende der Saga ist. Erst nach seiner
62 Vgl. North 2005, S. 70–72. Vgl. näher auch Kap. 3.3. 63 Fær, S. 87 (›Wo soll man danach suchen?‹; ›Das scheint mir nicht aussichtsreich auszusehen‹). 64 Vgl. hierzu Kap. 5.2.1.
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Hochzeit tritt er als selbstständige Figur in der Færeyinga saga in Erscheinung. Bis hierhin zeichnet ihn keinerlei eigene Handlungsmacht aus, und im ersten Moment, in dem er eine eigene Entscheidung treffen könnte, gibt er sich defensiv. Diese Eigenschaft wird sich auch durch Leifrs künftiges Leben ziehen, da er auch nach seiner Hochzeit zur endgültigen Lösung des Konflikts und seiner Machteroberung die aktive Mithilfe der Frauen seiner Familie benötigt, um zur Tat zu schreiten.65 Ein Draufgänger wird Leifr nie, wiewohl er am Ende der Erzählung das überragende Kampfgeschick beweist, das sein Erscheinen als Þrándrs vorderster Mann verspricht. Nach der Hochzeit tritt Leifr jedoch erneut recht unvermittelt in einer veränderten Funktion auf: Er wird zu einem der führenden Männer auf den Inseln. Er ist einer der färöischen Großen, die Óláfr der Heilige nach seinem Regierungsantritt zu sich beruft. Neben ihm sind es Gilli der Gesetzessprecher, Leifrs Cousin,66 Þórálfr Sigmundarson, der älteste männliche Abkömmling Sigmundrs, und Þrándr selbst, wobei letzterer aufgrund einer jedenfalls vorgeblichen Krankheit nicht an Óláfrs Hof erscheint.67 Óláfr bringt seine Forderungen vor oc s(egir) þeim at hann vildi hafa scatt af Færeyiom. oc þat með at Færeyingar scyldo hafa þꜹ log sem Olafr konungr setti þeim. […] bꜹð þeim monnom er honum þótto þar agæztir. at þeir scyldo geraz honom handgegnir oc þiԍia af honum metorð oc vinátto. en þeim hinom færeyscom virþiz sva orð konungs sem grunr mundi a vera hvernog þeira mál mundi snuazc ef þeir vildo eigi undir þat alt ganga sem konungr beiddi þa.68 (und sagt ihnen, dass er Steuern von den Färöern haben wollte. Und außerdem, dass die Färinger die Gesetze haben sollten, die König Óláfr ihnen gebot. […] Er bot es den Männern an, die er für die Herausragendsten hielt, dass sie in seine Dienste treten sollten und von ihm Ansehen und Freundschaft erhalten sollten. Aber den anderen Männern von den Färöern schienen die Worte des Königs so, als bestünde Zweifel dabei, wie sich ihre Angelegenheit verhalten werde, wenn sie sich nicht all dem beugen wollten, was der König von ihnen verlangte.)
Mit diesem König konfrontiert agieren die Färinger – und mit ihnen Leifr – defensiv und werden, nach einiger Beratung, seine Gefolgsleute. Zwar ist Leifrs Rolle an dieser Stelle der Narration nicht eigens in der Gruppe spezifiziert, doch entspricht das Vorgehen dem, das von Leifr zuvor berichtet wird: Er verhält sich unauffällig in der Erzählung und beugt sich äußeren Umständen. Für die Rolle des Königsmannes ist er, anders als etwa Sigmundr, nicht schon genealogisch prädisponiert, auch wenn sein Großvater bereits Lehnsmann war. Ebenso wenig ist sein Anschluss an den norwegischen König Herzenswunsch oder durch den Text in besonderem Maße als legitim absanktioniert – König Óláfr ist ein mächtiger Mann und verlangt nach noch mehr Einfluss. Leifr verhält sich mit dieser Tatsache konfrontiert nicht anders als bereits zuvor, als ihm sein Ziehvater die Hochzeit mit Þóra anträgt: Er agiert nicht,
65 66 67 68
Vgl. auch Kap. 7.3.3. Fær, S. 126: [Þ]eir voru systra synir G(illi) ok L(eifr) (Gilli und Leifr waren Schwestersöhne). Vgl. auch Kap. 3.4.4 (bes. Fn. 244 u. Fn. 261). Fær, S. 91–92.
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sondern reagiert. In diesem nächsten Schritt wechselt insofern nicht Leifrs eigene Handlungsagenda. Er wird lediglich vom Werkzeug Þrándrs zu dem des Königs, dessen Willen er sich ebenso beugt, wie er es zuvor dem Ziehvater gegenüber getan hat und später seiner Frau gegenüber tun wird. Im Zuge dessen wendet Leifr sich allerdings auch erstmals gegen seinen Ziehvater, der stets jeglichen norwegischen Einfluss auf den Färöern abzuwehren bemüht ist. Damit konstituiert sich in diesem Erzählabschnitt erstmals ein Unterschied zwischen Leifr und Þrándrs Familie. Während Þrándr seine Neffen ausschickt, um eine Einflussnahme Óláfrs zu verhindern, gehört Leifr zu der Gruppe von Männern, die für Þórálfr Sigmundarsons Norwegenreise verantwortlich sind: Leifr Ꜹzorar s(on) e(ðr) Gilli logsogo maðr e(ðr) Þoralfr or Dímun […] rǫða […] sin a milli. hvat undir mun bua orðsendingonni […]. þeir reðo þat at Þórálfr skyldi fara.69 Þórálfr kommt in Norwegen ums Leben und Óláfr schickt seinen Gesandten Karl, mit dem Leifr und Gilli sofort einen loyalen und ehrerbietigen Umgang pflegen: En er þeir hofþo tialdat oc vm búiz þa gengo þeir til fundar við Karl mǫrsca. voro þar queþior goðar. Siþan bar K(arl) orð oc jartegnir Olafs konungs oc vinmæli til þeira Gilla oc Leifs. þeir toco þvi væl oc buðo K(arli) til sin oc at flytia ø̨rendi hans oc veita honom slict trꜹś t sem þeir hefþi fꜹng á. hann toc þvi þacsamliga.70 (Aber als sie die Buden aufgeschlagen hatten und sich vorbereitet, da gingen sie zum Treffen mit Karl von Møre. Dort gab es gute Begrüßungen. Dann brachte Karl die Worte und Erkennungszeichen und freundschaftliche Rede von König Óláfr zu Gilli und Leifr. Sie nahmen das wohl auf und luden Karl zu sich ein und dazu, seinen Auftrag vorzubringen, und erweisen ihm solchen Beistand, wie sie die Möglichkeit dazu hatten. Er nahm das dankbar auf.)
Leifr hilft Karl im Folgenden, die fälligen Steuern einzutreiben: [H]eimti L(eifr) scatt saman um Strꜹmey oc um allar eyiar suðr þaðan.71 Leifr zeigt sich im Verhältnis zu König Óláfr und seinem Sendboten ebenso loyal wie zuvor gegenüber seinem Ziehvater, und fügt sich gewissenhaft in die von ihm verlangte Rolle. Er wird zu einem ehrenvollen Mitglied der Königspartei auf den Färöern – passend zu seinem Schwager Þórálfr und der Familie, in die er neu eingeheiratet hat. War er zuvor Angehöriger von Þrándrs Familie, die norwegische Machtbefugnisse auf den Färöern vehement bekämpft, so wandelt sich Leifrs Identität in Folge seiner Hochzeit und seines Treueids an König Óláfr in eine, die der Sigmundrs gleicht.72 Er ist ein Mann des Königs und seine Identität ist damit in Hinblick auf die räumliche Dichotomie, die die Færeyinga saga hintergründig prägt,73 als ›norwegisch‹ codiert. Er tritt in die
69 Fær, S. 94–95 (Leifr Ǫzurarson, Gilli der Gesetzessprecher und Þórálfr aus Dímun […] unterhalten […] sich, was hinsichtlich der Botschaft getan werden solle […]. Sie sprachen ab, dass Þórálfr fahren sollte). 70 Fær, S. 112–113. 71 Fær, S. 115 (Leifr holte auf der Strominsel die Steuern ein und auf allen Inseln südlich davon). 72 Zu Sigmundrs norwegisch gebundener Identität vgl. Kap. 4. 73 Siehe Kap. 2.3.2.
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Fußstapfen Sigmundrs und seiner Familie, des Mannes, der die norwegische Oberhoheit über die Färöer vertreten hat. Leifr ergreift Partei für seine neue Familie und deren Ziele sowie deren ausländische Machtbasis und wechselt damit im Kern seine Identität und narrative Zugehörigkeit. Mit Þrándr verbindet ihn ab diesem Zeitpunkt konzeptionell nichts mehr. Die norwegische Herrschaftslegitimation über die Färöer potenziert er dadurch: Er selbst ist Hofgehöriger und vertritt zugleich die Familie Sigmundrs und sein eigenes Geschlecht, die beiden Parteien, die die Färöer ursprünglich in norwegischem Lehnsdienst regiert haben. Gleichzeitig agiert Leifr aber als Mittler zwischen seinem Ziehvater und Karl, als dieser die Steuern von Þrándr abholen will.74 Er kennt Þrándr und rät seinen Männern entsprechend zur Vorsicht: L(eifr) mælti við foronꜹta sina at þeir scyldo fara varliga er þeir comi i búdena *þrøngvaz eigi gangi sa fyrstr út er siþarst gengr in.75 Daraufhin führt er seine bewaffneten Männer in Þrándrs abgedunkelte Þingbude, wo er mehrfach die Silberbeutel entgegennimmt, die Þrándr ihm als Steuerzahlungen anbietet, und zu Karl bringt. Auch ist es Leifr selbst, der auf Karls Bitten den Wert des Silbers einschätzt.76 Aus königlicher Perspektive ließe sich dies als Test von Leifrs Loyalität verstehen. Leifr besteht diese Probe anstandslos, beim zweiten Beutel unter gewissenhaftem Verweis auf die Mängel der Bezahlung nur einem König gegenüber.77 Zweimal weist er daher Þrándrs Silber als ungenügend zurück, bis dieser seine eigenen Einnahmen als Steuern entrichtet. Gleichzeitig gesteht Leifr seinem Ziehvater aber gewissenhaft einen Mann zu, der beim Abwiegen des angenommenen Silbers zusehen soll, und Þrándr wählt ihn selbst dazu aus.78 Leifrs Vorgehen verdeutlicht seine tiefe Rechtschaffenheit: Zwar hat er sich gegen seine Ziehfamilie gestellt, doch beansprucht er keine Kompetenzen und übertritt nicht die Grenze des Maßvollen. Er gibt dem König und dessen Stellvertreter, was diesen gebührt, fordert aber nicht mehr, als billig erscheint. Deshalb gesteht er auch der gegnerischen Partei das Recht zu, nicht übervorteilt zu werden und achtet deren Recht auf angemessene Behandlung. Das Prinzip seines Handelns ist von der Vorstellung geleitet, konsensbasiert und verantwortungsvoll gegen sich selbst und gegen andere aufzutreten, die eigene Integrität zu wahren, ohne die eines anderen zu beschneiden: Er ist der ideale drengr góðr der Sagagesellschaft.79 So erweist sich Leifr in diesem Abschnitt einerseits als dem König gegenüber ebenso treu wie zuvor Þrándr.
74 Vgl. auch Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3.3. 75 Fær, S. 116 (Leifr sagte zu seinen Begleitern, dass sie sich vorsichtig verhalten sollten, wenn sie in die Bude gingen; sie sollten sich nicht drängen, der gehe als erster heraus, der zuletzt hineingeht). 76 Siehe Fær c. 48, S. 117–122. 77 Fær, S. 120: [E]n eigi vil ec þetta fe konungi til handa taca (›Aber ich will dieses Geld nicht für den König nehmen‹). 78 Fær, S. 121–122: [F]á þu til Þrandr man at sia reizlor. Þrandr s(agði) at honom þótti bezt til fengit at L(eifr) sæi fyrir hans hꜹnd (›Þrándr, hol einen Mann, um beim Abwiegen zuzusehen.‹ Þrándr sagte, dass es ihm am besten geholt schiene, dass Leifr für ihn sehe). 79 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 203–205.
6.3 Von Þrándrs ultimativer Schachfigur zu des Königs treuem Diener
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Darin offenbart sich der völlige Wechsel seiner Zuordnung: Er gehört nicht länger Þrándrs Familie an. Andererseits aber will er keinen Konflikt zwischen seinem neuen König und seinem alten Ziehvater, sondern vermittelt. Dies tut er unauffällig und schlicht. Er ist in diesem Abschnitt insofern nach wie vor keine Figur im Zentrum der Aufmerksamkeit, jedoch ein hintergründig kompetenter Akteur, dessen defensive, wenig auf Ruhm ausgerichtete Handlungsweise umso erfolgreicher ist. Seine Persönlichkeit mag zurückgezogener wirken als die eines Þrándr, Sigmundr oder Sigurðr, ist aber diejenige, die sich gerade aufgrund ihrer Zurückgezogenheit am Ende der Narration als die siegreiche herausstellt. Insgesamt bleibt Leifr bis zu diesem Zeitpunkt der Erzählung in der ihm zu Beginn seines Lebens zugewiesenen, unscheinbaren Rolle, obwohl sich seine Zugehörigkeit im hintergründigen Konflikt um die Herrschaft über die Färöer zwischen einheimischen Akteuren und norwegischem Königshaus und damit seine Identität im Kern radikal wandeln. Er erscheint von Beginn an mehr als bereitwilliger Spielball anderer Interessen denn als bedacht auf das Erfüllen seiner eigenen Ambitionen. Leifr befindet sich stets inmitten von Verstrickungen der Konfliktlagen anderer. Sein Wert bestimmt sich daher konstant aus dem Kontext der Figuren um ihn herum. Ist er zu Anfang Þrándrs Faustpfand und sein ausführender Arm, so wird er zum Stellvertreter der Königspartei – beide Male nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil er sich in die Rolle fügt, die ihm von außen zugewiesen wird. Aus ihr bricht er nicht aus, und so bleibt seine Funktion im Zusammenhang der Færeyinga saga gleich: Er ist vordergründig nur ein Werkzeug in den Händen anderer. Dennoch findet hintergründig – ebenso hintergründig, wie Leifr auf der Handlungsebene präsent ist – eine Emanzipation statt, indem er nicht mehr unter der Kontrolle Þrándrs zu stehen beginnt. Dies schafft die Grundlage seiner späteren Herrschaft im eigenen Recht, auch wenn Leifr dafür kaum zu agieren braucht. Leifr ist ein Mann, der seine eigene Macht letztendlich aus der Konstellation der anderen Akteure in seinem Umfeld ziehen kann. Diese benutzen ihn zur Erfüllung ihrer eigenen Ziele, doch führt dies unmerklich zu einem Zuwachs an Leifrs eigener Macht. Der machtpolitische Überschuss, den die Pläne derjenigen, die Leifr einsetzen, generieren, ist der Urgrund von dessen eigener Macht – während seine Umgebung die Machtposition anstrebt, fällt sie Leifr zu, der die entstehenden Dynamiken und Zwischenräume ausnutzen kann. So gründet sich im Schlussteil der Færeyinga saga ein Zentrum des Erzählgewichts auf ihm, das neben das von Þrándr tritt und dessen Agenda Vermittlung heißt. Möglich ist dieser unmerkliche Aufstieg nur, weil Leifr – ebenso wie Þrándr – hauptsächlich auf äußere Umstände reagiert, im Unterschied zu seinem Ziehvater allerdings mit Hauptaugenmerk auf einer gewissenhaften und verantwortungsvollen Handlungsweise und gerade ohne den Antrieb einer rücksichtslosen Selbsterhöhung.
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6.4 Leifrs Persönlichkeit im Kontext der Figurenkonstellation Leifr wird erzogen als ein Ziehsohn von Þrándr, und er ist dessen Familie vollständig zugehörig, bis er Þóra heiratet. Danach wechseln seine Loyalitäten ebenso vollständig. Innerhalb seiner neuen Familie substituiert er gleichsam das verlorene Familienoberhaupt, er übernimmt dessen Rolle als aktiver Arm im Konflikt gegen Þrándr ebenso wie die des norwegischen Lehnsmannes. Dabei bricht er allerdings keineswegs gänzlich mit seinem Ziehvater, und ebenso wenig lässt seine Figurenzeichnung sich auf ein ›besseres‹ Abbild des nunmehr toten Sigmundr reduzieren. Wie im vorigen Abschnitt argumentiert, wandeln sich somit zwar Leifrs Zuordnung und die Bindung seiner Loyalitäten vollständig, nicht aber die erzählerische Unaufälligkeit der von ihn eingenommen Rolle oder sein Verhalten. Leifrs Agenda heißt Pflichterfüllung denjenigen gegenüber, die über ihn verfügen können, gleichviel ob nun sein Ziehvater, der norwegische König oder seine Familie. Gleichzeitig bedeutet diese Agenda stets weitgehend Vermittlung. So ersetzt Leifr im Rahmen des erneuerten Konflikts zwar einerseits Sigmundr, scheint andererseits aber konzeptionell jenseits der vielen Dichotomien platziert, die Sigmundrs Konflikt gekennzeichnet haben. Er vermittelt nicht allein intradiegetisch zwischen den verschiedenen Konfliktparteien, sondern auch konzeptionell in der Erzählung: Deren bisher prägenden Problematiken ist er weitgehend enthoben. Gleichzeitig löst er sich im Lauf der Erzählung von Þrándrs Seite des Konflikts und macht all dessen Pläne zunichte, indem er seine Neffen erschlägt. Dabei gerät, neben seiner ersten Loyalitätsbindung an seinen Ziehvater und der zweiten an den norwegischen König, eine dritte Zuordnung von Leifr ins Blickfeld: Die zu den Frauen seiner neuen Familie. Diese können sich letztlich ebenso Leifrs für die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele bedienen, wie dies zuvor Þrándr und König Óláfr der Heilige versucht haben. Sie allerdings sind damit im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten dauerhaft erfolgreich.
6.4.1 Keine Gegner fürs Leben: Leifr und die Familie seines Ziehvaters Die Szene, in der Leifr zusammen mit Karl die königlichen Steuern eintreibt, zeigt Leifr seinem Ziehvater gegenüber als durchaus misstrauisch und sich der Tatsache bewusst, dass dieser einem norwegischen Gesandten und Lehnsmann nicht wohlgesinnt sein kann. Als er mit Karl in Þrándrs abgedunkelte Bude treten muss, gibt er seinen Männern den Befehl, vorsichtig zu sein und die Waffen nicht abzulegen. Nichtsdestoweniger tritt er aber nicht offen als sein Gegenspieler auf. Nachdem Leifr und Karl den ersten Silberbeutel für ungenügend befinden, wendet sich Leifr keineswegs feindlich gesinnt an Þrándr. Es ist Þrándr, der ihn fragt: [S]yniz þer eigi væl silfrit L(eifr), woraufhin Leifr nur ein sva er entgegnet.80 Hier lässt sich keine 80 Fær, S. 119 (›Scheint dir das Silber nicht gut, Leifr?‹ – ›So ist es‹).
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Gegnerschaft feststellen. Stattdessen schiebt Þrándr die Schuld an der geringen Qualität des Silbers seinen Neffen zu, und tatsächlich sind es Gautr und Þórðr, die ihr Missfallen über Þrándrs Zahlungen zur Sprache bringen, was zu einem lautstarken Streit zwischen ihnen und ihrem Onkel führt. Insofern wird hier wenigstens an der Textoberfläche keine Gegnerschaft zwischen Þrándr und Leifr etabliert, sondern zwischen Þrándrs Neffen und dem Rest der Anwesenden.81 So wählt Þrándr auch Leifr selbst als seinen Gewährsmann beim Auszählen des Geldes – hintergründig wohl, weil erst diese Entscheidung seinen eigentlichen Plan ermöglicht, Karl erschlagen zu lassen. Dennoch ist hier eine Vertrauensbasis zwischen Leifr und seinem Ziehvater erkennbar. Obwohl Leifr die eigentlichen Ziele Þrándrs – dessen eigene Vorherrschaft auf den Färöern – kennen muss, setzt er sich ihm nicht offensiv entgegen. Er ist zwar Dienstmann König Óláfrs und hat somit dessen Befehlen zu gehorchen, aber das bedeutet in Leifrs Verständnis nicht den Zwang, mit seinem alten Ziehvater brechen zu müssen. Stattdessen unterhalten die beiden ein nach wie vor gutes Verhältnis zueinander – wobei Þrándr dieses für seine Ziele auszunutzen und Leifr nach wie vor als sein Werkzeug zu verwenden versucht. Ihn spricht er mit der Bitte an, das nächste Þing im Jahr nach dem Totschlag an Karl waffenlos zu besuchen, und Leifr ist offenbar geneigt, auf diesen Vorschlag einzugehen: L(eifr) quad þetta uel mællt.82 Er berät sich aber dennoch mit Gilli, woraufhin wenigstens die königlichen Gefolgsmänner unter Waffen das Þing besuchen. Entgegen dem Bewusstsein um die Bedrohlichkeit Þrándrs, das Leifr während der Steuereintreibung zeigt, scheint er gutgläubig seinem Ziehvater vertrauen zu wollen und wird nur von Gilli davon abgehalten, sich Þrándrs Wunsch schlicht zu beugen. Ein grundsätzliches Misstrauen Leifrs Þrándr gegenüber scheint es also nicht zu geben, und es besteht dazu auch wenig konkreter Anlass. Zwar kann Þrándr auch trotz der Restbewaffnung von Leifrs und Gillis Männern der Þingversammlung seinen Willen aufzwingen, doch beteiligt er bei seiner königsgleichen Entscheidung über die Herrschaftsbereiche auf den Inseln erneut Leifr an der Macht. Ausgebootet sehen sich statt Leifr unvermittelt Þrándrs Neffen, die ihm diesen Sieg erst ermöglicht haben. Darüber hinaus ordnet sich Þrándr seinem Ziehsohn durch das Angebot der Übernahme der Ziehvaterschaft für seinen Sohn Sigmundr öffentlich unter.83 Dass Leifr die Entscheidung darüber seiner Frau anheimstellt, lässt sich auch als Zeichen dafür lesen, dass er selbst ohne Umschweife in Þrándrs Angebot eingestimmt hätte, sich aber bewusst ist, dass die alte Feindschaft seiner Frau zu seinem Ziehvater dabei eine Schwierigkeit darstellen könnte. Daher überlässt er die Entscheidung lieber ihr selbst. Sein eigenes Verhältnis Þrándr gegenüber ist trotz der Vorfälle seit seiner Hochzeit nicht belastet. Noch in dem Moment, in dem er und seine Frau aktiv auf den Untergang von Þrándrs Familienangehörigen
81 Vgl. hierzu näher Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3.3. 82 Fær, S. 126 (Leifr nannte das wohl gesprochen). 83 Vgl. Almqvist 1992c, S. 178.
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hinarbeiten, scheint er ein herzliches Verhältnis zu Þrándr behalten zu wollen. Der Besuch Leifrs und seiner Frau bei Þrándr, während dem der junge Sigmundr aus seinen Händen befreit werden soll, verläuft spannungsfrei.84 Leifr, der nachts zunächst schlafen will, scheint sich die Mitnahme seines Sohnes Sigmundr entsprechend als einfache Wunscherfüllung vorzustellen. Es ist Þóra, die ihn dazu anstiftet, alle Schiffe auf der Insel leck zu schlagen, sodass sie niemand verfolgen kann. Leifr aber beabsichtigt nicht, seinen Ziehvater hinterrücks zu hintergehen, sondern tritt zum Abschied noch einmal vor ihn: L(eifr) gek ofan til skemmu ok bidr Þrand uel lifa ok hafa þock firir godan fagnnat.85 Der Ablauf der Geschehnisse zeigt Leifr damit als zwar durchaus der listigen Gegnerschaft auch zu seinem Ziehvater fähig, gleichzeitig aber auch als ehrenhaft genug, diesem seinen ›Verrat‹ offenzulegen und damit moralisch adäquat zu handeln.86 Ebenso wie seine vermittelnde Haltung bei der Steuerforderung Karls von Møre zeigt diese Tatsache, dass Leifr nicht korrumpiert werden kann. Der tiefste Grund seiner Figurenanlage ist charakterliche Rechtschaffenheit. Politische Gegnerschaft bedeutet ihm folglich keine persönliche Feindschaft. Auch einem Gegner gilt es in seinem Dafürhalten mit Rechtmäßigkeit zu begegnen und so bemüht er sich trotz der Konkurrenzsituation um relativen Frieden und Ausgleich. Er folgt damit vorbildlich den Idealanforderungen der Sagagesellschaft, die trotz allem Spiel der Kräfte ein Ziel sozialer Balance und Ausgeglichenheit sowie ehrgebundener Reziprozität propagiert.87 Indem Leifr sogleich geneigt ist, Þrándrs Bitte um Waffenlosigkeit nachzukommen, zeigt er sich zudem auch um den öffentlichen, gesamtgesellschaftlichen Frieden besorgt und bemüht. Er will keinen offenen Krieg innerhalb der färöischen Gesellschaft und gibt so trotz der eigenen Bewaffnung nach, als Þrándr bei der Rückkehr seiner Neffen droht, die Gewalt eskalieren zu lassen.88 Zwar befindet sich seine Gruppe zusätzlich in dramatischer Unterzahl, doch legt er es gerade nicht ›heroisch‹ auf eine Konfrontation an. In die gleiche Kerbe schlägt bereits die Tatsache, dass Leifr nach dem Totschlag an Karl von Møre keine Rache sucht. Er setzt sich nicht selbst als Exekutivgewalt des norwegischen Königs in Szene, um die ihm verliehene Herrschaftsmacht auszuspielen, sondern verfolgt gemeinsam mit Gilli den Rechtsweg, um Sigurðr, Þórðr und Gautr ächten zu lassen: Leifr oc Gilli gengo
84 Es heißt zunächst, fagnar Þrandr þeim uel (Fær, S. 133; Þrándr empfängt sie gut). Anschließend wird angegeben, dass abends viel getrunken wird und dass sich Þrándr als hínn katazsti (Fær, S. 134; überaus gutgelaunt) gebärdet. Wenigstens textoberflächlich gibt es hier keinerlei spürbare Unstimmigkeiten zwischen den zusammentreffenden Parteien. 85 Fær, S. 135 (Leifr ging hinunter zum Bett und sagt Þrándr Lebewohl und Danke für den guten Empfang). 86 Leifr beugt sich damit dem rechtlichen Gebot der Offenkundigkeit (vgl. von See 1964, S. 204), an der seine ebenfalls öffentlich zu bewertende Ehre gemessen wird, vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 207–208. 87 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, bes. S. 148–211 u. S. 221–222. 88 Siehe Fær c. 49, S. 127.
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at eptir máli […]. varþ Sigurðr útlagr fyrir averca þan er hann veitti buðo nꜹt Gilla. en Þorðr oc Gꜹtr fyrir víg Karls.89 Das Recht und seine Billigkeit, wie es das Gesetz der Färöer vorsieht, achtet Leifr höher als alles andere. Zwar scheinen die an dieser Stelle verwendeten Rechtstermini an die norwegische Gesetzgebung angelehnt,90 doch fehlt jeder direkte Bezug auf þꜹ log sem Olafr konungr setti þeim [Færeyingum].91 Somit scheint der Konflikt über den Rechtsgang auch nach eigenständigen Maßgaben der Färöer von Leifr verfolgt und gelöst statt in seiner Rolle als königlicher Repräsentant. Er geht einem natürlich wirkenden Rechtsweg nach und benötigt für seinen Erfolg offenbar die Expertise und Unterstützung des eigens aufgeführten Gilli. Selbst macht sich er hingegen weder zu Richter und Henker in des Königs Namen, noch sucht er seinen Gefolgschaftsherrn auf, wie dies Sigmundr einst getan hat, um von ihm ein Urteil zu erbitten. Selbst wenn der König durch diese Tat die fälligen Tributzahlungen nicht erhält, fällt es Leifr auch nicht ein, Sigmundr gleich die Zahlungen in Norwegen aus eigener Tasche zu begleichen. Überhaupt sucht er von sich aus keinen gesteigerten Kontakt zum Hof in Norwegen: Er reist kein zweites Mal dorthin, er ruft keine Unterstützung von dort herbei, als er schließlich gegen seine Ziehbrüder vorgeht. Er lässt sich seine Herrschaft ganz am Ende der Færeyinga saga durch Magnús Óláfsson erst bestätigen, nachdem er eigenständig die faktische Alleinherrschaft an sich gebracht hat.92 Dies zeigt, dass er doch nicht restlos in der Vertretung der norwegischen Präsenz auf den Färöern aufgegangen ist, sondern einen anderen Weg sucht als die vollständige Unterordnung der ausländischen Herrschaft gegenüber. Wie Þrándr wandelt er ein nominelles Herrschaftsrecht eigenmächtig ab und zeigt sich als politischer Realist, der färöische Bedingungen als eigenständig hervorhebt.93 Leifrs Ziel ist trotz des Anschlusses an den norwegischen Hof alles andere als at koma fram konungs erendinv e(ðr) deya at ỏðrvm kosti.94 Einen gewissen Selbsterhaltungstrieb zeigt er spätestens in dem Moment, in dem er ob der bewaffneten Übermacht Þrándr die königsgleiche Entscheidungsgewalt im Streit mit dessen Neffen überlässt. Anders als sein Ziehvater achtet Leifr bei seiner Vorgehensweise jedoch auf Recht und Gesetz und stellt
89 Fær, S. 125 (Leifr und Gilli gingen der gerichtlichen Verfolgung nach […]. Sigurðr wurde geächtet für die Untat, die er dem Budengenossen Gillis erwiesen hatte, und Þórðr und Gautr dazu für den Totschlag an Karl). Ähnlich wiederholt in c. 49, S. 126. 90 Vgl. Foote 1970, S. 164–165 u. S. 169. 91 Fær, S. 91 (die Gesetze, die König Óláfr ihnen [den Leuten auf den Färöern] gebot). 92 Siehe Fær, S. 137: L(eifr) rædr nu æínn ollum Færeyíum ok uar þat um daga Magnus konungs goda Olafs sonar. L(eifr) for til Noregs a fund Magnus konungs ok tekr af honum len yfir Færeyíum (Leifr beherrscht nun alle Färöer allein und das war in den Tagen König Magnus des Guten Óláfssons. Leifr fuhr nach Norwegen an den Hof König Magnus’ und nimmt von ihm das Lehen über die Färöer entgegen). 93 Vgl. Kap. 3. 94 Fær, S. 75 (den Auftrag des Königs voranzubringen oder andernfalls zu sterben). Zu Sigmundrs Anlage als reiner Diener des norwegischen Hofes vgl. Kap. 4.
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ein tatsächliches, nicht allein vorgeblich soziales Ethos unter Beweis. Er identifiziert sich insofern weniger als Sigmundr mit hierarchisch definierten Befehlen, widersetzt sich ihnen aber auch nie gänzlich. Obwohl er äußere Umstände stets im Blick hat und sich ihnen anpasst, folgt er in seinen Handlungen aber konsequent vor allem einem inneren Ideal und Glauben an das eigene Rechtsempfinden. Zwischen Leifr und Þrándr gibt es in Folge dessen jedenfalls in Leifrs Ansicht keine Händel. Nicht sein Ziehvater ist für ihn der Gegner, sondern lediglich dessen Neffen und allen voran Sigurðr, demgegenüber er sich misstrauisch zeigt. So warnt er etwa Leifr Þórisson davor, den Winter bei diesem zu verbringen: [Q](uad) þat ecki sitt rad.95 Leifrs auf den Tod des Namensvetters folgende Bereitwilligkeit, gegen seinen Ziehbruder vorzugehen, unterstreicht die Tatsache, dass sein Verhältnis zu diesem nicht das gleiche ist wie das zu Þrándr. Schon die gemeinsame Symbolisierung von Þrándrs Handlungsmacht zum Ende des Konflikts mit Sigmundr etabliert einen Dualismus vor allem zwischen Leifr und Sigurðr. Diesen etabliert die Narration auch konzeptionell. Während Sigurðr nach dem Vorbild Sigmundrs als Krieger gestaltet ist, diesen in seinen Eigenschaften gleichkommt und im Erzählraum der Färöer ebenso wenig einen Platz für sich zugewiesen bekommt wie Þrándrs Gegner,96 scheint Leifr Þrándr selbst diesbezüglich zu spiegeln. Wie Þrándr verlässt er die Färöer vor der Absegnung seiner Herrschaft nur ein einziges Mal und sichert sich auf der Reise eine wichtige Macht-Ressource – die königliche Anerkennung seiner Rolle in der färöischen Gesellschaft. Aufgrund seiner anderweitig konstanten Präsenz vor Ort besitzt er auf den Inseln jedoch Land und Autorität, die ihm nicht von einer fremden Macht verliehen werden, sondern die ihn selbst auszeichnen.97 Obwohl er sich dem norwegischen Hof anschließt, wird er so, anders als Sigmundr, kein rein nominell und von außen definierter Herrscher auf den Färöern,98 sondern von Þrándr selbst, der personifizierten Macht auf den Färöern, designiert. Leifrs eigenmächtige Abwandlung herrscherlichen Willens und seine letztendlich gänzlich eigenständige Eroberung der Spitzenposition ermöglicht ihm allein die Tatsache, dass er auf den Inseln verwurzelt ist und dort gleichsam natürlich auch an der Herrschaft beteiligt ist. Ein bedeutender Mann auf den Färöern scheint Leifr dadurch bereits in dem Moment, in dem ihm König Óláfr als sein Gefolgsmann weitere Machtbefugnisse erteilt und seine Position weiter stärkt. Wie Þrándr agiert er so eigenmächtig, und zudem nicht offensiv als Krieger, um seinen Einfluss zu sichern.99 Dies zeichnet Leifr zwar einerseits als wenig ›aktiv‹, zugleich aber auch als langfristig erfolgreich. Wie sein Ziehvater besitzt er hintergründige Herrschafts-
95 Fær, S. 130 (Er sagte, das sei nicht sein Rat). 96 Vgl. näher Kap. 5. 97 Zu diesen Grundkonstanten färöischer Herrschaft in der Færeyinga saga vgl. bes. Kap. 3 u. Kap. 8. 98 Vgl. hierzu Kap. 4.3. 99 Zu Þrándrs Mangel an ›männlich‹ konnotiertem Handlungsrepertoire vgl. Kap. 3.2.1.
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kompetenz, auch wenn diese anders perspektiviert wird, indem sie weniger auf eigene Ziele gerichtet wirkt, sondern Leifr eher von anderen inszeniert wird. Dennoch markiert Leifrs eher passives Verhalten den fundamentalen Unterschied zum ungestüm und offensiv, unüberlegt, vorgehenden Sigurðr.100 Die konzeptionellen Rollen von Þrándr und Sigmundr scheinen in ihren Familien in der zweiten Generation des Konflikts vertauscht. Die ungebrochene Verbindung zu seiner Ziehfamilie zahlt sich für Leifr auf der konzeptionellen Ebene der Færeyinga saga in Vorbereitung seines letztendlichen Sieges somit aus: Ungestüme Kämpfer und fremdgebundene Männer können auf den Färöern nicht herrschen. Leifr aber transzendiert und umgeht diese Problematik, indem er zwar beide Komponenten in sich trägt und fehlende Hofbindung sowie Kampfkraft somit auch nicht zum Problem werden können, er jedoch zugleich nicht allein über sie definiert ist, sondern auf dieser Ebene seiner Gestaltung nach seinem Ziehvater schlägt.
6.4.2 Ein ungewöhnliches Echo des ›Helden‹? Leifr als Mitglied von Sigmundrs Familie Dennoch spiegelt Leifr in seiner Figurenkonzeption nicht allein Þrándr; andere Elemente seiner Zeichnung erinnern auch an Sigmundr und binden ihn an dessen Familie. Vornehmlich ist dies natürlich seine Position als Lehnsmann der norwegischen Herrscher. Er wird in seinem ersten selbstständigen Auftritt in der Saga nach der Verheiratung mit Þóra sogleich Teil des Hofs von Óláfr dem Heiligen, wenn auch nur zögerlich und durch königlichen Zwang. Wie oben ausgeführt dient er diesem treu und ergeben, trotz gewisser eigenmächtiger Appropriationen des Königswillens. Seine Verbindung zum norwegischen Königshaus spiegelt, gerade angesichts der Königsfeindlichkeit auch von Þrándrs Neffen, Sigmundr, in dessen Familie er eingeheiratet hat, in der zweiten Generation. Auch nach seinem Sieg wird er zum norwegischen Lehnsmann. Dennoch unterscheidet er sich seine auffällig von der Rolle, die Sigmundr spielt. Als Enkel Hafgrímrs ist Leifrs Verbindung nach Norwegen bereits positiv vordeterminiert und er heiratet die Tochter des Mannes, der Jahre lang die rechtmäßige norwegische Herrschaft auf den Färöern verbürgt und repräsentiert hat. Als ein Mann, der seiner innersten Disposition nach insbesondere auf Rechtmäßigkeit und Angemessenheit verpflichtet ist und der sich stets absolut loyal verhält, kann er unproblematisch dem König den Treueid leisten, und diesem damit zu seinem Recht verhelfen. Dessen Einfluss muss er nicht seinem Ziehvater gleich abwehren, sondern kann ihn in die eigene, ohnehin bereits gegebene Position integrieren. Dennoch benötigt er den König für keine der Taten, die von ihm berichtet werden. In
100 Vgl. Kap. 5.2.3.
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der Rechtssache mit Þrándrs Neffen bezieht er sich gerade nicht auf den König, sondern handelt eigenmächtig. Für die danach ausbrechenden Streitigkeiten auf den Färöern holt er, anders als Sigmundr, keinerlei Legitimierung oder Unterstützung durch den Hof ein. Auch als es darum geht, Rechenschaft über die verschwundenen Steuerschiffe abzulegen, sprechen er und Gilli sich für Þórálfr aus – ein Zeichen dessen, wie wenig Drang nach einer Reise Leifr zu verspüren scheint. Er zieht es vor, auf den Färöern zu bleiben, und dient seinem König, auch als Steuereintreiber, mit gebührendem Respekt und Pflichtschuldigkeit, jedoch nicht übereifrig. Er gehört als färöischer Großer dem norwegischen Hof an, ist aber auf den Färöern nicht allein deshalb mächtig, weil diese Verbindung besteht. Darin gleicht seine Figurenzeichnung letztlich der der ersten Generation des färöischen Konflikts, die zwar ebenfalls als Lehnsnehmer herrschen, jedoch nie im Kontakt mit dem Hof gezeigt werden. Neben seiner Königstreue zeichnet Leifr auch ein Kampfgeschick aus, das ihn Sigmundr gleichmacht, auch wenn dieses sich explizit erst in den letzten Kapiteln der Erzählung offenbart. Er ist offenbar der einzige, der sich im Kampf mit Sigurðr, Þórðr und Gautr messen kann – die Sigmundssöhne werden sämtlich von ihnen besiegt, ehe Leifr persönlich alle drei Neffen Þrándrs ausschaltet. Mit Gautr und Þórðr macht Leifr kurzen Prozess: [Þ]a kemr ath L(eifr) Ozsorar son ok æígazst þeir uit uopnna skípte ok lykr suo at L(eifr) drepr G(aut) und þa kom at L(eifr) Ozsorar son ok leggr suerde þui hínu sama j gegnum Þord er adr hafde hann lagt med S(igurd) brodur hans ok let Þordr skiott lif sitt.101 Leifr scheint hier, ähnlich wie Sigmundr, auf keinerlei Schwierigkeiten beim Sieg über seine Gegner zu treffen. Der einzige Gegner, der Leifr mehr abfordert, ist der als sein eigentlicher Kontrahent aufgebaute Sigurðr Þorláksson.102 Er verlangt Leifr den Einsatz von Fähigkeiten ab, die an Sigmundrs Geschicklichkeit gemahnen. Der fliehende Sigurðr tötet durch den Einsatz ähnlicher Geschicklichkeit Heri Sigmundarson, und Leifr kann ihn als einziger verfolgen. Leifr hleypr þadan fram a eyna ok þar firir ofan sem hann kom at ok segia men at þar *se xv. fadma hátt j fíoru nídr. L(eifr) kom standande nidr.103 Die Szene gleicht Sigmundrs Sprung von der Klippe während Þrándrs erstem Überfall,104 und die Formulierung kom standande nidr verweist auf Sigmundrs Aktion während des Kampfes mit Leifrs Vater Ǫzurr: [Sigmundr] stokkr ut af uirkis uegginum ofugr ok
101 Fær, S. 137 (Da kommt Leifr Ǫzurarson hinzu und sie tauschen Hiebe mit den Waffen aus, und es endet so, dass Leifr Gautr tötet; Da kam Leifr Ǫzurarson hinzu und stach dasselbe Schwert, mit dem er zuvor seinen Bruder Sigurðr durchbohrt hatte, durch Þórðr, und Þórðr ließ rasch sein Leben). 102 Zur herausragenden Rolle Sigurðrs innerhalb des Dreierverbundes von Þrándrs Neffen vgl. Kap. 5. 103 Fær, S. 136 (läuft vorwärts über die Insel und dort von oben herab, wo er hinkam, und die Leute sagen, von dort seien es fünfzehn Klafter tief zum Strand hinunter. Leifr kam stehend unten an). 104 Fær, S. 82: S(igmundr) varde upp gỏnguna ok opade ofan j fíoruna undan þeim (Sigmundr bewachte den Aufgang und sprang von oben auf den Strand von ihnen fort).
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kemr standande nidr.105 Gleichzeitig ist er durch den Sprung schnell genug, um den flüchtenden Sigurðr einzuholen und tödlich zu verwunden. Nach diesem Totschlag verliert Leifr keine Zeit. Während seine Männer ihn auf den Tod Heri Sigmundarsons hinweisen, bidr [hann] þa skíott fara til skipa ok skulu uær hallda eftir þeim þeir spyría huort hann hefir spurt lat Hera edr fundít S(igurd). hann kuezst æigi mundu mart fra segía at sínne þeir hlaupa a tuỏ skíp.106 Leifr zeigt sich schließlich als entschlossener und fähiger Kämpfer, und darin gleicht er Sigmundr.107 Die Besonderheit ist in Leifrs Fall jedoch die Plötzlichkeit, mit der er sich als solcher erweist. Erst im letzten Abschnitt der Erzählung zeigt Leifr seine Kampfkraft, die zwar schon sein ›Einsatz‹ durch Þrándr während des Konflikts mit Sigmundr angedeutet, nicht aber tatsächlich eingelöst hat. Damit erweist er sich erst im letztmöglichen Moment der Erzählung als der eigentliche Nachfolger von Sigmundr – und unterscheidet sich dadurch fundamental von ihm. Im Gegensatz zu Sigmundr (und Sigurðr) scheint Leifr nicht zum Kriegertum prädisponiert,108 sondern setzt den Waffengang erst als letztes Mittel ein. Er wartet mit der Anwendung von Gewalt bis zum günstigsten Moment – worin er wiederum Þrándr gleicht.109 Als er dann aber zu diesem letzten Mittel greift, zeigt er sich als so kompromisslos wie fähig. Ebenso wie sein Ziehvater setzt Leifr beim Angriff auf Þórðrs und Gautrs Hof sogleich Feuer ein: [K]oma þeir L(eifr) at bænum ok uæíta at soknn ok bera elld at.110 Eine brenna ist in der Ethik der Isländersaga-Gesellschaft als das letzte, grausame und solange als irgendmöglich zu vermeidende Mittel in einer Auseinandersetzung anzusehen111 – doch für Leifr scheint sie ebenso natürlicher Teil eines Angriffs zu sein wie zuvor für Þrándr. Auch in der konkreten Art und Weise seines Kampfes kombiniert Leifr damit die Persönlichkeiten seines Ziehvaters und Sigmundrs. Ebenso, wie für ihn keine Entscheidung zwischen färöischer Identität und norwegischem Lehnsdienst nötig ist, ist er gleichzeitig ein fähiger, aber grausamer Krieger, der seine Fähigkeiten erst im richtigen Augenblick einsetzt. So vermittelt seine Figurenkonzeption zwischen denen von Sigmundr und Þrándr in der ersten Generation des färöischen Machtstreits. Während Leifr Þrándr in seiner hintergründigen Machtkompetenz und eigenmächtigen Machtausübung gleicht, spiegeln sein Lehnsdienst und seine Kriegerfähigkeiten Sigmundr. Dies betrifft auch sein narratives Design. Wie Sigmundr und Sigurðr sind Leifr so Nebenfiguren beigestellt, die seinen Charakter ergänzen. Die Rolle des weitsichti105 Fær, S. 56 ([Sigmundr] springt oben von der Wallmauer herab und landet stehend). 106 Fær, S. 136 (bittet [er] sie, schnell zu den Schiffen zu gehen – ›und wir wollen sie verfolgen.‹ Sie fragen, ob er vom Tod Heris erfahren hat oder Sigurðr gefunden. Er sagte, sie brauchten vorerst nicht viel zu erzählen. Sie laufen zu zwei Schiffen). 107 Zu Sigmundrs Kriegertum vgl. Kap. 4. 108 Zur Limitierung beider Figuren auf das Feld des Waffengangs vgl. jeweils Kap. 4.2.2 u. Kap. 5.2.3. 109 Vgl. Kap. 3. 110 Fær, S. 137 (Leifr und seine Leute kommen zum Hof und greifen da an und tragen Feuer herbei). 111 Zur Außerordentlichkeit und moralischen Verwerflichkeit von Mordbränden vgl. die Darstellung am Ende der Njáls saga (Nj c. 128–130, S. 325–339); zum Motiv vgl. Bennett 2007; Tirosh 2017. Siehe bereits Kap. 3.4.3 (Fn. 230).
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geren Verwandten, der unterstützenden, nicht aber gleichwertigen Figur übernimmt sein Schwestersohn Gilli der Gesetzessprecher.112 Sobald Leifr mit Þóra verheiratet ist, tritt Gilli an seine Seite, und sie treten fortan gemeinsam auf. Bis zu seiner Ermordung gehört auch Þórálfr Sigmundarson zum Kreis der Figuren, die sich um Leifr gruppieren, ehe der Mord die neue Figurentrias zum Duo reduziert. Es sind diese drei Männer, die zu Dienstmannen des Heiligen Óláfr werden und die sich als solche gegen Þrándr und dessen Neffen und ihre (vermutlichen) Machenschaften stellen, was Þórálfr auch das Leben kostet. Nach dessen Eliminierung übernimmt Leifr gemeinsam mit Gilli die Doppelspitze der färöischen, politischen Führung: Gemeinsam begrüßen sie den Königsgesandten Karl, gemeinsam sorgen sie für die Exilierung Sigurðrs, Þórðrs und Gautrs. Insgesamt sind dabei sowohl Gilli als auch Þórálfr sehr blasse Figuren, die Leifr ergänzungsweise beigestellt sind. Darin gleichen sie in dessen figuraler Ergänzung Þórir Beinisson, dem ständigen Begleiter Sigmundrs, und Þórðr, der diese Rolle für Sigurðr übernimmt, wobei beide fast so zusätzlich wirken wie Gautr, der eine reine Schattenfigur bleibt.113 Dennoch lässt sich die Funktion der weitsichtigeren Ergänzungsfigur, die Þórir und Þórðr jeweils übernehmen, auch für Gilli festhalten: Als Þrándr Leifr anträgt, Waffen auf dem Þing verbieten zu lassen, ist es Gilli, der suar(ar) suo L(eifi). brigt þiki mer at trua Þrandi ok munu vit þui iata at handggnir menn allír hafui uopnn sín ok nockurir þeir er ockur fylgía en almenníngr se uopnlauss.114 Hierbei handelt es sich um dessen einzige direkte Rede im Text der Saga. Dass er damit eine weiter voraussehende und politisch klügere Position als der nach- und deshalb kurzsichtigere Leifr einnimmt, verstärkt den Eindruck, dass sich in dieser Szene die Figurenkonstellation Sigmundrs und Þórirs wiederholend spiegelt. Auch in diesem Fall hilft die politisch weisere Einsicht nicht: Þrándr kann seinen Willen durchsetzen und seine Neffen aus der Acht lösen. Dennoch zeigt Leifrs Reaktion auf Gillis Einwand, schon die Tatsache, dass er auf ihn eingeht, ihn auch in deutlichem Unterschied zu Sigmundr, der klügere Ratschläge seines Ziehbruders stets ignoriert.115 Neben der Ergänzung seiner Figurenzeichnung durch Gilli nach dem Muster von Þórir spiegelt Leifr Sigmundr auch in der retardierten narrativen Etablierung und Entwicklung. Wie oben argumentiert wurde, lässt sich seine narrative ›Geburt‹ durch die unterbliebene Beschreibung als in hohem Maße ungewöhnlich beschreiben. Daneben entfällt ein großes Maß erzählter Zeit auf seine Figurenentwicklung. Er wird mehrfach nur als machtpolitischer Spielball erwähnt, fungiert dann plötzlich als Schwert von Þrándrs Rebellion und tritt schließlich als neuer Vertreter der Königspartei in Erschei-
112 Vgl. näher Kap. 7.5. 113 Vgl. Kap. 7.5, siehe auch Kap. 4 zu Þórirs Ergänzung von Sigmundr; Kap. 5.2 zur Charakteristik der Neffen Þrándrs. 114 Fær, S. 126 (Leifr folgendermaßen antwortet: ›Unsicher scheint es mir, Þrándr zu trauen, und wir werden es annehmen, dass alle Dienstmannen des Königs ihre Waffen haben und einige, die uns folgen, aber die Allgemeinheit soll waffenlos sein‹). 115 Vgl. Kap. 4.
6.4 Leifrs Persönlichkeit im Kontext der Figurenkonstellation
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nung, sich schrittweise von seinem Onkel entfernend und eine eigene Handlungsagenda beginnend. Schließlich setzt er sich durch und kommt damit zugleich dem Rachedurst von Þóra und Þuríðr nach. Vollständig als Figur etabliert ist Leifr eigentlich erst im Moment des Sagaendes. Erst in diesem Moment hat er sich zugleich als Krieger, durch sein hinausgezögertes direktes Eingreifen als politisch geschickter Taktiker, als moralisch integrer Mann, als eigenständig zur Lösung des Konflikts fähig und als loyaler norwegischer Lehnsmann erwiesen. Informationen über seine Persönlichkeit gibt die Erzählung also erst nach und nach an die Hand, anders als bei den Angehörigen der Familie Þrándrs. In beiden Gesichtspunkten der erzählerischen Inszenierung gleicht Leifr daher Sigmundr.116 Dabei verdeutlicht die Hilfe, die Leifr durch Gilli geleistet wird, dass dieser ohne die Steuerung durch fremde Interessen als Herrscher ungeeignet wäre, weil er gerade nicht langfristig eine Spitzenposition anstrebt, sondern sich situativ den Anforderungen der Angemessenheit unterwirft. Er handelt, wie bereits ausgeführt, immer nach Gesetz und Treueverpflichtung, und damit zutiefst moralisch und ehrenhaft. Dieses Handlungsprinzip verabsolutiert er. Damit zeigt Leifr auch Anzeichen jener politischen Kurzsichtigkeit, die Sigmundr zum Verhängnis wird.117 Er liefe Gefahr, weiterhin unter der Kontrolle seines Ziehvaters stehen zu bleiben, gäbe es nicht Figuren wie Gilli und schließlich Þóra, die dem entgegenwirken. Auch dies erinnert an die ständige Auftragserfüllung Sigmundrs für seine Lehnsherren. Von diesem unterscheidet ihn jedoch die gegenseitige Vorteilhaftigkeit, die Leifr aus seinen Verbindungen mit seiner Umwelt ziehen kann und die einen leisen, aber stetigen Machtzuwachs für ihn selbst bedeuten. Darin zeigt sich die Konsequenz der Tatsache, dass Leifr nicht eigentlich politischer Akteur ist, sondern weitgehend als moralisch integres Werkzeug anderer Interessen fungiert. Er bewahrt sich immer eine eigenständige Entscheidungskompetenz nach seinem inneren Kompass der Rechtfertigkeit, benötigt aber den Kontext der ihn umgebenden Figuren, um selbst erfolgreich sein zu können. Insgesamt ist Leifr somit trotz seiner ungebrochenen Nähe zu seinem Ziehvater und der zurückgehaltenen Präsenz an der Textoberfläche, in der er diesem gleicht, auch als rechtmäßiger Nachfolger Sigmundrs gestaltet, dessen Rolle in seiner neuen Familie er übernimmt. Nach seiner Hochzeit gehört seine Loyalität dem norwegischen Herrscher und seiner neuen Familie, und seine in einigen Punkten auch an Sigmundr erinnernde Figurenzeichnung unterstreicht dies. Doch ist Leifr insgesamt ein ungewöhnliches narratives ›Echo‹ Sigmundrs. Während er manche von dessen Eigenschaften teilt, kombiniert er sie auch mit denjenigen, die Þrándr auszeichnen. Diese Kombination der Figurenkonzeptionen beider Beteiligter aus dem ersten Handlungskreis des färöischen Konflikts in seiner eigenen Darstellung erhebt Leifr auf ein neues Level, eines, das jenseits dem von Sigmundr und Þrándr liegt. Er ist beiden letztlich
116 Vgl. näher Kap. 4. 117 Siehe bes. Kap. 4.3.3.
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überlegen, weil er sie in sich vereint. Dabei aber kombiniert er nicht allein »Þránds Gerissenheit mit Sigmunds Tatenkraft«.118 Die Situation ist komplexer, denn Leifr vereint die beiden Vorgänger in konzeptioneller Weise auf einer höheren Ebene, allerdings gerade nicht hinsichtlich beider genannter Eigenschaften aus sich selbst heraus. Er gleicht eher dem politisch kurzsichtigen Sigmundr, und obwohl Leifr ähnliche kämpferische Fähigkeiten zeigt, besitzt er doch nicht dessen kriegerische Grunddisposition. Die für ihn vorteilhaften Pläne und den Anstoß zu seinem Kriegertum bezieht Leifr von den ihm neu beigestellten Figuren: Den Frauen.
6.4.3 »Þránds Gerissenheit und Sigmunds Tatenkraft« – Leifr als Werkzeug der Frauen Der Impetus beider Eigenschaften, die an Þrándr erinnernde Schläue, im rechten Moment zuzuschlagen, und der damit zusammenhängende aktive Wille zur Tat, geht klar von den weiblichen Figuren in Leifrs neuer Familie aus.119 Im Moment seiner Hochzeit mit Sigmundrs Tochter Þóra tritt sie als dritte Macht neben den norwegischen König und Þrándr in sein Leben. Durch sie zeigen sich Unterschiede in der Zeichnung seiner Figur, die ihn Þrándrs und Sigmundrs Figurenkonzeptionen nicht nur ausgleichen und diese auf eine neue Ebene setzen lassen, sondern die ihn deutlich von beiden verschieden machen. Leifrs Bezüge zu den weiblichen Figuren der Færeyinga saga sind doppeldeutig. Einerseits wird weder der Name seiner Mutter noch der seiner Tante, der Mutter Gillis, genannt,120 was sich mit der Bedeutungslosigkeit weiblicher Figuren in Þrándrs Familie kurzschließen lässt.121 Wie bei Þrándr scheint sich dieser narrative Mangel in Leifrs eigenem Verhalten niederzuschlagen, denn seine zurückgezogene Rolle entspricht trotz seiner vorbildlichen Rollenerfüllung hinsichtlich des sozialen Ethos nicht dem ›Männlichkeits‹-Ideal der Sagagesellschaft.122 Er kann kämpfen, drängt aber zu keinem Zeitpunkt selbst darauf, das unter Beweis zu stellen. Im Gegenteil lässt er sich zunächst zum Werkzeug in Þrándrs Machtspiel machen und anschließend unterwirft er sich unter den norwegischen König Óláfr, kommt aber in beiden Abschnitten nicht dazu, seine Fähigkeiten tatsächlich einzusetzen. Leifrs Verhalten selbst ist defensiv und insofern inaktiv: Er handelt, wenn es von denjenigen, denen er untersteht, verlangt wird und erfüllt dann pflichtbewusst die an ihn gestellten Anforderungen. Auch
118 Glauser 1989, S. 222 (Angleichung an deutsche Schreibung im Original). 119 Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt näher auch Kap. 7.3.3. 120 Sein Vater Ǫzurr erhält lediglich hínnar beztu bonda dottur (die beste Bauerstochter) als kuonfang (Ehefrau) von Þrándr (Fær, S. 47), und über Gilli heißt es, er und Leifr seinen systra synir (Fær, S. 126; Schwestersöhne). 121 Vgl. näher Kap. 3.2.1. 122 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 187–248. Vgl. auch Clover 1993; Bandlien 2005; Rau/Greulich 2014; Evans 2019; Thoma 2021b.
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seine Hochzeit mit Þóra entstammt nicht eigenem Antrieb und Aufstiegswillen, sondern ist Plan seines Ziehvaters Þrándr. Aus sich selbst heraus wird Leifr nicht einmal aktiv, als seine Ziehbrüder nach der ihm selbst zum Trotz durchgesetzten Achtlösung beginnen, sich eigene Machtbasen auf den Färöern zu erobern und damit Leifrs Herrschaftsposition potenziell bedrohen. Selbst als sein Verwandter Leifr Þórisson im Zuge von Sigurðrs Aufstieg den Tod findet, reagiert Leifr ostentativ nicht, obgleich seine Warnung an den Namensvetter anzeigt, dass er Unheil vorausgeahnt haben muss. Auch als Þóra und ihre Mutter Þuríðr ihn aufzuhetzen versuchen, reagiert Leifr überaus gelassen: [E]n hann hafde vid gott þol ok mikit.123 Auf eine hvǫt so zu reagieren, wie Leifr es tut, invertiert seine Genderrolle geradezu. Einer ritualisierten Aufhetzung muss der Logik der Sagaliteratur nach eine Rache folgen, um den Anforderungen der Ehre gerecht zu werden.124 Leifrs Inaktivität hingegen wird eigens von einer göttlichen Vision Þuríðrs als angemessen bestätigt, in der Sigmundr selbst ihm eine große Zukunft verheißt. Tatsächlich bestätigt sich die These von Leifrs invertierter Genderrolle auch bei den Vorgängen um seine Hochzeit.125 Durch diese wechselt er buchstäblich die Familienzugehörigkeit – was eigentlich die Rolle einer heiratenden Frau wäre.126 Das Angebot Þrándrs, im Moment der Werbung at gæda hluta L(eifs) med myklu fe,127 erscheint in dieser Perspektive gar wie eine Mitgift, als wäre Leifr die zu verheiratende Frau und nicht Þóra. Aufgrund dieser ›Unmännlichkeit‹ seines Verhaltens scheint Leifr sehr direkt auf Þóra als aktives Zentrum seiner Handlungen bezogen. Seine ersten Worte im Text spricht er im Zusammenhang mit Þrándrs Vorschlag der Werbung um sie. Þóra steuert Leifrs Handeln bereits ab diesem Moment implizit. Sie ist es, die die Bedin-
123 Fær, S. 131 (Aber er ertrug das mit guter und großer Geduld). 124 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 238–248. Vgl. auch Heller 1958, S. 98, der festhält, dass eine Hetzrede »fast immer ihren Zweck [erreiche]«, während »[d]ie wenigen Ausnahmen von der Regel […] ohne Mühen« aus ihren konkreten Kontexten im Plotverlauf erklärt werden könnten. Damit begründet Heller, weshalb die Hetzerin die beliebteste weibliche Rolle in den Isländersagas darstellt: »Sie konnte wertvolle Dienste leisten, wenn es galt, das Rad des Geschehens wieder ins Rollen zu bringen und eine neue Ereigniskette einzuleiten« (S. 118). Dagegen Miller 1983, S. 179–181, der eine hvǫt erst dann als unmissverständlich Taten einfordernd erkennt, wenn blutige, gegenständliche Zeichen eines Fehdeopfers im Rahmen einer regelrechten Zeremonie von der hetzenden Frau verwendet werden. Sein Beispiel aus der Njáls saga allerdings, in der Hallgerðrs aufhetzende Worte bei Gunnarr lange Zeit auf taube Ohren stoßen, die seiner Ansicht nach demonstrieren, dass Worte allein »could degenerate into harping and nagging« (S. 181) fällt unter Hellers Kategorie der »wenigen Ausnahmen von der Regel«, da Gunnarrs Verweigerung seiner Frau gegenüber durch seine tiefe Freundschaft zu Njáll begründet wird. Eine solche verbindet Leifr mit seinem Ziehbruder Sigurðr in der Færeyinga saga ganz offensichtlich keineswegs, ebenso wenig offenbar eine implizite Verpflichtung auf seinen Ziehbruder (wohlweislich aber auch keine gegen einen entfernteren Verwandten wie Leifr Þórisson). Insofern lässt sich seine Nicht-Reaktion eindeutig als ungewöhnlich fassen. 125 Vgl. hierzu auch Schmidt 2016, S. 305 (Fn. 94). 126 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 227–234, bes. S. 227, u. S. 247. 127 Fær, S. 87 (den Teil Leifrs mit viel Geld zu erhöhen).
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gungen für die Hochzeit stellt und damit Leifr und Þrándr dazu bringt, nach ihren Wünschen zu handeln:128 [E]k vil a þessu gera kost firir mina hỏnd ef L(eifr) er æid færr at hann se æigi fỏdur bani min ok æigi menn til fengit at drepa f(ỏdur) min þa geri ek þann kost a at hann skal viss verda huat er f(ỏdur) mínum hefir at bana ordit edr huerr ualldr er dauda hans ok at ollum þessum hlutum fram komnum þa megum ver gera sætt med oss.129 (›Ich will darauf eingehen, unter der Bedingung für meine Hand, dass Leifr zum Eid bereit ist, dass er nicht der Töter meines Vaters ist und niemand angestiftet hat, meinen Vater zu töten. Dann stelle ich die Bedingung, dass er herausfinden soll, was meinen Vater getötet hat, oder wer für seinen Tod verantwortlich ist. Und wenn all diese Dinge erfüllt sind, dann können wir einen Vergleich zwischen uns schaffen.‹)
Hierauf erfüllen Leifr und Þrándr sämtliche von Þóras Wünschen. Leifr richtet sich stets nach Þóras Willen. So überlässt er später die Entscheidung, den gemeinsamen Sohn in die Obhut Þrándrs zu übergeben, gänzlich ihr: [Þ]at uil ek at barnn fostr þat se undir at kuædum Þoru huort hon uill at son hennar fari til þín edr se hann med ockr.130 Leifr spricht von seinem eigenen Sohn ganz so, als sei er allein der Spross Þóras, son hennar, sodass diese alle Entscheidungsgewalt allein in Händen halten müsse. Er selbst wirkt in seiner Rede unbeteiligt und stellt den eigenen Willen vollständig hinter den seiner Ehefrau zurück. Die Ereignisse des restlichen Plots verdeutlichen Leifrs überdurchschnittlich starke Bezogenheit auf Þóra sehr deutlich, indem alle Handlungsvorgaben letztlich von ihr stammen und Leifr diese nur ausführt. Nur in Ansätzen zeigt sich selbst in diesem Verlauf ein eigener Wille Leifrs. Es ist Þóra, die Leifr zum Handeln drängt. Doch geht Leifr zumindest nicht unmittelbar auf die Forderung seiner Frau ein. Ebenso, wie er die Königsgebote eigenmächtig abwandeln kann, unterwirft sich Leifr dem Willen seiner Frau zunächst gerade nicht vollumfänglich. Darin mag sich einerseits sein Unwillen zum völligen Bruch mit seiner alten Familie äußern, andererseits wird ersichtlich, dass Leifr offene Konfrontationen ebenso zu umgehen versucht, wie es sein Ziehvater tut. Gewalttätiges Auftreten scheint sein eigentliches Element nicht zu sein. So entsteht auch eine gewisse Spannung zwischen Leifr und seiner Frau, immerhin wirft er ihr später vor, den eigenen Sohn durch die Erziehung bei Þrándr in Gefahr gebracht zu haben: [L]angt hefir Þrandr þa fram sed er hann baud ockr barn fostr ok kenni er þer uolld um þat Þora segir hann. ok er þat daude Sigmundar sonar ockar ef hann er þa med Þrandi er nockut skerst ór med oss | S(igurdi).131
128 Vgl. hierzu auch Kap. 7.3.3. 129 Fær, S. 87. 130 Fær, S. 127 (›Ich möchte, dass diese Kindeserziehung dem Spruch Þóras unterliegt, ob sie will, dass ihr Sohn zu dir geht oder bei uns bleibt‹). 131 Fær, S. 133.
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(›Weit hat Þrándr vorausgesehen, als er uns die Kindeserziehung anbot, und das lege ich in deine Verantwortung, Þóra‹, sagt er. ›Und es ist der Tod unseres Sohnes Sigmundr, wenn er dann bei Þrándr ist, wenn etwas zwischen uns und Sigurðr vorfällt.‹)
Diese Einsicht begründet zusätzlich Leifrs zunächst zögerliche Reaktion auf den Tod Leifr Þórissons, und seinen Gleichmut ob Þóras Aufhetzung: Er kennt seinen alten Ziehvater und will seinen Sohn nicht in Gefahr bringen. Damit erweist sich Leifr einmal mehr als zutiefst ehrenhaft in seinem Handeln und Denken. Ihm liegt viel daran, nie etwas zu überstürzen, sondern bedacht vorzugehen. So mag es auch sein, dass ihm, im Gegensatz zu seiner Frau, nicht die bloßen Gerüchte über seinen Ziehbruder ausreichen, um diesen gewaltsam auszuschalten.132 Selbst wenn er stets nur als ausführender Arm anderer Interessen auftritt, zeigt er damit in den wenigen Situationen, in denen er nicht unmittelbar auf einen Befehl reagiert, ein eigenes Bewusstsein, das Vorgaben in die produktivste Richtung abändern kann. Er setzt mit dieser Vorgehensweise in den tatsächlich kritischen Momenten der Erzählung eigene Akzente, die in seinem untrüblichen Gespür für die rechtmäßige und angemessen maßvolle Antwort auf eine gegebene Situation begründet liegen. Dabei scheinen sich für Leifr die Dinge letztendlich fast ungewollt positiv zu entwickeln. Anzunehmen, ihm sei bewusst, dass die Situation nach der versuchten Aufhetzung noch günstiger ausfallen könnte, ist dabei jedoch kaum nachhaltig gerechtfertigt. Doch ob es Leifr bewusst sein mag oder nicht, die Gesamtentwicklung der Færeyinga saga gibt zu erkennen, dass der richtige Moment mit dem Tod von Leifr Þórisson noch nicht endgültig gekommen ist. Als dieser in Form der Werbung Sigurðrs um Þuríðrs Hand an seines Bruders statt aber greifbar wird, ist es erneut nicht Leifr selbst, der die Initiative ergreift, sondern Þóra, die den Moment erkennt und den Plan fasst, der zur Vernichtung von Þrándrs Neffen und der Sicherung von Leifrs Vorherrschaft führt.133 Hier nun schließt Leifr sich im Wissen um die Richtigkeit ihrer Argumentation seiner Frau unmittelbar und ohne Umschweife an: L(eifr) uerdr samþyckr um þetta Þoru ok kuezst hug skylldu aleggia at þeir hefde vm sidir þat er þeir voru makligir.134 So wirkt der Dualismus von anfänglichem Zaudern Leifrs bei gleichzeitig umfänglicher Wunscherfüllung für seine Frau fast erzählstrukturell bedingt: Ohne größere Begründung verweigert er ihr zunächst ihren Willen, um sich später, im exakt richtigen Moment, doch nach Þóra allein zu richten. Seine in den Text eingestreuten Eigenmächtigkeiten, wie die zunächst nachsichtige Behandlung der Königsgegner, oder seine einstweilige Ignoranz der Hetze Þóras gegenüber, wirken so oberflächlich im Endeffekt von geringfügiger Dauer und Bedeutung. Jedoch stellen sie unmerklich die Weichen auf den für ihn idealen Ausgang der Geschehnisse und ziehen bemerkenswert weitreichende Folgen nach sich. Wie seinem Ziehva-
132 Vgl. auch Kap. 5.4.2. 133 Für ihre genaue Argumentation siehe Kap. 7.3.3. 134 Fær, S. 133 (Leifr stimmt Þóra dabei zu und sagte, sie sollten ihren Sinn darauf richten, dass sie endlich erreichten, was ihnen zustand).
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ter Þrándr gelingt es Leifr, durch unmerklich scheinende Eingriffe in die Situation diese zu seinen Gunsten zu fügen. Die Entwicklungen scheinen sich dabei für Leifr als Figur unbewusst zu konstituieren, während ihnen die Erzählstruktur der Færeyinga saga ihren sinnfälligen Rahmen verleiht. In Leifr ist eine Figur erreicht, die den Machtkampf, von dem die Erzählung handelt, seinem Ende entgegenbringen kann – deshalb entwickeln sich, merklich oder unmerklich, für ihn alle Angelegenheiten in die bestmögliche Richtung. Gemeinsam arbeiten Leifr, seine Frau und seine Schwiegermutter den Plan aus, der ihnen die Vorherrschaft auf den Färöern sichert: Sie locken Sigurðr, seinen Bruder und Gautr auf Þuríðrs Hof, und entführen zuvor noch den jungen Sigmundr von Þrándrs Sitz in Gata. Dort ist es erneut Þóra, die ihren Ehemann instruiert: L(eifr) ætlar at sofa ok leggzst nidr ok snyrr fra konu sínne hon rekr hendr j bak honum ok bat hann æigi sofa standit upp segir hon ok farít vm huerfum Austr ey j nott ok mæidít huert skíp suo at ecki se siofært.135 Damit ist es Þóra, die die Entführung Sigmundrs steuert, während Leifr hauptsächlich für die Ausführung der Pläne zuständig ist. Auch, als Leifr schließlich Sigurðr stellt, ist es eine der Frauen, diesmal Þuríðr, die Umworbene, die ihm Hilfestellung gibt, indem sie Sigurðr zunächst beschäftigt und dann festzuhalten versucht.136 Vor allem mit der falschen Angabe, Leifr sei nicht anwesend, wiegt Þuríðr Sigurðr in falscher Sicherheit.137 Und auch, wenn der Versuch, ihn bei seinem Mantel festzuhalten, misslingt, verschafft doch erst Þuríðrs Handeln Leifr die nötige Gelegenheit, seinen Gegner anzugreifen. In dem Moment, in dem Sigurðr mit Þuríðr beschäftigt und insofern abgelenkt ist, stürmt Heri Sigmundarson auf ihn zu. Diesen kann Sigurðr kunstvoll ausschalten,138 sodass ihn Leifr selbstständig besiegen muss und am Ende des Textes endlich den vollen Umfang seiner Kampfeskraft unter Beweis stellt. Er springt auf der Verfolgung seines Gegners eine Steilklippe hinab, holt den Fliehenden ein und streckt ihn ebenso nieder, wie er beim darauffolgenden Angriff auf den Heimatsitz seiner Ziehbrüder auch beide anderen eigenhändig ausschaltet. In diesem Moment hat er seinen Platz an der Macht auf den Färöern gewonnen, dem Plan seiner Frau zum Erfolg verholfen und tut anschließend auch dem königlichen Machtanspruch auf den Inseln genüge.
135 Fær, S. 134–135 (Leifr will schlafen und legt sich hin und dreht sich von seiner Frau weg, sie stößt ihm mit den Händen in den Rücken und bittet ihn, nicht zu schlafen: ›Steht auf‹, sagt sie, ›und geht heute Nacht außen um die Ostinsel herum und zerstört jedes Schiff, sodass keines seetüchtig ist!‹). 136 Zu dieser Szene vgl. näher Kap. 7.3.3 u. Kap. 5.4.3. 137 Siehe Fær, S. 135–136: S(igurdr) spurde huat manna væri komít hon q(uad) þar mann fátt hann spurde huort L(eifr) væri þar hon q(uad) hann æigi þar vera. eru synir þinir hæima segir hann þat ma kalla segir hon (Sigurðr fragte, wie viele Männer gekommen seien. Sie sagte, es seien wenige da. Er fragte, ob Leifr da sei. Sie sagte, er sei nicht da. ›Sind deine Söhne daheim?‹, sagt er – ›Das kann man sagen‹, sagt sie). Nur Leifr hebt Sigurðr eigens hervor, seinetwegen scheint er die größten Bedenken zu haben. 138 Vgl. Kap. 5.4.3.
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Anhand von Leifrs Verhältnis zu den Frauen in seiner neuen Familie zeigt sich, dass er sich von diesen ebenso zum Werkzeug machen lässt, wie zuvor von Þrándr und dem norwegischen König, zum Werkzeug von deren persönlicher Rache nämlich.139 Es wird offenbar, dass es Leifr zu keiner Zeit um einen persönlichen Bruch mit seiner alten Familie geht, sondern allein um den konsequenten Erweis seiner Loyalität. Die erste seiner Verpflichtungen gilt derjenigen Familie, der er angehört, und nach der Hochzeit mit Þóra ist dies die seiner Frau, die durch seine Ziehfamilie zweimal den Tod ihres Oberhaupts verkraften musste. Will Leifr seinen sozialen Verpflichtungen nachkommen, muss er die Familienehre letztlich an irgendeinem Punkt wiederherzustellen versuchen. Leifr wird so einmal mehr zum Werkzeug fremder Interessen. Wieder aber verabsolutiert er dabei das Prinzip der Angemessenheit seiner Handlungen und zeigt in seinen Taten somit nicht nur reine Befehlserfüllung, sondern im gegebenen Rahmen eine eigenmächtige Vorgehensweise. Er stürmt gerade nicht blindwütig los, als ihn die beiden Frauen aufzuhetzen versuchen, sondern bleibt besonnen. Er vergisst zugleich nie, wessen Ziehsohn er ist: So attackiert er nie Þrándr selbst, sondern nur dessen Handlanger. Er zerstört damit jedoch Þrándrs Herrschaft nachhaltig. Im Grunde übererfüllt Leifr dadurch die Verpflichtung seiner Frau gegenüber: Er bringt zunächst auf deren Wunsch bereits Sigmundrs eigentlichen Mörder zur Strecke und schaltet am Ende der Saga zusätzlich noch diejenigen aus, die Sigmundrs Herrschaft torpediert haben. Er selbst strebt dabei augenscheinlich kaum seine letztendliche Alleinherrschaft an. Er bemüht sich lediglich nach den moralisch vorgegebenen Maximen zu handeln. Beide Ziele aber gehen in diesem Moment Hand und Hand, und es entwickelt sich so eine Gemengelage gemeinsamer Interessen zwischen Leifr und seiner neuen Familie, die ihn letztendlich auf den Thron der Färöer spült. Seine innere Disposition und die Interessen derer, die ihn einsetzen, decken sich vor dem Hintergrund einer zusätzlich glücklichen Umstandssituation. Es erweist sich nämlich, dass weder Leifr noch die Frauen allein dazu fähig wären, den Konflikt endgültig zu beenden. Þóra ist diejenige, die ebenso gerissen ist wie Þrándr, und sie ist diejenige, die Leifr in die »Tatenkraft« treibt, in der er sich als Sigmundrs Erbe würdig erweist.140 Gleichzeitig aber ist nur Leifr geeignet, Þóra und ihrer Mutter in dieser Situation den Sieg ihrer Familie zu bescheren, ohne weitere Folgekonflikte heraufzubeschwören. Er ist dem norwegischen Herrscherhaus treu verbunden, sodass von Seiten des Königs keine unzufriedenstellende Lösung erreicht ist, und er besitzt als einziger die nötige Kampfkraft nach dem Bilde Sigmundrs, um Þrándrs Neffen töten zu können. Zudem ist er es, den bereits Þrándr an der Herrschaft beteiligt hat und dessen Identität damit zwar norwegisch gebunden, nicht aber exklusiv durch diese Verbindung zum benachbarten Königreich bestimmt ist, sondern der auf den Färöern selbst seine Macht basieren kann. Sigmundr
139 Zu einer Einschätzung dieser Tatsache vgl. näher Kap. 7.3.3. 140 Vgl. näher Kap. 7.3.3.
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und seine Familie, und nicht zuletzt die beiden Frauen, die aus der auch narrativ ›wildwüchsigen‹ Umgebung des Dovrefjell stammen,141 sind auf den Färöern, wie Þrándrs Herrschaft diese permutiert, Fremdkörper.142 Diese marginale Position auf den Inseln können die Frauen nur überwinden, indem nunmehr Leifr für sie agiert. Auch gleicht Leifrs stets vorbildliches Verhalten die von moralischen Zweifeln nicht eben freien Ziele der Frauen aus.143 Was sie zu ihrer hvǫt treibt, ist die essenziell falsche Einschätzung, dass Sigurðr Leifr Þórisson getötet hat. Diese Überzeugung entspricht explizit nicht den in der Saga geschilderten Tatsachen, sondern gründet sich auf das Hörensagen und den üblen Ruf Sigurðrs in der färöischen Öffentlichkeit.144 Dass Leifr nicht unmittelbar auf die Hetze der Frauen reagiert, mildert die moralische Fragwürdigkeit der daraus erfolgenden Taten insofern maßgeblich ab. Gleichzeitig muss fraglich bleiben, ob Leifr angesichts der Vorgehensweise, die er aus sich selbst heraus an den Tag legt, jemals Þrándr und seine Familie überkommen und sich als Herrscher erweisen könnte – er braucht das Planungsgeschick, die kalte Taktik und die auffordernden Worte seiner Ehefrau, um all die Tugenden unter Beweis zu stellen, die ihn mit der Ausschaltung von Þrándrs Neffen zum Herrscher machen. Obgleich Leifr also von seiner Frau ebenso in Szene gesetzt und für die eigenen Ziele gelenkt wird, wie dies geschieht, als er noch Þrándrs Gruppe angehört, gehen die beiden eine für beide Seiten vorteilhafte Verbindung ein. Erreichen kann Leifr seine letztendliche Herrschaft aufgrund der günstigen Rahmenbedingungen und seiner aus dem Rahmen der anderen Figuren fallenden Konzeption; entscheidender Weise aber auch, weil seine eigene ›Unmännlichkeit‹ in der Handlungsweise durch die sehr energischen weiblichen Figuren in seinem Umfeld kompensiert wird. Sie treiben ihn im richtigen Moment dazu, zu beweisen, dass er dennoch der rechtmäßige Herrscher der Färöer ist. So erweist sich, dass in Þóra selbst Þrándr seinen Meister gefunden hat.145
6.5 Gottgewollt. Leifr als letztendlicher Herrscher Leifr Ǫzurarson ist am Ende der Færeyinga saga der Alleinherrscher auf den Färöern, weil er in vielerlei Hinsicht eine ungewöhnliche Figur ist. In seiner weitgehend passiven und nicht in den Vordergrund gedrängten politischen Handlungsweise zeigt er, dem Anschein nach beiläufig, Þrándrs Geschick. Gleichzeitig entspricht er damit nicht dem Männlichkeitsbild, das die Sagaliteratur vermittelt. Als würdiger
141 Vgl. hierzu Kap. 2.3.2.2, Kap. 4.2.3, Kap. 7.2 u. Kap. 7.3.3. 142 Vgl. Kap. 2.3.2, Kap. 3 u. Kap. 4.3.2 zur Sichtbarkeit dieser Problematik in der Darstellung von Sigmundrs Scheitern. 143 Zur moralischen Interpretation der Rache-Agenda der Frauen vgl. Bick 2005, S. 12. 144 Vgl. auch Kap. 5.4.2. 145 Vgl. Kap. 7.3.3 u. Kap. 3.4.5.
6.5 Gottgewollt. Leifr als letztendlicher Herrscher
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Herrscher nach deren Normen erweist er sich dennoch in dem Moment, in dem er zur rechten Zeit unnachgiebig seinen Herrschaftsanspruch durchsetzt, womit er Sigmundr spiegelt. Diesem gleicht er auch in seiner kompromisslosen Treue und seiner Unterordnung unter die königliche Verfügungsgewalt. Dabei wandeln sich Leifrs äußere Loyalitätsbindungen, nie aber die Natur seine Treue zu den Figuren, die mit ihm verbunden sind. Ungewöhnlich scheint auch seine ergänzende Verbindung mit den weiblichen Figuren seiner Familie – sie sind die Triebkraft seines Tuns am Ende der Saga, er die ausführende Hand. Der rechtmäßige Herrscher ist Leifr deswegen, weil er die Dichotomien, die innerhalb des Konflikts der Færeyinga saga aufgebrochen sind – färöische Identität gegen norwegisches Königtum, skrupellose, vorausschauende und intelligentabwartende Machtpolitik gegen Kämpfermut, eigene Zielsetzung gegen äußere Kontrolle – unproblematisch in sich vereinen kann. So vermittelt seine Figurenzeichnung zwischen den semantischen Spannungsfeldern, die die Sujetfügung der Erzählung eröffnet, und schafft Ausgleich. Dadurch erschafft Leifr etwas Neues, er erhebt sich über die bisherigen Konflikte. Er befindet sich auf einer anderen Ebene der Geschehnisse als die anderen Figuren: Er ist nicht allein norwegischer Befehlsempfänger, denkt aber bei der eigenmächtigen Anwendung seiner Macht nicht allein an sich. Leifr hebt so die Gegensätze, die den Machtkampf auf den Färöern zuvor bestimmt haben, in sich auf. Er drängt nicht selbst an die Macht und muss insofern weder, wie Þrándr, die Deutungshoheit der norwegischen Herrscher entkräften, um sein eigenes Reich auf den Färöern errichten zu können, noch ist er, wie Sigmundr, darauf verpflichtet, eine ursprüngliche Ordnung wiederzuherstellen und dafür den Machtanspruch fremder Instanzen zu vertreten. Anhand der Betrachtung seiner Figur wird letztendlich ersichtlich, dass die Diegese nur eine zusammengehörige Semiosphäre entwirft, in der einzelne Akteure nach Macht streben und ihre Einheit und Funktionalität so gefährden.146 Diese für die Erzählung prägende Grundsatzsituation kann in Leifr aufgehoben werden. Die Gegensätze, die den Handlungsverlauf zuvor geprägt haben, sind in ihm stabil und unangreifbar miteinander vereint, die Erzählsituation, die mit seiner Durchsetzung erreicht ist, nicht mehr zu erschüttern. Leifr mutiert einerseits die Gegebenheiten, indem die Färöer unter seiner und nach Þrándrs Herrschaft nicht mehr das sind, was sie zu Beginn der Erzählung waren, ein Randbereich norwegischer Herrschaft, instabil und intern gefährdet. Nunmehr sind sie ein geeintes, unter einem starken Herrscher vereinigtes Land, das sich dem norwegischen König freiwillig unterordnet, können dabei aber eine relative Eigenständigkeit bewahren, indem der Konflikt über Machtkompetenzen, der die Grundursache der Plotentwicklung war, autonom reguliert werden kann. Damit ist zugleich gerade nicht die ursprüngliche Ordnung norwegischer Hegemonie wiederhergestellt, sondern die norwegische Dominanz auf den Färöern in erheblichem Maße abgewandelt: Leifr ist ein Herrscher in eigenem Recht und kraft
146 Vgl. Kap. 2.3.2.3.
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eigener Durchsetzung und alles andere als ein bloßer Stellvertreter fremder Oberhoheit. Beide Positionen, für die zuvor jeweils Þrándr und Sigmundr gestanden haben, sind in Leifrs Herrschaft integriert und aufgehoben. Durch Leifrs Handeln können auch auf der Figurenebene die meisten Interessen zugleich befriedigt werden: Der Herrschaftsanspruch des norwegischen Königs, seine eigene, aufgrund der Abstammung von Hafgrímr als legitim ausgewiesene Machtposition, der Rachewunsch der Frauen aus Sigmundrs Familie. Selbst Þrándr muss im Angesicht dieses gegen seine Herrschaft ausgerichteten Interessenbündels schließlich die Waffen strecken und bezahlt zudem an den bitter aufgezeigten Grenzen seiner Realpolitik den Preis ungebremsten, egoistischen Machtstrebens. Wenn er jedoch Leifr tatsächlich als einzigem ein Stück persönlicher Macht zugedacht hat, werden sogar stillschweigend seine Interessen durch die Herrschaft seines Ziehsohnes mit einbegriffen. Die Macht auf den Färöern fällt damit letztendlich jemandem zu, der nie nach ihr gestrebt hat. Leifr erhält seine Macht, weil sich seine Figurengestaltung ideal in die gegebenen Problematiken einfügt. Sein Wert bestimmt sich daher immer aus dem ihm beigestellten Kontext. Er kann den Machtkampf anderer Figuren bereichern oder deren Pläne durchkreuzen, ebenso, wie er durch plötzlich gezeigte Eigenmächtigkeiten vorgesehene Handlungsabläufe abwandeln kann. Er wird stetig in wechselnde Konstellationen eingebracht und ergibt seinen Wert im Zwischenraum anderer Figuren und Interessenlagen, während er selbst zugleich für alles und gar nichts steht. Er kann Königsdiener ebenso sein wie Þrándrs Handlanger, während er zugleich diesen im Dienst für seine Ehefrau endgültig schlagen kann. Leifr wirkt auf der Handlungsebene so wie ein Joker, höchst wandelbar und anpassungsfähig. Er fügt sich in die gegebene Konstellation von Machtinteressen ideal ein, weil er selbst keine durchgängige Agenda an den Tag legt. Gerade deshalb aber kann er die gegebene Situation auf den Färöern idealtypisch meistern. Er muss die Pläne und Interessen anderer nicht zugunsten seiner eigenen bekämpfen, sondern kann sie für seinen eigenen Erfolg inkorporieren. Während die anderen Figuren um die Macht kämpfen, kann Leifr sie sich im für ihn günstigsten Moment einfach nehmen, weil er das Vakuum des Raums zwischen dem Streben seiner Umgebung für sich ausnutzen kann. In diesem fällt die Macht, als Ziel des Handelns aller anderen Akteure, schlicht in seinen Schoss. Durch die Wandelbarkeit Leifrs als Akteur wird so eine extrem dynamische Figur entworfen. Seine Figurenkonzeption erscheint als ein Fluidum, das durch seine Wandelbarkeit am Leben erhalten wird. Blickt man auf die bisher für die Forschung so bedeutsame Raumsemantik der Færeyinga saga in ihrer Zweiteilung zwischen den Färöern und Norwegen, so symbolisiert Leifr durch seine oben ausgearbeitete, zugleich stabilisierende und permutierende Funktion in der Logik des Erzählsujets geradezu das Semiosphären-Prinzip selbst:147 Nur steter Wandel, Unschärfen und Zwischenpositionen zwischen Absolutheiten garantieren fruchtbare Funktionalität.
147 Zu diesem vgl. Kap. 2.
6.5 Gottgewollt. Leifr als letztendlicher Herrscher
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Dichotomien prägen Konflikte aus, können aber nur durch ihre dynamische Verbindung funktional gehalten werden. So entwickelt sich der für die Gesamterzählung maßgebliche Konflikt auf den Färöern, zwischen Þrándr und Sigmundr nach dessen Rückkehr sowie zwischen den Färingern und König Óláfr in Leifrs Lebenszeit, oder anders gesagt, solange Leifr von anderen Machtparteien für die eigenen Zwecke eingesetzt wird. Der Konflikt endet, als Leifr selbst an die Macht tritt. Damit kann Leifr ein Symbolwert in der Gesamtaussage der Færeyinga saga und ihrer narrativen Funktionsweise, ihres Erzählprinzips, zugesprochen werden. Er codiert die Dynamik des erzählten Machtkonflikts selbst. Am Ende des zweiteilig strukturierten Konflikts dieser Machterzählung ist es die Mehrdeutigkeit und Wechselhaftigkeit selbst, die obsiegt, der Mann, der die Gegensätze in sich vereint, die die Erzählung in Gang gesetzt und geprägt haben. Er, und nur er, kann den lange andauernden Konflikt der Färinger schließlich beenden und die Færeyinga saga zu einem Abschluss bringen. Er ist innerhalb der Diegese und ihrer Problematiken so eine fast messianische Figur. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, greift die Færeyinga saga sogar zu dem auffälligen Mittel, seine letztendliche Herrschaft durch ein göttliches Wunder absegnen zu lassen. Noch ehe der geeignete Moment für die Ausschaltung von Sigurðr und seinen Gefährten gekommen ist und Þuríðr und Þóra den untätigen Leifr nach Leifr Þórissons Tod hart angehen, ereignet sich folgende Begebenheit: Suo er sagt æín hueriu sínne at Þuride husfreyíu dreymde at Sigmundr Brestis son bonde hennar kæmi at henni er verit hafde hann mællti til hennar þat er sem þer synizst at ek er her komínn ok er mer þetta lofath af gude sealfum segir hann en haf æigi hardan hug ne illan a L(eifi) magi þinum | þuiat honum mun audit verda at reka yduarra skamma eftir þat uaknar Þurid ok segir Þoru dottur sínne draumin ok þadan fra eru þær betr til Læifs en adr.148 (Es wird erzählt, dass einmal die Hausherrin Þuríðr träumte, dass ihr verstorbener Mann Sigmundr Brestisson zu ihr käme. Er sprach zu ihr: ›Es ist so, wie dir scheint, dass ich hierhergekommen bin, und dies wurde mir von Gott selbst erlaubt‹, sagt er, ›aber hab keinen harten oder üblen Sinn gegenüber Leifr, deinem Schwiegersohn, denn ihm wird es bestimmt werden, eure Schande zu rächen.‹ Danach erwacht Þuríðr und erzählt ihrer Tochter Þóra von dem Traum und von da an verhalten sie sich besser gegenüber Leifr als zuvor.)
Diese Szene erscheint im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga überaus ungewöhnlich. Im ersten Eindruck vermittelt sie eine zutiefst von christlicher Ideologie durchdrungene Botschaft der Rechtmäßigkeit von Leifrs Herrschaft – und damit in ihrer Überformung auch der norwegischen Oberhoheit auf den Färöern.149 Dies er148 Fær, S. 131. 149 Vgl. Guldager 1975, S. 41, demzufolge das Ende der Saga »naturligvis om den endelige etablering af en orden under den norske konges overherredømme« (natürlich von der letztendlichen Etablierung einer Ordnung unter der Oberherrschaft des norwegischen Königs) handle, während Sigmundrs Erscheinung nur angeblich (»angivelig«) von der Wiederherstellung der Familienehre spreche – implizit denkt Guldager wohl also an eine Verbindung von Erzählschluss und Prophezeiung Sigmundrs. Vgl. auch Glauser 1989, S. 220–221 mit Emphase auf der pro-norwegischen Ideologie
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scheint umso ungewöhnlicher, da die Religionsthematik im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Þrándr und Sigmundr geradezu marginalisiert und in deren handfestem politischen Streit in hohem Maße überformt wird.150 Insofern erscheint es kaum gerechtfertigt, an dieser Stelle die mechanisch wirkende Einziehung einer christlichen Botschaft in den Gesamttext auszumachen. Dadurch, dass die Erscheinung Sigmundrs durch Þuríðr als – noch dazu träumende – Wahrnehmungsinstanz geschildert wird, lässt sich einerseits ihr ontologischer Status, ihre Tatsächlichkeit, in Frage stellen.151 Die Botschaft wird überdies nicht unmittelbar durch Gott ausgesprochen, sondern durch seinen Gesandten Sigmundr, und damit den in der Saga ursprünglich als legitim ausgewiesenen Herrscher der Färöer. Andererseits wird bei genauer Textbetrachtung auch nicht Leifrs Herrschaft göttlich sanktioniert, sondern sein – in den Augen der beiden Frauen zudem unangemessenes – Verhalten.152 Es ist Leifrs ungewöhnliche Vorgehensweise und Figurenkonzeption, die den Frauen in diesem Moment so sauer aufstößt, die hier eine göttliche Absegnung erfährt: Þuríðr solle Leifr persönlich und seinem von ihr kritisierten Verhalten gegenüber keinen hardan hug ne illan an den Tag legen, denn sein späteres Handeln sei audit. Die Erscheinung verleiht gerade diesem die Komponente göttlicher Erwünschtheit und darüber, dass Sigmundr sie vollzieht, diejenige ursprünglicher Legitimität. Leifrs Verhalten wird nicht allein durch Gott, sondern auch von Sigmundr Rechtmäßigkeit zugesprochen, während es angesichts des Plotverlaufes trotz seiner Ungewöhnlichkeit stets als das uneingeschränkt richtige und ehrenhafte markiert wird. Sein Wesen und das dadurch erreichte Ende des Konflikts sind göttlich verheißen. Gerade angesichts der sonstigen Marginalisierung göttlichen Wirkens oder Religion als solcher in der Saga wirkt diese Erscheinung Sigmundrs zugunsten Leifrs umso herausgehobener und narrativ markierter. Einzig Leifr wird eine solche, göttliche ›Einmischung‹ in den Handlungsverlauf der färöischen Konflikte zugestanden. Seine Herrschaft ist legitim und in letzter Konse-
des Erzählendes, ohne jedoch den Hinweis auf die göttliche Überformung dieses Endes anhand von Sigmundrs Erscheinung. 150 Vgl. Kap. 3.6.1, Kap. 4.5.1 u. Kap. 8.3. 151 Vgl. McTurk 1992. Wehrle 2021 zufolge wäre indes die Natur des Traums als solche auch im Mittelalter ambig genug, um verunsichernd auf die Frage nach Bedeutung und Tatsächlichkeit zu wirkend. Die spezifisch christliche Natur des Traumes stellt ihn hingegen in engere Parallele zur Vision als göttlicher Offenbarung und passt sich zugleich dem Moment der schicksalhaften, zukunftweisenden Natur von Träumen im altnordischen Material an, vgl. zur Grundproblematik Ernst 2006. Vgl. zur Vielschichtigkeit der oft untersuchten Traummotivik der Sagaliteratur auch Groß 2021. 152 Zugleich kündigt die göttliche Offenbarung explizit eine Rachehandlung, und damit eine wenig vermeintlich ›christliche‹ Handlungsweise an. Heusler 1911, S. 53 bemerkt grundsätzlich eine geringe Problematik der Gleichzeitigkeit von Racheideologie und christlichem Glauben: »Wie gut sich andererseits kirchliche Stimmungen mit warmer Begeisterung für die Vaterrache vertragen können«, zeige die Szene aus der Njáls saga, in der dem Blinden Ámundi eigens für den kurzen Moment der Rache am Totschläger seines Vaters durch ein Wunder Gottes das Augenlicht zurückgegeben wird (Nj c. 106, S. 272–273).
6.5 Gottgewollt. Leifr als letztendlicher Herrscher
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quenz gottgewollt, und es ist sein von den beiden Frauen so lautstark angeklagtes, vermeintlich den Normen und Standards von Sagagesellschaft und bisherigem Erzählverlauf der Færeyinga saga selbst nicht angemessenes Verhalten, das im Zuge der Artikulation dieser göttlichen Vorbestimmtheit betont wird. Leifr ist somit in allen erdenklichen Hinsichten als ideale Figur in der Narration hervorgehoben. Er handelt stets nach den Anforderungen der Ehre, dabei aber maßvoll, auf das Gemeinwohl bedacht und grundsätzlich zur Mäßigung aufrufend. Ihm liegt nichts an Eskalation oder reinem Selbsterhalt und über alles setzt er Loyalität, Anstand und Treue. Deshalb wird er wiederholt durch die Interessen anderer Beteiligter am Machtkampf gesteuert und eingesetzt, doch wandelt sich der gesamte Konfliktverlauf letztlich dadurch zu seinen Gunsten allein. Indes handelt er auf eine Weise, die alle Tugenden und Laster der bisherigen Protagonisten der Færeyinga saga in sich vereint und aufhebt. Diese Tatsache wird durch eine göttliche Erscheinung als rechtmäßig und zukunftsträchtig unterstrichen. So ist Leifr am Ende der Saga der Alleinherrscher der Färöer und der Konflikt beendet. Trotz seiner unmerklichen Persönlichkeitsstruktur und Handlungsagenda ist er somit am Ende der richtige Mann. Er passt sich in seiner Wesensart perfekt in die ihn umgebende Konstellation um die Macht kämpfender Figuren ein. Er ist der färöische Retter, der rechte Mann zur rechten Zeit am rechten Ort, der, dem die von anderen angestrebte Macht fast von alleine und natürlich zufällt.
7 Nebenfiguren Wie aus den vorigen Kapiteln der vorliegenden Arbeit ersichtlich, ist die Konfliktsituation der Færeyinga saga sehr klar auf wenige zentrale Figuren zugeschnitten. Entsprechend bietet der Text eine sehr limitierte Anzahl überhaupt handelnder Figuren – im Gegensatz etwa zu einer Isländersaga wie der Njáls saga mit ihren über 600 Figuren umfassenden dramatis personae.1 Es gibt hier, anders als in den Isländersagas, keine ausladend gestalteten Genealogien und komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse an der Handlung beteiligter Familiengruppen;2 auch ist keine stratifizierte Gesamtgesamtgesellschaft dargestellt, die etwa auch Gestalten wie Bettlerinnen oder Sklaven umschlösse.3 Im Gegenteil ist der Protagonistenkreis sehr übersichtlich gestaltet, straff durchkomponiert und präzise aufeinander bezogen, der zentrale Konflikt scharf umrissen. Die umgebende Gesellschaft dieses Konflikts wird, wenn überhaupt erwähnt, zumeist verallgemeinernd als mart manna,4 bændr bzw. bonda s(ynir)5 oder einfach als almenningr6 bezeichnet. Außerhalb der Hauptfiguren Þrándr, Sigmundr, Leifr und Þrándrs Neffen (vornehmlich Sigurðr), deren Konflikt um die Herrschaft untereinander die Thematik der Erzählung ausmacht, bietet die Færeyinga saga so nur wenige Nebenfiguren auf. Wird aus dem weiteren Kreis der Nicht-Haupthandlungsträger eine Figur überhaupt genauer herausgestellt, erfüllt sie in der Regel nur eine kurze, handlungsauslösende Funktion oder dient der indirekten Charakterisierung der mit ihr verbundenen Hauptfigur, wie dies auch bei Sigmundrs Ziehbruder Þórir und einigen ähnlich gestalteten Figuren der Fall ist. Eine eigenständige Rolle spielen lediglich die drei norwegischen Herrscherfiguren Hákon, Óláfr Tryggvason und Óláfr der Heilige sowie die weiblichen Figuren und Sigmundrs Ziehvater, der Outlaw Úlfr-Þorkell. Eine Analyse dieser Nebenfiguren, die sämtlich den vier zentralen Akteuren zugeordnet werden können, eröffnet verstärkt die Perspektive auf die Komposition der Færeyinga saga und die Problematiken ihrer Überlieferung. Anhand der Könige Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson werden so in den beiden Erzählabschnitten, in denen diese auftreten, Darstellungsweisen und Erzählabsichten deutlich, die im Kontext
1 Vgl. zur dortigen Akteurszahl Rossenbeck 2009. 2 Zum mittelalterlichen Gesellschaftssystem auf Island und der daraus folgenden Bedeutung von Familienbeziehungen für die Isländersagas vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 148–186; Vésteinn Ólason 2011, S. 24–39 u. S. 89–92; Jakob 2016. 3 Zu Figuren außerhalb und am Rand der isländischen Gesellschaftsordnung vgl. im Überblick Cochrane 2012. Marginal sind außer den Unfreien und Armen in Erzählungen, die die Konflikte der Oberschicht behandeln, weiterhin beispielsweise auch Alte und Kinder, siehe hierzu einige Beiträge in Lewis-Simpson (Hrsg.) 2008, oder gesellschaftlich Ausgestoßene wie die Outlaws, siehe u. a. Amory 1992; Ahola 2009; Poilvez 2012; Wilson 2017; Merkelbach 2019. 4 Fær, S. 61 (viele Männer). 5 Fær, S. 74 (Bauern) bzw. S. 90 (Bauernsöhne). 6 Fær, S. 126 (die Allgemeinheit). https://doi.org/10.1515/9783110774979-007
7.1 Flache ›stock figures‹: Nebenfiguren in der Færeyinga saga
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der Saga als durchgängiger Erzählung durchaus sperrig anmuten. Im Folgenden sollen diese nicht-zentralen Akteure im Plot des Textes als Abschluss der Figurenanalyse im Zentrum stehen. Dabei soll zunächst die übliche Nebenfigurentypik der Færeyinga saga in Auswahl vorgestellt werden, um schließlich jene Figuren näher zu untersuchen, deren Handeln den zentralen Konflikt mitunter maßgeblich mitbestimmt. Sie unterscheiden sich von den vier Hauptfiguren darin, dass sie im Gesamtkontext weit weniger im narrativen Fokus stehen.
7.1 Flache ›stock figures‹: Nebenfiguren in der Færeyinga saga Nicht wenige der in der Færeyinga saga auftretetenden Figuren sind überaus flach konzipiert und neigen zu einer reinen Typencharakteristik. Sie übernehmen zumeist lediglich eine Auslöserfunktion im Handlungsgang und werden nach getaner ›Arbeit‹ wieder aus der Erzählung entfernt. Sie bereiten so einzig den Weg für den Konflikt der Hauptakteure und ermöglichen durch ihren Auftritt die Weiterentwicklung von deren Machtstreitigkeiten untereinander. Dabei zeichnen sie sich in der Regel durch eine einzige Eigenschaft aus, ohne eine eigentliche literarische Persönlichkeit zu entwickeln. Eine solche Rolle übernimmt etwa Eldjárn kambhǫttr, der bereits beim Zeitpunkt seiner Einführung als marg ordr ok ill ordr heímskr ok illgíarnn dadlaus ok til læítinn lygínn ok rogsamr vorgestellt wird.7 Dieser wenig schmeichelhaften Beschreibung macht er alle Ehre, als er während des Männervergleichs mit Einarr suðreyingr auf Hafgrímrs Hof auf sein Gegenüber einschlägt. Er setzt dadurch den Grundkonflikt in Gang, der zum Streit zwischen Hafgrímr und den Brüdern Brestir und Beinir führt und den Aufstieg Þrándrs ermöglicht.8 Nach dieser Tat verschwindet Eldjárn aus der Erzählung, bis Þrándr und seine Leute Sigmundr schließlich auf Skúfey überfallen. Auch dort ist es Eldjárn, der die Situation erschafft, die zu Þrándrs Oberhand führt: Elldíarnn kambh(ỏttr) gek upp synu fyrstr ok fann vard mann S(igmundar) hea upp gỏngunne þeir reduzst þegar til ok lykr suo þeirra skriftum at þeir hrutu badir firir hamar ok fengu bana badir þeir.9 Erst durch diese Tat Eldjárns kann Skúfey eingenommen werden, das von zehn Mann am Aufgang zur Insel gehalten werden könnte. Nach dem Tod des Wächters kann Sigmundr jedoch nicht mehr vorgewarnt werden. Jenseits dieser handlungsauslösenden Funktion kommt Eldjárn keinerlei eigene Bedeutung in der Erzählung zu. Er spielt er die Rolle eines bösen, streitsüch-
7 Fær, S. 8 (geschwätzig und schmähsüchtig, dumm und bösartig, unfähig zu großen Taten und streitsüchtig, verlogen und verleumderisch). 8 Vgl. Ólafur Halldórsson 1967, S. xv; Ewering/Krosing 2011, S. 82. Siehe hierzu Kap. 3. 9 Fær, S. 84 (Eldjárn Kammhut ging als Allererster hinauf und fand den Wachmann Sigmundrs am Aufgang. Sie griffen einander sogleich an und ihr Zusammenstoß endet so, dass sie beide von der Klippe herabstürzten und beide den Tod fanden).
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7 Nebenfiguren
tigen Wichtigtuers, der die Konsequenzen seiner Taten weder überblickt noch durchdenkt. Und doch ist er der Schlüssel der Plotentwicklung an zwei entscheidenden Stellen. Weitreichende politische Konflikte können sich an scheinbar nebensächlichen Streitereien entzünden und die Geltungssucht eines Mannes kann schnell anderen zum Vorteil gereichen. In der Flateyjarbók-Redaktion der Færeyinga saga spielt die Bereitstellung dieser Figur als Konfliktkatalysator somit eine Rolle dabei, Þrándrs Aufbegehren gegen die eigentlich legitime Ordnung zu perspektivieren und seine eigene Bosheit zu entdramatisieren.10 Der Urkonflikt geht nicht von ihm aus, sondern von der Unvorsicht des bösartigen Eldjárn, und er muss nur abwarten, bis seine Zeit gekommen ist. Die Konfliktentwicklung über Eldjárns Tun zeigt dabei einerseits, dass für ihre Entstehung nicht einmal das Eingreifen der eigentlichen Akteure notwendig ist, wenn entsprechend bedenkliche Subjekte wie Eldjárn in einer Gesellschaft vertreten sind, und andererseits, dass Konflikte in der dargestellten Gesellschaft auf der sozialen Leiter in hohem Maße mobil sind.11 Letztlich sind so Konfliktursachen im Spiel der Mächte ebenso kontextfundiert und wandelbar, wie dies auch die Umstände des späteren Machtkampfes und sogar sein Abschluss sind, wie oben gezeigt. Wenn es um die Macht geht, befinden sich die Parameter im ständigen Fluss und auch zufällig erscheinende Angelegenheiten können dramatische Folgen nach sich ziehen. Die übrigen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar erwähnen eine augenscheinlich so unbedeutende Figur wie Eldjárn hingegen nicht einmal. Es heißt dort ohne Detailangaben nur, zwischen Hafgrímr und den Brüdern Brestir und Beinir seien Streitigkeiten entstanden12 – konsequenterweise, wenn in diesen Textredaktionen die Schuld an den färöischen Katastrophen aus norwegischer Sicht maßgeblich auf den Antagonisten Þrándr geschoben wird.13 Daher werden auch die Konfliktursachen wesentlich weniger differenziert und fluide gestaltet als in der Flateyjarbók, in der die gesamte Plotentwicklung letztlich mit der Unbedachtheit einer so flachen Figur wie Eldjárn steht und fällt. Schon die Einbeziehung oder Auslassung einer solchen Nebenfigur mit nur einer einzigen Funktion und Charaktereigenschaft kann insofern maßgeblich den Erzählgang und sogar die Gesamtaussage der Narration beeinflussen. Eine ähnliche, rein handlungsfunktionale und insofern eindimensionale Rolle, die jedoch ebenfalls entscheidenden Einfluss auf die Erzählentwicklung nimmt, spielen Figuren wie etwa Þorgrímr mit dem sprechenden Beinamen illi »der Böse«, der Sigmundr auf Suðrey aus Geldgier erschlägt. Dies trifft auch auf Sigmundrs diverse Gegner im Zuge seiner Wikingerfahrten zu, deren einzige narrative Aufgabe darin besteht,
10 Vgl. zu Þrándrs vergleichsweise ›positiverer‹ Darstellung in dieser Redaktion im Unterschied zu den übrigen Textversionen bes. Kap. 3.5. 11 Vgl. Ewering/Krosing 2011, S. 82. 12 Siehe Fær, S. 10–11 (Text A; D in der Formulierung leicht abgewandelt): Þessu nærst hófuz deilur með þeim bræðrum iSkvfey ok Hafgrimi (Als nächstes entstanden Streitigkeiten zwischen den Brüdern auf der Buschinsel und Hafgrímr). 13 Vgl. Kap. 3 u. Kap. 4.
7.1 Flache ›stock figures‹: Nebenfiguren in der Færeyinga saga
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überwunden zu werden und so seine Entwicklung vom mittellosen Ziehsohn eines Outlaws zur führenden Figur am norwegischen Hof zu illustrieren. Ähnliches gilt für die Figurenriege am Ende der Saga, die nur auftritt, um Sigurðrs, Þórðrs und Gautrs Machteroberung zu illustrieren – und gegebenenfalls zu ermöglichen.14 So etwa die drei Brüder Hafgrímr, Bjarngrímr und Hergrímr samt ihres Vaters Arnljótr, oder der verräterische Skopti, der Arnljótr zu seiner Rache verhelfen will und nach dessen Scheitern von Sigurðr Þorláksson verbannt wird. Besonders augenscheinlich ist hier der nicht einmal mit einem Namen ausgestattete fiski madr æínn,15 den Gautr ausschaltet, als Þorvaldr, der Ehemann, den er hörnt, ums Leben kommt. Eine zweite Funktion, die Nebenfiguren dieser Art in der Færeyinga saga erfüllen, ist die kontrastive Charakterisierung der ihnen narrativ zugeordneten Hauptfiguren. Ein Beispiel für diese Funktion bietet zu Beginn des Textes Hafgrímrs Schwiegervater Snæúlfr. Dieser var sudr eyskr madr at ætt ok flyde ór Sudr eyium firir uíga sakir ok udęlldar ok til *Færeyia hann hafde verit j uikíngu hínn fyrra hluta ęfui sínnar hann var þa enn vdęll ok hardr uídr æígnar.16 Als sein Schwiegersohn nach dem verlorenen Þingstreit gegen Brestir und Beinir Hilfe bei ihm sucht, zeigt Snæúlfr sich überaus bestimmt in seiner Ablehnung von Hafgrímrs Bitten. Er und seine Familie haben den Schwiegersohn bereits ein leeres Haus auffinden lassen, doch damit nicht genug: [I]lla er þer farít segir hann [Snæúlfr] læitar aþer betri menn vm sakleysi en berr þo ofuallt lægra hlut […] ok uil ek æigi heyra þíg Snæulfr þreíf upp spíot ok skaut til Hafgrims Hafgrimr kom firir síg skillde ok stod þar fast j spiotít en hann vard ekki sarr.17 Snæúlfrs Verhalten als der Mann, der er ist, zeigt sein Unrechtsbewusstsein, setzt vor allem aber das Verhalten Hafgrímrs, und insbesondere das Þrándrs, der sich gegen Bezahlung bereitwillig mit Hafgrímr gegen seine Verwandten verbündet, ins Relief.18 Hafgrímrs Schwiegervater ist ein streitsüchtiger
14 Zur Unklarheit einiger Beschreibungen in diesem Erzählabschnitt und einer möglicherweise verurteilenswerten Agenda der Neffen Þrándrs vgl. näher Kap. 5.4.2. 15 Fær, S. 130 (eine Fischer). 16 Fær, S. 9 (war von hebridischer Abstammung und floh wegen Totschlägen und Unverträglichkeiten von den Hebriden und auf die Färöer. Er war den ersten Teil seines Lebens über auf Wikingerzügen gewesen; er war damals noch unverträglich und hart im Umgang). 17 Fær, S. 12 (›Schlecht ist es dir ergangen‹, sagt er [Snæúlfr], ›du wendest dich grundlos gegen bessere Männer, und hast doch immer den geringeren Teil. […] Und ich will von dir nichts hören!‹ Snæúlfr hob einen Speer auf und schleuderte ihn auf Hafgrímr. Hafgrímr hielt den Schild vor sich und dort bohrte sich der Speer fest hinein, aber er wurde nicht verletzt). 18 Aus Perspektive der isländischen Textentstehung ist dabei besonders bemerkenswert, dass es sich bei Snæúlfr um einen Mann handelt, der selbst von den (fast) immer als zwielichtig dargestellten Hebriden wegen seiner sozialen Unverträglichkeit fliehen musste, siehe zu dieser Darstellungsweise Ellis 2020, bes. S. 16–20. Damit werden implizit einerseits die Färöer als im Vergleich noch zwielichtiger gezeichnet (vgl. hierzu auch Kap. 2.2), und der oben dargestellte Kontrast zusätzlich verschärft. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 237–238; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxi spricht darüber hinaus von einem ›Märchenmotiv‹, Thomspon 1955–1958 D 712.6 (Disenchantment by wounding). Demzufolge sei Snæúlfrs Speerwurf als Maßnahme gegen einen bösen Zauber Þrándrs gerichtet. Dies ist jedoch als wenig wahrscheinlich einzustufen angesichts der Tatsache, dass Þrándr von
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Wikinger und Gewaltanwendung rundheraus zugetan, und doch weigert er sich, ihn gegen unschuldige und »bessere« Männer zu unterstützen. Dies demonstriert ex negativo eindrücklich sowohl Hafgrímrs überstürzte, jähzornige und unkluge Vorgehensweise als auch Brestirs Rechtmäßigkeit und Þrándrs schurkisch-linkischen Charakter. Eine darüberhinausgehende Funktion erfüllt die Figur Snæúlfrs in der Narration nicht; er ist für den Handlungsgang nicht relevant und wird später nicht mehr erwähnt. Insgesamt dienen alle Figuren im Eröffnungsteil der Færeyinga saga so letztlich vor allem der Charakterisierung ihrer später handlungstragenden Nachfahren oder der Þrándrs im Zuge der Etablierung seiner Herrschaft.19 Sie lassen sich den rein handlungsauslösenden Figuren, insbesondere des Schlussteils, gegenüberstellen und fungieren primär zur Verdeutlichung von Eigenschaften der Haupthandlungsträger, übertragen auf die Figurenebene und durch den Kontext mit diesen bestimmt. Die meisten der Nebenfiguren erfüllen aber doch beide Kriterien und lösen nicht entweder nur Handlung aus oder verdeutlichen Eigenschaften anderer Figuren. Auch eine in ihren handlungsfunktionalen Eigenschaften jenseits der Feindschaft zu und des Verrats an Sigurðr Þorláksson nicht weiter greifbare Figur wie Skopti verdeutlicht durch ihre Rolle die Eigenschaften derjenigen Hauptfigur, mit der sie interagiert. Obgleich Sigmundrs Vater Brestir im Kern lediglich eine Präfiguration seines Sohnes darstellt, löst er dennoch maßgeblich auch Handlung im Plot der Saga aus; der ursprüngliche Konflikt ist der seine. Ein treffendes Beispiel für diese Art Figur wäre der norwegische Händler Hrafn, an den Þrándr die ihm zur Erziehung überlassenen Sigmundr und Þórir als Sklaven verkauft. »The Norwegian visitor is a stock figure in sagas – his narrative usefulness, not least as a man who need have no past or future, is obvious […]. […] Hrafn seems to be a preferred name for such a Norwegian skipper«, wie Foote bemerkt.20 Hrafn ist jedoch nicht gänzlich eigenschaftslos. Er erhält sogar einen Beinamen, Holmgardz fare,21 und zeigt sich
Hafgrímr erst nach seinem Besuch bei Snæúlfr aufgesucht wird. Schlüssiger ist der obige Vergleich zwischen den beteiligten Figuren als Hintergrund des Speerwurfs. Vgl. zu Þrándrs unethischer Beteiligung am Streit Kap. 3.4.1. 19 So spiegelt Sigmundr etwa die an dieser Stelle auftretenden Elternfiguren, was deren wichtigste Funktion im Text zu sein scheint, vgl. hierzu Kap. 4.2.1. Als eigenständige Figur wäre lediglich Hafgrímr begreifbar, doch ist auch dessen Funktion hauptsächlich in der Begründung der Ausgangslage auszumachen, die Þrándrs Aufstieg auslöst. Einen anderen Aufbau zeigen die abweichenden Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta. Diese lassen die meisten der oben genannten Figuren vollständig aus und fokussieren so umso stärker die eigentlichen Handlungsträger, wobei die Darstellung des Urkonflikts auf den Färöern einem Prolog des Dualismus von Sigmundr und Þrándr gleichkommt. Der Text wird dadurch konziser auf diese beiden Figuren zugeschnitten und der Handlungsgang wesentlich schneller und weniger detalliert komponiert. Die Ereignisse laufen dadurch auch schneller auf den Auftritt Óláfr Tryggvasons und den Höhepunkt der Christianisierung der Färöer unter seiner Regierung zu, vgl. hierzu Kap. 4.5.1 u. Kap. 7.4.3. 20 Foote 1973, S. 97. 21 Fær, S. 18 (Holmgarðr-Fahrer).
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als Mann bestimmter Prinzipien: Als Þrándr ihm die beiden vor Leid verhärmten Jungen vorführt, erkennt Hrafn sie sogleich und weigert sich, die Jungen als Sklaven zu kaufen: [Æ]igi koma þeir j mítt ualld sagde Hrafnn. sua at ek gefa fe firir þa.22 Der Händler scheint sich ob seines Wissens um die Identität der Jungen der Unrechtmäßigkeit von Þrándrs Ansinnen bewusst und verweigert sich. Dennoch lässt er sich von Þrándr bestechen: [E]ig her íȷ ́ merkr silfurs er ek uil gefa þer til at þu flytir þa j brott med þer sua at alldri komi þeir sidan til Færeyia hellir [Þrándr] nu silfrínu j kne honum styrimannínum telr nu ok tiar firir honum. litzst Rafnni fagurt silfrit ok verdr þetta af at hann tekr vid sueínunum.23 (›Nimm hier zwei Mark Silber, die ich dir dafür geben will, dass du sie mit dir fortnimmst, sodass sie nie mehr auf die Färöer kommen.‹ [Þrándr] schüttet das Silber nun dem Schiffsherrn aufs Knie; er zählt es nun und zeigt es vor ihm. Hrafn scheint das Silber schön und es geschieht so, dass er die Jungen annimmt.)
In Norwegen angekommen entlässt Hrafn die Jungen allerdings schnell wieder aus der Sklaverei, nachdem er sie offenbar gut behandelt hat:24 [E]k ætla þat rad sagde Rafnn at þít farit huert þit uilit firir mer ok sua silfr þat er Þrandr fek mer j hendr med ykkr þa ętla ek sua bezst komít at þit hafit þat til atuinnu ykkr.25 Schon in diesem Miniaturauftritt expliziert die Færeyinga saga moralische Komplexität: Zwar verfügt der norwegische Händler über ein Unrechtsbewusstsein, lässt sich vom Bestechungsgeld aber doch überzeugen. Dennoch erfüllt er eine positive Funktion für Sigmundr und Þórir, und übergibt das Bestechungsgeld schließlich ihnen, statt sich selbst zu bereichern und die Jungen zu versklaven. Im Grunde rettet er dadurch, dass er sich bestechen lässt, also die Jungen aus einem wohl schlimmeren Schicksal in Þrándrs Haushalt.26 Er verhält sich letztlich aufrecht.27 Seine primäre Funktion
22 Fær, S. 19 (›Sie kommen nicht in meine Gewalt‹, sagte Hrafn, ›indem ich Geld für sie bezahle‹). 23 Fær, S. 19–20. 24 Auf die Frage, wie er seine Behandlung bei Hrafn einschätze, antwortet Sigmundr: [V]el hía þui sem þa er vit uorum j ualldi Þrandar (Fær, S. 20; ›Gut, verglichen mit dem, als wir in der Gewalt Þrándrs waren‹). 25 Fær, S. 21 (›Ich halte es für ratsam‹, sagte Hrafn, ›dass ihr meinetwegen aufbrecht, wohin ihr wollt, und auch das Silber, das mir Þrándr mit euch in die Hände gab. Ich halte es so für am besten gefügt, dass ihr es für euren Lebensunterhalt habt‹). 26 Steinsland 2005, S. 78–79 leitet aus dieser positiven Funktion für Sigmundr und Þórir eine Bedeutung von Hrafn als Aliasidentität des Götterfürsten Óðinn ab, entsprechend ihrer Identifizierung einer heidnischen Herrschaftsideologie im Subtext der Erzählung, im Zuge derer Sigmundr eine Initiation unter Óðinn unterlaufe, siehe bereits Kap. 4.2.3 (Fn. 138). Dafür spräche auch Hrafns Name, der sich auf Óðinns Begleiter, die Raben Huginn und Muninn, beziehe. Schon aufgrund der Tatsache, auf die Foote, wie oben zitiert, hinweist, dass Hrafn ein beliebter Name der Standardfigur des norwegischen Händlers in der Sagaliteratur ist, scheint Steinslands These wenig überzeugend. Zum möglichen heidnischen Subtext in der Erzählung vgl. auch Schmidt 2015, S. 124–127; Schmidt 2018; Kap. 8.3.3. 27 In den Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta außerhalb der Flateyjarbók wird Hrafn als noch rechtschaffener dargestellt, indem er Þrándr gleich nach der Annahme des Geldes
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in der Erzählung ist es, Sigmundr und Þórir aus Þrándrs Gewalt zu befreien und nach Norwegen zu bringen – an den Ort, an dem sich Sigmundrs Identität ausbildet. Insofern ist seine Nebenrolle von zentraler Bedeutung für die Handlungsentwicklung der Færeyinga saga. Darüber hinaus charakterisiert Hrafn in gewisser Weise auch Sigmundr: Er ist Norweger und eine der ersten Figuren, die Sigmundr Hilfestellung erweisen, was erneut die enge Verbindung zwischen Sigmundr und dem norwegischen Reich unterstreicht. Auch Hrafns Beiname, den Foote »much more distinctive« als den Vornamen nennt und auf die Anregung durch Hrafn Hlymreksfari aus der Landnámabók zurückführt,28 wie überhaupt die Identität des Händlers, lässt sich als Verweis auf Sigmundrs Charakter und künftige Geschichte verstehen. Der erste Norweger, mit dem Sigmundr in Kontakt tritt, ist ein Händler, dessen Appellativ Hólmgarðsfari anzeigt, wie weitgereist er ist. Sigmundr selbst ist ebenso wenig an einen Ort gebunden wie ein Händler oder dessen namensgebender Rabe, und auch seine Wege werden fast die gesamte wikingische Welt umfassen.29 Eine ähnliche Funktion wie Hrafn kommt auch dem Geächteten Haraldr járnhauss zu, auf dessen Kopf Jarl Hákon Sigmundr ansetzt, ehe dieser schließlich aus seinem Exil auf die Färöer zurückkehrt.30 Er gewinnt eminente Bedeutung für die Fortentwicklung der Sagahandlung, indem es der Kampf mit ihm ist, der Sigmundrs langwierige Etablierung als Figur abschließt und seine Wandlung zum eigentlichen Handlungssubjekt einleitet. Zugleich charakterisieren die Eigenschaften, die Haraldr auszeichnen, direkt und indirekt Sigmundr selbst. Dass Haraldr nach Sigmundrs Ziehvater Úlfr-Þorkell der zweite Gesetzlose ist, der für dessen Leben in hohem Maße bedeutsam wird, weist einerseits auf Sigmundrs eigene, unpassende Existenz als Fremdkörper mit den marginalen Charakteristika eines ›Outlaw‹ auf
zu verstehen gibt: Við mun ek taka fenv ok flytia brottu sueinana ef þu vill. ok huarki senda þa aptr ne flytia sialfr. En ef ek sel þa e(ðr) með nỏckuru moti uerði mitt valld eigi yfir þeim. þa ma ek eigi ꜳbyrgiaz þo at þeir komi aptr (Fær, S. 20 [Text A; D weniger ausführlich, aber mit inhaltlich gleicher Erweiterung]; ›Ich werde das Geld annehmen und die Jungen fortbringen, wenn du willst, und sie weder zurücksenden noch sie selbst bringen. Wenn ich sie aber verkaufe oder es auf irgendeine Art und Weise so geschieht, dass sie sich nicht mehr in meiner Macht befinden, dann trage ich keine Verantwortung dafür, auch wenn sie zurückkommen‹). Von Beginn an macht Hrafn somit deutlich, dass er nicht eigentlich vorhat, die Jungen als Sklaven zu behalten und erweist sich als umso milderer Helfer der Jungen. Dadurch erscheint in dieser Textredaktion Þrándrs Vertrauen darauf, dass Sigmundr nicht zurückkehren wird, als politisch kurzsichtig, im Gegensatz zu seinem betont langfristigen Planungsgeschick in der Flateyjarbók, vgl. Kap. 3. Entsprechend bekennt Hrafn zusätzlich, als er die Jungen aus seiner Obhut entlässt: [T]ok ek ok mest fyrir þa skylld við ykkr at ek þottumz sea huersu efiðliga Þrandr mundi við ykkr bua. ef þit værit þar ꜳ hans ualldi (Fær, S. 21 [Text A; in D nicht enthalten]; ›Ich nahm euch auch hauptsächlich deswegen auf, weil ich glaubte, zu sehen, wie schlimm Þrándr mit euch verfahren würde, wenn ihr da in seiner Gewalt wärt‹). 28 Foote 1973, S. 98. 29 Zu Sigmundrs Darstellung als »wanderer« vgl. North 2005, S. 67; Kap. 4. 30 Siehe Fær c. 21, S. 45–47; zu Haraldrs Rolle in der Entwicklung Sigmundrs vgl. Kap. 4.2.4 u. Kap. 4.3.2.
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Þrándrs Färöern voraus. Weiterhin demonstriert die Auseinandersetzung mit ihm Sigmundrs unverbrüchliche Königstreue ebenso wie seine tiefe soziale Verpflichtung. Zutiefst ehrenvoll erweist Sigmundr sich, als er für seinen neuen Verbündeten selbst den Konflikt mit seinem Gefolgschaftsherrn riskiert. Die Verbrüderung mit Haraldr zeitigt allein aufgrund von Jarl Hákons moralischer Integrität keine negativen Folgen.31 Haraldr vollführt damit insgesamt einen Wechsel von der Gegner- zur bedeutenden Freundesfigur in Sigmundrs Leben. Im Kampf mit ihm wird so auch deutlich, dass selbst Sigmundr nicht unbesiegbar ist, denn Haraldr vermag es als einziger, ihm standzuhalten. Beide sind indes bereit, bis aufs Letzte zu kämpfen, denn Haraldrs Friedensangebot an Sigmundr stellt etwas dar, er ek hefir æigi fyrr mællt.32 Dies beweist Haraldr auch später, als er Sigmundr bei seiner Rückkehr auf die Färöer begleitet: Haralldr jarnnhaus uar hardr til logum ok latti allra setta.33 So spiegelt Haraldr einerseits Sigmundr selbst und andererseits zeigt das Aufeinandertreffen mit ihm alle Facetten von Sigmundrs Figurenkonstruktion erstmals in der Konsequenz, die später seinen Niedergang auf den Färöern besiegelt. Dabei spielt vielleicht auch eine Rolle, dass der einzige Mann, der sich mit ihm im Kampf messen konnte, ihn dort nicht länger unterstützt, sondern in Norwegen zurückbleibt, sobald Sigmundr seine Vaterrache durchgeführt hat.34 Einen ähnlichen, interessanten Wechsel in Funktion und Figurendarstellung macht Þrándrs Onkel mütterlicherseits durch, Svíneyjar-Bjarni. Eingeführt wird dieser bereits zu Beginn der Saga als gilldr bonde ok hafde mikít fe undir hyggju madr míkill.35 Doch im Gegensatz zu Eldjárn kambhǫttr verhält sich Bjarni nur für eine kurze Zeit entsprechend seiner Einführung. Zu Beginn wirkt er eng mit Þrándr verknüpft: Er ist sein Onkel und Reichtum und Arglist, die im Zusammenhang mit Bjarni betont werden, setzen beide Figuren sogar semantisch in Beziehung zueinander.36 Zudem verlangt Þrándr von Hafgrímr explizit, Bjarni in den Aktionsplan gegen Brestir und Beinir mit einzubeziehen. Dieser verhält sich im Angesicht von Hafgrímrs Bitte auf eine Art und Weise, wie man es von Þrándrs Verwandten erwarten könnte: Biarnne suar(ar) sua at hann mun ekki j þat ganga nema hann hafuí nokkur gæde j adra hỏnd. Hafgrimr bad hann segía ser sitt skaplynde. Biarní mællti þu skallt fa mer huert uor ííȷ ́ kugillde ok huert haust ííȷ ́ hundrat j slatrum.37 (Bjarni antwortet solchermaßen, dass er sich daran nicht beteiligen will, es sei denn, er bekomme davon einen Nutzen in die andere Hand. Hafgrímr bat ihn, ihm seine Meinung zu sagen.
31 32 33 34 35 36 37
Siehe auch Kap. 7.4.2. Fær, S. 45 (›was ich nie zuvor gesagt habe‹). Fær, S. 54 (Haraldr Eisenschädel war hart im Ratschlag und riet von allen Versöhnungen ab). Fær, S. 61: Haralldr jarnnhaus var þa eftir (Haraldr Eisenschädel blieb da zurück). Fær, S. 12 (bedeutender Bauer und besaß großen Reichtum; ein sehr arglistiger Mensch). Zu Bedeutung von Geld und Arglist in der Charakterisierung Þrándrs vgl. Kap. 3. Fær, S. 12.
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Bjarni sagte: ›Du sollst mir jedes Frühjahr den Gegenwert von drei Kühen verschaffen und jeden Herbst dreihundert in Schlachterzeugnissen.‹)
Wie Þrándr lässt Bjarni sich nur zum eigenen Vorteil auf die Untersstützung Hafgrímrs ein und verlangt dafür fürstliche Entlohnung. Damit dient seine Figurenzeichnung der indirekten Unterstreichung der Charaktereigenschaften seines Neffen. Anders als bei Þrándr zielt Bjarnis Handeln jedoch zwar durchaus auf den eigenen Vorteil ab, ist aber nicht völlig frei von Skrupeln und dient auch nicht der Etablierung eigener Herrschaftsambitionen. Seine moralische Überlegenheit Þrándr gegenüber zeigt er, als er den Plan seines Neffen, die Jungen Sigmundr und Þórir auch zu töten, vehement ablehnt: Biarni suar(ar) æigi skal þa drepa […] æigi skal þa helldr drepa en míg sagde hann.38 Es ist diese zweimalige Gegenrede, die Þrándr zum Einlenken und der Bemerkung bewegt, er habe nur seine Begleiter testen wollen. Bjarni wechselt hier freiwillig die Seiten und unterstützt die wehrlosen Kinder lieber als Þrándr. Sigmundr vergisst diese Entscheidung nicht und vergilt sie Bjarni, als er auf die Färöer zurückkehrt und diesen als ersten in seine Gewalt bekommt: [N]ærr skal mer þat ỏmbuna sagde Biarni. nu sagde S(igmundr). þu skallt hafua grid en ek vill æinn rada ỏdru. sua skal vist sagde Biarnne.39 Bjarni unterwirft sich ohne Gegenwehr Sigmundrs gerechtem Urteil und hilft ihm beim Angriff auf Ǫzurr mit Informationen über die Inseln sowie einer Mannschaftsstärke, die am Kampf teilnimmt. Nachdem Sigmundr sich auch mit Hilfe dieser Unterstützung seine Herrschaftsrechte zurückerobert hat, fungiert Bjarni als ausgleichendes Moment zwischen den Streitparteien: [Þ]eir Suineyiar Biarnne helldu uell sætt sína ok kom Biarne jafnnan sama a med þeim Þrandi ok S(igmundi). ella munde verr farít hafa.40 Danach erhält er keinen weiteren Auftritt mehr in der Erzählung. Bei Þrándrs Angriff auf Skúfey ist er in betonter Weise abwesend: Suíneyiar Biarnne sat hea þessum malum sidan þeir Sigmundr sættazst.41 Bjarni charakterisiert damit einerseits seinen Neffen Þrándr und andererseits dessen Gegner: Seine Einführung und sein Verhalten vor Hafgrímrs Angriff auf Brestir und Beinir unterstreichen die Eigenschaften, die Þrándr unter Beweis stellt, während das Unrecht des Angriffs auf Sigmundr und dessen moralische Integrität durch Bjarnis Skrupel und seine Unterwerfung ohne Gegenwehr hervorgehoben werden. Für den Hauptkonflikt erfüllt Bjarni somit eine Scharnierfunktion, denn durch seine Mithilfe kann Sigmundr sowohl exiliert werden als schließlich auch
38 Fær, S. 16 (Bjarni antwortet: ›Man soll sie nicht töten. […] Man soll sie nicht eher töten als mich‹, sagte er). 39 Fær, S. 53 (›Wann soll mir das vergolten werden?‹, sagte Bjarni. ›Jetzt‹, sagte Sigmundr. ›Du sollst Frieden haben, aber ich will allein das Übrige entscheiden.‹ – ›Gewiss soll es so sein‹, sagte Bjarni). 40 Fær, S. 65 (Er [Sigmundr] und Schweineinsel-Bjarni hielten ihren Vergleich gut und Bjarni stiftete immer Frieden zwischen Þrándr und Sigmundr, sonst wäre es schlimmer ausgegangen). 41 Fær, S. 84 (Schweineinsel-Bjarni hielt sich aus diesen Angelegenheiten heraus, seit er und Sigmundr sich verglichen hatten).
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zurückkehren. Zudem retardieren Bjarnis Bemühungen um Ausgleich zwischen Þrándr und Sigmundr deren Streit bis zum Ende der Regierungszeit Jarl Hákons. Damit illustriert er auch die Unsicherheit der Erzählinstanz der Færeyinga saga, denn Bjarni verhält sich keinesfalls so arglistig wie er eingeführt wird. Durch diese Einführung und die zunächst nahe Bindung an Þrándr werden die Rezipienten gegen Bjarni negativ voreingestellt,42 was einen Überraschungseffekt angesichts seines Sigmundr gegenüber gerechten Verhaltens erzielt. Bjarni selbst erscheint dadurch allerdings vor allem opportunistisch: Anfangs sichert er sich einen eigenen Vorteil auf Kosten von Sigmundrs Familie, sobald aber Sigmundr zurückkehrt, dient er sich diesem schmeichlerisch an, um sein Leben behalten zu können. Er verweist sogar recht deutlich darauf, dass noch andere Männer beim Totschlag an Sigmundrs Vater anwesend waren, die dieser doch sicherlich lieber als ihn überfallen wolle.43 Er versucht somit, Sigmundrs Wut von sich auf seinen Neffen Þrándr umzulenken. Dieses Verhalten ist zwar wenig integer, aber es schützt Bjarni vor negativen Folgen seiner Taten und sichert ihm persönlich nur Vorteile. Er ist damit in seinem Rahmen ebenso erfolgreich wie Þrándr – offenen Konflikt scheut er und bleibt deshalb am Leben, weil er sich veränderten Umständen schnell anpassen kann. Damit spiegelt sein Verhältnis zu seinem Neffen Þrándr auch dessen Verhältnis zu den seinen: Die ältere Generation lässt jeweils die jüngere ins offene Messer laufen, wenn dies dem eigenen Vorteil dient. Bjarni hält sich im Gegensatz zu Þrándr aus den Konflikten in der färöischen Führungsriege jedoch weitgehend heraus, obwohl er intrikat daran beteiligt ist, und verbringt ein offenbar weitgehend ruhiges und ungestörtes Leben, in dem er die kräftigen Finanzen aufbrauchen kann, die ihm die Verbündung mit Hafgrímr eingebracht hat. Im absoluten Sinne ist Bjarnis Moral folglich nur recht oberflächlich, was die Tatsache unterstreicht, dass der Færeyinga saga kaum eine moralische Botschaft zu unterstellen sein dürfte. Bjarni ist politisch in dem ihm zugedachten Rahmen erfolgreich, weil er sich als Opportunist geriert, ebenso wie Þrándr, wobei dieser sich in ungleich höheren Sphären bewegt. Bjanis Darstellung liefert damit, trotz seiner vergleichsweise kleinen Rolle in der Erzählung, Ansatzpunkte für eine tiefere Interpretation seiner Figur und er scheint so insgesamt charakterlich runder angelegt als die zuvor besprochenen nur handlungsfunktionalen
42 Zur Rolle von Figureneinführungen in der negativen Beeinflussung der Rezipienten vgl. Cochrane 2016. 43 Er erinnert Sigmundr daran, huat ek lagde til vm mal þítt þa er þat var mælt at þu mundir drepinn vera (Fær, S. 52; ›was ich damals für deine Sache eingelegt habe, als darüber gesprochen wurde, dass du getötet werden solltest‹). Deutlicher noch wird Bjarnis feig anmutende Ablenkungstaktik in den Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar abseits der Flateyjarbók, wenn er nicht nur passivisch davon spricht, »was beratschlagt wurde«, sondern konkreter auf die anwesenden Männer abzielt: En þo muntu þeim þa grimmr er þer syndu þa ecki nema ilt. ok lỏgðv þat til raðs at ykkr ‘Þori‘ skylldi drepa baða. er þu ferr sva harðliga at mer (Fær, S. 52 [Text A; D leicht abgewandelt in der Formulierung]; ›Und doch musst du denen grimm sein, die dir dort nichts als Böses zufügten, und die rieten, dass man dich und Þórir beide töten sollte, wenn du dich so hart gegen mich wendest‹).
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Nebenfiguren der Færeyinga saga oder bloße, den Hauptakteuren beigestellte Figuren. Er erfüllt beide Funktionen, lässt sich aber nicht allein auf sie reduzieren, sondern spielt im Machtkampf für eine Weile mit, um ihn letztlich unbeschadet zu überleben. Er befindet sich damit in einer Mittlerposition zwischen dieser ersten Kategorie von Nebenfiguren und jenen wenigen zusätzlichen Figuren, die eine tatsächlich eigene Handlungsagenda aufweisen.
7.2 Der ›gute Outlaw‹ im Rahmen der ›Folktale‹ – Þorkell ›Úlfr‹ Þurrafrost Eine der Nebenfiguren mit eigener Wertigkeit ist Sigmundrs Ziehvater Þorkell Þurrafrost, der sich selbst, als Gesetzloser, zunächst auch Úlfr nennt. Wie bereits unter 4.2.3 erörtert, spielt er eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Sigmundr-Figur: Er ist neben dem Vater dessen primäres Rollenmodell und maßgeblich für Sigmundrs Ausbildung zum Krieger verantwortlich. Sein Versteck in der Ödnis des Dovrefjell stattet den jungen Färinger außerdem raumsemantisch mit den im späteren Verlauf der Erzählung prekären, konzeptionellen Assoziationen aus. Damit trägt Þorkell eine eminente Bedeutung für den Handlungsfortgang und dient auch der indirekten Charakterisierung seines Ziehsohns, allerdings lässt sich seine Figur nicht auf diese bloße Funktion reduzieren. Þorkell hat eine eigene Geschichte, die prominent im Text platziert wird, indem er selbst sie in einem Umfang von zweieinhalb Kapiteln metadiegetisch und in Retrospektive als seine ęfuis[aga] erzählt.44 In auffälliger Weise widerspricht der so vollzogene Einbau dieser Lebensgeschichte der anderweitig linear fortschreitenden Zeitgestaltung der Saga, ebenso wie die spätere Achtlösung, die Þorkell durch Sigmundr zuteil wird und die ebenfalls retrospektiv erzählt wird.45 Entsprechend stark 44 Fær, S. 36 (Lebensgeschichte). Die Art und Weise, wie ›Úlfr‹ dies tut, präsentiert sich im typischen Sagastil, wenn er sie durchgängig extern fokalisiert in der dritten Person erzählt: Þoralfr het bonde […] sa bonde bio æigi langt þadan er Steingrimr het […] Þora het konu hans son attu þau er Þorkell het (Fær, S. 32; ›Ein Bauer hieß Þórálfr […]. Ein Bauer wohnte nicht weit davon entfernt, der Steingrímr hieß […]. Seine Frau hieß Þóra. Sie hatten einen Sohn, der Þorkell hieß‹). Ist die frühe Datierung der Færeyinga saga korrekt, so ließe sich überlegen, ob hiermit ein Modell des dem Verfasser geläufigen Saga-Erzählens vorliegen könnte, da zum ursprünglichen Entstehungszeitpunkt wohl noch wenige schriftliche Sagas vorgelegen haben dürften. Somit böte sich hier Einblick in die authentische Performanz-Situation mündlicher Sagatradition. Diese Perspektive ist aufgrund der Spekulativität der Sagadatierung mit schwerwiegenden Unwägbarkeiten versehen und wird daher nicht weiter verfolgt, zumal Metadiegesen dieser Art andererseits auch in der (schriftlichen) Sagaliteratur keine übermäßige Seltenheit darstellen. Sie kommen nicht zuletzt in dem Abschnitt verschwisterten VorzeitsagaTraditionen vor, etwa der Egils saga einhenda, siehe hierzu auch Kap. 2.3.2.2 (Fn. 204). 45 Siehe Fær c. 26, S. 62–63. Sigmundr ist zu diesem Zeitpunkt der Erzählung bereits zum (nominellen) Herrscher über die Färöer aufgestiegen, als er nach Norwegen zurückkehrt und Þorkells Tochter Þuríðr heiratet. Bevor das Hochzeitsfest geschildert wird, wird unvermittelt ein Einschub über seinen Ziehvater eingefügt, der dessen bereits vergangene Geschichte zu Ende erzählt: Þat
7.2 Der ›gute Outlaw‹ im Rahmen der ›Folktale‹ – Þorkell ›Úlfr‹ Þurrafrost
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narrativ markiert sind der entsprechende Erzählabschnitt und die Figur, die er einführt und behandelt. Þorkell ist mehr als nur ein handlungslogisch notwendiger Ziehvater für den jungen Sigmundr. Diese Feststellung und die folgenden Beobachtungen betreffen hauptsächlich die Færeyinga saga der Flateyjarbók alleine. Þorkells Figurengestaltung wird in den weiteren Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta anders gewichtet. Auch hier erzählt er seine Lebensgeschichte selbst als retrospektiven, metadiegetischen Einschub. Jedoch stellt er dabei von Anfang an klar, dass er von sich selbst spricht.46 Zugleich wird abseits der Flateyjarbók Þorkells baldige Achtlösung nach Sigmundrs Ankunft am Jarlshof linear in den Erzählgang eingebunden und nicht erneut als Rückschau erzählt.47 Der Outlaw und seine Geschichte werden dadurch weniger prominent, sondern konsekutiv-logischer in den Text eingebettet. Hier fungiert Þorkell hauptsächlich als Ausbilder Sigmundrs, seine eigene Gestaltung und damit Rolle für den Gesamttext ist weniger
sumar er S(igmundr) hafde georzst hird madr Hakonar j(arls) adr vm vetrinn at | jolum for hann med j(arli) ínn til Frosta þíngs ok þa flutti S(igmundr) mal Þorkels […] ok Hakon j(arl) jattade S(igmundi) þui skíott let j(arl) þa senda eftir Þorkeli ok lide hans ok var Þorkell þann vetr med Hakoni j(arli) […] vm uorit eftir fek Hakon j(arl) Þorkeli þurrafrost syslu vt j Orka dal ok setti Þorkell þar bu saman ok var þar alla stund þar til er nu er komít sỏgunne nu rídr Sigmundr vt j Orka dal ok fínnr Þorkel (In dem Sommer, in dem Sigmundr der Gefolgsmann Jarl Hákons geworden war, schon im Winter, zur Julzeit, fuhr er mit dem Jarl hinein zum Frostathing und da trug Sigmundr das Anliegen Þorkells vor […] und Jarl Hákon bewilligte Sigmundr das schnell. Der Jarl ließ da nach Þorkell schicken und seiner Gefolgschaft, und in diesem Winter war Þorkell bei Jarl Hákon […]. Im Frühling darauf verschaffte Jarl Hákon Þorkell Trockenfrost eine Vogtei draußen im Orkdalen, und Þorkell schlug dort seine Wohnstatt auf und hielt sich dort die ganze Zeit auf, bis zu der es nun in der Geschichte gekommen ist. Nun reitet Sigmundr hinaus ins Orkdalen und sucht Þorkell auf). 46 Siehe Fær, S. 32 (Text A; D nur in leichter verbaler Abwandlung): [N]v uilium vit fostri minn. s(egir) Sigmundr at þv segir ockr fra æfi þinni ok huat manna þu ert. Hann svar(ar). Þat er ecki mikillar frasagnar verðt. er þat fyrst þar af at segia at ek heiti rettu nafni Þorkell (›Nun wollen wir, mein Ziehvater‹, sagt Sigmundr, ›dass du uns von deinem Leben erzählst und was für ein Mann du bist.‹ Er antwortet: ›Das ist keine große Erzählung wert. Zuerst ist dazu zu sagen, dass ich mit richtigem Namen Þorkell heiße‹). Bereits am zweiten Tag nach der Ankunft Sigmundrs und seines Cousins auf Þorkells Hof fragt dieser hier zudem vandliga huerir þeir voro e(ðr) hvaþan þeir komo at e(ðr) huert þeir ætlaðu. Sigmundr s(agði) honum greiniliga slikt er hann sp(urði) (Fær, S. 25–26 [Text A; D fast verbatim]; sorgfältig, wer sie waren oder woher sie kamen oder wohin sie wollten. Sigmundr erzählte ihm genau, wonach er fragte), vgl. auch Kap. 2.3.2.2 (Fn. 209). 47 Siehe Fær, S. 39–43 (Text A; D noch knapper): [F]oro þeir Sigmundr i hernat vm sumarit. […] komz Sigmundr þa ihína mestu kærleika við j(arl) ok gerðiz hirð maðr hans. En eptir vm sumarit gerði j(arl) Þorkell þurrafrost synkan ꜳ allz heriar þingi at bæn Sigmundar. ok let flytia hann af fjallinu. Var þa Þorkell með j(arli) vm vetrin eptir. […] Siþan feck Hakon j(arl) Þorkeli þurra frost syslu iOrka d(al). for nu sva fram .íííȷ ́. vetr (Sigmundr und sein Vetter gingen im Sommer auf Heereszüge. […] Sigmundr kam da in ein überaus herzliches Verhältnis mit dem Jarl und wurde sein Gefolgsmann. Und im Sommer darauf sprach der Jarl Þorkell Trockenfrost auf der allgemeinen Volksversammlung auf Bitten Sigmundrs frei und ließ ihn vom Fjell bringen. Da war Þorkell den Winter danach über beim Jarl […]. Dann verschaffte Jarl Hákon Þorkell Trockenfrost einen Verwaltungsbezirk im Orkdalen. So ging es nun vier Jahre weiter).
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bedeutend.48 Die Flateyjarbók indes leistet sich die Merkwürdigkeit, Sigmundr und seinen Ziehvater sich einander erst nach Abschluss der Ausbildung vorstellen zu lassen. Offenbar nicht eher als in diesem Moment fragt Þorkell seine Ziehsöhne, woher diese kommen: [N]u foruitnar mik at víta hueria ek hefir fostrat edr huerrar ættar þít eru edr huar ykkart fostr land er.49 Sigmundr und sein Ziehbruder vergelten diese Frage in gleichem Maße und bitten ›Úlfr‹ nun um seine eigene Geschichte, die er in der dritten Person erzählt wie eine Saga von Þorkell Þurrafrost, um mit den Worten zu schließen: [N]u hefui ek sagt ykkr ęfuisỏgu mína.50 Almqvist konstatiert »that something has gone amiss here«:51 Schon angesichts des langen Aufenthalts von Sigmundr und Þórir bei ihrem Ziehvater ergebe dieser Austausch keinen Sinn und der eigentlich mit der unabsichtlichen Verwendung des Pronomens Ich verbundene Überraschungseffekt entfalle, weil von vorne herein Þorkells Lebensgeschichte erbeten wurde. Tatsächlich erscheint dieser Erzählverlauf weder logisch noch übermäßig glaubhaft, schließlich verbringen die Jungen ganze sechs Jahre in Þorkells Obhut. Die zunächst augenfällige Diskrepanz zwischen dieser langen Zeitspanne und der abschließenden Präsentation der Lebensgeschichte kann allerdings vielleicht durch den Rückgriff auf das Gesamtnarrativ des Abschnitts gelöst werden. Die Episode, in der Þorkell auftritt und die insgesamt die Kapitel 10 bis 16 sowie den kurzen Epilog in Kapitel 26 der Færeyinga saga umfasst, hat im altnordischen Korpus keine direkte, nähere Parallele. Die Tatsache, dass es sich bei Þorkell alias Úlfr um einen Gesetzlosen handelt, eröffnet die altisländische Outlaw-Tradition als Vergleichsmaterial, während die Gesamtszenerie in der bisherigen Forschung häufig mit jüngerem isländischem ›Folktale‹- und Vorzeitsaga-Material in Verbindung gebracht wurde, mit Emphase auf dem spezifisch isländischen Gepräge dieser SagaSektion.52 Ungewöhnlich im Kontext der Outlaw-Sagas erscheint am Þorkell-Abschnitt, dass der Geächtete, anders als etwa Grettir oder Gísli, nicht die Hauptfigur der Erzählung ist, gleichzeitig aber auch nicht, wie andere Gesetzlose der altnordischen Literatur oder der jüngeren Útilegumannasögur-Tradition, lediglich ein zu beseitigendes Übel darstellt, das der Saga-Held überwinden muss. Im Gegenteil stellt
48 Vgl. auch Kap. 4.2.3. 49 Fær, S. 32 (›Ich bin nun neugierig zu wissen, welche Leute ich hier erzogen habe, und aus welchem Geschlecht ihr stammt, und wo euer Geburtsland ist‹). 50 Fær, S. 36 (›Nun habe ich euch meine Lebensgeschichte erzählt‹). 51 Almqvist 1988, S. 76. Allerdings werden die explizit angeforderten Lebensgeschichten der (menschlichen) Protagonisten in der Egils saga einhenda c. 5–13, S. 22–64 ebenso erzählt. Sowohl Ásmundr als auch Egill erzählen nach Einladung zum Vortrag der Lebensgeschichte in der dritten Person, um damit zu schließen, die eigene Lebensgeschichte präsentiert zu haben. Zur vermeintlichen Blindheit dieser Motive vgl. bereits Kap. 2.3.2.2 (Fn. 204). 52 Siehe zu diesen Ansätzen und der einschlägigen Forschungliteratur bereits Kap. 2.3.2.2. Als Quellensammlung für Islands spätere Útilegumannasögur siehe Jón Árnason 1954–1961, s.v. útilegumenn (II, S. 158–293), als Auswahl auch Einar Ól. Sveinsson (Hrsg.) 1951, S. 337–395. Als Überblicksstudie vgl. Einar Ól. Sveinsson 1940. Zu Almqvist 1992a, der die Bärenepisode mit einem in seinen Augen ›volkstümlichen‹ Aberglauben in Bezug setzt, siehe auch Kap. 4.2.3 (Fn. 133).
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er sich als eine Hilfsfigur für Sigmundr und Þórir heraus, auf die die Erzählung an diesem Punkt fokussiert. Dennoch begegnet er ihnen zunächst misstrauisch und wirkt unheimlich. Sigmundr und Þórir treffen Þorkell in dessen Acht auf seinem Hof im Dovrefjell. Ausgezehrt erreichen die beiden im Winter eine Talsenke, wo sie ein Haus auffinden, in dem sie auf zwei Frauen treffen. Diese nehmen sich der Jungen an, warnen sie aber vor dem übellaunigen Hausherrn und weisen sie an, sich zu verstecken. Seinen ersten Auftritt im Text erhält Þorkell, der sich zu diesem Zeitpunkt Úlfr nennt, wie ein Troll, als er am Abend ins Haus kommt und Sigmundr dadurch geweckt wird: [M]adr kemr inn mikill uexsti ok j hreinbialba ok hafde hreindyre a baki hann hafde uppi nasarnar ok var yggldr ok spurde hua komi værí.53 Dieser bedrohlich und wild wirkende Erstauftritt des Outlaws, der die Neuankömmlinge buchstäblich zu wittern scheint, erinnert an vor allem in späterem ›Folktale‹-Material und den Vorzeitsagas gängige Auftritte von Trollen oder Riesen. Entsprechend hat die Forschung hier »augljósar leifar bergbúaminna« angesetzt.54 Diese sind indes in den Textversionen der Óláfs saga Tryggvasonar außerhalb der Flateyjarbók so nicht enthalten. Hier hält ›Úlfr‹ bei seiner Ankunft nicht die Nase nach oben, er kommt lediglich aus der winterlichem Umgebung im Rentierpelz nach Hause und trägt ein nicht näher bestimmtes Wildtier als Jagdbeute bei sich.55 Das in ›Folktales‹ und Märchen prominente Erzählmuster der hilfreichen Prinzessin, die wahlweise von einem Unwesen entführt oder von einem riesigen Beschützer bewacht wird, scheint jedoch in der Flateyjarbók auch aus diesem Vergleichsblickwinkel heraus sehr wohl aufgenommen, wenn ›Úlfr‹ wie der unheimliche Wächter von riesenhaftem Wuchs auftritt, der in Felle gekleidet seine Beute in seine Höhle schleppt, als Sigmundr dessen Tochter, seiner späteren Braut, begegnet. Die Märchenmotivik bleibt allerdings auch hier nur oberflächlich, denn ›Úlfr‹ ist weder Bergtroll noch böse. Pelzkleidung ist allgemein Zeichen gesellschaftlicher Nicht-Zugehörigkeit, wie sie Gesetzlose auszeichnet, und sein Auftritt passt in das Bild eines Jägers in der Wildnis des Gebirges.56 Die Motivanalogie zwischen dem Teil der Færeyinga saga, in dem Þorkell auftritt, und ›märchenhaften‹ Erzählschemata erschöpft sich indes nicht in der irreführenden Einführung
53 Fær, S. 24 (Ein Mann von großem Wuchs kommt herein, und er hatte einen Rentierpelz an und ein Rentier auf dem Rücken. Und er hält die Nase hoch und war barsch und fragte, was gekommen sei). 54 Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxiii (klare Reste eines Bergriesenmotivs). Reykers 1936, S. 26–27 erklärt den Outlaw zum »mythisch unholden Bewohner der Berge«, spricht von einem »Unholdmärchen« und legt Þorkell die Worte »Ich rieche Menschenfleisch« direkt in den Mund. Zum Motiv des Menschen riechenden Trolles vgl. auch Einar Ól. Sveinsson 1940, S. 249. Vgl. hierzu bereits Kap. 2.3.2.2. 55 Siehe Fær, S. 24 (Text A u. D). Die Szenerie wirkt damit insgesamt umso wunderbarer für die Jungen, die das hilfreiche Haus finden, ›Úlfr‹ aber weniger ›märchenhaft‹ bedrohlich, sondern eher grundsätzlich misstrauisch und wie ein einfacher Jägersmann. Zur Umgestaltung des Abschnitts in den Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta vgl. auch Kap. 4.2.3. 56 Vgl. Klettskarð 2000, S. 53.
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Þorkells als trollhafter ›Úlfr‹, sondern prägt die Erzählung auch, nachdem Þorkell sich als eigentlich hilfreicher und gütiger Mann herausgestellt hat.57 Schon die Tatsache, dass Þorkell ein wohlmeinender Helfer für die verirrten Kinder wird, kann als eine ›märchenhafte‹ Fügung verstanden werden.58 Die Gesamtkomposition des ›Abenteuers‹ der Jungen in der Wildnis erinnert an einen Untertypus der Útilegumannasögur.59 Mit seiner initialen Gestaltung nach dem Vorbild eines unholdhaften Outlaws der ›Folktales‹ ist Þorkell durchaus keine völlig einzigartige Figur. Im Kontext der Ächtererzählungen unter den Isländersagas lässt sich als Parallele am nächsten auf die Grettis saga verweisen: Auch Grettir wird des Öfteren für ein übermenschliches, trollisches Wesen, gehalten, einen óvættr,60 wegen seiner Größe und Stärke ebenso wie wegen seines Lebens in der Wildnis. Dabei entspricht diese Einschätzung angesichts von Grettirs Taten durchaus nicht den Tatsachen, und Grettir entpuppt sich zugleich als Gesetzloser und Kulturheros.61 Grettir hält sich zudem einen Winter über bei einem Riesen und dessen Töchtern in einem westisländischen Tal auf, das als paradiesischer Ort gestaltet ist, dem Þórisdalr.62 Diese Episode lässt sich dem Aufenthalt von Sigmundr und Þórir beim Outlaw in der Færeyinga saga entfernt parallelstellen,63 auch wenn Þorkells Versteck nicht mit ähnlich paradiesischen Zügen (grüne Wiesen inmitten von Gletschern, ein Übermaß an Nutztieren u. ä.) ausgestaltet ist. Im Gegenteil muss ›Úlfr‹ von Zeit zu Zeit offenbar stehlen, um das Überleben seiner Familie zu sichern. Dennoch bildet der Abschnitt strukturell einen ähnlichen Ruhepunkt der Erzählung und ist für die von ihrer winterlichen Wanderung erschöpften Sigmundr und Þórir ebenso ein ›paradiesischer‹, weil Zuflucht und Erholung versprechender, Fluchtpunkt.64 Auch Þorkells Auftritt als ›trollhafter‹
57 Vgl. zum Motivlichen Kap. 2.3.2.2; zu Tat, Vergleichsmaterial und Implikationen selbst Kap. 4.2.3. 58 Siehe Thompson 1955–1958 S 143 (Abandonment in Forest) R 131.8.5 (Forester rescues abandoned child), N 856.1 (Forester as foster father). 59 Vgl. Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 4–5. 60 Etwa in Grettis saga, S. 130. Zur Monstrosität der Outlaws im Kontext der Isländersagas siehe Merkelbach 2019, S. 51–99. 61 Als Überblick zur Komplexität der Grettir-Figur vgl. grundlegend Hastrup 1986, bes. S. 289–294. Rezenter siehe u. a. die Analyse im Kontext der Liminalität und Ambiguität der Outlaw-Figuren bei Merkelbach 2019, S. 51–99. 62 Grettis saga c. 61, S. 199–201. Vgl. hierzu Sandbach 1940. Zur Nähe dieser Episode mit den Útilegumannasögur späterer Zeiten vgl. Einar Ól. Sveinsson 1940, S. 203–205. Auch Reykers 1936, S. 24 stellt die Episode in eine Reihe mit anderen »übernatürlichen Zügen«, die Outlaw-Erzählungen generell ›angehängt‹ würden. 63 Die Muster der Ächtererzählung werden insofern verdoppelt, vgl. auch Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 4–5. Sigurlín stellt zwar keine direkte Verbindung zwischen Þórisdalr und Færeyinga saga her, verweist aber auf die Episode in der Grettis saga im Zuge der Besprechung allgemeiner Kennzeichen von Útilegumannasögur, s. S. 2–4. Zu Sigmundrs eigener Lesbarkeit als ›Outlaw‹ siehe Kap. 4.3.2. 64 Zum Paradiesgedanken in der Darstellung des Þórisdalr und seinem Rückbezug zu den Wunschvorstellungen »of those who suffer hardship« vgl. Sandbach 1940, S. 99–100. Interessanterweise verbindet Sandbach die Þórisdalr-Vorstellung und den sie bewohnenden Halbtroll mit dem Bergkönig Dofri im Dovrefjell (S. 99), vgl. hierzu Kap. 4.2.3.
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Bergbewohner lässt sich konzeptionell mit dem Riesen aus dem Bergtal auf Island vergleichen. Während insofern keine intertextuellen Verbindungen zwischen Grettir und Þorkell festgestellt werden können, begibt sich die Færeyinga saga im DovrefjellAbschnitt konzeptionell dennoch in die Nähe der Grettis saga. Durch die Gesetzlosigkeit in der Gesellschaft marginalisiert, kann sich Þorkell in Frieden nur in die Privatheit seiner Familie zurückziehen oder in die Wildnis,65 weil er von der Teilnahme an Prozessen der öffentlichen Sphäre, dem Betätigungsfeld ›männlicher‹ Aktivität in der altnordischen Gesellschaft, durch die Friedlosigkeit ausgeschlossen ist.66 Der Geächtete verliert seinen Anspruch auf Teilhabe an gesellschaftlicher Interaktion. Durch den Verlust von Recht und Gesetz ist er jenseits der normalerweise greifenden sozialen Zusammenhänge platziert, entsprechend kann er aus Sicht der Gemeinschaft als Monster erscheinen, wenn er dennoch in soziale Interaktion tritt.67 Da ihm sein Vater den Aufenthalt an seinem Hof mit seiner geraubten Braut Ragnhildr verboten hat, scheidet die erste Möglichkeit einer Unterstützung durch das private Umfeld aus, und Þorkell zieht ins Dovrefjell. Dieses zeichnet generell eine Affinität für extraordinäre Wesen aus, es ist bekannt als Heimat von Riesen oder Trollen und kann mit der Wirksamkeit von Magie verknüpft sein. Es ist ein Ort, der narrativ mit übermenschlichen und außerordentlichen Elementen gefüllt wird, wie bereits in Kapitel 2.3.2.2 aufgezeigt.68 Raumsemantisch wird das Dovrefjell damit als Ort des Abseitigen in der altnordischen Literatur greifbar, als Gegenraum, der in seinem Verhältnis zur gewöhnlichen Welt wild, womöglich gefährlich, grundsätzlich aber wenigstens externalisiert ist. Sucht man diesen Ort auf, befindet man sich in einer Welt des Fremden jenseits des Lebensraumes gewöhnlicher Menschen. In diese Wildnis der Monstren und des Paranormalen begibt sich Þorkell als Outlaw – an einen Ort, der in seinem Wesen ebenso marginal ist wie seine eigene Stellung als Gesetzloser am Rand der Gesellschaft. Die räumliche Semantik des Ortes, an dem Þorkell sich aufhält, deckt sich in ihrer Außerordentlichkeit so mit der gewissermaßen sozialen ›Semantik‹ (im Sinne des Verhältnisses zur Gesellschaft) seiner Existenz als Geächteter. Die gesellschaftliche Randstellung der Outlaws fungiert auf dieser Grundlage erzähltechnisch als Katalysator der Versammlung auch anderer ›randständiger‹ Phänomene in den entsprechenden Narrativen. So hat Ahola eine Verbindung zwischen Beschreibungen aktiver Gewaltanwendung weiblicher Figuren in den Sagas und Outlaw-Figuren herausgearbeitet, die er mit der Positio-
65 Vgl. Amory 1992, S. 192–194 u. S. 198–200. 66 Vgl. Ahola 2009, S. 22 u. S. 24. 67 Zum Gemeinschaftsausschluss des Geächteten siehe für die rechtlichen Bestimmungen Grágás, bes. § 110, vgl. hierzu Miller 1990, S. 234. Dass diese rechtlichen Bestimmungen jedoch kaum mit der Darstellung in den Sagas übereinstimmen, arbeitet Amory 1992 grundlegend heraus. Darauf aufbauend zur sozialen Perzeption des Outlaws als Monster siehe Merkelbach 2019, S. 51–99. Die entsprechende Perspektive der Gemeinschaft, die Þorkells offenbar wiederkehrende Diebstähle zu erleiden hat, wird in der Færeyinga saga indes nie wiedergegeben. 68 Vgl. auch Kap. 4.2.3 u. Kap. 4.3.2.
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nierung beider Figurengruppen »in the social margins« der Sagagesellschaft erklärt.69 Auch in der Færeyinga saga wird diese Verbindung deutlich, wenn es Þorkells Tochter und seine Enkelin sind, die den Konflikt auf den Färöern schließlich entscheiden, und wenn Þuríðr mit nacktem Schwert in der Hand den Hof ihres Ehemannes verteidigt.70 Doch findet in den Isländersagas die weibliche Gewaltanwendung regelmäßig im Zuge der familiären Rache- und Schutzverpflichtungen auch für Geächtete statt, während Outlaws vornehmlich weiblichen Figuren gegenüber als Beschützer auftreten.71 Die Verknüpfung zwischen weiblicher Gewalt und Gesetzlosen ergibt sich so insbesondere über das Element des privaten, nicht-öffentlichen sozialen Feldes, das weiblich oder wenigstens nicht ›männlich‹ konnotiert im Korpus in Erscheinung tritt.72 Dies reflektiert die Situation der Færeyinga saga allerdings gerade nicht. Ebenso wie in Grettirs Fall hingegen bedeutet die räumliche Entfernung Þorkells von menschlich bewohnten Gegenden, dass auch die Narration sich in andere Muster begibt, dass sie »literary creativity grounded in supernatural themes« zeigt.73 Im Falle der Grettis saga äußert sich dies durch die tatsächliche Einbeziehung von Trollen, Wiedergängen und anderen nicht-menschlichen Wesen, die sie ihre »marginal narrative spaces« bevölkern lässt: »The theme of outlawry appears as an explanation for the amount of supernatural motifs in a genre that is usually more concerned with public and historical biographies.«74 In der Færeyinga saga hingegen spiegelt die betont ›märchenhafte‹ Erzähloberflächen-Motivik in ihrem Unterschied zum Erzählduktus zuvor und danach die Wildnis von Þorkells Wohnort wider. Die physische Umgebung der Ödnis des extraordinären Dovrefjell zieht narrativ die in diesem Erzählabschnitt ausgebreitete Motivik der ›Folktales‹ und Märchen an. Greift man auf J. R. R. Tolkiens tentativen Ver-
69 Vgl. Ahola 2009. 70 Siehe hierzu Kap. 7.3.3. 71 Vgl. Ahola 2009, S. 24–27. 72 Vgl. Ahola 2009, S. 27. 73 Poilvez 2012, S. 130. Poilvez argumentiert, dass die Exklusion der Outlaws aus der öffentlichen Sphäre die Sagas, in denen sie als Protagonisten auftreten, dazu zwingt, sich ›anderen‹ Räumen auch narrativ zuzuwenden. Fehdeprozesse, die in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stattzufinden haben und als typisches Handlungsrückgrat der Isländersagas gelten, können diese Texte nicht mehr darstellen und entsprechend auch nicht die Räume, in denen sie sich zutragen. Im Falle der Grettis saga verlagert sich die Handlung daher in die Wildnis und bearbeitet narrativ deren übermenschliche Elemente und Bewohner. Im Falle Gíslis wendet sich die Gísla saga seiner inneren Psychologie zu, die durch die narrative Inszenierung seiner Träume realisiert wird. Raumsemantisch ist Gísli mit der weiblich konnotierten, privaten Sphäre verbunden, da er seine Zeit so häufig er kann bei seiner Frau Auðr verbringt. Auch jenseits der Tatsache, dass Auðr den Verfolgern ihres Mannes mit deren Geldbörse ins Gesicht schlägt (siehe c. 32, S. 100–101) und seine Schwester ihn zu rächen versucht (c. 37, S. 116), treten in seinen Träumen Frauenfiguren auf, von denen eine mit Blut und Gewalt assoziiert ist. Insofern ergibt sich aus den Ergebnissen von Poilvez und Ahola eine bemerkenswerte Deckungsgleichheit. 74 Poilvez 2012, S. 126; für ihre Studie der Narrationsorganisation in der Grettis saga vgl. S. 123– 126.
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such einer Märchen-Definition zurück,75 ist die Situierung des ›Reiches‹ von Faërie mit seiner distinkten (Erzähl-) Atmosphäre gegebenenfalls entscheidende Grundlage für seine narrative Ausgestaltung. Tolkien jedenfalls scheint Faërie als räumlich begrenzte Alternativwelt zu imaginieren, in die man eintreten kann, eine erzählerisch gestaltete Anderwelt. Und in der Færeyinga saga wird gerade in dieser Weise der für nicht-menschliche Elemente offene Raum des Dovrefjell auch zur narrativen ›Anderwelt‹, in die Sigmundr und Þórir eintreten, ein Reich fern der Menschenwelt und gekennzeichnet durch seine distinkte Erzählatmosphäre. Wenn der Aufenthalt von Sigmundr und seinem Ziehbruder dort als Gastspiel in einer ›Anderwelt‹ verstanden werden kann, markiert die genannte, vermeintlich sinnwidrige und verspätete wechselseitige Offenbarung der Figuren-Vorgeschichten in scharfer Stilisierung den Übergang von der ›Anderwelt‹ zurück in die Welt der Menschen. In der narrativ als ›anders‹ markierten Welt des Dovrefjell spielen die Vorgeschichten der Protagonisten keine Rolle, die ›märchenhafte‹ Anderwelt ist eigenzeitlos. Bedeutung gewinnen die tatsächlichen Identitäten der Figuren erst wieder in dem Moment, in dem sie in die Menschenwelt zurückkehren. Diese Besonderheit des Erzählraums scheint, ebenso wie bei Grettir, auf Þorkell abzufärben: Als er zum ersten Mal in Erscheinung tritt, ist er zu ›Úlfr‹ geworden, dem »einmanna úlfur«,76 und wirkt zunächst wie ein Troll aus einer Märchenerzählung. Der Outlaw muss für sein Schicksal jenseits menschlicher Behausungen physisch und psychisch geeignet sein,77 und es ist diese Anpassung, die ihn einerseits gefährlich und andererseits überragend im Vergleich zu gewöhnlichen Menschen macht.78 Þorkell aber passt seine Identität mehr als nur grundsätzlich seinem Lebensraum an. Da er nach dem Muster von unheimlichen und monströsen, aber hilfreichen Bergtrollen gestaltet ist, wird er in Analogie zu jenen Riesen lesbar, die in den altnordischen Quellen norwegische Herrscher erziehen, gerade in Hinblick auf die enge Verbindung zwischen dem Bergplateau und dem Königreich Norwegen und ihre Symbolik, die unter 4.3.2 erörtert wurde. Diese Parallele zwischen Þorkell und dem Bergriesen Dofri, der den norwegischen Reichseiniger Haraldr hárfagri erzieht,79 und seiner daraus ableitbaren, eminent bedeutsamen Rolle für die Entwick-
75 Vgl. Tolkien 1983b, siehe auch Kap. 2.3.2.2. 76 Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 5 (einsamen Wolf). 77 Vgl. Ahola 2009, S. 23 zur stereotypen, physischen Stärke und Größe der Outlaws sowie ihrer Klugheit. 78 Vgl. Amory 1992, S. 194. 79 Dofri figuriert neben der Kjalnesinga saga gerade im Hálfdanar þáttr svarta der Flateyjarbók und damit der Hauptquelle der hier untersuchten Færeyinga saga als Erzieher des quasi-mythischen Reichseinigers von Norwegen. Die Eindung beider Texte als konzeptionelles Kongruenzpaar in Jón Þórðarsons Codex zeigt damit einmal mehr dessen planvolle Textstruktur, vgl. auch Würth 1991; Ashman Rowe 2005. Gegebenenfalls sind sogar beide Erzählungen dazu eingefügt, sich gegenseitig zu erhellen. Durch die Parallele wird rückwirkend Sigmundrs Verbindung mit dem Dovrefjell und dem norwegischen Königtum in ein neues Licht gerückt: Der Þáttr ist nach dem Abschluss der Færeyinga saga und damit dem Tod sowohl Sigmundrs als auch König Óláfr Tryggvasons platziert, erzählt aber eine alle Texte von Jóns Kompilation durch ihre Vorläuferfunktion grundlegende Vorge-
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lung der Sigmundr-Figur, eröffnet den Blick auf die interne Komplexität der Figurenkonstruktion des Outlaws. Somit ist zwar ist der Þorkell-Abschnitt durchdrungen von einer Motivik, wie sie für die spätere, isländische Erzähltradition der Útilegumenn oder weiter verbreitete Märchenschemata kennzeichnend sind, doch wird bei näherem Blick ebenso deutlich, dass für die Darstellung der Þorkell-Figur nicht allein auf einheimische, ›originär-isländische‹ Outlaw-Traditionen zurückgegriffen wird.80 Von solchen Quellen ist die Darstellung nur text-oberflächlich angeregt, während Þorkells Figur mit ihrer schlussendlich geschilderten und so prominent platzierten Hintergrundgeschichte ganz anders ausgestaltet wird, als dies für eine Anregung durch Märchenmotive zunächst naheliegend erscheint. Er erhält unterhalb seiner bisher untersuchten Darstellungsschablonen aus ›Folktales‹ eine eigene Geschichte. In dieser æfisaga figuriert Þorkell als Protagonist, dessen Schicksal sich um eine Brautwerbungsepisode entspinnt. Der junge efnnilígr madr mikill ok sterkr,81 der die Winter auf der Jagd mit dem Bogen verbringt und sich daher den Beinamen Þurrafrost, »Trockenfrost«, einträgt, erbittet von seinem Vater Steingrímr die Werbung um Ragnhildr, die Tochter des benachbarten Königsvogts Þórálfr. Obwohl sein Vater nicht an den Erfolg der Werbung zu glauben scheint, bringen die beiden sie bei Þórálfr vor. Dieser lehnt ab: Þoralfr suar(ar) seínlíga ok kuetzst hafa hærra hugat henni en þar er Þorkell er ok kuetzst ollu uilldu uel suara firir vingan þeirra Stæingrims en kuat þo ekki mundu af þessu verda.82 Zwar heißt es von Steingrímr, er sei ein godr bonde ok uel fíar æígande,83 dennoch schlägt bei Þórálfrs Reaktion Standesdünkel durch. Der Königsvogt ordnet sich selbst und seine Tochter als Angehörige der Aristokratie sozial weit über
schichte norwegischer Herrschaft, vgl. Würth 1991, S. 109–110. Die Motivkorrespondenz klinkt rückwirkend auch die Færeyinga saga und ihren von Norwegen aus bestimmten Herrscher in diesen Geschichtsablauf ein. 80 Die Færeyinga saga müsste, wenn sie von Beginn des 13. Jahrhunderts datiert, als eine der frühesten schriftlichen Fixierungen einer Ächtererzählung auf Island gelten, von der aus sich dann Verbindungen bis in die Neuzeit der Aufzeichnung der ›Folktales‹ schlagen ließen. Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 6–7 bemerkt so, angesichts des Alters der Saga, das Motiv der Achtlösung nach 20 Jahren, wie sie Þorkell zuteilwird, welches auch in der (späteren) Grettis saga beschrieben wird, und sich vermeintlich von dort aus auf die Zeitstruktur späterer Útilegumannasögur ausdehnt. Sie fasst nicht zuletzt dewegen den Þorkell-Abschnitt der Færeyinga saga als Teil einer isländischen »söguhefð« auf, die »[l]iklegast […] ævagömul« sei (S. 8; Erzähltradition; höchstwahrscheinlich uralt). Mag diese Vorstellung auch verführerisch sein, so lässt sie sich doch am Überlieferungsmaterial empirisch kaum unzweifelhaft belegen bzw. die textlichen Verbindungslinien sich nicht nachzeichnen. 81 Fær, S. 32 (sehr vielversprechende und starke Mann). 82 Fær, S. 33 (Þórálfr antwortet zögerlich und sagt, er habe ihr etwas Höheres zugedacht als Þorkell, und sagt, er wolle aus ganzem Herzen gut reagieren wegen der Freundschaft zwischen ihm und Steingrímr, aber sagte doch, daraus könne nichts werden). 83 Fær, S. 32 (guter Bauer und wohl begütert).
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dem Sohn eines einfachen Großbauern ein.84 Mit dieser Ablehnung konfrontiert, zögert Þorkell nicht, sondern entführt die von ihm begehrte Frau, als ihr Vater sich nicht zu Hause aufhält. Er will sie in sein eigenes Heim bringen, wird von Steingrímr aber angehalten, die Entführte schnellstmöglich wieder zu ihrem Vater zu bringen oder zu verschwinden. Þorkell gerde þa sua. for j burt med Ragnhilldi ok lagdizst a skoga vt.85 Þórálfr lässt zunächst bei Steingrímr nach seiner Tochter und ihrem Entführer suchen und findet sie schließlich im Wald, wo es sofort zum Kampf kommt. Þórálfr wird schwer verletzt, Þorkell und der Rest der ihn begleitenden Männer können fliehen. Sie werden bei Steingrímr gesund gepflegt, während Ragnhildr auf den Hof ihres sterbenden Vaters zurückkehrt. Eftir þetta stefnna þíng Upplendingar ok er Þorkell þurra frost gerr utlagí a þíngínu.86 Steingrímr und sein Sohn erfahren davon und Þorkell verbirgt sich auf Anweisung seines Vaters in einer Höhle. Dort wird es ihm jedoch alsbald zu langweilig, sodass er Ragnhildr ein zweites Mal entführt und sie in die Ödnis des Dovrefjell bringt. Auch diese Lebensgeschichte wirkt in ihrem isländischen Überlieferungskontext und dem bisher herangezogenen Vergleichsmaterial vertraut genug: Auf eine abgelehnte Brautwerbung folgt ein Totschlag, der dem Gesetz entsprechend eine Ächtung auf dem Þing nach sich zieht. Entsprechend beurteilt etwa Jan de Vries den Abschnitt als »Ächtersage, wie man sie auf Island zu dichten liebte«.87 Die Grundannahme der Forschung, viele Motive der Færeyinga saga seien vergleichsstücklos und ihre schriftlichen Quellen nur von geringer Zahl,88 begünstigte bisher die Suche nach allein isländischem Vergleichsmaterial in den ›Folktales‹. Deren sehr weit zurückreichende mündliche Tradition müsse dieser Ansicht nach den Hintergrund der Zeichnung des Outlaws in der Færeyinga saga gebildet haben.89 Ólafur Halldórsson schlägt jedoch auch eine direkte nordische Parallele in Schriftform vor.90 Im sogenannten Rauðúlfs þáttr wird von einem Mann namens Rauðr berichtet, dessen Söhne aufgrund von Verleumdungen in Konflikt mit König Óláfr dem Heiligen geraten, woraufhin dieser sie und ihren Vater zu Hause aufsucht. Rauðr eröffnet dem König, at hann var maðr sœnskr, auðigr ok kynstórr – ›en ek hljópumk þaðan í brot,‹ segir hann, ›með konu þessa, er ek hefi átt síðan. Hon er systir
84 Eine der vielen Hürden, die ein Werber diesem Erzähltyp nach zu überwinden hat, ist oft die Abstammung aus einer niedrigeren sozialen Schicht als die erwählte Braut, vgl. Geißler 1978, S. 427; Kalinke 1990, S. 12. 85 Fær, S. 34 (Þorkell tat das daraufhin. Er ging mit Ragnhildr fort und lebte als Gesetzloser in den Wäldern). 86 Fær, S. 35 (Danach wird das Thing der Oberländer einberufen und Þorkell Trockenfrost wird auf dem Thing zum Gesetzlosen erklärt). 87 de Vries 1999, II, S. 267; vgl. auch Finnur Jónsson 1927, S. IX. 88 Vgl. Glauser 1994, S. 113. 89 Siehe als Beispiel dieser Annahme mit Bezug auf die Datierung etwa Mundal 2005. 90 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 245; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxiv.
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Hrings konungs Dagssonar.‹91 Der Name von Rauðrs Ehefrau ist Ragnhildr. Eine andere Variante des þáttr, in der allerdings ein Brautraub nicht erwähnt wird, spricht davon, dass Ravðr er maðr nefndr er oðro nafne het Vlfr.92 Ólafur Halldórsson postuliert keine direkte Verbindung zwischen den Texten – obschon die jedenfalls konjizierbare Namensgleichheit der jeweiligen Figuren (je Úlfr mit einem anderen eigentlichen Namen und Ragnhildr) durchaus für eine solche sprechen könnte – spricht aber vom gleichen Hintergrundmotiv, das er wiederum den Útilegumannasögur zuordnet.93 Auch Sigurlín Hermannsdóttir zieht enge Verbindungen zwischen der Erzählung Þorkells und den isländischen ›Folktales‹ jüngerer Zeit und nennt als jedenfalls im ersten Teil engeres Vergleichsstück das Sögubrot af Arna á Hlaðhamri.94 Es scheint jedoch, dass die Suche nach den Wurzeln späterer, isländischer Erzähltraditionen die Sicht solcher Einschätzungen auf das Vergleichsmaterial ungünstig vordiktiert. Zwar gibt es das Brautraubschema im ›Folktale‹-Material, allerdings handelt es sich dabei auch um ein recht universelles mittelalterliches Motiv, ebenso wie beim Motiv der verbotenen Liebe als solchem. Das Brautraubschema, das die Grundthematik von Þorkells Lebensgeschichte umreißt, ist insofern kaum eine ›orignär-isländische‹ Erzählform, sondern gängiger in der für den Kontinent im Mittelalter typischen Literatur vertreten.95 Nur auf isländisches Material dürfte also bei der Darstellung Þorkells in der Færeyinga saga kaum zurückgegriffen worden sein, zumal, wenn das isländische Vergleichsmaterial jedenfalls in Schriftform erst wesentlich später datiert. In beiden Texten, Þorkells æfisaga und dem Rauðúlfs þáttr, wird eher ein Motiv der kontinentalen Literatur aufgenommen und in ein nordisches Milieu versetzt, denn eine autochthone Erzähltradition begründet.96 Der Bauer, der seine Abstammung zwar nicht verstecken
91 ÓHHkr, S. 298–299 (dass er Schwede war, reich und von vornehmer Abstammung – ›doch ich lief von dort weg‹, sagt er, ›mit dieser Frau, die ich danach geheiratet habe. Sie ist die Schwester König Hringr Dagssons‹). 92 ÓH, S. 655 (ein Mann hieß Rauðr, der mit anderem Namen Úlfr genannt wurde). 93 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxiv: »Ekki verður séð að rittengsl séu milli sögunnar og þáttarins, og verður þá að gera ráð fyrir að í báðum ritunum sé stuðzt við minni úr útilegumannasögum« (Zwischen Saga und þáttr wird keine intertextuelle Verbindung ersichtlich und es ist daher anzunehmen, dass sich beide Texte auf ein Motiv aus den Útilegumannasögur stützen). 94 Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 5–7. Für das Sögubrot siehe Jón Árnason 1954–1961, II, S. 265– 267 (s. v. útilegumenn). 95 Zum Schema vgl. Geißler 1978, in erzähltheoretischer Perspektive auf den deutschen höfischen Roman Schulz 2015, S. 191–214; mit Konzentration auf die Vorzeit-, Ritter- und Märchensagas vgl. Kalinke 1990. 96 So zeichnet den Rauðúlfs þáttr und sein zentrales Thema, die Deutung eines Traums des Königs durch Rauðr, generell die Adaption ›fremder‹, etwa biblischer, Motive aus. In der oben zitierten, den Brautraub erwähnenden Adaption der Heimskringla wird dieses in der anderen Redaktion zentrale Moment allerdings ausgespart. Vgl. hierzu insgesamt Faulkes 1966. Wenn eine Verbindung zwischen þáttr und Saga besteht, so macht die explizite Verwendung kontinentalen Materials in ersterem Ólafur Halldórssons Hinweis einzig auf die einheimische Tradition der Útilegumannasögur umso weniger wahrscheinlich. Unzweifelhaft ist, dass beide Texte, der Abschnitt des Geächteten Þorkell in der Færeyinga saga und der des aus Schweden flüchtigen, weisen Rauðúlfr, in die beiden jeweiligen Óláfs
7.2 Der ›gute Outlaw‹ im Rahmen der ›Folktale‹ – Þorkell ›Úlfr‹ Þurrafrost
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muss, raubt eine dennoch sozial höhergestellte Frau und läuft im Anschluss davon, da sein Handeln im entsprechenden Gebiet Friedlosigkeit nach sich ziehen muss. Bei Þorkells Darstellung wird insofern noch eine weitere Tradition inkorporiert, wenn auch in Form einer ›Islandisierung‹ umgesetzt: Bezüge auf das englische Motiv des ›guten Outlaw‹ lassen sich im Text erkennen. Dieses Motiv ist vor allem aus der spätmittelalterlichen, englischen Balladentradition um Figuren wie den berühmten Robyn Hode bekannt,97 während ein recht einsamer Vertreter dieses Figuren-Typus in den Isländersagas lediglich in Jǫkull Ingimundarson aus den Anfangskapiteln der Vatnsdœla saga ausgemacht werden kann.98 Þorkells Figurenzeichnung aktualisiert damit ein im Kontext der skandinavischen Literatur ungewöhnliches Motiv. Auch vom insularen Material unterscheidet sich die Darstellung allerdings in signifikanter Weise. Die englischen Outlaws zeichnen sich durch eine ritterlich-höfische Abstammung aus und befehden in der Regel die englischen Könige oder Repräsentanten des Feudalsystems.99 Auf Þorkell treffen beide Komponenten nicht im eigentlichen Sinne zu. Er ist nur der Sohn eines Bauern, wenn auch eines wohlhabenden, und er wird zwar durch den im Standesdünkel, wie ihn das Erzählschema der Brautwerbung vorsieht, begründeten Totschlag an einem Königsvogt zur Gesetzlosigkeit verurteilt, jedoch bekämpft er nicht die Aristokratie. Dennoch scheint die Þorkell-Figur einen doppelten motivischen Ursprung zu besitzen, in dem sich auch andere Erzählformen niederschlagen als die bisher untersuchten aus ›Folktales‹ entlehnten, nämlich aus einem ursprünglich aristokratischen und außer-skandinavischen Milieu stammende. So kombiniert sie die einheimische und ›wilde‹ Motivik der Útilegumanna-Tradition mit dem ursprünglich wohl höfischen Kreisen entspringenden
sögur der Flateyjarbók interpoliert sind. Die Erzählungen satteln beide auf einer Brautraubepisode auf, auch wenn Rauðúlfrs Geschichte nur in einem Satz abgehandelt wird, sind aber in den beiden unterschiedlichen Sagas über Óláfr Tryggvason und Óláfr den Heiligen enthalten. Durch die Gleichheit des Grundmotivs bilden beide Texte so ein Kongruenzpaar im Aufbau des Gesamtcodex, vgl. zu diesem Würth 1991; Ashman Rowe 2005. Die Unterschiede und die viel größere Ausführlichkeit des Brautraubmotivs in der Zeit noch vor Óláfr Tryggvasons Regierung ließe sich dabei jedenfalls tentativ als Moment der typologisch gezeichneten Fortentwicklung begreifen. In der vorchristlichen Vergangenheit kann ein unlauterer Brautraub noch dargestellt werden, in der Zeit Óláfrs des Heiligen wird ein moralisch so zweifelhafter Anlass hingegen nur noch andeutungsweise eingeflochten. 97 Für eine Studie des englischen Materials vgl. Benecke 1973. Seit der Monographie Angevin Britain and Scandinavia von Henry Goddard Leach 1921 gibt es eine ausgreifende nordistisch-anglistische Forschungsdiskussion über die möglichen Verbindungen zwischen altnordischer und englischer Outlaw-Tradition. Während Leach die These vertrat, dass die englische Tradition skandinavische Abstammung beanspruchen könne (was in seiner Nachfolge ausgebaut wurde), lehnt die jüngere Forschung diese Ansicht zumeist ab, vgl. Benecke 1973, S. 6. 98 Vgl. zu dieser Figur und den hier entwickelten Gedanken insgesamt Hahn 2020, S. 196–208. 99 Benecke sieht in den Texten dennoch eine pro-feudale Botschaft ausgedrückt, da der Widerstand der Outlaws entweder die rechtmäßige feudale Ordnung wiederherstellt oder gegen aristokratischen Machtmissbrauch und nicht gegen die Institution des Königtums gerichtet sei, vgl. Benecke 1973, bes. S. 132 u. S. 147–148.
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7 Nebenfiguren
Figurentyp des ›guten Outlaw‹. Dieser gedoppelte Motivursprung drückt sich in ›Úlfrs‹ Verhaltensweise aus. Während dieses Alias in seinem Versteck im Dovrefjell eine ›märchenhafte‹ Oberflächenstruktur erhält, entspricht Þorkells ursprüngliche und darunterliegende, wahre Identität nur bedingt den zugehörigen Schemata. So ist er in seiner Jugend etwa kein kolbítr, wie er für die Vorzeitsagas typisch wäre, sondern betätigt sich als Jäger, typischerweise dem ›Sport‹ mittelalterlicher Adelskreise.100 Die iþróttir, die er beherrscht,101 vermittelt er weiter und betätigt sich als Ausbilder des jungen Sigmundr. Diese Darstellung lässt sich, wie unter 4.2.3 argumentiert, als Verweis auf eine höfische Erzähltradition kategorisieren. Unter der Schale seiner Erscheinung als ›wilder‹ Bergbewohner offenbart Þorkell so eine Charakteristik, deren Kern maßgeblich auf anderen Voraussetzungen beruht. Der oberflächlich Gesetzlose bringt seinem Zögling mit dem Umgang mit Pfeil und Bogen und der Schwimmkunst 102 Künste einer adligen Kriegerkaste bei, die dieser später überaus kunstfertig einzusetzen versteht. Auch in seiner Verhaltensweise zeigt sich Þorkell jenseits einer rein bäuerlichen Konzeption. Dass er ein guter Mensch und kein Unhold ist, stellt er schnell unter Beweis. So begründet er sein anfängliches Misstrauen gegenüber der Jungen im Gespräch mit seiner Frau mit der Furcht, dass ihr Versteck enttarnt wird: [S]ua mattu oss | skiotazst uppe hafa at þít takít mennína j uor hus.103 Damit zeigt er an, dass er den Jungen, die sein Haus betreten haben, nicht aus bösem Willen und gemäß dem Vorbild seiner Stilisierung in dieser Szene wie ein Bergtroll mit Misstrauen begegnet, sondern als Gesetzloser darauf zu achten hat, möglichen Verfolgern nicht in die Hände zu fallen.104 Ebenso beugt sich Þorkell offenkundig ohne Widerstand dem Willen von Ehefrau und Tochter, die Sigmundr und Þórir in ihrem Haus behalten möchten.105 Zweimal verweist er auf sie, als er
100 Vgl. zu diesem Konnex etwa den Sammelband von Rösener (Hrsg.) 1997. Vgl. auch Schröder 2004, die die Bedeutung von Forstwirtschaft, Wild und Jagd in der Herrschaftsrepräsentation Heinrichs II. von England aufarbeitet (S. 143–173) und schließt, dass es sich bei Jagd in diesem Fall um eine »originär königliche Tätigkeit« handle (S. 280). 101 Siehe Fær, S. 28: Þorkell wird als hinn mesti jþrotta madr (der beste Mann in allen Fertigkeiten) beschrieben. 102 Siehe Fær, S. 27: *Tíornn æín var þadan skamt fra bænum ok for bondi þangat til ok vandi þa vid sund þa foru þeir j skotbakka ok vaunduzst vit skot (Ein kleiner See war nur wenig weit von dort weg bei dem Hof und der Bauer ging dorthin und brachte ihnen das Schwimmen bei. Dann gingen sie zum Schießplatz und lernten das Schießen). 103 Fær, S. 24–25 (›So kannst du uns am schnellsten offenbaren, indem ihr Menschen in unser Haus lasst‹). 104 Redaktion D der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta löst diese Hintergrundsituation am deutlichsten auf, indem sie angibt, ›Úlfr‹ schelte seine Frau vor allem dafür, at þv takíz mennína a hendr. þa sem segía til var ef þeir komaz til bygda (Fær, S. 25 [Text D]; ›[dass] du dich Menschen annimmst, die von uns erzählen, wenn sie in bewohnte Gegenden kommen‹), vgl. auch Kap. 2.3.2.2 (Fn. 209). 105 Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 5 überlegt weitergehend, ob sich der in seiner Jugend ebenfalls ungestüme Outlaw in den Jungen in seinem Haus nicht auch selbst erkennen mag. Dies ist
7.2 Der ›gute Outlaw‹ im Rahmen der ›Folktale‹ – Þorkell ›Úlfr‹ Þurrafrost
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den Jungen den Verbleib auf seinen Hof anbietet: [Þ]at þiki mer sem þær vile konunnar at þit huliz her í dag ef ykkr *þikir sua henta,106 bzw. nu þiki mer þat rad at þit duelizst her j uetr ef ykkr þikir sua betr gegnna uirdizst þeim konum uel til ykkar.107 Beim dritten Mal ist dieser von den Frauen ausgehende Impetus bereits auf ihn selbst übergegangen: [Þ]it hafuít her verit j uetr med mer nu ef ykkr þíkir æigi annat synna firir liggía en vera her þa skal ykkr þat heímilit ok víta at þit þroskizst her.108 Þorkells Formulierungen zeugen von einer langsamen Progression. Zunächst bezeichnet er den Verbleib von Sigmundr und Þórir explizit als den Willen der Frauen, anschließend spricht er bereits von einem eigenen rad, verweist aber noch auf das Wohlgefallen von Frau und Tochter, während abschließend der ursprüngliche Wille der Frauen zu seinem eigenen geworden ist. ›Úlfr‹ verhält sich insofern wenig konsequent – wenn er eine Aufdeckung seines Verstecks befürchtet, verstößt eine Aufnahme fremder Kinder gegen jegliche Art von Selbstschutzinstinkt – und in erstaunlicher Vehemenz auf seine Frau fixiert. Die Liebe zu dieser verantwortet letztendlich seine marginale Existenz in der menschenleeren Ödnis. Seinen in Jugendjahren unbedingten Willen, der ihn sie nicht aufgeben lässt, scheint er allerdings im Angesicht ihrer Wünsche verloren zu haben. Er betätigt sich zudem notgedrungen in seiner Acht auch als Dieb, allerdings heißt es: [E]n þat hỏfdu þeir [Sigmundr ok Þórir] fundít at huert haust ok huert vor medan þeir voru þar at Vlfr var j brottu víȷ ́ nætr edr þui nærr ok hafde þa heim mart j bírgdum lereft ok klæde edr þa hluti adra er þau þurftu at hafa. nu lætr Ulfr gera þeim klæde.109 (Sie [Sigmundr und Þórir] hatten aber bemerkt, dass jeden Herbst und jeden Frühling, während sie dort waren, Úlfr sieben Nächte, oder nahezu sieben, fort war und dann brachte er viel unrechtmäßig erworbenes Leinen mit nach Hause und Kleidung oder andere Dinge, die sie brauchten. Nun lässt Úlfr ihnen Kleider machen.)
Þorkells Diebeszüge finden offenbar zu geregelten Zeiten in einem festen Rahmen statt, was für eine gewisse Regelhaftigkeit zu sprechen scheint. Betont werden unter durchaus möglich, wird vom Text aber nicht angegeben, der Þorkell stattdessen explizit auf den Willen der Frauen verweisen lässt. 106 Fær, S. 25 (›Mir scheint, die Frauen möchten, dass ihr heute hierbleibt, wenn euch das gelegen scheint‹). 107 Fær, S. 26 (›Nun scheint es mir ein guter Rat, dass ihr den Winter über hierbleibt, wenn es euch so besser gelegen scheint. Die Frauen scheinen euch gewogen zu sein‹). 108 Fær, S. 27 (›Ihr seid den Winter über hier bei mir gewesen. Nun, wenn euch nichts anderes, Besseres vor euch zu liegen scheint, als hier zu sein, soll euch das freistehen und darauf deuten, dass ihr hier erwachsen werdet‹). 109 Fær, S. 31. Bemerkenswert ist im oben besprochenen Zusammenhang der auffälligen narrativen Markierung des Outlaw-Abschnitts als narrative ›Anderwelt‹, dass von Þorkells Raubzügen erneut retrospektiv, im Präteritum, erzählt wird: [Þ]at hỏfdu þeir fundít […] medan þeir voru þar at Vlfr var j brottu. Ein entsprechender Einschub fehlt überdies in den kürzeren Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta außerhalb der Flateyjarbók. Auch daran wird deutlich, dass Þorkell hier weniger als Geächteter im eigenen Recht auftritt, sondern der Sinn seiner Figuren vor allem aus dem Schutz und der Hilfe sowie der Ausbildung Sigmundrs besteht.
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7 Nebenfiguren
dem Diebesgut Kleidung und entsprechendes Rohmaterial, womit er die Jungen vor ihrer Abreise ausstatten lässt. Insofern scheint die ökonmische Existenzgrundlage des Geächteten ob seines Aufenthalts in der Wildnis erstaunlich gesichert, wenn er insbesondere dazu genötigt ist, Kleidungsmaterial zu stehlen, während andere vielleicht lebensnotwendige Dinge nicht eigens spezifiziert werden. Diese Fixierung auf eher repräsentative Gegenstände statt etwa Nahrung oder anderen Gebrauchsutensilien, wirkt für einen nordischen Outlaw ungewöhnlich, der eigentlich mit schwierigeren Bedingungen zu kämpfen hätte. Sie zeigt, dass Þorkell einerseits, trotz seiner Ächtung ein wenig hartes Leben zu führen scheint, und andererseits, ebenso wie mit seiner bereitwilligen Unterordnung unter seine Ehefrau, gesteigerten Wert auf eine gewisse Ettikette zu legen scheint – jene, die typisch für die soziale Schicht ist, deren Kunstfertigkeiten er auch beherrscht und weitergibt. Für Sigmundr dient sein Ziehvater als Kristallisationspunkt der ›höfisierten‹ Erzählstrategien, die seinem Leben Struktur verleihen.110 Und auch dessen eigene Figurendarstellung nähert sich solchen ›höfisierten‹ Mustern an, von denen sie wenigstens zum Teil ursprünglich übernommen scheint. Zwar handelt es sich bei Þorkell nicht um einen adligen Ritter und ihn zeichnet auch kein im eigentlichen Sinne ›höfisches‹ Verhalten aus, doch wirkt seine Darstellung aus diesem Blickwinkel durchaus mit solchen Elementen durchwirkt. Sein gewissenhaftes Eingehen auf die Wünsche seiner Ehefrau und Tochter wäre etwa als Variation des höfischen ›Frauendienstes‹ lesbar,111 die Regelmäßigkeit seiner Raubzüge erinnert entfernt an jene standardisierten Handlungsrepertoires, die auch den ritualisierten Habitus eines Ritters auszeichnen würden,112 und die Betonung seiner Entwendung von Kleidungsmaterial könnte die Bedeutung nach außen hin repräsentativer Gegenstände im höfischen Kontext wiederspiegeln.113 Þorkells Verhaltensweisen lassen sich so als auf der Figurenebene entwickelte Effekte seines narrativen Ursprungs verstehen, als bedingt dadurch, dass seine Figurendarstellung sich dem Motiv des ›guten Outlaw‹ aus einer höfischen Erzähltradition annähert. Zwar wird diese Tradition in Þorkells Darstellung stark ›islandisiert‹, doch lässt sich seine Figurenkonzeption dezidiert nicht allein auf ›Folktale‹Motivik beschränken. Der motivliche Ursprung des ›guten Outlaw‹ in einer aristokratischen Erzähltradition hält der völligen Überformung durch die oberflächlich ›wilde‹ Motivik im Text der Færeyinga saga noch Stand. Unterhalb der Einrahmung durch eine ›märchenhafte‹ Rahmenerzählung, unterhalb der Stilisierung als ›Úlfr‹, bleibt Þorkell so erkennbar als eine Figur mit eigenem Recht, deren Darstellung sich
110 Vgl. Kap. 4. 111 Zum Prinzip höfischer Minne vgl. Schulz 2015, S. 53–55. 112 Zur Bedeutung von Ritualen in der höfischen Gesellschaft vgl. Schulz 2015, S. 66–67, mit Beispielanalyse S. 67–72. 113 Zum Thema der Repräsentation als Determinante in der Gesellschaft des höfischen Romans vgl. Schulz 2015, S. 41–43 u. S. 65–66.
7.3 Frauenfiguren
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aus anderen Quellen speist. Er ist das Ergebnis eigenwilliger Motivkombinationen, die eine eigene Wertigkeit als Nebenfigur unterstreichen und die anzeigen, wie kreativ die Færeyinga saga aus verschiedenen literarischen Quellen schöpft, um sie eigenständig umzusetzen. Während er zunächst wie ein an Märchenfiguren erinnernder Bergtroll in der Færeyinga saga erscheint, greift seine Darstellung gleichzeitig Muster auf, die an den höfischen Roman angelehnt zu sein scheinen. Dabei liegt keine dieser Narrationsformen in Reinform vor, sondern sie werden frei miteinander kombiniert, um eine eigene Erzählung in Gang zu setzen und für den Gesamtverlauf der Færeyinga saga bedeutsame Effekte zu erzielen. Bedeutung gewinnt Þorkell als Figur durch Sigmundr als seinen Ziehsohn, für den wiederum der ihn enthaltende Erzählabschnitt außerordentliche Bedeutung trägt. Ähnliches gilt für diejenigen Frauenfiguren, die der Abschnitt um den Outlaw in die Handlung einführt, wie unter 7.3.3 aufzuzeigen. Damit gewinnt Þorkell im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga eine unübersehbar große Bedeutung – und mit ihm jene nicht allein ›originär-isländischen‹ Erzählkonventionen, auf die sich seine Figurenzeichnung stützt. Gerade weil in Þorkells Darstellung ›einheimische‹ Erzählmuster mit ›höfisierten‹, aus der kontinentalen Literatur bekannten Konventionen gekreuzt werden, wird der Outlaw-Abschnitt zum Schlüsselelement der Handlungsentwicklung. Gleichzeitig aber lässt sich die narrative Vielschichtigkeit in der Figurendarstellung von Þorkell-Úlfr nicht auf die bloße Charakterisierungsfunktion für seinen Ziehsohn oder den Scharniermechanismus für die Narration reduzieren: Þorkell ist eine Figur mit eigenem Recht und eigener Geschichte, und so wird er von der Erzählung in einem Epilog-haften Abschluss seiner Geschichte durch die Fürsprache Sigmundrs bei Jarl Hákon in eine unabhängige Zukunft entlassen: [Þ]a flutti S(igmundr) mal Þorkels mags síns at Hakon j(arl) georde hann syknann ok gæfui honum landz vist sína ok frealsu ok Hakon j(arl) jattade S(igmundi) þui skíott […]. vm uorit eftir fek Hakon j(arl) Þorkeli þurrafrost syslu vt j Orka dal ok setti Þorkell þar bu saman.114 ([D]a trug Sigmundr das Anliegen Þorkells, seines Schwiegervaters, vor, dass Jarl Hákon ihn für achtfrei erkläre und ihm Landesaufenthaltserlaubnis in Freiheit gäbe, und Jarl Hákon bewilligte Sigmundr das schnell. […] Im Frühling darauf verschaffte Jarl Hákon Þorkell Trockenfrost eine Vogtei draußen im Orkdalen, und Þorkell schlug dort seine Wohnstatt auf.)
7.3 Frauenfiguren In dem Erzählabschnitt, der Þorkell zugeordnet ist, werden zwei der für den Handlungsverlauf bedeutendsten Nebenfiguren in die Erzählung eingeführt: Sigmundrs große Jugendliebe Þuríðr Þorkelsdóttir und beider noch im Dovrefjell geborene
114 Fær, S. 62–63. Später, auf der Hochzeit seiner Tochter, wird Þorkell zusätzlich noch eigens hirðmaðr Jarl Hákons.
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7 Nebenfiguren
Tochter Þóra. Beide Frauen nehmen eine recht ungewöhnliche Position in der Færeyinga saga ein: Sie greifen entscheidend in den den Plot der Saga bestimmenden Konflikt ein und sind gemäß den in der altnordischen Literatur verbreiteten Vorstellungen von Geschlechterrollen sehr auffällig gezeichnet. So spricht Else Mundal von »strong saga women – in fact the strongest there are«, und misst der Færeyinga saga nicht zu unterschätzenden Zeugniswert für Genderkonzeptionen in der altnordischen Gesellschaft bei.115
7.3.1 Realität und Literatur: Misogynie oder Bewunderung? – Old Norse Scholars’ Images of Women Das altnordische Frauenbild ist in der Forschung stark umkämpftes Terrain. Grundlegend lässt sich für die altnordische Genderkonzeption ein binäres Schema festhalten: Die Welt der Frauen befindet sich fyrir innan stokk, im Haushalt der bäuerlichen Hofhaltung, während die Welt der Männer das Außen, die Sphäre fyrir útan stokk, ist.116 Diese Weltauffassung schlägt sich nicht allein in Hinblick auf die Hofbewirtschaftung in den Quellen nieder, sondern die Innen/Außen-Dichotomie prägt die gesamte in den Isländersagas dargestellte Gesellschaftsstruktur. Der öffentliche Raum, die administrative Gesellschaftssphäre, wie etwa Þingversammlungen und dergleichen mehr, ist weitgehend männlich konnotiert, der Raum von Privatheit und Familie weiblich, wie auch in den vorigen Kapiteln erläutert. So ist es die Aufgabe der Männer, Rechtsangelegenheiten ihres Hofes nach außen hin zu vertreten, durch ökonomische Verbindungen mit anderen Höfen die Prosperität des eigenen zu garantieren, eigene und Familienehre vor Angriffen zu verteidigen und sich aktiv eine Ehrstellung in der Gesellschaft zu erwerben, die es nach ihrem Erreichen zu wahren gilt.117 Die Rolle der Frau sieht hingegen vor, verheiratet zu werden, anschließend den Hof ihres Ehemannes erfolgreich mit zu bewirtschaften und Nachkommen zu gebären.118 Vor diesem Hintergrund gewinnen die in den Isländersagas dargestellten Frauenfiguren besondere Bedeutung, denn, wie Meulengracht Sørensen formuliert, »[f]or den gifte sagakvinde er passivitet og tilbageholdenhed ikke en dyd.«119 Figuren wie etwa Guðrún aus der Laxdœla saga oder Hallgerðr und Hildigunnr aus der Njáls saga gelten im Forschungsdiskurs weitgehend als stark und selbstständig.
115 Mundal 2005, S. 48. 116 Vgl. Grágás § 152. Zur arbeitsteiligen Weltauffassung fyrir innan und fyrir útan stokk vgl. auch Jochens 1995, bes. S. 115–140. 117 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 187–226. Zur ›Männlichkeit‹ als Determinante der Sagagesellschaft siehe bereits oben. 118 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 226–236. 119 Meulengracht Sørensen 1993, S. 26 (für die verheiratete Sagafrau sind Passivität und Zurückhaltung keine Tugend).
7.3 Frauenfiguren
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Weibliche Stärke zeigt sich dieser Ansicht nach besonders im häufigen Eingreifen weiblicher Figuren in von den Männern ausgeführte Fehden: Die Frauen der Isländersagas betätigen sich häufig des Instruments der hvǫt, der Aufhetzung, und können dadurch aktiv am Fehdeprozess teilnehmen.120 Während die frühe Forschung die relative Unabhängigkeit und Aktivität dieser weiblichen Figuren im Vergleich zu anderen europäischen Gesellschaften des Mittelalters häufig für bare Münze nahm, argumentierte Heller für die weitgehende Literarizität dieser Frauendarstellungen.121 Jochens interpretiert daran anschließend die Stärke der literarischen Frauenfiguren als Produkt männlicher Phantasie oder christlich-mittelalterlicher Misogynie der Sagaschreiber. Insgesamt habe vor allem die Christianisierung die vormals zumindest in Ansätzen gleichberechtigtere Stellung der Frau nachhaltig zerstört.122 Gerade die literarische Rolle der Hetzerin, nach Heller der häufigsten Funktion weiblicher Figuren, sei ihr zufolge »a perfect alibi« für christliche Sagaschreiber gewesen, um Frauen die Schuld am gewaltsamen Zusammenbruch der freistaatlichen Gesellschaft zuzuschieben.123 Meulengracht Sørensen betont hingegen, dass die starke Frau der Isländersagas positiv sinnbesetzt sei: Sie habe eine Funktion als Wächterin der Familienehre (»Ærens vogtere«), und die beiden Geschlechter komplementierten einander in ihrem Verhältnis.124 Diese Komplementärvorstellung wird von Clover abgewiesen, die auf die Häufigkeit von ›außerordentlichen‹ Frauenfiguren in der altisländischen Literatur hinweist und auf deren – im Gegensatz zu Jochens’ Ansicht – meist überaus positive Darstellung. Sie leitet daraus ein »one-gender model« ab, demzufolge die altnordische Gendervorstellung weniger von der Dichotomie zwischen den Polen ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ beherrscht, sondern die zentrale Scheidewand vielmehr zwischen Macht und Machtlosigkeit zu suchen sei. Frauen könnten so in kritischen Momenten auch die meisten ›männlich‹ konnotierten Verhaltensmuster annehmen.125
120 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 238. Vgl. auch Beck/Böttcher 1978; Miller 1983; Miller 1990, bes. S. 207–208 u. S. 211–214; Clover 1993, S. 368–370. Als Forschungsüberblick siehe auch Hahn 2016, S. 144–146; Hahn 2020, S. 141–143. 121 Vgl. Heller 1958. Das Verhältnis von Historizität und Literarizität der Sagadarstellungen wird bis heute ohne zufriedenstellende Lösung diskutiert. In diesem Rahmen soll daher die Frage nach der Historizität von Frauenfiguren in der Sagaliteratur nicht weiter ausgebreitet werden, sondern der Blick dem Moment ihrer literarischen Darstellung gelten. Als Überblick über die Rolle der Frau im wikingerzeitlichen Skandinavien mit historischem Impetus vgl. Jesch 1991. 122 Vgl. Jochens 1995; Jochens 1996. Kress 2002, S. 91 spricht sogar von der gesamten altnordischen Literatur als einer »literature in which the power of the text punctures male power«, entsprechend seien »[w]omen’s possibilities in the society […] limited to subordination, exile and death«. 123 Vgl. Jochens 1996, S. 198–203, Zitat S. 201. 124 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 236–248, Zitat S. 238. 125 Vgl. Clover 1993. Sie bezieht sich dabei maßgeblich auf das »one-sex model«, das von Laqueur 1990 entworfen wurde (vgl. S. 377–380). Dessen System ist, ob seiner Vereinfachung nicht zu unrecht, stark kritisiert worden, vgl. Park/Nye 1991; Cadden 1993; als Überblick auch Tirosh 2016, S. 257 (Fn. 61). Auch aus der Sicht der Altnordistik und ihrer Quellen wird Clovers Modell kritisiert, siehe als Überblick Thoma 2021b, S. 61–62 (bes. Fn. 44) – als prominenteste Stimme dürfte hier
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7 Nebenfiguren
Jóhanna Katrín Friðriksdóttirs rezente Studie kritisiert die einseitige Konzentration vorhergehender Forschungen auf ein als klassisch angesehenes Korpus von Isländersagas sowie die literarische Rolle der weiblichen Hetzerin und setzt sich für ein diversifizierteres Bild literarischer Weiblichkeit ein.126 So sei in jedem Text neu zu bewerten, welchen literarischen Funktionen die Darstellung bestimmter Frauentypen diene. Das bloße Verständnis hetzender Frauen als Wächterinnen der Familienehre greife ebenso zu kurz wie eine Verdammung als reine Misogynie. So zeichne etwa auch die hetzenden Frauen der Njáls saga und Laxdœla saga eine weitgehend eigene Handlungsagenda aus.127 Insgesamt seien die Diskurse hinter Frauendarstellungen in der Sagaliteratur sehr differenziert und dürften daher nicht allein auf einen gemeinsamen Nenner reduziert werden. Angesichts dieser Parameter ihrer Arbeit und dem Umfang des von ihr untersuchten Korpus, das auch Königssagas, Vorzeitsagas und Märchensagas einschließt, verwundert es, dass Jóhanna Katrín gerade die prominenten Frauenfiguren der Færeyinga saga nicht berücksichtigt. Denn Else Mundal etwa vermutet aufgrund der gemeinhin frühen Datierung der Saga sogar, dass »[t]he author must have found the women in Færeyinga saga in a Faroese oral tradition«,128 da dieser keine Möglichkeit gehabt habe, auf ein literarisches Modell aus den Isländersagas zurückzugreifen. Entsprechend sei die Saga auch weitgehend frei von den sonst üblichen stereotypen Darstellungen. Mundal leitet aus diesen Beobachtungen vor allen Dingen historische Schlussfolgerungen ab, was im Folgenden nicht weiter nachverfolgt werden soll. Stattdessen soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die in der Færeyinga saga dargestellten Frauenfiguren im Rückgriff auf die Ergebnisse Jóhanna Katrín Friðriksdóttirs von vermeintlichen Stereotypen weiblicher Figuren in den Isländersagas unterscheiden.
7.3.2 Bloße Namen und eine untreue Ehefrau: Weibliche Figuren außerhalb des narrativen Fokus Im Kontrast zu den beiden auffällig starken Frauenfiguren muss zunächst festgehalten werden, dass Weiblichkeit quantitativ nur eine sehr untergeordnete Rolle im Bandlien 2005, S. 11 zu nennen sein; vgl. auch Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2017, S. 234. Nichtsdestoweniger ist Clovers Bemerkung, dass starke Frauenfiguren in der Sagaliteratur eher die Regel denn die Ausnahme darstellen, durchaus beizupflichten. Auch die daraus folgende Beobachtung, dass sowohl ›männliche‹ als auch ›weibliche‹ Handlungsweisen, Konzepte und Kategorien situativ hochflexibel erscheinen, und eine zentrale Scheidekomponente dabei stets das Kriterium persönlicher Macht ist, ist nachvollziehbar. Die Fluidität der Kategorie ›männlich‹ wird so etwa auch von Rau/Greulich 2014 unterstützend und im Anschluss an Clover aus dem Korpus herausgearbeitet. 126 Vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013. 127 Vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013, S. 21–24. Als nachdrücklichen Beweis dieser Aussage siehe die Studien von Hahn 2016; Hahn 2020, S. 114–120 u. S. 147–163; Thoma 2021a; Thoma 2021b, bes. S. 240–256, die ebenso verdeutlichen, als wie situativ fluide Genderkonzeptionen als solche in den Isländersagas gezeichnet werden. 128 Mundal 2005, S. 48.
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Erzählgang der Færeyinga saga spielt. Der weit überwiegende Großteil weiblicher Figuren in der Saga wird lediglich beim Namen genannt, als Ehefrauen oder Mütter, und erfüllt entweder eine sehr limitierte funktionale Rolle in der Erzählung oder überhaupt keine. So scheinen etwa Auðr djúpauðga oder die norwegische Königin Álfifa nur genannt,129 um eine entsprechende, übergeordnete Zeitleiste des Sagageschehens bieten zu können. Hafgrímrs Frau Guðríðr zu Beginn der Saga erfüllt jenseits der Herstellung von dessen verwandtschaftlicher Verbindung mit dem alten Wikinger Snæúlfr und der bloßen Hervorbringung seiner Nachkommen keine Funktion für die Saga.130 Mitunter erhalten solche weiblichen Figuren nicht einmal einen eigenen Namen, wie oben gezeigt insbesondere in Þrándrs Familie, etwa bei seinem Bruder Þorlákr. Ebenso wenig wird Þrándrs Geliebte, die ihm seine Tochter Guðrún geschenkt hat, namentlich erwähnt. Etwas anders ist die Nennung von Sigmundrs Mutter Cecília einzuordnen, deren Erwähnung und Beschreibung Bedeutung im Zuge der Charakteristik der Sigmundr-Figur zukommt.131 Letztlich kann jedoch nur eine der nicht zentral am Hauptkonflikt beteiligten Frauenfiguren ein gewisses eigenes Recht für ihre Rolle in Anspruch nehmen: Birna, die Frau, die Sigurðr Þorláksson am Ende der Saga verführt und nach dem Tod ihres alten Mannes heiratet.132 Birna lässt sich als eine starke Frauenfigur verstehen. Sie ist mit dem alten Þórhallr verheiratet und wird als kollut Straums eyiar Birnna. hon uar suarri mikill ok sealig kona […] hafde Birna verit gefin til fiar beschrieben.133 Allein des Geldes wegen verheiratete Frauen sind keine Seltenheit in der Sagaliteratur,134 und in der Regel verheißt diese Tatsache für die Ehe nichts Gutes. So auch in Birnas Fall, da sie ihrem Ehemann mit Sigurðr schnell Hörner aufsetzt: [O]ft berr saman tal þeirra S(igurdar) ok Birnnu ok er þat mal manna at þar mune vera fiflíngar med þeim eru þeir þar vm uetrínn at vóri segir S(igurdr) at hann uill leggia bufelag vid Þorhall. en hann uarr helldr fárr uít adr husfreyia atti hlut at þa gerde bonde at ok let husfreyíu rada taka þau nu frekt radinn verdr Þorhallr nu firir bord borinn ok rada þau S(igurdr) ollu þannueg sem þau villdu.135
129 Siehe jeweils Fær c. 1, S. 3–4, u. c. 50, S. 128. Dass Auðrs Nennung und ihr Beiname dennoch eine Rolle auf konzeptioneller Ebene spielen, wurde in Kap. 2.2 (Fn. 66) u. Kap. 3.2.1 untersucht. 130 Siehe Fær c. 4, S. 8, u. c. 6, S. 11–12. 131 Vgl. hierzu Kap. 4.2.1. Damit erfüllt ihre Nennung eine analoge konzeptionelle Funktion wie die der genannten Auðr. 132 Arge Simonsen 2004, S. 20–21 zählt zudem Þorbera, die von ihm zuerst verführte und ihm später vermählte Frau Gautr rauðis und Þorgerðr hǫrðabrúðr unter die Frauenfiguren, deren Funktion eine bloße Nennung übersteigt. Die Szene von Þorberas und Gautrs Verhältnis bildet allerdings lediglich ein abgeschwächtes Echo des Verhältnisses zwischen Sigurðr und Birna (vgl. Kap. 5), und wird hier daher nicht weiter besprochen. Zur Figur der Þorgerðr siehe näher Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3. 133 Fær, S. 128 (Strominsel-Birna genannt […], sie war ein sehr herrschsüchtiges Weib und eine hübsche Frau […]. Birna war ihm [Þórhallr] des Geldes wegen gegeben worden). 134 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxxv. 135 Fær, S. 128.
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(Oft kommen Sigurðr und Birna ins Gespräch, und die Leute sagen, dass es ein unerlaubtes Verhältnis zwischen beiden gäbe. Sie sind nun den Winter über da. Am Frühlingsanfang sagt Sigurðr, dass er einen gemeinsamen Wohnsitz mit Þórhallr gründen möchte. Er aber war ziemlich wortkarg diesbezüglich, ehe die Hausherrin ein Wort mitsprach. Da gab der Bauer nach und ließ die Hausherrin entscheiden. Sie übernehmen nun eifrig die Herrschaft, und Þórhallr wird nun ausgebootet und Sigurðr und sie entscheiden nun alles so, wie sie es wollten.)
Birna trägt die eigentliche Handlungsmacht in ihrem Haushalt, und ihr alter Ehemann steht vollkommen unter ihrer Kontrolle. Nicht nur, dass sie ihn offenkundig mit Sigurðr betrügt, sie versteht es auch, Þórhallr so zu manipulieren, dass Sigurðr und sie selbst seinen Hof führen können, als wäre es der ihre, schon bevor Þórhallr umkommt und Sigurðr die reiche Witwe heiratet. Þórhallr spricht sich mehrfach auch gegen die Beherbergung der norwegischen Schiffsleute aus þar til er husfreyia tok hann ordum.136 Birna ermöglicht Sigurðr so die Übernahme eines eigenen Hofs und einer eigener Machtbasis, übernimmt im Zuge seines Aufstiegs also eine entscheidende Rolle.137 Dabei illustriert die Beziehung zu ihr dessen nicht eben moralische Vorgehensweise. Während Birna so als Frau über eine gewisse Unabhängigkeit verfügt, ist sie als Figur auch in hohem Maße typisiert – gefin til fjár zu sein, ist ein bekanntes Motiv in der altnordischen Literatur, und die Art und Weise, wie Birna und Sigurðr dem alten Mann Hörner aufsetzen und ihn ausmanövrieren, zeigt ein schwankhaft überzeichnetes Motiv.138 Für den Plot der Færeyinga saga an sich kommt Birna damit wesentlich weniger Bedeutung zu als den im Folgenden zu untersuchenden beiden weiblichen Figuren. Vielleicht muss das Verhältnis zu ihr in den Katalog derjenigen Eigenschaften, die Sigurðr im Rahmen der Saga als Herrscherfigur ungeeignet machen, eingefügt werden. Ebenso wie sein Konkurrent Leifr kann er grundsätzlich zwar die Stärke seiner Frau im Zuge der eigenen Machtambitionen für sich fruchtbar machen,139 jedoch erstreckt sich diese Nutzbarmachung lediglich auf den eigenen Haushalt. Als Þuríðr auf Sigurðrs Werbefahrt in Stellvertretung für seinen Bruder diesem schmeichelt, überlegt er sogar ungeniert, ob er nicht bald wieder ein lauss madr sein könne.140 Sigurðr geht mit Birna so vor allem ein wechselseitig vorteilhaftes Zweckbündnis auf Zeit ein. Er will einen eigenen Machtbereich, sie ist ihres alten Ehemannes offenbar überdrüssig. Doch weder berichtet die Saga etwas von Liebe, noch versteht es Sigurðr, das Potenzial einzulösen, das sein Bündnis mit Birna grundsätzlich offenbart. Ebenso wie sein Onkel Þrándr zeigt er Geschick dabei, Heiratsallianzen zum eigenen Vorteil einzusetzen, jedoch verkalkuliert er sich in der Größe seiner Ambitionen, als er Þuríðr an seine Familie binden
136 Fær, S. 129 (bis die Hausherrin mit ihm sprach). 137 Vgl. zu Sigurðrs unethischer Emanzipation auf den Färöern Kap. 5.4.2. 138 Zum mittelalterlichen Erzähltyp des Schwanks vgl. Göller/Göller 1995. 139 Siehe zu Sigurðrs Defiziten und Leifrs Interaktion mit Frauen im Vergleich Kap. 5.4.3 u. Kap. 6.4.3. 140 Fær, S. 136 (lediger Mann), vgl. auch Kap. 5.4.3.
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möchte. Mit einer Frau wie Birna an seiner Seite hätte er womöglich dennoch einige machtpolitische Optionen für sich – sofern Birna auch außerhalb ihres Haushalts entsprechende Initiative und Stärke zeigen würde. Doch anders als der bedingungslos treue Leifr hört Sigurðr offenbar nicht auf seine Ehefrau und zeigt sich sogar bereit, sich dieser schnell wieder zu entledigen. Angesichts des Einflusses weiblicher Handlungsmacht auf die Geschehnisse der Færeyinga saga, wie er nachfolgend herauszuarbeiten sein wird, wird Birna für Sigurðr somit ebenso zum Symbol unterlassener Möglichkeiten wie sein weitsichtigerer Bruder Þórðr.
7.3.3 ›Wahre Weibsbilder‹: Die kampftaugliche Matrone und Þrándrs Albtraum Im Angesicht dieser weitgehenden Ausblendung weiblicher Figuren im Handlungsverlauf der Færeyinga saga als umso bedeutungstragender erscheinen in der Hauptsache lediglich die zwei »meginkvinnurnar«: Sigmundrs Frau Þuríðr meginekkja, »ið er eitt satt konubrot«, und seine Tochter Þóra, »sum í snildleika og viti ikki stendur aftan fyri sjálvan Gøtu-Trónd.«141 Diesen beiden Frauen kommt für den Konflikt der Saga entscheidende Bedeutung zu. Sie greifen aktiv in ihn ein und bringen ihn zu seinem Abschluss. Sigmundr trifft seine spätere Ehefrau zum ersten Mal, als er den Einödhof seines Ziehvaters Þorkell erreicht. Er und Þórir ganga jnn ok finna stofu þar satu konur íȷ́ ỏnnur uid alldr en vng stulka badar uoru þær fridar sionum.142 Es handelt sich um Þuríðr und ihre Mutter Ragnhildr. Unmittelbar versorgen beide Frauen die ausgezehrten Jungen, geben ihnen trockene Kleidung und Essen, begleiten sie ins Bett und setzen sich energisch für den Verbleib der Jungen auf dem Hof auch gegen Þorkells Willen ein. So hält Ragnhildr dem misstrauischen und trollhaften Bauern entgegen: [Æ]igi nenta ek […] at sua vænligir menn dęi her hia husum vorum,143 und Þorkell nimmt alsbald den Willen seiner Frauen an. Auch Þuríðrs für den Handlungsgang der Færeyinga saga nicht weiter bedeutsame Mutter Ragnhildr gibt damit vorausdeutend Einblick in die typischen Charakteristika auf der weiblichen Seite dieser Familie. Sie verhält sich ihrem Mann gegenüber aktiv und selbstbestimmt, vermag seinen Willen dem ihren zu unterwerfen, und dürfte auch in der von Þorkell erzählten Vorgeschichte ihrer zweimaligen Entführung nicht abgeneigt gewesen
141 Arge Simonsen 2004, S. 17 (Hauptfrauen; die ein wahrhaft tüchtiges Weibsbild ist; die in Schläue und Wissen selbst Þrándr í Gǫtu nicht nachsteht). 142 Fær, S. 23–24 (gehen hinein und finden eine Stube. Da saßen zwei Frauen, die eine älter, aber die andere ein junges Mädchen, beide waren sie von schönem Äußeren). 143 Fær, S. 25 (›Ich ertrug es nicht […], dass so vielversprechende Menschen hier vor unserem Haus sterben‹).
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sein.144 Diese charakterliche Disposition zeigt sich am Ende der Saga verstärkt in ihren weiblichen Nachkommen. Zunächst wird die junge Þuríðr Þorkelsdóttir allerdings beschrieben als hín fridazsta kona synum ok mikil udlig.145 Schnell wird die Zusammengehörigkeit von ihr und Sigmundr deutlich: [G]odr þokki var med þeim Sigmundi ok Þuride ok tỏludu oftlíga ok lagdi bondi ok husfreyia ekkí ord j þat.146 Entsprechend ist Þuríðr schwanger, als Sigmundr achtzehnjährig seinen Ziehvater schließlich verlässt. Zum Abschied bekennt der junge Färinger: [E]n nu vil ek segía þer at ek hefui æigi uel launat þer þínn velgeorning ok fostr. þuiat dottir þín sagde mer þa er vit skildum at hon værí med barnne ok er þar æinge madr j tíge til nema ek ok þui for ek mest j brott at ek hugde at okkr munde þat askilia.147 (›Doch nun will ich sagen, dass ich dir deine Wohltat und Erziehung nicht gut gelohnt habe. Denn deine Tochter erzählte mir, als wir uns trennten, dass sie schwanger sei, und daran ist kein anderer Mann beteiligt als ich, und ich bin vor allem deswegen fortgegangen, weil ich glaubte, dass uns das trennen würde.‹)
Þorkell hingegen antwortet lediglich, ihm sei das Verhältnis bewusst gewesen, er habe aber nichts dagegen tun wollen: [L]ỏngu vissa ek þat at med ykkr var astar þokki ok uillda ek þat ekkí meína ykkr.148 Vor dem Abschied sprechen Sigmundr und Þorkell die Verlobung ab. Sigmundr verspricht: [H]ana skal ek æíga edr ỏngua konu ella Þorkell suar(ar) æigi mun dottir mín betra manni gíptaz.149 Sigmundrs und Þuríðrs Tochter wird noch im selben Jahr geboren, wie das nachgeschobene Ende der Þorkell-Erzählung angibt: [Þuridr] hafe fętt mey barnn þat sama sumar er þeir S(igmundr) hỏfdu j brott farit ok het su mær Þora.150 Nachdem Sigmundr seine Herrschaft auf den Färöern zurückerobert hat, löst er sein Verlobungsversprechen ein und heiratet Þuríðr: Þorkell tekr þessu vel ok þikir ser ok dottur sínne ok ollum þeim læitat j þessu sæmdar ok virdíngar drekkr S(igmundr) nu brudhlaup sitt a Hlỏdum med Hakoni j(arli) ok lætr j(arl) þa væízslu standa víȷ ́ nætr.151 Anschließend nimmt 144 Siehe Fær c. 14–16, S. 32–36; Kap. 7.2. Vgl. auch Mundal 2005, S. 46–47; Arge Simonsen 2004, S. 20. Der Brautraub wird indessen allein aus der Sicht des männlichen Þorkell erzählt und schweigt sich über die Meinung der entführten Ragnhildr vollkommen aus. 145 Fær, S. 26 (die schönste Frau und von imponierendem Aussehen). 146 Fær, S. 26 (Große Zuneigung gab es zwischen Sigmundr und Þuríðr und sie unterhielten sich oft, und der Bauer und seine Frau sagten kein Wort dagegen). 147 Fær, S. 36. 148 Fær, S. 36 (›Ich wusste schon lange Zeit, dass zwischen euch eine Liebesverbindung bestand, und ich wollte euch nicht im Wege stehen‹). 149 Fær, S. 36–37 (›Ich will sie haben oder keine Frau.‹ Þorkell antwortet: ›Meine Tochter wird mit keinem besseren Mann verheiratet werden‹). 150 Fær, S. 63 ([Þuríðr] hatte im gleichen Sommer ein Mädchen geboren, als Sigmundr und sein Vetter fortgegangen waren, und dieses Mädchen hieß Þóra). 151 Fær, S. 63 (Þorkell nimmt das gut auf und denkt, darin sei für ihn und seine Tochter und sie alle Ehre und Würde enthalten. Sigmundr trinkt nun seinen Brauttrunk in Lade mit Jarl Hákon, und der Jarl lässt das Fest da sieben Nächte andauern).
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er Frau und Tochter mit auf die Färöer. Marjun Arge Simonsen bemerkt, dass die Frauendarstellung in diesem Teil der Saga insgesamt recht wenig mit dem oben beschriebenen unabhängigen Frauenideal, das für die Isländersagas angesetzt wurde, gemein hat. Erst im Schlussteil sei »kvinnan rættiliga virkin i hendingagongdini«;152 der erste Teil der Erzählung hingegen sei geprägt von Märchenmotiven, was sich auch auf das Frauenbild auswirke. Auch wenn ihre Aussage, schon die Erwähnung von Gefühlen zwischen Þuríðr und Sigmundr (astar þokki) in diesem Abschnitt sei Anzeichen dafür, dass hier ein Märchenmotiv Verwendung finde,153 zu weit gegriffen ist, verhält sich Þuríðr sich hier doch insgesamt nicht sehr unabhängig – durchaus im Gegensatz zu ihrer Mutter. Abgesehen von dem offenkundig nicht offiziell vor den Eltern bekannt gegebenen (aber doch offensichtlichen) Verhältnis zwischen ihr und dem Ziehsohn ihres Vaters, bleibt sie im klassischen Rollenmodell einer unverheirateten Frau.154 So wird auch ihre Verlobung durch den Vater geschlossen. Insgesamt wirkt Þuríðrs Rolle in der Saga bis zu diesem Punkt durchaus ebenso von Motiven der ›Folktales‹ inspiriert wie Þorkells erster Auftritt als ›Úlfr‹ oder Sigmundrs Jugendexil im Dovrefjell an sich. Ihre Rolle ist die der »ævintýraprinsess[a]«,155 die der Held des Abschnitts, Sigmundr, durch seine Taten in der Anderwelt für sich gewinnt. Eine eigenständige Handlungsagenda zeichnet ihre Figur nicht aus, im Gegenteil verbleibt Þuríðr Objekt der rein aus männlicher Perspektive präsentierten Erzählung, statt den Status eines Subjekts zu erhalten. Dies ändert sich allerdings radikal mit Þuríðrs Übersiedlung auf die Färöer. Obgleich sie zunächst völlig aus der Erzählung verschwindet, ist ihr nächster Auftritt umso auffälliger im Vergleich des altnordischen Materials. Als Þrándrs Männer Sigmundrs Hof erfolgreich überfallen, beteiligt sie sich an vorderster Front an den bewaffneten Auseinandersetzungen: [Þ]eir S(igmundr) hlaupa til uopnna skiott ok aller þeir er fyrir voro. Þuridr husfreyia tekr ok uopnn ok dugir æigi uerr til en æínn huerr kallmadr.156 Dieser im Kontext der Isländersagas einzigartigen Grenzüberschreitungnicht genug, übernimmt Þuríðr sogar die Führung der kämpfenden Hausmannschaft, während ihr sonst ›heroisch‹ zuvorderst kämpfender Krieger-Ehemann Sigmundr zu fliehen versucht. Sie ist es, die Þrándr anspricht: [E]r þeir hafa at sott vm hrid þa geingr Þuridr husfreyia vt j dyrnar ok mælltí huersu læínge ætlar þu Þrandr segir hon at beriazst uid hofut lausa menn.157 Dieser Auftritt Þuríðrs trägt eine dop-
152 Arge Simonsen 2004, S. 20 (die Frau wahrhaftig in den Handlungsverlauf einbezogen). 153 Vgl. Arge Simonsen 2004, S. 22. 154 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 227–230. 155 Sigurlín Hermannsdóttir 1988, S. 3. 156 Fær, S. 84 (Sigmundr und seine Leute laufen sogleich zu den Waffen und alle Anwesenden. Auch die Hausherrin Þuríðr greift nach einer Waffe und taugt nicht schlechter dazu als ein jeder Mann). 157 Fær, S. 84 (Als sie eine Weile angegriffen haben, da geht die Hausherrin Þuríðr hinaus in die Türöffnung und sprach: ›Wie lange willst du, Þrándr‹, sagt sie, ›gegen führungslose Leute kämpfen?‹).
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pelte Bedeutung: Zum einen ist die Anklage an Þrándr, weiter gegen »führungslose Leute« zu kämpfen, aus dem Mund einer Frau, die eben diese Führung zu übernehmen scheint, umso stärker ehrverletztend. Zum anderen stellt die Tatsache, dass Þuríðr aktiv und nicht schlechter als ein Mann zur Waffe greift, das Geschlechterverhältnis auch und gerade innerhalb ihrer Ehe mit Sigmundr völlig auf den Kopf: Der sonst stets dem kriegerischen Männlichkeitsideal mustergültig Entsprechende flieht, seine Frau übernimmt seine Rolle als Krieger. Zusätzliches Gewicht erhält letztere Tatsache durch die ›märchenhafte‹ und hinsichtlich der Geschlechterrollen stereotype Stilisierung von beider Liebesgeschichte in Jugendjahren. Umso schärfer markiert wird so das Missverhältnis zwischen Þuríðr, dem schönen Mädchen aus dem norwegischen Hochland, und ihrer Rolle als plötzlich auftretende Schildmaid. Zu bemerken ist, dass auch bei Sigmundrs Abschied von seinem Ziehvater seine sehr defensive Haltung in Bezug auf sein Verhältnis zu Þuríðr ins Auge sticht. Wenn seine große Liebe betroffen ist, scheint Sigmundr auffällig wenig ›heroisch‹ in seiner Handlungsweise im Vergleich zu ihr. Aktiv kämpfende Frauen sind zwar innerhalb der Isländersagas eine Seltenheit,158 allerdings weist Jóhanna Katrín Friðriksdóttir in ihrer oben angeführten Monographie auf die vielen Schilderungen von Schildmaiden und meykóngar in den Vorzeit- und Rittersagas hin, die das Bild einer Frau in Waffen insgesamt wesentlich weniger selten erscheinen lassen.159 Þuríðr unterscheidet sich auch von diesen Frauenfiguren signifikant, indem sie durch ihren Waffengebrauch weder ein eigenes Reich beansprucht, noch, wie die meykóngar der Rittersagas, sich nach ihrer Bezwingung in eine konventionelle Frauenrolle fügen muss.160 Im Gegenteil entwickelt sich ihre Figur von der Einnahme einer solchen Rolle in ihrer Jugend hin zu diesem höchst ungewöhnlichen Auftritt als Kriegerin. Das Bild der letztendlichen männlichen Dominanz wird hierbei geradezu invertiert. Þuríðr übertritt, wie von Clover beobachtet die Frauen der Isländersagas, in dieser Extremsituation die Schwelle zu ›männlich‹ konnotierten Verhaltensmustern. Dies tut sie allerdings in einem so übersteigerten Maße, dass es an die an die Exorbitanz weiblicher Figuren der Heldensage erinnert, etwa Guðrún Gjúkadóttir in der Vǫlsunga
158 Als Forschungsaxiom kann betrachtet werden, dass Frauen in den Sagas generell keine eigenhändigen Totschläge ausführen können, da sie vom Waffengebrauch ausgeschlossen sind. Diese Annahme ist nicht gänzlich korrekt, da Þorbjörg katla in der Harðar saga c. 39, S. 94–95 dem Mann, der ihren Sohn zu töten versucht, die Kehle durchbeißt und ihn damit tötet, wobei sie sich später noch mit einer ebenfalls zauberkundigen, anderen Frau gegenseitig zerfetzt. Von diesen und einigen weiteren Magierinnen, die, wie in der Vatnsdœla saga durch Wetterzauber auch Verletzungen und Tode hervorrufen können, jedoch abgesehen, greifen Frauen fast nie in aktive Kampfhandlungen ein und benutzen nur sehr selten Waffen. Bemerkenswert erscheinen so bereits Szenen wie diejenige aus der Gísla saga c. 32, S. 100–101, in der Auðr dem Verfolger ihres Ehemannes mit einem Beutel Silberstücke die Nase blutig schlägt, oder seine Schwester Þórdís denselben Mann aus Rache mit Gíslis Schwert zu erstechen versucht, aber scheitert (c. 37, S. 116). 159 Vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013, S. 107–133. 160 Vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir, S. 115–126.
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saga.161 Þuríðr unterscheidet sich allerdings auch von solchen Figuren insofern, als dass sie nicht grundsätzlich den Regeln solcher Exorbitanz unterworfen ist, gerade nicht in ihrer Jugendzeit. Nicht nur ihr Gebrauch von Waffen zeichnet Þuríðr auf den Färöern als energische, aktive und selbstbestimmte Frau aus. Nach dem Tod ihres Ehemannes bewirtschaftet sie den gemeinsamen Hof selbstständig weiter, zudem erhält sie einen Beinamen: Þuridr husfreyia er sidan var kollut megin ekkia helt bui sinu j Skuf ey eftir S(igmund) bonda sinn.162 Mit diesem Verhalten und besonders dem Beinamen, der in der bisherigen Forschung zumeist als zusätzlicher Ausweis von Þuríðrs unabhängiger Rolle gewertet wurde,163 ist Þuríðr allerdings bereits wieder weit weniger exzeptionell gezeichnet als durch ihre Männern gleiche Kunst im Waffengebrauch. So ist die Stellung von Witwen in der altnordischen Sagagesellschaft im Vergleich zu unverheirateten Frauen wesentlich gestärkt.164 Die Weiterbewirtschaftung des gemeinsamen Hofes ist insofern weit weniger dramatisch auffällig, zumal Sigmundrs Söhne zu diesem Erzählzeitpunkt allesamt noch allzu jung zu sein scheinen.165 Ein Erbrecht auch für Frauen besteht grundsätzlich,166 und der Beispiele einflussreicher Witwen mit auffälligen Rollen gibt es in den Isländersagas nicht wenige.167 Þuríðrs Verhaltensweise bildet so eine Abfolge von Crescendo und Decrescendo im Erzählverlauf. Auf ein konventionelles Handlungsrepertoire, das wohl der oberflächlichmotivlichen Märchen-Stilisierung geschuldet sein dürfte, folgt ein im Kontext der Isländersagas unerhörter Konventionsbruch, gefolgt erneut von einer zwar nicht stereotypen, aber doch weniger pointiert auffälligen Rollenausfüllung. Nichtsdestoweniger ändert sich Þuríðrs Figurenkonzeption nach der Hochzeit mit Sigmundr und ihrer Übersiedlung auf die Färöer an der Textoberfläche markant, und aus dem
161 Für Guðrúns aktiven Waffengebrauch siehe Vǫlsunga saga c. 38, S. 97. Deren Vorgehen wird auch durch ihre Stieftochter Áslaug als Randalín in der Ragnars saga loðbrókar gespiegelt – von der jedoch keine Kampfhandlungen berichtet werden. Solche Schildmaiden der Heldensagen-Literatur zeichnen sich grundsätzlich durch dieselbe, für gewöhnliche Menschen allerdings unmögliche, Exorbitanz aus wie männliche ›Helden‹, zu diesem Konzept vgl. von See 1978, für eine Besprechung Kap. 4.2.2. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass weibliche Gewaltanwendung selbst im Erzählkomplex der Völsungen innerhalb der dargestellten Gesellschaft als prekär erscheint, vgl. Deichl 2019, S. 159–163. 162 Fær, S. 86 (Die Hausherrin Þuríðr, die seither Hauptwitwe genannt wurde, behielt ihre Wohnstatt auf der Buschinsel nach ihrem Hausherrn Sigmundr). 163 Vgl. etwa Arge Simonsen 2004, S. 18; Mundal 2005, S. 47. 164 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 234–235. 165 Wie es begründender Weise heißt, als sie sich nicht an den norwegischen König wenden, siehe Fær, S. 87: [U]ard ok ekki af þui. at synir S(igmundar) læitade traustz uid Noregs hỏfdingia er þeir voru ungir at alldri (Es wurde auch nichts daraus, dass die Söhne Sigmundrs Unterstützung bei den Herrschern von Norwegen suchten, denn sie waren von jungem Alter). 166 Siehe den Arfa þáttr der Grágás, bes. § 118. 167 So etwa die oben bereits genannte Þórdís Súrsdóttir, Geirríðr und Katla in der Eyrbyggja saga c. 11, S. 19, u. c. 15, S. 26–28, oder Þuríðr Óláfsdóttir sowie die mehrmals verwittwete Guðrún in der Laxdœla saga.
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›Märchenmädchen‹ wird jedenfalls zeitweilig eine Kriegerin und in Folge dessen eine Matrone. Ihre Tochter Þóra macht eine solche Rollenveränderung nicht durch. Sie wird vom Moment ihrer Einführung an als besonders markiert. Noch vor dem Bericht von Sigmundrs Hochzeit wird eigens erzählt, dass Þuríðr vor der Achtlösung ihres Vaters in den Bergen des Dovrefjell ein Mädchen geboren hat. Nach der Christianisierungsepisode und zeitgleich zur Einführung von Þrándrs Neffen und der Aufzählung von Sigmundrs Söhnen wird dieses Mädchen dann näher beschrieben: Þora var ellzst dotter þeirra er fædd uar afiallínu hon uar mikil kona ok skorulig ekki dauæn ok hafde snemmendis vitzsku bragd a ser.168 Damit erhält Þóra unter allen Kindern Sigmundrs als einziges eine formale Vorstellung durch den Erzähler. All seine Söhne werden nach ihr nur aufgezählt und mit dem Zusatz aller voru þeir efnnilíger menn versehen.169 Þóra wird durch diese Hervorhebung innerhalb von Sigmundrs Nachkommen bereits markiert. Ebenfalls stellt die Vorstellung sie Sigurðr und seinen Verwandten gegenüber, die hier ebenfalls neu eingeführt werden.170 Damit wird ein neuer Dualismus in Nachfolge des ersten von Sigmundr und Þrándr in der Færeyinga saga etabliert – mit Þóra an der Spitze von Sigmundrs Familie. Auch die über sie verteilten Informationen wirken ungewöhnlich im Kontext von Frauenbeschreibungen in den Isländersagas. Das Gewicht bei ihrer Einführung liegt deutlich auf ihrer Geburt in den Bergen (afiallínu) und ihrer defizitären Körperlichkeit (mikil und ekki dauæn); »hon hevur ongan vakurleika, ið kann vera henni til nýttu«.171 Damit fällt sie aus dem klassischen Schema, das für junge weibliche Protagonistinnen in den Isländersagas hauptsächlich Schönheit als Kriterium festlegt. Ihre Schilderung wirkt insgesamt ›anders‹: Den Bergen entstammt und körperlich aus dem Rahmen fallend ist sie »similar to a giantwomen«.172 Dieses Defizit allerdings gleicht Þóra dadurch aus, dass sie skorulig und mit einem vitzsku bragd ausgestattet ist, »hon er klók«.173 Die Ungewöhnlichkeit von Þóras Beschreibung resultiert in ihrem ebenso ungewöhnlichen Verhalten. Als Þrándr in Stellvertretung für Leifr die Werbung um sie vorträgt,
168 Fær, S. 81 (Þóra war ihre älteste Tochter, die in den Bergen geboren war. Sie war eine große Frau und eindrucksvoll, nicht sehr hübsch, und sie hatte früh einen äußerlichen Eindruck von Verstand um sich). 169 Fær, S. 81 (alle waren sie vielversprechende Männer). 170 Siehe Kap. 5.2.1. 171 Arge Simonsen 2004, S. 17 (sie besitzt keine Schönheit, die ihr von Nutzen sein kann). 172 Steinsland 2005, S. 82. Zwar ist Þóra bei weitem nicht als grotesker Körper dargestellt, wie dies für tatsächliche Riesinnen in den Vorzeitsagas typisch wäre (vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013, S. 62–65), jedoch ruft die ungewöhnliche Beschreibung eher die oben ausgeführte Assoziation auf als das Frauenbild der Isländersagas. Das Merkmalsbündel Wildnis/Berge, mangelnde Schönheit, körperliche Größe und Schläue ist insgesamt besonders typisch für Riesenfrauen, vgl. auch Motz 1988. 173 Arge Simonsen 2004, S. 17 (sie ist klug).
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[var] þessu […] sæínliga af ollum þeim en Þora sialf suar(ar) suo. mann giarnnliga mun ydr mer þikia fara ek vil a þessu gera kost firir mina hỏnd ef L(eifr) er æid færr at hann se æigi fỏdur bani min ok æigi menn til fengit at drepa f(ỏdur) min þa geri ek þann kost a at hann skal viss verda huat er f(ỏdur) mínum hefir at bana ordit edr huerr ualldr er dauda hans ok at ollum þessum hlutum fram komnum þa megum ver gera sætt med oss med brædra mínna rade ok modur ok annarra frænda uorra ok vína þetta þotti ollum vel mællt ok vitrliga til fundit.174 ([wurde] dies […] von ihnen allen widerstrebend aufgenommen, aber Þóra selbst antwortet folgendermaßen: ›Mannstoll werde ich euch scheinen: Ich will darauf eingehen, unter der Bedingung für meine Hand, dass Leifr zum Eid bereit ist, dass er nicht der Töter meines Vaters ist und niemand angestiftet hat, meinen Vater zu töten. Dann stelle ich die Bedingung, dass er herausfinden soll, was meinen Vater getötet hat, oder wer für seinen Tod verantwortlich ist. Und wenn all diese Dinge erfüllt sind, dann können wir einen Vergleich zwischen uns schaffen mit dem Einverständnis meiner Brüder und meiner Mutter, und unserer anderen Verwandten und Freunde.‹ Dies schien allen wohl gesprochen und weise ausgedacht.)
In dieser Szene bricht Þóra deutlich mit dem von ihr als unverheiratetes Mädchen erwartbaren Verhalten. Zwar entspricht es den Erzählmustern der Isländersagas, die Zustimmung der Umworbenen einzuholen,175 doch tritt Þóra in dieser Szene selbst als faktische Entscheiderin hervor. Sie ist diejenige, die die Bedingungen an ihren Werber stellt, die aktive Initiative geht von ihr aus.176 Während ihre Familienangehörigen, die das Entscheidungsrecht eigentlich besitzen, sæínliga reagieren, tritt Þóra ungefragt selbst hervor und antwortet den Werbern. Dabei markiert sie selbst die Ungewöhnlichkeit ihrer Antwort vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen beiden Parteien (mann giarnnliga mun ydr mer þikia fara) und verweist zum Abschluss ihrer Rede auf die Recht und Sitte nach eigentlichen Entscheidungsträger (med brædra mínna rade ok modur ok annarra frænda uorra ok vína). Sie versichert sich dadurch geschickt deren Einverständnis, indem sie den eigenen Plan im Nachgang zur scheinbaren Disposition stellt. Eigentlich als handelnd markiert sie sich in ihrer Rede allerdings selbst: Sie spricht primär von sich und ihren Ansprüchen, die die Werber zu erfüllen haben. Damit macht sie ihre Gegenüber zu passiven Werkzeugen ihres Willens und nimmt ihnen die Initiative. Þóra macht sich mit Hilfe ihrer Rhetorik selbst zum Subjekt in dieser Angelegenheit und heischt zugleich am Ende, vorgeblich demütig, um Zustimmung. Dass ihrem Plan die Zustimmung dank ihres rhetorischen Kniffs allerdings sicher ist, zeigt die Reaktion ihrer Umgebung. Þóra stellt hier eindrucksvoll die Charakteristika unter Beweis, mit der sie der Erzähler bei ihrer Einführung ausstattet, sie ist in der Tat skorulig und demonstriert ihren vitzsku bragd sogar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen macht sie durch die Heirat mit Leifr Þrándrs ursprünglichen Plan, mittels dieser Hochzeit die Kontrolle zu behalten, langfristig zunichte,177 zum anderen zeigt ihre Manipulation ihrer Ver174 Fær, S. 87. 175 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 228–230. 176 Vgl. auch Arge Simonsen 2004, S. 19; Mundal 2005, S. 47. 177 Vgl. Arge Simonsen 2004, S. 19; Mundal 2005, S. 47. Zur Verheiratung Leifrs als Þrándrs größter politischer Fehleinschätzung vgl. näher Kap. 3.4.5.
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wandten durch ihren rhetorischen Einsatz sie als Figur von Þrándr gleichwertiger Gerissenheit und Geschick.178 Bereits in diesem Moment stellt Þóra die Weichen in Richtung des letztendlichen Ausgangs des färöischen Konflikts. Ihr eigentliches Ziel scheint von Beginn an, Rache an Þrándrs Familie für den Tod ihres Vaters zu nehmen, dessen Aufklärung sie in ihrer Antwort auf die Werbung bereits als conditio sine qua non deklariert. Er scheint insofern ihr gesamtes Denken zu bestimmen. Sie versteht es dabei, in ihrer Ehe die Kontrolle über Leifr zu übernehmen, dessen Familienzugehörigkeit in Folge der Verbindung mit ihr wechselt, wie zuvor dargestellt. Diese Kontrolle übt sie bereits im Moment der Werbung aus, denn Leifr und Þrándr beugen sich den von ihr gestellten Bedingungen ohne Weiteres. Durch die von ihr solchermaßen arrangierte Hochzeit erreicht sie die Rache für den Tod ihres Vaters ebenso wie die Vermählung mit dem vielversprechendsten Mann der färöischen Gesellschaft.179 Sie beweist insofern schon an dieser Stelle, mit ihrem ersten Auftritt in der Erzählung, dass sie »tann einasti persónurin í Føroyingasøgu, ið kann sigra yvir Tróndi« ist, »– tí hon er eins klók og sterk sum Tróndur.«180 Dass sie nicht nur selbst gerissen ist, sondern diese Eigenschaft auch hochschätzt, stellt Þóra unter Beweis, als Þrándr Leifr die Ziehvaterschaft für ihren Sohn Sigmundr anbietet. Sie willigt ein: [M]a vera at mer lítizst þat enn annan veg en æigi mun ek kiosa undan Sigmunde s(yni) mínum þat fostr ef ek skal rada þuiat mart þiki mer Þrandr hafa firir flesta menn.181 Þóra ist sich der Problematik, den eigenen Sohn dem erbittertsten Gegner ihrer Familie zu überlassen, zwar durchaus bewusst, doch scheint sie Þrándrs Intelligenz und die möglichen Vorteile ihres Sohns höher zu bewerten. Tatsächlich zahlt sich diese Einschätzung aus: Als Þóra und Leifr ihren Sohn von Þrándrs Hof entführen, lässt Þóra sich von ihrem Sohn erlernte Inhalte aufsagen und hann kuezst numít hafa allar sak soknir at sækía ok rettar far sitt ok annarra la honum þat græitt firir.182 Und auch, wenn sein Credo nur Þrándrs kredda ist, kennt Sigmundr doch immerhin auch das Pater Noster. Þóra weiß insofern geschickt Nutzen aus Þrándrs Familie zu ziehen. Sie erhält aus ihr einen Ehemann und kann ihren Sohn vom klügsten, wenn auch gefährlichsten, Mann auf den Färöern erziehen lassen. Doch eine Versöhnung mit Þrándr und seiner Familie ist nicht Þóras Ziel. Im Gegenteil scheint ihr Durst nach Rache mit der Aufklärung der Umstände um Sig178 Auch Þrándr bezieht in seine Entscheidungen häufig die umgebende Öffentlichkeit ein, deren Zustimmung er sich dank seiner rhetorischen Fähigkeiten aber stets sicher sein kann. Vgl. hierzu Kap. 3. 179 Vgl. auch Arge Simonsen 2004, S. 19. 180 Arge Simonsen 2004, S. 17 (die einzige Figur der Færeyinga saga, die Þrándr besiegen kann, – denn sie ist ebenso klug und stark wie Þrándr). 181 Fær, S. 127 (›Es mag sein, dass mir das noch anders erscheinen wird, aber ich werde Sigmundr, meinem Sohn, diese Ziehvaterschaft nicht vorenthalten, wenn ich entscheiden soll, denn Þrándr scheint mir anderen Männern viel voraus zu haben‹). 182 Fær, S. 134 (er sagte, er habe alle Arten der Rechtsverfolgung gelernt, Anklage zu erheben, und seine Rechte und die anderer. Das war auch gut bei ihm vorhanden).
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mundrs Tod und der Bestrafung der Mörder noch lange nicht vollständig gestillt. Sie will die gegnerische Familie ausgeschaltet wissen. Der Konflikt besteht auch nach Sigmundrs Tod noch fort, und als er aufbricht, sind es Þuríðr und Þóra, die ihn entscheidend beeinflussen. Aktiv die Initiative ergreift auch hier Þóra, während ihre Mutter wie schon beim Kampf um Sigmundrs Hof Aktivität vor allem durch den Eingriff ins ›Kampfgeschehen‹ zeigt. Als Leifr Þórisson während seines Aufenthalts bei Sigurðr Þorláksson ums Leben kommt, kocht der alte Hass auf Þrándrs Familie in den beiden Frauen wieder hoch: Þuridr megín eckia ok Þora dottir hennar fryía miog L(eifi) Ozsorar syne at hann vile alldri hefia handa hueriar skammir sem þeim eru geruar leggia ahann fæd ok fiand skap en hann hafde vid gott þol ok mikit þær sogdu þol hans af bleyde ok fram kuæmdar leyse ærir þeim mædgum storilla lat Læifs Þoris sonar þikiaz vist vita at S(igurdr) mun hann drepit hafa.183 (Þuríðr Hauptwitwe und ihre Tochter Þóra machen Leifr Ǫzurarson große Vorwürfe, dass er nie etwas unternehmen wollte bei jedweder Schmach, die ihnen zugefügt wird, sie verhalten sich ihm gegenüber abweisend und feindlich, aber er ertrug das mit guter und großer Geduld. Sie sagten, seine Geduld entstamme Feigheit und Antriebslosigkeit. Der Tod Leifr Þórissons verwirrt den Frauen sehr schlimm den Geist, ihnen scheint gewiss, dass Sigurðr ihn getötet haben wird.)
Die Einschätzung der Frauen ist als faktisch falsch im Text ausgewiesen: Bjǫrn hat Leifr erschlagen, der sich vor den eigentlich gemeinten Sigurðr geworfen hat – selbst wenn Sigurðr Leifrs Tod billigend in Kauf nimmt und sich ihm eine dahingehende Absicht unterstellen lässt.184 In dieser Szene versuchen sich die beiden Frauen in der Rolle zu betätigen, die für die starken Frauen der Isländersagas gemeinhin als typisch und essenziell angesehen wird: Der der Hetzerin. Anders als in den Isländersagas aber ist die hvǫt der Frauen in der Færeyinga saga nicht zu einer vollen Szene ausgestaltet 185 – im Gegensatz auch zu den Hetzreden Þrándrs186 – und sie ist auch nicht erfolgreich. Im Gegenteil wird Leifrs für einen Mann der Sagagesellschaft untypischer Gleichmut sogar göttlich sanktioniert, indem Þuríðr eine Vision ihres verstorbenen Ehemannes Sigmundr aufsucht. Deren Bitte um ein besseres Verhalten Leifr gegenüber beugen sich die beiden Frauen anstandslos. Diese – im Kontext der Færeyinga
183 Fær, S. 131. 184 Vgl. auch Kap. 5.4.2. 185 Vgl. Mundal 2005, S. 48. 186 Vgl. Kap. 3.4.1. Þrándr benutzt für seine Aufhetzungen zwar keine Gegenstände, wie es einem vollen hvǫt-Ritual entsprechen würde (vgl. Heller 1958, S. 98; Miller 1983, S. 181; Meulengracht Sørensen 1993, S. 238–244), jedoch werden jedenfalls seine eindeutig als hvǫt ansprechbaren Worte an Hafgrímr und seine verdecktere Aufhetzung seiner Neffen zur Norwegenfahrt umfänglich wiedergegeben. Dies dürfte mit der Tatsache von Þrándrs allgemein ›unmännlicher‹, gesellschaftlich nonkonformer Verhaltensweise rückzukoppeln sein, vgl. Kap. 3.2.1. Diese Darstellung unterstreicht die Korrelation zwischen Þóra und Þuríðr und Þrándr als Kontrastpaar: Während die beiden untypischen Frauen in ihrer hvǫt erfolglos bleiben und die entsprechende Szene lediglich indirekt erzählt wird, zeigt sich der untypische Mann Þrándr überaus erfolgreich in einem solch ›weiblich‹ konnotierten Handlungsrepertoire.
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saga sehr untypische – göttliche Legitimation Leifrs verweist auf die Tatsache, dass er, und nur er, der letztendliche Herrscher der Färöer sein kann.187 Und doch braucht er die ihn hier noch schmähenden Frauen dazu essenziell. Nach Þuríðrs visionärem Traum lassen die beiden zwar von ihren aufhetzenden Reden ab, ihre Ziele aber ändern sich nicht: Sie verlangen persönliche Rache für die Vorfälle, die sie als ihnen zugefügte Schande auffassen.188 Damit entsprechen Þóra und Þuríðr dem Befund des diversifizierten Frauenbildes, das Jóhanna Katrín Friðriksdóttir für die hetzenden Frauen der Isländersagas ansetzt.189 Sie möchten zwar die Ehre der gesamten Familie verteidigt sehen, verfolgen dabei aber eigene Interessen. Dass sie mit ihrem hvǫtVersuch scheitern, unterstreicht zugleich die Andersartigkeit ihrer Darstellung von den Frauenfiguren der Isländersagas. Denn nicht eine typisierte Aufhetzung führt zu ihrem letztendlichen Erfolg, sondern das Entstehen einer Situation, in der beide Frauen ihre Charaktereigenschaften optimal zur Geltung bringen können. Es ist Sigurðr Þorláksson selbst, der sein eigenes Ende heraufbeschwört.190 Er übertritt die Grenze seiner Möglichkeiten, als er nach erfolgreicher Etablierung auf einem eigenem Hof versucht, seinem Onkel Þrándr gleich aufzutreten. Er schlägt Þuríðr meginekkja selbst als Braut seines noch ledigen Bruders vor, und obwohl Þórðr die Gefahr ahnt, erlaubt er seinem Bruder, die Werbung vorzutragen. S(igurdr) ferr nu annan dag til Skufeyíar ok berr þetta mal upp firir Þuride hon tekr þessu ecki flíott,191 bespricht sich aber doch mit ihrer Tochter und deren Mann. Es ist Þóra in ihrer Þrándr gleichwertigen Intelligenz, die erkennt, dass hiermit die perfekte Ausgangssituation für ihre Rache gegeben ist: [Æ]igi muntu fra visa ef ek ræd ef ydr er nockut þat j hug at roa þess ahefnni læít er oss hefir skamma geort verit ok æigi se ek annat þat teyge agnn er likara se til at þeir verde at dregnir en þetta. þarf ek ægi at leggia ord j munn modur mínne. þuiat marga uega ma hon þa a þat draga suo at þeir rade ecki j þat.192 (›Du sollst nicht ablehnen, wenn ich entscheiden soll, wenn euch noch etwas daran gelegen ist, Rache für die Schande, die uns zugefügt wurde, zu suchen. Und ich sehe keinen anderen Köder, der es wahrscheinlicher macht, dass sie angelockt werden, als dies. Ich muss meiner Mutter keine Worte in den Mund legen. Denn auf viele Arten kann sie sie dazu bringen, dass sie dabei keinen Verdacht schöpfen.‹)
Wie im Moment von Leifrs Werbung stellt Þóra ihre Gerissenheit hier auf mehrfache Art unter Beweis. Erneut zeigt sie rhetorisches Geschick und schmeichelt zum Abschluss ihres Vorschlags ihrer Mutter, sodass diese sich ihrem Plan anschließt.
187 Vgl. Kap. 6.5. 188 Vgl. Arge Simonsen 2004, S. 20. 189 Vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013, S. 15–25 190 Vgl. zum folgenden Verlauf auch Kap. 5.4 u. Kap. 6.4.3. 191 Fær, S. 133 (Sigurðr fährt nun am nächsten Tag zur Buschinsel und trägt Þuríðr diese Angelegenheit vor. Sie nimmt das nicht schnell auf). 192 Fær, S. 133.
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Gleichzeitig erinnert sie beide anderen Beteiligten an die noch offenen Rechnungen, und appelliert dadurch an deren Gemeinschaftsgefühl. Mit dieser geschickten Rede Þóras ist der weitere Verlauf der Geschehnisse besiegelt. Nachdem der Plan, Sigurðr, Þórðr und Gautr auszuschalten, getroffen ist, entführen Þóra und Leifr ihren Sohn von Þrándr. Leifr weist auf die Bedrohung ihres Sohnes hin, falls sie gegen Þrándrs Neffen vorgehen, und erneut ist es Þóra, die eine Lösung vorschlägt: [Æ]igi ætla ek […] at hann skuli þar leingi vera hedan fra ok er mal at vit farím til Austr eyiar ok finner þu Þrand fostra þinn.193 Von einer Entführung des Jungen spricht Þóra nicht, und so begibt Leifr sich zu Þrándr zunächst wie zu einem tatsächlichen Besuch. Als das abendliche Fest dem Ende entgegengeht, deckt Þóra ihre tatsächlichen Absichten auf: Þora segir at hon villde at Sigmundr segi henni af frædum sinum ok lægi hea henni vm nottina þat ma æigi segir Þrandr. þuiat þa ma ek alldri sofa j natt þetta verdr þu at uæíta mer Þrandr minn segir hon ok þat vard at suæinnin liggr hea þeim.194 (Þóra sagt, dass sie wollte, dass Sigmundr ihr von seinen Kenntnissen berichten sollte, und in der Nacht bei ihr läge. ›Das geht nicht‹, sagt Þrándr, ›denn dann kann ich heute Nacht niemals einschlafen‹ – ›Das musst du mir erlauben, Þrándr-Schätzchen‹, sagt sie. Und es kam so, dass der Junge bei ihnen liegt.)
Þrándr scheint skeptisch ob Þóras Vorhaben, doch auch hier vermag sie ihr Schmeicheln geschickt für ihre Ziele einzusetzen und bekommt ihren Willen. Leifr hingegen scheint die Pläne seiner Frau noch immer nicht genau zu kennen, denn er will sich schlafen legen, wird von Þóra aber davon abgehalten, die ihn anweist, stattdessen alle auf der Insel befindlichen Boote zu sabotieren. Am nächsten Tag können Leifr und Þóra Sigmundr so mitnehmen, ohne dass Þrándr Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Bis zu diesem Punkt geht alle Initiative bei der Herbeiführung des Konfliktendes von Þóra aus. Leifr erweist sich als loyaler Ausführer der von ihr angestoßenen Pläne. Doch auch ihre Mutter Þuríðr spielt eine Schlüsselrolle auf dem Höhepunkt von Þóras Vorhaben. Als Sigurðr Skúfey erreicht, ist es Þuríðr, die ihm entgegentritt: [K]ona geingr fra kirkíunne j raudum kyrtle ok blan | mottul aherdum. S(igurdr) kende at þar var Þuridr husfreyía ok uíkr at henni. hon hæilsar honum blidliga ok geingr at tre æínu er la j tunínu þar setíazst þau a tred ok uill hon horfa at kirkiunne en hann uillde horfa at heíma durum ok fra kirkíunne en hon red ok horfdu þau at kirkíunne. S(igurdr) spurde huat manna væri komít hon q(uad) þar mann fátt hann spurde huort L(eifr) væri þar hon q(uad) hann æigi þar vera. eru synir þinir hæíma segir hann þat ma kalla segir hon huat hafa þeir talat um mal uor sidan segir S(igurdr). þat hỏfum ver um talat segir hon at ollum oss konunum litzst bezst aþig ok munde litt sæinkat ef minne hende ef þu værir oklusadr. […] ok j þui uilldi hann suæigia hana at ser ok tok hỏndum um hana en hon las at ser tugla mottulinn.195
193 Fær, S. 133 (›Ich will nicht, […] dass er von jetzt ab noch länger dort ist, und es ist Zeit, dass wir zur Ostinsel fahren und du deinen Ziehvater Þrándr triffst‹). 194 Fær, S. 134. 195 Fær, S. 135–136.
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(Eine Frau geht aus der Kirche, in rotem Obergewand und mit einem blauen Mantel um die Schultern. Sigurðr erkannte, dass das dies die Hausherrin Þuríðr war, und dreht sich zu ihr. Sie grüßt ihn freundlich und geht zu einem Baumstamm, der auf der Hauswiese lag. Sie setzen sich auf den Stamm, und sie wollte auf die Kirche schauen, er aber auf die Haustür und von der Kirche weg, aber sie entschied und sie schauten auf die Kirche. Sigurðr fragte, wie viele Männer gekommen seien. Sie sagte, es seien wenige da. Er fragte, ob Leifr da sei. Sie sagte, er sei nicht da. ›Sind deine Söhne daheim?‹, sagt er. ›Das kann man sagen‹, sagt sie. ›Was haben sie dann über unsere Angelegenheit gesagt?‹, sagt Sigurðr. ›Wir haben besprochen‹, sagt sie, ›dass uns Frauen allen du am besten gefällst, und von meiner Seite wäre wenig gezögert worden, wenn du ungebunden wärst.‹ […] Und in diesem Moment wollte er sie an sich drücken und legt die Arme um sie, aber sie zog den Mantel an sich.)
In diesem Moment greifen Þuríðrs Söhne und Leifr an. Sigurðr kann zunächst fliehen, indem er geschickt aus seinem Mantel schlüpft. Þuríðr jedoch helldr eftir mỏtlínum.196 Ihr eigentliches Vorhaben war somit, Sigurðr durch den Griff an den Mantel so zu fixieren, dass er erschlagen werden kann. Zum zweiten Mal ist Þuríðr damit aktiv in eine Auseinandersetzung mit Waffen verwickelt, auch wenn sie hier nicht selbst zur Waffe greift und keinen Erfolg erzielt, weil Sigurðr sich ihrem Griff entwinden kann. Ihr Sohn Heri stirbt zwar auf der Verfolgung, aber Leifr kann Sigurðr einen letztendlich tödlichen Hieb versetzen, noch ehe dieser sein Schiff erreicht. Anschließend überfällt Leifr die noch verbliebenen Neffen Þrándrs und tötet sie, der Konflikt ist damit beendet und Þóra und Þuríðr haben aktiv für dieses Ergebnis gesorgt. Im Kontext der Isländersagas wirken beide Frauenfiguren in hohem Maße untypisch: Þuríðr betätigt sich einmal als tatsächliche Schildmaid und versucht ein weiteres Mal wenigstens, aktiv in einen Waffengang einzugreifen, um Hilfestellung zu leisten. Ihre Tochter bricht zwar weniger augenfällig aus der üblichen Frauenrolle aus, dies aber umso erfolgreicher. Sie ist es letztendlich, die den Konflikt mit Hilfe ihres Ehemannes beendet, und das Vorgehen dabei bestimmt sie als Planerin im Hintergrund selbst. Sigurðrs Brautwerbefahrt gibt ihr die ideale Gelegenheit zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele, und diese Tatsache nutzt sie aus. Ihre Skrupellosigkeit dabei macht sie, ebenso wie das Erkennen der für sie günstigsten Gelegenheit, Þrándr selbst gleich. Sie erweist sich damit politisch als ebenso weitsichtig wie er. Þóra ist Þrándrs eigentlicher Gegenspieler, die einzige Figur, die ihm gleichwertig ist, die einzige, die ihn besiegen kann, weil sie so ist, wie er selbst: Klug und voraussichtig, und zum nötigen Zeitpunkt skrupellos. »Eyðsæð er, at í henni hevur Tróndur funnið sín yvirmann.«197 Es war Þóra, die seit ihrer Hochzeit mit Leifr auf den Moment der finalen Auseinandersetzung hingearbeitet und diese Situation letztlich heraufbeschworen hat: Leifr, die perfekte Figur für ein endgültiges Ende des Konflikts, ist ihr Ehemann und folgt loyal seiner Frau. Als Motivation für ihr Vorgehen wird von Þóra selbst und vom Erzähler mehrfach auf die margar skammir
196 Fær, S. 136 (hält den Mantel weiter fest). 197 Arge Simonsen 2004, S. 17 (Es ist offensichtlich, dass Þrándr in ihr seinen Meister gefunden hat).
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verwiesen, die Þóra erfahren hat. Diese skammir sind wiederholte Todesfälle in ihrer Familie, deren Urgrund Þrándr ist. Mit ihm und den Angehörigen seiner Familie verbindet beide Frauen daher persönlicher Hass: Er wird von ihnen zu Recht für Sigmundrs Ermordung verantwortlich gemacht. Zudem wurde Þóras Bruder Þórálfr – vermeintlich – von Þrándrs Neffen ermordet. Dennoch werden diese beiden Todesfälle im Text nicht explizit mit den hervorgehobenen skammir verbunden. Statt Þórálfrs Tod ist es so der des fast arbiträr der Saga erscheinenden Leifr Þórisson, eines zwar Familienangehörigen, nicht aber leiblich verwandten Mannes, der die Frauen zum Versuch ihrer hvǫt gegen Leifr treibt. Diese Tatsache und die Vehemenz, die Þuríðr und Þóra an den Tag legen, spricht für ein gewisses Maß von Übersprungshandlung – zumal, wenn sie in ihren sonst so untypischen Rollen zu einem so standardisierten Mittel zu greifen versuchen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Þóra und ihre Initiative an dem Punkt in die Erzählung eintreten, in dem Sigmundr aus ihr ausscheidet. Damit lässt sich der gesamte zweite Handlungskreis der Færeyinga saga aus Perspektive der Frauen als lang angelegte Rache für den Tod von Ehemann und Vater lesen. Insofern zerbricht der Text letztlich nur oberflächlich in »partikularistische Projekte mehrerer Einzelfiguren oder Gruppen«, und die »durchgängig homogene Rachestruktur«, die Jürg Glauser im ersten Handlungskreis ansetzt, wird durchaus nicht »diffuser«,198 sondern bleibt hintergründig in sich gleich. Sigmundr rächt sich für den Tod seines Vaters und ficht deshalb seinen Konflikt mit Þrándr aus, Þóra greift in der nachfolgenden Generation aufgrund des Todes ihres Vaters und anderer Verwandter in den färöischen Machtkampf ein. Dabei widerspricht ihr Vorgehen Bicks Argumentation, die der Erzählung ein soziales Ideal unterstellt und sich insofern an der Tatsache stößt, dass »ausgerechnet die am Christentum festhaltenden Frauen […] aus sehr persönlichen Motiven [handeln] und […] dabei keine Rücksicht auf mögliche Folgen für die Gemeinschaft [nehmen].«199 Im Gegenteil lässt sich Þóra als ebenso skrupellos und manipulativ verstehen wie Þrándr selbst. Þóra legt es nicht auf eine sofort erfolgte Rache an, sondern plant mit einer Kühle und Souveränität, die an Þrándr selbst gemahnt, dessen letztendliche Niederlage und den eigenen Sieg, und nutzt ihren Gegenspieler dabei selbst noch aus. Sie beraubt Þrándr durch die Ehe mit Leifr und die Entführung ihres eigenen Sohns aus seinen Händen Stück für Stück seiner Handlungsmacht, während er durch die eigenen Fehlkalkulationen letztendlich den Rest seiner politischen Position einbüßt. Gerade die hvǫtSzene ereignet sich in einem Moment, als sich Þrándrs Neffen offensichtlich außerhalb seiner Kontrolle befinden. Þóra scheint sich insofern der Tatsache bewusst, dass ein Angriff auf Þrándrs Familie angesichts der aktuellen politischen Konstellation erfolgversprechender wäre als zuvor. Auch wenn die hvǫt zunächst erfolglos bleibt, führt sie Leifr doch den Willen seiner Frau und Schwiegermutter klar vor
198 Glauser 1989, S. 217. 199 Bick 2005, S. 12.
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Augen und dürfte ihn insofern dafür disponieren, diesen bei der nächsten Gelegenheit auszuführen. Damit übernimmt Þóra in den letzten Kapiteln der Færeyinga saga Þrándrs nunmehr desintegrierte Rolle: Nachdem dieser im Moment der Achtlösung seiner Neffen den Höhepunkt seiner Macht erreicht hat, wofür Þóras Kommentar (mart þikir mer Þrandr hafa firir flesta menn) ihm sogar Respekt zollt, verliert der ungekrönte König der Färöer durch das Entlassen von Sigurðr, Þórðr und Gautr endgültig seine Position als »epistemic center« der Erzählung.200 Er befindet sich schließlich gänzlich »außerhalb des Wissens-, Entscheidungs- und Aktionszentrums der Saga«,201 während es Þóra ist, die im abschließenden Teil der Handlung Þrándrs vormalige Rolle als »master-plotter« übernimmt und so selbst zum »epistemic center« der Schlussnarration wird.202 Þrándrs machtpolitische Desintegration ist so der durch seine Tochter ermöglichte Wiederaufstieg von Sigmundrs Familie. Dessen im Rahmen der Narration unausweichlich erscheinende Niederlage wird durch die Übernahme von Þrándrs Handlungsmacht durch Þóra nachträglich wieder ins Recht gerückt. Ausschalten lässt sie Þrándrs Neffen, ihn selbst überlistet sie und manövriert ihn insgesamt planvoll ins völlige politische Abseits. Ihr Sieg ist damit zugleich Rache und absoluter machtpolitischer Triumph in dem Spiel, in dem sich Þrándr gegen ihren Vater zum Meister gemacht hat. Ebenso wie auf Þrándrs Färöern kein Platz für Sigmundr war, ist auf Þóras Färöern schließlich kein Platz mehr für Þrándr. Sie ist nun im Besitz der Macht auf den Inseln, begünstigt durch die äußeren Umstände und Þrándrs politische Fehler, doch insbesondere, weil sie in ihrer Charakteranlage nach diesem statt nach ihrem Vater schlägt. Sie steuert ihre Familienangehörigen durch ihr rhetorisches Geschick ebenso souverän, rücksichtslos und hintergründig wie Þrándr dies mit den Seinen macht. Durch ihre bemerkenswerte Zeichnung ermöglicht Þóra Leifr in seinem Kampf um Herrschaftsbefugnisse auf den Färöern maßgeblich die Kombination von »Þránds Gerissenheit mit Sigmunds Tatenkraft und Gabe zur Schließung vorteilhafter Koalitionen«.203 Nur ihr politisches Geschick, das sie vor allem aus Rache an den Tag legt, kann diesen auf die Position des alleinigen Herrschers befördern, die er am Ende innehat. Leifrs Herrschaftsanspruch und Þóras Verlangen nach Rache können eine für die machtpolitische Situation auf den Färöern unschätzbar vorteilhafte Koaltion eingehen. Weil Þóra dabei ebenso fähig ist wie Þrándr, diese Bedingungen gnadenlos auszunutzen, ist sie es schließlich, die Erfolg zu verzeichnen hat: Sie wird im Hintergrund der Erzählung ebenso mächtig wie Þrándr. Hinter der Dichotomie zwischen Leifr Ǫzurarson und Þrándrs Neffen am Oberflächentext der Færeyinga saga wird so offenbar, dass Þóra Sigmundrs Position als Þrándrs großer Gegenspieler übernommen hat, und sie schlägt ihn mit sei-
200 201 202 203
Vgl. Glauser 1989, S. 216. Glauser 1989, S. 220. Beide Formulierungen nach Glauser 1989, S. 216 u. S. 219. Glauser 1989, S. 222 (Angleichung an deutsche Schreibung im Original). Vgl. auch Kap. 6.4.3.
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nen eigenen Waffen. Sie ist eine ebenso unerbittliche Machtpolitikerin. Ungewöhnlich und auffällig erscheint Þóra so als weibliche Figur, umso mehr aber erweist die Færeyinga saga in ihrer Zeichnung, dass kǫld eru kvenna ráð.204 Eine Moralbotschaft stellt die Saga insofern kaum bereit, denn ihre politisch erfolgreichsten Figuren sind die sich entsprechenden Skrupellosesten und Kaltblütigsten ihrer dramatis personae. Um so handeln zu können, muss Þóra innerhalb des von Þrándr begründeten Kosmos auf den Färöern ebenso aus dem Rahmen fallen wie er selbst: Grundbedingung der Macht auf den Inseln ist es aufgrund von Þrándrs Agieren, Konventionen und Normen hinter sich zu lassen. Sowohl Þuríðr als auch ihre Tochter entsprechen damit in auffälliger Weise nicht dem Ideal und der Typik weiblicher Figuren, die die Isländersagas kennzeichnen. Sie wirken dezidiert verschieden von Figuren wie etwa der treuen Hildigunnr oder selbst der stolzen Hallgerðr und Guðrún gezeichnet, die trotz all ihrer weiblichen Handlungsmacht letztendlich an die Voraussetzung männlicher Anteilnahme an ihren Anliegen gebunden bleiben und keine Schlüsselrollen in machtpolitischen Konflikten übernehmen. Stattdessen scheinen Þóra und ihre Mutter nach anderen Vorbildern stilisiert und wesentlich von den genderkonzeptionellen Grenzen dieser Gattung befreit. So ist ihre hvǫt gerade nicht erfolgreich, stattdessen kann Þuríðr als Kriegerin auftreten und Þóra ist eine körperlich defizitäre, dafür umso klügere, aktivere und erfolgreichere Frau. Die beiden entsprechen so eher den Frauendarstellungen, wie sie außerhalb der Isländersagas, insbesondere in den Vorzeitsagas und (originalen) Rittersagas, auftreten. Diese zeichnen sich eher durch das Sprechen ›weiser‹ denn aufhetzender Worte aus (auch wenn Þóra und Þuríðr keineswegs an der Vermeidung von Konflikten gelegen ist), sie unterstützen die männlichen Protagonisten substanziell, treten mitunter als politische Führerinnen auf und greifen sogar selbst zur Waffe.205 Insofern scheinen beide einem gänzlich anderen Frauenbild Ausdruck zu verleihen als dies für die in ihrer Darstellungsweise sonst ganz den Mustern der Isländersaga-Gesellschaft entsprechende Færeyinga saga erwartbar wäre. Doch nur im Widerpruch zu einem klassischen Rollenideal weiblicher Verhaltensweisen können sie in Kombination mit Leifr im Rahmen des um Þrándr entwickelten Machtdiskurses der Erzählung durchschlagenden Erfolg erzielen.206 Darin zeigt sich, dass sich in der Darstellung von Þóra und ihrer Mutter im Þorkell-Abschnitt der Erzählung im Dovrefjell etablierte Narrationsmuster fortzusetzen: Beide werden in einer Motivik ausgestaltet, die an die Vorzeitssagas gemahnt und spiegeln insofern die ›Anderweltlichkeit‹ ihrer Herkunft aus der Wildnis des Dovrefjell. Die Anreicherung der Erzählung mit der dort vorzufindenden Märchenmotivik endet zwar zu dem Zeitpunkt, als Sigmundr diesen Ort verlässt, sein Figurenkonzept jedoch bleibt intrinsisch mit seiner dortigen Aufzucht verbunden und er
204 Nj, S. 292 (Kalt ist der Rat der Frauen). 205 Vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013. 206 Siehe auch Kap. 8.
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so auch narrativ als unpassendes Element auf den von Þrándr dominierten Färöern ausgewiesen.207 Das gleiche Prinzip schlägt sich in der Darstellung Þóras und Þuríðrs nieder, sobald diese Norwegen verlassen haben und auf die Färöer übergesiedelt sind. Dies ist der Umschlagsort des Frauenbildes in der Færeyinga saga, den auch Arge Simonsen festhält.208 Noch im Dovrefjell ist Þuríðr lediglich eine schöne, junge Frau, die gleich einer ›Märchenprinzessin‹ im Handlungsverlauf fungiert. Auf den Färöern aber treten sie und die Tochter, die sie noch in der norwegischen Wildnis geboren hat, gänzlich anders hervor. Sie sind Fremde in der Welt der Färöer, und das sind sie auch narrativ, wie ihre motivische Gestaltung deutlich werden lässt. So ließe sich Þóras Äußeres, wie oben aufgezeigt, als Anspielung auf die Erzähltradition freundlich gesinnter Riesinnen in den Vorzeitsagas interpretieren,209 während Þuríðrs Griff zur Waffe an die Schildmaiden der Märchensagas oder Heldensage erinnert.210 Der Grund dafür ist der Ort ihrer Herkunft. Þóra wurde an einem Ort geboren, der raumsemantisch hochgradig mit Elementen der ›Otherness‹ aufgeladen und für die dort ansässigen Riesen bekannt ist. Þuríðrs aktive Kampfbeteiligung indes lässt sich, wie bereits aufgezeigt, im Kontext der im Dovrefjell situierten Outlaw-Erzählung erklären,211 wobei sie übersteigerte Züge annimmt: Þuríðr benutzt Waffen nicht allein, sie kommt in der Exorbitanz ihres Waffengebrauchs einer Heldenfigur wie Guðrún Gjúkadóttir gleich. Die Ungewöhnlichkeit beider Frauen auf den Färöern ist so die Konsequenz der räumlichen Verortung ihrer Herkunft, deren Darstellung einem anderen Erzählduktus folgt als auf den Färöern. In der nicht von entsprechender Motivik geprägten Erzählwelt dort, die zudem Þrándr dominiert, müssen Figuren, die aus einer narrativ ›anderen‹ Welt stammen, aus dem Rahmen fallen, was sich deutlich in Sigmundrs Niederlage offenbart. Der Unterschied zwischen Sigmundr und seiner Frau und Tochter ist, dass letztere erfolgreich sind, weil in ihren Figuren und deren Verhalten ihre narrative ›Otherness‹ nicht wie bei Sigmundr unterdrückt und negiert wird,212 sondern – wie im Falle Þrándrs213 – in hohem Maße für ihre Figurengestaltung nutzbar gemacht wird. Þuríðrs Waffengebrauch wird in keiner Weise beanstandet, und es ist allein Þóra, deren überlegene Intelligenz den Konflikt entscheidend bestimmt. So trägt die Spezifik der Raumsemantik des Dovrefjell in ihrer ›Anderweltlichkeit‹ schließlich weitrei-
207 Siehe Kap. 4.3.2. 208 Vgl. Arge Simonsen 2004, S. 20. 209 Zur Darstellung weiblicher, hilfreicher Riesenfiguren im Sagamaterial vgl. Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013, S. 59–60, 62–65 u. S. 69–76. 210 Vgl. zu diesen Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2013, S. 107–133. 211 Siehe Kap. 7.2; Ahola 2009. 212 Sigmundrs ›heroische‹ Exorbitanz etwa wird durch die ›höfisierte‹ Erzählmatrix einzufangen versucht, was sich als die erzählstrukturelle Bruchstelle seiner Lebensbeschreibung erweist, vgl. näher Kap. 4.3.1. Auch ignoriert er fatalerweise die Warnung König Óláfrs vor seinem Ring der Þorgerðr, vgl. Kap. 4.5.2 sowie zur damit abgewiesenen Aktualisierung narrativer ›Otherness‹ Kap. 8.3.3. 213 Vgl. Kap. 3 u. Kap. 8.3.2.
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chende Folgen in der Færeyinga saga. Es ist ihr Aus-dem-Rahmen-Fallen mit den gängigen Darstellungsmustern weiblicher Figuren, jedenfalls in den ›realistischen‹ Isländersagas, deren Gesellschaftsbild die Figurendarstellungen der Færeyinga saga prägt, das den Erfolg der Frauen begründet. Þóra ist ebenso klug und gerissen wie Þrándr, weil sie nicht dem gängigen Schönheitsschema entspricht und weil sie wesentlich freier zu Werke geht als die meisten isländischen Frauen. Und Þuríðr begünstigt die Pläne ihrer Tochter, weil sie eine geradezu ›männliche‹ Rolle übernimmt: Ihr aktives Eingreifen in Kampfhandlungen ist für die Durchsetzung von Þóras Zielen ebenso nützlich wie die Tatsache, dass die meginekkja Sigmundrs Hof ungebrochen fortführt und insofern eine von Þrándr unabhängige Machtbasis beibehält. Þuríðrs und Þóras weibliche Stärke und korpusinterne Einzigartigkeit lässt sich so als Ausdruck ihrer erzählerischen Gestaltung verstehen: Sie sind Frauen aus einer anderen Welt als der gewöhnlichen, und so verhalten sie sich auch. Sie dringen gleichsam als narrative Residuen der Anderwelt des Dovrefjell in die Welt der Färöer ein, die sie letztlich sogar erobern und ihrer Dominanz unterwerfen können. Aus Perspektive der Genderforschung bieten diese weiblichen Gestalten in der Færeyinga saga somit einen einzigartigen Diskurs über weibliche Handlungsmacht.
7.4 Die nominelle Macht im Hintergrund. Norwegische Herrscher – Nebenfiguren oder Haupthandlungsträger? Neben den beiden Frauen Þuríðr und Þóra sind die sicherlich auffälligsten Figuren der Færeyinga saga außerhalb der zentralen Protagonistenkonstellation auf den Färöern selbst die norwegischen Könige. Der Handlungsbogen der Erzählung entwickelt sich, wie zu Beginn der vorliegenden Studie erläutert, konstant entlang eines raumsemantischen Aushandlungsprozesses der Bereiche Färöer und Norwegen. Deshalb kommt den norwegischen Königen entscheidende Bedeutung im Plotgefüge des Texts zu. Sie sind es, denen ursprünglich die von Þrándr vereinnahmte Autorität auf den Färöern zufällt. Folglich versuchen sie mittels ihres verlängerten Armes in Person von Sigmundr und seinen Nachfolgern ihren Einfluss und ihre Rechte auf den Inseln einzufordern bzw. den Status quo ante vor Þrándrs Auftreten wiederherzustellen. Angesichts dieser Konstellation ist es gerechtfertigt, zu fragen, inwiefern die norwegischen Jarle und Könige überhaupt als Neben- und nicht als Hauptfiguren der Saga angesprochen werden können. Tatsächlich gewinnt diese Frage in Bezug auf die Figuren Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson zusätzlich an Bedeutung, bedingt durch die Textüberlieferung der Færeyinga saga. Beide Figuren treten in Erzählabschnitten in Erscheinung, die auch in der Flateyjarbók nicht auf ein unabhängiges Manuskript einer *Færeyinga saga zurückgehen, sondern nur durch die Prismen der jeweiligen Óláfs saga überliefert sind. Hinzu kommt die Tatsache, dass ein Großteil der bisher vorliegenden Forschung in ihrer Interpretation der Færeyinga saga stark auf den Unabhängigkeits- und den Bekehrungsdiskurs rekurriert hat, für
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den gerade diese beiden Könige paradigmatisch stehen. Da beide im Kontext der Gesamterzählung aus der Flateyjarbók allerdings nicht im erzählerischen Fokus stehen und sich ihre narrative Funktion zudem nicht grundsätzlich von der Jarl Hákons unterscheidet, sollen im Folgenden alle norwegischen Herrscherfiguren gleichberechtigt nebeneinander analysiert werden. Dabei soll zugleich der Überlieferungssituation Rechnung getragen werden und der Frage nachgegangen werden, inwiefern diese sich in der Narration der Færeyinga saga niederschlägt.
7.4.1 Geschichte als Referenzrahmen. Norwegische Herrschaftszeiten im Plot der Færeyinga saga Die Færeyinga saga zeichnet sich insgesamt durch ein recht genaues Wissen um die verschiedenen norwegischen Machthaber, ihre Herrschaftszeiten und -gebiete aus, sodass die Vermutung naheliegt, sie beziehe sich hierbei auf schriftliche Quellen zur norwegischen Königsgeschichte.214 So werden auch über die als figürliche Akteure auftretenden Jarl Hákon Sigurðarson, König Óláfr Tryggvason und König Óláfr Haraldsson hinaus weitere Herrscher genannt. Haraldr gráfeldr ist neben Jarl Hákon zu Beginn der Erzählung die zweite legitime Autorität auf den Färöern, er ist der Lehnsherr von Hafgrímr.215 Diese Nennung trägt, wie oben dargestellt, entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des Plots, denn damit ist die Oberhoheit auf den Inseln schon im Nullpunkt der Erzählsituation gebrochen und die jeweils doppelten Herrschaften in beiden Ländern verhalten sich in spiegelbildlicher Konkurrenz zueinander. König Haraldr wird nur in dieser Initialsituation und bald darauf bei seiner beiläufig wirkenden Entfernung aus der Erzählung überhaupt erwähnt: [V]ard hofdíngia skipti j Noregi. uar felldr fra landi Haralldr grafelldr en Hakon jarll kom j stadínn.216 Dass sich die Verhältnisse auf den Färöern und in Norwegen gleichen, wird damit offenbar:217 Wie Hákon sich die Alleinherrschaft erstreitet, so übernimmt auch Þrándr die Macht auf den Färöern. Haraldr gráfeldrs Erwähnung dient somit zwei Zielen. Einerseits bedingt seine Herrschaft neben der von Hákon eine bereits ursprüngliche Machtdichotomie auf den Färöern, die Þrándrs Handeln befördert, andererseits sorgt sein baldiger Fall nach Þrándrs Herrschaftsübernahme auch für das Kappen der Verbindung zwischen dem noch übrigen, nominell legitimen Herrscher der Inseln, Hafgrímrs Sohn Ǫzurr, und dem norwegischen Reich. Dessen designierter Lehnsherr existiert nicht länger, so-
214 Vgl. Ólafur Halldórsson 1987, S. clv–clx. 215 Siehe Fær, S. 8. 216 Fær, S. 22 (Es gab einen Herrschaftswechsel in Norwegen. Harald Graumantel wurde der Herrschaft beraubt und Jarl Hákon kam an seine Stelle). 217 Die Konkurrenz zwischen Jarl Hákon und König Haraldr wird im Hauptüberlieferungsträger der Saga, der Flateyjarbók, zusätzlich ausführlich behandelt, siehe bereits Kap. 2.3.2.2 (Fn. 191).
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dass Þrándr die vakante Position usurpieren kann, weil die Autorität des noch lebenden Hákon sich von Anfang an auf den Bereich von Sigmundrs Familie beschränkt. Þrándr kann somit befreit vorgehen, die Herauslösung ›seiner‹ Färöer aus dem norwegischen Machtbereich ist vollzogen. Insofern zeigt sich, dass die zeitgeschichtliche Referenz nach Norwegen in der Færeyinga saga nie um ihrer selbst willen, sondern stets funktional gesetzt wird. Wie unter 2.3.2.2 untersucht, bilden norwegische Referenzen konsequent den Rahmen für färöische Ereignisse. Eine Änderung der politischen Situation in Norwegen bedingt stets auch einen Wandel auf den Färöern. Die Verwendung von Haraldr gráfeldr als herrschaftsfigürlicher Referenzpunkt der Handlungsentwicklung auf den Färöern bildet so einen Beispielfall für den Rest der Erzählung. Norwegische Herrschaftswechsel leiten sämtliche großen Erzähleinheiten der Færeyinga saga ein, das heißt konkret jene fünf þættir, in die die Saga in der Flateyjarbók insgesamt unterteilt ist. Auf die eben beschriebene Situation zu Beginn des Plots und Sigmundrs Jugenderzählung folgt als nächster þáttr die Christianisierungsepisode, sodann der Abschnitt um Sigmundrs Tod, der Konflikt der Färinger mit Óláfr dem Heiligen und schließlich die Auseinandersetzungen zwischen Leifr und Þrándrs Neffen, in denen zu Beginn jeweils ein bis mehrere neu auf den Plan tretende norwegische Herrscher genannt werden. Auch im prologartigen ersten Kapitel der Saga wird Haraldr hárfagris Herrschaft als Grund der Besiedelung der Färöer genannt.218 Der letzte König, der neu referenziert wird, ist Magnús der Gute Óláfsson, als Leifr sich als Alleinherrscher der Färöer etabliert hat und abschließend sein Lehnsmann wird. Die erzählerische Situation ist an diesem Punkt schließlich beruhigt, und auch die ursprünglich gedoppelte norwegische Autorität auf den Inseln ist geeint.219 Damit fungieren politische Wechsel in Norwegen durchgängig als narrative Handlungsauslöser der Færeyinga saga. Haraldr gráfeldrs Fall bedeutet auch die Übernahme der Alleinherrschaft durch Þrándr und die Etablierung der Dichotomie zwischen ihm und Hákon und seinen Nachfolgern samt Sigmundr. Entsprechend bedeutet die Übernahme der schwachen Herrschaft durch die Jarle Sveinn und Eiríkr eine Stärkung Þrándrs. Gleichzeitig schwindet der Einfluss von Þrándr und seiner Familie im Angesicht enger Verbindungen zwischen Jarl Hákon oder König Óláfr Tryggvason und Sigmundr, während Óláfr Haraldssons Regierungszeit Leifr Ǫzurarson recht unerwartet an die Spitze der färöischen Gesellschaft befördert und die finale Auseinandersetzung um die politische Spitze der Färöer eröffnet. Trotz aller Prominenz der Þrándr-Figur in der Færeyinga saga kann färöische Herrschaft
218 Siehe Fær c. 1, S. 3–4. Diese Beobachtung unterstützt zusätzlich die in Kap. 3.2.1 entwickelten Überlegungen zur mitunter bezweifelten Zugehörigkeit des ›Prologs‹ zur Saga. Zum aus dieser Nennung resultierenden, implizit möglichen Vergleich der färöischen Bevölkerung mit den ›freiheitsliebenden‹ Isländern und dessen Implikation für die färöische Herrschaftssituation siehe Kap. 2.2 (Fn. 66). 219 Vgl. auch Kap. 6.
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in diesem Text insofern grundsätzlich nicht in voller Unabhängigkeit vom norwegischen Mutterland gedacht werden. Vor diesem Hintergrund fallen die Rollen Jarl Hákons, König Óláfr Tryggvasons und König Óláfr Haraldssons auf den ersten Blick aus dem Rahmen, da sie – anders als die während ihrer Regierungszeit lediglich an drei Stellen erwähnten Sveinn und Eiríkr – nicht allein genannt werden, um Referenzpunkte für die Handlungsentwicklung auf den Färöern zu bilden, sondern direkt als handelnde Figuren in den färöischen Konflikt eingreifen. Dabei hat sich das Forschungsinteresse bisher hauptsächlich auf die Figuren Óláfr Tryggvasons (zum Teil mit negativer Vergleichsfolie in Jarl Hákon) und Óláfr den Heiligen konzentriert. Im Folgenden soll im Einzelfall geprüft werden, ob und inwiefern sich die Figurenkonzeptionen dieser drei norwegischen Herrscher substanziell von den Nennungen anderer Herrscherfiguren unterscheiden.
7.4.2 Jarl Hákon Sigurðarson – Rex iustus und ›Lichtgestalt‹ der heidnischen Zeit Jarl Hákon Sigurðarson, der große Verbündete Sigmundrs im ersten Handlungskreis der Saga, ist von Beginn an als wichtiger Fixpunkt in der Erzählung präsent. Er ist Haraldr gráfeldrs Gegenkönig auf den Färöern, obwohl nur recht lakonisch berichtet wird, er habe zu diesem Zeitpunkt lediglich ein riki nokkut jnn j Þrandheimi bessessen.220 Dennoch ist er der Lehnsherr von Sigmundrs Vater Brestir und seinem Onkel Beinir, und er und seine hirðmenn werden als hínir kærstu vinir beschrieben.221 So ist Hákon eng mit Sigmundrs Familie und gewissermaßen auch mit dessen Schicksal verbunden. Er gelangt an die alleinige Macht in Norwegen, auch wenn es zunächst – ob Hákons Rolle in der Erzählung erneut lakonisch anmutend – heißt, er sei vorerst nur ein skatt jall Haralldz konungs Gormssonar gewesen ok hellt rike af honum.222 Damit wird stillschweigend auch Jarl Hákon selbst zu einem Rollenvorbild Sigmundrs, neben dessen Vater und Þorkell.223 Ihre enge Verbindung zeigt sich letztlich auch in der ähnlichen Grundsituation ihres Herrschaftsantritts, denn wie Hákon zunächst nur skatt jall des dänischen Königs ist, fungiert auch Sigmundr auf den Färöern als wenig mehr als der skattjarl des Norwegers. Und doch gibt es für beide Entwicklungspotenzial: Jarl Hákon tritt zu keinem Zeitpunkt als Befehlsempfänger anderer Herren im Text in Erscheinung, und auch Sigmundr ist mehr als eine bloße Symbolfigur norwegischer Abhängigkeit. Im Gegenteil wird im weiteren Erzählzusammenhang der Überlieferungsträger der Færeyinga saga davon berichtet, dass Jarl Hákon sich konsequent seinem nominellen Herrn zu verweigern beginnt
220 221 222 223
Fær, S. 9 (Reich bei Trondheim). Fær, S. 9 (die liebsten Freunde). Fær, S. 22 (tributpflichtiger Jarl König Harald Gormssons und hielt das Reich an dessen Statt). Vgl. zu diesen Rollenmodellen näher Kap. 4.
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und so ein eigenes Reich begründet – was ihn im Zusammenhang der Færeyinga saga auch in die Nähe von Þrándr und dessen Ambitionen und Taten rückt. Kommentierend wird über den Beginn der Regierungszeit des Jarls eingeschoben: [V]ar þa eytt ollu riki þeirra Gunnhilldar sona sumir voru drepnir en sumir flydu ór landi.224 Damit wird eine bedrohlich wirkende, kriegsähnliche Situation im norwegischen Reich heraufbeschworen, als sich der eben aus der Sklaverei befreite Sigmundr als Kind ungeschützt j vkunnu lande aufhält.225 Auf den ersten Blick wirft die Situation zu Beginn der Færeyinga saga also kein gutes Licht auf Hákon als Herrschergestalt. Doch ist der Ton dieses kurzen Einschubsatzes nicht anklagend gehalten, sondern beschreibt lediglich polithistorische Tatsachen der erzählten Welt. Zudem wird der Satz ob der dauerhaften narrativen Verbindung norwegischer und färöischer Entwicklungen in der Erzählung auch als Kommentar auf die Situation der Färöer nach Þrándrs Machtübernahme lesbar: Wie in Norwegen die vorherigen Begebenheiten völlig umgestürzt werden, haben sich auch im Nordatlantik die Parameter vollständig umgekehrt. Die Doppelung, die zuvor die politische Situation auf den Färöern bestimmt hat, ist zur Dichotomie zwischen den Färöern Þrándrs und dem Norwegen Hákons, bzw. den jeweiligen Herrschaftsansprüchen dieser Figuren auf den Inseln, geworden. Beide Reiche sind in sich geeint und stehen sich nunmehr gegenüber, bis durch Leifrs Lehnseid an Magnús Óláfsson auch diese Zweierpaarung aufgehoben wird. Jarl Hákon wird so zu keinem Zeitpunkt der Erzählung in einem negativen Licht dargestellt. Sigmundr und Þórir brechen in der Hoffnung auf Unterstützung durch den Lehnsherrn ihrer Väter nach Trondheim auf, nachdem sie von seiner Alleinherrschaft erfahren haben. So gelangen sie ins Dovrefjell. Als sie nach ihrer Erziehung durch Þorkell Hákons Hof erreichen, begegnet der Jarl ihnen freundlich und ehrenvoll, wenn auch nicht naiv. Als Sigmundr sich als Brestirs Sohn zu erkennen gibt, antwortet Hákon: [Æ]igi ertu olikr Bresti en sialfr verdr þu þíg j ætt at færa en æigi spari ek mat vid þíg ok visade þeim til sætis hia gestum sínum.226 Hákon wird hier als treuer, aber auch fordernder Herr vorgestellt. Er verlangt von Sigmundr Eigenleistungen, um ihm die eingeforderte Stellung zuteil werden zu lassen. Seine Treue gegenüber einmal in den Kreis seiner Vertrauten aufgenommene Gefolgsmänner als
224 Fær, S. 22 (Da wurde das ganze Reich der Gunnhildssöhne verdorben, einige wurden getötet und einige flohen aus dem Land). 225 Fær, S. 21 (in einem unbekannten Land). Mit dieser Formulierung entlässt der Händler Hrafn Sigmundr und seinen Cousin im Heranwachsendenalter zunächst in eine scheinbar ungewisse Zukunft. Dass diese Einschätzung in Bezug auf Sigmundrs Passgenauigkeit für seinen Aufenthalt in Norwegen völlig fehlgeht, wie in Kap. 4.3.2 erörtert, offenbart sich erst im späteren Verlauf der Saga, sodass die Wendung hier zunächst wie eine dräuende Vorausdeutung wirken muss, wenn Unfrieden im Land herrscht. 226 Fær, S. 38 (›Du bist Brestir nicht unähnlich, aber du musst selbst deine Abstammung unter Beweis stellen; doch werde ich dir gegenüber nicht mit Nahrung geizen.‹ Und er wies ihnen Sitze unter seinen Gästen zu).
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Gegenzug zeigt sich in der Art und Weise, wie der Jarl über Sigmundrs Vater Brestir spricht: [V]ist fek ek þar tíon godrar fylgdar er Brestirr var drepínn hirdmadr minn hinn vaskazsti madr ok illz værí þeir fra mer verdir er hann drapu.227 Als Sigmundr seiner Aufforderung, sich selbst die Abstammung zu beweisen, nachkommt, indem er bittet, auf Víking gehen zu dürfen, nennt der Jarl das uel mællt 228 und teilt ihm eine, wenn auch kleine, Mannschaft zu. Hákon will Sigmundrs Tauglichkeit zunächst auf die Probe stellen, und sobald Sigmundr diesen Test erfolgreich hinter sich gebracht hat, wird ihm von Seiten des Jarl alles zu Teil, was er sich von ihm wünschen könnte: Er wird im Winter nach seiner ersten Fahrt und dem Kampf gegen Randvérr Hákons hirðmaðr und hält sich fortan immer j godum fagnade bei Hofe auf.229 In der Folgezeit wird das Verhältnis zwischen Sigmundr und Jarl Hákon als Idealbild einer Hofdienstbeziehung dargestellt: Zwar fordert Hákon treue Gefolgschaft, ist seinerseits aber ebenfalls überaus treu und entlohnt Sigmundr durch sein Vertrauen und seine Ehrbezeugungen. Vor den nächsten Heereszügen fragt Hákon Sigmundr jedes Mal, wohin er selbst zu fahren gedenke,230 woraufhin Sigmundr die Entscheidung seinem Herrn selbst überlässt, in dessen Gunst und Vertrauen er konsequent aufsteigt. Nach der nächsten Heerfahrt dankt Hákon seinem Gefolgsmann explizit und zeigt sich als freigiebiger »Ringverschenker«, gemäß dem Wunschbild seiner Rolle: [S]kortir nu æigi fe.231 Auch die Aufträge, die Hákon Sigmundr erteilt, zeugen vom steigenden Wohlwollen des Jarls. Gibt ihm Hákon während seiner Bewährungsprobe noch freie Hand, so wird Sigmundr danach erst Heerführer und anschließend sein persönlicher Kopfgeldjäger.232 Als Idealbild eines Herrschers zeigt sich Hákon auch und vor allem in dem Moment, in dem Sigmundr nicht als erfolgreicher Scharfrichter, sondern als Verbündeter von Haraldr járnhauss nach Trondheim zurückkehrt. Sigmundrs Auftrag hatte gelautet, at þu farir vestr vm haf j nand Orknneyium þar er von þess mannz er Haralldr jarnnhauss heitir hann er vtlagi minn ok vvínr sem mestr ok hefuir marga vspekt geort j Noregi. hann er mikill madr firir ser hann vil ek at þu drepir.233 (›dass du in Richtung Westen über das Meer fährst in die Nähe der Orkneys. Dort ist jener Mann zu erwarten, der Haraldr Eisenschädel heißt. Er ist ein Geächteter durch mein Tun und
227 Fær, S. 39 (›Gewiss erfuhr ich da den Verlust einer guten Gefolgschaft, als Brestir getötet wurde, mein Gefolgsmann, der tüchtigste Mann, und Übles verdienten diejenigen von mir, die ihn töteten‹). 228 Fær, S. 39 (wohl gesprochen). 229 Fær, S. 41 (in guter Bewirtung). 230 Siehe Fær, S. 42: [N]u vm varit spyrr Hakon j(arl) huert Sigmundr ætlade at hallda vm sumarít (Und nun, im Frühling, fragt Jarl Hákon, wohin Sigmundr im Sommer zu fahren gedenke); S. 45: En er uorade frettir Hakon j(arl) Sigmundr huert hann ætlade at heria vm sumarit (Und als es Frühling wurde, fragt Jarl Hákon Sigmundr, wohin er im Sommer auf Heerfahrt zu gehen gedachte). 231 Fær, S. 45 (Es fehlt nun nicht an Beute). 232 Siehe näher Kap. 4.2.4. 233 Fær, S. 45.
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mein größtmöglicher Feind und er hat viel Aufruhr in Norwegen verursacht. Er ist ein tüchtiger Mann. Ich will, dass du ihn tötest‹.)
Doch Sigmundr verbündet sich auf Bitten seiner Männer mit Haraldr, nachdem ein Sieg nicht zu erringen ist, und er bittet für ihn um Frieden bei Hákon. Der Jarl reagiert zunächst zornig: [J](arl) þagnar þa ok rodnade a at sia ok mællti er stund leid. optar hefir þu S(igmundr) mitt eyrendi betr rekit en nu […] ek skal lata þegar drepa hann at ek nai honum. […] ein|gua sætt mun hann af mer fa sagde j(arl).234 Dabei ignoriert er Sigmundrs auf sich selbst, seine Fürsprache und sein Bürgen bezogene Einwürfe, bis Sigmundr ihm offensiv die Gefolgschaft aufkündigt und die Halle verlässt. Der Jarl ist überrascht: [J]arl sitr eftir ok þegir ok æínge þorir at bidia firir S(igmundi). Þa tekr j(arl) til orda. reidr var S(igmundr) nu sagde hann ok skade er þat riki mínu ef hann rædzst j brott ok æigi mun honum þat aluara. þat mun honum vist aluara sogdu menn hans fari nu eftir honum sagde j(arl). ok skulu vit sættazst at þessu sem hann baud.235 (Der Jarl bleibt sitzen und schweigt, und niemand wagt, für Sigmundr zu bitten. Da ergreift der Jarl das Wort: ›Zornig war Sigmundr nun‹, sagte er, ›und es ist ein Verlust für mein Reich, wenn er fortführe. Er wird es nicht ernst meinen.‹ – ›Sicher meint er das ernst‹, sagten seine Männer. ›Geht ihm nun nach‹, sagte der Jarl, ›und wir werden uns nun vergleichen bei dem, worum er nun gebeten hat.‹)
Sigmundr gegenüber bemerkt der Jarl noch einmal eigens, dass er ihn nicht verlieren möchte: [U]il ek þíg æigi brottu fra mer.236 Der Vergleich zwischen Haraldr und Hákon wird so von Sigmundr trotz beiderseitigem Misstrauen und Abneigung geschlossen, und den folgenden Winter verbringt Sigmundr j myklum kærlæikum bei seinem Jarl,237 ehe er im Jahr darauf auf die Färöer zurückkehrt. Strukturell entspricht die so vollzogene Eingliederung Sigmundrs an Jarl Hákons Hof dem gängigen Erzählschema der Isländersagas und Þættir, die die Reise eines Isländers an den norwegischen Hof beschreiben, dem »Travel Pattern«, wie unter 2.3 und 4. behandelt. Dem Strukturschema dieses Episodentyps nach muss sich eine Bruchsituation zwischen Neuankömmling bei Hofe und dem Herrscher ergeben,238 die eine wechselseitige Erprobung von Herrscher und Beherrschtem bedeutet.239 Sigmundrs Probe besteht in diesem Abschnitt aus der schrittweisen Etablierung in der Gunst Jarl Hákons. Dies wiederum resultiert im Test Hákons durch
234 Fær, S. 46 (Der Jarl schweigt da und errötete zusehends und sagte, als eine Weile verging: ›Du hast, Sigmundr, meine Aufträge öfter besser erfüllt als nun. […] Ich werde ihn töten lassen, sobald ich ihm nahekomme. […] Keinen Frieden wird er von mir bekommen‹, sagte der Jarl). 235 Fær, S. 46. 236 Fær, S. 47 (›Ich will dich nicht fort von mir‹). 237 Fær, S. 47 (in großer Freundschaft). 238 Zur Struktur mit dem Herzstück von »Alienation« und »Reconciliation« vgl. Harris 1972. 239 Vgl. Boulhosa 2005, S. 182–197.
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Sigmundr, den dieser letztendlich ebenso wie sein Gefolgsmann mit Bravour besteht. Aufgrund des einmal gegebenen Wortes Haraldr gegenüber verpflichtet, scheut Sigmundr selbst die Konfrontation mit seinem Gefolgschaftsherrn nicht. Das dafür notwendige, stolze Selbstverständnis gründet sich auf Sigmundrs bisherige, pflichtbewusste Diensterfüllung. Er fordert aufgrund seiner Rolle an Hákons Hof sein Selbstbestimmungsrecht in einem wechselseitigen Loyalitatsverhältnis ein. Dass er damit Erfolg erzielt, bedeutet auf Jarl Hákon bezogen dessen Stilisierung nach dem Idealbild einer Königsfigur in den Isländer-Þættir, die im Ergebnis stets eine Erhöhung des isländischen Protagonisten am Hof bieten.240 Hákon ist seinem Hofangehörigen hierarchisch übergeordnet, aber bereit, diesen Status zu suspendieren, um dem Lehnsmann persönliche Ehre und symbolische Gleichwertigkeit zuzuerkennen. Der Jarl entspricht insofern dem Profil eines rex iustus, und wird von Sigmundr vor Óláfr Tryggvason auch entsprechend beschrieben.241 Er ist sogar in der Lage, Sigmundr eine offene Befehlsverweigerung durchgehen zu lassen. Seine Behandlung seiner Männer ist in jeder Hinsicht vorbildlich. Diese Tatsache ist bemerkenswert, da es sich bei Jarl Hákon um eine zutiefst heidnische Figur handelt, was er unter Beweis stellt, indem er Sigmundr vor dessen Abreise den Ring der Þorgerðr hǫrðabrúðr verschafft.242 Der Jarl sieht es offenbar als essenziell notwendig an, Sigmundr neben materiellem auch übermenschlichen Beistand teilwerden zu lassen, und möchte seinen Freund keinesfalls ohne die Rückversicherung durch die Macht seiner Patronin zurück in seine Heimat ziehen lassen. Hákons Darstellung als herrscherliche Idealfigur steht insofern in auffälliger Spannung mit der Forschungsperspektive, die vor allem den Bekehrungsdiskurs der Saga in der Zeit Óláfr Tryggvasons fokussiert hat und der Saga insgesamt eine christliche Deutungsperspektive zumisst.243 Im Vergleich zur Darstellungsweise Óláfr Tryggvasons in der Gesamtkomposition der Færeyinga saga allerdings zeigt sich, dass Jarl Hákon trotz oder gerade wegen seines Heidentums eine freiheitlichere Herrschaftsmacht repräsentiert – aus der Perspektive des oft diskutierten Unabhängigkeitsdiskurses der Saga also die bessere bzw. positivere Figur ist. Sein Verhalten Sigmundr gegenüber unterscheidet sich so signifikant von dem Óláfr
240 Vgl. Harris 1976. 241 Vgl. bereits Kap. 4.5.2. 242 Vgl. Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3. 243 Vgl. etwa Harris 1986, S. 208–209; Glauser 1989, S. 217; Bonté 2014b, S. 100. Glauser bezeichnet das Ringgeschenk der Þorgerðr als »Symbol tiefsten heidnischen Irrglaubens«. Ohne dabei die Figur Hákons in den Blick zu nehmen, unterstellen diese und ähnliche Forschungsperspektiven dem Text eine christliche ideologische Botschaft. In dieser müsste Hákon negativ zu deuten sein, da er immerhin für das Ringgeschenk verantwortlich zeichnet. Harris enthält sich einer eigenen Einschätzung und gibt nur die Ansicht der Figuren (die respektvolle Sigmundrs und die missbilligende Óláfrs) wider. Etwas abweichend bedenkt auch Guldager 1975, S. 24–29 Hákons Figur und ihren Erfolg beim Erreichen der Ziele von Sühne für den Verlust eines Lehnsmannes und Etablierung norwegischer Oberhoheit über die Färöer.
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Tryggvasons.244 Nichtsdestoweniger repräsentiert die Bindung an ihn Sigmundrs norwegische Identität, die ihm im Rahmen der Erzählung einen Erfolg gegen Þrándr verwehrt,245 und seine fehlende Eigenständigkeit. Auch während Hákons Herrschaftszeit sind die Färöer Norwegen untergeordnet, sobald Sigmundr sich dort die Führungsposition erkämpft hat. Doch macht der Status, den Hákon Sigmundr einräumt, die Beziehung beider Länder zueinander zum Effekt der persönlichen Bindung zweier Männer statt einer kolonialen Abhängigkeit. Diese Bindung ist freundschaftlich und findet unter annähernd Gleichrangigen statt.246 Diese größere Freiheit ist auch begründet durch Hákons großzügig im Text ausgestaltete Persönlichkeit. Dadurch, dass er über eine lange Zeit der Erzählung mit Sigmundr verbunden ist, entfällt ein größeres Maß von Erzählzeit auch auf ihn, und er erscheint als verhältnismäßig gerundete Figur. Die Freundschaft zwischen ihm und Sigmundr wirkt so echt und tiefgehend. Unter Bezug auf seinen Glauben wird der Jarl dadurch nicht allein zum Urbild des guten Herrschers, sondern gleichsam auch zu einer »Lichtgestalt der heidnischen Periode«.247 Bemerkenswert ist diese Beobachtung hinsichtlich der Darstellung Jarl Hákons in anderen Teilen der Flateyjarbók und vor dem Hintergrund, dass der Teil der Erzählung, in dem Hákon auftritt, als Teil der Óláfs saga Tryggvasonar überliefert ist. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass die Rolle Hákons im Erzählgang der Færeyinga saga in der Flateyjarbók im Vergleich zur dramatisch kürzeren Beschreibung der Beziehung Hákons und Sigmundrs in anderen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta wesentlich komplexer konstruiert und bedeutsamer erscheint, wie bereits dargestellt.248 Auch diese Textversionen betonen, dass Sigmundr stets in gutem Verhältnis zu Jarl Hákon steht,249 und lassen den Jarl sogar offenbar Erkundungen über das Schicksal seiner Gefolgsleute und deren Nachkommen einziehen.250 Die stetig enger werdende Bindung zwischen Gefolgsherrn und
244 Vgl. bereits Kap. 4.5.2. 245 Vgl. Kap. 4. 246 Vgl. hierzu auch Guldager 1975, S. 24–29 u. S. 33. 247 Eine Formulierung, die Böldl 2005, S. 234 zur Beschreibung des Goden Arnkell in der Eyrbyggja saga verwendet und die sich ob des häufig in der Forschung betonten Christianisierungsdiskurses der Færeyinga saga auch gut zur Beschreibung Hákons eignet. Freilich wird Hákon selbst keine solch enthusiastische Eloge zuteil wie Arnkell nach seinem Tod in der Eyrbyggja saga, jedoch ist festzuhalten, dass seine Darstellung und Verhaltensweise in der Færeyinga saga keinerlei Anlass für Kritik bieten. 248 Vgl. Kap. 4. 249 Siehe Fær, S. 54 (Text A): Sigmundr var með iarlínum um uetrum með hinni mestu virþing (Sigmundr war im Winter beim Jarl in höchster Ehre). D formuliert weniger emphatisch: vel virdr (Fær, S. 54 [Text D]; mit großen Ehren). 250 Bei Sigmundrs erster Ankunft an seinem Hof meint Hákon zwar auch in der Flateyjarbók víta giorla huerr madr hann var (Fær, S. 38; er wisse genau, welcher Mann er war), doch führt er in den anderen Redaktionen ausführlicher aus: [E]k hefi spurt at þeir bræðr attu sono vnga. ganga þar ymissar sagnir fra. huart þeir hafa drepnir verit með feðrum sinum. e(ðr) hefir annat verit sieð fyrir þeim þar í eyíunum. Sumir menn segia at þeir hafi uerit fluttir hingat til Noregs. ok hafi uerit íVik
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Gefolgsmann, die die Flateyjarbók schrittweise entwickelt, wird aber hier nicht deutlich, indem der vierjährige Dienst Sigmundrs bei Hof nur summarisch zusammengefasst wird. Dadurch wird Hákon auch wesentlich stärker in seiner Verbindung zu Þorgerðr hǫrðabrúðr vorgeführt, in der einzigen vollausgeführten Szene, die der Text nach Sigmundrs Ankunft am Hof und vor Hákons Entscheidung im Streit zwischen Sigmundr und Þrándr hier enthält. Hákon erscheint in diesen Redaktionen daher auch weniger eingehend als Herrscherfigur ausgestaltet und auf Sigmundr bezogen. Es muss festgehalten werden, dass er auch hier nicht rundheraus verurteilt wird, jedoch befindet er sich außerhalb des narrativen Fokus und wird nicht so deutlich als politische Figur entwickelt. Er fungiert primär als Kontrapunkt des wichtigeren Óláfr Tryggvason, mit dem Sigmundr als im Gegensatz zum Jarl edler Heide viel stärker korrelliert wird. In der Flateyjarbók greifen hingegen zwar ähnliche Kontraste, wenn die Tempelszene mit Þorgerðr bald nach der Schilderung der Taufe Óláfrs in den Text eingeflochten wird, doch wird dadurch vor allem strukturell die Bedeutung des Wesens für den Jarl hervorgehoben, die während der Jómswikingerschlacht eine wichtige Rolle spielt,251 anstatt ein pointiertes Heidentum als solches. Hákons Darstellung in Jón Þórðarsons Codex kontrastiert hingegen auffällig mit sich selbst, vergleicht man die überaus positive Darstellung als Herrscher in der Færeyinga saga etwa mit der Zeichnung im Þorleifs þáttr jarlsskálds, der an späterer Stelle in die Handschrift eingebunden wurde und ebenfalls nur hier überliefert ist. Eine vermutlich von Jón Þórðarson selbst verfasste Einführung zu dieser Geschichte formuliert eine explizit christliche Moral, die sich gegen Hákon richtet und mit der überaus negativen Zeichnung seiner Figur in der dortigen Erzählung stimmig bleibt.252 Würth erkennt dabei auch eine Parallele zur Darstellung der Færeyinga saga in der Kontrastierung des finsteren Jarls mit einem weniger dramatisch unchristlichen Protagonisten.253 Diese lässt sich angesichts der diametral unterschiedlichen Figurenkonzeption Hákons in beiden Texten sowie der engen Verbindung zwischen Sigmundr und dem Jarl in der Færeyinga saga kaum halten. Der Hákon aus Jón Þórðarsons Þáttr Þrándr ok Sigmundar ist eine fundamental anders angelegte und bewertete Figur als der seines Þorleifs þáttr. Als Erklärung lässt sich dafür vielleicht die Gesamtstruktur der Großkompilation ins Feld führen: Die Færeyinga saga ist an ungleich früherer Stelle in die Handschrift eingebunden als der Þáttr, auf den im Gesamterzählgang bald die Ablösung Hákons durch Óláfr Tryggvason
austr vm hrið. en siðan spyriz ecki til þeira (Fær, S. 38 [Text A; D etwas kürzer]; ›Ich habe erfahren, dass die Brüder junge Söhne hatten. Es gehen verschiedene Erzählungen darüber um: Dass sie auf der Stelle mit ihren Vätern getötet wurden, oder sie sind anders dort auf den Inseln beseitigt wurden. Einige Leute sagen, dass sie hierher nach Norwegen gebracht wurden, und dass sie eine Weile im Osten in der Viken gewesen sein sollen. Aber danach erfährt man nichts mehr von ihnen‹). 251 Vgl. Krakow 2009, S. 57. 252 Vgl. hierzu Würth 1991, S. 78–79; Krakow 2009, S. 48–49; Ashman Rowe 2005, S. 61–62. 253 Vgl. Würth 1991, S. 61, wo sie König Óláfr in seiner Konfrontation mit Hákon in eine Reihe mit Sigmundr und Þorleifr stellt, u. S. 79.
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als König folgt.254 Zwar ist die Darstellung Hákons auch im der Færeyinga saga vorangehenden Ottó þáttr keisara durchweg negativ,255 jedoch wird dieser Teil der Færeyinga saga vom Bericht der Taufe Óláfrs und der Überleitung auf die Jómswikingerschlacht gerahmt, in der Hákon siegreich bleibt. Beide Elemente ließen sich als Abfederung gegen die Notwendigkeit einer betont negativen Darstellung Hákons kategorisieren. Der Hauptprotagonist der Gesamterzählung in Form von Óláfr Tryggvason ist bereits zukunftsweisend zum Christentum übergetreten, während Jarl Hákon vor dessen Rückkehr aus dem Ausland in der norwegischen Reichsgeschichte zunächst durchaus noch Erfolg vergönnt sein wird, indem er das Reich, das Óláfr regieren wird, vor einfallenden Feinden schützt. Diesen Erfolg demonstriert auch der Abschnitt aus der Færeyinga saga, in der Hákon immerhin einen wichtigen Mitstreiter der größten Schlacht seines Lebens für sich gewinnen kann.256 In jedem Fall erweist sich Hákons wenig kritikwürdige Darstellung und die völlig entfallende negative Wertung durch eine Erzählinstanz in der Færeyinga saga als auffällig anders als seine Zeichnung in anderen Teilen des Groß-Codex.257 Er ist hier ein guter Herrscher und keineswegs nur ein verurteilenswerter Heide. Sigmundr erobert sich mit Hákons Unterstützung nach seinem Abschied vom Hof die Macht in seinem Heimatland zurück und überbringt die Entscheidung zwischen sich und Þrándr ohne zu zögern Hákon, obwohl er erst dadurch formalrechtlich den Lehnsanspruch des Jarls in Stein setzt.258 In diesem Moment wandelt Sigmundr selbst die zuvor langwierig gewonnene, relative Gleichstellung mit Hákon als geschätzter Teil seiner hirð in ein formales Lehnsverhältnis um. Hákon formuliert das künftige Verhältnis zwischen den Färöern und sich selbst deutlich: [Þ]ín eígnn skal nu uera helmingr eyianna en helmingr skal fall j minn gard […]. eyíar alla skalltu hafua j len af mer segir j(arl). ok giallda mer skatta af mínum hluta.259 Gewissenhaft hält sich Sigmundr in der Folgezeit an diese Entscheidung und schwächt sich auch dadurch entscheidend selbst im Vergleich mit Þrándr.260 Aus machtpoliti-
254 Vgl. Ashman Rowe 2005, S. 62 zum Status des Þorleifs þáttr in dieser Hinsicht als »darkness just before the dawn«. 255 Vgl. Würth 1991, S. 95–96. 256 Treffen diese Überlegungen zu, unterstützen sie zusätzlich die Annahme bei Krakow 2009, S. 56–57, die Færeyinga saga sei von Jón Þórðarson vor allem mit Blick auf die Jómswikingerschlacht chronologisch in der Großerzählung umgeordnet worden. 257 Als Erklärung ließe sich natürlich auch das Argument einer ursprünglich unabhängigen Textvorlage vorbringen, wie sie die Forschung bisher überwiegend angenommen hat. Die auffallend gegensätzliche Darstellung Hákons in den durch Jón Þórðarson in seine Erzählung aufgenommenen Þættir wäre dann als absichtliche Kontrastinszenierung anzusprechen und näher auf ihre Gründe und Funktion zu prüfen, vgl. hierzu weiterführend auch Kap. 9.2.2. 258 Vgl. auch Guldager 1975, S. 27–28. 259 Fær, S. 60 (›Dein Eigen soll nun die Hälfte der Inseln sein, und die Hälfte soll mir zufallen […]. Die ganzen Inseln sollst du als Lehen von mir haben‹, sagt der Jarl, ›und mir für meinen Teil Steuern bezahlen‹). 260 Vgl. näher Kap. 4.3.3.
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scher Sicht hat Jarl Hákon dadurch eine überaus erfolgreiche Strategie verfolgt: War er zu Beginn nur ein Teilmachthaber auf den Färöern und besaß selbst nur ein kleines Reich um Trondheim, regiert er zum Ende seiner Zeit in der Erzählung über ganz Norwegen und effektiv auch als Oberherr über die gesamten Färöer, auch wenn seinem stellvertretenden skattjarl Sigmundr formal eine Hälfte der Insel persönlich überlassen wird. Diesen Erfolg erreicht Hákon auf recht menschlich anmutende, vor allen Dingen aber gerechte Art und Weise. Er realisiert die sich durch Sigmundr bietende Möglichkeit erneuter und verstärkter Einflussnahme auf den Färöern und nutzt die gegebene Situation bestmöglich aus. Diesen Erfolg erreicht er betonenswerter Weise nicht, indem er Sigmundr irgendeinem Zwang aussetzt, sondern, indem er unmerklich die Ziele beider Männer zu den gleichen macht. Durch die Sigmundr seinerseits erwiesene Unterstützung kann dieser die Rache für den Tod seines Vaters und die Wiedergewinnung seiner legitimen färöischen Herrschaft durchsetzen, wird dafür aber zu Hákons Untergebenem ohne jede Eigenständigkeit. Er gibt seine eigene Handlungsmacht vollkommen an den Norweger ab. Sigmundrs Erfolg bedeutet, gerade aufgrund von Hákons vordergründig gleichberechtigender und freiheitlicher Herrschaftsart, zugleich seine vollständige Abhängigkeit vom Jarl. Ohne eine eigene Herrschaftspolitik oder einen Anspruch auf die Färöer formuliert zu haben, wird Jarl Hákon somit im Rücken von Sigmundr zu ihrem effektiven Herrscher. Er ist so ein realer Machtfaktor auf den Inseln und nicht, wie später seine Söhne oder zuvor Haraldr gráfeldr, lediglich eine Referenzgröße für die Entwicklung der färöischen Situation im Handlungsgang der Saga. Es ist Hákons Entscheidung, die den Konflikt einschneidend verändert und eine neue Ausgangslage schafft. Auf lange Sucht kostet sie zwar Sigmundr das Leben, hebt zugleich aber Þrándrs Alleinherrschaft auf und macht die Färöer wieder zum Teil des norwegischen Reiches – eine Tatsache, die sich für den gesamten Rest der Handlung formal nicht wieder ändert. Der durchschlagende Erfolg von Hákons Machtpolitik kann sich insofern mit Þrándrs eigenem politischen Geschick messen lassen. Dennoch erreicht der Jarl im Gegensatz zu Þrándr seine Macht durch seine Rolle als Musterbild eines rex iustus und nicht aufgrund von Skrupellosigkeit und Egoismus. In der Unaufdringlichkeit seiner Herrschaftsdurchsetzung, die sich beinahe beiläufig zu ergeben scheint, gleicht er jedoch wiederum Þrándr mit dessen hintergründiger, politischer Langzeitstrategie. Im ersten Handlungskreis der Færeyinga saga kann somit Jarl Hákon als Þrándrs fähigster und einziger ihm angemessener Gegenspieler kategorisiert werden – anders aber als später Þóra im Verbund mit Leifr mit einer gänzlich anderen politischen Strategie. Jarl und Färinger spiegeln sich machtpolitisch somit, kontrastieren aber auch deutlich miteinander. Beide sind hingegen annähernd gleich erfolgreich. Im Gegensatz zu Þrándrs späteren Gegnern kann Hákon diesen zwar nicht vollständig ausschalten – ebenso jedoch schafft es auch Þrándr nicht, konkurrenzlos und dauerhaft die Macht an sich zu reißen. So ist die Herrschaftsmacht des Jarls ab dem Zeitpunkt von Sigmundrs Machtübernahme auf den Färöern zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Gefahr. Sein Erfolg ist nicht absolut, aber funktional, und
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dabei höchst effizient, aber unaufdringlich. Hákon ist kein Machtpolitiker, sondern ein fast idealer Herrscher. Er behandelt seine Untertanen mit Respekt und drängt sich und den eigenen Herrschaftsanspruch nicht in den Vordergrund, kann aber gerade dadurch eine erfolgreiche Machtpolitik gestalten, indem er Sigmundrs Situation zu seinem eigenen Vorteil wenden und ihn damit ausnutzen kann. Er lässt Sigmundr zwar das Aufbegehren wegen Haraldr durchgehen, erreicht mit dieser Nachgiebigkeit aber letztendlich erst sein Ziel, die Herrschaft auf den Färöern wieder in Händen zu halten und damit den Verlust seiner Lehnsmänner ersetzt zu bekommen. Hákon kann Freiheiten zugestehen und dennoch die herrschaftlichen Zügel in der Hand behalten. Dies kontrastiert auffällig mit der pointierten Zeichnung des Jarls als Symbolfigur eines finsteren Heidentums in anderen Passagen der überlieferungstragenden Flateyjarbók. Es scheint dementsprechend, als habe entweder der machtpolitische Diskurs, den die Færeyinga saga aufbietet, die Darstellung sogar einer solchen Figur umdiktieren müssen, oder dass Jón Þórðarsons Codex neben seiner christlichen auch eine politische Botschaft zu unterstellen ist.261 Was Hákons Darstellung im Rahmen der Færeyinga saga letztendlich feiert, ist eine Königsherrschaft ohne Zwang, die Umstandssituationen zwar ausnutzt, aber keinen Druck auszuüben braucht und sich eher reaktiv denn aggressiv gestaltet. Ein solcher Herrscher in Norwegen, so wird deutlich, ist in der Lage, die Färöer seiner Dominanz zu unterwerfen, ohne unmittelbar Þrándrs Widerstand hervorzurufen und kann so einen länger andauernden Erfolg genießen – im Gegensatz zu seinen ganz anders als Könige auftretenden Nachfolgern.
7.4.3 Der große Missionskönig: Óláfr Tryggvason als entrückte Hauptfigur Der König, dem die Forschung zur Færeyinga saga seit jeher das größte Interesse entgegegen gebracht hat, ist der christliche Missionskönig Óláfr Tryggvason, obwohl die Christianisierungsepisode im Gesamtzusammenhang der Saga verhältnismäßig klein ist – sie, und damit der Auftritt Óláfrs, umfasst lediglich die Kapitel 28 bis einschließlich 33. Aufgrund der in Óláfrs Regierungszeit erfolgenden Christianisierung der Färöer im Zusammenspiel der traditionellen Ansicht dieses siðaskipti als einem der wichtigsten geschichtlichen Fixpunkte der mittelalterlichen, isländischen Weltsicht 262 sowie bereits der Überlieferungssituation der Færeyinga saga als Interpolation in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta auch innerhalb der Flateyjarbók, überrascht dieser Forschungsschwerpunkt nicht.
261 Vgl. weiterführend auch Kap. 9.2.2. 262 Wie sie Joseph Harris’ Interpretation zu Grunde liegt (Harris 1986, in Bezug auf die Færeyinga saga bes. S. 204) und noch bei Harlan-Haughey 2015 deutlich wird.
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Wie bereits unter 3.6.1 sowie 4.5.1 erörtert, spielt Religion im Plot der Færeyinga saga zwar durchaus immer wieder eine Rolle, keineswegs aber ist die Christianisierung im Sinne einer Scheidewand zwischen einer alten und schlechteren und einer neuen und besseren Zeit stilisiert.263 Der Religionswechsel ist auch durch seine Mittelstellung im Gesamtablauf der Erzählung durchaus als historisch bedeutsamer Moment markiert: Es gibt eine Zeit vor der Eingliederung des Nordens in die christliche Weltgemeinschaft und eine danach. Doch ist dieser Blick auf den Ablauf der Weltgeschichte eher historisch-antiquarischer Natur denn ideologisch eingefärbt. Statt einer Glorifizierung des Glaubenswechsels und einer Verdammung des früheren Heidentums nämlich erweckt die Verwendung religiöser Elemente in der Darstellung des Konflikts auf den Färöern in der Gesamtkomposition des Textes eher den Eindruck einer Diskursivierung der Verbindung »between power, Norwegian overlordship, and the Christian religion.«264 So stirbt Sigmundr, Óláfr Tryggvasons Missionar, bald nach der Bekehrung der Färöer, und Þrándr ist Fokusfigur der Erzählung, obwohl seine Auffassung von Religiosität ebenso zynisch wirkt wie seine politische Agenda. Angesichts dessen scheint es geboten, auch die Darstellung des Verantwortlichen der für die Botschaft der Færeyinga saga insgesamt nur bedingt bedeutsamen Bekehrung näher im Gesamtkontext der Erzählung zu untersuchen. Der Unterschied zwischen Jarl Hákon und Óláfr Tryggvason wird schon bei der ersten Erwähnung Óláfrs scharf markiert, allerdings gerade nicht hinsichtlich deren unterschiedlicher Religionen, sondern hinsichtlich ihres Selbstverständnisses als Herrscher auch auf den Färöern: Þa vm varit gerði konungr orðsendingar vt til Færeyia til Sigmundar Brestis s(onar) ok boðaði honum ꜳ sinn fund. let hann þat ok fylgia orðsendingu at Sigmundr skylldi fara sæmdar fỏr. ok konungr mundi gera hann mestan man i Færeyium ef S(igmundr) villdi geraz hans maðr.265 (Im Frühling danach sandte der König Botschaften auf die Färöer hinaus zu Sigmundr Brestisson und bat ihn an seinen Hof. Er ließ der Botschaft auch folgen, dass Sigmundr eine Ehrenreise antreten sollte, und der König werde ihn zum größten Mann auf den Färöern machen, wenn Sigmundr sein Mann werden wollte.)
Óláfr ruft Sigmundr selbstständig zu sich und bietet ihm Ehre im Austausch für Unterordnung. Er, der König, werde Sigmundr zum größten Mann der Färöer ma-
263 Wie dies implizit etwa hinter der Ansicht bei Glauser 1994, S. 115 stehen dürfte. 264 Bonté 2014b, S. 100. So jedenfalls in der Gesamtredaktion der Flateyjarbók, durchaus im Unterschied zu anderen Textredaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, siehe hierzu auch die genannten Kapitel. 265 Fær, S. 70. Die Flateyjarbók formuliert tatsächlich weniger forsch at Sigmundr skylldi fa sæmdar ok uerda mestr madr i Færeyium ef hann villdi geraz hans madr (Flat I, S. 362, siehe auch Fær, S. 70 Anm. z. Z. 28.5–6; dass Sigmundr Ehre erhalten und der größte Mann auf den Färöern werden sollte, wenn er sein Mann werden wollte). Durch die konsekutive Satzkonstruktion und die alleinige Subjektsetzung Sigmundrs wird der Fokus weniger stark auf die Aktivität Óláfrs gelegt, ohne dass dadurch allerdings der Tenor des Abschnitts substanziell abgeschwächt würde.
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chen. Sigmundrs eigene, vorherige Erfolge und die Tatsache, dass er (nominell) bereits der größte Mann der Färöer ist, bleiben in Óláfrs Perspektive völlig ausgeblendet. Óláfrs erster Auftritt im Zusammenhang der färöischen Geschichte wirkt damit ganz so, als handle es sich bei den Inseln um ein unbesetztes und neu zu vergebendes Lehen, über das Óláfr frei verfügen könne und das er Sigmundr aufgrund von dessen guten Ruf zudenke. Dies illustriert von Beginn an ein völlig verändertes Herrschaftsverständnis des Norwegers im Vergleich zu Jarl Hákon. Jener ist zu Beginn Oberherr einer Hälfte der Färöer, besitzt nach Brestirs und Beinirs Tod bis zu Sigmundrs Etablierung als Herrscher in seinem Namen aber keinerlei Einfluss mehr auf den Inseln. Für Óláfr hingegen scheinen die Färöer bereits a priori zu seinem politischen Einflussbereich zu gehören, sodass er den dortigen Machthaber zu sich bestellen und als Bedingung für fortgesetztes Herrschaftsrecht dessen Unterwerfung verlangen kann. Hákon wird passiv zur faktischen Herrschaftsmacht auf den Färöern, indem sich die Situation zu seinen Gunsten entwickelt, Óláfr macht sich durch sein Auftreten selbst zum Machtfaktor im färöischen Konflikt. Sigmundr folgt der Aufforderung des Königs und gibt diesem so seinen großen Auftritt in der Saga: In einer rhetorisch ausgefeilten Rede, in der Óláfr sein und Sigmundrs Leben in typologische Parallele setzt, bekehrt der König den Färinger allein Kraft seiner Worte zum Christentum.266 Er bietet eine kurzgefasste Rekapitulation des gesamten Lebens beider Männer, und perspektiviert die Geschehnisse völlig neu, indem er sie mit Gottes Willen und Walten kurzschließt: Alles sei með þess fyrir hyggiu ok forsea er alla luti ma geschehen.267 Da er erfahren habe, dass Sigmundr nie am heidnischen Kult beteiligt gewesen sei, sei Óláfr guter Hoffnung, auch er werde sich zum rechten Glauben bekehren, da Gott sich beider Männer bereits angenommen habe laungum tíma fyrr en ek hafði nỏckura vissu af hans dyrð.268 [V]ínattu ok virþing269 verspricht Óláfr Sigmundr für den Fall, ef þu uill sva hlydnaz minum fortỏlum,270 obgleich nur Gottes Ehren die eigentlich lohnenswerten seien. Mit seiner Argumentation überzeugt Óláfr Sigmundr. Er bekennt, dass Óláfrs christlicher Glaube dem heidnischen überlegen sei – zumal er im heidnischen keinen rechten Nutzen erblicke – und bekehrt sich. Dennoch verweist er explizit lobend auch auf Óláfrs Vorgänger Hákon: [V]eitti hann mer gott yfir læti ok vnda ek þa alluell mínu raði. þviat hann var hollt ok heilraðr. ỏrlyndr ok astvðigr sinum vínum. þo at hann væri grimmr ok svikall v vinum sinum.271 Sigmundr zeigt damit bereits
266 Die lange Rede mit all ihren Details soll hier nicht vollständig wiedergegeben werden. Siehe Fær c. 29, S. 70–73; vgl. insgesamt auch Kap. 4.5.1. 267 Fær, S. 71 (›mit der Überlegung und Voraussicht dessen, der alle Dinge beherrscht‹). 268 Fær, S. 72 (›vor langer Zeit, ehe ich irgendein Wissen um seine Würde besaß‹). 269 Fær, S. 72 (›Freundschaft und Ehre‹). 270 Fær, S. 72 (›wenn du meinem Zureden gehorsam sein willst‹). 271 Fær, S. 73 (›Er ließ mir gute Behandlung zu Teil werden und ich war da sehr zufrieden mit meiner Stellung, denn er war gnädig und gab guten Rat. Er war freigiebig und liebevoll gegen seine Freunde. Obgleich er gegen seine Feinde grimmig und hinterlistig war‹).
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beim ersten Zusammentreffen mit Óláfr seine Verpflichtung auf seine Vergangenheit an, die Óláfr für seine Zwecke völlig ausblendet. Gleichzeitig stellt Sigmundr, wie auch Óláfr selbst, seine bisherige Areligiosität als wegbereitendes Moment der Bekehrung heraus.272 Der König argumentiert geschickt und bringt dabei eine völlig neue Sinnperspektive in den Text ein.273 Er stilisiert sich als um Sigmundrs Seelenheil besorgt und reagiert glaðr auf Sigmundrs Einwilligung in den Glaubenswechsel,274 zwingt Sigmundr dadurch aber in eine Abhängigkeitsposition von seiner eigenen Person, die zuvor zu keinem Zeitpunkt derartig gegeben war. Durch die typologische Relation, die Óláfr zwischen sich und Sigmundr eröffnet, erhebt er seinen Untertan verbal zum ihm selbst Gleichgestellten.275 Im Gegensatz zu Jarl Hákon erkennt Óláfr Sigmundr aber keinesfalls als real gleichwertig an, im Gegenteil: »Den tro, der tilbydes Sigmund, er egentlig en tilbud om en plads i [en] hierarki.«276 Freundschaft und Ehrbezeugungen erhält Sigmundr von Óláfr lediglich für den Fall, dass er auf ihn hört, sich Gott also unterordnet, und damit auch Gottes Apostel in Person des Königs selbst.277 Für den König Óláfrs ist die Verbindung von Unterwerfung und Christianisierung unvermeidlich, und so ist er es, der beides betreibt. Nachdem Sigmundr auf Óláfrs Angebot eingangen ist, zeigt sich die neue Rollenverteilung zwischen Herrscher und Untergebenem: War es nach seiner Etablierung an Hákons Hof noch Sigmundr selbst, von dem die Initiative ausging, auf die Färöer zurückkehren zu wollen, liegt die Aktivität nun ganz in den Händen von Óláfr. Sigmundr wird getauft ok let konungr kenna þeim heilỏg fræði. […] En er hausta tok. sagði konungr S(igmundi) at hann uill senda hann vt til Færeyja at kristna þat folk er þar byggir. Sigmundr mæltiz undan þvi starfi. en iátti þo vm siðir konungs uilia. skipaði konungr hann þa valldz mann yfir allar Færeyiar. ok feck honum kenni menn at skira folkit ok kenna þeim skylld fræði.278 (und der König ließ ihnen die Heilige Lehre beibringen. […] Aber als es Herbst wurde, sagte der König, dass er ihn hinaus auf die Färöer senden will, um alles Volk, das dort wohnte, zu christianisieren. Sigmundr redete sich aus dieser Aufgabe heraus, aber nahm doch mit der Zeit den Willen des Königs an. Der König erklärte ihn da zum Machthaber über alle Färöer und beschaffte ihm Priester, um die Leute zu taufen und ihnen die notwendige Lehre beizubringen.)
Sigmundr weist hier keinen eigenen Willen auf, er versucht lediglich, dem des Königs zu entgehen, doch Óláfrs neue Ordnung ist definitiv. Der König lässt ihn in seinem 272 Zum fortitudo-Topos vgl. Lönnroth 1969; Weber 2001b. Zu seiner Bedeutung für die SigmundrFigur vgl. näher Kap. 4.5.1. 273 Vgl. auch Guldager 1975, S. 30–34. 274 Fær, S. 73 (fröhlich). 275 Vgl. Guldager 1975, S. 30. 276 Guldager 1975, S. 30 (Der Glaube, der Sigmundr angeboten wird, ist eigentlich das Angebot eines Platzes in [einer] Hierarchie). 277 Vgl. Guldager 1975, S. 29–30; vgl. auch Bick 2005, S. 7; insgesamt Bonté 2014b, S. 100–105. 278 Fær, S. 73.
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Sinne unterweisen, der König schickt ihn als Missionar seines Glaubens auf die Färöer und stattet ihn mit dafür nötigen Ressourcen aus. Damit offenbart Óláfr schnell den eigentlichen Hintergrund seiner zuvor aufwendig ausgestalteten Bekehrungsbemühungen um Sigmundr: Er will ihn von Anfang an als Missionar der Färinger einsetzen,279 und damit – stillschweigend – seinen eigenen Macht- und Einflussbereich als Missionskönig auch faktisch auf die Färöer ausdehnen. Erst im Moment von Sigmundrs Einwilligung in seine Missionsbotschaft gibt ihm Óláfr die Position als valldz mann yfir allar Færeyiar, obwohl dieser sie vor Óláfrs Auftritt eigentlich bereits besessen hat. Dadurch macht er Sigmundr zu »not so much an echo of his Norwegian patron as an active embodiment of Óláfr Tryggvason’s own authority«.280 Aus Óláfrs Perspektive ist Sigmundr weiter nichts als Repräsentant und Implementationswerkzeug eines neuen, nämlich seines eigenen, »zentralistische[n] und feudalaristokratische[n]«281 Herrschaftssystems. Diese Botschaft kristalliert sich in Óláfrs Rede, wie bereits Guldager umfänglich ausarbeitet 282 – eine christlich überformte Weltsicht zweifelsohne, jedoch vor allem ein darin begründetes, politisch absolutes Herrschaftsverständnis. Óláfr sieht sich als das Gesicht einer neuen Zeit, in der herrschaftliche Autorität ebenso wie der Ablauf der Weltgeschichte göttlich begründet sind, worauf sein biographischer Gottesbezug abzielt. Er versucht erfolgreich, Sigmundr zum Angehörigen dieser neuen Epoche zu machen, aber inwiefern er allein um dessen Seelenheil besorgt ist, bleibt im Angesicht des weiteren Verlaufs fraglich. Er braucht Sigmundr, zum christlichen Missionar umgeformt, um seine eigenen Ziele, die Implementation dieser neuen Epoche im gesamten Norden und damit stillschweigend auch seine eigene politische Autorität, durchsetzen zu können. Die Konversion Sigmundrs und der restlichen Bevölkerung der Färöer wird damit zur politischen Unterwerfung und formellen Anerkennung der unumschränkten Deutungshoheit und Herrschaft des Königs. Das Verhältnis beider Männer ist insofern wenig mehr als ein »Zweckbündnis«,283 in wechselseitiger Perspektive. Durch den Anschluss an Óláfr erhält auch Sigmundr zusätzliche und offiziell legitimierte Herrschaftsautorität, die er benötigt, um sich auf den Färöern weiter mit Þrándr messen zu können. Damit ausgestattet, kann er seinen Widersacher zudem der größten Schande aussetzen, die dieser in der Færeyinga saga jemals hinnehmen muss, seiner Zwangsbekehrung.284 Darüber hinaus ist Sigmundr auch in seiner persönlichen Disposition jenseits seines edlen Heidentums für die Rolle prädestiniert, die ihm Óláfr zukommen lässt: Mit seinem Kriegerethos eignet er sich hervorragend für dasjenige ›Gotteskriegertum‹, das Óláfr einfordert. Er fügt sich seinem also neu-
279 280 281 282 283 284
Vgl. Guldager 1975, S. 29. Bonté 2014b, S. 103. Glauser 1994, S. 115. Vgl. Guldager 1975, bes. S. 29–38. Bick 2005, S. 7. Vgl. hierzu näher Kap. 3.6.1, Kap. 4.5.1 u. Kap. 4.3.3.
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en König und kann nach Überstehen einiger Schwierigkeiten mit ebenso brutalen Mitteln wie Óláfr in Norwegen selbst 285 die Bekehrung der Inseln sowie seine eigene fortgesetzte Herrschaft – das konungs erendi286 – durchsetzen. Doch gelingt ihm fatalerweise nicht die Durchsetzung von Óláfrs (und damit Norwegens) unumstößlicher Herrschaft auf den Färöern, da er Þrándr weder tötet noch ihn an Óláfrs Hof bringen kann. Óláfr bedauert das: [Þ]at er illa er Þrandr kom eigi ꜳ minn fund. ok spillir þat miok bygð yðvari vt þar ieyínunum er hann uerðr eigi þaðan braut flæmdr. þviat þat er ætlan mín at þar siti hinn versti maðr einn hverr ꜳ norðr lỏndvm er hann er.287 (›Es ist übel, dass Þrándr nicht an meinen Hof gekommen ist. Und es verdirbt eure Siedlung dort draußen auf den Inseln sehr, wenn er nicht vertrieben wird. Denn es ist meine Ansicht, dass dort der schlimmste Mensch in den Nordlanden sitzt, wo er ist.‹)
Zum Bruch zwischen Óláfr und Sigmundr kommt es allerdings nicht wegen dieser herrschaftstechnischen Unvollkommenheit Sigmundrs. Diese ist aus Óláfrs Sicht ob der Durchsetzung seiner eigentlichen Ziele in Form der Sicherung seiner Herrschaft durch den politischen Akt der Konversion von minderer Bedeutung. Virulent wird erst der Moment, in dem Sigmundr sich wegen seiner Vergangenheit aktiv dem Willen des Königs verweigert. Der Konflikt entzündet sich an Sigmundrs Ring der Þorgerðr.288 Óláfr sieht den Ring auf einem Gelage an Sigmundrs Arm und bittet ihn, ihm diesen zu geben. Doch Sigmundr händigt den Ring seinem König nicht aus, obwohl dieser ihm einen gleichwertigen als Ersatz anbietet: Ek skal gefa þer annan hring imot s(egir) konungr. ok skal sa huarki minni ne vfriðari. Eigi mun ek þessum logha. s(egir) Sigmundr. þvi het ek Hakoni j(arli).289 Wie im Moment der Bekehrung spricht Sigmundr erneut sehr freundschaftlich verbunden von seinem früheren Herrn: [V]el gerði hann til mín marga luti.290 Mit diesen Worten stellt Sigmundr unter Beweis, dass ihm die reale Freundschaft mit Jarl Hákon, samt der unter ihm möglichen, größeren Selbstbestimmtheit, mehr bedeutet als das Bündnis mit seinem neuen König.291 Damit konfrontiert [v]ar konungr þa ravðr sem dreyri i andliti. […] Ok alldri siþan varð konungr iafn blið[r] við Sigmund sem aðr.292 Óláfr eröffnet eine implizite religiöse Perspektive auf den Ring und eine diesbezügliche Dichotomie zwi-
285 Vgl. Bonté 2014b, S. 103. 286 Fær, S. 75 (den Auftrag des Königs). 287 Fær, S. 78–79. 288 Vgl. hierzu Kap. 4.5.2. 289 Fær, S. 79–80 (›Ich werde dir einen anderen Ring dafür geben‹, sagt der König, ›und der soll weder kleiner noch weniger schön sein.‹ – ›Ich werde diesen nicht hergeben‹, sagt Sigmundr. ›Das versprach ich Jarl Hákon‹). 290 Fær, S. 80 (›Er tat viel Gutes für mich‹). 291 Vgl. Bick 2005, S. 7–8. 292 Fær, S. 80 (war der König da blutrot von Angesicht. […] Und niemals danach war der König ebenso milde gegen Sigmundr wie zuvor).
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schen sich selbst und Hákon, die in der Forschung mintunter zur Bruchstelle der Destillation der Saga-Ideologie erhoben wurde.293 Er verfährt damit in der gleichen Argumentationsweise wie in seiner Rede zur Bekehrung Sigmundrs: Er, Óláfr, ist im Besitz der Deutungshoheit und könne Sigmundr eine besseres Los zuteilwerden lassen – wenn Sigmundr sich seiner Autorität unterwirft. Die implizite, religiöse Perspektive auf den Ring als Todesursache Sigmundrs ist dabei jedoch alleine die Óláfrs.294 Tatsächlich dürfte jedoch Sigmundrs Höherbewertung seines Vorgängers und vor allem der Widerstand gegen seine hierarchisch übergeordnete Position für Óláfr ebenso schwer wiegen. Das sich hierbei für Óláfr eröffnende Problem ist weniger das Festhalten seines Lehnsmanns an einer heidnischen Vergangenheit, sondern das Festhalten an seiner Vergangenheit an sich. Durch seine Rede und Sigmundrs Einordnung in deren Ideologie hat Óláfr versucht, Sigmundrs Vergangenheit zu tilgen, indem er sie typologisch auf sich bezogen ausdeutet und Sigmundr somit zu einem Abbild seiner selbst, faktisch zum Werkzeug seines Willens, umgestaltet.295 Durch sein Festhalten am Ring als Symbol des gütigen und guten Jarl Hákon aber beweist Sigmundr, dass er seine Vergangenheit nicht vergessen will.296 Trotz seiner völligen Unterordnung unter das norwegische Herrscherhaus verfügt er noch immer über einen Rest des Selbstbewusstseins und des Willens zur Eigenständigkeit,297 das er in der Konfrontation mit Jarl Hákon vor seinem Herrschaftsantritt auf den Färöern kurz unter Beweis gestellt hat. Óláfrs Herrschaftsverständnis kann eine solche Auflehnung nicht dulden, weil sie sich der absoluten Deutungshoheit verweigert, die es einfordert. Wenn Óláfrs Herrschaft den Willen Gottes repräsentiert, so ist es untragbar, dass sich ein Untergebener seiner Weisung entzieht. Die göttliche Weltordnung, die Óláfr an ihre Spitze setzt, wäre damit in Frage gestellt, insbesondere, wenn sich die Differenz an einem heidnisch aufgeladenen Gegenstand auftut. Gegen diese Absolutheit rebelliert Sigmundr jedoch. Dadurch wird er für Óláfrs Ideologie unbrauchbar und stirbt daher auch, nachdem Óláfr selbst nicht mehr der Herrscher Norwegens ist. Keineswegs aber stirbt Sigmundr nur aufgrund dieser vom König ausgehenden Ideologie, jedenfalls nicht im Gesamttext der Flateyjarbók.298 In den weiteren Versionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta bleibt die vom König eingebrachte Deutungsperspektive und Ideologie bestehen. Der Text der Færeyinga saga wird hier dementsprechend gestaltet, dass Óláfrs Eingriff und Missionserfolge auf den Färöern den Höhepunkt der Erzählung darstellen. Sigmundrs gesamte Existenz wird maßgeblich auf das Zusammen-
293 Vgl. etwa Guldager 1975, S. 35–38; Harris 1986, S. 208–209; Glauser 1989, S. 217. 294 Vgl. Kap. 4.5.1 u. Kap. 8.3.3. 295 Vgl. auch Guldager 1975, S. 30–34 u. S. 36–37. 296 Vgl. Guldager 1975, S. 36; Bick 2005, S. 7. 297 Zu Sigmundrs Bemühen um eine relative Eigenständigkeit (auch wenn sie wirkungslos verbleibt) vgl. auch Niedner 1929, S. 17. 298 Vgl. Kap. 4.5.2.
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treffen mit Óláfr hin ausgestaltet und Þrándr ist ein abqualifizierter Widerständler,299 den Óláfrs Bekehrungsbemühungen überwinden können. Der König ist hier die eigentliche Instanz, auf die die Sinnbildung und Struktur der Gesamterzählung hinausläuft. Er ist der eigentliche Protagonist, der vorhergehende Erzählstrang von den Färingern und ihrem Streit um ihre Heimatinseln nur eine Digression, die den Auftritt der Hauptfigur dieser Zusammenhänge vorbereitet. Was eigentlich erzählt wird, ist die Saga des Missionskönigs Óláfr Tryggvason, und ein Teil dieser ist auch die Bekehrung der Färöer, die durch seine Hand im Namen Gottes vollbracht wird. In der ungleich längeren und komplexeren Flateyjarbók hingegen ergeben sich diesbezüglich unübersehbare Brüche. Die Geschichte von den Färöern ist hier weniger Zusatz zur Biographie von Óláfr Tryggvason, sondern eigenwertiger Erzählkomplex. Allein durch die Tatsache, dass die Erzählung nach Óláfrs Ausscheiden aus ihr noch Jahrzehnte erzählter Zeit weitergeführt wird, ändert sich fundamental die Perspektive. Nicht der Blick auf die Färöer ist hier Digression, sondern Óláfrs Auftritt im Gesamterzählzusammenhang über die Färöer. Sein Diener Sigmundr stirbt nur kurze Zeit nach seiner Begegnung mit Óláfr in einem viel weiter ausgreifenden Machtkampf und verursacht dieses Ende durch eigenes Verschulden selbst. Angesichts der hier später noch berichteten Entwicklungen wirkt auch die tatsächliche Wirkung der Bekehrung auf den Färöern fragwürdig.300 Letzten Endes scheitern hier Óláfr und sein Versuch der politischen Neuordnung der Färöer. Nach dem Auftritt, in dem er seine Macht durch Sigmundrs Mission demonstrieren und die Färöer damit unter seine königliche Deutungshoheit unterwerfen kann, entgleiten die Inseln, die hintergründig noch immer von Þrándr beherrscht werden, wieder der norwegischen Kontrolle. Beide Männer, der König und Sigmundr als sein Diener, ergänzen sich nur im Moment der Christianisierung in einem kurzfristigen, dafür aber absolut erscheinenden Erfolg, dem erreichten Glaubenswechsel der Färöer. Längerfristig aber sind ihre Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Die Christianisierung erscheint im Licht dieser Beobachtungen in den Machtdiskurs der Færeyinga saga der Flateyjarbók integriert. Im Gesamtzusammenhang der Saga verbleibt die Christianisierung mehr Episode denn langfristig einschneidendes Ereignis. Auf Verhalten und Wertnormen der Figuren hat sie keinen konkreten Einfluss. Im Gegenteil wird auch der Missionskönig Óláfr Tryggvason als politischer Akteur fokussiert und die Missionsaktivität in diese politische Dimension seiner Figurendarstellung integriert. König Óláfrs politische Agenda, die in seiner Rede zu Tage tritt, ist auf Absolutheit hin ausgerichtet und er instrumentalisiert die christliche Religion in ihrer Verfolgung ebenso wie Þrándr seine heidnische. Innerhalb der Christianisierungsepisode spiegelt der norwegische König somit den färöischen Po-
299 Siehe jeweils Kap. 4 u. Kap. 3. 300 Vgl. Bonté 2014b, S. 103. Dies äußert sich vor allem in Þrándrs explizit vermerktem Abfall vom christlichen Glauben, seiner verballhornten christlichen Lehre sowie seiner um Sigmundrs Tod verstärkt berichteten magischen Begabung, vgl. hierzu näher Kap. 3.6.
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litiker und dessen Vorgehen ebenso wie zuvor – und erfolgreicher – Jarl Hákon. Er ist ein machtvoller Akteur, gewinnt seine Stellung aber durch offensiven Nachdruck, Gewalt und Zwang, aktiv, ›heroisch‹ und im Geiste eines Kriegers, das heißt auf die gleiche Weise wie Sigmundr. Im Gegensatz zu Hákons mit glücklicher Hand gefügter Herrschaftsdurchsetzung oder Þrándrs Strategie von meisterhafter Taktik und Intrige nimmt Óláfr sich seine Macht im Selbstverständnis als göttlicher Gesandter. Damit hat er Erfolg, aber ebenso wie Sigmundr ist der Erfolg des Kriegers – in Óláfrs Fall des Gotteskriegers – nur von kurzer Dauer und kann sich in seiner absoluten Formulierung nicht mit langfristig wirksamen Herrschaftskonzepten messen lassen. Der Tod Sigmundrs nach Óláfrs eigenem beweist zwar auch in der Flateyjarbók die Wahrheit der über den Ring getroffenen Prophezeiung des Königs, zeigt Óláfrs Herangehensweise aber auch als ineffektiv. Seine definitive Hierarchie ist nur oberflächlich wirksamer als Þrándrs oder Hákons viel unauffälligere und vorderhand freiere, aber langfristige Art von Herrschaft und ihrer Durchsetzung. Dabei tritt Óláfr in dem Erzählabschnitt, in dem er erscheint, nichtsdestoweniger so direkt und nachdrücklich auf, dass es gerechtfertigt scheint, ihn auch in der Flateyjarbók als eigentlichen Protagonisten dieses Abschnitts zu definieren. Alle Handlungsaktivität geht von ihm aus, sein Ziel wird durchgesetzt, alle anderen Figuren der bisherigen Erzählung scheinen im Vergleich zu ihm randomisiert. Sigmundr wird von ihm zum bloßen Werkzeug gemacht, Þrándr kann der Bekehrung letzten Endes nicht widerstehen. Deutlich wird an dieser Darstellung die Tatsache, dass der entsprechende Textabschnitt der Færeyinga saga letztlich auch in der Flateyjarbók Teilstück der größeren Saga über Óláfr selbst ist – aus Perspektive der Óláfs saga Tryggvasonar ist selbstverständlich der König die Hauptfigur des Geschehens.301 Óláfrs Auftritt bedeutet in Rück- und Vorbezug auf die weitere Einbindung der Færeyinga saga innerhalb der Flateyjarbók den Versuch, die Erzählung neu zu gestalten. Die in Óláfrs Rede zum Ausdruck gebrachte Neuperspektivierung der vorangegangenen Handlung zieht eine christliche Ideologie in den Text ein, mit dem sie versucht, die Vergangenheit auszulöschen. Der König bemüht sich durch die Bekehrung Sigmundrs im weitergehenden Erzählzusammenhang der Færeyinga saga damit gewissermaßen, selbst einen erneuten, narrativen Nullpunkt zu kreieren. Über die Christianisierungsszene scheint so versucht zu werden, die Deutungsperspektive des Königs in eine bereits sehr intrikat verstrickte Erzählung einzubringen und sie umzuordnen. Óláfrs Auftritt ergibt damit einen diskursiven Versuch, die Entwicklung des Erzählgangs in die von Óláfr ausgedrückten und vorgesehenen Bahnen zu lenken. Die Absicht des christlichen Königs ist es, durch die Implementation eines religiös letztbegründeten Deutungsrahmens die Entwicklungen, die das Gesamtgeschehen der Færeyinga saga vor seinem Regierungsantritt ausmachen, vollständig neu sinnzubesetzen.302 Gewissermaßen wird durch die Darstellung seitens
301 Vgl. auch Würth 1991, S. 62. 302 Vgl. Guldager 1975, S. 30–34 u. S. 36–37.
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der Erzählstimme also der Versuch unternommen, die Færeyinga saga entsprechend der Diskursperspektive der umschließenden Saga, die den Namen Óláfrs trägt, zu integrieren. Die Grundsatzideologie des Überlieferungsträgers der Færeyinga saga, der Óláfs saga, bemüht sich, die in sie eingebundene Erzählung zu entkräften. Damit scheitert sie aber letztendlich ebenso wie auf der Handlungsebene Óláfr und Sigmundr, aufgrund von eben dessen Verweigerung gegenüber der vollständigen Umwertung des bisherigen Geschehens. Anstatt ineinander aufzugehen, wie in anderen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, verhalten sich beide Texte in der Flateyjarbók so auf den ersten Blick widerstreitend zueinander, es ergeben sich diskursive Bruchsituationen. Die Færeyinga saga in der vollständigen Gestalt ihrer Überlieferung kann in den Sinnrahmen der Óláfs saga Tryggvasonar allein nicht restlos assimiliert werden. Der Texteinbindung muss daher ein anderer Sinnrahmen zuzuschreiben sein,303 der jedoch für den Auftritt Óláfr Tryggvasons suspendiert wird. Nur die Christianisierungssequenz allerdings, kein eigens benamter Þáttr der Færeyinga saga, ist vollständig in die Lebensgeschichte des Königs integriert.304 Vom umfangreicheren Rest der Erzählung bleibt die Gestalt des Königs somit weitgehend distanziert. Der Gesamttext der Færeyinga saga erweist sich also als widerständig gegen den als ›Kaperungsversuch‹ seiner Ideologie einzustufenden Eingriff durch Óláfr – und damit auch desjenigen Textes, der ihn inkorporiert. Deshalb bleibt auch Óláfr im Gesamtzusammenhang hier nur Nebenakteur. Im so möglichen Vergleich der norwegischen Herrscher scheint Óláfr auch wegen seiner absoluten Stilisierung und der Kürze seiner Präsenz in der Erzählung viel ungreifbarer und zurückgezogener als Jarl Hákon. Er ist den Rezipienten durch die geringe Erzählzeit weniger nahegebracht als der Jarl und erscheint darum auch als Figur weniger abgerundet. Óláfrs Präsenz in der Erzählung wirkt im Zusammenspiel aller Textteile wie ein Ausflug der Erzählung in eine ›andere Welt‹ von Sinnzusammenhängen. Seine Regierung mit ihrer abrupten Neuordnung der Dinge und ihrer unnachgiebigen Durchsetzung erscheint als Gastspiel plötzlich einfallender, neuer Möglichkeiten. Aufs Ganze gesehen jedoch bleibt Óláfrs Eingriff auf den Färöern nicht mehr als Zwischenspiel einer fernen, nur sich selbst Bedeutung einschreibenden Instanz, die keine langfristige Folge im Erzählgang für sich in Anspruch nehmen kann. Im wahrsten Sinne des Wortes bildet die Christainisierungsepisode so ein Moment narrativer ›Anderweltlichkeit‹ im Gesamtzusammenhang aus, die in sich unangreifbar, im weiteren Kontext aber peripher erscheint. Die Erzählung begibt sich dorthin, kehrt jedoch bald aus der fernen Welt religiös fundierter Bedeutungszuschreibung und Weltdeutung zurück in die harte Welt politischer Zusammenhänge. König Óláfrs Regierungszeit etabliert so einen neuen Zugang zur Thematik politischer Herrschaft in der Færeyinga saga, doch die Episodenhaftigkeit dieses Zeitabschnitts macht Óláfr Tryggvason statt wie von ihm selbst gewünscht
303 Siehe weiterführend auch Kap. 9.2.2. 304 Vgl. Würth 1991, S. 62–63.
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zum absoluten Herrscherbild zur insgesamt entrückt wirkenden Figur eines letztendlich verworfenen Versuchs. In seiner Vehemenz gleicht sein Auftritt nichtsdestoweniger dem einer eigentlichen Hauptfigur ›seines‹ Abschnitts.
7.4.4 Óláfr Haraldsson, der scheiternde Polit-›Heilige‹ Óláfr Haraldsson, der Heilige, ist der dritte und letzte norwegische Herrscher, der direkt an der Konfliktsituation auf den Färöern beteiligt ist, auch er, wie alle anderen, narrativ handlungsauslösend. Durch seinen Eingriff in die Angelegenheiten auf den Inseln entspinnt sich die Situation, die zum Ende des Konflikts führt und Leifr an die alleinige Macht befördert.305 Dabei agiert er ebenso wie Óláfr Tryggvason und in Abgrenzung zu Jarl Hákon: Sein Vorgehen wirkt noch direkter als das seines Namensvetters. Óláfrs Intervention ist nicht an eine bereits gegebene Konfliktsituation oder eine etablierte färöische Figur geknüpft, sondern bleibt deutlich als Aktion von außen erkennbar und leitet erzählerisch eine gänzlich neue Situation ein. Deutlicher als zuvor tritt Óláfr der Heilige selbst in Konkurrenz zu Þrándr um die Herrschaftsposition auf den Färöern, oder versucht dies wenigstens, denn auch sein Versuch der Einflussnahme auf den Inseln scheitert letztendlich. Óláfr tritt ebenso unvermittelt und definitiv auf die erzählerische Bühne der Færeyinga saga wie sein Namensvetter und Vorgänger Óláfr Tryggvason. Beinahe ohne einleitende oder überleitende Worte setzt der Abschnitt der Færeyinga saga innerhalb der Óláfs saga helga ein. Im Unterschied zu den anderen Versionen des Textes schaltet die hier im Zentrum stehende Flateyjarbók-Redaktion zwar einen kurzen Prolog mit einigen wenigen Worten zu Óláfrs Erfolgen als skatt konungr ein306 und schwächt den unvermittelten Stoffwechsel damit etwas ab, hebt damit aber nicht die Abruptheit von Óláfrs Auftritt im Kontext der Færeyinga saga auf. Im Gegenteil wirkt durch den Zusatz sogar Óláfrs Besteuerungsversuch – und sein umfängliches Scheitern – umso pointierter herausgehoben. Wenn es einleitend heißt, Óláfr habe außer auf Island von allen norwegischen Tributländern Steuern erhoben, um im Anschluss eindringlich seine Erfolglosigkeit auf den Färöern auszuerzählen, wirkt die zuvor gemachte Ankündigung geradezu ironisch.307 Es heißt dann:
305 Vgl. Kap. 6.3. Zur Gesamtsituation und ihrer Entwicklung siehe auch Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3. 306 Flat II, S. 241, siehe auch Fær, S. 90 Anm. z. Z. 43.2: Rettliga hafa frodir menn suo ritat ok sannliga sagt at olafr konungr hafui skatt gilld ỏll þau lond er nu liggia undir noreg. vtan island. fyst orknneyíar hialtland fær eyiar grænland sem fyrr var ritat um orknneyiar (Richtigerweise haben weise Männer geschrieben und wahrheitsgemäß berichtet, dass König Óláfr alle die Länder tributpflichtig gemacht habe, die jetzt unter Norwegen liegen. Außer Island. Erst die Orkneys, die Shetlands, die Färöer und Grönland, wie zuvor geschrieben wurde über die Orkneys). 307 Würth 1991, S. 63 erkennt in der Einleitungspassage nur eine funktionale Rechtfertigung der Textaufnahme.
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[C]omu utan af Færeyiom til Noregs at orðsending Olafs konungs Gilli logsogo maðr. Leifr Ozurar s(on). Þoralfr or Dimon oc margir aðrir bonda s(ynir). […] En er þeir Færeyingar comu a fund Olafs konungs þa call(aði) hann þa a tal oc atti stefno við þa. lꜹc hann þa | up við þa ørendi þꜹ er undir biogo ferðini oc s(egir) þeim at hann villdi hafa scatt af Færeyiom. oc þat með at Færeyingar scyldo hafa þꜹ log sem Olafr konungr setti þeim.308 (Von draußen auf den Färöern kamen auf Geheiß König Óláfrs Gilli der Gesetzessprecher, Leifr Ǫzurarson, Þórálfr aus Dímun und viele andere Bauernsöhne. […] Aber als die Färinger an den Hof König Óláfrs kamen, da rief er sie zum Gespräch und hielt ein Treffen mit ihnen ab. Er verkündete da eine Botschaft an die, die die Fahrt unternahmen und sagt ihnen, dass er Steuern von den Färöern haben wollte. Und außerdem, dass die Färinger die Gesetze haben sollten, die König Óláfr ihnen gebot.)
König Óláfr Haraldsson ruft vollkommen selbstverständlich erscheinend die färöischen Großen an seinen Hof und sie folgen seinem Ruf – bis auf Þrándr, der, absichtlich oder aus tatsächlicher Krankheit,309 die Reise nicht antreten kann und Óláfrs herrschaftlicher Autorität so entgeht. Für alle Beteiligten scheint Óláfrs Recht zur Einflussnahme auf den Färöern nicht zur Debatte zu stehen, obwohl mit Sigmundrs Tod und Þrándrs erneuter alleiniger Vorherrschaft die Inseln wieder aus dem norwegischen Herrschaftsverbund herausgelöst sind. Nominell scheint das Herrschaftsrecht aber auch nach dem Tod des färöischen Stellvertreters norwegischer Interessen auf den Färöern in Person Sigmundrs in Norwegen verblieben zu sein. Óláfr macht von dieser Tatsache sehr machtbewusst Gebrauch und lässt dabei keinen Zweifel an seiner uneingeschränkten Macht zu: [E]n a þessi stefno fanz þat a orðum konungs at hann mundi taca festo til þesa máls af þeim færeyscom monnom er þa voro þar comnir.310 Er wählt die Männer aus, er honum þótto þar agæztir. at þeir scyldo geraz honum handgengnir oc þigia af honum metorð oc vinátto.311 Er entbietet den Färingern Ehre und Freundschaft im Sinne eines Lehnsbündnisses, verlangt dafür aber ihre vollständige Unterordnung. Sie sollen ihm handgengnir werden, wörtlich also unter seine Hand gehen, sich ihm ausliefern und Werkzeuge seines Willens werden. Dabei virþiz sva orð konungs sem grunr mundi a vera hvernog þeirra mál mundi snuazc ef þeir vildi eigi undir þat alt ganga sem konungr beiddi þa.312 König Óláfr taktiert bei der Implementierung seines Einflusses auf den Färöern nicht unmerklich, aber erfolgreich, wie Jarl Hákon, noch versucht er nach dem Bild
308 Fær, S. 90–91. 309 Vgl. näher Kap. 3.4.4 (bes. Fn. 244 u. 261). 310 Fær, S. 91 (Doch bei diesem Treffen war es in den Worten des Königs vorhanden, dass er sich hinsichtlich dieser Angelegenheit feste Zusagen von den Färingern geben lassen würde, die da dorthin gekommen waren). 311 Fær, S. 91 (die er für die Herausragendsten hielt, dass sie in seine Dienste treten sollten und von ihm Ansehen und Freundschaft erhalten sollten). 312 Fær, S. 91–92 (schienen die Worte des Königs so, als bestünde Zweifel dabei, wie sich ihre Angelegenheit verhalten werde, wenn sie sich nicht all dem beugen wollten, was der König von ihnen verlangte).
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Óláfr Tryggvasons den gesamten Narrationsverlauf gleichsam an sich zu reißen und ihm eine neue Bedeutungsebene einzuschreiben, die ihn selbst an die Spitze stellt, indem er eine christliche Perspektive einführt. Wenn Óláfr dem Heiligen überhaupt an einer Mehrung des Christentums gelegen ist,313 so ist es »his style to impose Christianity as a tax infrastructure, not an evangelical mission.«314 Entsprechend findet sich in den indirekt wiedergegebenen Worten Óláfrs keinerlei Hinweis auf eine religiöse Dimension seiner Herrschaft, im Gegenteil. Es ist seine persönliche Macht als Oberhaupt Norwegens, aufgrund derer er die Färinger zu seinen Untertanen machen kann und will, und um sie zu definieren, braucht er anders als Óláfr Tryggvason nicht das Mittel des christlichen Glaubens. Die notwendige Autorität ist seinem Herrschaftsverständnis bereits a priori eingeschrieben. Dieses ist völlig politisch und, obwohl Óláfr »der Heilige« ist, zu keinem Zeitpunkt religiös motiviert. In dieser Darstellung wird das Prisma der Heimskringla und der unabhängigen Óláfs saga helga deutlich, die den König grundsätzlich als weltlichen Wikingerherrscher statt als Heiligen behandeln, im Unterschied zu den diversen hagiographischen Traditionen.315 Stark fällt die Zentrierung der Narration auf die Aktivität des Königs und die Definitivität seiner Taten und Worte auf. Óláfr ist fast durchgängig als Subjekt gesetzt: Er ruft die Färinger an seinen Hof, er bittet sie zum Gespräch, er eröffnet ihnen seine Pläne, er fordert die Steuern ein, er ist es, der den Färingern ein neues Gesetz geben will. Bei den hier genannten Gesetzen scheint weniger ihre norwegische oder christliche Natur wichtig,316 sondern viel mehr ihre Bindung an Óláfrs Person als absolut gesetzter König. Seine königliche Autorität ist es, die die politische Situation auf den Färöern nach seinen Plänen ordnen soll: Ihre Großen sollen seine Dienstmannen werden, ihm sollen Tribute gezahlt werden und seine Gesetze sollen auf den Inseln gültig sein. Damit etabliert sich Óláfr selbst nicht allein als Machtfaktor auf dem nordatlantischen Archipel, sondern er verortet sich als
313 Die Óláfs saga helga schaltet in einigem Abstand zum Bericht von Óláfrs Interaktion mit den Färingern zur Erklärung seiner steuerlichen Ausgriffe aus dem norwegischen Reich heraus allerdings erklärend eine christliche Begründung ein: Víða af lǫndum spurði [konungrinn] at siðum manna þá menn, er gløggst vissu, ok leiddi mest at spurningum um kristin dóm, hvernug haldinn væri bæði í Orkneyjum ok á Hjaltlandi ok ór Færeyjum, ok spurðisk honum svá til sem víða myndi mikit á skorta, at vel væri (ÓHHkr, S. 74 = Flat II, S. 49; Weithin von den Landen erkundigte sich [der König] nach den Sitten der Leute bei den Männern, die am besten Bescheid wussten, und er fragte am meisten nach dem Christentum, wie es um seinen Erhalt auf den Orkneys, den Shetlands und den Färöern stünde. Und er erfuhr, dass vielerorts einiges dazu fehlen würde, dass es gut sei), siehe bereits Kap. 4.5.1 (Fn. 352). Effektiv wird die damit implizite Ankündigung, Óláfr wolle sich um die Besserung der Glaubenssituation kümmern, im Rahmen der Færeyinga saga allerdings nie. Ebenso wie die oben genannte Vorrede des Abschnitts in der Flateyjarbók wirkt diese Ankündigung hingegen eher ironisch. 314 North 2005, S. 69. 315 Als Überblick über diverse Darstellungsstrategien Óláfrs in der altnordischen Literatur und den Abweichungen der Zeichnung in der Heimskringla vgl. Heizmann 2010; Jacobsen 2016, bes. S. 368–370. 316 Dagegen North 2005, S. 69.
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Fixpunkt auf deren politischer Landkarte, mehr noch, er ordnet diese nach seinem Gutdünken neu. Und er tritt in offene und persönliche Konkurrenz mit dem faktischen Machthaber vor Ort, Þrándr. Niemand außer ihm selbst als König besitzt in seiner Ansicht auf den Färöern Macht, ihre Anführer haben sich ihm und seinem Königtum unterzuordnen. Entsprechend setzt Óláfr vor den versammelten Färingern zwar seinen Willen durch, aber die Schiffe, die die von ihm eingerichtete, politische Ordnung garantieren sollen, indem sie seine Steuern abliefern, verschwinden – vermutlich durch Þrándrs Tun.317 Þrándr scheint die Herausforderung Óláfrs, die aus seiner Perspektive durch das unvermittelte Auftreten des Königs als neuem Herrn der Färöer erfolgt ist, also angenommen zu haben: Der Kampf um die politische Spitze auf den Färöern, der sich in Óláfrs Besteuerungsversuch manifestiert, ist eröffnet. Solchermaßen durchgeführte, erfolgreiche Besteuerung und Gesetzgebung würden einen wesentlich direkteren Zugriff Norwegens auf den Färöern bedeuten, als ihn je ein norwegischer Fürst zuvor besaß, selbst durch die Kontrolle Sigmundrs. Diesen direkten Zugriff gilt es für Þrándr zu verhindern, wenn er selbst seinen Einfluss bewahren will, und so stachelt er seine Neffen auf, nach Norwegen zu fahren, als Þórálfr Sigmundarson dem Ruf des Königs zur Erklärung des Verschwindens seiner Schiffe folgt. Er wird ermordet und Óláfr beruft ein Þing ein, hann hafði þangat stefna látið þeim Færeyingom af báþom scipom.318 König Óláfr klagt auf dem Þing Þrándrs Verwandte der Tat an und erhebt diese Familie insofern in den Rang seiner persönlichen Gegner um die Herrschaft: Þꜹ tiþindi ero her orðin er þvi er betr at slíc ero siald *gæt. her er af lifi tekin góðr drengr oc hygio ver at saklꜹs se. […] ecki er þvi at leyna hver min ahugi er vm verc þetta. at ec hyg a hendr þeim Færeyingom. […] en os hefir verit grunr á um morð þꜹ oc illvirki at sendi menn mínir hafi þar verit myrðir.319 (›Es haben sich hier Begebenheiten zugetragen, bei denen es besser ist, wenn man sie selten erfährt. Einem guten Mann wurde das Leben genommen und wir glauben, dass er schuldlos war. […] Es gibt nichts zu verheimlichen, welches meine Vermutung ist in dieser Angelegenheit, nämlich, dass ich sie den Färingern zurechne. […] Wir aber hatten einen Verdacht hinsichtlich dieser Morde und der Übeltat, dass meine Sendboten dort ermordet wurden.‹)
Der König wählt sich damit die Schuldigen ebenso selbst wie er sich zuvor zum faktischen färöischen Herrscher gemacht hat. Seine Worte verengen die Möglichkeiten der Umstände um den Mord an Þórálfr so, dass sie die Rezipientenwahrnehmung prägen.320 Selbst wenn Þrándr und seine Familie nicht die Urheber hinter dem Verschwinden der Schiffe sein sollten, deklariert sie Óláfr hier zu seinen Fein-
317 318 319 320
Vgl. hierzu Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3. Fær, S. 99 (er hatte die Färinger von beiden Schiffen dorthin einberufen lassen). Fær, S. 100–101. Vgl. näher Kap. 5.3.2. Siehe zu Þrándrs Rolle diesbezüglich auch Kap. 3.4.4.
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den. So wie er durch sein Auftreten zuvor Þrándrs faktische Macht für nichtig erklärt, definiert sich der König hier selbst zum Gegenspieler der Familie des Färingers. Er tritt ihm als Gegenüber persönlich entgegen und offenbart damit, dass er »more like Þrándr than his predecessors« ist.321 Óláfrs setzt sich selbst auf das politische Tableau der Färöer, und er sucht sich seinen Gegner selbst als solchen aus. Auch auf einer anderen Ebene ähneln sich die beiden Männer: Óláfr agiert rhetorisch geschickt und bindet – wie Þrándr – auch die Öffentlichkeit in seinen Redeprozess ein, als er vor seiner eigenen Erklärung die Meinung der Menge einholen will: Eþa er nokkor sa maðr a þingi er þat kuni at segia hver vallde er vercs þesa.322 Damit signalisiert er prinzipielle Offenheit und Diskutierbarkeit seiner Ausführungen, um sie im Anschluss doch selbst festzusetzen. Doch unterscheidet er sich darin auch von seinem färöischen Gegenüber, denn wie Sigmundr ist Óláfr durchaus bereit, auch gegen seinen eigenen Willen auf die Öffentlichkeit zu hören. Nach Sigurðrs Verteidigungsansprache sind es die Männer auf dem Þing, die für den Beschuldigten vorsprechen, und der König beugt sich dem Willen seines Volkes, wenn auch gegen seine Überzeugung: [E]n við bǫn manna þa tóc konungr festo af S(igurði) til jarnburðar.323 Dadurch erhält Sigurðr eine Möglichkeit zur Flucht, die er ohne zu zögern ausnutzt. Daraufhin ändert sich die Meinung der Leute über Sigurðr, doch Olafr konungr var fárǫðin um þetta mal. en hann þóttiz vita þa | sanendi a þvi er hann hafþi aðr grunat.324 Dieser Verlauf der Handlung zeigt dreierlei: Die Meinung des Königs entspricht erstens – jedenfalls in einfacher Ansicht 325 – der Wahrheit, Óláfr ist seinen Landsleuten gegenüber zweitens ein guter und gerechter König, der die ihn umgebenden Männer schätzt und nicht über ihre Köpfe hinweg entscheidet, und drittens: Óláfrs Hofstaat ist nicht in idealem Zustand. Die letzte Tatsache zeigt sich auch, als der König seine Leute auf die Färöer schicken will, sich aber niemand seinem Willen fügt. König Óláfr sagði fra manscaða þeim er hann hafþi látið af Færeyiom. en scattr sá er þeir hafa mer heitit s(egir) hann. þa kømr ecki fram. Nu ætla ec en þangat menn at senda eptir scattinom. veik konungr þeso mali nokkot til ymissa manna at til þeirar ferðar scyldo ráðaz. en þar comu þꜹ svǫr i mót at allir menn tǫlduz undan fǫrini.326 (erzählte von dem Totschlag, den er von den Färöern erlitten hatte, – ›aber hinsichtlich der Steuern, die sie mir versprochen haben‹, sagt er, ›da kommt nichts heraus. Nun gedenke ich, erneut Männer nach den Steuern dorthin zu senden.‹ Der König richtete diese Angelegenheit
321 North 2005, S. 69. 322 Fær, S. 100 (›Oder gibt es jemanden auf dem Thing, der sagen könnte, wer diese Tat verursacht hat?‹). 323 Fær, S. 103–104 (Aber auf Bitten der Leute nahm der König von Sigurðr die Garantie auf eine Eisenprobe). 324 Fær, S. 107 (König Óláfr war wortkarg in dieser Angelegenheit. Aber er glaubte da, den Wahrheitsgehalt dessen, was er zuvor vermutet hatte, zu kennen). 325 Vgl. zur Komplexität der Erzählsituation Kap. 3.4.4 u. Kap. 5.3.2. 326 Fær, S. 106.
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an verschiedene Männer, dass sie sich zu dieser Fahrt aufmachen sollten. Aber dort kamen die Antworten entgegen, dass sich alle Männer aus der Fahrt herausredeten.)
Anstatt seiner eigentlichen Hofleute steht Óláfrs früherer Gegner Karl von Møre auf dem Þing auf und entbietet sich, den Auftrag des Königs auszuführen. Er beschuldigt das Gefolge des Königs der Treulosigkeit und rühmt Óláfr als guten König. Der König entgegnet: [H]ver er þesi maðr *enn drengiligi er svarar máli mino. gø̨rir þu mikin mun ǫðrum monnom þeim er her ero. er þu byðz til farar. en þeir tǫlduz undan er ec hugða at væl mundo hafa við skipaz.327 (›Wer ist dieser Mann, der Mannhafte, der auf meine Rede antwortet? Du machst einen großen Unterschied zu den anderen Leuten, die hier sind, der du dich für die Fahrt anbietest. Aber die haben sich herausgeredet, von denen ich dachte, sie würden ihren Platz wohl einnehmen.‹)
Nachdem Karl sich vorgestellt hat, erweist Óláfr sich als ehrenwerter Mann und guter König: Sva er þat Karl heyrt hefi ec þic nefndan fyr oc er þat satt at segia at verit hafa þær stundir ef fundi ockra hefþi at borit er þu mundir ecki | kuna segia fra tiþendom. en nu vil ec eigi ver hafa en þu. er þu byðr mer liþsemd þina. at legia eigi þar at móti þꜹck oc ꜹfuso. Scaltu Karl coma til min oc vera i boði míno i dag.328 (›So ist es, Karl, ich habe deinen Namen zuvor gehört, und man muss wahrlich sagen, dass es eine Zeit gab, in der du keine Neuigkeiten mehr hättest erzählen können, wenn unsere Zusammenkunft stattgefunden hätte. Nun aber will ich es nicht schlechter halten als du, der du mir deine Gefolgschaft anbietest, nicht Dank und Freundschaft entgegen zu bringen. Du, Karl, sollst zu mir kommen und am heutigen Tage als geladener Gast bei mir sein.‹)
Obwohl Karl ein alter Feind König Óláfrs ist, und als vikingr oc hin mæsti ráns maðr329 beschrieben wird, den der König früher oft habe töten lassen wollen, tóc konungr hann i sætt oc þvi næst i kærlæic. lét búa ferð hans sem bezt,330 nachdem Karl sich zur Färöer-Fahrt bereit erklärt hat. Er empfiehlt Karl an seine Lehnsmänner auf den Färöern: [S]endi Karl til halldz oc trꜹ ́stz þar er var Leifr Auzorar s(on) oc Gilli lǫgsǫgo maðr. sendi til þes jarteinir sínar.331 Karl überbringt den beiden Männern orð oc jartegnir Olafs konungs oc vinmæli.332 Die Darstellung König Óláfrs in diesem Abschnitt unterscheidet sich etwas von Óláfrs Auftreten zuvor. Zwar verlangt Óláfr nicht weniger stark die Unterwerfung
327 Fær, S. 109–110. 328 Fær, S. 110–111. 329 Fær, S. 111 (ein Wikinger und der größte Räuber). 330 Fær, S. 111 (nahm ihn der König in Frieden und bald darauf in Freundschaft. Er ließ seine Fahrt so gut wie möglich vorbereiten). 331 Fær, S. 112 (Er sandte Karl zu Hilfe und Schutz dorthin, wo Leifr Ǫzurarson und Gilli der Gesetzessprecher waren. Dazu sandte er seine Erkennungszeichen). 332 Fær, S. 112 (die Worte und Erkennungszeichen und freundschaftliche Rede von König Óláfr).
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der Färöer unter seine Autorität in Form von Tributen, doch verschiebt sich der narrative Fokus wesentlich stärker auf die innernorwegischen Angelegenheiten und Óláfrs Interaktion mit seinem Hofstaat. Er wird als gütiger und gerechter norwegischer König gezeichnet, der selbst einem ehemaligen Feind ohne weiteres Frieden gewährt, insofern dieser sich ihm anzuschließen bereit ist. Seine Untergebenen behandelt Óláfr zwar mit unmissverständlicher Autorität, aber überaus respektvoll. Er zwingt niemanden seiner ungehorsamen Hofleute zur Fahrt auf die Färöer und lässt seinen Gesandten seine Lehnsmänner dort freundlich und ehrenvoll behandeln, obwohl letztendlich sie die Verantwortung für die ausbleibenden Steuerzahlungen tragen. Auch zuvor gibt er, wider vermeintlich besseres Wissen, seinen Leuten in der Konfrontation mit Sigurðr Þorláksson nach. Der König tritt insofern nicht primär als selbstkonstituierter Gegner der Interessen Þrándrs auf, sondern wird in seinen Eigenschaften als rechtmäßiger und gerechter Herrscher vorgeführt, eine Rolle, die er auch auf den Färöern einnehmen könnte, wenn diese sich seiner Autorität unterwürfen. Diese Rolle kennzeichnet insgesamt die Zeichnung Óláfr Haraldssons in Jón Þórðarsons Flateyjarbók: Er ist für alle seine Untertanen ein gerechter König, der rex iustus.333 Selbst Þrándr gibt sich den Anschein, die Ehre des Königs hochzuschätzen und spricht salbungsvoll von der Ehre, die ihm gebühre und ein jeder durch den Kontakt mit ihm erhalte.334 Auf der Textoberfläche scheint sich alles nach dem Willen des Königs und zu seinem Ruhm zu fügen. Doch Óláfr scheitert vollständig. Karl wird von Þrándrs Neffen, die der König zu seinen persönlichen Feinden deklariert hat, ermordet, wohl auf den Willen Þrándrs hin. Doch diese Nachricht erreicht Óláfr nicht einmal mehr rechtzeitig vor seinem zeitweiligen Exil: Austmenn biogo scip þat er K(arl) hafþi haft þangat. oc foro ꜹstr a fund | Olafs konungs. En þes varð eigi ꜹþit fyrir þeim ofriðe er þa hafþi gerzc i Noregi.335 Óláfrs Versuch der Herrschaftsausübung auf den Färöern ist damit die einstweilig letzte seiner Handlungen als norwegischer König. Dieser Abstieg wird durch die Niederlage in der Besteuerung der Färöer bereits narrativ vorausgedeutet. Zugleich wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sich in der Erzählung von Óláfrs Ausgriff auf die Färöer eine politische Agenda der Propagierung nordatlantischer Unabhängigkeit offenbare.336 Diese Einschätzung bietet schlüssige Anknüpfungspunkte zur Erklärung der Darstellung Óláfrs und seines gescheiterten Versuchs, die Färöer zu besteuern. Dieser wird in allen Überlieferungsträgern in Parallele zu Óláfrs politischen Eingriffsversuchen auf Island erzählt, nach der kurzen Einleitung des Abschnitts in der Flateyjarbók dem einzigen Land, das Óláfr nicht habe besteuern können. Auch auf den
333 Vgl. Würth 1991, S. S. 117–119 u. S. 131–147. 334 Vgl. zum Sarkasmus seiner Aussagen an dieser Stelle Kap. 3.4.1. 335 Fær, S. 124–125 (Die Norweger bereiteten das Schiff vor, das Karl dorthin genommen hatte, und sie fuhren in den Osten zum Hof König Óláfrs. Aber es war nicht verheißen für sie, [dort rechtzeitig anzukommen,] wegen des Unfriedens, der da in Norwegen entstanden war). 336 So in aller Kürze Glauser 1994, S. 115; siehe auch Kap. 1.2.2.2.
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Färöern aber kann er seine Forderungen nicht durchsetzen – hier allerdings weniger wegen der Standhaftigkeit der Bevölkerung, sondern viel eher aufgrund zwielichtiger und nie vollständig aufgelöster Machenschaften in der färöischen Machtelite. Die isländische Perspektive konturiert den eigenen Widerstand gegen Óláfrs Herrschaftsanspruch somit zusätzlich durch die Distanzierung des eher zweifelhaften Brudervolkes im Nordatlantik. Die Färinger, im Vergleich zu den wehrhaften Isländern, werden mit einer Aura der geheimnisvollen ›Otherness‹ aufgeladen:337 Wie genau sie sich der Macht König Óláfrs widersetzen können, bleibt schließlich ungeklärt.338 Die konkrete Version der Flateyjarbók könnte so verstanden werden, dass sie diese Aussageintention zusätzlich überspitzt: In ihr wird Óláfrs Rolle als rex iustus explizit der norwegischen Bevölkerung noch einmal eigens verstärkt.339 Er tritt im Rahmen der Færeyinga saga dennoch mit unmissverständlichem Selbstverständnis als eigentlicher Herrscher der Färöer in die Erzählung ein, schafft es aber nicht, seine Herrschaft dort durchzusetzen. Obgleich Óláfr den Beinamen ›der Heilige‹ trägt, ist an seinem Herrschaftsverständnis keine religiöse Komponente feststellbar – Þrándr und seine Neffen sind nicht Óláfrs Gegner, weil ihr Christentum nach der Bekehrung durch Óláfr Tryggvason mangelhaft wäre und Óláfr Haraldsson die Christianisierung der Färöer vollenden müsste. Ihre Gegnerschaft ist vollständig politischer Natur und Óláfr begegnet ihnen als Feind, weil er umumschränkte politische Herrschaft auch auf den Färöern einfordert. Sein Verständnis des Königtums spiegelt damit in recht genauer Weise das Herrschaftsverständnis Þrándrs. Sein Selbstverständnis ist das eines absoluten Königs. Doch er scheitert, auch weil er, im Gesamtzusammenhang der Færeyinga saga, anders als Hákon und Óláfr Tryggvason keinen verlängerten Arm in Form Sigmundrs vor Ort besitzt. Im Wortgefecht, das er mit Sigurðr Þorláksson auf dem Þing austrägt, wirkt Óláfr hingegen ebenso kurzsichtig wie Sigmundr,340 wie überhaupt in seinem Vertrauen darauf, die eigene Autorität allein auf der Gültigkeit seines Rechts und seines Wortes basieren zu können, ohne konkret eine herrschaftliche Durchdringung der Färöer in Gang zu setzen.341 Sein Eingriffsversuch bleibt insgesamt somit eine erfolglose Episode des Versuchs äußerer Einflussnahme im faktischen Herrschaftsgebiet Þrándrs. Nichtsdestoweniger bereitet
337 Zu dieser Darstellung der Inseln und ihrer Bewohner in der altnordischen Literatur allgemein siehe Kap. 2.2. 338 Die geheimnisvolle Natur des Scheiterns auf den Färöern, wie sie sich in der unterlassenen Identifizierung des Óðinn-ähnlichen Mannes mit refði auf dem Þing und der konsequenten Unterschlagung der Auflösung von Þrándrs Schuld äußert, könnte in einem christlich begründeten Rahmendiskurs des Textträgers zu verorten sein: Der nach seinem Tod so heilige König hat aus ungeklärten, mystisch anmutenden Gründen keinen Erfolg. Vorstellbar ist so eine schicksalhafte Erklärung ebenso wie eine Verschwörung böser Mächte gegen Óláfr. Die Eindeutigkeit der Annahme wird jedoch konsequent unterschlagen. 339 Vgl. Würth 1991, S. S. 117–119 u. S. 131–147. 340 Vgl. Kap. 5.3.2. 341 Zur politischen Kurzsichtigkeit Sigmundrs siehe Kap. 4.3.3.
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erst Óláfrs Auftreten das politische Tableau für die endgültige Lösung des Konflikts, indem Leifr durch die Aufnahme in seinen Dienst weiter von seinem Ziehvater entfremdet wird, und dieser in der Lösung der Situation, die Karls Gesandtschaft heraufbeschworen hat, seine eigenen Neffen übergeht. Óláfrs Handeln ist damit von großer Bedeutung für die Gesamthandlung, auch wenn er als in seinen eigentlichen Zielen scheiternder Königs dargestellt wird. Er ist der letzte König, der versucht, seine Autorität auf die Färöer zu übertragen – seinem Sohn Magnús fällt sie schließlich einfach zu, als Leifr seine Gefolgschaft aufsucht. Diese Situation kann sich nur durch Óláfrs politischen Eingriff ergeben. Auch wenn er nicht das gewünschte Ergebnis bringt, ist es letztendlich doch dieser König, der den entscheidenden Anstoß für die Lösung des färöischen Konflikts bewirkt.
7.4.5 Variierte Spiegelbilder des Hauptakteurs: Die norwegischen Herrscher und Þrándr Insgesamt lässt sich nach Analyse der Rolle norwegischer Herrscher im Handlungsgang der Færeyinga saga die Aussage stützen, dass die Ereignisse »durchgängig auf die übergeordneten hist[orischen] Entwicklungen im norw[egischen] Reich bezogen« sind.342 Herrschaftswechsel in Norwegen haben stets handlungsauslösende Funktion auf den Färöern, doch das Ausgelöste kann durchgängig nur autonom durch die Hauptfiguren auf den Inseln bewältigt werden. So erreichen weder Óláfr Tryggvason noch Óláfr Haraldsson den von ihnen angestrebten Grad der Kontrolle über färöische Ereignisse, und dies obwohl die wichtigen Ereignisse von »Christianisierung, Reichseinigung, Herrschaftsausdehnung«343 in Norwegen zur gleichen erzählten Zeit stattfinden wie ihre erfolglosen Ausgriffe auf die Färöer. Der dort erfolgreichste, gleichzeitig aber auch am wenigsten direkt agierende, Herrscher Norwegens ist im Gegenteil Jarl Hákon, dem seine Herrschaft auf den Färöern nach ihrem initialen Verlust gleichsam von allein wieder zufällt. Es erweist sich insofern, dass der norwegische Herrscher, dessen politische Agenda der Þrándrs am nächsten kommt – eine unauffällige und hintergründige Realpolitik, ausgerichtet auf langfristigen, persönlichen Machtzuwachs – auch unter seinen Nachfolgern am erfolgreichsten bleibt. Bezeichnender Weise sind es gerade nicht die beiden großen Könige Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson und die unter ihnen erfolgten Glaubenswechsel und Besteuerung, die in der Erzählung als erfolgreich fokussiert werden, obwohl der Text der Færeyinga saga nur innerhalb der Großkompilationen über ihr Leben überliefert ist, und man entsprechend ein besonderes narratives Augenmerk für sie vermuten könnte, das bisher auch in der Forschung betont wurde. Im Kontext der Færeyinga saga als Gesamttext aber bleiben beide Könige relativ gesehen erfolglose Nebenfiguren.
342 Glauser 1994, S. 115. 343 Glauser 1994, S. 115.
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Tatsächlich erscheinen alle drei norwegischen Herrscher stark auf Þrándr bezogen und spiegeln je eine Facette seines Herrschaftsverständnisses: Hákon seine langfristige, situationsbedingte und hintergründige Agenda, Óláfr Tryggvason den rücksichtslosen Einsatz auch seines religiösen Bekenntnisses für politische Ziele und damit die allumfassende Machtpolitik, die er betreibt, und Óláfr der Heilige schließlich das Absolutheitsverständnis seiner persönlichen Macht. Alle drei Herrscherfiguren übernehmen in den jeweils sie betreffenden Erzählabschnitten die hintergründige Rolle von Þrándrs eigentlichen Gegenspielern, sodass Sigmundr, Þrándrs direkter Konkurrent um die Herrschaft, insbesondere unter Óláfr Tryggvason nur »left to walk a fine line between the two« bleibt.344 Auch dadurch wird Þrándr als eigentlich zentraler Akteur des Geschehens fokussiert: Letztendlich entspinnt sich die Handlung der Færeyinga saga als sein Kampf um politischen Einfluss auf den Färöern, die eigentlich den norwegischen Herrschern unterworfen sein sollten. Es ist seine Weigerung, die norwegische Oberhoheit über ihn selbst zu akzeptieren, die alle Ereignisse in Gang setzt und vorantreibt. Keiner der Herrscher aber ist in der Lage, sich und seinen Herrschaftsanspruch dauerhaft gegen Þrándr auf den Färöern durchzusetzen, da sie jeweils nur eine Facette seiner politischen Persönlichkeit widerspiegeln, und zudem nur über einen für die färöische Herrschaft letztendlich ungeeigneten Mann als verlängerten Arm ihres Einflusses vor Ort verfügen, Sigmundr. Ingesamt lässt sich an der Zeichnung der drei Herrscherfiguren aber auch eine aufsteigende Tendenz des Machtkampfes zwischen ihnen und Þrándr feststellen: Nachdem Jarl Hákon über Sigmundr seine Herrschaft wiedererlangt hat, befinden sich die Färöer zunächst über einige Jahre in einer Periode relativen Friedens. Als Óláfr Tryggvason an die Macht kommt, werden die Modalitäten der Auseinandersetzung schärfer und absoluter, und nach Óláfr Haraldssons Eingriffsversuch auf den Färöern stilisiert sich Þrándr öffentlich und vorbehaltslos als ebenso absoluter Herrscher wie der gescheiterte König. Erst nachdem die norwegischen Herrscher nicht mehr aktiv auf den Färöern zu agieren versuchen, und Þrándr sich zudem politisch selbst ausmanövriert hat, kann der Konflikt beendet und die ursprüngliche politische Ordnung auf den Inseln, sogar in verbesserter, da ungeteilter, Form wiedererrichtet werden. Zuvor allerdings zeichnet die Erzählung ein ebenso dichtes wie vielseitiges und differenziertes Bild der unterschiedlichen norwegischen Herrscher, die eine Rolle in der Handlung übernehmen und die färöischen Hauptfiguren so supplementieren.
344 Bonté 2014b, S. 100.
7.5 Der Fokusfigur beigestellt. Das ›Zwei-Brüder‹-Motiv
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7.5 Der Fokusfigur beigestellt. Das ›Zwei-Brüder‹-Motiv und seine Funktion zur Charakterisierung von Hauptfiguren in der Færeyinga saga Auffällig unter den Nebenfiguren in der Færeyinga saga ist die Gruppe derjenigen, die den zentralen Akteuren beigeordnet sind, sie ständig begleiten und bereits auf den ersten Blick vor allem dem narrativen Zweck dienen, die Taten und Eigenschaften jener Akteure ex negativo zu unterstreichen, indem sie als ihnen ähnlich, im Vergleich aber doch nachrangig, dargestellt werden. Das prominenteste Beispiel für diesen Typ von Figur, das in der vorliegenden Studie bereits an mehreren Stellen angesprochen wurde,345 ist Sigmundrs Ziehbruder und Cousin Þórir, der als eine Art Schattenfigur Sigmundrs interpretiert wurde.346 Er ist nicht die einzige Figur dieses Typs im Text: Auch Þórðr Þorláksson übernimmt eine ähnliche Rolle für seinen Bruder. Tatsächlich ist beinahe jedem der Protagonisten eine männliche Zweitfigur zugeordnet, zumeist in Form eines Bruders oder ähnlich nahen Verwandten. Der Einsatz dieses sogenannten ›Zwei-Brüder‹-Motivs erweist sich somit als bedeutendes Strukturelement der Saga.347 Ehe die Erzählstruktur der Færeyinga saga näher analysiert wird, soll daher eine kurze Übersicht der Darstellungsweise einiger Figuren dieses Typs gegeben werden.
7.5.1 Þórir Beinisson, Sigmundrs unterlassene Möglichkeit Die sicher prominenteste der ›Zwei-Brüder‹-Nebenfiguren in der Færeyinga saga ist Þórir Beinisson, der Sigmundr von seinem ersten Auftritt im Text bis zu seinem Tod ständig begleitet. Zwar ist er nicht eigentlich Sigmundrs Bruder, sondern sein Cousin, aber die beiden stehen sich auch vor ihrem Aufwachsen als Ziehbrüder bei Úlfr im Dovrefjell so nahe wie leibliche Brüder.348 Näher sogar noch, denn Sigmundr ist nie alleine: Þorir frændi hans er jafnnan med honum.349 Dies bestätigt Þórir mit seinen letzten Worten: [A]lla æfui okkra S(igmundr) frændi hofum vit asamt verít ok mykla astud haft. huorr okkar vid annan.350
345 Vgl. Kap. 4. 346 So etwa Almqvist 1992b, S. 48. 347 Als Überblick zu diesem Motiv vgl. Kramarz 1989. 348 Die nicht-emendierte Handschrift der Flateyjarbók bezeichnet die beiden vielsagenderweise zum Ende des Dovrefjell-Abschnitts auch mehrfach fälschlich als Brüder, siehe hierzu die EditorenAnmerkungen in Fær, S. 28–32. 349 Fær, S. 65 (Sein Verwandter Þórir ist immer bei ihm). 350 Fær, S. 85 (›Unser ganzes Leben, Verwandter Sigmundr, waren wir zusammen und hatten große Zuneigung füreinander. Ein jeder von uns für den anderen‹).
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Þórir wird zum gleichen Zeitpunkt und ebenfalls gedoppelt in die Saga eingeführt wie Sigmundr: Þorir het son Bæínís ok var tueim uetrum ellri en Sigmundr.351 Von Beginn an folgt er Sigmundr und tut das gleiche, was sein Cousin tut, etwa als Brestir und Beinir vor ihrem letzten Gefecht das Schlachtvieh eintreiben wollen: [S]uæinarnir bæiddu at fara med þeim Sigmundr Þorir.352 Doch wie von Þórirs Vater Beinir berichtet wird, er var ok vel at ser georr ok komzst þo æigi til jafnns vid brodr sínn,353 heißt es zwar auch von Þórir bei seiner (zweiten) Einführung, er sei hinn efniligzste,354 aber er bleibt stets in Sigmundrs Schatten. Von den beiden jungen Männern, die bei Þorkell aufwachsen, var Sigmundr þo ollum hlutum fremri þo at hann væri íȷ ́ uetrum yngri.355 Þórir selbst ist diese Tatsache bewusst, wie er mit seiner erst dritten direkten Redeäußerung im Text bekennt: [Þ]er vard þessa þrekuirkís audít frændi sagde Þorir en æigi mer ok er þat ok likligazst at ek se um mart þinn eftir batr.356 Entsprechend dienen Erwähnungen Þórirs meist der weiteren Konturierung von Sigmundrs Taten. Schon zum Zeitpunkt des Todes ihrer Väter erweist Sigmundr sich durch seine markige Aussage als der härtere und mannhaftere der beiden Jungen, während Þórir (verständlicherweise) in Tränen ausbricht.357 Dadurch, dass Þórirs noch kindliches Weinen erwähnt wird, wirkt Sigmundrs unnachgiebiger Blutrache-Gedanke umso auffälliger für sein Alter. Das gleiche gilt für Þórirs Nennungen während Sigmundrs Kämpfen: Er ist grundsätzlich ein fähiger Krieger. Dies erkennt Sigmundr auch an, da er ihn während des Schwedenfeldzugs an seine Seite in die vorderste Schlachtreihe stellt.358 Jedoch sind die von Þórir berichteten Erfolge stets in einer Art und Weise in den Text eingebunden, die auf Sigmundr zurückfällt und dessen Tüchtigkeit zusätzlich unterstreicht. So heißt es während des Kampfes mit Randvérr etwa: Sigmundr var fremzstr sínna manna asínu skipe ok hoggr bæde hart ok tíȷ ́tt Þorir frændi hans geingr uel fram.359 Als das gegnerische Schiff geentert wird, ist Sigmundr schneller als Þórir.360 Er führt zudem eine größere Mannschaft, auch 351 Fær, S. 9 (Þórir hieß der Sohn Beinirs und war zwei Winter älter als Sigmundr). 352 Fær, S. 13 (Die Jungen Sigmundr und Þórir verlangten, mit ihnen zu fahren). 353 Fær, S. 13 (war auch vortrefflich und kam doch nicht gleichwertig an seinen Bruder heran). 354 Fær, S. 13 (der vielversprechendste). 355 Fær, S. 28 (war Sigmundr doch in allen Dingen voraus, obwohl er zwei Winter jünger war). 356 Fær, S. 29 (›Dir war diese Heldentat bestimmt, Verwandter‹, sagte Þórir, ›aber nicht mir, und es ist auch zu erwarten, dass ich dir in vielen Dingen nachstehe‹). 357 Vgl. Fær, S. 17: [S]uæinarnir satu a klettínum ok sa upp a þessi tidende ok gret Þorir en Sigmundr mællti gratum eigi frændi en munum læíngr (Die Jungen saßen auf der Klippe und sahen diese Begebenheit und Þórir weinte, Sigmundr aber sagte: ›Lass uns nicht weinen, Verwandter, aber uns umso länger daran erinnern!‹). 358 Vgl. Fær, S. 42–43: [S]kulu vit Þorir vera fremzstir (›Ich und mein Verwandter Þórir werden zuvorderst stehen‹). 359 Fær, S. 41 (Sigmundr war der Vorderste seiner Männer auf seinem Schiff und schlägt sowohl hart als auch schnell. Sein Verwandter Þórir kämpft gut). 360 Vgl. Fær, S. 41: [K]emzst Sigmundr upp a drekan ok þeir xíȷ ́ saman […] Þorir kemzst ok a drekan vid fímta mann (Sigmundr gelangt auf das Drachenschiff hinauf und mit ihm elf seiner Männer […]. Þórir gelangt auch auf das Drachenschiff mit fünf Männern).
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wenn kein Unterschied zwischen beider Männer Erfolg gemacht wird: [H]rỏkkur nu allt vndan þeim.361 Dadurch, dass Þórir in solchen Situationen stets sekundär genannt wird, wirkt seine Einbindung ins Geschehen wie ein Nachgedanke des Erzählers, der eigentlich ganz auf Sigmundr und dessen Taten fokussiert ist. Bisweilen gibt die Erzählung auch den Anschein, als sei Sigmundr alleine, obwohl Þórir ständiger Begleiter seines Ziehbruders ist.362 Getrennt werden die beiden nur einmal, durch den aufziehenden Sturm bei ihrer gemeinsamen Rückkehr auf die Färöer.363 Dies führt dazu, dass in der Ausführung der lange ausstehenden Rachehandlung, dem Moment von Sigmundrs wohl größter Glorie, die Erzählung ungehindert allein auf ihn fokussiert werden kann, ohne durch einen erzählerischen Nebenfokus in Form Þórirs ›gestört‹ werden zu müssen. Für sich selbst genommen ist Þórir ebenso fähig wie Sigmundr. Dies zeigt er während der handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Þrándrs aufbegehrender Familie, als er beim Angriff auf Lítla Dímun einen von dessen Männern ohne weiteres erschlagen kann: Þorir hliop at þeim er festínne hellt ok drap þann.364 Er und Sigmundr setzen sich bei diesem Zusammentreffen aktiv mit Þrándrs Mannschaft auseinander, während der neu hinzugekommene Einarr suðreyingr eine unterstützende Rolle übernimmt, indem er das Fluchtschiff klarmacht.365 Auf der Flucht vor Þrándrs Angriff auf Skúfey ist es zudem Þórir, der zur letzten Verteidigung (und somit zum wohl zu erwartenden Tod) bereit ist, während Sigmundr den Plan zur Flucht im Meer vorschlägt: [Þ]a mællti Þorir nu munu ver uæita her uornn sem audít ma verda.366 Þórir steht seinem Cousin Sigmundr insofern nicht nach, er ist lediglich nicht Fokussubjekt der Handlung: Im Grunde wäre er zu gleichen (oder jedenfalls sehr ähnlichen) ›Heldentaten‹ fähig. Jedoch ist er charakterlich anders geartet als der ihn überstrahlende Cousin, und dieser ist zudem in einem solchen Maße
361 Fær, S. 41 (Alles weicht nun vor ihnen zurück). 362 Während Sigmundrs häufigen Reisen zwischen den Färöern und Norwegen wird Þórir meist nicht genannt, vgl. etwa Fær, S. 62: S(igmundr) heímtí saman skatta Hakonar j(arls) adr hann siglde af eyíunum. S(igmunde) ferst uel ok kemr vid Noreg sikp sínu ok bratt ferr hann afund Hakonar j(arls) […] jarl fagnar uel S(igmundi) ok þeim Þore fręndum (Sigmundr trieb die Steuern Jarl Hákons ein, bevor er von den Inseln absegelte. Sigmundr ergeht es gut und er kommt auf seinem Schiff nach Norwegen, und gleich fährt er an den Hof Jarl Hákons […]. Der Jarl empfängt Sigmundr und seinen Verwandten Þórir gut). Dass Þórir überhaupt Teil dieser Fahrt war, geht recht unvermittelt nur aus dem letzten Satz hervor. Gleichzeitig zeigt die Unmittelbarkeit dieser Nennung die Selbstverständlichkeit, mit der Þórir an der Seite seines Ziehbruders auftritt, und mit der er entsprechend ständig dort gedacht werden muss. 363 Vgl. Fær, S. 50–51: [E]n Þorir styrde odru skípe nu rak a storm firir þeim ok skilduzst þa skipín (Aber Þórir steuerte das andere Schiff. Nun kam vor ihnen ein Sturm auf, und da wurden die Schiffe getrennt). 364 Fær, S. 82 (Þórir lief zu dem, der das Tau hielt, und tötete ihn). 365 Siehe Fær c. 36, S. 82–83. Vgl. hierzu auch Kap. 8.5.1. 366 Fær, S. 85 (›Da sprach Þórir: ›Nun werden wir hier unsere Verteidigung erweisen, wie es uns beschieden sein wird‹).
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außerordentlich, dass ihm nicht beizukommen ist. Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied zwischen den beiden je für sich bereits außergewöhnlichen Ziehbrüdern in der Schwimmszene, die zu beider Tod führt: Þórir überlebt den schwächeren Einarr ebenso problemlos wie Sigmundr, und kann drei Viertel der beschwerlichen Schwimmstrecke bewältigen, ehe ihn seine Kräfte verlassen.367 Und doch gelingt es nur Sigmundr, die gesamte Strecke zwischen Skúfey und Suðrey zu durchschwimmen. In diesem letzten Moment zeigen sich alle Eigenschaften, die Þórir während seines Lebens ausgezeichnet haben. Seine letzten Worte sind an seinen Ziehbruder gerichtet: [N]u er uænst at þrioti okkra samuístu hefír ek nu fram lagit sligt er ek er til færr vil ek at þu hialpir þer ok lifui þínu en gef æigi gaum at mer þuiat þar gefr þu þítt líf vít ef þu falltrazst vid mig.368 (›Nun aber ist es am wahrscheinlichsten, dass unser Zusammenleben endet. Ich habe nun alles eingebracht, wozu ich im Stande bin. Ich will, dass du dir hilfst und deinem Leben, aber achte nicht auf mich, denn dann gibst du dein Leben, Verwandter, wenn du dich mit mir aufhältst.‹)
Þórir ist sich des eigenen Todes bewusst, und er zeigt Selbstlosigkeit ebenso wie Unterordnung unter Sigmundr. Þórir schätzt seinen Ziehbruder und dessen Bedeutsamkeit höher als sein eigenes Leben. Bereits in der früheren Szene im winterlichen Dovrefjell zeigt Þórir als Kind die gleiche Veranlagung: [O]k þa lagdizst Þorir firir ok bidr Sigmundr þa hialpa ser ok læíta af f[i]allínu.369 Sigmundrs Antwort ist in beiden Szenen die gleiche: [Þ]eir skylldu badir af koma edr huorgi þeirra.370 Anschließend nimmt er Þorir beide Male auf die Schultern und zehrt die eigenen Kräfte dadurch aus. Sigmundrs ›Heldenmut‹ strahlt durch die Korrelation mit dem Verhalten Þórirs in diesen Momenten ebenso wie während der gemeinsam überstandenen Kämpfe umso heller. Während Sigmundr sich insofern prototypisch als der stärkere und herausragendere Mann erweist, zeigt sich auch der hervorstechendste charakterliche Unterschied zwischen den beiden Verwandten: Þórir ist der zwar Schwächere, aber auch Selbstvergessenere – und daher Überlegtere. Dies zeigt er stets im Zuge der gemeinsamen Unternehmungen. Seine ersten direkten Äußerungen im Text tätigt Þórir, als der heranwachsende Sigmundr ihn auffordert, in den Wald zu ziehen, dessen Betreten den Jungen der gemeinsame Ziehvater verboten hatte: [A] þui er mer æíngí forvitne […] bríotum vit þa bod ord fostra míns.371 Þórir betont nicht nur den eigenen
367 Siehe Fær c. 38, S. 85–86. 368 Fær, S. 85. 369 Fær, S. 23 (Und da brach Þórir zusammen und bittet Sigmundr da, sich selbst zu helfen und einen Weg vom Fjell herunter zu finden). 370 Fær, S. 23 (Sie würden beide entkommen oder keiner von ihnen). Vgl. auch Kap. 4. 371 Fær, S. 28 (›Danach habe ich keine Neugier […]. Dadurch brechen wir das Gebot meines Ziehvaters‹).
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Unwillen, sondern vielmehr die Notlosigkeit des geplanten Unterfangens aus seiner Perspektive, und durch den Verweis auf Þorkell auch die Waghalsigkeit und Regelwidrigkeit von Sigmundrs Vorhaben. Er zeigt damit einen gleichsam natürlichen Willen zur Einhaltung der Treue gegenüber dem Ziehvater. Dennoch schließt er sich bereitwillig und unmittelbar Sigmundr an. So warnt er Sigmundr oft vor Unwägbarkeiten und Gefahren bei der Übertretung von Grenzen und Regeln und weist ihn auf den eigenen, gegenteiligen Willen hin, ergibt sich aber stets dem Willen des Vetters. Hierin offenbart sich weniger ein charakterliches Defizit Þórirs,372 sondern vor allem die Tatsache, dass nur Sigmundr ein wahrer ›Held‹ ist, der bereitwillig Risiken eingeht und dabei auch den Tod in Kauf nimmt. Damit zeigt Þórir insbesondere eine verständige (und verständliche) Vorsicht, die einhergeht mit seiner Selbstlosigkeit: Der Tatendrang seines Ziehbruders ist nicht der seine, doch er steht Sigmundr gerade deswegen ohne weitere Achtung seiner selbst umso bereitwilliger zur Seite. Þórirs Zurückgenommenheit innerhalb der Paarung mit Sigmundr ist so Ausdruck derjenigen Eigenschaft, die er diesem trotz all dessen Übergeordnetheit voraushat: Seiner Weitsicht. Stärker als Sigmundr wägt Þórir ab, bedenkt Konsequenzen einer Aktion und scheint sich seiner selbst im Kontext seiner Umwelt bewusster als Sigmundr. Þórir kennt seinen Platz – an der Seite Sigmundrs und ihm untergeordnet – und er versucht nicht, seine Stellung zu ändern, sondern ergibt sich von vorne herein in sein Schicksal. Dennoch scheinen ihm Konsequenzen und Bedeutungen des eigenen Handelns bewusster vor Augen zu stehen als seinem Ziehbruder. Dies zeigt sich insbesondere in der Szene um Þrándrs Zwangstaufe. Sigmundr will Þrándr doch noch verschonen, als dieser sich im letzten Moment zur Unterwerfung entscheidet, obwohl Þórir ihn eindringlich warnt: [Þ]at er þin bani ok þinna vína. s(egir) Þorir ef hann gengr nv vndan.373 Für Þórirs Charakteranlage zeigt diese Aussage mehrere Dinge: Die plötzliche Vehemenz und das Drängen auf Þrándrs Tod legen einerseits nahe, dass sein persönlicher, wenn auch nie ausgesprochener Rachegedanke für den Tod seines Vaters zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht erfüllt ist, andererseits zeigt Þórir damit so deutlich wie nie die Vorteile seiner größeren Vorsicht gegenüber Sigmundr. Er ist sich, ebenso wie vor seinem Tod, völlig bewusst, welche Folgen Sigmundrs Entscheidungen haben werden. Dieses Wissen ergibt sich aus der korrekten Einschätzung der gegebenen Situation und der realistischen Deutung aller Handlungsmöglichkeiten. Beides entstammt Þórirs Bewusstsein der eigenen Rolle. Wo Sigmundr den Eindruck erweckt, ihm sei nicht klar, weswegen er seinen Kampf gegen Þrándr verliert, oder zumindest, dass er nicht erkennt, dass die Position, die er anstrebt, nicht für seine persönliche Anlage geeignet ist,374 scheint Þórir sich stets der eigenen Person im Gravitationsfeld der sozialen Umgebung bewusst. Er weiß um Þrándrs Gefähr-
372 Zum ›männlichen‹ Tatendrang vgl. zusammenfassend Rau/Greulich 2014, S. 88; ausführlich zur Komplexität der entsprechenden Rolle Meulengracht Sørensen 1993, S. 187–248; Clover 1993. 373 Fær, S. 76 (›Das ist dein Tod und der deiner Freunde‹, sagt Þórir, ›wenn er nun davonkommt!‹). 374 Vgl. Kap. 4.
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lichkeit und leitet daraus korrekt ab, dass er und Sigmundr nicht die Mittel haben, gegen diese anzukommen. Anders als Sigmundr versucht Þórir nicht, gegen die als kommende Tatsachen eingestuften Entwicklungen anzugehen oder sein Schicksal herauszufordern,375 sondern er ergibt sich dem Willen seines Ziehbruders wider besseres Wissen. Dadurch stellt er einen Fatalismus zur Schau, der im Grunde nicht weniger ›heroisch‹ anmutet als die Figurenkonzeption Sigmundrs. Er weist stets auf die wahrscheinliche Zukunft hin, akzeptiert aber vorbehaltlos den Weg, den Sigmundr einschlägt, auch wenn sein eigener daraufhin eingeschlagener Weg ein anderer wäre. Durch dieses Verhältnis zur Macht des Schicksals ergänzt er seinen Verwandten ebenso, wie er mit ihm kontrastiert: Sigmundrs aktiv ›heroische‹ Todesverachtung ebenso wie Þórirs stoische Akzeptanz des Fatums bilden gemeinsam ein Element des ›Heroischen‹ im Text der Færeyinga saga. Während Sigmundr versucht, sein Schicksal selbst zu bestimmen, zeigt Þórirs mahnende Stimme alternative Handlungsoptionen auf, die im Text aber nie realisiert werden, da Sigmundr konsequent den nicht-gangbaren Weg einschlägt, den Þórir problematisiert. Er ist damit als prototypischer Vertreter des zweiten Bruders gezeichnet, wie er im Rahmen des ›Zwei-Brüder‹-Motivs vorkommt. Dieses Motiv zeichnet sich, Kramarz folgend, durch »Typenpolarisierung« aus.376 Eine Figur aus der Paarung erweist sich im Zuge der Motivverwendung als »Innenvertretung« der geschwisterlichen Einheit, während die zweite die »Außenvertretung« übernimmt.377 Dies bedeutet, dass innerhalb eines brüderlichen Figurenpaares ein Part zumeist als introvertiert, besonnen, häuslich und passiv dargestellt wird, während der andere forsch, unstet und wortführend auftritt.378 Während Sigmundr insofern für die »Außenvertretung« des ›Brüderpaares‹ verantwortlich zeichnet, Pläne fasst, diese in die Umwelt kommuniziert und umsetzt, wobei er forsch auftritt, übernimmt Þórir die ergänzende »Innenvertretung«, indem er sich selbst zurück nimmt und sich passiv dem Willen Sigmundrs fügt. Gleichzeitig wirkt er aber besonnener, indem er klarer auf die Konsequenzen von Sigmundrs Taten achtet und diese warnend und mahnend verbalisiert. Sigmundr verschließt sich den Einsichten seines Ziehbruders allerdings. Somit bleibt Þórir im Gesamtkontext der Færeyinga saga nur die Übernahme der missachteten Alternativstimme. Er drückt im Rahmen der Gesamtnarration die Möglichkeit auf eine andere Plotentwicklung aus, in seinen Aussagen verdichten sich Alternativen möglicher Narrative.379 Würde auf seine Einwände gehört, wäre eine vollkommen andersgeartete Entwicklung der Geschehnisse denkbar. An Sig-
375 Zu dieser Komponente der Sigmundr-Figur einschließlich einer Konzeptdiskussion vgl. näher Kap. 4.2.2. 376 Vgl. Kramarz 1989, zur »Typenpolarisierung« bes. S. 449–450. 377 Vgl. Kramarz 1989, S. 454. 378 Vgl. Kramarz 1989, bes. S. 445–455; S. 445–448 geben mehrere illustrative Beispiele aus den Isländersagas an. 379 Zur »Logik der möglichen Narrative« vgl. grundsätzlich Brémond 1980. Zur Übertragung von Brémonds Konzepten auf die Færeyinga saga vgl. Glauser 1989, S. 203–206.
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mundr wäre es, auf diese Handlungsalternativen einzugehen, und sie aktiv zu eröffnen, doch er unterlässt diese Möglichkeit konsequent. Þórir ist insofern nicht allein Begleitfigur seines Ziehbruders, figürliche Verdeutlichung und Ergänzung von dessen hervorstechendsten Eigenschaften, sondern eine unterlassene Handlungsoption und Figur gewordene Illustration der Ursache von Sigmundrs Scheitern. Geradezu ironisch wirkt in dieser Perspektive, dass der Tod seines Sohnes, Leifr Þórissons, die letzte Eskalationsstufe des Konflikts entfesselt. Somit gibt letztendlich doch eine mit ihm verbundene Figur den entscheidenden Anstoß zur Handlungsentwicklung im Rahmen der Færeyinga saga. Þórirs ungehörte Stimme wird dadurch noch einmal unterstrichen und er selbst nachträglich ins Recht gesetzt. Mit seiner Figurenanlage als unterlegener, aber dennoch für sich selbst ausgezeichneter ›Bruder‹ spiegelt Þórir sehr genau die Charakterisierung seines Vaters Beinir wieder und illustriert am eindringlichsten das Erzählmuster der ›Zwei Brüder‹, das für die Færeyinga saga strukturell von großer Bedeutung ist. Denn auch außerhalb der Paarbindung Sigmundrs und Þórirs wiederholt sich das an dieser Figurenkonstellation destillierte Muster häufig. Jeder Hauptfigur ist ein passiverer, begleitender Bruder beigestellt, oder anderenfalls ein »Brudersurrogat«,380 der oder das vornehmlich die Funktion erfüllt, einen Kontrast zu eröffnen, um so der jeweils fokussierten Figur ein Zusätzliches an Aufmerksamkeit und den jeweiligen Taten zusätzliche erzählerische Intensität zu verleihen. Die jeweils hinzutretenden Bruder- oder bruderähnlichen Figuren sind grundsätzlich ähnlich gezeichnet wie Þórir – sie sind ruhiger, weniger im Text präsent und in der Regel auch passiver als die Figuren, denen sie hinzugesellt werden.
7.5.2 Weitere ›Brüder‹-Paare in der Færeyinga saga Sehr genau Þórirs Figurenzeichnung entspricht, wie unter 5. argumentiert, Þórðr Þorláksson, Sigurðrs jüngerer Bruder. Auch er ist eine passivere und zurückgezogenere »Innenvertretung« innerhalb des Bruderpaares, erweist sich aber gerade dadurch auch als die weitsichtigere und für die Handhabung der politischen Situation eigentlich geeignetere Figur. Ebenso wie bei Sigmundr und Þórir ignoriert allerdings Sigurðr die Kommentare seines Bruders, sodass auch Þórðr als Manifestation unterlassener Handlungsalternativen verstanden werden kann. Jeoch folgt er seinem Bruder ebenso treu und bedingungslos, wie Þórir dies bei Sigmundr tut. Das Muster des ›Zwei-Brüder‹-Motivs, das seine volle Entfaltung in der Darstellung dieser beiden Figurenpaare findet, wird aber bereits einleitend in der Færeyinga saga durch die Paarung Þrándrs und seines älteren Bruders Þorlákr etabliert. Þorlákr wird nur ein winziger Textausschnitt zugewiesen, und er ist überaus flach konstruiert. Beschrieben wird er nur als będí mikill ok sterkr und efnnilig[r].381 Beide
380 Eine treffende Formulierung von Susanne Kramarz, vgl. Kramarz 1989, S. 453. 381 Fær, S. 4 (sowohl groß als auch stark; vielversprechend).
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Eigenschaften teilt er mit seinem jüngeren Bruder, doch lässt Þorlákr sie während seines kurzen Auftritts in der Erzählung nicht erkennen, ebenso wenig wie insgesamt Þrándr. Es heißt über hin weiterhin nur, er kuændizst þar j eyíunum ok var þo heíma med fodr sinum j Gỏtu.382 Seine einzige narrative Aufgabe besteht darin, das Losen um den väterlichen Hof gegen Þrándr zu verlieren, was dessen Erfolg initial begründet. Þorlákr verschwindet daraufhin aus der Erzählung. Das Motiv des zurückgezogeneren Bruders innerhalb einer Paarbindung wird somit bereits im ersten szenischen Kapitel der Erzählung nach der prologhaften Einführung etabliert. Auch im Falle von Þrándr und Þorlákr ist es die jüngere Figur, die sich als die bedeutendere erweist. Þrándr überstrahlt seinen schnell ausmanövrierten Bruder ebenso mühelos, wie Sigmundr sich als uneinholbar größerer Krieger seinem Ziehbruder gegenüber erweist. Anders als bei Þórir und Þórðr fehlt dem kurzen Auftritt Þorlákrs aber die Funktion, durch die mit der Zurückgesetztheit einhergehende, größere soziale Bedachtheit politische Handlungsalternativen zu verbalisieren. Þrándr jedoch müssen keine alternativen Möglichkeiten der Handlungsentwicklung aufgezeigt werden, er ist sich aller Möglichkeiten und ihrer Konsequenzen von vorne herein bewusst. Þrándr inkorporiert insofern die bei den oben genannten Männer-Zweierpaaren durch die Verlagerung auf zwei Figuren nach außen verschobene Abwägung verschiedener Alternativen in seiner eigenen Charakteranlage. Dennoch ist es der Konflikt mit Þorlákr, der neben seinem Aufstieg auch seinen letztendlichen Fall verursacht.383 Selbst in seinem Fall liegt somit eine in einer brüderlichen Figur angedeutete Handlungsalternative vor. Eine ähnliche Konstellation liegt sogar auf der höchsten politischen Ebene Norwegens vor: Auch Sveinn und Eiríkr Hákonarson, die Norwegen während der Zeit beherrschen, in der Sigmundr sein Leben verliert, sind ein Brüderpaar. Zwar wird auf deren Altersunterschied in der Erzählung nicht eingegangen, doch zeigt sich auch in diesem Fall das gleiche Muster von Überflügelung des zurückgezogeneren Bruders durch einen strahlenderen. Sigmundr kann sich an Hákons Hof nur mit Hilfe Sveinns und Eiríkrs etablieren und wendet sich zunächst an Sveinn, der ihm allerdings nur bei seinen Bitten zuhört und sie als wohl gesprochen kommentiert.384 Eiríkr hingegen sichert ihm nach seiner Ankunft bei Hofe sofort Hilfestellung zu: [H]æítr Æirekr j(arl) honum sínne vmsyslu vid Hakon fỏdr sinn ok kuetzst æigi skulu
382 Fær, S. 4 (heiratete dort auf den Inseln und lebte doch zu Hause mit seinem Vater in Gasse). 383 Vgl. Kap. 3.4.5 u. Kap. 5.4.1. 384 Siehe Fær, S. 38–39: Sigmundr flutti mal sitt firir Sueíní ok bad hann leggia til med ser at hann fengi nokkura framkuæmd af fỏdr sínu Suæinn spyrr huers hann beiddizst. j hernat villda ek hellzst sagde Sigmundr ef fadir þínn uill efla mík. slikt er uel hugsat sagde Suæinn (Sigmundr brachte sein Anliegen vor Sveinn vor und bat ihn, ihn dabei zu unterstützen, dass er Erfolg bei seinem Vater habe. Sveinn fragt, was er fordere. ›Ich möchte am liebsten auf Heerfahrt gehen‹, sagte Sigmundr, ›wenn mich dein Vater aufstellen will.‹ – ›Das ist ein guter Gedanke‹, sagte Sveinn). Dass Sveinn sich den vergehenden Winter über daraufhin bei seinem Vater für Sigmundrs Belange einsetzt, lässt sich dennoch in den Text induzieren.
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minna til leggia med honum en Hakon j(arl).385 Als Sigmundr seinen ersten Auftrag von Hákon erhalten hat, verschafft ihm Eiríkr sogleich ein ebenso gutes Schiff samt Mannschaft, während Sveinn sich zurückhaltender geben muss: [M]er er sua buít æigi iafnnhægt vm fram lỏgín vid víne mína sem þeim fedgum.386 Trotzdem teilt auch Sveinn Sigmundr ein weiteres Schiff samt Mannschaft zu und betont, dass er sie aus den eigenen Gefolgsmännern auswähle: [V]æntir ek at þeir fylgi þer bezst af þeim mỏnnum er þer eru fæingnir til fylgdar.387 Sigmundr pflegt in der Folgezeit offenbar dennoch ein herzlicheres Verhältnis zu Eiríkr, den er nach seinen Víkingfahrten oft vor der Rückkehr an den eigentlichen Jarlshof aufsucht: [O]k fagnar hann uel Sigmundí. ok bydr honum med ser at vera.388 Zwar versucht Sveinn, den Unterschied zu seinem offensiver auftretendem Bruder durch die Klasse der von ihm bereitgestellten Männer zu überdecken, doch ist es Eiríkr, den die Erzählung besonders hervorhebt: [Þ]o var Æirekr firir þeim brædrum vm alla hlute. Æirekr var frægr miog […] allr manna vænstr ok radugazstr […] þat er allra manna mal at hann hafui verit æinn huerr mestr betr fedrungr.389 Auch hier liegt also ein ungleiches Brüderpaar vor. Während dem einen recht wenig narrativer Platz eingeräumt wird, stellt der andere ihn deutlich in seinen Schatten. Dabei sind in diesem Fall beide Figuren recht flach konzipiert, und eine vorausschauendere politische Kompetenz wegen größerer Zurückgezogenheit auf der Handlungsebene lässt für keinen der beiden Jarlssöhne feststellen. Sie beide sind verglichen mit ihrem Vorgänger und ihren Nachfolgern schwache Herrscher, und es ist kein Zufall, dass Sigmundr sein Tod während der Zeit ihrer insgesamt unauffälligen Herrschaft ereilt.
7.5.3 Gilli und Þórálfr Sigmundarson Auch der letzte Protagonist der Færeyinga saga, Leifr Ǫzurarson, wird von zwei männlichen Figuren begleitet, ehe ihn schließlich seine Frau und Schwiegermutter zum färöischen Alleinherrscher machen: Þórálfr Sigmundarson und Gilli, der lǫgmaðr. Beide übernehmen indes Rollen in der Narration der Færeyinga saga, die an eine erweiterte Form des ›Zwei-Brüder‹-Motivs erinnern: Sie sind mit Leifr ver-
385 Fær, S. 39 (Jarl Eiríkr verspricht ihm seine Unterstützung bei seinem Vater Hákon und sagt, er werde ihn nicht weniger unterstützen als Jarl Hákon). 386 Fær, S. 39 (›Mir ist beim derzeitigen Stand eine solche Hilfeleistung meinem Freund gegenüber nicht ebenso möglich wie Vater und Sohn‹). 387 Fær, S. 39 (›Ich vermute, dass sie dir von den Männern, die dir als Gefolgschaft verschafft wurden, am besten folgen werden‹). 388 Fær, S. 41 (Und er empfängt Sigmundr wohl und bietet ihm an, bei ihm zu bleiben). Ähnlich erneut in Fær c. 20, S. 44. 389 Fær, S. 89 (Dennoch war Eiríkr der vorderste der Brüder in allen Angelegenheiten. Eiríkr war sehr berühmt […] der schönste und ratklügste aller Männer […]. Es ist die Rede aller Leute, dass er der bessere von Vater und Sohn gewesen sei).
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wandt,390 und ihm während des Konflikts mit Óláfr dem Heiligen als »Brudersurrogate«391 auf eine ähnliche Art narrativ beigestellt. Sie treten in Erscheinung, als auch der Konflikt der Færeyinga saga sich pluralisiert und mit Sigurðr, Þórðr und Gautr drei Männer gegen Leifr stehen. Die Konstellation der Vorgänger-Generation dreht sich hierbei um: Während Þrándr die Eigenschaften, die in der Konstellation Sigmundrs und Þórirs auf zwei Figuren aufgespalten werden, in sich inkorporiert, zeigt sich die gleiche Aufspaltung bei Þrándrs Neffen, insbesondere in Sigurðr und seinem Bruder. Diese Figurengruppe wird gegen Leifr gestellt, der im Verbund mit seinen Verwandten die gegen sie gestellte Trias in ihrem Verhältnis spiegelt. Þórálfr bleibt trotz seiner Beschreibung als godr bonde392 und der Tatsache, dass er Sigmundrs ältester Sohn ist, eine schattenhafte Figur, deren einzige bedeutende Rolle im Handlungsverlauf darin besteht, in Norwegen ermordet zu werden.393 Er erinnert in seiner schemenhaften Figurenkonzeption damit an die Gestaltung von Gautr hinn rauði, der innerhalb der Figurengruppe von Þrándrs Neffen ebenfalls kaum als selbstständig wahrnehmbare Figur in Erscheinung tritt.394 Auch Gilli ist wenig detailliert konzipiert, obgleich er unter den Nebenfiguren der Færeyinga saga verhältnismäßig großes Interesse auf sich gezogen hat, vor allem wegen seines ungewöhnlichen, keltischen Namens und seines Amts in historisch orientierten Untersuchungen.395 Unvermittelt wird er erstmals in Kapitel 43 genannt, als unter der Gruppe der nach Norwegen reisenden färöischen Großen als erster ein Gilli logsogo maðr396 noch vor Leifr Ǫzurarson selbst spezifiziert wird, ohne zuvor auch nur einmal in der Erzählung erwähnt worden zu sein.397 Während Karls von Møre Gesandtschaft auf das färöische Þing ist Gilli zunächst wie Leifrs ständiger Begleiter gezeichnet: [Þ]ar com oc Leifr oc Gilli398 und [s]iðan bar K(arl) orð oc jartegnir Olafs konungs oc vinmæli til þeira Gilla oc Leifs.399 Die gemeinschaftliche Nennung beider Männer in diesem Abschnitt zeichnet ein im Ansatz ähnliches Verhältnis zwischen ihnen wie dasjenige zwischen Sigmundr und Þórir. Dabei übernimmt Leifr den aktiveren Part: Er bewirtet Karl auf seinem Hof, er sammelt die
390 Þórálfr ist als Bruder von Leifrs Frau Þóra dessen Schwager, Gilli und Leifr hingegen sind systra synir (Fær, S. 126; Schwestersöhne). 391 Kramarz 1989, S. 453. 392 Fær, S. 89 (guter Bauer). 393 Siehe Fær c. 45, S. 98–99. 394 Vgl. Kap. 5.2.2. 395 Vgl. Foote 1970, S. 163–164 u. S. 174; Óláfur Halldórsson 1987, S. ccii–ccv u. S. ccxviii. 396 Fær, S. 90 (Gilli der Gesetzessprecher). 397 Im Kontext der Textüberlieferung mit einem isländischen Prisma scheint die Konzentration auf einen Gesetzessprecher isländischen Vorbilds hingegen nicht ungewöhnlich. Sie bietet einem isländischen Publikum Identifikationspotenzial und hilft, die so erzählte Geschichte in Relation zur eigenen Position zu betrachten. 398 Fær, S. 112 (Dorthin kamen auch Leifr und Gilli). 399 Fær, S. 112–113 (Dann brachte Karl die Worte und Erkennungszeichen und freundschaftliche Rede von König Óláfr zu Gilli und Leifr).
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fälligen Steuern ein und er besucht Þrándr auf dem folgenden Þing gemeinsam mit Karl. Der Totschlag an Karl durch Þórðr und Gautr wird dadurch ermöglicht, dass Leifr und Gilli auf diesem Þing zunächst nicht gemeinsam auftreten: Litlo siþar com þar maðr lꜹpande oc callaði acafliga a Leif Ø̨ zorar s(on). bað hann fara sem sciotaz til buða Gilla logsogo mannz. þar liop in um tialdscarar Sigurðr Þorlacs s(on) oc hefir særþan buðar man hans til olífis. Leifr liop þegar up oc gecc a brot til fundar við Gilla.400 (Wenig später kam ein Mann laufend dorthin und rief laut nach Leifr Ǫzurarson. Er bat ihn, so schnell wie möglich zur Bude Gillis des Gesetzessprechers zu gehen – ›dort lief durch die Zeltöffnung Sigurðr Þorláksson herein und er hat seinen Budenmann zu Tode verletzt.‹ Leifr sprang sogleich auf und ging fort zum Treffen mit Gilli.)
Erst nachdem Leifr und seine Männer fort sind, kann Karl von Þrándrs Neffen erschlagen werden. Ermöglicht wurde Sigurðrs Scheinangriff nur durch die Trennung der zuvor gleichsam als untrennbar geschilderten Gilli und Leifr. Unmittelbar danach treten Leifr und Gilli allerdings wieder gemeinsam auf und sorgen für die Verurteilung von Þrándrs Neffen: Leifr oc Gilli gengo at eptir máli oc com þar eigi febótum fyrir.401 Das Verhältnis zwischen den Schwestersöhnen Gilli und Leifr wird in diesem Abschnitt also ähnlich eng dargestellt, wie dasjenige zwischen den Ziehbrüdern Sigmundr und Þórir. Ein Unglück – der Totschlag am Königsgesandten – kann nur in dem Moment eintreffen, in dem beide Männer getrennt sind. Dabei spiegelt Leifrs präsentere Rolle in der Erzählung die Gestaltung Sigmundrs als »Außenvertretung« des ›Brüderpaars‹, während Gilli in Ansätzen Þórirs Rolle als politisch weitsichtigere »Innenvertretung« übernimmt: Er ist es, der bei Þrándrs Idee, das Þing nur von unbewaffneten Männern besuchen zu lassen, zur Vorsicht rät, während Leifr beim Vorschlag seines Ziehvaters offenbar wenig einzuwenden hat: [B]rigt þiki mer at trua Þrandi ok munu vit þui iata at handggnir menn allír hafui uopnn sín ok nockurir þeir er ockur fylgía en almenníngr se uopnnlaus.402 Zwar bleibt die Bewaffnung der eigenen Männer erfolglos, sodass an dieser Stelle verschoben auch das Moment der unterlassenen Situationsverbesserung realisiert wird, das Þorirs ignorierten Äußerungen eingeschrieben ist. Wichtig ist jedoch, dass Leifr als letztendlicher Sieger des Konflikts sich anders verhält als Sigmundr oder Sigurðr: Er nimmt Ratschläge an. Die angedeutete Rolle des Nachfolgers von Þórir in der Verbindung mit Leifr übernimmt Gilli allerdings nur kurz während dieser Episode, danach verschwindet er ebenso plötzlich wieder aus der Erzählung, wie er in sie eingetreten ist. Seine
400 Fær, S. 122–123. 401 Fær, S. 124 (Leifr und Gilli gingen der gerichtlichen Verfolgung nach und da wurde nichts aus der Geldbuße). 402 Fær, S. 126 (›Unsicher scheint es mir, Þrándr zu trauen, und wir werden es annehmen, dass alle Dienstmannen des Königs ihre Waffen haben und einige, die uns folgen, aber die Allgemeinheit soll waffenlos sein‹).
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beratende und begleitende Funktion für Leifr übernimmt am Ende der Færeyinga saga dessen Ehefrau, deren Ratschläge ihn an die Spite der Färöer führen. Zuvor jedoch lässt sich in dieser kurzzeitigen Verbindung zwischen Þórálfr Sigmundarson, dem Gesetzessprecher Gilli und Leifr Ǫzurarson eine weitere Variante des ›ZweiBrüder‹-Motivs erkennen, die eingesetzt wird, als sie als Spiegel der Dreierkonstellation von Þrándrs Neffen narrativ benötigt wird.
8 Vielseitigkeit in Einheit. Zur narrativen Struktur der Færeyinga saga Bei einem so kompliziert überlieferten Text wie der Færeyinga saga, die selbst in ihrer Haupthandschrift nur als stückweise Interpolation vorliegt, muss sich unweigerlich die Frage stellen, inwieweit er überhaupt als zusammenhängende Gesamtheit betrachtet werden kann und seinen Sinn nicht alleine aus dem Kontext seiner Überlieferung bezieht, wie bereits vor der hier erfolgten Analyse dargestellt. Die vorliegende Studie hat jedoch versucht, zu erweisen, dass die Saga jedenfalls auf der Ebene ihrer Raumkonzepte und der an der Handlung beteiligten Figuren unproblematisch als konzeptionelle Einheit betrachtet werden kann. Die Portraits der auftretenden Figuren ergeben trotz gewisser Wandelbarkeit (wie im Falle Leifrs) keine Brüche, sondern sind über den Handlungsgang hinweg einheitlich gestaltet. Die Handlung entspinnt sich konstant um die Pole der wechselseitig bedingten Raumsemantiken von Norwegen und den Färöern. Als zentraler Parameter der Konflikte der Handlungsträger hat sich die Frage der Macht ergeben. Die Saga verhandelt, wer Macht erringen kann, auf welche Weise und mit welchem Erfolg. Zugleich untersucht sie, wie und weswegen Macht wieder verloren wird, wie sie sich auf die Konstellation der Figuren zueinander auswirkt und welche Eigenschaften ein erfolgreicher Herrscher aufweisen muss. Daraus ergibt sich, dass die Færeyinga saga nicht allein inhaltlich und konzeptionell verbunden ist, indem sie die Figuren und ihre Wege zur Erringung und zum Verlust von Macht vorstellt, sondern dass sie auch als ein narrativ und strukturell geschlossener Gesamttext betrachtet werden muss. Es handelt sich nicht nur um einen Bericht von den Figuren und ihrer jeweiligen politischen Machtposition, sondern um eine Erzählung über die Macht und ihr Wesen selbst. Der Text entwirft im Zuge seiner Narration letztlich sogar Gedanken dazu, wie ein erfolgreicher Herrscher dargestellt werden muss, um eine narrative Diskussion von Macht zu ermöglichen. Bei Macht handelt es sich um ein diffuses Phänomen sozialer Wechselwirkung. Daher gewinnen die einzelnen Protagonisten ihre Bedeutung primär über ihre Konstellation zueinander, die Parallelen und Kontraste bedingt und dadurch Vergleiche miteinander ermöglicht. Nur über eine präzise gestaltete und eng verbundene Gruppe von Handlungsträgern kann der Diskurs über Macht, den die Færeyinga saga bietet, daher erzählerisch bewältigt werden. Die Grundthematik des Textes bedingt also besondere Eigenheiten des Textes als einer Gesamtheit, auf die im Verlauf der vorangegangenen Diskussion vielfach bereits hingewiesen werden musste. Die sich abschließend stellende Frage ist insofern, wie sich der zentrale Machtdiskurs der Saga auf ihre Erzählstruktur auswirkt, und entsprechend, wie diese sich gestaltet. In diesem letzten Kapitel sollen deshalb die strukturellen Eigenschaften der Færeyinga saga in der Flateyjarbók auch als Zusammenfassung der diversen Gesichtspunkte der vorliegenden Studie untersucht und nachvollzogen werden. https://doi.org/10.1515/9783110774979-008
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8 Vielseitigkeit in Einheit. Zur narrativen Struktur der Færeyinga saga
8.1 Handlungskreise und Erzählabschnitte Strukturell erscheint die Narration der Færeyinga saga auf mehreren Ebenen gegliedert. Deutlich erkennbar und daher in der obigen Analyse als Bezugspunkte von vorne herein angenommen sind zwei große Handlungskreise als Makrostruktur: Zunächst der Konflikt zwischen Þrándr und Sigmundr, der nach Sigmundrs Tod von den Spannungen zwischen Þrándrs Ziehsohn und seinen Neffen abgelöst wird. Sigmundrs Tod ist ohne Zweifel eine einschneidende Station der Erzählung. Der zentrale Konflikt, um den die Handlung sich entspinnt, verläuft danach dem ersten Eindruck nach in ganz anderen Mustern und Parametern. Jürg Glauser stellt entsprechend die Hypothese auf, die Gesamtstruktur der Færeyinga saga sei analog zu diesen beiden Handlungskreisen in zwei Teile aufzuteilen.1 Die erste Teilhandlung sei demnach eine »scharf umrissene«,2 deren »axiologische[s] Feld […] durch eine strikt oppositorische Gliederung in semantische Kategorien« aufgeteilt sei.3 Der zweite Handlungsteil sei dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sich »diese scharfen Gegensätze zunehmend [verwischten]«.4 Insgesamt sei seine Organisation heterogener und weniger klar strukturiert, sowohl was Figurenzeichnung und -anzahl beträfe, als auch hinsichtlich der Thematik.5 Dieser Gliederungsvorschlag lässt sich auch mit Blick auf die Überlieferung als Interpolation in zwei verschiedene Königssagas rechtfertigen. Glausers Annahme, der zweite Handlungskreis diene der ideologischen Reintegration des Zwischenschrittes von Sigmundrs Untergang in den Großrahmen der beiden Óláfs sagas, indem am Ende die Färöer den dortigen Herrschern wieder tributpflichtig seien,6 wäre hingegen differenzierter zu beurteilen, wie bereits an den entsprechenden Stellen der obigen Analyse deutlich wurde. Der Zentraldiskurs über Macht lässt Sigmundrs Ende keineswegs als eine Stelle der Erzählung erscheinen, in der sie »zu früh und im falschen Augenblick zu Ende sein« könnte;7 diese Tatsache wirkt, wie in Kapitel 3 und 4 erörtert, im Gegenteil folgerichtig. Sogar aus der Perspektive der übrigen Óláfs saga Tryggvasonar en mesta-Redaktionen ist Sigmundrs Tod nach seiner Befehlsverweigerung vor König Óláfr der ›korrekte‹ Erzählabschluss.8 Zudem ist zwar die Beobachtung, die Färöer seien dem norwegischen Reich am Ende der Erzählung wieder tributpflichtig, korrekt, jedoch hat der König, in dessen Saga der letzte Hand-
1 Vgl. Glauser 1989, S. 220. 2 Glauser 1989, S. 216. 3 Glauser 1989, S. 217. 4 Glauser 1989, S. 217. 5 Vgl. Glauser 1989, S. 217 u. S. 220. 6 Vgl. Glauser 1989, S. 221. Zur ideologischen Problematik des gut vorstellbaren Endes der Erzählung nach Sigmundrs Tod im Überlieferungskontext siehe S. 216. 7 Glauser 1989, S. 216. 8 Vgl. bes. Kap. 4.5.2 u. Kap. 7.4.3.
8.1 Handlungskreise und Erzählabschnitte
539
lungsabschnitt interpoliert wurde, mit diesem Ergebnis nur indirekt zu tun.9 Der Abschnitt über Óláfr den Heiligen und seinen Besteuerungsversuch gestaltet sich als wichtiger Schritt zur Einleitung des Sagaendes, aus Sicht des Königs aber nachhaltig als Fiasko. Inwiefern sich dieser Handlungsteil insofern in eine »Ideologie« der Óláfs saga helga, von Glauser wohl vorgestellt als lineare Erfolgsgeschichte norwegischer Expansion, einordnen sollte, muss fraglich bleiben. Deutlicher wird hier eher eine Agenda nordatlantischer Selbstbestimmtheit, die sich womöglich auf Snorri Sturluson als den allgemein angenommenen Autor der Óláfs saga zurückführen lässt, wie von Glauser selbst überlegt.10 Der letzte Interpolationsabschnitt ist in der Flateyjarbók zudem hinter das Ende der Óláfs saga helga platziert, sodass nicht selbstevident ist, inwiefern beide ideologisch unmittelbar zusammenhängen müssten. Eher fungiert dieser Abschnitt als gleichwertiger Schlusspunkt:11 König Óláfr ist tot, und auch die Erzählung von den Färöern kommt zu ihrem endgültigen Ende. Somit entsprechen sich zwar Ende der Færeyinga saga und Ende der größeren Óláfs saga helga und der Abschluss des färöischen Konflikts ist ein aus norwegischer Sicht positiver und zukunftsweisender. Dennoch ist gerade dieses Ende der Færeyinga saga auch aus ganz anderen Gründen das logische: Inhaltlich, weil Þrándrs Machtpolitik sich am Ende selbst überlebt und Þóra die aus ihrer Sicht gebührende Rache nehmen kann, und auch narrativ, wie im Folgenden noch einmal näher auszuarbeiten sein wird. Zugleich jedoch ist die innere Organisation der Færeyinga saga nicht alleine makrostrukturell gegliedert. Unterhalb der beiden Handlungskreise ist die Saga in der Flateyjarbók – ebenfalls durch die interpolierte Überlieferung bedingt – recht klar in fünf größere Erzählabschnitte aufgeteilt, die jeweils den Regierungszeiten der verschiedenen norwegischen Herrscher entsprechen, wie auch unter 7.4 nachvollzogen. Der erste Abschnitt umfasst grob die Regierungszeit Jarl Hákons, von Þrándrs Auslandsreise bis zu Sigmundrs Teilnahme an der Jómswikinger-Schlacht, den zweiten Teil bildet die Christianisierungsepisode, die sich in der Flateyjarbók durch den abweichenden Erzählton klar als eigenständige Einheit abtrennen lässt, der dritte Teil beinhaltet Sigmundrs Tod und Þrándrs folgende totale Dominanz, der vierte Teil schildert das Eingreifen König Óláfrs des Heiligen auf den Färöern und sein Scheitern, und der fünfte schließlich die Auseinandersetzungen zwischen Þrándr, seinen Neffen und Leifr. Diese fünf Abschnitte der Saga sind durch ihre Anordnung als Teilinterpolationen in der Handschrift klar voneinander abgrenzbar. Glauser schlägt außerdem eine figurenzentriertere Alternative für die Untergliederung der Saga vor:12 Er teilt den insgesamt zweigeteilten Plot in 7 Moves auf,
9 Vgl. bereits Kap. 2.3.2.2; siehe näher Kap. 6 zur autonomen Konfliktregulierung durch Leifr; Kap. 7.4.4 zur Rolle König Óláfrs. 10 Vgl. Glauser 1994, S. 115. 11 Vgl. auch Würth 1991, S. 64. 12 Vgl. Glauser 1989, S. 211–223.
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basierend auf Pavels strukturalistischem Modell,13 bei dem jedes Move-Ergebnis die Ausgangsbasis des folgenden Moves bietet. Der erste davon sei Þrándrs Aufstieg zur Macht, der zweite Sigmundrs Rückeroberung und Ausübung seiner Herrschaft einschließlich der Christianisierung, der dritte Þrándrs erneute Vormachtstellung durch Sigmundrs Ausschaltung. Move Nummer 4 beinhalte den Eingriff König Óláfr Haraldssons in die färöischen Angelegenheiten, Move 5 bestünde entsprechend in Þrándrs Verhinderung von Óláfrs Herrschaftsaspirationen. Den sechsten Move bilde Sigurðrs Emanzipationsversuch und den siebten schließlich Leifrs Durchsetzung. Diese Einteilung ist zutreffend und hält wichtige Entwicklungsstadien der Plotentwicklung fest. Jedoch wirkt sie insgesamt zu pointiert an Einzelfiguren gebunden, um die gesamte Komplexität der Erzählung zu umreißen. Insbesondere die unterschiedslose In-eins-Fassung von Sigmundrs Exil, Rückkehr und Mission ist zu reduktiv, da sie nicht berücksichtigt, dass sich die Figur zu diesen Zeitpunkten in ganz unterschiedlichen narrativen Entwicklungsstadien befindet, wie unter 4. aufgearbeitet. Ebenso unbeachtet bleibt in diesem Strukturmodell das Aus-dem-Rahmen-Fallen der Christianisierungsepisode im Kontext der Flateyjarbók, wie es oben deutlich wurde. Sinnvoll scheint jedoch eine Kombination von Glausers Strukturierung und den in der handschriftlichen Anordnung definierbaren Erzählabschnitten der FlateyjarbókRedaktion: Move 1 und 2, wie Glauser sie ansetzt, lassen sich als Untereinheiten des ersten Erzählabschnitts bestimmen, insofern man die Bekehrungsepisode als einen Einzelabschnitt herausrechnet, Move 3 deckt sich mit dem Erzählabschnitt um Sigmundrs Tod und Þrándrs zeitweiligen Sieg. Move 4 und 5 sind als Untereinheiten des Erzählabschnitts um König Óláfr Haraldsson zu fassen, Move 6 und 7 schließlich bilden zusammen den letzten Erzählabschnitt der handschriftlichen Gliederung. Eine Kombination der handschriftlichen Erzähleinheiten und Glausers Systematik kleinerer Move-Einheiten bietet sich an, weil sie noch genauere Aufschlüsse über Glausers Grundsatzhypothese der strukturellen Zweiteilung der Færeyinga saga erlaubt. Der erste Teil der Handlung fordert mit dem Tod Sigmundrs faktisch den zweiten als Konsequenz. Der zweite Handlungsteil spiegelt dabei die Konfliktsituation in der Vorgängergeneration wieder, er lässt sich narrativ gesehen als parallele, aber inverse Wiederholung des ersten lesen: So weist Leifr Ǫzurarson in Move 6 und 7 in Verbindung mit seiner Frau Þóra das gleiche Eigenschaftsbündel auf wie sein Ziehvater Þrándr, während Ausgeschlossenheit aus der machtpolitischen Sphäre und politisch inopportunes Kriegertum von Þrándrs Neffen als Wiederholung von Sigmundrs Charakteristik in Move 2 und 3 verstanden werden können. Da es in jedem Erzählabschnitt immer zwei Parteien sind, die sich auf den Färöern gegenüberstehen, machen deren Machteroberungsstrategien je einen Move des zweiteiligen Abschnittsaufbaus aus. Die Handlung jedes Moves entspinnt sich insofern konstant zwischen Machtwünschen einzelner Figuren und dem nominell übergeordneten Autoritätsanspruch der norwegischen Herrscher. Somit zeichnet sich die Færeyinga saga insgesamt durch
13 Siehe Pavel 1985.
8.1 Handlungskreise und Erzählabschnitte
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eine weitgehend dichotomisch gestaltete Struktur aus und erweist sich als auch auf kleinerer Ebene als makrostrukturell sehr regelhaft aufgebaut. Zugleich ist sie in ihrer Gestaltung des Erzählstoffes sehr ausgewogen. Sie versucht in erster Linie weder, den norwegischen Herrschaftsanspruch zu delegitimieren und die Politik von Þrándr oder Þóra moralisch zu rechtfertigen, noch deren Handeln als reines Aufbegehren gegen einen eigentlich gültigen ordo zu verurteilen. Aus einer solchen Strukturgliederung des Textes gewonnene Beobachtungen schärfen insofern zusätzlich den Blick auf Glausers Postulate einer »scharf umrissene[n]«14 ersten Teilhandlung. Diese zeigt sich selbst indes oftmals als weniger »strikt oppositorisch«15 aufgeteilt als häufig betont worden ist. Die Analyse der Konstellation von Þrándr und Sigmundr offenbart hingegen, dass sich die Erzählung innerhalb des ersten großen Konflikts nicht allein ausgiebig auf Dichotomien und ihre Gegenüberstellung stützt, sondern dass die pointiert hervortretenden Unterschiede, die in der bisherigen Forschungsliteratur stark gemacht wurden, erweitert und korrigiert werden müssen. Viele der Eigenschaften, die beiden Figuren aufgrund ihrer Gegenüberstellung besonders auffällig eingeschrieben sind, stellen sich bei näherem Blick als verwischt heraus. Somit werden in dieser Perspektive auf die Gesamtstruktur der Saga Parallelismen, Inversionen und Dichotomien auf nachrangiger Ebene als Strukturelemente der Færeyinga saga ebenso sichtbar wie mit Blick auf ihre makrostrukturelle Zweiteilung. Kontrastive Vergleichspaare, Parallelen und Brechungen sowie variierte Motiv- und Eigenschaftscluster sind typisch für die Figurenkonstellation im ersten Teil der Handlung, die der zweite spiegelt. Diese Strukturierung tritt ebenso deutlich hervor, wenn man den Blick von den Figuren auf die einzelnen Moves der Handlungsentwicklung richtet. In diesen werden nicht alleine makrostrukturell, sondern auch kleinteiliger Figurenzeichnungen sowie Handlungsverläufe und Motivkombinationen wiederholt. Zugleich werden diese Wiederholungselemente über die Moves hinweg variierend und kontrastiv gebrochen. Dadurch kommt eine sehr dicht verwobene Gesamtstruktur der Erzählung zustande. Betrachtet man also die strukturellen Untereinheiten des Textes in ihrem Verhältnis zueinander, so fällt auf, dass trotz aller augenfälligen und zunächst unmittelbar einleuchtenden Unterschiede der Text nicht arbiträr zusammengestückelt, sondern ebenso engmaschig verwoben ist wie die oben analysierten Figuren in ihrer Konstellation zueinander. Die großen Handlungskreise sind auf erzählstruktureller Ebene ebenso deutlich verbunden wie ihre jeweiligen Untereineinheiten. Dabei ist es insgesamt vor allen Dingen Þrándrs bis zum Ende der Erzählung fortgesetzte Präsenz und Rolle in der Plotentwicklung, die der Erzählung als Rückgrat dient.
14 Glauser 1989, S. 216. 15 Glauser 1989, S. 217.
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8.2 Verbindende Elemente des Gesamthandlungsgangs 8.2.1 Das semantische Feld um Þrándr als Strukturachse der Narrationsentwicklung Wie aus der vorliegenden Studie hervorgeht, lässt sich Þrándr als die bedeutendste Figur der Færeyinga saga bestimmen. Seine Biographie bestimmt den Plot. Seine Lebensdaten bilden das entscheidende Strukturglied der beiden Handlungskreise, der Konflikt der Saga ist erst in dem Moment endgültig gelöst, als Þrándr an ihrem Ende af helstride stirbt.16 Dennoch geht Glauser aufgrund der Beteiligung von weitaus mehr Figuren am Konflikt im zweiten Teil der Handlung davon aus, dass der zweite Teil der Færeyinga saga vor allem Þrándrs Herrschaftsverfall thematisiere. Seine Machtbasis und Dominanz über die Färöer zerfalle schrittweise; seine politische Agenda scheitere vor allem aufgrund der fortgesetzten Korrosion seiner Rolle als epistemisches Zentrum der Narration.17 Die oben vorgelegte Analyse seiner Figurenanlage hat hingegen erwiesen, dass Þrándr erst in der Auseinandersetzung mit König Óláfr den Zenit seiner Macht erreicht, auch wenn er textoberflächlich gar nicht mehr an den Auseinandersetzungen beteiligt scheint, während er andererseits stets aus dem Hintergrund seine Handlungsmacht entfaltet. Über weite Strecken der Handlung befindet sich Þrándr gerade nicht im Fokus des Textes. Die Erzählung erweist ihn vor allem durch ihre Strukturierung als ihre eigentliche Hauptfigur. Seine Präsenz in der Erzählung bestimmt die Entwicklung der Narration: Es sind seine Ziele und Aktionen, die den Text von seinem Beginn bis zu seinem Ende verbinden. Seine Zeichnung als Hauptfigur strukturiert den Gesamttext, der Machtdiskurs, den die Saga bietet, kristallisiert sich um seinen Aufstieg und Fall als Herrscher der Färöer. Erst ganz am Ende der Erzählung kommt ihm diese Bedeutung aufgrund seiner eigenen politischen Fehlkalkulationen abhanden. Die Themen und Eigenschaften, die aus Þrándrs Darstellung als Parameter der Macht und damit der Narration der Færeyinga saga destilliert werden können, lassen sich dabei verschieden semantischen Feldern zuordnen. In politischer Hinsicht zeichnet er sich als ›skrupellos‹ und ›weitsichtig‹ aus, während die Art und Weise seines Vorgehens als ›unmännlich‹ dargestellt ist, insofern, als dass sie als ›heimlich‹ bzw. ›hintergründig‹ semantisiert werden kann. Er hält sich nicht an die Moralmaßstäbe der Sagagesellschaft und sein Handeln läuft insbesondere den Prinzipien von Offenheit und aggressiver Aktivität zuwider, die sich als ›männlich‹ konnotiert begreifen lassen. Hinzu kommt eine Betonung seiner ›färöischen‹ Identität, sodass auch die semantischen Kategorien der ›Unabhängigkeit‹ und ›Eigenständigkeit‹ zentral für seine Figur gesetzt sind. Dennoch strebt er eine königsgleiche Stellung an, womit das semantische Feld der ›monarchischen Herrschaft‹ für seine Figur etabliert wird. Verhältnismäßig diffus ist das um Þrándr
16 Fær, S. 137 (vor verzehrendem Leid). 17 Vgl. Glauser 1989, S. 217–220.
8.2 Verbindende Elemente des Gesamthandlungsgangs
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entwickelte semantische Feld nur in Hinblick auf seine Religion. Zwar ist er in gewissem Umfang als ›heidnisch‹ konnotiert, jedoch setzt er Religion als politisches Kampfmittel ein und handelt weitgehend ›areligiös‹. Die Kategorien und Merkmale, mit denen Þrándrs Handeln so verknüpft ist, definieren die Parameter von Herrschaft auf den Färöern, indem dort eine an sie gebundene Erzählwelt, zentriert um seine Figur, entsteht, wie in Kapitel 2 und 3 dargelegt. In der Semiosphäre der Erzählung repräsentiert Þrándr einen Code, der an der Peripherie des norwegischen Reiches den Raum der Färöer seiner eigenen Deutungshoheit unterwirft. Durch die Kongruenz zwischen seinem Handeln und dessen irreführender Darstellung seitens der Erzählstimme wird Þrándrs raumsemiotische Dominanz zu einer Ordnung auch narrativer Art transzendiert. In der um Þrándr entwickelten Erzählwelt ergibt sich eine Einheit von Figurencharakteristik, Raumdarstellung und narrativer Zeichnung bzw. Präsentationsweise des Erzählten durch die Erzählstimme. Þrándr herrscht maßgeblich implizit, was durch den Erzähler verschwiegen inszeniert wird. Der diametral andersartig gestaltete Sigmundr scheitert in seinem Herrschaftsversuch daher insbesondere, weil seine Darstellung nicht mit den über Þrándrs Zeichnung festgelegten Regeln der Welt auf den Färöern übereinstimmt, wie unter 4. erarbeitet. Die norwegischen Herrscher, für die Sigmundr arbeitet, stehen mit ihren eigenen Herrschaftsansprüchen und Herangehensweisen konstant Þrándr gegenüber, und Jarl Hákon, dessen ›hintergründige‹ Art von Herrschaftsdurchsetzung der Þrándrs am meisten entspricht, stellt sich als der Erfolgreichste unter ihnen heraus.18 Dadurch wird die Bedeutung jenes semantischen Feldes, das Þrándrs Figurenzeichnung ausdrückt, für die Herrschaft auf den Färöern unterstrichen: Es wird zum Bewertungsparameter aller Figuren. An den Regeln der um Þrándr im Sinne der genannten semantischen Kategorien erzeugten Erzählwelt arbeiten sich sämtliche Eingriffsversuche von Norwegen aus ab, aber auch die Taten und Figurenzeichnungen seiner Nachfolger und seiner Neffen. Þrándr dominiert die Färöer in absoluter Weise, alle Vorgänge dort werden an seiner Machtfülle und damit auch der Darstellung seiner Figur bemessen. Seine auf den Färöern eingerichtete, eigene Ordnung zieht auch eine narrative Ordnung nach sich, in der die um ihn etablierten, semantischen Komponenten bedient werden müssen, um erfolgreich Macht auszuüben. In der Narration wird somit anhand von Þrándrs Charakteristik ein eng miteinander verzahntes semantisches Feld eröffnet, das sich als Voraussetzung für die Einnahme färöischer Herrschaft für alle Figuren als bestimmend erweist. Dieses semantische Feld bleibt über die gesamte Handlung hinweg konstant. Die Färöer, und damit auch die Færeyinga saga, werden auf dieser Grundlage zu Þrándrs eigenem Reich, zur durch die genannten, semantischen Komponenten gesteuerten Erzählwelt. Der Machtdiskurs der Saga stellt insgesamt eine narrative Bearbeitung dieses semantischen Feldes dar – die gesamte Plotentwicklung ist auf Þrándr und die in ihm festgelegte Semantik von Herrschaftsausübung
18 Siehe Kap. 7.4.2.
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hin ausgerichtet. Strukturell bestimmt dieses semantische Feld den Plot der Saga so in zwei Hinsichten: Einerseits bedarf seine Entwicklung als Grundlage von Þrándrs Identität einen Gegenpol, der definiert, wie färöische Herrschaft nicht errungen werden kann, andererseits müssen neu hinzutretende Figuren im zweiten Teil der Handlung sich an dem messen lassen, was über Þrándrs Darstellung im ersten Teil etabliert wurde. So zeichnet sich das Figurenpaar, das ihn am Ende als Herrschaftsinstanz auf den Färöern endgültig ablöst, gerade durch Þrándrs Eigenschaften aus: Leifr und Þóra gehen im Zusammenspiel ebenso vor wie Þrándr selbst stets seine Politik verfolgt hat, wie oben erörtert. Unter seinen Nachfolgern zeichnet sich hauptsächlich Þóra – als Frau – durch dieselbe, notwendige ›Skrupellosigkeit‹ und die taktische ›Weitsicht‹ aus. Weder sie noch ihr Ehemann bedienen Gender-typische Verhaltensweisen, Leifr agiert von sich aus nicht ›männlich‹. Dabei wird die Planung des Umsturzes am Ende der Saga weitgehend auch ›heimlich‹ vorangetrieben und Þóras eigentliches Anliegen offenbart sich erst in den letzten Kapiteln der Erzählung. Die Herstellung ihrer Herrschaft erfolgt ebenso wie Þrándrs Durchsetzung profan und ›areligiös‹. Þóra und ihr Ehemann regeln den Konflikt zwischen sich, Þrándr selbst und seinen Neffen ›eigenständig‹, wodurch sie das für Herrschaft maßgebliche Prinzip der ›Unabhängigkeit‹ aktualisieren, unterwerfen die Färöer aber ihrer ›königsgleichen Kontrolle‹ und ordnen sie letztlich der norwegischen ›Monarchie‹ unter. Diesen Bestandteil färöischer Herrschaft bedienen sie als Þrándrs Nachfolger so ironischerweise gerade ausgehend vom norwegischen Herrscher. Nur dadurch jedoch kann der Nullpunkt herrschaftlicher Organisation auf den Inseln, der vor Þrándrs Aufstieg die narrative Grundsituation definiert hat, wieder erreicht werden. Um die erzählerische Situation gänzlich beruhigt zum Abschluss zu bringen, ist insofern nicht allein eine Ausfüllung des für Herrschaft maßgeblichen semantischen Feldes von Nöten, die die Erzählung bestimmt, sondern ihre Elimination anhand einer inversen Erweiterung, wie näher zu zeigen sein wird. Þrándr lässt sich somit insgesamt als die eigentliche Hauptfigur der Erzählung benennen: Seine Lebensdaten sind Dreh- und Angelpunkt des Plots und das semantische Feld, das seine Figurenzeichnung ausmacht, bestimmt die Entwicklung und Ausgestaltung der Handlung bis zu ihrem Ende. Dennoch befindet er sich, insbesondere während des zweiten Großteils der Saga, nicht zwingend im erzählerischen Fokus. Seine Eigenschaft als Hauptfigur der Færeyinga saga ist vor allem struktureller Natur, ein Element, das die beiden Handlungskreise des Textes umschließt und verbindet.
8.2.2 Wiederholung und Spiegelung als strukturelle Bindeglieder der Erzählabschnitte Vom figürlichen Wechsel in der Position des Herrschers der Färöer von Þrándr auf Leifr und seine Frau aus lassen sich zwei Beobachtungen für die strukturelle Komposition der Færeyinga saga folgern. Einerseits zeigt sich darin die von Glauser als
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maßgeblich angesetzte Heterogenisierung im Ensemble der Figuren,19 auf deren strukturelle Bedeutsamkeit noch eigens einzugehen sein wird, andererseits aber auch deutlich ein paralleler Aufbau der zweiten Teilhandlung zum ersten Handlungskreis. Der zweite Handlungskreis erweist sich als nicht allein über die Figur Þrándrs und der aus seiner Darstellung ableitbaren semantischen Komposition von Herrschaft auf den Färöern oder die Familiengeschichte der Färinger und ihrer neuen Generation in den ersten integriert, sondern auch auf struktureller Ebene. Nicht nur Þrándr wird in seiner Position am Ende der Saga durch ein Figurenpaar abgelöst, denn auch dieses Figurenpaar findet Gegenspieler in Form von Sigurðr und Þórðr Þorlákssynir und Gautr hinn rauði, die in ihrer Position Sigmundr ersetzen, wie in Kapitel 5 argumentiert. Der Konflikt zwischen diesen beiden Figurengruppen stellt so eine Wiederholung des Konflikts zwischen Þrándr und Sigmundr aus dem ersten Handlungskreis dar. Strukturell verbunden werden beide Großeinheiten der Handlung also durch die Wiederholung der Figurenkonstellation im Rahmen des ursprünglichen Konflikts mit im Vergleich vertauschten Rollen.20 Die Erzählabschnitte von Sigmundrs Exil und Rückkehr sowie der zweite Handlungskreis als lang angelegter Weg seiner Hinterbliebenen zurück an die Macht bearbeiten eine Racheerzählung.21 Aus Þóras Sicht muss ebenso der Tod ihres Vaters gerächt werden, wie für diesen selbst eine Generation zuvor der Wunsch nach Vaterrache bestand. Auch die Vorgehensweisen der die Macht an sich bringenden Parteien entsprechen einander in beiden Situationen: In mehreren Etappen bzw. Versuchen werden die Gegner Þrándrs (Sigmundr und Þórir) und Leifrs (Sigurðr, Þórðr und Gautr) nacheinander ausgeschaltet. Auch weitere Elemente des Erzählgangs werden im zweiten Konflikt wiederholt. Nachdem Sigmundr ausgeschaltet ist, bietet Þrándr eine Hochzeit beider Familien an, das Gleiche versucht sein Neffe Sigurðr und wird daraufhin getötet. Ihn und Sigmundr ereilt beide ihr Tod auf der Flucht vor einem überraschenden Angriff auf ihr Leben. Die von Þóra betriebene und bis zum Ende geheim gehaltene Entführung ihres eigenen Sohnes aus Þrándrs Haushalt lässt sich der möglichen, aber nicht aufgelösten und insofern von der Erzählung verheimlichten Beteiligung Þrándrs an Sigmundrs Ermordung entfernt parallel stellen. Der Text berichtet zwar nicht direkt davon, dass Þorgrímr mit der Ermordung Sigmundrs in Þrándrs Auftrag gehandelt hätte, legt im Zuge der Darstellung der Aufklärung des Mordes aber entsprechend deutbare Indizien an.22 Die Auseinandersetzung zwischen beiden um die Macht kämpfenden Parteien ereignet sich zudem unter der nominellen Herrschaft einer dritten Partei, die in den Machtkampf allerdings nicht einzugreifen im Stande ist und hilflos »außerhalb des Wissens-, Entscheidungs- und Aktionszentrums« der Vorgänge platziert ist.23 In ersterem Fall
19 20 21 22 23
Vgl. Glauser 1989, S. 217 u. S. 220. Zum darin neben der figürlichen Pluralisierung sichtbaren Prinzip der Inversion vgl. Kap. 8.5.2. Vgl. Kap. 4.2.1 u. Kap. 7.3.3. Siehe hierzu Kap. 3.6.3. Glauser 1989, S. 220.
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handelt es sich dabei um Sveinn und Eiríkr Hákonarsynir, die gegen den Tod ihres Lehnsmanns Sigmundr aufgrund ihrer zurückgezogenen Herrschaftsform nichts unternehmen können. Die gleiche Position nimmt – wie von Glauser richtig bemerkt 24 – Þrándr am Ende seines Lebens ein. Während der Auseinandersetzung zwischen Leifr und seinen Neffen ist er die nur mehr nominelle Herrschaftsmacht auf den Färöern, die in den Machtkampf nicht mehr aktiv eingreifen, sondern ihn nur hilflos mitansehen kann. Somit zeigt sich also, dass die von Glauser für den ersten Handlungskreis angesetzte, »durchgängig homogene Rachestruktur« im zweiten Teil des Plots keineswegs aufgelöst wird,25 sondern dass im Gegenteil die Figurenkonstellation im letzten Teil der Handlung exakt die Konfliktlage im ersten Handlungskreis wiederholt, wobei grundsätzlich auch die gleiche »Rachestruktur« gültig bleibt. Diese Wiederholungsstruktur des Plots bindet den Text zusätzlich zum beschriebenen semantischen Feld, das färöische Herrschaft kennzeichnen muss, zu einer homogenen Einheit zusammen. Solcherlei Parallelismen und Spiegelungen prägen die Struktur der Saga aber nicht nur, was die Konstellation ihrer Hauptfiguren anbelangt. Die Færeyinga saga erweckt insgesamt einen sehr symmetrischen, in der Hauptsache zweigliedrigen Eindruck. So kann etwa die Christianisierungsepisode als Mittelachse des Geschehens betrachtet werden, auch wenn in ihr Thema und Darstellungsweise mitunter deutlich aus dem Gesamtkontext der Erzählung ausscheren. Nichtsdestoweniger trennt sie grundsätzlich den Zeithorizont der Saga in eine vorchristliche und eine spätere, christliche Zeit. Diese Tatsache kann dabei zwar nicht als Zeitenwende betrachtet werden, stellt aber unzweifelhaft eine historische bedingte Scheidewand dar, die offenbar nicht umgangen werden kann. Die Bekehrung der Färöer zum Christentum fügt sich damit insgesamt ins Bild der drei Grundparameter historischer Entwicklung ein, die Meulengracht Sørensen für die Isländersagas herausgearbeitet hat:26 Die Saga beginnt mit der Landnahme auf den Färöern und entwickelt sich über die Christianisierung schließlich bis zur endgültigen Eingliederung dieses Gebiets ins Reich der norwegischen Krone. Grundsätzlich wird Geschichte in der isländischen Erzählung über die Färöer also im selben Dreischritt verstanden, in dem die Isländer die eigene Vergangenheit begreifen. Im Vergleich werden indes andere Akzente gesetzt, da die Geschichte der Färöer keine unmittelbare Relevanz für das isländische Selbstbild besitzt, wie bereits unter 2.3.3 erörtert. Auch die historische Gesamtentwicklung strukturiert so den Aufbau der Færeyinga saga, ist aber noch weit weniger ideologisch durchtränkt als die Betrachtung von Geschichte im Rahmen der Isländersagas. Die Sequenz, die von der Christianisierung berichtet, dient neutral betrachtet insofern der symmetrischen Strukturierung des Gesamterzählflusses, indem sie pointiert in ihrer Mitte angesiedelt wird und 23 Kapitel auf
24 Vgl. Glauser 1989, S. 220. 25 Vgl. Glauser 1989, S. 217. 26 Siehe Meulengracht Sørensen 1993, S. 79–91.
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sie folgen, während ihr 26 bzw. 27 vorausgegangen sind. Sie bietet mit Óláfr Tryggvason einen dezidiert christlichen Herrscher, der eine völlig neue, göttlich fundierte Ideologie in den Text einzuziehen versucht,27 und sich damit als herrschaftlicher Kontrapunkt zu seinem Vorgänger wie auch seinem Nachfolger präsentiert. An der Christianisierung, die die letzten Elemente in Sigmundrs Niedergang in seinem Machtkampf besiegelt, spiegelt sich so einerseits der Gesamthandlungsgang der Saga, andererseits aber auch kleinteiligere Elemente der von Glauser angesetzten Moves als Struktureinheiten des Textes. Óláfrs Vehemenz in seinem Herrschaftsanspruch korrespondiert mit der seines gleichnamigen Nachfolgers, während Hákon und seine Söhne vor ihm bzw. zwischen beiden eine selbstbestimmtere Lebensweise ihrer Untertanen zulassen.28 Zugleich untergliedert die Christianisierung auch die Konfrontation zwischen Sigmundr und Þrándr in zwei erzählerisch annähernd gleich umfangreiche Etappen – zuvor die Kapitel 24 bis 27, anschließend die Kapitel 34 bis 39 – in denen beide im direkten Konkurrenzkampf interagieren. Dabei behält zunächst Sigmundr die Oberhand, während Þrándr die Auseinandersetzung nach der Christianisierung siegreich gestalten kann. Jenseits solcher groß angelegter Strukturprinzipien binden den Gesamttext auch motivische und szenische Wiederholungen zusammen. Das ›Zwei-Brüder‹Motiv etwa bringt ein figürliches Konstellationsprinzip in den Text ein, das immer wieder variierend durchgespielt wird: Þrándr und Þorlákr, Brestir und Beinir, Sigmundr und Þórir, Sigurðr und Þórðr, Leifr und Gilli, sie alle spielen die gleiche Konstellation von älterem und jüngerem Bruder durch. In konzeptioneller Ähnlichkeit werden dauerhaft einzelne Figuren zu Schatten der ihnen übergeordneten Figuren stilisiert: Sigurðr, Þórðr und Gautr fungieren lange Zeit ebenso nur als Stellvertreterfiguren ihres Onkels wie Sigmundr, vor allem während der Christianisierungsepisode, zum Avatar des Königswillens wird. Ebenso bringt Þrándr Ǫzurr und seinen Sohn gleichermaßen unter seine Kontrolle, um selbst die Vorherrschaft zu behalten. Þrándrs Übernahmen der Ziehvaterschaft für Ǫzurr, seinen Sohn Leifr und die Kinder seiner Verwandten sowie für Leifrs Sohn Sigmundr werden in unterschiedlichen Etappen des Erzählgangs situiert, in Glausers Move-Systematik Move 1, 2 und 5, und damit auch in unterschiedlichen handschriftlichen Erzählsequenzen, während auch Sigmundr in Norwegen seinen Ziehvater findet. Das Motiv verbindet so den Gesamttext.29 In Glausers Move 3, 4 und 7 kehren jeweils – jedenfalls vermeintlich – Tote aus dem Jenseits zurück: Sigmundr wird von Þrándr zunächst beschworen, anschließend inszenieren sich seine Neffen selbst als Wiedergänger, während am Ende Sigmundr seiner Frau nochmals in einer Traumvision erscheint. Die erste und letzte Wiederkehr jeweils Sigmundrs scheinen dabei als echt inszeniert, während Sigurðrs, Þórðrs und Gautrs afturgöngur sich als Trugschluss herausstellen. Auch
27 Siehe Kap. 7.4.3. 28 Vgl. Kap. 7.4. 29 Zur Funktion der Ziehvaterschaften in Þrándrs Politik siehe Kap. 3.3.
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intern zeigen die – handschriftlich zudem in unterschiedlichen Erzählabschnitten untergebrachten – Totenerscheinungen also eine spiegelnde Rahmung. Als Stolperstein der machtpolitischen Interessen sowohl Þrándrs als auch seiner Neffen erweisen sich in Folge von Glausers Move 3 bzw. 6 die Brautwerbungsfahrten, im Gegensatz zur nachhaltig erfolgreichen Sigmundrs im vorherigen Move 2, in der auch Þorkells Brautraub berichtet wird. Damit finden sich kontrastiv vergleichbare Brautwerbefahrten in drei unterschiedlichen Abschnitten der Saga. Sigmundrs glückliche Ehe spiegelt die seines Ziehvaters ebenso wie die seines Nachfolgers Leifr wieder. Auch unterhalb der Ebene handschriftlicher und Move-schematischer Textgliederung wiederholen und spiegeln sich insofern einzelne Elemente der Erzählung. Alle drei Frauenfiguren aus Þorkells bzw. Sigmundrs Familie werden zudem in Parallele zueinander ähnlich aktiv und selbstbestimmt in den sie betreffenden Angelegenheiten gezeichnet. Sigmundrs Zeichnung als großer Wikinger in den einander strukturschematisch exakt entsprechenden Zügen der Kapitel 18 bis 21 korrespondiert mit seiner Rolle als bedeutender Teil von Hákons Armee während der Jómswikingerschlacht an anderer Stelle.30 Zum Teil wiederholen sich ganze Szenen vollständig: Sigurðr, Þórðr und Gautr verfahren im Kampf mit Arnljótr exakt auf die gleiche Weise wie Sigmundr Jahre zuvor im Kampf gegen sie und ihren Onkel selbst, was Sigurðr sogar persönlich verbalisiert. Ebenso entsprechen sich die Situationen vollständig, als Sigmundr und Þórir sich in Glausers Move 2 im Dovrefjell verirren, und als sie – in Move 3 – vor Þrándrs Angriff auf den Hof schwimmend zu entkommen suchen. Durch solche und ähnliche Parallelismen im Erzählgang wird struktureller Zusammenhang der einzelnen Textpartien auch unterhalb der Ebene konzeptioneller Entsprechungen und Wiederholungen von Figurenkonstellationen hergestellt. Strukturschematische Klammern ergeben sich auch hierbei um Þrándrs Darstellung als Fixpunkt der Gesamtnarrationsentwicklung. Die Haleyri-Szene etabliert ein konzeptionelles Signum der Þrándr-Figur, das am Textende und kurz vor dem Tod der Hauptfigur die letztlich auf Þrándr zurückgehende kredda wiederholt, die ebenso als Symbol seines Charakters gedeutet werden kann.31 Beide Elemente verleihen der Figurenzeichnung einen Rahmen und zeigen szenisch ausgeführte Miniaturen seines Charakters. Die Haleyri-Szene lässt sich in ihrer Darstellung Þrándrs zudem mit den Vorgängen um Sigmundrs Ermordung und dem Auftritt Óláfrs des Heilige rückbinden. Auf bestimmte, semantisch verbundene Elemente dieser Szenen lässt sich ein Gliederungsprinzip des Gesamttextes aufbauen, das eng mit Þrándrs Zeichnung verwoben ist und in dessen Dienst steht, welches noch näher auszuführen ist. Durch wiederholte Einzelelemente, konzeptionelle Entsprechungen und sich ähnelnde Gesamtkonstellationen wird die Færeyinga saga in ihrer Gesamtheit so trotz ihrer zerstückelten Überlieferung als strukturell einheitliche und symmetrisch aufgebaute Erzählung greifbar. Keineswegs wird sie im späteren Handlungsverlauf
30 Vgl. Kap. 4.2.4. 31 Siehe hierzu jeweils Kap. 3.2.3 u. Kap. 3.6.2.
8.2 Verbindende Elemente des Gesamthandlungsgangs
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nur ausdifferenzierter und uneinheitlicher,32 sondern viele Elemente des ersten Handlungskreises werden an späteren Stellen recht exakt wiederholt. Grundsätzlich entsprechen sich erster und zweiter Handlungskreis in ihrer Gegenüberstellung einer Partei mit Þrándrs Überlegenheit und einer, die ähnlich chancenlos agiert wie Sigmundr. Bemerkenswert ist dabei, dass sich dieser Befund nur auf den letzten Erzählabschnitt der handschriftlichen Überlieferung bezieht, in Glausers Move-Systematik Move 6 und 7. Diese beiden spiegeln in ihrer abwechselnden Zentrierung der gegnerischen Figuren – zunächst die versuchte Machteroberung Sigurðrs, anschließend die faktische Leifrs – den Anfang der Erzählung, die ersten beiden Moves des ersten Handlungsabschnitts, in denen zuerst Þrándrs Aufstieg auf den Färöern und anschließend Sigmundrs Aufstieg in Norwegen thematisiert werden. Wie nach Sigmundrs Rückkehr aus dem Exil, vor und nach der Christianisierung, werden in den abschließenden Kapiteln schließlich beide Perspektivierungen miteinander verschweißt, indem Sigurðr und seine Leute nach Skúfey reisen, so wie Sigmundr ins Gebiet seiner Feinde aufbricht. Der vorhergehende Abschnitt – der Eingriff Óláfrs des Heiligen in die färöischen Angelegenheiten – wiederholt für sich gesehen ebenso vorhergehende Konstellationen, kann aber nicht mit dem Erzählende in eins gesetzt werden. Im Gesamtablauf der Handlung bildet dieser Abschnitt ein retardierendes Moment. Mit Sigmundrs Tod wechselt die Erzählung ihr Figurenensemble. Der neu auftretende König lässt sich als Nachfolger Sigmundrs in seiner direkten Gegnerschaft zu Þrándr verstehen.33 Obgleich Þrándr zu diesem Zeitpunkt gänzlich aus dem narrativen Fokus gerät, entspinnt sich der eigentliche Konflikt zwischen ihm und Óláfr. Beide handeln allerdings über Mittelsmänner. Diese alle befinden sich zwischen den beiden eigentlichen Herrschern in ebenso marginalisierter Position wie Sigmundr, »left to walk a fine line« zwischen den eigentlichen Herrschaftsparteien in Norwegen und auf den Färöern.34 Die Dreizahl der jeweils im Vordergrund agierenden Verwandten – einerseits Þórálfr, Leifr und Gilli und andererseits Sigurðr, Þórðr und Gautr – entspricht einander dabei, wobei der Abschnitt insgesamt einen sehr gleichmäßigen Aufbau zeigt. Zunächst reisen die Färinger nach Norwegen, wo sie in Form ihrer Unterwerfung bzw. im Falle von Sigurðr, Þórðr und Gautr durch die Mordanklage eine Niederlage ihrer persönlichen Interessen hinnehmen müssen. Der zweite Teil des Abschnitts korrespondiert mit dem ersten, indem diesmal der Norweger Karl auf die Färöer reist und Óláfr durch den Totschlag an ihm seine Niederlage einstecken muss.35 Leifr wechselt im Zuge dieses Erzählabschnitts die Familienzugehörigkeit
32 Siehe Glauser 1989, S. 217 u. S. 220. 33 Vgl. näher Kap. 7.4.4 bzw. Kap. 3.4.4. 34 Bonté 2014b, S. 100. 35 Betrachtet man den Abschnitt für sich allein als Auszug der Færeyinga saga innerhalb der Óláfs saga helga, wurden in ihm selbst dem Anschein nach alle wesentlichen Elemente des ersten Handlungsteils der Saga (und damit – mit Blick auf die Flateyjarbók – des in der vorhergehenden Óláfs saga Tryggvasonar enthaltenen Handlungskreises) auf engstem Raume versammelt: Þrándrs ver-
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und wird zum Nachfolger Sigmundrs. Auffällig ist aber, dass er während des Konflikts zwischen Þrándr und König Óláfr in seinen Angelegenheiten mit Þrándrs Neffen unterlegen bleibt, solange diese mit ihrem Onkel noch gemeinsame Sache machen. Innerhalb dieses Erzählabschnitts sind es Leifr und Gilli, die in ihrer Zweierpaarung und Unterlegenheit die zuvor von Sigmundr besetzte Position gegenüber Þrándr einnehmen: Sie sind zu zweit ebenso königstreu und damit norwegisch konnotiert wie ihr Vorgänger. Zudem ist diese ›Zwei-Brüder‹-Paarung ebenso homosozial wie die von Sigmundr und Þórir, und damit auch ›männlich‹ konnotiert. Beide Männer haben, verbunden mit diesem semantischen Feld, keine Chance zur Herrschaftsausübung auf den Färöern. Þrándr ergänzen seine Neffen, mit deren Darstellung zwar bereits hier die narrative Position Sigmundrs in seiner Unterlegenheit gespiegelt wird – Sigurðr lässt sich als Krieger durch eine einfache Provokation seines Onkels zum Instrument von dessen Willen machen – doch können ihre Defizite gleichsam aufgefangen werden, solange sie nicht mit eigener Agenda auf den Färöern tätig werden. Damit spiegeln sie wiederum Sigmundr während seiner Zeit in Norwegen, als auch seine kriegerische Potenz direkt für einen Hof fruchtbar gemacht werden kann. Wie bei seinem Onkel ereignet sich während Sigurðrs Fahrt ein heimlich begangenes Verbrechen, das nicht aufgeklärt wird. So stellt der Ablauf der Ereignisse erneut eine strukturelle Klammer im Aufbau der Gesamtsaga dar. In der Position der Mittelsmänner im Konflikt zwischen Þrándr und Óláfr scheint dabei die Sigmundrs gleich doppelt gespiegelt – noch ist die erzählerische Bühne nicht bereit für einen gänzlich neuen Konflikt. So spiegelt der Abschnitt des Konflikts zwischen Färingern und König Óláfr dem Heiligen einerseits recht genau die allgemeine Konfliktlage des ersten Handlungskreises, während er zugleich die Schritte und Konstellationen einleitet, die den Konflikt letztlich endgültig beenden. Er situiert sich damit als Mittelschritt in der Entwicklung der Ereignisse insgesamt, ein weiteres Element, dass die planvolle und ausgewogene Gesamtstruktur des Textes unterstreicht. Ein Abschluss des Konflikts kann noch nicht erreicht werden, solange weiterhin Þrándr, wiewohl fast gänzlich aus dem Fokus der Narration verschwunden, das erzählerische Zentrum ausmacht. Erst indem zum Abschluss der Færeyinga saga durch Leifr im Verbund mit Þóra Þrándrs narrative Position nicht allein wiederholt, sondern das zugehörige semantische Feld auch erweitert und durch den Wechsel des Erfolgs innerhalb der beiden Familienzweige zugleich invertiert wird, kann der Schlusspunkt der Erzählung erreicht werden. Dieser Mechanismus der Erweiterung wird noch näher auszuführen sein.
deckte Machtpolitik ebenso wie das Scheitern reiner Mittelsmänner, dabei zugleich der Dualismus von norwegischem Herrschaftsanspruch und färöischer Eigenweltlichkeit und die einander entsprechende Gegensätzlichkeit der zwei Familienzweige der färöischen Herrscher.
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8.2.3 Binarismen und Kontraste als notwendige Strukturelemente des Erzählgangs Wenn die Gesamterzählung der Færeyinga saga in der Hauptsache über die Darstellung Þrándrs und dem von ihm ausgehenden, semantischen Feld strukturiert wird, folgt daraus nicht allein die Tatsache, dass seine Nachfolger als Herrscher schließlich die gleichen Eigenschaften auszeichnen wie ihn. Seine Zentralsetzung bedingt hingegen die vordringlich dichotomische Oberflächenstruktur der Narration, die in der bisherigen Forschung so intensiv ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Þrándrs Machtstreben in Abkehr zur nominellen Oberhoheit der norwegischen Herrscher bedingt die Entwicklung einer eigenen Identität, die in der wechselseitigen Innen/Außen-Semantik der Raumkonzepte des Textes resultiert. Um Identität entwickeln zu können, ist der stetige Rückbezug auf ein dauerhaft als Alternative verworfenes ›Anderes‹ eine theoretische Notwendigkeit.36 Diese Tatsache begründet die diametral unterschiedliche Zeichnung Sigmundrs als Þrándrs langzeitiger Hauptkonkurrent.37 Über dessen Darstellung wird erwiesen, worin Þrándrs Identität nicht besteht, etwa in einem nachahmenswerten und integren Charakter, moralischer Berechtigung und einem sagagesellschaftlichen Normbild. Entsprechend wird auch erwiesen, wie Herrschaft auf den von Þrándr dominierten Färöern nicht durchsetzungsfähig ist. Der Dualimus dieser beiden Figuren zergliedert ihren Konflikt »strikt oppositorisch […] in semantische Kategorien«, für die sie als Personifikationen stehen.38 Dabei hat die obige Analyse ihrer Figurenzeichnungen jedoch ergeben, dass eine alleinige Konzentration auf die Kategorien von Unabhängigkeit und Christentum bzw. ein vermeintlich altes und ein neues System samt der damit verbundenen ideologischen Aufladung zu kurz greift. Sigmundr und Þrándr verhalten sich auf sämtlichen Ebenen der Narration in ihrem Verhältnis zum zentralen Parameter der Macht gegensätzlich zueinander und unterscheiden sich wesentlich auch in Hinblick auf ihre narrative Inszenierung.39 Die Erzählung setzt so auch weit jenseits der oft besprochenen Thematiken von Christianisierung und Unabhängigkeit zentrale Themen für den Konflikt beider Figuren, wie etwa Geld- und Landbesitz, Recht samt seiner Ausübung und Konfliktbeilegung, das Verhältnis des Einzelnen zur sozialen Umgebung, die Momente von Schicksal und Vorhersehung sowie Zukunftsplanung, die für die Sagagesellschaft zentralen Wertethiken von Ehre, Männlichkeit und Treue und dergleichen mehr. In all diesen Aspekten verhalten sich Þrándr und Sigmundr gegensätzlich, sodass unmittelbar eine zweiteilige Struktur des Konfliktverlaufes entsteht. Dabei entwickelt sich alle Handlung in der Færeyinga saga grund-
36 37 38 39
Vgl. Brons 2015; Koschorke 2013, S. 96–98 u. S. 116–118. Siehe Kap. 4. Glauser 1989, S. 217. Siehe Kap. 3 u. Kap. 4.
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sätzlich nur im Zweischritt zwischen den nominell legitimen Machtansprüchen der norwegischen Krone und Þrándrs persönlichem Machthunger. Diese Gegenüberstellung von Sigmundr und Þrándr ist strukturell begründet, indem sie aus Þrándrs Stellung als Zentralfigur des Textes resultiert, und sie trägt entsprechende Bedeutung für die Handlungsentwicklung. Die stark divergierende Stilisierung der Handlungsträger wird in sehr ausgewogener Art und Weise in Parallelstellung präsentiert. Die Erzählsequenz etwa, die sich in der Zeit der Herrschaft Jarl Hákons in Norwegen ereignet, wird zweigeteilt auserzählt: Þrándr und Sigmundr fungieren wechselnd als Zentralinstanzen der jeweiligen Narrationsteile.40 Zunächst fokussiert die Færeyinga saga auf Þrándr, bis dieser die Vorherrschaft auf den Färöern erlangt hat – der entsprechende Abschnitt der Saga entfällt auf die Kapitel 1 bis einschließlich 9, was dem ersten Move der von Glauser vorgeschlagenen Textstruktur entspricht. Anschließend fokussiert die Narration bis einschließlich Kapitel 23 vollständig auf Sigmundr. Auch anhand dieser Aufteilung wird der symmetrische Textaufbau sehr deutlich. Der erste Erzählabschnitt ist damit annähernd paritätisch auserzählt, während der zweite Teil dieses Abschnitts sowie die beiden folgenden Erzählabschnitte des ersten Handlungskreises beide Perspektiven zusammenschweißen. Oberflächlich bleibt dabei Sigmundr die zentrale Instanz, während seine direkte Gegenüberstellung mit Þrándr den Erweis von dessen hintergründiger Vormachtstellung erbringt. Die Perspektiven des Textes auf seine Hauptfiguren überlagern sich, doch als eigentlich maßgeblich für die Entwicklung der Narration wird dadurch ex negativo das semantische Feld erwiesen, das intrinsisch an Þrándr geknüpft ist und das Sigmundr schon ob seiner vordergründigen Fokussierung im Text nicht adäquat bedienen kann. Gerade die Gegenüberstellung der somit als Ego und Alter herausgestellten Figurenkonzepte ist dabei notwendig, um die vorgebrachte Narration entwickeln zu können. Die semantischen und charakterlichen Unterschiede zwischen Þrándr und Sigmundr stechen so deutlich hervor, weil sie parallel zueinander eröffnet und abgearbeitet werden. Wenn Þrándr zu Beginn der Erzählung intensiv und auf vielfältige Weise seine moralische Verwerflichkeit unter Beweis stellt, zeigt er sich damit als die Negativfolie für Sigmundrs im folgenden Verlauf der Erzählung ausführlich dargestellte moralische Integrität. Þrándrs Position als Hauptfigur bedingt also einerseits eine kontrastiv im Text entwickelte Alternative, andererseits einen symmetrischen Textaufbau, der beide Alternativen klar vor Augen führt. Dabei prägen binäre Unterscheidungen nicht nur die Konstellation der Hauptfiguren im ersten Handlungskreis, sondern Kontraste dienen ebenso wie die Wiederholungen als verbindende Strukturelemente des Textes. Auch die Wiederholung der Grundkonstellation im zweiten Teil der Handlung bedingt natürlich die oppositorische Unterscheidung der beteiligten Figuren. Dichotomien organisieren weitgehend auch die Konstellation der dem Zentralpaar beigestellten Figuren. Jarl Hákon Si-
40 Vgl. auch Berman 1985, S. 122–123.
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gurðarson ist etwa als recht menschlich anmutender Herrscher konturiert, während König Óláfr Tryggvason im Kontrast dazu mit unmissverständlicher Autorität als absoluter Herrscher in den Vordergrund tritt. Beide Herrscherfiguren treten in unterschiedlichen Erzählabschnitten auf, die entsprechend in Parallelstellung erscheinen und gerade dadurch den Kontrast beider Figuren herausstreichen. Die norwegischen Herrscherfiguren lassen sich generell im Kontrast zueinander in ihrer Gegenüberstellung mit Þrándr lesen, wie oben gezeigt. Auch die Konstellationen innerhalb des ›Zwei-Brüder‹-Motiv sind in binären Schemata gezeichnet.41 Auch abseits figürlicher Zweierpaare arbeitet die Færeyinga saga oftmals mit kontrastiv gegeneinander gesetzten Szenen, beispielsweise, wenn sich Sigmundrs Verbindung mit Hákons Patronin Þorgerðr und die Szene seiner Konversion vor Óláfr Tryggvason gegensätzlich zueinander verhalten.42 Kontrastiv fungiert auch die bereits angesprochene Tatsache, dass Sigurðr während seiner destabilisiert erzählten Reise nach Norwegen des sich dort ereignenden Verbrechens offen beschuldigt wird, während ähnliches bei Þrándrs erster Reise nach Dänemark völlig unterbleibt. Das Nämliche gilt für die Tatsache, dass Sigmundr tatsächlich von den Toten wiederzukehren scheint, während es sich bei den afturgöngur von Þrándrs Neffen nur um eine inszenierte Finte handelt. Ebenso kontrastiert etwa die Thematik der glücklichen Ehen Sigmundrs mit Þuríðr und Leifrs mit Þóra mit dem mangelnden Geschick in der Etablierung von Herrschaft durch Heiratsallianzen seitens Þrándrs und Sigurðrs sowie der generellen Bedeutungslosigkeit weiblicher Figuren in dessen Familie.43 Die Ereignisse ganzer Erzähluntereinheiten spiegeln sich oftmals kontrastiv, so etwa, wenn Sigmundr und Þrándr vor und nach der Christianisierung in direkter Konkurrenz zueinander stehen und dabei zunächst Sigmundr den Sieg davonträgt, während er im nächsten Abschnitt unterliegt und sein Leben verliert. Das gleiche Prinzip des Kontrastes zeigt sich, wenn Leifr am Ende in zwei aufeinander folgenden direkten Angriffen Þrándrs Neffen beseitigen kann, während Sigmundr Þrándrs direkte Angriffe abwehrt und im Gegensatz zu Sigurðr erfolgreich flieht, um schließlich, ohne den letzten Kampf, der Þrándrs Neffen zugebilligt wird, ehrlos ermordet zu werden. Die hier angegebenen, zusammenfassenden Beobachtungen müssen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da die obigen Kapitel der vorliegenden Studie sie bereits ausführlich behandelt haben. Die konzise aufeinander ausgerichtete und eng gesteckte Figurenkonstellation der Saga in Verbindung mit der symmetrischen Aufbauweise des Textes gestaltet zudem kontrastive Vergleiche miteinander einerseits unmittelbar eindringlich und erlaubt sie andererseits in fast allen möglichen Hinsichten. Kontraste und Binarismen ergeben sich aus der gleichmäßigen Textstruktur ebenso natürlich anmutend wie sie diese ergänzen. Infolge der insgesamt symmetrischen und sich oftmals spiegelnden Aufbauweise der Gesamtsaga werden
41 Siehe Kap. 7.5. 42 Vgl. Kap. 4.5.2 u. Kap. 8.3.3. 43 Siehe zu Letzterem Kap. 3.2.1.
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insofern Dichotomien als wichtigstes strukturelles Element der Færeyinga saga-Narration begreifbar. Sie organisieren die Erzählung in augenfälliger Weise und sind deswegen in vorangegangenen Forschungen häufig betont worden. Jedoch zeigt ein näherer Blick auf ihr Verhältnis zueinander, dass dem Text wesentlich an ihrer Dynamisierung gelegen ist. Die vordringliche Stilisierung binärer Oppositionspaare in der Erzählung wird einerseits durch ihre wechselseitige Fokussierung in Parallele zueinander möglich, sodass zumeist beide Polenden der Struktur gleichberechtigt im Text erscheinen und zudem nicht explizit durch die Erzählung bewertet werden. Andererseits werden durch diese offene Prozessierung der Binärelemente nebeneinander her häufig Inversionseffekte erzielt, die abschließend noch näher besprochen werden. Zunächst muss jedoch ein letzter, die bisherige Analyse erweiternder Exkurs zwischengeschaltet werden, denn die Gegenüberstellung von Sigmundr und Þrándr und ihrer so vielgestaltigen Dichotomie stiftet Polarität nicht allein auf der primären Erzählebene. Am Dualismus dieser Figuren wird ersichtlich, dass die Narration der Færeyinga saga sich auf mehreren Ebenen abspielt. Sie ist im ersten Handlungskreis auch durch eine narrative Mehrschichtigkeit gezeichnet, die mehrere, übereinandergelegte Schalen von Bedeutungskonstruktion erkennen lässt. Diese wurden in der bisherigen Interpretation weitgehend ausgespart und sollen abschließend neu in die Analyse der Narrationsstruktur eingebracht werden.
8.3 Erweiternder Exkurs: Multiple Erzählebenen in der Færeyinga saga 8.3.1 »Skaldic prosaics«: Die Sagaliteratur und der vielschichtige Textsinn Während die Bedeutung der mittelalterlichen ›Lehre vom vierfachen Schriftsinn‹ sich als mediävistischer Allgemeinplatz bei der Analyse kontinentaleuropäischer Texte des Mittelalters bezeichnen lässt,44 scheint die Dimension mittelalterlicher Hermeneutik bzw. Allegorese (im weitesten Sinne der Wortbedeutung) im Bereich der altnordischen Literatur insgesamt nur unterbelichtet im Interesse der Forschung zu stehen.45
44 Vgl. grundlegend Ohly 1958–1959; Schulz 2015, S. 26–29. Zur Vierdimensionalität der Sinnebenen, die die mittelalterliche Philosophie dem Wort (insbesondere dem Bibelwort) zumaß, siehe bei Ohly 1958–1959 bes. S. 10–11. Vgl. hierzu auch Riedlinger 1983, Sp. 47–49 sowie Emminghaus u. a. 1980, Sp. 421–422. Siehe weiterhin Glier 1980, S. 423–424 zu einem daraus erwachsenden »spezif[isch] [mittelalterlichen] Denken in Analogien und Sinnbezügen« im Rahmen der volkssprachlichen Literatur. 45 Vgl. Turco 2015, S. 190–193.
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So ist zwar die Bedeutung typologischer Relationen (insbesondere zwischen Óláfr Tryggvason und Óláfr dem Heiligen46) in der strukturellen Organisation von Sagaerzählungen bereits vor langer Zeit erarbeitet und wiederholt diskutiert worden.47 Jedoch beschränken sich Aufzeigen und Anwendung mittelalterlicher AllegorieKonzepte in der Forschung häufig auf die Analyse spezifisch christlich-religiöser Verständnismuster, die aus den Texten abgeleitet werden. Explizit auf die mittelalterliche Hermeneutik und Allegorie verweisen zumeist Arbeiten, die sich mit textlichen Bezügen altnordischer Überlieferung auf christliche Mythen, Konzepte und Schriften befassen. Diese sind hauptsächlich an der Rolle kontinentaleuropäischer Ideologien innerhalb des Weltbildes mittelalterlicher isländischer Verfasser und Rezipienten interessiert. Anschaulich gestalten dies insbesondere Forschungen zur literarischen Zeichnung der paganen Vergangenheit Islands. Die Darstellung der eigenen Vergangenheit werde in den Texten in typologischem Verständnis überformt und in ihrem Heidentum als unvollkommener Vorläufer der späteren, christlichen Gesellschaft stilisiert, wobei der Übergang zwischen beiden Gesellschaftsformen als gleichsam natürlich und insbesondere freiheitlich dargestellt wird.48 In dieses Bild fügen sich Lönnroths und Webers Studien zum literarischen Topos des »edlen Heiden«.49 Indes hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Schule religionshistorischer Forschung in der Altnordistik etabliert, die die Erforschung narrativer ›Echos‹ der heidnischen Vergangenheit in mittelalterlichen Sagatexten ins Zentrum ihres Interesses stellt.50 Sie geht davon aus, dass sich aus der Analyse heidnischer Elemente und Mythenanspielungen in Sagatexten auch Einsichten in ein paganes Weltbild vormittelalterlicher Zeiten gewinnen lassen.51 Die ihr zugehörigen Forscher versuchen, die narrative Einbindung im weitesten Sinne religiöser Motive zu fokussieren, um so die quellenkritische Problematik der alleinigen Überlieferung vorchristlicher Mythen und Kulte in christlichem Schrifttum umgehen zu
46 Vgl. im Überblick etwa Zernack 1998. 47 Vgl. etwa Lönnroth 1976, S. 148–149 zur seiner Ansicht nach zweiteiligen Struktur der Njáls saga in Analogie zur typologisch aufeinander bezogenen Bibel mit Altem und Neuem Testament. Vgl. allgemeiner auch Harris 1986; Weber 2001a. 48 Vgl. grundlegend Weber 2001a. 49 Vgl. Weber 2001b; Lönnroth 1969; Lönnroth 1976, S. 136–143. 50 Die Verwendung des Begriffs »Echo« in diesem Rahmen leitet sich vom Titel der zweibändigen Monographie von Clunies Ross 1994–1998 ab. In der bisherigen Forschung werden unterschiedliche Begriffe verwendet, um denselben Sachverhalt zu bezeichnen, einschließlich »fictionalized myth« (Dumézil 1973), »Mythological Overlays« (Haraldur Bessason 1977), »mythic elements« oder »mythic models« (Lindow 1989; van Wezel 2000) sowie »Ideologie« (Meulengracht Sørensen 2001a; Böldl 2005). Zur terminologischen Übersicht vgl. auch Turco 2015, S. 187 (Fn. 4). Allen Bezeichnungen zugrunde liegt die Erkenntnis, dass Sagatexte in unterschiedlicher Art und Weise auf mythische, zum Teil konkret eddische Inhalte der vorchristlichen Zeit anspielen oder direkt intertextuell verweisen. 51 Als Überblick dieser Forschungsrichtung siehe Schmidt 2015.
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können. Die Erforschung der »Sagareligion«52 sei auf dieser Grundlage weniger auf Unterscheidung des vorgefundenen Materials in die Kategorien authentisch vs. fiktional angewiesen. So ist es jedenfalls innerhalb der religionshistorischen Sagaforschung ebenso ein Allgemeinplatz, dass verschiedenste Elemente heidnischer Mythen und Kultpraxis in die Erzähltexte der Isländersagas eingeflossen sind, dabei in der Regel freilich in mehrfacher historisch bedingter Überformung ihrer Inhalte.53 Diese Forschungsrichtung geht deswegen häufig und gleichsam selbstverständlich von unterschiedlichen erzählerischen Ebenen aus. So bilde der heidnische Mythos eine Art »magnetisches Feld« unter dem primären Text der jeweiligen Saga,54 innerhalb dessen alternative Sinnangebote für Zusammenhänge der Primärebene der Erzählung rekonstruiert werden könnten.55 Diese religionsgeschichtlich orientierte Sagaforschung bedient sich somit eines Textauslegungsverfahrens, das sich inhaltlich mit der klassisch-mittelalterlichen Allegorese deckt. Dabei beschränkt sie sich allerdings erneut allein auf religiöse Thematiken und historisiert ihre Auslegung überdies. Beide Forschungsperspektiven gehen insofern grundsätzlich von der Möglichkeit einer mehrstufigen Textinterpretation seitens des mittelalterlichen Sagapublikums aus. Allerdings bemühen sie sich entweder um die Aufdeckung dezidiert christlicher Verständnismuster in den lange als ›authentisch‹ und daher als weitgehend frei von christlichen Gedanken betrachteten Texten, oder sie argumentieren gerade gegen eine reine Beschränkung auf christliche Weltbilder in dem Versuch, noch ältere, pagane Texttraditionen (und damit Glaubensinhalte) zu beleuchten. Auch abseits der historischen oder religiösen Einordnung mythisch-intertextueller Verweise in prosaischen Erzählungen des mittelalterlichen Island lässt sich
52 Ein Begriff, der von Baetke 1973 aus quellenkritischer Position polemisch geprägt wurde. 53 Vgl. Meulengracht Sørensen 2001a, bes. S. 190–191. 54 Meulengracht Sørensen 2001a, S. 191. 55 So setzt Böldl 2005 eine »Þórr-Ideologie« für die Eyrbyggja saga an. Deren narrative Struktur sei maßgeblich dadurch bestimmt, dass die Hauptfigur der Erzählung, der Gode Snorri, in seiner Bedeutung auf der Handlungsebene schrittweise dem mythischen Schutzahnen seiner Vorfahren angenähert werde. Um zum rechtmäßigen Herrscher der Region Snæfellsnes aufsteigen zu können, müsse Snorri für die Siedlergemeinschaft die Aufgaben übernehmen, die Þórr als korrespondierende Projektion seiner Figur im mythischen Weltentwurf einnehme. So sei etwa der Totschlag an dem weitgehend unschuldigen und intradiegetisch überaus beliebten Goden Arnkell, dem ärgsten Konkurrenten Snorris um die Vormacht auf Snæfellsnes, narrativ dadurch gerechtfertigt, dass dieser ein im Sinne der »Þórr-Ideologie« notwendiges Prosperitätsopfer für die Gemeinschaft darstelle, wodurch er vor allem durch seine familiäre Affiliation ausgewiesen sei (vgl. bes. S. 188–243). Der auf der Primärebene der Erzählung als politischer Machtkampf ausgestaltete Konflikt werde dadurch auf sekundärer Ebene zur quasi-mythischen Opfererzählung transzendiert. Somit werde der biographischen und chronikartigen Oberflächenstruktur der Erzählung eine zweite, mythisch angelegte Substruktur eingeschrieben, vgl. hierzu in theoretischer Perspektive auch S. 78–85. Ähnliche Mythenstrukturen, die die jeweilige Handlung perspektivieren, hat vorausgehend Meulengracht Sørensen 2001a für Vatnsdœla saga und Víga-Glúms saga sowie Teile von Hrafnkels saga und Gísla saga vorgeschlagen.
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allerdings der Befund stützen, dass die Texte häufig nicht allein eine primäre Erzählebene besitzen, die ihren sensus literalis ausdrückt. Sie sind im Regelfall überaus komplex und mehrstimmig56 und konsequent auch oftmals narrativ mehrstufig; das heißt, sie besitzen multiple Ebenen narrativer Sinnkonstruktion. So ist die als auf den ersten Blick chaotisch eingeschätzte Struktur etwa der Eyrbyggja saga mit der Organisation skaldischer Dichtung verglichen worden.57 Metaphorik und Allegorie lassen sich darüber hinaus als integrative Bestandteile erzählender Literatur im Allgemein und insbesondere mittelalterlicher Prosa fassen.58 Weshalb sollte gerade die Sagaliteratur, für die entsprechende, religiös fundierte Verständnismuster eindeutig nachweisbar sind, eine Ausnahme bilden? Die Ebene der Metaphorik kann einer Erzählung einen Subtext verleihen, der, trotz seiner ›Uneigentlichkeit‹ gerade in mittelalterlichen Texten auf die Handlungsebene rückwirken kann.59 Die Betonung dieses zusätzlichen, narrativen Subtextes sowie der generellen Komplexität der altisländischen Literatur kann als Schlüssel zum weiteren Verständnis jedenfalls einiger Sagas fruchtbar gemacht werden. Die Analogie von Sagaprosa und skaldischer Dichtung ist dabei überaus erhellend. Saganarrative beinhalten häufig komplizierte skaldische Strophen, die für ihr Verständnis eine genaue Kenntnis vorchristlicher Mythenstoffe voraussetzen. Dadurch bedingen sie auch hohe Konzentration der Rezipienten, um die verstreuten Stränge inhaltlicher Bedeutungskonstruktion hinter dem dichten Netz aus kenningar und metrischen Regeln, das die lausavísur strukturiert, zu erkennen. Davon ausgehend überlegt Torfi Tulinius, ob bestimmte Sagatexte sich nicht an ein gebildeteres und in hermeneutischen Auslegungsverfahren geschulteres Publikum richten könnten, als sie dies in ihrer rhetorischen Schlichtheit augenscheinlich selbst stilisieren.60 Er leitet daraus Parameter einer »skaldischen Prosa« ab,61 die Jeffrey Turco unlängst zu einer »skaldischen Prosaik« auszuweiten versucht hat.62 Den Texten lasse sich demzufolge in Analogie zur Skaldendichtung eine erhebliche Komplexität unterstellen, sowohl was ihre inhaltliche als auch ihre strukturelle Komposition angeht. Wenn zudem intertextuelle Verweise auf christliche Schriften und auch heidnische Mythen keine Seltenheit im Sagakorpus darzustellen scheinen, lässt sich daraus auch folgern, dass diese Verweise nicht unbedingt alleine unbewusste Zusätze oder christliche Interpretationsanleitungen beinhalten müssen. In Verbindung mit der »skaldischen Prosaik« wäre hingegen zu überlegen, ob sich aus solchen mythischen Verweisen subtext-artige
56 »Mehrstimmig« sei hier zu verstehen im Bachtin’schen Sinne der Dialogizität (vgl. Bachtin 1971). 57 Vgl. Hollander 1959, S. 227. Vgl. auch Clover 1982, S. 91; Turco 2015, S. 188–189. 58 Vgl. Schulz 2015, S. 26–29. Schulz zählt die Metaphorik im Zuge dessen zusätzlich zur Hierarchie von Genettes klassischen Diegese-Ebenen, vgl. Genette 2010, S. 147–154 u. S. 225–232. 59 Vgl. Schulz 2015, S. 27–28 für das illustrativ angeschnittene Beispiel der Tugend-Fenster in der Minnegrotte in Gottfrieds von Straßburg Tristan, von denen eines durch König Marke verdeckt wird. 60 Vgl. Tulinius 2001, bes. S. 192–193. Vgl. auch Clunies Ross 1998, S. 61–64. 61 Tulinius 2001, S. 198; im Original »Skaldic prose«. 62 Vgl. Turco 2015; im Original »Skaldic prosaics«.
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Netze weitergehender Bedeutungskonstruktion mit struktureller Bedeutung für die Primärebenen der jeweiligen Erzählungen gewinnen lassen. Wenngleich Turcos Gesamtargument für den von ihm besprochenen Sneglu-Halla þáttr letztlich zu impressionistisch anmutet,63 ist insofern dennoch sein Befund, dass Sagatexte mythische Analogien aufweisen können, die für die Plothandlung ein zusätzliches Sinnangebot stiften können, dass »mythic narrative« ein »sustained secondary level of meaning« in einem Sagatext konstruieren kann,64 nicht gänzlich von der Hand zu weisen. In der Tat gibt es in manchen, wenngleich dezidiert nicht allen Isländersagas, mythische Erzählmuster, die teilweise handlungs- und sinnbestimmend sind. Der altnordische Mythos bildet insofern, wenn er in einer Sagaerzählung nachgewiesen werden kann, ein zweites Netz im Text, eine weitere narrative Ebene, die von unterhalb der Primärebene der Handlungsentwicklung in diese hineinscheinen kann. Nicht unbedingt notwendig scheint für eine Betrachtung solcher hintergründiger Strukturen der Sagas allerdings der Hinweis auf die ererbte Tradition zu sein, etwa die Erklärung, die isländische Kultur habe der mythischen Narrative auch lange nach der Annahme des Christentums als eine Art integrales Medium kognitiver Selbstverständigung bedurft.65 Ebenso übertrieben scheint allerdings eine Bemerkung wie bei North, das Heidentum sowie die alten Mythen seien im Lauf der Jahrhunderte lediglich zu einem bedeutungsentleerten Motivschatz herabgesunken, an dem sich ein mittelalterlicher Autor nach Gusto bedient haben könne.66 Wenn
63 Er liest den isländischen Protagonisten des þáttr, den unflätigen und frechen Dichter Halli, in mythischer Analogie zur Figur des Trickster-Gottes Loki, dessen mythische Handlungen er auf der Figurenebene der Erzählung ausagiere und dadurch einen Diskurs über das Verhältnis zwischen Isländern und Hof in Gang setze. Halli sei »a figure whose one-upmanship and sexual defamation of his rivals (including his own royal patron) depend on a mastery and manipulation of generic conventions derived from Norse myth« (Turco 2015, S. 194). Durch das in seinen Taten demonstrierte mythische Wissen könne Halli eine »transformation from Icelandic bumpkin to Norwegian courtier […], from mundane wisecracker to ›mythic‹ Loki-figure« (S. 207) durchlaufen. Im Detail überzeugt Turcos weit ausgreifende Argumentation wenig: So deutet er etwa einen Streit zwischen Halli und einem weiteren Hofskalden als Kräftemessen entlang einer Dichotomie von mythischer Erzählung und ›Folktale‹ aus (siehe S. 194–207), die sich nur sehr assoziativ am Text belegen lässt. Darüber hinaus versteht Turco auch Hallis Analogien zu Loki sehr großzügig, wenn sich seiner Meinung nach etwa Lokis Essenswettstreit in der Halle Útgarða-Lokis und König Haraldrs Aufforderung an Halli, zu essen, bis er platze, entsprächen. Auch Lokis Pferdeverwandlung im Meisterbauer-Mythos, die in seiner Schwangerschaft resultiert, und Hallis sexuell aufgeladenes Gedicht über ein Pferd und seinen Phallos sind Turco zufolge zusammenzustellen. Die Schnittstelle zwischen Loki und Halli in Turcos Argumentation ist letztendlich nur das recht allgemeine Merkmal durchdingender Ambiguität, die sich nicht ausschließlich über einen Bezug beider Figuren zueinander deuten lässt. So verkennt Turcos Argument etwa vollständig, dass sich Halli über Bachtins Konzept des Karnevalismus (Bachtin 1987) ebenso gut auch als Figur des Hofnarren lesen ließe. Zum Trickster als Figurentyp siehe Sauckel 2016a; Sauckel 2016b; in theoretischer Perspektive Eßlinger u. a. (Hrsg.) 2010. 64 Turco 2015, S. 225. 65 Vgl. Clunies Ross 1998, S. 12–13. 66 Vgl. North 1991, S. 175–176; S. 145–175 mit Beispielanalysen.
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dem so wäre, läge einerseits eine beliebige Allgegenwärtigkeit nahe, die sich so nicht nachweisen lässt, andererseits wäre durch solch verfügungsfreie Motive kaum eine substanziierte Strukturierung von Sagatexten im Sinne der oben genannten Forschungsschule zu erwarten. Die essenzielle Komplexität und die daraus folgende häufige Interpretationsoffenheit der Isländersagas sprechen letztlich gegen beide Extremannahmen. Zudem sind es keinesfalls alleine einem heidnischen Milieu entstammende Strukturen und Deutungsmuster, die hintergründig von den Texten wiedergespiegelt werden, sondern ebenso viele, wenn nicht sogar mehr noch, christliche, die das hochmittelalterlich-gelehrte Milieu der Sagaentstehung reflektieren. Die Bezugnahme auf mythische Stoffe ist zudem auch den Sagas, die im Zuge der religionsgeschichtlichen ›Echo‹-Forschung analysiert worden, eben nicht vordringlich in den Text eingeschrieben. Die Ebene, in der sich pagan-mythische Erzählsequenzen situieren, ist hingegen zumeist weitgehend implizit angelegt.67 Hinzu kommt, dass mythische Bezüge einer Sagaerzählung in der Regel einen Bedeutungs-Mehrwert verleihen, ein zusätzliches Sinnangebot, das für das Textverständnis nicht unabdingbar ist. Auch jene Sagas, die in der Forschung als hochgradig mit mythischen Stoffen durchsetzt angesehen werden, lassen sich profan-politisch, oder jedenfalls nicht heidnisch, deuten.68 Es geht den Texten also nur in den seltensten Fällen um eine »Arbeit am (vorchristlichen) Mythos«, wie Turco sie postuliert.69 Die gleichzeitige Möglichkeit der buchstäblichen Auslegung eines Sagatextes und der sinnbereichernden Bezugnahme auf mythische Elemente der profanen Erzählung entspricht insgesamt dem Verhältnis von sensus literalis im allegorischen Textverständnis und den weiteren Sinnebenen, die sich einem Text dieser Auslegung nach unterstellen lassen.70 Jeglicher Text kann demzufolge auch nur streng dem Wortsinn nach ver-
67 Vgl. Clunies Ross 1998, S. 12. Insbesondere sie, Meulengracht Sørensen 2001a und Böldl 2005 setzen die Verweise auf vorchristliche Mythen, die in den Texten enthalten sind, auf einer Ebene an, die nicht zwangsläufig eine bewusste Intertextualität auf eddische Lieder voraussetzt, sondern gehen von einer authentisch heidnisch-religiösen Tradition im Hintergrund der Erzählungen aus. Böldl 2005, S. 78 spricht von »unbewußte[n] Plotstrukturen«. 68 Die Eyrbyggja saga etwa lässt sich auch ohne die von Böldl 2005 angesetzte »Þórr-Ideologie« als profane Chronik isländischer Nachbarschafts- und politischer Machtstreitigkeiten lesen, die um die Figur des Goden Snorri zentriert auserzählt werden. Die Vatnsdœla saga hingegen gibt sich auf der Handlungsebene selbst durch Figureneinschätzungen und die Erzählstimme größte Mühe, die Elemente der von Meulengracht Sørensen 2001a angesetzten »Freyr-Ideologie« als Walten des inhaltlich unbestimmten »Schicksals« und Effekt des persönlichen Charismas der Familienangehörigen Ingimundr inn gamlis darzustellen, vgl. hierzu auch Gropper 2017. Da die Saga im Lobpreis des letzten Goden aus dieser Familie durch den Erzähler endet (Vatnsdœla saga c. 47, S. 131), der seine Vorfahren überragt habe, weil er Christ gewesen sei, scheint es, als diene die Schicksalsrhetorik des Textes, die sich gerade auf die Elemente der heidnischen »Freyr-Ideologie« gründet, zugleich einer christlichen Darstellungsabsicht. 69 Turco 2015, S. 225. 70 Ein illustratives Beispiel dafür zeigt Turco 2015, S. 210 u. S. 224 an einigen Obszönitäten des Sneglu-Halla þáttr auf: Der Skalde Halli dichtet eine vulgäre Strophe auf die Ehefrau des norwegischen König Haraldr harðráða. Deren Inhalt besagt, sie sei am besten dazu geeignet, die Vorhaut
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standen werden, beinhaltet aber dennoch die Möglichkeit zu weitergehenden Sinnbildungsmaßnahmen seitens der Rezipienten. Der Weg der Interpretation ist nicht einseitig, sondern vielschichtig: Der mögliche Überschuss narrativer Bedeutungsebenen ist ein zusätzliches Sinnangebot, das erkannt werden kann, nicht aber muss. Dies gilt grundsätzlich für Bezugnahmen auf die christliche Lehre ebenso wie für den Rückgriff auf Mythen der paganen Tradition. Besonders die Færeyinga saga zeigt sich unter diesem Gesichtspunkt als fruchtbares Forschungsobjekt. Der Dualismus des Figurenpaars von Þrándr und Sigmundr im ersten Handlungskreis ist in einer Art und Weise ausgestaltet, die Bezugnahmen auf eine weitere Ebene von Narrationskonstruktion und Sinnrahmensetzung erlaubt. Die Analyse der beiden Protagonisten in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Dichotomie von Christentum und Heidentum in den Kapiteln 3.6 und 4.5 hat ergeben, dass beide mit Elementen verknüpft sind, die sich gegen eine restlose Überformung durch den zentralen Machtdiskurs der Saga sträuben, dabei aber ebenso wenig klar in ihrer Bedeutung aufgelöst werden. Es handelt sich um Sigmundrs mit paradoxen Wertungen belegten Ring, der nur an der Textoberfläche ausschließlich für seinen Tod verantwortlich gemacht werden kann, sowie insbesondere die NekromantieSzene in der Charakterzeichnung Þrándrs, die handlungslogisch zunächst geradezu überschüssig wirkt. Für beide lassen sich semantische Mehrwerte im Erzählgang festhalten, die vermeintlich eine klare, entgegengesetzte Zuordnung beider Figuren in einen christlichen, das Heidentum verdammenden Bedeutungsrahmen vorgeben. Eine solche Annahme allerdings widerspricht deutlich der anderweitigen Benutzung der Religionsthematik für die Erzählung und stünde so konträr zur sonst nahtlos ineinander gefügten Erzählkunst der Færeyinga saga. Beide Momente gehen somit nicht restlos im Sinnkonstruktionsrahmen der Erzählung auf, wie ihn die vorliegende Studie analysiert hat, und stellen insofern einen bisher uneingelösten, narrativen Überhang im Text dar, dessen Sinnhaftigkeit sich – auch mit Blick auf die Strukturierung der Saga – allerdings auf anderer Ebene zu lösen versuchen lässt. Beide Figuren sind damit nämlich mit Elementen assoziiert, deren weitergehender Sinn sich gegebenenfalls zu einem Netz von Verweisen auf eine sekundäre narrative Ebene in der Færeyinga saga verdichten lässt. Der Handlungsebene kann so mindestens eine weitere beigeordnet werden, die Aussagen und Verhältnisse dieser Primärebene unterstreicht und erweitert. Wie die heidnischen ›Echos‹, die insbesondere in der religionsgeschichtlichen Forschung beachtet wurden, lässt sich diese zusätzliche Erzählschicht der Færeyinga saga als im weitesten Sinne pagan-my-
seines Gliedes bis zur Stirn hochzuziehen. Die Königin zeigt sich entrüstet, während Haraldr in Hallis Obszönität ein verstecktes Lob zu erkennen glaubt, schließlich sei sie als seine Ehefrau dazu tatsächlich am besten geeignet. Andernfalls könne er sich auch eine andere Frau suchen. Der König will die jedenfalls von ihm angesetzte, doppeldeutige tvíræði Hallis nicht zum Nachteil des Skalden auslegen. In diesem zugegebenermaßen sehr konstruierten Auseinanderklaffen zwischen Wortsinn und übertragenem Sinn einer Aussage macht sich der König somit selbst zum Sprachrohr einer absichtlich mehrdeutigen Textinterpretation.
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thisch konzipiert verstehen. Dabei sind die Verweise auf sie interessanterweise bei Sigmundr durch den Ring konkreter im Text festmachbar, während sie gerade beim oftmals als explizit heidnische Figur gedeuteten Þrándr nur sehr implizit mitschwingen. Dennoch lassen sich in Þrándrs Figurenkonzeption mythische Anklänge in den Text hineinlesen und sind zum Teil bereits von Ólafur Halldórsson und Richard North benannt worden.71 Gleichzeitig ist diese mythische Sekundärebene allerdings auf eine Art in die Erzählung eingewoben, die für ein primäres Verständnis des Textes – gerade ob der in der vorliegenden Studie analysierten Vielzahl der Dichotomien beider Figuren – nicht unbedingt notwendig erscheint. Wie zu zeigen ist, reagieren sogar die Figuren auf der Handlungsebene unterschiedlich auf die Konfrontation mit dieser Textschicht. Sie ist weitgehend implizit angelegt und wird schon intradiegetisch auf verschiedene Art und Weise zu deuten versucht – sowohl christlich als auch heidnisch – und damit unterschiedlich für die Handlung fruchtbar gemacht. Diese Tatsache illustriert besonders deutlich den Nutzen der zusätzlichen Erzählebene: Durch die Bezugnahme auf sie lassen sich sehr grundsätzliche Thematiken ansprechen, Eigenschaften und Handlungen beteiligter Figuren weiter konturieren und kontrastieren und vertiefte Interpretationen von Gesamttext und Handlungsverlauf anstoßen. Eine »skaldische Prosaik«, die dem Text Bedeutungsmehrwerte zuweist, kann also auch dieser Saga angesetzt werden, obwohl sie gerade keine skaldischen Strophen beinhaltet.
8.3.2 Þrándr und der heidnische Mythos 8.3.2.1 Óðinn, Þrándr und Þórr Þrándr wurde im Zuge der Erforschung der Saga durchgängig intrinsisch mit dem Heidentum verbunden – berechtigterweise, macht er sich doch im Zuge der Christianisierungssequenz zum Sprachrohr einer heidnischen Opposition gegen die Bekehrung, tritt als Zauberer auf und wird zum Apostaten.72 Mit Sigmundrs gewaltsamem Versuch der Zwangsbekehrung konfrontiert, ist Þrándrs Antwort zunächst, er wolle seine forn[a] vin[a]73 nicht verraten, seine »alten«, oder besser, »heidnischen« Freunde.74 Damit meint er das heidnische Pantheon. Aus diesem bezieht er sich wohl in der Hauptsache auf Þórr und Óðinn, mit denen er auf mehrfache Art ver-
71 Vgl. North 2005, S. 67–68 u. S. 70; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxiv; Ólafur Halldórsson 1990a. 72 Zur Überprüfung der Berechtigung einer Verbindung von Þrándr mit dem heidnischen Glauben vgl. bereits Kap. 3.6. 73 Fær, S. 76. 74 Siehe Baetke 2008, s. v. forn. Das Wort umreißt im Altnordischen eine Semantik, die sich auf die Begriffe »alt, ehemalig (im Sinne von ›vorzeitig‹)« ebenso wie »heidnisch (gesinnt)« bis hin zu »zauberkundig« erstreckt, vgl. bereits Schmidt 2018, S. 274 (Fn. 29).
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bunden scheint. In die Nähe beider Götterfiguren rücken ihn dabei insbesondere kleinere, verstreute Notizen im Text sowie seine konzeptionelle Ausgestaltung.75 Þrándrs »Freund« scheint insbesondere der nordische See- und Wettergott Þórr zu sein,76 wenn sich das unvorhersagbare färöische Wetter stets zu seinen Gunsten und in seinem Sinne verhält.77 Wann immer er nach Norwegen vor den nominellen Herrscher und Sigmundrs jeweiligen Herrn gebracht werden soll, zieht ein Sturm auf, der es unmöglich macht, Þrándr von den Inseln zu entfernen. Doch auf was sind die Wetterumstände zurückzuführen? Hat Þrándr übermenschliches Glück, zaubert er das Wetter selbst herbei oder hilft ihm der heidnische Wettergott Þórr als einer jener »alten Freunde«, die er im Moment seiner Taufe nicht verraten will? Wie so oft lässt sich keine eindeutige Antwort auf die Frage der Verursachung dieser Wetterverhältnisse finden, sie wird nicht erzählt. Þrándr jedenfalls will Sigmundr gegenüber den Eindruck erwecken, er beherrsche das Wetter,78 indem er seinen Unwillen zur Fahrt mit den widrigen Seebedingungen verknüpft, wie unter 3.6.3 aufgezeigt. Ob er aber tatsächlich verantwortlich ist, ist eine Frage der Interpretation, auf die der Text selbst keine eindeutige Antwort gibt. Þrándrs Aussagen entsprechen dezidiert nicht immer der Wahrheit und dienen allein seinen eigenen Zwecken,79 die er auch in diesem Fall durchsetzen kann. Allerdings befindet sich das Wetter dauerhaft auf seiner Seite, sodass der Schluss naheliegt, es stecke Methode hinter den entsprechenden Vorgängen, seien sie nun magisch herbeigeführt oder anderen Gründen geschuldet. Wenn dahinter Þórr steht, scheint der Gott seinem Anhänger jedenfalls den »Verrat« nicht übel genommen zu haben oder stellt wenigstens unter Beweis, dass Þrándr gute Gründe für die Berufung auf seine »Freunde« vorbringen kann. Insofern scheint hier dem Eindruck nach eine Verbindung Þrándrs zum altnordischen Donner- und Wettergott auf, die sich durch weitere Assoziationen im Text zu einer Art narrativer Affinität verstetigen lässt. So gemahnt sein eingangs in der Saga geschildertes Aussehen auch an das des Gottes: Þrándr ist ein mikill madr uexsti raudr ahar ok raudskeggiadr freknottr grepligr j asíonu80 und dennoch fridr synum,81 ganz nach dem Bilde Þórrs,82 der ihm
75 Eine kondensierte Version der hier vorgebrachten Gedanken findet sich bereits in Schmidt 2018, S. 274–275. 76 Zum Wesen des Gottes Þórr vgl. u. a. de Vries 1956–1957 II, S. 107–152; Ellis Davidson 1964, S. 73–91, zu Þórr als Gott von See und Wetter bes. S. 84–86; neuer Böldl 2013, S. 188–321. 77 Vgl. North 2005, S. 67–68. Die entsprechenden Szenen werden in Kap. 3.6.3 besprochen. 78 Vgl. auch Almqvist 1992b, S. 51. 79 Siehe Kap. 3.4.1 zu Þrándrs Rhetorik und Sprechweise. 80 Fær, S. 7 (ein Mann von großem Wuchs, rothaarig und rotbärtig, sommersprossig, von finsterem Angesicht). 81 Fær, S. 4 (von schönem Aussehen). 82 Trotz der axiomatischen Auffassung Þórrs als rothaarig und -bärtig, nicht zuletzt in populären Adaptionen, sind konkrete Belege diesbezüglich im altnordischen Material nicht sehr zahlreich. Eine Haarfarbe wird in keiner mythographischen Quelle näher beschrieben. Auch Snorris Beschreibung des euhemerisierten Trojaners Þórr im Prolog der Edda schreibt ihm lediglich Haar fegra en
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offenkundig so gute Dienste zu leisten im Stande ist. Þórr ist darüber hinaus der Iarðar burr,83 und sein Name ist im Namensmaterial der Färöer reich verbreitet, sowohl bei Personen als auch an so prominenter Stelle wie der färöischen Þingstätte im Þórshǫfn.84 Eine enge Verbindung gerade des so fest auf den Färöern und in
gull (SnE Prologus, S. 5; »glänzender als Gold«; Krause [Ausg., übers. u. komm.] 1997, S. 12) zu. Dies dürfte eher auf eine helle, blonde Haarfarbe deuten, die generell als Zeichen von Schönheit gilt, auch wenn Gold häufig mit dem Farbattribut rot verbunden wird, vgl. Brückmann 2012, S. 59. Eindeutig rot sind Þórrs Haar und/oder Bart nur in einigen Sagas, so der Eiríks saga rauða c. 8, S. 224, der Flóamanna saga c. 20–21, S. 274–281, der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta c. 213 (ÓT II, S. 134– 137) und der Bárðar saga c. 8, S. 126–127. Da rothaarige Figuren insgesamt jedoch eine Seltenheit in der Sagaliteratur darstellen, kann die Rothaarigkeit Þórrs als ausreichend prominent gelten. Nicht alleine Þórr scheint jedoch unter den Göttern eine Affinität zu rotem (Bart-)Haar zu besitzen. Ebenso tritt Óðinn in der Ǫrvar-Odds saga c. 19, S. 239–240, in Verkleidung als rothaariger Rauðgrani (Roter Schnurrbart) auf. Den gleichen Decknamen trägt er auch in einer Szene aus der Bárðar saga c. 18, S. 163. In der Gautreks saga c. 4, S. 17, u. c. 7, S. 31–34, lautet sein Deckname, ohne jedoch eine Haarfärbung zu spezifizieren, Hrosshárs-Grani. Was die in Kap. 3.2.2 eröffenete Frage nach der Konnotation der roten Haarfarbe betrifft, gestalten sich auch diese Stellen insgesamt nicht eindeutig: Óðinn figuriert als Helfer der Protagonistenfiguren, ist jedoch wie stets eine zwielichtige Gestalt, und auch die (Vorzeit-)Protagonisten selbst sind aus christlich-mittelalterlicher Perspektive moralisch zweifelhaft exorbitant. Das gleiche gilt für Þórr: Nur in der Hälfte der wenigen Belege seiner roten Haarfärbung erscheint der Gott als Gegenspieler von Protagonisten in christlichen Rahmendiskursen, als recht eindeutig dämonisierte Figur. So in der Eiríks saga, in der hinn rauðskeggjaði (der Rotbärtige) auf Bitten des rundweg negativ dargestellten Þórhallr veiðimaðr der christlichen Vinland-Fahrtgemeinschaft einen verdorbenen Wal als Nahrungsquelle schickt. In der Flóamanna saga sucht Þórr seinen ehemaligen, konvertierten Anhänger Þorgils als strafende Instanz heim. Ähnlich und doch anders gelagert sind die beiden Auftritte in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, in der der Gott vor König Óláfr selbst erscheint, und in der Bárðar saga. In der Óláfs saga tritt Þórr auf das Schiff des Königs und unterhält die Mannschaft mit Kraftproben. Dabei kritisiert er seine Gegner als des großen Königs unwürdig und gibt anschließend eine Geschichte von den früheren Einwohnern des norwegischen Küstenabschnitts zum Besten, vor dem sich die Begebenheit zuträgt. Er bezeichnet sich dabei selbst als þetta hít rauða skegg (›dieser rote Bart‹) und meint, er sei die erste Adresse der Menschen für Hilfe gewesen, ehe der König angekommen sei. Dieser habe seine Freunde vertrieben, was eigentlich der Rache wert sei. Grinsend (glotti við) springt er von Bord, woraufhin König Óláfr eine lange Rede über die Schlechtigkeit dieses »Teufels« (fiandin) und die größere Macht des christlichen Gottes hält. Später werden von den Männern des Königs an Land viele klagende Unwesen belauscht, die über ihre Machtlosigkeit gegen Óláfr enttäuscht sind und die alten, heidnischen Zeiten loben. Auch hier zeigt sich ein christlicher Rahmendiskurs, doch bietet die Episode an sich einen recht ausführlichen Auftritt für Figuren aus vergangenen Zeiten, der auch als Erinnerung verstanden werden könnte, dass es ein Leben vor dem christlichen König gab. Þórr selbst ist (außer in Óláfrs eigener Rede) nicht eindeutig negativ dargestellt und darf sich sogar mit einem Lächeln verabschieden (das sich allerdings auch als drohend interpretieren ließe, ob des Verweises, die Taten des Königs seien der Rache wert). In der Bárðar saga positioniert sich der Gott ebenfalls gegen den Protagonisten Bárðr Snæfellsáss, der allerdings selbst eine zutiefst heidnische Figur ist. 83 So in Locasenna 581, S. 108; Þrymsqviða 16, S. 111 (»Jörds Sohn«; Krause [Übers., komm. u. hrsg.] 2004, S. 159 u. S. 163; wobei Jǫrð die Erde bezeichnet). 84 Vgl. North 2005, S. 67–68.
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ihren Ländereien verwurzelten Þrándr, der seine überlegenen Rechtskenntnisse gerade in Þórrs Hafen unter Beweis stellen und Sigmundr gegenüber schmerzhaft seine Macht demonstrieren kann, mit dem vor Ort so präsenten Gott scheint überaus passend. Þórr ist auf den Färöern offenbar sehr beliebt, als Wettergott dem Anschein nach konstant auf Þrándrs Seite und als Gott des Landes und der Bauern geradezu ein Bild des Mannes, der politisch insbesondere durch Landbesitz die bäuerliche Gesellschaft der Färinger dominiert.85 Þórr kann so als mythische Projektion Þrándrs begriffen werden. Er ist der Gott der Natur in Form von Wetter und Land, die auf den Färöern sehr eigenwillig ausfallen.86 Auch wenn er im Text nicht explizit genannt wird, ist es möglich, über die Details des färöischen Wetters und Þrándrs Rothaarigkeit eine Analogie der Figur zum Asengott zu eröffnen, dessen mythischer Zuständigkeitsbereich diejenigen Elemente enthält, auf die Þrándrs Herrschaft über die Färöer sich gründet. Þórr symbolisiert im Mythischen, was Þrándr in der Færeyinga saga ausmacht, sodass sich beide als konzeptionell verbunden verstehen lassen. Þrándrs Figurenzeichnung kann so durch die Bezugnahme auf Þórr auf eine mythische Ebene transzendiert werden. Darüber hinaus scheint Þrándr in wenigstens einer Szene auch recht deutlich mit Óðinn assoziiert: Bevor Karl von Møre, der Gesandte Óláfrs des Heiligen, auf dem Þing von Þrándrs Neffen erschlagen wird, tritt vor ihm die rätselhafte Gestalt mit refði auf, die gemeinhin als Þrándr identifiziert wird.87 Ólafur Halldórsson und ihn unterstützend auch Richard North sprechen hier von einem Auftritt Þrándrs als Óðinn, der, insbesondere in der Vǫlsunga saga, ganz ähnlich auftritt.88 Dass sich hinter dem Auftritt eine tatsächliche, figürliche Präsenz von Óðinn selbst verbirgt, darf als recht unwahrscheinlich eingestuft werden. Im Gegenteil gibt es Anzeichen für die typische, mit unaufgelösten Andeutungen arbeitende Erzähltechnik im Text, die Þrándrs Darstellung insgesamt prägt. Versteht man den enigmatischen Auftritt als Anspielung an die aus den Vorzeitsagas bekannten camouflierten Erscheinungen des Götterfürsten, ergibt sich der interessante Befund, dass Þrándr diesen mythischen Verweis auf der Handlungsebene selbst (und ihm als Figur bewusst?)
85 Vgl. hierzu bes. Kap. 3.3. 86 Zur ›Otherness‹ der färöischen Natur in der Færeyinga saga siehe Kap. 2.3.2.2. 87 Zur Diskussion dieser Szene siehe bereits Kap. 3.4.4. 88 Vgl. Ólafur Halldórsson 1990b, S. 471–473; North 2005, S. 69–70. Zum Textvergleich siehe Vǫlsunga saga, S. 6–7: [M]adr einn geck inn i hollinna. Sa madr er monnum ukunnr at syn. Sea madr hefir þesshattar buníngh, at hann hefir hecklu fleckotta yfir ser. Sa madr var berfęttr ok hafde knyth linbrokum at beine. Sa madr hafde sverd i hende ok gengr at barnstockinum, ok hautt sidan a hǫfde. Hann var hár miok ok elldiligr ok einsyn. Hann bregdr sverdinu ok stingr þvi i stockinn, sva at sverdit sauckr at hiolltum upp (»[D]a trat ein Mann herein in die Halle, unbekannt allen von Aussehen. Folgendermaßen war er gekleidet: er hatte einen fleckigen Mantel um, er war barfüßig und trug Leinenhosen, die am Bein zusammengeknüpft waren; auf dem Haupte hatte er einen lang herabhängenden Hut; er war sehr hochgewachsen und alt und einäugig. Dieser Mann hatte ein Schwert in der Hand und ging nach dem Kinderbaume; er schwang das Schwert und stieß es in den Stamm, so daß das Schwert bis an den Griff eindrang«; Hermann [Übers.] 1923, S. 43–44).
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setzt.89 Neben diesem paradoxerweise zugleich deutlichen und verundeutlichten Verweis auf Óðinn machen Þrándr insbesondere seine konzeptionelle Zeichnung und Funktion dem Götterfürsten auf mehrfachen Ebenen gleich.90 Óðinn findet sich in der Edda häufig als Protagonist von Liedern, in denen es um den Erwerb und den Beweis von Wissen geht, seine Raben tragen ihm Neuigkeiten als aller Welt zu, sein Sitz verschafft ihm einen Blick über die gesamte Welt, seine Gespräche mit Mímirs Haupt bringen ihm weiteres Wissen, für den Wissenserwerb verstümmelt er sich gar selbst. Auch Þrándr besitzt allem Anschein nach Zugang zu mehr Wissen um die Vorgänge auf der Welt, in diesem Falle ›seinen‹ Färöern, wie in Kapitel 3 erörtert. Dies findet mehrfach in den destabilisiert erzählten Szenen Ausdruck, in denen Þrándr seine Umgebung überlistet und dabei so inszeniert wird, als wisse er sogar mehr als der Erzähler selbst.91 Mit Óðinns Funktion als Gott der Weisheit hängt auch sein Wesen als Gott der Dichtkunst zusammen. Zudem zeigt er sich als Herr arkaner Künste wie dem seiðr und der Runen. Auch Þrándr beherrscht die Zauberkunst. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Óðinn derjenige Gott ist, von dem Totenbeschwörungen zum Zwecke des Wissenserwerbs überliefert sind, in Parallele zu Þrándrs auf der primären Textebene jedoch recht unmotiviert wirkendem Auftritt als Nekromant. Daneben ist Þrándr die einzige Figur der Færeyinga saga, die immerhin mit einem Element von Dichtkunst verknüpft ist, da die einzige Strophe des Textes, die kredda, letztlich sein Werk ist.92 Neben diesen Ähnlichkeiten verhält sich Þrándr aber vor allem ähnlich voraussichtig und trügerisch wie Óðinn. Zu dieser Konzeption trägt auch die Darstellungstechnik bei, das Verschweigen wichtiger Sachverhalte durch die Erzählinstanz, die sich ebenso trickreich zeigt wie Þrándr. Óðinn fungiert bei seinen Auftritten außerhalb der rein mythologischen Quellen in der Sagaliteratur, vor allem den Fornaldarsögur, häufig als zweigesichtiger Streitentfacher. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich auch in Óðinns Fall eine Tendenz zur Verunsicherung der Erzählinstanz bemerkbar macht: Häufig wird seine Identität verschwiegen und die Figur nur anhand ihrer Attribute als Göttervater identifizierbar gemacht, etwa in der bereits angeführten Stelle aus der Vǫlsunga saga. Dies spiegelt die Darstellung um Þrándr
89 Vgl. auch Schmidt 2015, S. 126 (Fn. 447). 90 Als Überblick zur überwältigend reichen Quellenlage und Forschungsliteratur um den Göttervater, seine Funktionen und Eigenschaften, vgl. für die ältere Forschung de Vries 1956–1957 II, S. 27– 106; neuer etwa Hultgård 2007, S. 759–785; Böldl 2013, S. 142–187. Zu Verweisen auf Óðinn in der Darstellung Þrándrs vgl. auch Vestergaard 2018, wenn auch in mitunter sehr großzügiger Auslegung. So sei laut Vestergaard etwa die Kindesaufzucht Sigmundr Leifssons durch Þrándr ein Erweis von dessen Óðinn-ähnlicher Zukunftskundigkeit (da Leifr vor dessen Entführung darauf verweist, dass Þrándr mit der Kindeserziehung »weit vorausgesehen« habe) – dass sich hier eher Þrándrs politisches Geschick offenbart, wird in Kap. 3 dargelegt. 91 So insbesondere die Haleyri-Szene und der Machtkampf mit Óláfr dem Heiligen, siehe Kap. 3.2.3 u. Kap. 3.4.4. 92 Vgl. Kap. 3.6.2.
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in der Szene vor Karls Mord auf dem Þing sehr genau wieder. In beiden Fällen erweist sich die Erzählinstanz als ebenso unzuverlässig und trügerisch wie die solchermaßen inszenierte Figur selbst. Das Schwert, das Óðinn in der Vǫlsunga saga in den barnstokkr schlägt, ist Grund der Auseinandersetzung zwischen Sigmundr und Siggeirr. Sigmundr, der es erhalten hat, bleibt zwar lange ein siegreicher Herrscher, doch stirbt er letztlich, als Óðinn selbst ihm in der Schlacht gegen die Hundingssöhne gegenübertritt und sein Schwert zum Zersplittern bringt.93 Ähnliches folgt der Szene in der Færeyinga saga: Das refði bringt Karl von Møre den Tod, die Tat bringt Zwietracht in die färöische Gesellschaft und diejenigen, die das refði für den Totschlag an Karl benutzen, Þrándrs Neffen, sind zwar zunächst siegreich, allerdings nur solange, bis die Figur, die es ihnen ermöglicht hat, ihr Onkel Þrándr, sich gegen sie wendet. Auch im Falle Óðinns, als der Þrándr sich dem Anschein nach vor dem Herrschaftsanspruch Óláfrs des Heiligen inszeniert, um seine eigene Macht auszudrücken, lässt sich also eine Analogie zwischen profaner Figurenhandlung in der Færeyinga saga und mythischem Gott als Vorbild aufbauen. Die Erzählung baut Verbindungslinien zwischen Gottheit und Figur auf, Analogiemuster zwischen Figurenhandeln und -konzeption und den Eigenschaften und Kennzeichen der mythischen Gestalt. Auch Óðinn kann so als implizite mythische Transzendierung Þrándrs begriffen werden. Insgesamt sind die mythischen Verweise und ihre Dichte in Þrándrs Darstellung im Falle Óðinns ebenso deutlich und zugleich implizit wie bei Þórr. Die auf der primären Textebene enigmatische Szene auf dem Þing lässt sich allerdings als deutlicher Hinweis auf Óðinn in der Darstellung Þrándrs verstehen, der von dieser Einzelszene ausgehend auch weiter im Text verfolgt werden kann. In Bezug auf Þórr ergibt sich die Assoziation insbesondere durch die Verbindung zwischen Þrándr und den häufig so günstigen Wetterumständen. Auch von diesem Textelement aus lassen sich weitere Hinweise aus dem Text versammeln. Anders als Þrándrs Verbindung zum Wettergott über Rothaarigkeit, die Symbolik von Land und Bauerstand und dessen onomastische Präsenz auf den Färöern ist seine Assoziation mit Óðinn dabei allerdings eher auf der konzeptionellen Ebene angesiedelt und wenig konkret gefasst. Dass Þrándr implizit eine Art Óðinn-Kult betreiben würde,94 scheint weniger wahrscheinlich als eine konkrete Verehrung Þórrs, die sich in seiner Wettermagie niederschlagen könnte.95 Darin mag sich die Ambiguität und narrative Undeut-
93 Der Abschnitt findet sich in Vǫlsunga saga c. 3–11, S. 6–28, die Óðinns-Auftritte jeweils im ersten und letzten Kapitel dieses Abschnitts. Vgl. hierzu auch Deichl 2019, S. 128–144. 94 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass eine konsistente Vorstellung der Óðinns-Verehrung sich kaum aus dem disparaten Quellenmaterial destillieren lässt, vgl. Hultgård 2007, S. 760–762 u. S. 769–773 zur Übersicht. Allerdings verhält sich Þrándr dezidiert anders als etwa Egill SkallaGrímsson, der in seiner Saga mit zahlreichen Bezügen zu Óðinn ausgestattet wird, vgl. hierzu in Zusammenfassung Schmidt 2015, S. 52–60 u. S. 63–66. 95 Vgl. North 2005, S. 68: »Þrándr would appear to have called on Þórr in these […] cases«. Norths weitergehender Gedanke, auch die Nekromantie-Szene könne eine Art impliziter Anrufung Þórrs
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lichkeit spiegeln, die sowohl Óðinns Auftritten in den Vorzeitsagas als auch Þrándrs Darstellung in der Færeyinga saga eigen ist. In jedem Fall scheinen die Analogien zwischen Eigenschaften und Erzählweisen bei beiden Figuren als Indiz dafür lesbar, dass Þrándr mit seinen »alten Freunden« sowohl Þórr als auch Óðinn meint. Die Verweise auf das mythische Verhalten der beiden Götter sind dem Text nicht vordringlich eingeschrieben. Dennoch lässt sich eine implizite Analogie postulieren. Die dadurch erreichte Transzendierung der Figurenebene in eine quasi-mythische Dimension erhöht gegebenenfalls die Attraktivität der Erzählung für einen Rezipientenkreis, der in mythischen Erzählstoffen entsprechend geschult und die literarische Praxis der Decodierung komplizierter Sinnbildung und Verweistechnik der skaldischen Dichtkunst gewohnt ist. Zugleich wird durch eine solche mythisch überhöhte Anreicherung der Erzählung deren Bedeutsamkeit zu gleichsam kosmischer Wichtigkeit gesteigert.96 Sinn erhalten die mythischen Bezüge jedoch insbesondere, indem sie funktionell in hohem Maße für Þrándrs Figurenkonzeption nutzbar gemacht werden. Auch für die Narration bleibt die sekundäre, mythische Anreicherung der Figurendarstellung nicht ohne Folgen, denn Þrándr wird dadurch mit einem hohen Maß an narrativer ›Otherness‹ ausgestattet.97 Die mythischen Anspielungen machen ihn zu einer besonderen Figur jenseits der Konzeption gewöhnlicher, nicht mythisch überhöhter Figuren. Seine Bedeutung für den Erzählgang wird dadurch herausgehoben: Eine solchermaßen inszenierte Figur muss für die Narration bedeutender sein als eine wie etwa der Outlaw Þorkell oder eine reine Nebenfigur wie Hafgrímr oder Snæúlfr. Doch nicht allein diese, angesichts von Þrándrs Position als Hauptfigur der Saga ohnehin nur logische Folge ergibt sich, denn seine mythische ›Otherness‹ kann in Parallele zur Heimlichkeit seiner narrativen Inszenierung gesetzt werden, die ihn ebenso über das übrige Figurenensemble erhebt. Gerade in Þrándrs Aufmachung als Óðinn auf dem Þing wird die untrennbare Verschränkung seiner politischen Bedeutung auf den Färöern und seiner Identifizierung mit diesem Raum nachhaltig hervorgehoben, wie unter 3.4.4 argumentiert. Diese Verdeutlichung erfolgt in mythischem Gewand und darüber hinaus in verheimlichender Inszenierung. Þrándrs mythische Assoziationen sind insofern deckungsgleich mit seiner mehrdeutigen, auch hinsichtlich gesellschaftlicher und erzählkonventioneller Normen ›andersartigen‹ Darstellung, deren Effekt jeweils die vollständige Beherrschung des narrativen Raums der Färöer ist. Damit einher geht die Ausrichtung der Gesamtnarration auf Þrándr als zentralem Kristallisationspunkt. Die Dominanz seiner Figurenzeichnung über die Erzählung wird insofern auch durch ihre mythische Anreicherung erzielt; seine herausragende Stellung im Figuren-
enthalten, erscheint dagegen wenig glaubhaft – immerhin ist explizit Óðinn im mythischen Material mit der Beschwörung Toter assoziiert, und nicht Þórr. 96 Zu diesem Sinn mythologischer Anspielungen in Saga-Narrativen vgl. Haraldur Bessason 1977, S. 275–276; Tulinius 2001, S. 191–193. Siehe auch Schmidt 2015, S. 26 u. S. 152–153. 97 Als Überblick zum ›Othering‹ und seinem Effekt siehe Brons 2015.
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ensemble sowohl auf der Handlungsebene als auch hinsichtlich ihrer narrativen Konzeption wird auch darüber mitbegründet. Mittels der mythischen Parallelen wird Þrándr auf der Figurenebene die notwendige Macht und Herausgehobenheit aus der Alltäglichkeit zugewiesen, die die Entstehung der eigengesetzlichen Erzählwelt auf den Färöern mit ihm im Zentrum narrativ ermöglicht. Er fällt aus dem Rahmen alltäglicher Figurenkonzeptionen, die die gewöhnliche Erzählwelt nüchtern-›realistischer‹ Sagaprosa überschreitet.98 Die quasi-mythische ›Otherness‹, die Þrándr durch diese Darstellungsweise eingeschrieben ist, entfaltet ihre Wirkung narrativ. Solange die Erzählung sich auf den Färöern befindet, wird dadurch ein narrativer Kosmos erschaffen, innerhalb dessen sich nur mit Þrándr messen kann, wer den gleichen narrativen Regeln unterworfen ist. Er kann nur von Figuren überwunden werden, die einen ähnlichen Grad an erzählerischer ›Otherness‹ zugewiesen bekommen – was schließlich in der Figurenkombination von Leifr und Þóra erreicht wird.99 Óðinn fungiert in der skandinavischen Mythologie gleichermaßen als Kosmokrator wie als Weltherrscher – eine Funktionsdoppelung, die auch Þrándrs Handeln bestimmt. Er erschafft gleichsam seinen eigenen Kosmos auf den Färöern und ist bemüht, diesen als allwaltender Alleinherrscher zu dominieren. Dies äußert sich in Form von Þrándrs alleiniger, faktischer Vorherrschaft und seinem Erfolg im Abwehren herrschaftlicher Eingriffe von Norwegen aus. In seiner Eigenschaft als narratives Zentrum der durch ihn und seine Darstellung erschaffenen und regulierten Erzählwelt auf den Färöern übernimmt Þrándr dabei Aufgaben, die im mythischen Weltentwurf dem Götterduo Óðinn und Þórr zukommen. Wie Óðinn wird er zum kulturstiftenden Archegeten seiner eigenen Welt, über die er dieselbe Autorität besitzt, die Óðinn als
98 Diese Beobachtung lenkt den Blick gegebenenfalls auch auf eine weitere Eigenheit in der Darstellung Þrándrs, wie in Kap. 2.3.2.2 (Fn. 212) aufgeworfen: Alle diejenigen Motive, die vorausgegangene Forschungen als Vorzeitsaga- und Märchenmotive angesprochen haben und die nicht in direkter Verbindung mit Sigmundr narrativ nach Norwegen ausgelagert sind, stehen in enger Verbindung zur Figurenzeichnung Þrándrs. Auch dadurch ist ihm ein Element narrativer ›Otherness‹ eingeschrieben. Seine Auslandsfahrt, die nach dem Modell einer Probe-Bewährungs-Sequenz ausgestaltet ist (vgl. Glauser 1994, S. 113), ebenso wie der Losentscheid um den Heimathof gegen seinen Bruder und Hafrgrímrs Fahrt zu Snæúlfr dienen direkt der Etablierung von Þrándrs Persönlichkeit und sind in Verbindung mit Fornaldarsaga-Motivik angesprochen worden, vgl. Ólafur Halldórsson 1990c, S. 233–238; Ólafur Halldórsson 1987, S. clxxvii–clxxxi. Somit zeigt sich Þrándr als die Figur auf den Färöern, mit der auch narrative Elemente aus der abgewiesenen, äußeren Erzähldomäne verknüpft werden, die sonst ganz Sigmundr zugeordnet ist, vgl. bes. Kap. 4.3.2. Es ließe sich überlegen, inwiefern die Affinität Þrándrs zu diesen Motiven in seiner narrativen Nähe zu Óðinn begründet sein könnte. Dessen Vorzeitsaga-Auftritte scheinen die Aufmachung des vermeintlichen Þrándr auf dem Þing vor Karl von Møre unmittelbar inspiriert zu haben, und in diesem Sagagenre sind ›märchenhafte‹ Motive durchaus gängig. Motivisch könnten sich der ›Óðinns‹-Auftritt und die weiteren Elemente insofern gegenseitig angezogen haben. 99 Siehe hierzu Kap. 6 u. Kap. 7.3.3. Dabei zeigt sich die ›Otherness‹ dieser beiden Figuren als Þrándrs Nachfolger allerdings um eine Ebene verschoben und weniger mythisch konzipiert. Funktionsäquivalent drückt sie sich eher in der Pluralisierung und Inversion des benannten, um Þrándr entwickelten, semantischen Feldes aus.
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Herr der Götter über deren Welt innehat. Þórr hingegen nimmt den mythologischen Quellen zufolge die Funktion eines Schutzgottes für das Haus ein, und damit letzten Endes der Welt und des Kulturraums überhaupt.100 Aus Sicht des färöischen Raumes in der Færeyinga saga nimmt Þrándr diese Position dem Außen von Norwegen gegenüber ein.101 Durch die Assoziation mit Óðinn und Þórr scheint Þrándrs eine eigene Erzählwelt erschaffendes und diese protegierendes Verhalten, das sich auf der Handlungsebene durch seine politischen Aktionen konstituiert, quasi-mythisch präfiguriert und mit mythischen Gestalten als Archegeten verbunden. Þrándr selbst bewohnt, ausgestattet mit den hier beschrieben mythischen Bezügen in seiner Figurenkonzeption, eine als liminal beschreibbare Ebene der Erzählung. Dadurch wohnt ihm als Figur der dauerhafte Zugang zu potenzreichen, aber auch gefährlichen Mächten außerhalb gewöhnlicher Handlungs- und Figurenkonzepte inne. Bereits in Kapitel 2.3.2.3 wurde darauf hingewiesen, dass Þrándr in einer raumsemantisch-semiotisierenden Perspektive auf die Færeyinga saga ein Grenzgänger am Rand der Semiosphäre des Textes ist. Er befindet sich dort, wo vermehrt Umcodierungen stattfinden, weil die Semiosphäre in Kontakt zum Raum außerhalb ihrer selbst tritt und insofern beschleunigte Prozesse ablaufen, die Veränderungen der Semiosphärenstruktur bedingen.102 Durch seine Wettermagie und dadurch seine Verbindung zur mythischen Welt in Form seiner Analogie zu Þórr, ist er in ausgewiesen als Teil jenes Figurenensembles, das »aufgrund einer besonderen Gabe (Zauberer) […] zu beiden Welten gehör[t] und gleichsam Übersetzer [ist]«.103 Þrándr ist also als Analogiefigur zu den heidnischen Göttern potent, er hat Zugriff auf Mächte jenseits der vorgegebenen Ordnung der gewöhnlichen Narration, und diese kann er umsetzen, um seine eigene Ordnung zu erschaffen. Damit aber ist er für die anderen Figuren ›andersartig‹, und aus Perspektive der Repräsentanten der ursprünglichen Ordnung, der norwegischen Herrscher und Sigmundrs, gefährlich. Es ist diese liminale Figurenkonzeption, die das semantische Feld hervorbringt, welches die Narration insgesamt steuert. Þrándrs Zauberkunst und seine Verbindungen zu suprahumanen, mythischen Figuren statten ihn erzähltechnisch mit kreativer Macht aus. Erzählstrukturell wird er auf eine mythische Sphäre erhöht: Seine Herrschaft ist nicht allein über seine gesellschaftlich normbrechende Charakterzeichnung begründet, sondern durch mythische Potenz kosmischen Ausmaßes übersteigert. Die my-
100 So nennen ihn die Quellen Miðgarðs véurr, »›the shrine–defender of Miðgarðr‹«, vgl. Dronke 1992, S. 679; zu ihrer Diskussion der Funktionen des Gottes siehe S. 678–681. Zur Schutzfunktion Þórrs, die in der jüngeren Forschung generell höher bewertet wird als sein Wesen als Gott von Wetter, See oder Land, vgl. auch Ellis Davidson 1964, S. 89–91; Turville-Petre 1964, S. 75–105; Böldl 2013, S. 191–231. 101 Eine ähnliche Funktion kommt dem ebenso ambig dargestellten Snorri goði in der Eyrgyggja saga und seiner Familie im Lauf der Narration dort zu, vgl. hierzu Böldl 2005. Zu den Raumkonzepten in der Færeyinga saga vgl. siehe Kap. 2.3. 102 Siehe Lotman 1990, S. 292–295. 103 Lotman 1990, S. 292.
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thische Ebene, die in Þrándrs Assoziationen aufscheint, wirkt so direkt auf die primäre Textebene zurück, indem sie die Narrationsentwicklung in Gang setzt und bedingt. Somit qualifiziert sie sich eindeutig als ein »sustained secondary level of meaning« in diesem Text.104 Dafür, dass in der Erzählung bewusst diese mythische Textschicht um die Figur Þrándrs aufgebaut wird, spricht, neben der noch zu besprechenden Kontrastierung mit Sigmundr auch auf dieser Erzählebene, auch die Einbeziehung der Nekromantie-Szene in Þrándrs Darstellung. Diese Szene, die in ihrem Kontext letztlich ebenso enigmatisch verbleibt wie der spätere ›Óðinns‹-Auftritt auf dem Þing, lässt sich als weiterer Hinweis auf die implizite, mythische Erzählebene verstehen, die Þrándr umgibt. Gerade weil Þrándrs Beschwörung des toten Sigmundr und seiner Begleiter in Þorgrímrs Haus auf Suðrey handlungslogisch im Grunde überflüssig wirkt und sehr unvermittelt präsentiert wird, dürfte ihr in der vorhandenen Forschungsliteratur häufig große Bedeutung für Þrándrs Interpretation als verurteilenswerter, heidnischer Schwarzmagier zukommen.105 Wie in Kapitel 3.6 argumentiert, widerspricht diese Interpretation aber der sonstigen Darstellung Þrándrs. Stattdessen lässt sich die Szene erzählstrukturell im Lichte der hier ausgeführten Gedanken als ›phantastisches‹ Element fassen, dessen Ziel nicht allein eine negative Darstellung Þrándrs ist, sondern das als Schlüsselelement des Umgangs der Narration mit ihrer mythischen Textebene für Þrándrs Figur verstanden werden kann. Sie entfaltet dabei auch eine den Text strukturierende Bedeutung, auf die nach dem hier ausgeführten Exkurs zur mythischen Ebenenmehrschichtigkeit des Textes noch einzugehen sein wird.
104 Turco 2015, S. 225. 105 Dabei wird die Szene selbst selten explizit besprochen, jedoch ist sie das unmittelbar eindringlichste Beispiel für Þrándrs magische Begabung, die gemeinhin als Zeichen seiner (unchristlichen) Bosheit gewertet wird. Für Ármann Jakobsson 2009, S. 59 sind Þrándrs magische Künste etwa »ótvírætt til marks um að hann sé fulltrúi hins illa« (unzweifelhaft Zeichen dessen, dass er ein Repräsentant des Bösen ist). Auch ohne explizit angesprochen zu sein, scheint die Szene ein gewichtiges Element der negativen Interpretation Þrándrs als Repräsentant eines ›heidnischen Weltbildes‹, wie bei Glauser 1989 und Glauser 1994, zu sein. So verweist auch Berman 1985, S. 124 explizit auf seine Darstellung als »sorcerer«, der »murder, guile, and witchcraft in order to keep his power« benutze, um wenig später seinen »hatred for Norwegian rule and Christianity« zu konstatieren und ihn als »cruel […] at times repulsive« zu beschrieben. Bonté 2014b, S. 103 verweist ebenso auf den vielsagenden Zeitpunkt von Þrándrs Ritual nach dem Tod Óláfr Tryggvasons im Kontext von Apostasie und mangelhafter christlicher Religionspraxis im Zuge ihrer Analyse der literarischen Darstellung der Christianisierung der Färöer. Die Nekromantie-Szene ist in ihrer Argumentation damit Schlüsselelement, um die begrenzte Wirkung einer vom König ausgehenden, autoritären Christianisierung im Kontrast zum isländischen Freiheitsmythos zu illustrieren.
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8.3.2.2 ›Phantastische Erzählung‹ in Mittelalter und Færeyinga saga Der Begriff des »Phantastischen« wird kontrovers diskutiert und bereitet gerade im mediävistischen Kontext ein erhebliches Mehr an Schwierigkeiten.106 Insbesondere in der Altnordistik, der sich in ihrer klassischen Begriffsverwendung eine gewisse Naivität unterstellen lässt,107 ist der Begriff in rezenter Zeit zunehmend aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden und durch Begriffe wie »supernatural« oder, noch vorsichtiger, »paranormal« ersetzt worden. Die sich hierbei auftuende Grundsatzproblematik betrifft die Definition ›phantastischer‹, das heißt in jedem Fall die empirische Welt übersteigender,108 Elemente in einem mittelalterlichen Zeithorizont, für den nicht-menschliche Wesen per definitionem ontologischen Status besitzen und für den zudem transzendente Existenz als selbstverständlich vorauszusetzen ist.109 So ergibt sich für die mittelalterliche Literatur nicht nur das Problem der Definition ›phantastischer‹ Elemente im Rückbezug auf eine wie immer geartete ›Realität‹, sondern zusätzlich eine Abgrenzungsproblematik zwischen ›Wundern‹, ›Wunderbarem‹ und ›Phantastischem‹.110 Die mittelalterlich-gelehrte Kategorisierung verschiedener ›paranormaler‹, das heißt in jedem Fall ›nicht-alltäglicher‹,111 Phänomene unterteilt diese in miraculosa, magica und mirabilia.112 Dabei sind miraculosa Phänomene göttlicher Provenienz, während für magica Dämonen oder der Teufel selbst verantwortlich zeichnen. Als mirabilia werden diejenigen Phänomene bezeichnet, deren transzendente Bedeutung unklar ist oder mehrdeutig verbleibt. Diese Kategorie umfasst somit unter anderem auch, was in der deutsch-
106 Als Überblick über die verschiedenen Definitionsversuche vgl. Schröder 1994, S. 61–108. Als Überblick über die spezielle Problematik der mediävistischen Konzeptverwendung siehe Eming 2013. 107 So wurden und werden mit Regelmäßigkeit alle Phänomene und Elemente der Sagaliteratur als ›phantastisch‹ bezeichnet, die nicht einem rationalistischen Weltbild entsprechen, wie etwa Trolle, Drachen, Wiedergänger und dergleichen mehr. Diese Phänomene widersprechen dem oftmals konstatierten ›Realismus‹ insbesondere der Isländersagas, sodass die altnordistische Sagaforschung zumeist im Kontext der Fornaldarsögur mit dem Begriff operiert. Vgl. hierzu Vídalín 2012, S. 57–60, zur unklaren Begriffsverwendung in der Forschung bes. Fn. 118. 108 Jede Phantastik-Definition arbeitet letztendlich mit der Unterscheidung zwischen einer real existierenden Welt, die den Regularien der Naturgesetzte unterworfen ist, und Phänomenen, die den Regularien dieser Welt zuwiderlaufen; vgl. hierzu Schröder 1994, S. 63. Auch wenn Schröder und die verschiedenen Phantastik-Theorien, die er bespricht, einen erheblichen definitorischen Aufwand betreiben, um die allzu simple Dichotomie zwischen ›realistischer‹ und ›phantastischer‹ Literatur zu Recht abzuweisen, arbeiten sämtliche vorhandenen Definitionen auf der Basis der Unterscheidung zwischen ›real‹ in welcher Form auch immer ›möglichen‹ Elementen und solchen, die diesen Status nicht für sich beanspruchen können. Der »binäre[n] Code des kosmologisch MöglichUnmöglichen« (Schröder 1994, S. 108) ist, in welcher Modifikation auch immer, jeder PhantastikDefinition inhärent. 109 Vgl. Eming 2013, S. 12. 110 Vgl. Eming 2013, bes. S. 11–16. 111 Vgl. Eming 2013, S. 17. 112 Siehe zu dieser Aufteilung und Bezeichnung LeGoff 1990. Vgl. auch Vídalín 2012, S. 63–64.
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sprachigen Forschung unter dem Begriff des »Wunderbaren« firmiert, und was in der Altnordistik als »supernatural« oder »paranormal« bezeichnet wird. Aus diesen Problematiken ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig, dass der Begriff der ›Phantastik‹ als völlig unbrauchbar im Kontext mittelalterlicher Literatur betrachtet werden muss, wie dies Vídalín postuliert.113 Zwar ist seiner Aussage, »the demarcation supernatural/fantastic […] did not exist in the Middle Ages«114 insofern beizupflichten, als dass nicht kritiklos ›unrealistische‹ Phänomene der mittelalterlichen Literatur als ›phantastisch‹ bezeichnet werden können. Jedoch resultiert daraus nicht die Unbrauchbarkeit des Begriffs der ›Phantastik‹ als literaturwissenschaftlicher Kategorie. Solche Kategorien sind einerseits grundsätzlich nur moderne, wissenschaftliche Behelfskonstrukte, und andererseits operiert die neuere PhantastikForschung gerade nicht mehr mit der einfachen Dichotomie von ›Realismus‹ und ›Phantastischem‹. So lehnt Vídalín eine Unterscheidung zwischen ›phantastischen‹ und ›übernatürlichen‹ Elementen vor allen Dingen damit ab, dass die Grenze zwischen beiden in den mittelalterlichen Quellen derartig verwischt sei, dass eine Auseinanderdifferenzierung nicht mehr möglich sei.115 In seiner Argumentation stößt er sich insbesondere an Else Mundals Gedanken, dass ›phantastisch‹ »weniger glaubhaft« bedeuten müsse116 und weist auf die Problematik der Phantastik-Definition von Todorov hin, die nicht zwischen beiden Begriffen unterscheidet.117 Dabei verkennt er allerdings den Nutzen eines literaturwissenschaftlichen Phantastik-Begriffs, paradoxerweise obwohl er sich bemüht, gründlich eine verdienstvolle literaturwissenschaftliche Definition des ›Übernatürlichen‹ herauszuarbeiten.118 Ein solcher bedürfte aber nicht zwangsweise des Parameters der ›Glaubhaftigkeit‹ in historischer Dimension, um verwendbar zu sein. Als Vorteil einer literaturwissenschaftlichen Definition auch des ›Phantastischen‹ als Ergänzungskategorie des ›Übernatürlichen‹ wäre einerseits eine genauere Kategorisierungsmöglichkeit für unterschiedliche textliche Phänomene zu nennen, und andererseits eine erhöhte Anschlussfähigkeit auch der altnordistischen Forschung an gängige Wissenschaftsdiskurse über die Phantastik und ihre diachrone Entwicklung.119 Todorov, auf den sich Vídalíns Ablehnung explizit bezieht, kann dabei zwar als ›Vater‹ der modernen Phantastik-Forschung bezeichnet werden, ist aber
113 Vgl. Vídalín 2012, bes. S. 60–66. 114 Vídalín 2012, S. 62. 115 Vgl. Vídalín 2012, S. 58–60. 116 Vgl. Vidalín 2012, S. 61–66. 117 Vgl. Vídalín 2012, S. 60 u. S. 63. Für Todorovs Phantastik-Definition siehe Todorov 1972. 118 Vgl. Vídalín 2012, bes. S. 66–68 et passim. 119 So setzen gängige Phantastik-Definitionen die mittelalterliche Literatur in der Regel wegen der Transzendenz- und Monstrenproblematik generell abseits. Dabei könnte gerade die Gattung der Isländersagas für eine engere, rein narratologisch gefasste Phantastik-Definition durchaus fruchtbar zu machen sein.
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in hohem Maße ergänzungsbedürftig.120 So gilt das ›Phantastische‹ in der auf Todorov aufbauenden Forschung als Moment einer »textuelle[n] Doppelstruktur«, »die […] auf eine Destabilisierung der den binnenliterarischen Realitätsgehalt garantierenden Erzählinstanzen hinausläuft. Das Resultat dieser Destabilisierung sind Leerstellen, die zwei inkompatible fabulae hervorbringen.«121 Dies ließe sich ohne weiteres auch auf die mittelalterliche Literatur übertragen. Dabei lässt sich der Fallstrick von Transzendenz und Monstrenglaube, die gerade in altnordischen Texten selten die Erzählinstanz verunsichern,122 umgehen, wenn man auch den Begriff des »binnenliterarischen Realitätsgehalts« literaturwissenschaftlich weiterdefiniert. Schröders PhantastikDefinition zufolge äußert sich das ›Phantastische‹ in literarischen Texten »als das Aufeinandertreffen zweier codifizierender Systeme«, die über einen außerliterarischen Diskurs als »kosmologisch möglich« und »unmöglich« bestimmt seien.123 Die Parameter des Mittelalters in Bezug auf die Unterscheidung zwischen »kosmologisch möglich« und »unmöglich« sind zweifelsohne andere als die rezenterer Zeiten.124 Insofern wäre diese Definition in diachroner Perspektive zu erweitern auf die Verschränkung zweier Textcodes, die nicht außerliterarisch-diskursiv als »möglich« oder »unmöglich« bestimmt sind, sondern im Gegenteil zunächst textimmanent als »alltäglich« bzw. »bekannt« und »außergewöhnlich« bzw. »unbekannt«.125
120 Für eine Auseinandersetzung mit Todorovs Thesen vgl. Schröder 1994, S. 75–90. 121 Schröder 1994, S. 90. 122 Vgl. grundsätzlich Eming 2013, S. 12. Siehe für altnordischen Bereich auch McTurk 1992, der für die ›übernatürlichen‹ Elemente der Njáls saga feststellt, dass diejenigen, die sich einem christlichen Narrationsdiskurs zuordnen lassen, zwar in ihrer ›Übernatürlichkeit‹ betont würden, indem sie in unmittelbar durch den Erzähler und in externer Fokalisierung präsentiert werden. Gerade deshalb seien sie aber besonders ›glaubhaft‹, weil keine verunsichernde Wahrnehmungsinstanz ihrer Präsentation vor den Rezipienten zwischengeschaltet ist, sondern sie als Tatsachen dargestellt werden. Komme eine solche Wahrnehmungsinstanz hingegen vor, indem ein ›übernatürliches‹ Ereignis intern fokalisiert wird (durch Ausdrücke sinnlicher Wahrnehmung wie þeir sá [sie sahen] oder auch þeim þóttisk [ihnen schien]), werde die Erzählstimme dadurch destabilisiert oder verunsichert, und das Ereignis werde folglich in seinem ontologischen Status für die Rezipienten zweifelhaft oder jedenfalls diskutierbar (vgl. hierzu bes. S. 110–112 u. S. 119–122). Wehrle 2021 hingegen sieht die Wahrnehmungsfokalisierung im Kontext der kirchenväterlichen Unterscheidung der Welt in corpus und spiritus und argumentiert gegen McTurk, dass die geistige Natur von unklar ›wunderbaren‹ Erscheinungen wie Wiedergängern (im Sinne von mirabilia) dieser mittelalterlichen Theoretisierung gemäß anhand einer Wahrnehmung durch geistige Sinne dargestellt werden müsse. So sei die interne Fokalisierung keineswegs Zeichen einer Distanzierung der Erzählung vom Wahrheitsgehalt des Dargestellten, sondern betone im Gegenteil deren Tatsächlichkeit. 123 Schröder 1994, S. 108–109, Zitat S. 109. 124 Entsprechend setzt Schröder für seine Definition »den kulturellen Diskurs einer rationalistischen Aufklärung voraus, die die Kunst aus ihren sakralen Banden befreit hat« (Schröder 1994, S. 108). Da einerseits die oben dargestellte Definition des ›Phantastischen‹ auch ohne diese Einschränkung fruchtbar erscheint und andererseits gerade die Isländersagas wenig von ihren »sakralen Banden« spüren lassen, scheint Schröders Postulat in dieser Hinsicht überzogen. 125 Vgl. auch Eming 2013, S. 17.
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Diese grundsätzliche Unterscheidung beträfe zunächst alle Arten von Phänomenen und Wesen, die in mittelalterlichen Texten einem modernen Verständnis nach ›unrealistisch‹ erscheinen und ist insofern weiter zu präzisieren: Abhängig von der narrativen Positionierung der ›nicht-alltäglichen‹ Phänomene sind ›wunderbare‹ Wesen wie Monstren aus der Kategorie des ›Phantastischen‹ auszuschließen, insofern sie an der narrativen Peripherie (oder jedenfalls nicht im Erzählzentrum) angesiedelt sind.126 Übrig blieben somit all jene Phänomene, die im narrativen Zentrum eines Erzähltextes vorkommen und mit Vídalín somit grundsätzlich als »supernatural« zu bezeichnen wären.127 Als ›phantastisch‹ wäre somit eine Untergruppe des ›Übernatürlichen‹ zu bezeichnen, insofern sie bestimmte weitere Kriterien erfüllt. Zunächst müssen mit Schröders Ausgangsdefinition zwei unterschiedliche narrative Code-Ebenen gegeben sein, eine des ›alltäglich Bekannten‹ sowie eine zweite, alteritäre Realitätsebene, die hinreichend – durch Reaktionen auf der Figurenebene, Erzählerkommentare oder auch die Art und Weise ihrer narrativen Darstellung128 – als ›außergewöhnlich‹ markiert ist. Übertragen auf die mittelalterliche Literatur schlösse diese Modifikation zunächst auch göttliche Wunder oder Einfälle dämonischer Mächte ein, die schon der mittelalterlich-gelehrte Diskurs unter den Begriffen miraculosa und magica fasst.129 In diesem Kontext bedeutsam ist allerdings der dritte Begriff der mirabilia, der gerade die Unsicherheit ob der transzendenten Bedeutung bestimmter Phänomene ins Zentrum rückt. Der weiteren Definition Schröders nach müssen beide Codestrukturen nämlich in dialogischer Relation verschränkt sein,130 126 Vgl. Vídalín 2012, S. 12: »An Íslendingasaga’s narrative middle can be defined as the protagonist’s place of residency, permanent or temporary. […] A single saga can therefore be considered to have many narrative middles: e.g. […] Iceland within the Nordic States […] which functions as the narrative frame of most Íslendingasögur, and there within we can also have a certain region within Iceland as a larger narrative middle, a farmstead within that region or the wider neighborhood, etc.«, vgl. auch S. 67; ausführlicher S. 69–74 u. S. 87–93. Das Prinzip von narrativer Mitte und Peripherie bezieht sich in diesem Kontext also auf die raumkonzeptionelle Situation der Isländersagas bzw. ist von einer Island-zentrierten Sichtweise geprägt, die die Insel per se als narratives Zentrum der dort entstandenen Literatur ansieht, siehe zur Raumkonzeption der isländischen Literatur bereits Kap. 2.3.1. Ob und inwiefern die hier vorgeschlagenen Überlegungen auch für die an exotischen Schauplätzen situierten Erzählungen der Vorzeit- und Märchensagas anwendbar sind, oder hier andere gattungsspezifische Anpassungen notwendig wären, ist eine weitere untersuchenswerte Frage, deren Weiterverfolgung im vorliegenden Rahmen nicht geleistet werden kann. Ein Sonderfall der oben beschriebenen Phänomene wäre Vídalíns Kategorie der tröll, die narrativ zwar nicht in der Peripherie, aber ebenso wenig im Zentrum angesiedelt werden (vgl. S. 74–78 u. S. 93–114). Deren narrative Einbindung im oben vorgestellten Sinne wäre untersuchenswert, um den Status ihrer ›Phantastik‹ näher bestimmen zu können. Da auch sie nicht im narrativen Bereich des ›alltäglichen‹ Innenraums angesiedelt sind, können sie im hier vorliegenden Kontext allerdings zunächst ebenfalls ausgeschlossen werden. 127 Vgl. Vídalín 2012, S. 79–86 u. S. 114–145. Sein primäres Beispiel sind die wiedergehenden Untoten. 128 Vgl. Schröder 1994, S. 110–112. 129 Zu den Begriffen siehe LeGoff 1990. 130 Zum Dialogizitätsprinzip vgl. Bachtin 1971.
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das heißt, gleichberechtigt nebeneinander ihren Gültigkeitsanspruch artikulieren, idealerweise, ohne eindeutig entschieden zu werden.131 Durch die so geartete Verschränkung der zwei Codesysteme entstehe in ›phantastischer‹ Literatur eine »neue emergente Entität […], die […] oxymoronhafte Züge« besitzen könne,132 weil sie vom »Widerspruch durchdrungen« sei.133 Diese Bedingungen erfüllen in den Isländersagas gerade jene ›übernatürlichen‹ Elemente, die sich unter dem mittelalterlichen Begriff der mirabilia subsummieren lassen. Die klassisch Todorov’sche hésitation134 würde sich hier äußern in der Unsicherheit – oder eher Unentscheidbarkeit – welche (transzendente) Bedeutung einem gegebenen Phänomen zukommt.135 In diesen Fällen sind die »zur Verfügung stehenden Referenzsysteme, insbesondere christliche Deutungsmuster«,136 ausgehebelt; sie greifen nicht, weil sich das auftretende Phänomen einer klaren Einordnung entzieht. Indes wären nicht alle ›übernatürlichen‹ Elemente der Isländersagas, also jene im modernen Verständnis ›nicht realen‹ Geschehnisse, die sich in ihren narrativen Zentren ereignen, als ›phantastisch‹ zu bestimmen: Im Sinne des hier verfolgten Ansatzes wäre zunächst zu prüfen, ob sich für eine gegebene Saga eine zweite »codifizierende Struktur« oder narrative Ebene alternativer Realitätskonstruktion erschließen lässt. Weiterhin muss die narrative Einbindung des zu untersuchenden Phänomens näher bestimmt werden. Lässt sich ein Wiedergängerspuk in einer gegebenen Saga etwa eindeutig als göttliches Vorzeichen oder dämonische Erscheinung sinnfällig machen, so wäre der entsprechende Erzählabschnitt nicht als ›phantastisch‹ zu bezeichnen. Somit wäre insbesondere die Frage zu verfolgen, welche narrative Funktion einem bestimmten ›übernatürlichen‹ Erzählelement zukommt, um eine Aussage über seinen Status in Hinblick auf seine mögliche ›Phantastik‹ treffen zu können. Entscheidend wären dabei die Kriterien der Unsicherheit, der Offenheit
131 Vgl. Schröder 1994, S. 112–118. 132 Schröder 1994, S. 118. 133 Schröder 1994, S. 117. 134 Vgl. hierzu Todorov 1972. 135 Einen ähnlichen Gedanken hat bereits Dubost 1991 verfolgt. Dessen Phantastik-Definition, die besonders die Momenthaftigkeit des ›Phantastischen‹ betont, wurde als zu unklar und heuristisch wenig Mehrwert liefernd kritisiert, auch weil sie letztlich ein relativ kleines Textkorpus produziere, siehe Eming 2013, S. 15–16. Diese Problematik kann im Bereich der altisländischen Literatur wenigstens in narratologischer Hinsicht einfacher umgangen werden als für das französisch-höfische Korpus, das Dubosts Studie untersucht. Dubost historisiert einerseits die ›phantastischen‹ Motive, indem er sie zu Überresten vorchristlicher Glaubensinhalte oder dämonisch anmutenden Erscheinungen erklärt. Andererseits passt er die Motive in ihrer Momenthaftigkeit wieder an das christlich-mittelalterliche Weltbild an, da die erzielte metaphysische Verunsicherung diesem entsprechend nicht von langer Dauer sein dürfe, vgl. hierzu auch Eming 2013, S. 16. Eine Historisierung ›phantastischer‹ Erzählelemente ist im oben ausgeführten Modell keinesfalls angestrebt, und die Rückkopplung mit der christlichen Weltsicht scheint in rein narratologischer Hinsicht in den Isländersagas weniger notwendig, weil die Texte ein solches weniger vordringlich formulieren als kontinentaleuropäische Versromane. 136 Eming 2013, S. 15.
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und der Destabilisierung dessen, was die Diegese eines Erzähltexts als ›real‹ bzw. ›bekannt-alltäglich‹ ausweist, und die Inkommensurabilität der Verschränkung dieser diegetischen Ebene mit einer zweiten Erzählebene, die nicht einfach im christlich-gelehrten Diskurs der Zeit als göttlich oder teuflisch interpretiert und somit ›aufgefangen‹ werden kann. Einen Idealfall der hier vorgestellten Überlegungen liefert die Nekromantie-Szene aus der Færeyinga saga.137 Zwar ereignet sich die dort beschriebene Szenerie nicht im ›Zentrum‹ von Þrándrs Herrschaftsbereich, also an seinem Hauptsitz in Gata, doch ist im Raum der Färöer kaum ein eindeutiger topographischer Zentralort auszumachen, wie in den von Vídalín untersuchten Isländersagas.138 Hingegen ist der gesamte Archipel als ›narratives Zentrum‹ gegenüber dem norwegischen Raum zu betrachten, jedenfalls aus der Perspektive des dort dominanten Þrándr, den die Szene schließlich betrifft, wie in den Kapiteln 2.3 und 3 erörtert. Somit ereignen sich Þrándrs eindeutigster Beweis seiner magischen Macht und die offenbar dadurch hervorgerufenen Erscheinungen des toten Sigmundr und seiner Begleiter im narrativen Zentrum der Erzählung zu diesem Zeitpunkt und sind daher, den oben ausgeführten Gedanken folgend, grundsätzlich als »supernatural« einzuordnen. Die genaue Beschreibung von Þrándrs Ritualaufbau, seiner Handlungen und des dadurch erzielten Effekts kann als hinreichende Markierung verstanden werden, dass die solchermaßen geschilderte Szene aus dem Rahmen des Alltäglichen innerhalb der Diegese fällt.139 Die Ontologie
137 Siehe Fær c. 40, S. 88, vgl. bereits Kap. 3.6.3. Damit sei allerdings nicht gesagt, dass der oben ausgeführte Definitionsversuch mittelalterlicher ›Phantastik‹ sich alleine auf diese Szene erstreckt. Eine weitergehende Untersuchung anderer Szenen der Isländersagas kann im vorliegenden Rahmen nicht geleistet werden, wäre aber erstrebenswert. So ließe sich insbesondere anhand der narrativen Einbindung von Wiedergänger-Szenen eine Debatte führen, welche davon als dämonisch, ggf. sogar göttlich, oder anderweitig als ›phantastisch‹ zu bezeichnen wären. Hilfreich agierende Wiedergänger, wie etwa die die Fahrgemeinschaft zu ihrem Begräbnis versorgende Þórgunna in der Eyrbyggja saga c. 51, S. 143–145 ließen sich qua ihrer narrativen Sinnhaftigkeit trotz ihres vorderhand unchristlichen Gehalts über eine solche Diskussion womöglich als dennoch göttliche miracula fassen. Die üblen, zumal heidnischen, Wiedergänger der Flóamanna saga c. 22–23, S. 282–289 hingegen könnten recht eindeutig den teuflischen magica zugeordnet werden. Interessant wäre eine Bestandsaufnahme derjenigen Wiedergänger-Szenen, die entsprechend keinem göttlich-hilfreichen oder teuflisch-schadhaften Diskurs zugeordnet werden können und die insofern in die Kategorie des ›Phantastischen‹ fallen würden. 138 Vgl. Vídalín 2012, S. 12. 139 Siehe Fær, S. 88: Þrandr hafde þa latít gera ellda mykla j ellda skala ok grindr fiorar lætr hann gera med fíorum hornnum ok íx ræíta ristr Þrandr alla uega vt fra grindunum en hann setzst astol mille elldz ok grindanna hann bidr þa nu ekki vid sig tala ok þeir gera suo. Þrandr sítr suo vm hrid ok er stund leíd þa geingr madr jnn j ellda skalann […] eftir þetta riss Þrandr af stolínum ok uarpar mædiliga ondunne (Þrándr hatte da große Feuer im Feuerraum entzünden lassen, und vier Gitter mit vier Ecken lässt er errichten, und neun Felder ritzt Þrándr in jede Richtung von den Gittern weg, er aber setzte sich auf einen Stuhl zwischen das Feuer und den Gittern. Er bittet sie nun, ihn nicht anzusprechen, und sie tun das. Þrándr sitzt so eine Weile, und als eine Weile verging, da kommt ein Mann in den Feuerraum herein […] danach erhob sich Þrándr vom Stuhl und seufzt tief). Insgesamt nimmt die Beschreibung des Rituals 14 Zeilen der gedruckten Ausgabe von Ólafur
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der Erscheinungen steht offenbar zu keinem Zeitpunkt zur Debatte: Weder die Figuren noch die Erzählinstanz reagieren verunsichert oder gar verängstigt auf die sich hier offenbarenden Mächte und Wesen.140 Somit unterbleibt allerdings auch eine Einfassung der Szenerie in einen christlich-moralischen Diskurs über göttliche oder teuflische Kräfte in der Menschenwelt.141 Ob sich in diesem Moment eine dämonische Zaubermacht Þrándrs offenbart oder aber der tote Sigmundr selbst durch seine Erscheinung göttlichen Beistand erfährt,142 um den eigenen Tod aufklären zu können, wird von der Erzählung selbst nicht entschieden. Die sich in diesem Moment äußernde »neue emergente Entität«143 der Toten-Erscheinungen ist ebenso ›real‹ wie gewöhnliche Vorgänge innerhalb der Diegese, wiewohl sie aufgrund ihrer Außergewöhnlichkeit quer zu deren »binnenliterarische[m] Realitätsgehalt«144 steht und diesen insofern durchbricht und destabilisiert. Es entsteht eine »Leerstelle«,145 die weiterhin nicht eindeutig im zeitgenössischen ›Wunder‹-Diskurs aufgelöst werden kann und somit ein mirabilium darstellt, dessen transzendente Einordung unschlüssig verbleibt. Dadurch ergibt sich in diesem Augenblick der Erzählung ein gleichberechtigter Dialog zweier unterschiedlicher »codifizierender Strukturen«146 im Sinne
Halldórsson (Hrsg.) 1987 ein und ist somit eine der am ausführlichsten ausgestalteten Nicht-DialogSzenen der Færeyinga saga. Mit Þrándrs anschließender Erklärung über die aus der Erscheinung ablesbaren Todesarten Sigmundrs und seiner Begleiter nimmt die Nekromantie-Szene dem Umfang von fast einer gesamten Druckseite ein. 140 Die Erscheinungen der Toten werden ohne Wahrnehmungsinstanz (also die Verschiebung auf figürliche Sinneseindrücke über Formulierungen mit sýnask oder þykjask) beschrieben, d. h. extern fokalisiert als Tatsachen berichtet: madr geingr jnn j ellda skalann. Lediglich beim Erkennen der Toten wird dreimal das Wort kenna verwendet und somit die versammelten Figuren zu Wahrnehmungsinstanzen deklariert. Dies destabilisiert allerdings nicht den ontologischen Status und die Glaubhaftigkeit der so dargestellten Szenerie im Sinne von McTurk 1992. Auch der gegenteiligen Einschätzung bei Wehrle 2021 entzieht sich die Erscheinung somit jedoch augenscheinlich – oder muss ihm zufolge als verunsichert gelten, wie es im Sinne der ›Phantastik‹ notwendig ist. 141 Von dem allerdings Bonté 2014b, S. 103 hintergründig nichtsdestoweniger ausgeht, wenn sie argumentiert, die Szene zeige rückwirkend die eingeschränkte Strahlkraft gewaltsamer Bekehrung durch Óláfr Tryggvason. Sie ist allerdings in dem þáttr des Textes in der Flateyjarbók überliefert, der sich zwischen den Herrschaftszeiten der beiden Óláfrs als Könige Norwegens befindet, vgl. Würth 1991, S. 63. Beide Herrscher werden dadurch von der Assoziation mit der Szene freigehalten, siehe bereits Kap. 3.6.3 (Fn. 385). Diese strukturelle Einbindung des Textteils in die Flateyjarbók setzt allerdings in Hinblick auf die Færeyinga saga selbst die Szene nicht im oben geschilderten Sinne in den Rahmen einer christlichen Ideologie. Innerhalb der Szene wird eine Diskussion als göttliches oder teuflisches Zeichen nicht greifbar, auch wenn im Großrahmen der handschriftlichen Überlieferung beide christlichen Könige sicherheitshalber von ihr entfernt werden. 142 Wie im späteren Moment seiner Erscheinung vor seiner Frau Þuríðr, siehe Fær c. 54, S. 131; Kap. 6.5. 143 Schröder 1994, S. 125. 144 Schröder 1994, S. 90. 145 Schröder 1994, S. 90. 146 Schröder 1994, S. 109.
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»divergierender Realitätsebenen«,147 die unentschieden miteinander verschweißt sind, und deren eine Ebene, die der erscheinenden Toten, mit der zweiten, der als Diegese gegebenen Welt des Bekannten, konflingiert. Die notwendige »Destabilisierung der den binnenliterarischen Realitätsgehalt garantierenden Erzählinstanzen«148 äußert sich dabei nicht als Zweifeln des Erzählers über die Tatsächlichkeit seines Berichts. Die Betonung des ontologischen Status der Erscheinung unterstreicht hingegen den Konflikt der Ebenen und wird nicht durch eine Verschiebung auf die Figurenwahrnehmung abgefedert.149 Gerade das aber weist den »Realitätsgehalt« der alltäglichen diegetischen Ebene als brüchig aus. Der Erzähler, der in der Færeyinga saga ohnehin nur als unsicherer Bürge seiner eigenen Darstellung gelten kann, kann einmal mehr über den »binnenliterarischen Realitätsgehalt« der Szenerie keine befriedigende und gesicherte Aussage treffen. Insofern darf die Szene mit Recht als ›phantastische Erzählung‹ im oben ausgearbeiteten Verständnis eingeordnet werden. Möglich wird diese Verschweißung konflingierender Ebenen von ›Realität‹ durch den Rückgriff der Narration auf eben jene Erzählebene mythischer Assoziationen, die um Þrándr herum aufgebaut wird. Im Moment seiner Totenbeschwörung wird die Figuren- und Handlungsebene mit der Schicht von Þrándrs quasi-mythischer Konzeption konfrontiert. Effekt dieser ›phantastischen‹ Szene ist somit einerseits die narrative Nutzbarmachung von Þrándrs mythischen Assoziationen in der Fortentwicklung des Plots und andererseits seine Stilisierung als ›andere‹ und insbesondere ›außergewöhnliche‹ Figur innerhalb der dargestellten Diegese des ›Gewöhnlich-Alltäglichen‹, gröber gesagt der Sphäre normal-menschlicher Zivilisation. Er wird der gewöhnlichen Erzählwelt, die er politisch dominiert, enthoben und auf eine Sphäre ›mythischer‹ narrativer Potenz erhoben. Die ›phantastische‹ Nekromantie-Szene zeigt deutlich, wie diese kreative Energie in Þrándrs Figurenkonzeption erzähltechnisch umgesetzt wird: Durch die Narration wird in seiner Figur bewusst auf die mythische Textdimension zugegriffen, um die Handlung auf der primären Erzählebene entscheidend zu bestimmen und voranzutreiben. Hierin zeigt sich einerseits ein weiteres Gliederungsprinzip der Handlung der Færeyinga saga, das noch näher auszuführen sein wird, und andererseits ein weiterer, fundamentaler Unterschied zwischen den Figurenkonzeptionen Þrándrs und Sigmundrs, der sich auch auf die Schicht der mythischen Textdimension erstreckt und der im Folgenden zu untersuchen ist.
8.3.3 Sigmundr, der Ring der Þorgerðr und die mythische Textebene Wie in Kapitel 4.5 dargestellt, wurde Sigmundrs Tod in der bisherigen Forschung häufig der im Text geäußerten Warnung seines christlichen Königs Óláfr Tryggva147 Schröder 1994, S. 91. 148 Schröder 1994, S. 90. 149 Vgl. McTurk 1992. Nach Wehrle 2021 wäre gegebenenfalls die körperlich-physische Schilderung der Toten umso verunsichernder.
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son folgend mit seinem Festhalten am Ring der Þorgerðr hǫrðabrúðr und daraus wenigstens implizit folgend einem Mangel an christlichem Glauben bzw. christlicher Gehorsamkeit begründet.150 Der Ring bereitet einer Interpretation Sigmundrs als christliche Symbolfigur grundsätzliche Schwierigkeiten, verbindet er den Missionar doch mit der explizit heidnischen Kulthandlung in Þorgerðrs Tempel.151 Doch selbst wenn diese Problematik durch die Begründung seines Todes mit dem heidnisch aufgeladenen Ring überbrückt wird, ist sehr ungewöhnlich, dass die christliche Moralisierung von Sigmundrs Tod in Form der von Óláfr formulierten Prophezeiung der tatsächlichen Szene von Sigmundrs Ermordung verhältnismäßig weit vorgeschaltet ist, während gerade in dieser Szene jegliche moralische Bewertung des Geschehens seitens der Erzählstimme unterbleibt. Zweifelsohne ist die Tat selbst als Mord mit der Motivation durch Þorgrímrs Goldgier in hohem Maße negativ ausgestaltet, doch wird gerade die Rolle des Rings der Þorgerðr dabei in keiner Weise weiter kommentiert.152 So ist aus dem Text selbst heraus nicht eindeutig entscheidbar, ob Sigmundrs Weigerung König Óláfr gegenüber überhaupt ein charakterliches Defizit ausdrückt 153 – immerhin demonstriert Sigmundr dadurch das ›heroische‹ Stehen zu seinem Wort selbst ihm Angesicht des Todes, das charakteristisch für seine Darstellung in der Færeyinga saga ist. Er hebt lobende Worte über seinen ehemaligen Herrn an, dem er ebenfalls lehnsrechtlich verpflichtet ist.154 Ebenso ist aus König Óláfrs Aussage überhaupt nur indirekt erschließbar, dass es die heidnische Assoziation des Rings ist, die Sigmundr zum Verhängnis wird. Der König spricht nur von seinem Wissen um Schenker und Herkunft des Ringes, nicht explizit von Jarl Hákons Heidentum. Für den König ergibt sich vielmehr schon grundsätzlich die Problematik, dass Sigmundr seiner Vergangenheit als solcher ver-
150 So etwa Guldager 1975, der argumentiert, dass Sigmundr seine Erd- und Weltbezogenheit vor Óláfrs transzendent bezogener Ideologie nicht aufgeben wolle, womit Óláfrs Ideologie als die eigentlich richtige betont werde (S. 35–38). Dies spiegle die feudalistische Ideologie der Kirche im mittelalterlichen Island wieder. Ähnlich auch Harris 1986, S. 208–209; Glauser 1989, S. 217. Vgl. hierzu weiterhin auch Kap. 7.4.3. 151 Die Gedanken dieses Kapitels wurden in zusammengefasster Form bereits in Schmidt 2018 veröffentlicht. 152 Dieser wird lediglich von Þorgrímr im Zusammenhang mit dem restlichen fé, das Sigmundr an sich trägt, besonders herausgehoben: [E]r gull hringr hans hardla dígr (Fær, S. 86; ›Sein Goldring ist sehr schwer‹). Damit wird zwar einerseits »ringens materielle værdi« (der materielle Wert des Rings) betont (Guldager 1975, S. 37), und somit auch seine Rolle für den Mord an Sigmundr, jegliche explizite Wertung dieses Vorganges im Sinne König Óláfrs aber unterbleibt im Text. Genauer betrachtet wäre es sogar möglich, wenn auch angesichts der Verbindung Sigmundrs zu genau diesem einen Ring nicht wahrscheinlich, dass Þorgrímr irgendeinen anderen Ring meint. Der Ring trägt an dieser Stelle allerdings weder einen Namen wie Hákonarnaut, wie im abschließenden Kommentar der Óláfs saga Tryggvasonar-Redaktion (siehe ÓT c. 207 [II, S. 124], siehe auch Fær, S. 80 Anm. z. Z. 30), noch wird er näher beschrieben; vgl. auch Kap. 4.5.2. 153 Vgl. Harris 1986, S. 209. 154 Siehe Kap. 4.5.2 u. Kap. 7.4.3. Vgl. auch Harris 1986, S. 208–209.
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bunden bleibt und sich nicht vollständig auf ihn als seinen obersten Herrn einlässt. Hinzu kommt, dass Sigmundr Þorgerðrs Ring die gesamte Zeit seit seiner erstmaligen Rückkehr auf die Färöer bei sich trägt, ohne, dass dieser einen spürbaren negativen Effekt besitzt, während ihn Jarl Hákon für Sigmundr gewinnt, weil er wortreich seine glückbringende Natur hervorhebt (læíta þer þangat heilla bzw. attu S(igmundr) af þeim hring heíllir at taka155). In Hákons Perspektive handelt es sich bei dem Ring um ein Glückszeichen, und zwar ein offenbar unabdingbares. Dass Sigmundr den Ring die gesamte Zeit über besitzt, in der er seine Herrschaft auf den Färöern zurückerobert und innehat, scheint dessen glückbringende Wirkung dabei zunächst durchaus zu beglaubigen. Bemerkenswert ist indes, dass der Ring nach seiner Beschaffung und vor Óláfrs Prophezeiung dennoch keinen Platz in der Erzählung hat, er spielt keinerlei Rolle. Der Jarl erbittet den Ring von seiner Patronin in einer aufwendig präsentierten Szene voller detaillierter Beschreibungen,156 die handlungslogisch unterdeterminiert wirkt. Für seine erfolgreiche Rückkehr auf die Färöer benötigt Sigmundr einzig Hákon logistische Unterstützung und seine herrschaftliche Autorität, nicht einen Ring aus einem heidnischen Tempel, der im Folgenden bis zur Szene am Hof König Óláfrs mit keinem Wort mehr Erwähnung findet. Umso auffälliger ist die Zwischenschaltung der Tempelszene in den Handlungsgang. Hákons inständiges Flehen vor seiner Patronin, der er ein reiches Silberopfer darbringt und vor der er sich zweimal niederwirft, bei der zweiten Gelegenheit gar unter Tränen, verdeutlicht dabei die Unbedingtheit, mit der er Sigmundr mit dem Ring ausstatten will. In Hákons Perspektive sind der Ring und die Macht seiner Patronin Þorgerðr, die der Ring in seinem Verständnis offenbar enthält oder wenigstens symbolisiert, unbedingte Voraussetzung von Sigmundrs Aufstieg. Doch nach Sigmundrs Konversion ändert sich die Perspektive der Erzählung auf den Ring (jedenfalls auf der Figurenebene) vollständig: Was Jarl Hákon als unbedingt notwendigen, mythischen Glücksbringer gewinnt, wertet Óláfr zum heidnischen Todeszeichen des konvertierten Sigmundr um. Dem Ring werden von den Figuren so diametral unterschiedliche Bedeutungen bzw. Semantiken zugewiesen, und der Umschlagsort ist Sigmundrs Glaubenswechsel. Beide Semantiken sind religiös aufgeladen und eng an die Szene der Ringgewinnung mit ihrem heidnisch-kultischen Gepräge gebunden. Insofern ist die in der Færeyinga saga auf Þorgerðrs Ring geworfene Perspektive doppelt bestimmt: Einerseits lässt sich eine heidnische Perspektive ausmachen, verbalisiert durch Hákons Rede vom Ring als Glücksbringer, und andererseits eine christliche, ausgedrückt durch König Óláfr. Dem Ring kommt aus der Sicht
155 Fær, S. 49–50 (›dort Heil für dich suchen‹; ›Du, Sigmundr, hast von diesem Ring Heil zu erwarten‹). Vgl. auch Kap. 7.4.2. 156 Siehe Fær c. 23, S. 49–50, für ein vollständiges Zitat Kap. 4.5.2. Unvermittelt beginnt Hákon, Sigmundr vor dessen Abreise über seinen Glauben zu befragen und rät ihm, auf Þorgerðr zu vertrauen, zu deren Tempel er ihn geleitet. Der Weg dorthin und die Umgebung des Tempels sowie dessen Aussehen und Ausstattung werden detailgetreu beschrieben.
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beider norwegischer Herrscher mythische Bedeutung und Macht zu, sei sie nun heidnisch oder christlich. Er verbindet Sigmundr in ihrer Ansicht mit einer übermenschlichen Macht, die für seinen Lebensweg verantwortlich zeichnet. Jedoch erhält der Ring noch eine weitere Semantik, die beide religiös motivierten Perspektiven konsequent ausblendet, wie in Kapitel 4.5 dargestellt: Sigmundrs eigene, die der durch seine beiden Herren verbalisierten Potenz seines Kleinods insbesondere für einen christlichen Missionar bemerkenswert indifferent gegenübersteht.157 Als Hákon den Ring für Sigmundr gewinnt, betrachtet er den Kultakt nur stumm und reagiert lakonisch auf die eifrigen, gläubigen Reden des Jarls: Mehr als ein schlichtes Sigmundr bad hann firir sea wird in diesem Zusammenhang nicht ausgeführt.158 Dennoch stellt er unbedingte Treue seinem alten Herrn gegenüber vor König Óláfr unter Beweis, eine Gehorsamsverweigerung mit fatalen Folgen. Þorgerðrs Ring wird insofern jenseits religiöser Aufladungen für Sigmundr persönlich auch zum »Symbol für [sein] Festhalten an seiner persönlichen Vergangenheit und der Freundschaft zu Jarl Hákon«,159 einer Freundschaft, »die offensichtlich tiefer geht als jene zu Olaf Tryggvason. Sein Scheitern resultiert [auch] aus der Unvereinbarkeit dieser widerstreitenden Loyalitäten.«160 Sigmundrs eigenes Verhältnis zu seinem Ring passt sich damit vollständig in seine Charakterzeichnung ein und wird zum Symbol seines gescheiterten Herrschaftsversuchs und all seiner persönlichen Stärken, die sich im Machtkampf mit Þrándr als Schwächen herausstellen. Insofern symbolisiert der Ring keineswegs einzig einen »tiefsten heidnischen Irrglauben«,161 sondern verdeutlicht vielmehr die Tragik von Sigmundrs Schicksal durch die Symbolisierung von dessen widerstreitenden persönlichen Bindungen. Auch dadurch erhält Sigmundr die von Joseph Harris festgehaltenen »complexity and depth of character«.162 In der Erzählung ist der Ring somit dreifach semantisiert: heidnisch durch Hákon, christlich durch Óláfr, profan durch Sigmundr. Alle drei Semantisierungsebenen lassen sich auch in der vorliegenden Forschungsliteratur nachverfolgen: Die profane Symbolfunktion des Rings hinsichtlich Sigmundrs Loyalitätsbindungen betont Bick,163 während Guldager und Glauser König Óláfrs christliche Perspektive als Gesamtaussage der Erzählung herausstreichen.164 Indes sieht Almqvist die Szene im Tempel der Þorgerðr nur als klerikal-humorvolle Parodie bekannter Madonna-Mirakelerzählungen an.165 Eine gänzlich andere Interpretation, deren Stoßrichtung im Zusammenhang der hier zu untersuchenden mythischen Erzählebenen in der Færeyinga saga beden-
157 158 159 160 161 162 163 164 165
Zur religiösen Indifferenz Sigmundrs vgl. Kap. 4.5.1. Fær, S. 49 (Sigmundr bat ihn, sich darum zu kümmern). Bick 2005, S. 7. Bick 2005, S. 8. Glauser 1989, S. 217. Harris 1986, S. 209. Vgl. Bick 2005, S. 7–8. Vgl. Guldager 1975, S. 35–38; Glauser 1989, S. 217. Vgl. Almqvist 2005, S. 25. Vgl. zu dieser intertextuellen Perspektive Kap. 4.5.2.
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kenswert erscheint, liefert hingegen Steinsland: Sie weist der Erzählung, geknüpft auch an das Ringmotiv, einen heidnischen Subtext zu.166 Steinsland liest den Text als durchdrungen von einer ›óðinnischen‹ Ideologie, einem »mythological pattern«, über das Sigmundr in die Rolle eines Fürsten initiiert werde, ausgehend von ihrem Konzept des hieros gamos-Mythos.167 So durchlaufe Sigmundr in seiner Jugend eine »pagan initiation« bei Úlfr-Þorkell im Dovrefjell, in Steinslands Interpretation einem Óðinn-Alias.168 Dort lerne der junge Färinger auch die »lesson of eros« mit Þuríðr, die Charakteristika einer Riesin aufweise.169 Als mythische Vorbilder dieses Erzählmusters sieht Steinsland die eddischen Gedichte Grímnismál und Skírnismál an, die eine wichtige Rolle für die von ihr deduzierte hieros gamos-Erzählmatrix spielen.170 Der Ring der Þorgerðr zeichne dabei für das tragische Schicksal verantwortlich, das mit jedem so initiierten Fürsten verbunden sei. Diese Argumentation erscheint bei genauer Textprüfung allerdings recht assoziativ und nur schwerlich in der Texttiefe der Færeyinga saga belegbar.171 In Bezug auf den Ring ist das »mythological pattern« zudem nur lose mit Steinslands übriger Überlegung verbunden – ihr ›óðinnisches‹ Narrativ im Subtext der Saga hat wenig mit dem Ring der Þorgerðr zu tun.172 Es ist Þuríðr, die Steinsland zufolge die Rolle der riesischen Frau spielt, mit der ihrer hieros gamos-Hypothese folgend ein Fürst verbunden sein müsse, um herrschaftliche Legitimation, aber auch ein tragisches Schicksal zugewiesen zu bekommen.173 Eine entsprechende Rolle wird Sigmundrs Verbindung zu Þorgerðr in Steinslands eigener Argumentation gerade nicht zugewiesen: Für Sigmundrs tragisches Schicksal zeichnet allein ihr Ring verantwortlich, während alle anderen konstitutiven Funktionen die »riesische Frau« Þuríðr übernimmt. Wenngleich Steinslands Befund somit abgewiesen werden muss, lenken ihre Überlegungen doch den Blick auf eine mythische Narrationsebene, mit der auch Sigmundr über den Ring in der Færeyinga saga verbunden ist. Sichtbar wird diese, wenn man die von den norwegischen Herrschern in die Erzählung eingebrachten, religiösen Aufladungen des Ringgeschenkes ernst nimmt: Folgt man Óláfrs christlich geprägter Perspektive, so äußert sich durch den Ring eine dämonische, heidnische Macht, die Sigmundr letztendlich ins Verderben stürzt. Hintergründig gerieten somit heidnische und christliche Mächte über Sigmundrs Schicksal in Widerstreit. Die mythische Narrationsebene wäre für die Sigmundr-Figur damit in christlicher
166 Vgl. Steinsland 2005; erneut Steinsland 2011, S. 52–56; Steinsland 2014, S. 205–212. 167 Grundlegend für ihr Konzept des hieros gamos vgl. Steinsland 1991. 168 Steinsland 2005, S. 77. 169 Steinsland 2005, S. 82. 170 Vgl. Steinsland 2005, S. 80–82. 171 Siehe bereits bes. Kap. 4.2.3 (Fn. 138). 172 Als Nachvollzug zur Überprüfung der Stichhaltigkeit dieser Argumentation vgl. näher Schmidt 2015, S. 124–127. 173 Ausführlich zur Rolle riesischer Frauen als legitimatorisches und tragisches Element des Fürstenschicksals in ihrer Interpretation vgl. Steinsland 1991.
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Ideologie sinnbesetzt: Letztendlich muss die dämonische Verbindung, die Sigmundr durch den Ring mit Þorgerðr eingeht, auf ihn zurückfallen. Insgesamt scheint allein diese Perspektive allerdings nur wenig überzeugend, schon wegen der zeitlichen Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt, zu dem Sigmundr den Ring erhält und dem Moment, in dem sich dessen ›dämonische Macht‹ auf ihn auswirkt. Einer rein christlich dämonisierten Wirkmacht des Ringes widerspricht auch die Tatsache, dass er nach Sigmundrs Tod ein weiteres Mal Erwähnung findet: Der Ring ist es, der auch Sigmundrs Mörder Þorgrímr endgültig der Tat überführt. Nach seinem nekromantischen Ritual befiehlt Þrándr seinen Männern zusätzlich, das Haus zu durchsuchen und speziell in einer bis dahin unbeachteten Kiste nachzusehen. Auch in der Kiste finden die Männer keine Anzeichen, bis sie sie auf Þrándrs Anweisung umdrehen: [Þ]ar fundu þeir tautra bagga æínn er verit hafde j orkinne ok fengu Þrandr […] vm sidir fann Þrandr þar mikín gull hring ok kende at þann hring hafde att S(igmundr) Brestis s(on) ok Hakon j(arl) hafde gefít honum ok er Þorgrimr væit þetta þa geingr hann vid morde S(igmundar).174 (Dort fanden sie ein Lumpenbündel, das in der Kiste gewesen war, und brachten es Þrándr. […] Nach einer Weile fand Þrándr dort einen großen Goldring und erkannte, dass diesen Ring Sigmundr Brestisson besessen hatte und Jarl Hákon hatte ihn ihm gegeben. Und als Þorgrímr davon erfährt, bekennt er den Mord an Sigmundr.)
Der Ring, der Sigmundr ›verraten‹ hat, verrät also auch seinen Mörder. Für eine dämonische Interpretation des Ringmotivs hieße dies, dass der Ring grundsätzlich seinem Träger durch teuflischen Trug den Tod bringt. Allerdings bedeutet dies auch, dass Sigmundrs gefährlicher, heidnischer Gegenstand die positiv zu bewertende Eigenschaft besitzt, den unehrenhaften Mord am christlichen Missionar aufzuklären und somit einem wenig ›dämonischen‹ Ziel zu dienen. Dieser Effekt sowie die oben aufgezählten Momente bleiben für eine christliche Interpretation sperrig. Zudem wird Sigmundr nach seinem Tod auch eine explizit christlich-göttliche Wiederkehr in einer Traumvision zugestanden.175 Die Bestrafung eines noch dem Heidentum zugetanen und von einem dämonischen Gegenstand getäuschten Mannes scheint also nicht das Anliegen Gottes zu sein, im Gegensatz zu seinem ›Apostel‹, König Óláfr. Komplementär zur christlichen Perspektive, die Óláfr auf den Ring einbringt, ließe sich auch Jarl Hákons heidnische Perspektive weiter durch den Text verfolgen: Nimmt man zunächst ernst, dass Sigmundr von Þorgerðrs Ring heílir at taka habe,176 scheint er in der Folge seines Erhalts tatsächlich vom Glück begünstigt, immerhin kann er sich ohne größere Schwierigkeiten das Herrschaftsrecht auf den Färöern zurückerobern. Auch hat er dieses danach über Jahre hinweg inne, wenn auch unter einigen Schwierigkeiten und mehr äußerlich denn tatsächlich. Wenn sich im Ring Þorgerðrs auf Sigmundr übertragene Schutzmacht äußert, steht ihm die heidnische
174 Fær, S. 89. 175 Siehe Fær c. 54, S. 131. Ausgeführt in Kap. 6.5. 176 Fær, S. 50 (Heil zu erwarten).
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Wesenheit also offenbar wohlgestimmt gegenüber – jedenfalls solange er Heide bleibt. Nach seinem Glaubenswechsel ließe sich in dieser Perspektive in den Text lesen, dass er durch seinen ›Verrat‹ am Glauben an Þorgerðr diese verärgert hat. Zornig würde Þorgerðr ihre Schutzmacht in Folge dessen ins Negative verkehren und sich an Sigmundr rächen, indem ihr Ring seinen Tod verursacht.177 Diesen Gedanken unterstützend lässt sich darauf hinweisen, dass die Figur der Þorgerðr bei allen Erwähnungen, die sie in den Isländersagas findet,178 mit dem Motiv eines Rings verbunden wird. Sowohl in der Njáls saga als auch in der Harðar saga wird ein Ring entwendet, woraufhin ein rachsüchtiger Wille der Þorgerðr wenigstens in die jeweiligen Texte induzierbar scheint. In der Njáls saga verbrennt Víga-Hrappr Jarl Hákons Göttertempel, nachdem er die dort befindlichen Statuen der Þorgerðr, ihrer Schwester Irpa und Þórrs geschändet hat, indem er ihre Kostbarkeiten – darunter auch ein Ring vom Arm der Þorgerðr – stiehlt.179 Daraufhin wird er von Hákon und seinen Männern verfolgt, kann aber zunächst fliehen. Um ihn dennoch zu fassen, scheint der Jarl göttliche Hilfe zu erbitten und zu erhalten: Jarl gekk einn saman frá ǫllum mǫnnum og bað engan mann með sér ganga ok dvalðisk þar um stund. Hann féll á kné bæði ok helt fyrir augu sér. Síðan gekk hann aptr til þeira. […] [G]ekk hann þvers af leiðinni þeiri, sem þeir hǫfðu áðr farit, ok kómu at dalverpi einu. Þar spratt Hrappr upp fyrir þeim, ok hafði hann þar fólgit sik áðr.180 ([Der Jarl] entfernte sich allein von seinen Leuten und sagte, daß keiner ihm folgen solle. Eine Zeitlang war er weg. Er fiel auf die Knie und bedeckte die Augen mit den Händen. Dann ging
177 Zu dieser Überlegung vgl. bereits Schmidt 2015, S. 130–133. 178 Sie erscheint in diesem Genre lediglich in der Njáls saga und der Harðar saga zusätzlich zur Færeyinga saga. Eine andere Tradition kennt Þorgerðr als (Schlacht-)Helferin Jarl Hákons, so die Jómsvíkinga saga c. 32–33, S. 36–38, der Þorleifs þáttr jarlsskálds c. 6, S. 225–226, und die Óláfs saga Tryggvasonar en mesta c. 326 (Flat I, S. 407–409). Sie dient in diesen Quellen, die bemerkenswerter Weise alle in der Flateyjarbók enthalten sind, eindeutig der christlichen Dämonisierung Jarl Hákons. Dessen Darstellung in der Færeyinga saga weicht allerdings, wie bereits in Kap. 7.4.2 besprochen, trotz der Überlieferung im gleichen Manuskript deutlich ab. In Bezug auf Þorgerðr selbst jedoch stellen diese Darstellungen der Strafung von Hákons Gegnern jenseits der möglichen, christlichen Perspektive ein bestätigendes Element ihrer womöglich rachsüchtigen Natur auch in der Færeyinga saga dar, ebenso wie das Helfertum für Hákon und mit ihm verbundene Figuren. Als Quellenübersicht zur Figur und ihren Nennungen vgl. Böldl 2018; Halvorsen 1976, Sp. 383. Vgl. ebenso McKinnell 2002, S. 280–287; Näsström 1996, die weiteres Vergleichsmaterial beibringt. 179 Nj, S. 214: Um nóttina fór Víga-Hrappr til goðahúss þeira jarls ok Guðbrands ok gekk inn í húsit. Hann sá Þorgerði hǫlgabrúði sitja, ok var hon svá mikil sem maðr roskinn; hon hafði mikinn gullhring á hendi og fald á hǫfði. Hann sviptir faldinum hennar, en tekr af henni gullhringinn. […] [S]íðan lagði hann eld í goðahúsit ok brenndi upp. Eptir þat gengr hann í braut (»In der Nacht schlich TotschlagHrapp zum Götterhaus des Jarls und Gudbrands und trat in das Haus ein. Da sah er Thorgerd Höldabrud sitzen; die Figur war so groß wie ein erwachsener Mann. Sie hatte einen großen Goldring am Arm und eine Leinenhaube auf dem Kopf. Hrapp riss ihr die Haube herunter und zog ihr den Goldring ab. […] Danach legte er Feuer an das Götterhaus und verbrannte es völlig. Dann machte er sich davon«; Heller [Übers. u. hrsg.] 1982, S. 180–181). 180 Nj, S. 215–216.
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er zu seinen Leuten zurück […]. Er bog seitwärts vom Weg ab, dem sie bisher gefolgt waren, und sie kamen in ein kleines Tal. Da sprang Hrapp vor ihnen auf; er hatte sich dort versteckt gehabt.181)
Zwar wird hier nicht angegeben, was genau vor sich geht, doch lässt sich aus Hákons Verhalten schließen, dass er sich demütig an die zuvor geschändeten Götter wendet, ihm zu helfen, um den Frevler dingfest machen zu können; insbesondere die Prosternation lässt sich als Analogie zu einem christlichen Gebetsgestus verstehen.182 Auch gibt der Text weiterhin nicht an, dass Þorgerðr im Speziellen sich gegen den Frevler Hrappr wendet, der ihren Ring gestohlen hat. Dennoch sind ihre besondere Verbindung zu Hákon und die herausgehobene Beschreibung gerade ihrer Statue im zuvor verbrannten Tempel zu bedenken.183 Es lässt sich jedenfalls die Vermutung aufrechterhalten, Jarl Hákon erhalte das Wissen um Hrapprs Versteck von den gekränkten Göttern, und darunter insbesondere von der um ihren Ring erleichterten Þorgerðr. Entsprechend könnte sich hier ein ähnlich rachsüchtiger Wille Þorgerðrs äußern wie er sich gegebenenfalls in die Færeyinga saga lesen ließe. Ähnliches zeigt sich auch in der Harðar saga: Dort sucht Grímkell, Hörðrs Vater, den Tempel der Þorgerðr auf, ok vildi mæla fyrir ráðahag þeira Þorbjargar; en er hann kom í hofit, þá váru goðin í busli miklu og burtbúningi af stöllunum. […] Þorgerðr mælti: ›Eigi munu vér til Harðar heillum snúa, þar sem hann hefir rænt Sóta, bróður minn, gullhring sínum inum góða og gert honum marga skömm aðra; […].‹184 (und wollte für Thorbjörgs Ehe beten; als er aber in den Tempel kam, da waren die Götter in großer Bewegung und im Aufbruch von ihren Altären. […] Thorgerd antwortete: ›Kein Heil werden wir Hörd bringen, denn er hat meinem Bruder Soti seinen guten Goldring geraubt und ihm manch andern Schimpf angetan.‹185)
Der zornige Grímkell verbrennt daraufhin den Götterhof ok kvað þau [goðin] eigi skyldu optar segja sér harmsögur.186 Am Abend bricht er daraufhin tot über dem
181 Heller (Übers. u. hrsg.) 1982, S. 182. 182 Ebenso wie viele andere Elemente der »Sagareligion«, die nach christlichem Vorbild modelliert sind, vgl. Baetke 1973. Wenn eine Prosternation ausreicht, um eine Analogie zwischen der Szene von Hákons Ringgewinnung in der Færeyinga saga und den Maríu jartegnir herzustellen, wie bei Foote 1988, S. 193; Almqvist 2005, S. 23 (siehe auch Kap. 4.5.2), ist der Rückschluss auch zu dieser Szene nicht ungerechtfertigt. 183 Vgl. Nj, S. 214. Þorgerðrs Statue wird ausführlicher beschrieben als die Irpas oder Þórrs und zudem als erstes der drei Götterbilder aufgezählt. Als Þórrs Ausstattung werden ein Wagen und der der Statue abgenommene Ring genannt, während Irpa jenseits der Erwähnung des gestohlenen Rings überhaupt nicht näher beschrieben wird. 184 Harðar saga, S. 51. 185 Ranke (Übers.) 1922, S. 222. 186 Harðar saga, S. 52 (»und sagte, [die Götter] sollten ihm nicht noch einmal Unglück ansagen«; Ranke [Übers.] 1922, S. 222).
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Essen zusammen. Auch dieser Text gibt keine direkte Kausalverbindung zwischen Grímkells (oder Hörðrs) Taten, Þorgerðr und der weiteren Entwicklung der Ereignisse an, doch scheint Grímkells Tod recht eindeutig in seinem Sakrileg begründet, kein anderes Erklärungsmodell wird vom Text angeboten. Und auch Hörðrs spätere Acht ließe sich als in Þorgerðrs Aussage angedeutet verstehen, die Götter würden eigi til Harðar heillum snúa. Auch hier wird vor der göttlichen Missgestimmtheit ein Ring entwendet, wenn es sich in diesem Fall auch um den des Wikingers Sóti handelt, der zuvor in der Saga als mikit tröll gezeichnet 187 und von Þorgerðr hier zu einem anderweitig unbekannten Bruder deklariert wird. Hörðr bricht dessen Grabhügel auf, kämpft gegen ihn und entwendet ihm Ring, Schwert und Helm. Bereits Sóti sagt daraufhin den Tod Hörðrs wegen des Rings voraus.188 Tatsächlich wird Hörðr am Ende der Saga wegen des Rings erschlagen, nachdem ein Feind diesen als Preis für seinen Kopf auslobt, worauf auch der Totschläger und ein weiterer Mann, dem der Ring als Rachegeschenk versprochen wird, den Tod finden. Daraufhin töten sich auch noch zwei Zauberinnen gegenseitig, ehe der Ring schließlich verloren geht.189 Der Ring funktioniert so zwar ähnlich wie in der Færeyinga saga, ist als Motiv aber noch anders gewendet. Dennoch gibt es ebenso eine starke zeitliche Diskrepanz zwischen Ringgewinnung und tödlicher Folge, und auch Sótis »Schwester«, Þorgerðr, wird mit dem Ring verbunden und zeigt Rachsucht schon im Augenblick des Todes von Hörðrs Vater Grímkell. Im Kontext dieser beiden Szenen ließe sich überlegen, ob sich in der Færeyinga saga durch Sigmundrs Tod Þorgerðrs Missgunst äußert, weil er durch seinen Glaubenswechsel Þorgerðr den Ring symbolisch ebenso ›entwendet‹ hätte, wie Hrappr in der Njáls saga und Hörðr in der Harðar saga dies wortwörtlich tun. Ebenso konstatiert John McKinnell, dass »Þorgerðrs worshipper’s seem to be provided with possession of their lands and (for a while) with survival«,190 was er an Grímkell in der Harðar saga und Jarl Hákon selbst festmacht. Das gleiche Prinzip äußert sich in Sigmundrs Lebensgeschichte: Nachdem er Þorgerðrs Ring erhalten hat, erhält er den (nominellen) Besitz seines Landes auf den Färöern zurück und überlebt – allerdings lediglich »for a while«, denn sobald er sich zum Christentum bekehrt und damit Þorgerðrs Unterstützung verliert, verliert er beides, Land und Leben. Auch zu dieser Interpretation des Ringmotivs steht allerdings der Befund quer, dass der Ring nach Sigmundrs Tod auch seinen Mörder der Tat überführt. Weshalb sollte der Ring
187 Siehe Harðar saga c. 14, S. 38–39. Ranke [Übers.] 1922, S. 212 übersetzt mikit tröll als »schlimmer Zauberer«, was die Bedeutung von tröll zu sehr einschränkt; treffender dürfte »fürchterliches Unwesen« o. dgl. sein. 188 Siehe Harðar saga, S. 43: ›[S]já hringr skal þér at bana verða ok öllum þeim, er eiga, utan konu eigi.‹ (»›[D]ieser Ring [wird] dir den Tod bringen […] und allen seinen Besitzern, bis er an eine Frau kommt‹«; Ranke [Übers.] 1922, S. 216). 189 Siehe Harðar saga c. 36–40, S. 85–95. 190 McKinnell 2002, S. 269.
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zusätzlich zur Aufklärung an seinem Mord beitragen, wenn diejenige Macht, die dem Ring die seine verleiht, Sigmundr nicht wohlgesonnen wäre? Mithin die bemerkenswerteste Eigenschaft des Rings ist demnach, dass er sich sowohl gegen die christliche als auch die heidnische semantische Aufladung sträubt und von Sigmundr zusätzlich profan semantisiert wird. Er scheint eine ganz eigene Bestimmung zu haben, die in beiden durch die Figuren an ihn herangetragenen Perspektiven religiöser Natur nicht vollends aufgeht. Gleichzeitig kann er aber auch nicht allein Sigmundrs profaner Deutung einverleibt und ihm jegliche religiös aufgeladene Bedeutung abgesprochen werden, denn der Ring spielt eine unverkennbare Rolle in seinem Leben, stammt von einem ausdrücklich heidnischen Wesen und wird erst mit dem Glaubenswechsel wieder bedeutsam. Der Ring strahlt somit einen gewissen Eigensinn aus, den die Figuren interpretativ verschieden bewältigen: Für jede davon hat er einen bestimmten Symbolwert. Für Hákon ist er Glückszeichen, für Óláfr hingegen Symbol einer überwundenen, heidnischen Vergangenheit, an der sein Diener seinem Befehl zum Trotz festhält, sodass sich ihr Verhältnis verschlechtern muss. Er prophezeit dem ›untreuen‹ Sigmundr sogar den Tod, womöglich weil in seiner christlichen Perspektive dem Ring eine Aura des Dämonischen anhaftet. Für Sigmundr verdeutlicht der Ring gleichzeitig seine eigene Biographie, einen für ihn prägenden Lebensabschnitt, von dem er sich nicht trennen möchte. Alle drei Perspektiven erscheinen gleichberechtigt im Text, und ob sich eine numinose Macht dämonischer oder glückbringender Natur hinter dem Ring verbirgt, wird nicht eindeutig aufgelöst. Gerade in der letzten Erwähnung des Rings, der Überführung Þorgrímrs, zeigt sich aber ein Eigenwille des Dings, dessen Ursprung nicht im Text aufgeklärt wird, und der insofern den Kristallisationspunkt eines narrativen Mehrwerts des Gegenstandes bildet. Dieser Befund lässt sich unter Bezugnahme auf eine neuere Forschungsrichtung im Bereich der historischen Narratologie theoretisch einrahmen, der zufolge Gegenständen ein größeres eigenes Recht bei der Erzähltextanalyse einzuräumen sei.191 Im Bereich der mittelhochdeutschen Literatur sind dabei insbesondere die Arbeiten von Anna Mühlherr zu nennen,192 die festhält, dass Dingen in Erzähltexten mitunter eine eigene ›Handlungsmacht‹ anhaften könne, die sie offen für »Semiotisierungsprozesse« mache und ihnen eine »eigene Bestimmtheit« verleihe.193 Dabei stelle
191 Grundlegend ist hier insbesondere der Ansatz von Böhme 2006. Den Anstoß zu den hier ausgeführten Gedanken verdanke ich Daniela Hahn, die das Konzept »handlungsmächtiger Gegenstände« gewinnbringend auf die Sagaliteratur überträgt, siehe hierzu einschließlich theoretischer Begründung und Forschungsschau Hahn 2020, S. 78–112. Insbesondere zu potenziell mit numinosen Energien aufgeladenen Gegenständen, die entsprechend von den Figuren und Erzählern unterschiedlich semantisiert werden, deren eigene Bestimmtheit aber nicht notwendigerweise erkannt oder aufgelöst werden muss, siehe bereits Hahn 2018. 192 Vgl. bes. Mülherr 2009. Vgl. weiter auch Mülherr/Sahm 2012; Mülherr u. a. (Hrsg.) 2016. Zur Übertragung auf altnordische Texte siehe jeweils Hahn 2018; Hahn 2020. 193 Mühlherr 2009, S. 469.
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sich häufig heraus, dass die dem Ding innewohnende eigenwillige Macht nicht unbedingt auf allen Erzählebenen gleich bekannt sein müsse, sondern dass die »inhärenten Logiken« bestimmter Gegenstände »sperrig« für die Akteure der Erzählungen bleiben könnten, sodass Figuren, Erzählinstanz und somit auch Rezipienten ihre Bestimmtheit verschiedenartig oder auch überhaupt nicht zu verstehen im Stande seien.194 Dies äußere sich auch in widerstreitender Semantisierung und Benutzung verschiedener Gegenstände durch die Figuren, wobei beides nicht unbedingt dem ›Eigensinn‹ des betreffenden Gegenstandes entsprechen müsse. Paradigmatisch entwickelt Mühlherr diesen Gedanken für den hort im mittelhochdeutschen Nibelungenlied.195 Den Hort, den Siegfried aus der mythischen Anderwelt als Zeichen seiner Herrschaft gewonnen hat, verteilt Kriemhild nach seinem Tod zur Gefolgschaftsbindung, woraufhin Hagen ihn ihr entwendet, um die daraus resultierende Bedrohung der Burgunden auszuschalten. Für beide Figuren ist der Schatz andersartig semantisiert: Bedeutet er für Kriemhild die Erinnerung an ihren Geliebten und das Unrecht seiner Ermordung, das sie erleiden muss, so stellt er für Hagen vor allem einen Machtfaktor dar, den er zu überwinden hat. Im weiteren Teil der Handlung symbolisiert er für Etzel unermesslichen Reichtum, für die Burgunden das Herrschaftsrecht und für Kriemhild das Recht auf ihre Rache und ihre ergetzung. Dabei sei als grundsätzliches Problem des Textes auszumachen, dass es überhaupt zu diesem Missverhältnis in der Semantisierung des Schatzes kommt, denn seiner eigenen Logik in der Anderwelt, aus der er stammt, nach hätte der Hort niemals geteilt oder aus ihr entfernt werden dürfen. Siegfried erhält den Schatz im Zuge eines Streites um dessen Nicht-Teilbarkeit im Land der Nibelungen, doch später wird er geteilt, und gerade diese Tatsache sei das Verhängnis der Figuren. Es geschehe, was nicht hätte passieren dürfen. Deswegen wohne dem dinglichen Schatz eine Eigenlogik inne, die auf die unentrinnbare Vernichtung der Burgunden- und Nibelungenwelt zulaufe. Zwischen der Bestimmung des Gegenstandes selbst in seiner »inhärenten Logik« und den auseinanderklaffenden Semantisierungen, die die Figuren an ihn herantragen, ergebe sich eine Bruchstelle, die die Handlung entscheidend mitbestimme. Ebendieses Prinzip semantischer Mehrfachcodierung eines Gegenstandes, dem eine eigene, den Semantisierungen gegenüber »sperrige« Bestimmtheit innewohnt, zeigt sich auch an Þorgerðrs Ring in der Færeyinga saga.196 Die verschiedenen Interpretationen des Rings – christlich, heidnisch und profan – stehen im Missverhältnis zueinander. Es ergibt sich eine Bruchstelle, weil keine Interpretation den vollen narrativen Mehrwert des Rings, der aus seiner Eigenlogik resultiert, einzufangen im Stande ist. Der Ring besitzt aufgrund seiner Symbolfunktion auf der Figurenebene einen erzählerischen Mehrwert, der sich widersprüchlich erklären und zuschreiben lässt. Dieser Mehrwert erweitert die Erzählung um eine potenziell mythische Narra-
194 Vgl. Mühlherr/Sahm 2012, S. 235–237. 195 Vgl. Mühlherr 2009, bes. ab S. 483. 196 Ganz ähnliches gilt für die von Hahn 2018 untersuchten Talismane in den Isländersagas.
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tionsebene, die das Geschehen des Plots transzendieren kann. Wie der Hort der Nibelungen gestaltet sich der Ring jedenfalls für die norwegischen Herrscher Hákon und Óláfr »faszinierend [n]uminos«:197 Sie machen übermenschliche Mächte in seinem Wirken aus. Da die transzendente Bedeutung des Motivs aber gerade nicht eindeutig aufgelöst wird, indem nicht zu entscheiden ist, ob dem Ring eine heidnisch-göttliche oder christlich-dämonische Macht innewohnt, stoßen die Figuren hier an eine »hermeneutische Grenze« der Bedeutungszuschreibung.198 Welche Macht für die Rolle des Rings in der Erzählung verantwortlich zeichnet, bleibt unklar. Mehr noch, Sigmundrs profane Semantisierung des Rings weist die religiösen Interpretationen seiner Herren sogar rundweg als bedeutungslos ab. Im Gegensatz zu Þrándr, dessen Assoziation mit mythischen Mächten bewusst in der Narration nutzbar gemacht wird, bleibt Sigmundrs mythische Assoziation in dieser Perspektive offen, er verweigert sich einer religiösen Sinnzuschreibung des Gegenstandes, mit dem er ausgestattet wird. Damit verweigert auch die Narration die Nutzbarmachung des mythischen Mehrwerts, den sie Sigmundrs Ring einschreibt, für einen in seinem Sinne vorteilhaften Fortgang der Handlung, anders als bei Þrándr. Die Bedeutung des Rings bleibt als eine Leerstelle im Text zurück, bzw. resultiert in einer Bruchstelle, passend zur mit ihr verbundenen, ständig in Zwischenräumen gefangenen und zu vermitteln versuchenden Figur, deren narrative Lebensstruktur sich aus nicht zu überbrückenden Brüchen speist.199 Klar ist dennoch, dass die Bedeutungszuschreibungen an den Ring als heidnischer Glücksbringer und christliches Todessymbol sich aus der Verbindung mit numinosen Mächten speisen, die die Figuren in ihm ausmachen. Es scheint mithin sinnvoll, die eigene Handlungslogik des Rings, analog zum Nibelungenhort, mit seinem Ursprung von einem mythischen Wesen, der Götterstatue der Þorgerðr, zu begründen. So entspricht die Marginalisierung des Ringes im Erzählverlauf einerseits Sigmundrs eigener Semantisierung dieses Gegenstandes, die ihm den Bedeutungsmehrwert in mythischer Hinsicht abspricht, und seine offen brüchige Logik Sigmundrs im Kern liminaler Figurenanlage, während andererseits die dennoch nicht von der Hand zu weisende Rolle des Gegenstandes die Bedeutung unterstreicht, die seine mythisch begründete Wirkmacht haben könnte. Kunstvoll arbeitet die Erzählung mit dieser Paradoxie: Dadurch wird der Ring zu Sigmundrs unterlassener Möglichkeit im Konflikt mit Þrándr. So wie Sigmundr sich politisch kurzsichtig zeigt, indem er sich bietende Gelegenheiten, seine Situation von Grund auf zu verbessern, ignoriert, ignoriert die Narration selbst die Aktualisierung der mythischen Macht seines Rings, indem der Sigmundr-Figur die Einsicht in seinen Mehrwert verwehrt und dieser entsprechend offengelassen wird, statt narrativ umgesetzt zu werden. Gleichzeitig erhält Þrándr eine Szene, in der er sich offenbar selbst als Gottheit in-
197 Mühlherr/Sahm, S. 237. 198 Mühlherr/Sahm, S. 237. 199 Vgl. hierzu Kap. 4, bes. 4.3.
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szenieren darf (durch den Auftritt als ›Óðinn‹ auf dem Þing), ist sich seiner guten Verbindung zu seinem »alten Freund« Þórr selbst sehr bewusst und wird unter bewussten Rückgriff auf die Ebene mythischer Erzählstrategien mit einer nekromantischen Zaubermacht ausgestattet. Somit zeichnet die Færeyinga saga das Figurenpaar von Þrándr und Sigmundr sogar in der Herangehensweise an die mythische Ebene ihrer Narration als scharf voneinander getrennt. Doch obwohl die Ebene mythischer Assoziation bei Sigmundr weitgehend offenbleibt, ist sie nicht unbesetzt, und so lässt sich in ihr womöglich auch eine inhaltliche Gegenüberstellung mit Þrándr beobachten. Wie oben argumentiert ist Þrándr insbesondere mit den Gottheiten Óðinn und Þórr assoziiert, während Sigmundr mit Þorgerðr verbunden ist, ob man sie nun als göttliche Wirkmacht oder dämonische Präsenz auffasst. Þorgerðr wird dabei von McKinnell in die Nähe der vanischen Gottheiten gestellt.200 Auch wenn die Parallelen zwischen Þorgerðr und den Vanir, die McKinnell aufzählt, insgesamt eher konzeptioneller Natur denn konkret sind, verdienen einige dennoch Beachtung. Unter anderem macht McKinnell seinen Vergleich an der Affinität zu Gold und anderen Reichtümern, der oftmals sexuellen Aufladung und dem kriegerischen, todbringenden Aspekt fest, der sowohl Þorgerðr als auch den Vanir anhaftet. In Þorgerðrs Fall zeigt er sich in Form ihrer ›dunklen‹ Hypostase und Schwester Irpa sowie ihrem dämonischen Auftreten an der Seite Hákons in der Jómswikingerschlacht. Auffälligerweise treten die Vanir zudem häufig in gerade den Texten in Erscheinung, die zur Beleuchtung der Þorgerðr-Tradition in der Forschung herangezogen wurden.201 Die Doppelung glückbringender, auch mit Landbesitz verbundener sowie tod- oder unheilbringender Funktionen des Gottes Freyr dient Meulengracht Sørensen darüber hinaus als Modell zur Entwicklung seines Paradigmas von »Freyr in den Isländersagas«.202 Lässt man mit McKinnell diese ›vanische‹ Funktionsdoppelung auch für Þorgerðr gelten, erhält die oben ausformulierte, heidnisch semantisierte Perspektive auf die mythische Macht von Sigmundrs Ring in der Færeyinga saga gegebenenfalls zusätzliche Glaubwürdigkeit und wird andererseits die Parallelität zwischen Þor-
200 Vgl. McKinnell 2002, bes. S. 270–272. 201 So nennt McKinnell 2002, S. 268 etwa den Ǫgmundar þáttr dýtts ok Gunnars helmings, in dem ein Idol Freyrs in heiliger Ehe mit einer Priesterin lebt, als Parallele des sexuellen Verhältnisses, in dem Þorgerðr in den Quellen offenbar mit Jarl Hákon verbunden wird. Insgesamt möchte er durch den Vergleich Þorgerðrs und der Vanir bestimmte Aspekte des eddischen Hyndluljóð verständlich machen (vgl. S. 272–279). Steinsland 1991, S. 221 bindet indes die Hierogamie des heidnischen Fürsten Hákon an ihr ideologisch fundierendes par excellence-Gedicht der Skírnismál. Näsström 1996, S. 113–114 greift eine Idee von Frank 1978, S. 64–65 auf, die Hákons Darstellung in der Hákonardrápa mit Freyr vergleicht, und nennt weitere Elemente der Verbindung zwischen dem Jarl und Freyr. Sie verweist zudem (S. 111–112) auf eine mögliche Quelle für die Þorgerðr Forschung in Saxos neuntem Buch der Gesta Danorum, in der er die Geschichte des Ragnarr Loðbrók erzählt. Sie setzt dabei die nur dort in der Ragnarr-Erzählung vorkommende Lathgertha mit Þorgerðr gleich, wobei sich die Geschichte – erneut auffälligerweise – unter der Regierung des Königs Frø (= Freyr) ereignet. 202 Vgl. Meulengracht Sørensen 2001a.
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gerðr und den Vanir unterstrichen. Jedenfalls in den Isländersagas können beide mythischen Gestalten, sowohl Freyr als auch Þorgerðr, auf impliziten Narrationsebenen als beschützende oder strafende Instanzen auftreten. Die Besonderheit bei Þorgerðr scheint dabei die grundsätzliche Doppelung beider Funktionen innerhalb eines Textes zu sein, was sie wiederum konzeptionell in die Nähe der dísir genannten Wesen rückt,203 deren Bedeutung charakteristischer Weise als »zwischen Fruchtbarkeit und Destruktivität oszillierend«204 in den Quellen in Erscheinung tritt.205 In jedem Fall lässt sich eine gewisse Affinität zwischen den narrativen Funktionen und Darstellungsweisen der Vanir und Þorgerðr hǫrðabrúðr für das Quellenmaterial festhalten und ihre Verbindung zumindest wahrscheinlich machen.206 Bedeutsam für die Analyse der Færeyinga saga wird dieser Befund, wenn man bedenkt, dass Sigmundr mit einer ›vanisch‹ ausgestalteten Þorgerðr mit der Göttergruppe assoziiert wäre, die Georges Dumézils klassischem Schema zufolge die Bauerngesellschaft und das einfache Volk vertritt, während Þrándrs Verbindung zu den Asen Þórr und Óðinn eine herrschende Kriegerschicht reflektieren würde.207 Beide Figuren wären damit mit Gottheiten verbunden, die ihre eigenen Eigenschaften auf der Handlungsebene gerade umgekehrt ausdrücken: Sigmundr als Krieger wäre mit einer mythischen Macht verbunden, die eigentlich Þrándrs gegensätzliche, auf
203 Als Überblick zu diesem Kollektiv weiblicher numinoser Wesen vgl. Naumann 1984. 204 Böldl 2005, S. 250. 205 Auf eine eingehende Diskussion der Zusammenhänge zwischen der Disenvorstellung und den Vanir kann hier verzichtet werden, als Übersicht der Quellen, wie der sich aufdrängenden Verbindung über Freyjas Bezeichnung als vanadís, siehe den genannten Naumann 1984. Zur Verbindung Þorgerðrs mit den Disen im Speziellen vgl. auch Ström 1983, S. 75. Zu ihrer Einordnung in den Kreis von »numinosen Frauengestalten […], die über Fruchtbarkeit und Schlachtenglück gleichermaßen entscheiden«, vgl. auch Böldl 2013, S. 270–272 (Zitat S. 272), der Þorgerðr in einem Kapitel über den »Wanenkreis« nach den entsprechenden Gottheiten und »Disen, Nornen, Walküren« abhandelt. 206 Dies trifft jedenfalls in der Flateyjarbók zu, die die meisten der Quellen zu Þorgerðr enthält – sowie auffälligerweise auch als einzige Quelle das Hyndluljóð, anhand dessen McKinnell 2002 die Gleichsetzung Þorgerðrs mit den Vanir entwickelt und erprobt. Dabei versucht Zernack 1999, das Hyndluljóð als zentrales Element der geänderten Zielsetzung des Codex sinnfällig zu machen: Nachdem Magnús Þórhallsson die Arbeit an der Handschrift nach dem Tod ihres designierten Empfängers Óláfr IV. Hákonarson übernommen hatte, könne er das Manuskript zu einer Herrscherprophetie umzuarbeiten versucht haben. Trifft diese Annahme zu, so ergäbe sich der bemerkenswerte Befund, dass Magnús Þórhallsson eine offensichtliche Vereinheitlichungsbemühung hinsichtlich der Darstellung der Þorgerðr hǫrðabrúðr seitens Jón Þórðarsons aufgegriffen und mit einem auch in dieser Hinsicht sehr passgenauen Gedicht weitergeschrieben hätte. Dennoch scheint, wie bemerkt (siehe auch Kap. 7.4.2), der mit ihr verbundene Hákon mit sehr widersprüchlicher Bedeutung versehen. Wenn Þorgerðr in der Flateyjarbók zudem im Rahmen einer Herrscherprophetie gesehen werden kann, wirkt dies konzeptionell auch auf den mit ihr verbundenen Sigmundr zurück, dem die Verbindung mit ihr offenbar ebenfalls ein Recht auf Herrschaft einräumt. Die Flateyjarbók insgesamt zeigt damit einmal mehr ihre hochkomplexen Gestaltungsprinzipien an, siehe hierzu auch Würth 1991; Ashman Rowe 2005. 207 Vgl. Dumézil 1959.
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Landbesitz basierte Herrschaftsform und seine enge Verbindung zur färöischen Lokalbevölkerung symbolisiert, während Þrándr mit den Asen gerade jene Götter auf seiner Seite hätte, deren Unterstützung dem Krieger zukäme, der er sicher nicht ist. Darin ließe sich eine ironische Verkehrung der Situation auf der Figurenebene innerhalb der mythischen Erzählebene ausmachen. Sehr ausgreifend ließe sich die Auseinandersetzung zwischen beiden Männern somit auch als Aktualisierung des Konflikts zwischen Fruchtbarkeits- und Kriegergottheiten lesen. Wichtiger scheinen allerdings die konzeptionellen Implikationen, die sich aus diesen ›verkehrten‹ mythischen Assoziationen beider Männer für den Verlauf der Erzählung ableiten lassen. So symbolisieren die Asengötter die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung, während den vanischen Gottheiten eine normverletztende Komponente im mythischen Weltentwurf zugewiesen ist.208 Die ihnen zugewiesene Ordnung und »nur für sie implizit gültige[n] Regeln«209 scheinen damit weniger starr als die von den Asen garantierte, eher statische Ordnung.210 In Sigmundrs mythischer Assoziation könnte sich vor diesem Hintergrund sein abstraktes Herrschaftsrecht auf den Färöern niederschlagen: Er ist mit einem mythischen Wesen verbunden, das die Eigenschaften jener Göttergruppe teilt, die für die bäuerliche Gesellschaft auf den nordatlantischen Inseln angesichts ihrer Lebensweise maßgeblich sein müsste. Diese Implikation könnte als Symbol seiner eigentlich rechtmäßigen herrscherlichen Legitimation auf den Färöern verstanden wer-
208 In der Ynglinga saga wird vor allem die Sitte der inzestuösen Geschwisterehe, die bei den Asen verboten gewesen sei (c. 4, S. 13) und der magische seiðr genannt, dem so viel ergi innewohne, dass Männer ihn nicht skammlaust (ohne Schande) hätten ausführen können (c. 7, S. 19), und den Freyja aus der Welt der Vanir in die der Asen eingebracht habe (c. 4, S. 13). Zur daraus folgenden Unterscheidung der Vanir von den Asen und einem implizit eigenen Regelwerk vgl. auch Jackson 2006, S. 233; Böldl 2013, S. 232–272. 209 Jackson 2006, S. 233. 210 Wenn es gerechtfertigt ist, die Vanir als Fruchtbarkeitsgötter anzusehen (was zwar Konsens der Forschungsmehrheit ist, aber nicht jenseits aller Zweifel gestellt werden kann, siehe Jackson 2006, S. 232–234), lassen sie sich konzeptionell gegebenenfalls ›chaotischen‹ Naturmächten parallel stellen, die dem altnordischen Weltbild nach – etwa im Rahmen einer Landnahme – domestiziert und damit in ›Kulturraum‹ umgewandelt werden müssen. Vgl. hierzu und zum dahinterstehenden Raumkonzept im Überblick Böldl 2005, S. 141–147, zum Zusammenhang zwischen Natur und Chaosmächten siehe auch S. 229–250. Vgl. weiterhin S. 117–124 zur Verbindung des vom Goden Snorri (in seiner von Böldl angesetzten Verbindung mit dem Asen Þórr!) beseitigten Goden Arnkell »unter negativen Vorzeichen mit dem Element ›Fruchtbarkeit‹« (S. 250) über seinen Vater und dessen Wiedergängertum als Versuch einer »Re-Chaotisierung der gebändigten Natur« (S. 120). Sieht man die Asen demgegenüber als Ordnungsgaranten, äußert sich im Dualismus der Göttergeschlechter grundsätzlich eine Opposition von Ordnung und Chaos. Betrachtet man die Vanir hingegen als Todesgottheiten und vergöttlichte Ahnen, wie Kößlinger 2022, so ergeben sich andere, aber nicht weniger ›chaotische‹ Lektüremöglichkeiten: Umso mehr würde eine Verbindung mit solchen Gottheiten Sigmundrs ordnungsstörende Komponenten im Zweikampf mit Þrándr unterstreichen, während er anhand seiner ›Verlobung‹ mit Þorgerðr bereits bedeutungsschwanger dem Tod anheimgegeben wäre – als weiteres Vorzeichen seines unabänderlichen Scheiterns.
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den. Doch faktisch regiert auf den Färöern Þrándr, der mit den asischen Göttern assoziiert ist: Diese und ihre Ordnung gebende und aufrechterhaltende Funktion symbolisieren in mythischer Dimension die narrative Einrichtung seines Herrschaftsbereiches auf den Färöern, die die alte Ordnung unter norwegischer Oberhoheit ablöst und die eigene Gültigkeit an deren statt setzt. Die Aggressivität, mit der dies in der Færeyinga saga geschieht, korrespondiert mit der kriegerischen Funktion der Asengötter, während für Þrándrs neu errichtete Ordnung Sigmundrs Verbindung mit Þorgerðr normverletztende und chaotische Assoziationen bedeutet. Wie in Kapitel 4.3.2 erörtert, macht auch Sigmundrs narrative Ausgestaltung ihn zum ›Outlaw‹ im Geltungsbereich des Erzählraumes, den Þrándr dominiert. Die Figur der Þorgerðr mit ihrer engen Verbindung zu Jarl Hákon in der Funktion von dessen Privatpatronin wird in dieser Perspektive explizit als norwegisch und damit fremd aufgeladen, Elemente, die Þrándrs Politik abweisen muss. Auf der mythischen Ebene bedeutet diese Reinhaltung seines Reiches die normkonstituierende Funktion der Asengötter als Weltenschöpfer und -beschützer. Damit konflingiert Sigmundrs mythische Assoziation mit der norwegischen Þorgerðr, die nicht der normierten Ordnung entstammt, die Þrándrs mythische Hypostasen von Óðinn und Þórr ausdrücken. Dieser Eindruck wird durch Þorgerðrs gegebenenfalls vanische Assoziationen zusätzlich verstärkt. Sigmundr ist mit einem mythischen Wesen verbunden, das den Regularien all dessen zuwiderläuft, was Þrándr auch mit Hilfe seiner asischen Assoziationen auf den Färöern errichten kann. Auch auf ihrer mythischen Ebene ist Sigmundr damit in der Narration der Færeyinga saga durch seine Gegenüberstellung mit Þrándr zum Scheitern verurteilt. Angesichts dieser Lage auf der mythischen Narrationsebene und zudem ihrer Vermengung mit der christlichen Perspektive König Óláfrs sowie der Abqualifikation ihrer Bedeutung, die Sigmundr selbst ausdrückt, wird seine Figur in der Færeyinga saga auf eine Art und Weise ausgestaltet, die im Erzählverlauf in keiner Hinsicht mit Þrándrs Position konkurrenzfähig ist.
8.3.4 Fazit: Der Sinn der zusätzlichen Erzählebene für die Handlung und ihre Interpretation Durch die solchermaßen in den Erzählgang der Færeyinga saga eingeschriebenen, mythischen Elemente lässt sich also insgesamt eine zweite Ebene der Narrationsentwicklung festhalten, eine mythisch konzipierte Ebene von Sinnkonstruktion, die im Sinne Jeffrey Turcos ein »sustained secondary level of meaning« in den Text einzieht.211 Wie jedoch Turco selbst ebenfalls festhalt: »Happily, the sceptic critic need not take my word for it.«212 Der primäre Sinngebungsrahmen der Erzählung als Machtdiskurs bleibt unproblematisch auch verständlich, wenn man die narrative
211 Turco 2015, S. 225. 212 Turco 2015, S. 223.
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Ebene mythischer Assoziation und Analogie bei der Interpretation nicht berücksichtigt, wie dies über die weitesten Strecken der vorliegenden Arbeit zu demonstrieren versucht wurde. Dennoch dient die hier zusätzlich festgehaltene, mythische Narrationsebene nicht allein der mechanischen Transzendierung des Plots zu einem Konflikt geradezu kosmischen Ausmaßes (als Auseinandersetzung verschiedener Götter über das Leben von Menschen), der einem mythisch und womöglich skaldisch geschulten Rezipientenkreis einen Zusatzwert an literarischer Unterhaltung bieten könnte. Auch diese Funktion bedienen die mythischen Analogien, und im Sinne der hier besprochenen Struktur der Færeyinga saga eröffnen sie diesbezüglich eine weitere, noch grundsätzlichere Dichotomie zwischen den Hauptfiguren ihres ersten Handlungskreises. Dennoch wirkt die Ebene des Mythos auf maßgebliche Weise in den Erzählgang der Handlungsebene hinein, indem Sigmundrs Tod zusätzlich zu seinen detailreich ausgemalten Defiziten als Herrscher auch über seinen mythischen Ring herbeigeführt wird, und in Þrándrs ›Óðinns‹-Auftritt und seinem nekromantischen Ritual mythische Potenzen in seinem Sinne für die Fortentwicklung des Plots nutzbar gemacht werden. Haraldur Bessason fasst den Sinn der von ihm so bezeichneten »Mythological Overlays« folgendermaßen zusammen: »In this way limitations of appeal vanish, and the event itself acquires cosmic scope and becomes a kind of an informed reality.«213 Das Beispiel, das Haraldur für diese Aussage ausarbeitet, ist der selbst nach den intradiegetischen Maßstäben der davon berichtenden Texte unerhörte Griff zur Waffe durch Guðrún Gjúkadóttir im Völsungen-Komplex, die kurz vor, während und nach ihrer Schildmaiden-Tätigkeit ihm zufolge ebenfalls in einem mythisch anmutenden Gewand präsentiert werde. Diese Anklänge ermöglichten narrativ erst die so aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallende Szene, deren Einzigartigkeit und Finalität durch die mythische Allusionstechnik in Ragnarǫk-artige Bedeutungsdimensionen verschoben werde. Der implizite Mythos setzt demnach erst die Narration in den Ablauf, der auserzählt wird, und diese Beobachtung lässt sich auch für die Færeyinga saga festhalten. Durch den narrativen Zugriff auf die mythische Ebene entsteht vor allem in Þrándrs Nekromantie-Szene eine eigenständige ›Realität‹ in Abgrenzung der ›üblichen‹ Gesetzmäßigkeiten oder ›Regeln‹ der Diegese, die eine eigene Logik in die Handlungsentwicklung einbringen kann, wie im Falle von Sigmundrs Ring. Þrándr wird letztendlich maßgeblich über die detailreiche, aber im Rahmen des Plots nicht unabdingbar notwendige Nekromantie-Szene als außergewöhnliche Figur gezeichnet, wobei es diese Außergewöhnlichkeit ist, die ihm seine Bedeutung für die Narration zuweist. Sigmundrs politische Kurzsichtigkeit hingegen wird maßgeblich an seiner Verweigerung König Óláfr gegenüber wegen seines Rings demonstriert, der ihm letztendlich unmittelbar den Tod bringt. Die impliziten, mythischen Anreicherungen des Textes sorgen so in bemerkenswertem Ausmaß dafür, dass sich der Plot in die Richtung entwickelt, die er tatsächlich nimmt.
213 Haraldur Bessason 1977, S. 276.
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Ebenso bemerkenswert ist indessen, dass trotz dieser durchaus umfassenden Bedeutung des Mythos für den Erzählgang seine narrative Ebene nur implizit in den Text eingewoben wird. Verständlich bleibt der Text auch ohne ihre Beachtung bei der Interpretation. Dies resultiert in einer hohen Offenheit des Textes auch hinsichtlich seines mythisch angereicherten Subtextes. Dadurch, dass weder die genauen Umstände von Þrándrs Totenmagie noch der Ritualaufbau selbst eindeutig beschrieben werden, die Totenerscheinung in ihrem Wesen (als mögliche Wiedergänger oder sogar Täuschungen214) aufgrund ihrer Einzigartigkeit undeutlich verbleiben, nicht einmal explizit formuliert wird, dass Þrándr ein Zauberritual vollführt, noch woher seine Macht stammt, sondern allein ein plötzlicher und extrem machtvoller, gegebenenfalls sinistrer Eindruck von ihm erweckt wird, wird die Szene insgesamt in der Schwebe gehalten. Das gleiche gilt für die paradoxen semantischen Zuschreibungen, die auf Sigmundrs Ring entfallen. Es wird nicht eindeutig durch den Text aufgelöst, was in den jeweiligen Situationen vor sich geht. Es wird lediglich ein Eindruck erweckt, der allerdings dezidiert mehrdeutig verbleibt. Dadurch, dass die jeweiligen Elemente der Erzählung implizit zusätzlich als mythisch angereichert zu verstehen sind, werden die Rezipienten selbst zu weitergehenden Sinnbildungsmaßnahmen aufgerufen. Ihnen werden Fragen aufwerfende Szenen vor Augen geführt, die nur eine mehrdeutige Antwort enthalten. So müssen die Rezipienten selbst entscheiden, ob Þrándr Magie vollführt oder mit Göttern im Bunde steht, und ob beides jeweils als dämonisch zu bewerten sei oder nicht. Bei Sigmundrs Tod stellen sich noch weitergehende Fragen: Verdankt sich sein Tod letztendlich nur einer Kette für ihn ungünstiger Umstände, oder ist darin göttliches Wirken auszumachen? Und wenn ja, offenbart sich dann der Wille Gottes oder die Rachsucht eines gefährlichen, heidnischen Wesens? Dazu dient die mythische Narrationsebene der Færeyinga saga insbesondere: Nicht nur eine weitere Dichotomie für ihre Strukturierung zu eröffnen, sondern tiefergehende, interpretatorische Fragen für diejenigen aufzuwerfen, die die Analogienschlüsse zum Mythos zu ziehen bereit (oder kulturell darin geschult) sind. Die mythischen Anklänge erzeugen wegen des impliziten Levels ihrer Ansetzung und ihrer internen Offenheit ein hohes Maß an Unbestimmtheit im Text, das sogar auf ihre Ansetzung selbst rückwirkt. Auch ob und inwiefern sich mythische Mächte im Handlungsgang der Saga bemerkbar machen, wird zur Interpretation letztlich den Rezipienten überlassen. Es wird dadurch möglich, den Text als Kampf guter gegen böser übermenschlicher Mächte über das Leben seiner Protagonisten zu deuten, oder auch als Konflikt verschiedener heidnischer Gottheiten, die die Macht über das Leben der mit ihnen verbundenen Figuren besitzen. Zugleich kann diese Perspektive in der Rechtmäßigkeit ihrer Ansetzung grundsätzlich auch debattiert werden. Denn womöglich stirbt Sigmundr auch ganz profan nur aufgrund seiner vielen eigenen Fehler und Þrándr täuscht mit seiner Totenbeschwörung nur umgebende Figu-
214 Vgl. Almqvist 1992b, S. 52–53.
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ren und Rezipienten einmal mehr. Eine eindeutige Bestimmung der Antwort zu diesen Gesichtspunkten ist kaum möglich. Jedoch scheint darin auch nicht das Anliegen der Narration zu bestehen, die im Gegenteil gerade daran interessiert zu sein scheint, diese Unbestimmtheit durch ihre Darstellung zu erzeugen. Daneben lässt sich insbesondere für Þrándrs Assoziation mit dem Mythos auch eine strukturelle Bedeutung im engeren Sinne, jenseits der bloßen Handlungsfortentwicklung, überlegen.
8.4 Heimlichkeit, Verbrechen und die Wirksamkeit des Mythos: Eine ›semantische‹ Gliederungsebene der Færeyinga saga Die Überlegungen zur Narrationsmehrschichtigkeit der Færeyinga saga gewinnen auch für ihre strukturelle Gliederung herausgehobene Bedeutung, die sich erneut vor allem an der Darstellung Þrándrs kristallisiert. Die mythisch konzipierte Erzählebene, die durch die divergierenden Götterassoziationen von Þrándr und Sigmundr in den Text der Saga eingezogen ist, zeigt ihre Wirksamkeit in Momenten der Gesamterzählung, die sich als liminal fassen ließen. Bruchstellen zwischen der Figurenebene und der mythischen Ebene der Narration ergeben sich stets in Momenten, in denen die Etablierung von Ordnung thematisiert wird. Während sich dies in der Diegese als politischer Konflikt äußert, werden in der narrativen Verhandlung die oben herausgearbeiteten Elemente des Mythos konzeptionell nutzbar gemacht. So erhält Sigmundr seinen Ring der Þorgerðr in genau dem Moment, in dem er auf die Färöer zurückkehrt und dort die ursprünglich legitime Ordnung durchsetzt, indem er Þrándr an der politischen Spitze der Inseln ablöst, das heißt seine eigene Herrschaft bzw. die seines Herrn Jarl Hákon etabliert, von dem der Ring in die Handlung eingebracht wird. Die todbringende Wirkung des Gegenstandes entfaltet sich in dem Moment, in dem diese Ordnung von Þrándr endgültig gestürzt wird und die von König Óláfr neu in den Text eingebrachte christliche Ordnung und Deutungsperspektive die Semantik des Rings grundlegend verändert hat. Ebenso erhält Þrándr den ›phantastischen‹ Zugriff auf die mythische Narrationsebene, der für seine nekromantische Macht verantwortlich ist, in dem Moment, in dem er nach dem Sturz von Sigmundrs norwegischer Herrschaft erneut seine eigene Ordnung durchsetzt. Auch der ›Óðinns‹-Auftritt vor Karl von Møre auf dem Þing ereignet sich in einem Moment, als durch die Macht von König Óláfr dem Heiligen die Gültigkeit von Þrándrs Ordnung auf den Färöern existenziell bedroht ist. Indes zeigt sich Þrándrs gute Verbindung zum Wettergott Þórr in den Momenten, in denen Sigmundr ihn überfallen oder nach Norwegen an den Königshof bringen will.215 Somit scheint die 215 Siehe Fær c. 24, S. 51–52 für Sigmundrs Versuch eines Überfalls. Þrándrs Zugriff auf das Wetter wird gegebenenfalls auch angedeutet vor seiner Zwangsbekehrung (Fær c. 31, S. 75), wobei der sichernde Effekt im Kontext von Sigmundrs Missionsbemühungen wirkungslos bleibt. Für die Verbringung an König Óláfrs Hof siehe Fær c. 31–32, S. 76–78. Wohl gleichzustellen, aufgrund des nur
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mythische Erzählebene insbesondere dann im Text auf, wenn in kritischen Momenten die von Þrándr errichtete politische Ordnung auf den Färöern bedroht ist und er sie erhalten muss, um seine Agenda weiterverfolgen zu können, oder sein Gegner sie aushebelt. Insofern werden die mythischen Narrationselemente und die Ebene, auf der sie sich befinden, stets im Zuge von Ordnungsetablierung und -erhalt bedeutsam. An diesen Stellen wird im Falle Þrándrs allerdings nicht allein die Wirksamkeit des Mythos sichtbar. Die kritischen Phasen, in denen seine Ordnung auf den Färöern etabliert, wiederhergestellt oder verteidigt wird, gliedern die Færeyinga saga auch durch semantische Entsprechungen zueinander. Diese sind wiederum mit den mythischen Elementen, die sich hier niederschlagen, eng verzahnt. Bereits oben wurde argumentiert, dass sich über Þrándrs Darstellung ein semantisches Feld in der Narration etablieren lässt, das den Text strukturell bestimmt. Dabei ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Komplex der Heimlichkeit hervorzuheben, der Þrándrs Handlungsweise und auch deren narrative Präsentation prägt, indem beide gegen das für die Sagagesellschaft maßgebliche Prinzip der Offenkundigkeit verstoßen. In jenen Momenten der Erzählung, in denen im Zuge von Ordnungsetablierung die mythische Narrationsebene offenbar auf die gewöhnliche Diegese durchschlägt, verbindet sich dieser Heimlichkeitsaspekt mit der für Þrándr auf der Handlungsebene nur schwierig zu fassenden Religionsthematik, die, wie unter 3.6 dargestellt, in seiner Figur widersprüchlich thematisiert wird. Während er im Grunde areligiös handelt, lässt er sich dennoch als ›heidnisch‹ konnotiert verstehen. Grund dafür ist die Vermengung seiner Assoziationen im Zuge der mythischen Erzählebene der Færeyinga saga mit den erzählstrukturell liminalen Momenten der Etablierung und Durchsetzung seiner politischen Ordnung auf den Färöern. Für beide Komplexe ergeben sich dieselben Bruchstellen, die den Text auf eine Art und Weise gliedern, die sie semantisch miteinander in Bezug setzt. Im Zuge von Þrándrs Ordnungsetablierung und Verteidigung sind insbesondere drei Stationen der Erzählung fundierend: Der Diebstahl auf dem Markt von Haleyri gleich zu Beginn der Erzählung begründet Þrándrs spätere Machtposition initial und legt die Parameter seiner Darstellung im Rest der Erzählung fest; Sigmundrs Tod und die folgende Aufklärung des Mordes dienen der Wiederherstellung von Þrándrs alleiniger Vormacht; und der Totschlag an König Óláfrs Gesandten Karl mitsamt der anschließenden Exilierung von Þrándrs Neffen und der Achtlösung befördert Þrándr in die Position, ein letztes Mal, dafür allerdings unmissverständlich und offen, zeigen zu können, dass der wahre Herrscher der Färöer er selbst ist. Aus diesen Momenten lässt sich ein Gliederungsprinzip der Narration ableiten, das alle Elemente Punkt für Punkt auf das semantische Feld von Heimlichkeit und damit verbunden ›Unmännlichkeit‹, Täuschung und Mythos als übergeordnete Prinzipien bezieht. In
indirekt gegebenen Berichts einer färöischen Schiffsmannschaft aber nicht eindeutig auserzählt, ist die Szene, als Þrándr zuvor an Hákons Hof erscheinen soll (Fær c. 24, S. 59).
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jeder der drei genannten Sequenzen geschieht mindestens ein Verbrechen, das Þrándrs Position enorm begünstigt. In allen drei Fällen lässt er sich als implizite Triebkraft hinter der Entwicklung der Geschehnisse ausmachen, während gleichzeitig die destabilisierte Darstellungstechnik genau diesen Rückschluss allein den Rezipienten überantwortet, indem Þrándrs Rolle verundeutlicht wird. So wird nie aufgelöst, wer für den Diebstahl auf dem dänischen Markt verantwortlich zeichnet, welchen Anteil Þrándr womöglich an den Handlungen seines lndzsete Þorgrímr hat, was mit den Schiffen König Óláfr Haraldssons geschieht, wer Þórálfr Sigmundarson tatsächlich ermordet, oder ob Þrándrs Neffen bis nach ihrer Achtlösung in seinem Auftrag handeln.216 Heimlichkeit umhüllt so in narrativer Hinsicht alle drei Szenen, die einander über diese semantische Verbindung reflektieren und dem Erzählgang insgesamt Struktur verleihen. Im Falle der Haleyri-Szene ist das begangene Verbrechen ein Diebstahl, dessen Unterscheidungskriterium zu anderen Formen der Eigentumsentwendung die verwerfliche Heimlichkeit ist.217 Der Drahtzieher hinter dem Verbrechen und sein eigentlicher Nutznießer ist Þrándr, wobei er selbst den Fall durch den Vorschlag der Sammlung der Kaufmannsfinanzen bereinigt. Dabei ist die Darstellung in hohem Maße destabilisiert, wie in Kapitel 3.2.3 analysiert. Der Erzählmodus reflektiert insofern die heimliche, nicht-offene Natur des Verbrechens Diebstahl im semantischen Sinne.218 Das Verschweigen der tatsächlichen Vorgänge um die Tat untergräbt die Verlässlichkeit der Erzählinstanz, sodass der Betrug der Bruder Hárekr und Sigurðr auf der Figurenebene durch die Täuschung der Rezipienten seitens des Erzählers wiedergespiegelt wird. Dadurch enthält die Sequenz auch die Komponente der Täuschung. Die Narration dieses grundlegenden Moments im Zuge von Þrándrs Herrschafts- und Ordnungsetablierung ist also bestimmt durch eine Semantik von Heimlichkeit im Sinne der destabilisierten Darstellungstechnik sowie des geschehenen Verbrechens in Form des Diebstahls. Aus dieser Heimlichkeit erwächst die Konnotation der Szene auch mit dem Wortfeld des Betrugs bzw. der Täuschung. Die gleiche Verbindung semantischer Komponenten zeigt sich auch in der unklaren Zeichnung des an dieser Stelle auftretenden Hólmgeirr auðgi als Nebenprotagonist der Verbrechenserzählung: Hinter diesem verbirgt sich vielleicht sogar Þrándr selbst.219 Bemerkenswert ist, dass Hólmgeirr anhand seines Beinamens einen engen Zusammenhang mit dem semantischen Feld zugewiesen bekommt, das Þrándrs spätere Herrschaftsressource par excellence re-
216 Für Detailanalysen der entsprechenden Szenen und Sequenzen vgl. Kap. 3 u. Kap. 5.3. 217 Zur Konstitution des Diebstahls über das Element der Heimlichkeit vgl. als Überblick Hahn 2016, S. 147–148; ausführlich Hahn 2020, bes. S. 35–78. 218 Zur Korrespondenz der Heimlichkeit von Diebstählen mit einer verschwiegenen und daher geheimnisvollen narrativen Darstellung vgl. Hahn 2016, bes. S. 151–152 u. S. 161–164; S. 158 zu einer variierten Art narrativer Destabilisierung in Diebstahlsszenen; ausführlich erneut in Hahn 2020, S. 65–78. Vgl. auch Schmidt 2016, S. 280 (Fn. 21). 219 Vgl. Almqvist 1992b, S. 50; Ólafur Halldórsson 2001, S. 71–73.
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flektiert: Seine Herrschaft gründet sich maßgeblich auf finanzielle Besitzungen.220 Gerade diese Grundlage verschafft ihm die solchermaßen erzählte Szene auf dem Markt. Dieselben semantischen Felder prägen die zweite Erzählsequenz, in der Þrándrs Ordnung auf den Färöern durch und nach dem Tod Sigmundrs wiederhergestellt wird: Þorgrímr, der rundheraus den bezeichnenden Beinamen (hinn) illi erhält, begeht an Sigmundr einen Mord, der sich, ebenso wie der Diebstahl in der HaleyriSzene zuvor, durch seine Heimlichkeit von anderen Verbrechen unterscheidet.221 Der Beiname der nur hier auftretenden Nebenfigur korrespondiert in diesem Fall direkt mit dem begangenen Verbrechen, das unzweifelhaft verwerflich ist. Falls Þrándr für die Tat seines Pächters verantwortlich gemacht werden kann, könnte allerdings auch ein Hinweis auf Þrándrs eigenen, anrüchigen Charakter enthalten sein, eine semantische Verbindung ebenso wie im Falle des Hólmgeirr auðgi. Beide nur in den jeweiligen Szenen vorkommenden Nebenfiguren entsprechen einander somit womöglich im Sinne eines im Beinamen versteckten Hinweises auf Þrándrs Charakterzeichnung und Beteiligung am Verbrechen. Trifft dies zu, korrespondieren beide Beinamen als Erzählelemente ebenso mit der Heimlichkeit der Darstellung. Beide Nebenfiguren sind für den Handlungsverlauf bestimmend, indem Hólmgeirrs Handelsangebot an Sigurðr und Hárekr die Diebstahlsszene in Gang setzt und Þorgrímrs Auftritt Sigmundr aus der Erzählung eliminiert. Doch sind beide kaum als eigenwertige Figuren konzipiert – sie dienen über die Semantik ihrer Beinamen wohl als Mittel zur indirekten Charakterisierung Þrándrs, in dessen Ordnungsetablierung die jeweiligen Szenen ihrer Auftritte gehören und dessen Interessen bedient werden. Das Vorkommen beider Figuren strukturiert wiederum in spiegelnder Weise den Gesamterzählgang. Wie im Falle der Haleyri-Szene ist die Darstellungsweise um den Tod Sigmundrs und Þrándrs Ausnutzung desselben, wie in Kapitel 3.6.3 ausgeführt, jedoch in hohem Maße verundeutlicht, und der Mord steht in keiner direkten Verbindung zu Þrándr. Dennoch ist er der eindeutige Nutznießer der Tat, sogar in doppelter Hinsicht: Durch die Aufklärung des Mordes und die damit verbundene Befriedung von Sigmundrs Familie sichert er für den Moment die unzweifelhafte Vorherrschaft seiner eigenen Familie auf den Färöern. Somit zeigt auch der Mord an Sigmundr eine erzählerische Semantik der Heimlichkeit im Sinne von Verbrechen und Darstellungstechnik sowie der möglichen Täuschung von Figuren wie Rezipienten durch Þrándr und seine Inszenierung durch den Erzähler. Hier erstreckt sich die Destabilisierung der Erzählinstanz allerdings zusätzlich und insbesondere auf die von Þrándr betriebene Aufklärung der Tat: In ihrem Zuge betreibt Þrándr
220 Vgl. Kap. 3.3; North 2005. Zum Wortfeld des Reichtums in Þrándrs Figurenetablierung siehe auch Kap. 3.2.1. 221 Nach den Bestimmungen von Grágás § 88 gilt es als Mord, ef maðr leynir eða hylr hræ eða gengr eigi i gegn (wenn man ihn verheimlicht oder die Leiche verbirgt oder es nicht gesteht). Zur Entsprechung mit dem Diebstahl vgl. auch Heusler 1911, S. 37; von See 1964, S. 204; Hahn 2016, S. 147.
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seine Nekromantie. Erzählerisch destabilisiert erscheint die Nekromantie-Szene anhand ihrer detaillierten, aber enigmatischen Darstellung, die noch dazu die Möglichkeit offenlässt, dass es sich bei den Erscheinungen der Toten um Täuschungen handelt.222 Auch diese Szene lässt sich insofern in den semantischen Komplex von darstellerischer Heimlichkeit und (möglicher) Täuschung einpassen, der Þrándrs Ordnungsetablierung insgesamt kennzeichnet. Dabei ergibt sich hier die narrative Bruchstelle zwischen der Aufladung des Erzählgangs mit Heimlichkeit und Täuschung und der mythischen Erzählebene, die eng mit der um Þrándr erschaffenen Erzählordnung verzahnt ist. Zauberei ist zwar ist der altnordischen Literatur kein unbedingtes Verbrechen223 und zeichnet sich auch nicht durch die semantische Komponente der Heimlichkeit aus. Dennoch lässt sie sich anhand ihrer insgesamt relativ eindeutigen Konnotation mit ›Unmännlichkeit‹224 semantisch mit den oben genannten Verbrechen von Diebstahl und Mord verbinden.225 Eine umittelbare Verbindung besteht zwischen den drei Elementen Mord, Diebstahl und Zauberei zwar nicht, auch ist keines davon automatisch mit dem Komplex des ergi im Sinne von sexuell konnotierter Normabweichung verbunden, der in der altnordistischen Forschung häufig synonym für ›Unmännlichkeit‹ verwendet wird.226 In semantischem Sinne lassen sie sich aber dennoch miteinander verbinden: Die heimlichen Verbrechen von Mord und Diebstahl verstoßen gegen das ›männlich-aktiv‹ konnotierte gesellschaftliche Prinzip der Offenkundigkeit ebenso wie insbesondere schadenbringende Zauberkunst eine ›unmännliche‹, feige und normwidrige Semantik zugeweisen ist.227 Alle drei Elemente sind über die Komponente der Transgressivität mit der ›Unmännlichkeit‹ und unter-
222 Vgl. auch Almqvist 1992b, S. 52–53. 223 Zur differenzierten Bewertung von Magie in den Isländersagas nach positivem und negativem Effekt vgl. Dillmann 2006, bes. S. 463–547. 224 Zur Konnotation von Zauberei als weiblich bzw. ›unmännlich‹ vgl. entgegen seiner eigenen, statistischen Untersuchung zur Ausführung durch Männer und Frauen Dillmann 2007, S. 864–865; Kunstmann 2020. Für eine breiter angelegte Diskussion siehe bereits Kap. 3.2.1 (bes. Fn. 51). 225 Vgl. Andersson 1984, S. 505; als Evaluation Hahn 2016, S. 149; Hahn 2020, S. 51–63. 226 Die Forschung begreift das konzeptionelle Feld häufig als explizit sexuell konnotiert, vgl. im Überblick Tirosh 2016, S. 255–257. Dabei bezeichnet das Substantiv ergi und das zugehörige Adjektive argr bzw. ragr ein relativ breitgefächertes Bedeutungsspektrum von allen möglichen Normverstößen gegen das überwiegend männlich-aktiv konzipierte gesellschaftliche Selbstbild der literarischen Quellen (vgl. Clover 1993); als Überblick siehe auch Thoma 2021b, S. 19–35. Ármann Jakobsson 2008, S. 63 möchte den Terminus entsprechend mit »queerness« übersetzen: »[I]t indicates everything unbecoming, villainous and deviant: incest, bestiality, homosexuality, the blurring of gender role, aggressive female lust, shape-shifting and sorcery«. Diese Ansicht des ergi-Komplexes erweist sich im hier untersuchten Rahmen als in hohem Maße anschlussfähig und wird als seine Grundbedeutung verwendet. Zu einer genaueren Definition und Besprechung des ergi-Konzepts für den Rahmen der vorliegenden Studie siehe bereits Kap. 3.2.1 (bes. Fn. 46). 227 Nach Merkelbach 2019, S. 125–147 sind Magier in jedem Fall transgressiv. Es ist diese Eigenschaft, die sie in narrativem Sinne anschlussfähig für eine Konnotation mit dem ergi-Komplex macht.
8.4 Eine ›semantische‹ Gliederungsebene der Færeyinga saga
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einander also semantisch verwandt, wobei diese Komponente den beiden Verbrechen aufgrund ihrer Heimlichkeit innewohnt. Sie bilden kein starres Bündel intrinsisch verwandter und stets miteinander verbundener Elemente, richten sich aber insgesamt gegen die vorherrschenden Prinzipien der in den Sagas dargestellten Gesellschaft. Deshalb lassen sie sich mitunter, wie im hier vorliegenden Falle der Færeyinga saga, passgenau und ohne Mehraufwand narrativ miteinander kombinieren. Während sich die konstitutive Komponente der Heimlichkeit bei allen drei Elementen im Text in ihrer Darstellungsweise der jeweiligen Handlungen und Zusammenhänge niederschlägt, kennzeichnet die Semantik der ›Unmännlichkeit‹ allgemein Þrándrs Taten, Vorgehensweise und Charakterisierung im Gesamttext. Eine semantische Kongruenz ergibt sich so zwischen Figurencharakteristik, auserzählten Handlungen und narrativer Darstellung – jene, die Þrándrs, die Gesamtstruktur der Erzählung prägende Erzählwelt hervorbringt. Zugleich eröffnet die NekromantieSzene, wie oben ausgeführt, die narrative Potenz der mythische Erzählebene der Færeyinga saga und verknüpft die Sequenz in dieser Hinsicht mit dem semantischen Feld des Mythischen. Dass seine ordnungsstiftende und -erhaltende Agenda mythisch angereichert wird, dient dem Ausweis der Þrándr-Figur als einer die Normen gewöhnlicher Figurenzeichnungen übersteigenden Instanz. Der Schnittpunkt zwischen dem semantischen Feld des Mythos und dem Komplex von Heimlichkeit und ›Unmännlichkeit‹ ergibt sich also ebenfalls durch die gemeinsame Grundkomponente der Normabweichung. Hier decken sich Funktionalisierung der mythischen Erzählebene und semantisches Gliederungsprinzip der Færeyinga saga. Beide Sequenzen, denen für die Etablierung der Ordnung Þrándrs grundlegende Funktion zukommt, spiegeln einander somit semantisch – ein weiterer Hinweis auf die wiederholende und gleichmäßig aufgebaute Struktur der Gesamtnarration Færeyinga saga, wie oben untersucht. Grundlage ist dabei das semantische Feld der Heimlichkeit in ihrer Darstellung und dessen gesellschaftlich überformte Ansicht als ›unmännlich‹, die auch Þrándrs Charakterisierung auf der Figurenebene prägt. Dadurch ergeben sich Anschlussmöglichkeiten für die semantische Assoziation Þrándrs mit den heimlichen Verbrechen von Diebstahl und Mord, die die Komponenten von Heimlichkeit und ›Unmännlichkeit‹ ebenfalls in ihrer semantischen Aufladung tragen. Zugleich ergibt sich eine Schnittstelle mit dem semantisch naheliegenden Element der Täuschung, das sich vor allem aus der uneindeutigen Darstellungsweise dieser Elemente ergibt. Þrándr betrügt – jedenfalls vermeintlich – seine Umgebung ebenso, wie die Rezipienten durch die destabilisierte Erzählinstanz getäuscht oder jedenfalls verunsichert werden. Deutlich ist dies vor allem in der Haleyri-Sequenz, doch kann es sich auch im Falle der Totenbeschwörung um Lug und Trug von Seiten Þrándrs handeln. Gleichzeitig ergibt sich hier die Schnittstelle zu Þrándrs Assoziation mit mythischen Wirkmächten. So ließe sich – analog zu Þrándrs mythisch begründeter Zaubermacht – auch rückwirkend in den Text der Haleyri-Szene lesen, dass er lediglich von ›außergewöhnlichem‹ Glück begünstigt ist, selbst wenn diese Annahme wenig wahrscheinlich erscheint. Andernfalls ließe
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8 Vielseitigkeit in Einheit. Zur narrativen Struktur der Færeyinga saga
sich überlegen, dass er auch in diesem Fall mit übermenschlichen Wirkmächten im Bunde steht oder seine eigene Zauberkraft einsetzt.228 Damit wirkt die Darstellung der Vorgänge um Sigmundrs Ermordung auch als mögliches, rückwirkendes Erklärungsmodell der Anfangsszene des Erzählgangs. Die Gesamterzählung zeigt sich so als gleichmäßig aufgebaut und dabei über die semantische Aufladung der beiden Erzählabschnitte gegliedert. Die beiden Erklärungsmodelle von Betrug oder impliziter mythischer Macht in beiden Szenen konkurrieren allerdings offen miteinander und eine eindeutige Entscheidung hängt davon ab, wie viel Nonkonformität mit den Normwerten der Sagawelt die Rezipienten Þrándr zuzubilligen gewillt sind. Dies ist Folge der weitgehenden implizit belassenen Einflechtung der mythischen Erzählebene in die Narration: Sie kann für eine vertiefende Erklärung herangezogen werden, muss es aber nicht. Sich möglicherweise eröffnende Leerstellen müssen in einer solchen, die mythische Ebene nicht aktualisierenden Interpretation allerdings unausgefüllt bleiben und durch die Rezipienten in Kauf genommen werden. Unschärfen bleiben dann in der Interpretation bestehen (so etwa die Notlosigkeit der Totenbeschwörung auf der Handlungsebene und die völlig unterbliebene Erklärung der Identität Hólmgeirrs) und müssen umgangen werden. Begründet sind beide Interpretationsoptionen und die mit ihnen verbundenen semantischen Aufladungen durch die heimliche Erzähltechnik, die den ›unmännlichen‹ Þrándr in den Momenten umgibt, in denen seine Ordnung auf den Färöern durchgesetzt wird. Sie erzeugen im Zusammenspiel die konstitutive Unbestimmtheit, die Þrándrs Figurenzeichnung und damit auch seine Interpretation und die Gesamtstruktur des Textes bestimmt. Die dritte Sequenz, in der Þrándrs Ordnung gegen den Eingriff König Óláfr Haraldssons abgeschirmt wird, wiederholt diese semantische Struktur nicht im selben Maße, lässt sich aber dennoch anschließen: Gemäß dem im Anschluss auszuführenden Prinzip, dass der zweite Handlungskreis der Færeyinga saga den ersten gleichermaßen spiegelt wie variiert und erweitert, lässt sich hier eine Erweiterung der semantischen Aufladung des Erzählgangs feststellen, indem nicht allein ein Verbrechen begangen wird. Stattdessen ereignen sich deren gleich drei. Das erste, jedenfalls wahrscheinliche davon ist erneut – und die strukturelle Textklammer, die die Haleyri-Szene eröffnet, schließend – ein Diebstahl, nämlich der Steuern des Königs. Zudem ereignet sich der Mord an Þórálfr Sigmundarson, sodass beide Verbrechen der vorgenannten Sequenzen in dieser dritten wiederholt werden. Erneut schlägt sich die Heimlichkeit beider Verbrechen im Verschweigen der genauen Vorgänge und Zusammenhänge seitens der Erzählinstanz nieder, und erneut ist Þrándr Nutznießer der Geschehnisse. Wie zuvor paart sich die semantische Komponente erzählerischer Heimlichkeit der Darstellungsweise und der Natur der begangenen Verbre-
228 Ólafur Halldórsson 2001, S. 73 vollzieht die hier beschriebene, sich aus der semantischen Aufladung der Gesamterzählung um Þrándr ergebende, rückwirkende Interpretation, wenn er die Möglichkeit aufwirft, Hólmgeirrs Bude und der Ring, den Hárekr und Sigurðr erstehen wollen, seien nur Sinnestäuschungen gewesen, die Þrándr als Magier heraufbeschworen habe, vgl. auch Kap. 3.2.3.
8.4 Eine ›semantische‹ Gliederungsebene der Færeyinga saga
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chen mit dem Element der jedenfalls induzierbaren Täuschung von Figuren wie Rezipienten. Das dritte Verbrechen, in dem sich die semantische Erweiterung des zweiten Handlungskreises der Saga ausdrückt, ist der gerade nicht heimliche, sondern offene Totschlag an Karl von Møre, dem das Exil von Þrándrs Neffen folgt. In deren Auftritt als vermeintliche Wiedergänger ließe sich ein Reflex von Þrándrs Nekromantie-Ritual ausmachen.229 Akzeptiert man die Verbindung beider Szenen über dieses, in letzterem Sinne eindeutig vorgetäuschte Element (da Þrándrs Neffen sehr lebendig sind), ergibt sich erneut in Rückwirkung eine Bestärkung alternativer Deutungsmöglichkeit. Scheint aufgrund des Totenzaubers in Sandvík zunächst die Wahrscheinlichkeit gegeben, auch in Haleyri könnten übermenschliche Kräfte im Spiel gewesen sein, wird dieser Eindruck nachträglich wieder verwischt. Wenn Þrándrs Neffen einmal ganz konkret als vorgebliche Wiedergänger auftreten, ist es immerhin möglich, eine ähnliche Strategie der Umgebungstäuschung auch für einen früheren Erzählzeitpunkt anzunehmen.230 Erneut lenkt damit die semantisch begründete Verbindung der drei Szenen und ihre Abfolge aufeinander die Interpretation rückwirkend auf eine Dichotomie der Kategorien von Betrug oder mythischer Erklärung, wobei beide offen miteinander konkurrieren und nicht eindeutig aufgelöst werden. Die Komponente der möglichen Beteiligung mythischer Mächte wird durch den ›Óðinns‹-Auftritt jedoch unzweifelhaft auch in diesem Erzählabschnitt aufgegriffen. Heimlich und trügerisch ist hingegen erneut Þrándrs anzunehmendes Vorgehen im Zuge dieser Erzählsequenz. Die ›Unmännlichkeit‹, die diesen Geschehnissen innewohnt, wird hier auch verbalisiert, indem Þrándr direkt vorgeworfen wird, argr zu sein, wenn auch der Kontext ein anderer ist.231 Erneut finden sich damit alle semantisch verbundenen Elemente von Heimlichkeit, ›Unmännlichkeit‹, Täuschung und auch Mythos in dieser Erzählsequenz, die ein letztes Mal, aber umso deutlicher, die Wirksamkeit der erzählstrategischen Präsentation der Þrándr-Figur und ihrer den Verlauf der Færeyinga saga bestimmenden und strukturierenden erzählerischen Potenz verdeutlichen. Diese erzählerische Potenz, aus der sich eine eigengesetzliche Erzählwelt etabliert, wird erzeugt, indem auf eine mythische Erzählebene ebenso Bezug ge-
229 Vgl. auch Harlan-Haughey 2015, S. 354, die beide Szenen zusammenbindet, indem sie konstatiert, Þrándrs Macht zerfalle am Ende der Erzählung, was sich darin äußere, dass »the ability to summon and control draugar and then dismiss them at will […] fails him, and these same ghosts begin to haunt him«. Dabei handelt es sich eindeutig um ein folgenreiches Missverständnis des Textes, was aber verstärkend verdeutlicht, dass beide Szenen an der Erzähloberfläche die Wiederkehr (jedenfalls vermeintlich) Verstorbener teilen und einander so spiegeln. 230 Eine solche Überlegung erscheint dagegen nicht übermäßig überzeugend, da die charakteristische Perspektivwechseltechnik der Fokalisierung bei der Totenbeschwörung völlig fehlt, vgl. bereits Kap. 3.6.3. Insofern wird zwar die Möglichkeit einer solchen Interpretation eröffnet, zugleich aber auch ein störendes Element eingebaut. Insgesamt entsteht so ein hohes Maß von Unsicherheit und Unbestimmtheit der Interpretation. 231 Fær c. 48, S. 120; vgl. Kap. 3.4.4.
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nommen wird, wie durch die Einflechtung bestimmter narrativer Semantiken in die Ereignisfolge der Plot auf Þrándr als narrativen wie auch semantischen Fixpunkt der Sujetfügung hin zentriert Struktur verliehen wird. Die oben besprochenen Szenen sind in der semantischen Aufladung der in ihnen berichteten Ereignisse Punkt für Punkt aufeinander bezogen und stellen alle Þrándr und die Etablierung seiner Ordnung in ihren Mittelpunkt. Sie gliedern damit insgesamt die Færeyinga saga auch auf einer semantischen Ebene ihrer Narration, was dazu führt, dass Þrándr als Zentralinstanz ihrer Struktur ausgewiesen wird. Oben wurde darauf hingewiesen, dass Þrándrs mythische Assoziationen der Erzählung als Zweitebene oftmals sehr implizit eingeschrieben sind. Dieser Befund erklärt sich aus der Betrachtung der semantischen Gliederung der Færeyinga saga. Gerade anhand des Bündels von ›Unmännlichkeit‹, das Þrándrs Figur insgesamt auszeichnet, und Heimlichkeit, das an entscheidenden Stationen seiner Ordnungsetablierung durch die nie unmissverständlich an ihn gebundenen Verbrechen von Mord und Diebstahl angelegt wird, wird eine narrative Aura um seine Figur erzeugt, die Täuschung zum natürlichen Bestandteil ihrer Existenz erhebt. Dies verkompliziert einerseits eine moralische Lektüre des Gesamttextes, schließlich sind mit diesen drei Wortfeldern die unabdingbaren Voraussetzungen von Þrándrs Erfolg benannt. Andererseits zeigen sich seine stärksten Assoziationen mit Szenerien mythischen Gehalts ebenfalls in diesen kritischen Momenten der Erzählung. Gerade diese sind allerdings in hohem Maße von den erzählerischen Semantiken von Heimlichkeit und Täuschung überlagert. Durch diese Kreuzung erscheint oftmals kaum entscheidbar, ob sich die Vorgänge allein durch das Erklärungsmodell der Täuschung adäquat beschreiben lassen, oder ob hingegen die Wirksamkeit des Mythos zusätzlich hinzugedacht werden muss. An der solchermaßen gegliederten Saga wird somit klar, dass Irritationsmomente ihrer Interpretation wesentlicher Bestandteil ihrer Narrationsorganisation sind. Zugleich entwickelt die Assoziation Þrándrs mit heidnischen Mythosmatrizen eine ganz eigene Dynamik vor dem Hintergrund der semantischen Heimlichkeit, die den entsprechenden Erzählsequenzen innewohnt. Dies ließe sich einerseits durch die unzweifelhaft christliche Textentstehungszeit erklären: Einem explizit mit den vorchristlichen Göttern verbundenen Protagonisten kann im Mittelalter wohl kaum uneingeschränkt der Sieg in seinem Machtkampf zugebilligt werden. Dennoch findet sich Þrándrs Figurenzeichnung mit solchen Elementen angereichert, sodass der Text immerhin die Frage in den Raum stellt, wie einer solchen Figur ein solcher Erfolg möglich sein kann. Einmal mehr wird Þrándr damit zugleich vor der Verurteilung durch den Rezipientenkreises beschützt und dessen vermeintliche Wahrnehmungskonventionen in Frage gestellt. Þrándrs Aufstieg verdankt sich, gerade im Zusammenspiel mit seinen missionarischen Gegenspielern Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson, dezidiert nicht dem christlichen Gott, dessen Wege in Bezug auf ihn damit entweder unergründlich oder sogar – wenn auch im Text nur vorsichtig ausgedrückt – wirkungslos sein könnten. Zugleich wirkt die mythische Erzählebene auf Figuren- und Darstellungsebene zurück: Die unsichere Rolle, die Þrándr zugewiesen ist, in moralischer
8.5 Narrative Strategien der Komplexitätssteigerung
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Hinsicht sowie hinsichtlich seiner übermenschlichen Begabung, spiegelt sich auch in der Art und Weise der Narration und ihrer semantischen Gliederung wieder. Beides erzielt hohe narrative Offenheit, die dadurch zum Signum dieser Gesamterzählung wird.
8.5 Narrative Strategien der Komplexitätssteigerung 8.5.1 Pluralisierung als notwendige Modifikation des zweiten Handlungskreises Gleichzeitig zur oben festgehaltenen Zweigliederung und Wiederholungsstruktur des Gesamttextes pluralisiert sich unleugbar die Erzählwelt im zweiten Teil der Narration der Færeyinga saga. Mehr Figuren beteiligen sich am Spiel der Mächte: Leifr, seine Frau und Schwiegermutter, König Óláfr der Heilige, Sigurðr, Þórðr und Gautr sowie nach wie vor Þrándr selbst versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Dabei sind diese Einzelinteressen streckenweise deckungsgleich, in sich aber dennoch differenziert. Þrándrs Neffen versuchen zunächst, den norwegischen Einfluss auf den Inseln ebenso einzudämmen wie er, wodurch sie auch in seinem Interesse handeln, hoffen dabei aber wohl auf eine spätere Beteiligung ihrer selbst an seiner Machtposition. Als sie diese nicht erhalten, werden sie eigenständig aktiv – gegen die Interessen ihres Onkels. Auch die Interessen Leifrs und der Frauen aus Sigmundrs Familie decken sich keineswegs zwangsläufig: Während Þuríðr und Þóra auf Rache für Sigmundrs Tod sinnen, versucht Leifr, seine Position weitgehend ohne einen offenen Konflikt mit seinem Ziehvater zu halten. Letztlich wird die zuvor zweigeteilte Interessenlage zwischen Þrándrs und Sigmundrs Herrschaftsansprüchen ersetzt durch »partikularistische Projekte mehrerer Einzelfiguren oder Gruppen«.232 Der erzählstrukturellen Einheitlichkeit des Textes steht somit eine Heterogenisierung auf der Figurenebene entgegen. Diese setzt bereits im von Glauser so bezeichneten Move 3 der Plotentwicklung ein: Sobald mehr Figuren, in Form von Þrándrs Ziehsöhnen seine Seite des Konflikts verstärken, wird das ›Zwei-Brüder‹Paar von Sigmundr und Þórir um die schattenhafte Figur des Einarr suðreyingr ergänzt. Dieser wird hier vom Anfang der Erzählung wiedereingebracht, nimmt im Gegensatz zur Ur-Entwicklung des Konflikts aber keine bedeutende Rolle ein, sondern ergänzt nur mechanisch anmutend Sigmundr und Þórir in ihrer Todesszene. Er erscheint in diesem Abschnitt daher ebenso als Zusatzfigur wie Gautr im Falle von Sigurðr und Þórðr oder Þórálfr in Ergänzung zu Leifr und Gilli.233 Triadische Figurenkonstellationen prägen im Anschluss die Auseinandersetzung: Sigmundr, Þórir und Einarr werden abgelöst durch den Dualismus von Leifr, Gilli und Þórálfr einerseits und Sigurðr, Þórðr und Gautr andererseits, wobei im letzten Abschnitt
232 Glauser 1989, S. 217. 233 Siehe Kap. 5.2.2 u. Kap. 7.5.3.
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der Erzählung die beiden Frauen Þóra und Þuríðr an die Stelle von Gilli und Þórálfr treten. Diese Pluralisierung der figuralen Erzählwelt im zweiten Teil der Handlung entfaltet ihre Bedeutung allerdings nicht allein durch die Auflösung zuvor eindeutigerer Figurenkonstellationen, oder des »axiologische[n] Feld[es]« der Saga und seiner »scharfen Gegensätze«, wie Glauser dies in seinem Strukturschema annimmt.234 Wie oben ausgearbeitet, ist einerseits der spätere Teil der Handlung nach Sigmundrs Tod in seiner Strukturierung von den gleichen, nach wie vor gültigen Dichotomien geprägt, während andererseits diese Struktur durch die Beteiligung eines größeren Kreises an Handlungsträgern zugleich erweitert und invertiert wird. Der Pluralisierung kommt also auch strukturelle Bedeutung für den Gesamttext zu. Denn Leifr Ǫzurarson und Þóra Sigmundardóttir, die Þrándr schlussendlich als alleinigen, faktischen Herrscher der Färöer beerben, sind nur gemeinsam in der Lage, seine Stellung auf den Inseln zu brechen und zu überwinden. Ihre Kombination wiederholt als Figurenpaar, wie oben gezeigt, dasjenige Feld semantischer Konnotationen, das durch Þrándrs Darstellung als maßgeblich für die Herrschaft auf den Färöern und damit die Gesamterzählstruktur des Textes gesetzt wird. Gleichzeitig bricht die Kombination beider Figuren dieses auch auf und modifiziert es. So zeichnen Þrándrs politische Intelligenz und Skrupellosigkeit vor allem Þóra aus, während die Gesamtkonfliktsituation in ihrer Spannung zwischen norwegischen Lehnsmännern und dem dezidiert färöischen Herrscher Þrándr zu ihrer endgültigen Lösung die systemisch ausgleichenden Eigenschaften Leifrs hinsichtlich der Raumsemantiken verlangt, wie in den Kapiteln 2.3 und 6 dargelegt. Hinsichtlich der den Grundkonflikt prägenden Dichotomie kann nur er Ausgleich schaffen, indem er sich nicht zwischen färöisch konnotierter und norwegisch basierter Identität entscheiden muss, sondern zugleich beides verkörpert. Zudem handelt er ergeben nach dem Willen seiner Ehefrau. Er kann als ausführende Hand insofern die meisten Interessen der um ihn positionierten Figuren befriedigen: Sein eigenes machtpolitisches Interesse als Erbe einer ursprünglichen Herrschaftspartei auf den Färöern ebenso wie den Herrschaftsanspruch der norwegischen Herrscher und Þóras Rachewunsch. Nur, indem er statt des Königswillens den ihren bedient, kann er jedoch die über Þrándrs Darstellung als notwendig formulierte Komponente autonomer Handlung bedienen und muss sich nicht auf Unterstützung durch den König verlassen. Solange er im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Þrándrs Herrschaft und Óláfr dem Heiligen allein die Königspartei vertritt, kann er keinen Sieg erringen. Innerhalb der Paarbindung von Leifr und Þóra sind es so Leifrs gleichsam natürliche Königstreue und die über ihre norwegische Herkunft definierte Identität seiner Frau, die Sigmundrs Verbindung zum norwegischen Königshaus wiederholen, während Leifr als Ziehsohn Þrándrs analog zu ihm auch eine dezidiert färöische Identität besitzt. Bemerkenswert ist dabei weiter, dass es sich bei Leifr und Þóra um ein Ehepaar handelt. So ist Leifr ein ebenso eindrucksvoller Krieger wie sein toter
234 Glauser 1989, S. 217.
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Schwiegervater Sigmundr, was von entscheidender Bedeutung für die von ihm durchgeführte Eroberung der Herrschaft gegen Þrándrs Neffen ist. Für seine Figurenzeichnung ergibt sich in der Narration damit das semantische Feld von ›männlich‹ und kriegerisch, während er diese Eigenschaften allerdings gerade nicht ex nihilo an den Tag legt, wie in Kapitel 6 erörtert. Es bedarf Þóras Weiblichkeit und der damit einhergehenden Vehemenz in der Verfolgung einer Rachetat, aber auch ihrer gendertechnisch ungewöhnlichen Aktivität, um den Sieg über Þrándr zu erlangen. Sie erst kann durch ihre Unterstützung Leifrs Eigenschaften in politischen Erfolg ummünzen. Es ist also nicht allein eine Zweierkonstellation von Nöten, um Þrándrs Position im zweiten Handlungskreis übernehmen zu können, sondern eine spezifisch männlich-weibliche Figurenkombination, die Þrándrs eigene, unscharfe Genderidentität gebrochen spiegelt. Ein Figurenduo wird insofern eingeführt, das Þrándrs diesbezüglich verwischte Eigenschaften durch ihre Brechung in zwei Figuren wiederholt und zugleich erweitert. Am Ende der Saga herrscht nicht, wie lange Zeit mit Þrándr, ein ›unmännlicher‹ Mann, sondern ein Paar von Mann und Frau, das in sich aber dennoch ein nicht normkonformes Rollenverhältnis und insofern Unschärfen aufweist. Damit spiegeln sowohl Leifr als auch Þóra jeder für sich Þrándrs Identität in abgeschwächter Form, während sie seine genaue Charakteristik nur zu zweit erfüllen können. Dieses Prinzip von gleichzeitiger Identität und Alterität ließe sich in Rückkopplung mit der oben überlegten, semantischen Parameter-Festlegung der Erzählung über die Figurendarstellung Þrándrs als semantische Pluralisierung fassen. Die semantischen Felder, die von Þrándr ausgehend die Narration bestimmen, behalten in den Figuren seiner herrschaftlichen Nachfolger einerseits weiterhin Gültigkeit, werden andererseits aber auch modifiziert. So wird seine färöische Identität durch Leifrs Königstreue und Þóras norwegische Identität ergänzt und dabei die selbst in Norwegen heterotopisch anmutende Gegenplazierung des Dovrefjell raumsemantisch integriert. Das kluge politische Kalkül, für das Þóra verantwortlich zeichnet, sowie die Vermeidung bewaffneter Auseinandersetzungen werden außerdem mit Leifrs Kriegertum verbunden. Insofern drückt sich die Pluralisierung der Erzählwelt im zweiten Teil der Handlung darin aus, dass das Erbe von Þrándrs Position in der Erzählung auf zwei Figuren verteilt, gleichzeitig allerdings erweitert und gebrochen wird. Der Pluralisierung der Erzählwelt auf der Figurenebene entspricht somit die semantische Pluralisierung der Narration und der ihre Struktur bestimmenden Erzählparameter selbst. Diese ist notwendig, um die Erzählung insgesamt zu ihrem Abschluss zu bringen. Insofern verbinden sich hier narrative Komponenten, die Þrándrs Position wiederholen, mit solchen, die im vorherigen Konfliktverlauf explizit das Gegenteil seiner Identitätsbildung dargestellt haben. Was durch Þrándrs Zeichnung als Ego und Alter der Narrationsstruktur der Færeyinga saga eingeschrieben wurde, wird in Leifr und seiner Ehefrau schließlich miteinander vereint. Die somit erfolgte Mediation beider Positionen hebt die Dichotomie auf, der sie als Strukturpole gedient haben – die Differenz zwischen Ego und Alter ist nicht länger prägend. Wenn keine Gegensätze mehr exis-
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tieren, zwischen denen sich Handlung konstituieren kann, resultiert daraus ein narrativ nicht weiter bearbeitbarer Schlusspunkt, der kein Konfliktpotenzial mehr enthält.235 Konzeptionell ist die Saga erst in diesem Moment auserzählt. Zugleich bestätigt und beglaubigt sie durch dieses Ende ihre Anfangssetzung, indem die Ausgangssituation wiederhergestellt ist.236 Allerdings befindet diese sich durch die Elimination des inhärenten Konfliktpotenzials nunmehr auf einer anderen, erhobenen und damit verbesserten Ebene. Entgegen dieser Pluralisierungsstrategie der Erzählung zu ihrem Ende hin lässt sich allerdings im zweiten Handlungskreis ein Nebeneinander mehrerer Narrationsebenen gleich der oben ausgeführten Mehrschichtigkeit der Dichotomie von Þrándr und Sigmundr nicht erkennen. Mythische Assoziationen setzt bestenfalls die göttliche Erscheinung Sigmundrs vor Þuríðr fort, allerdings ergibt sich hier ein wesentlicher Unterschied zur Gestalt der mythischen Assoziationen zuvor. Sigmundrs Erscheinung apostrophiert die Ereignisse des Erzählschlusses als Offenbarung des göttlichen Willens, jedoch wird der Plot nicht durch eine Anreicherung mit ins Mythische verweisenden Elementen wie Þrándrs Nekromantie oder Sigmundrs Ring weiterentwickelt. Selbst wenn sich der göttliche Willen im Ablauf der Ereignisse zeigen sollte, so erklärt dieser sich doch ganz diesseitig aus der Kombination der Stärken Þóras und Leifrs. Konkret schlägt also kaum eine mythisch begründete Macht auf die diegetische Erzählwelt durch und bedingt deren Handlungsentwicklung, der Mythos greift nicht mehr in die Erzählung ein, wie dies (möglicherweise) im Machtkampf von Þrándr und Sigmundr sichtbar wird. Insofern wird in Hinblick auf die mythische Ebene der Narration sogar eine Vereinfachung vorgenommen: Eine zweigliedrige, mit heidnischen Mächten verbundene und implizit angelegte Ebenennarration, die ihre Wirksamkeit nur andeutet, wird durch einen einfachen Hinweis auf den christlich-göttlichen Willen ersetzt. Leifrs und Þóras Gegnern lässt sich zur gleichen Zeit keinerlei Assoziation mit mythischen Wirkmächten unterstellen. Dadurch ergibt sich allerdings eine weitere, strukturelle Textklammer: Im Sinne der oben vorgestellten, semantischen Gliederung der Saga entspricht die HaleyriSzene zu Beginn, und damit Þrándrs Grundlegung seiner Macht, die an sich ebenfalls keine Hinweise auf mögliche mythische Komponenten des Erzählganges enthält, grundsätzlich der Darstellung am Ende der Saga ohne mythische Aufladung. In die Haleyri-Szene lässt sich eine solche nur durch den Abgleich mit den späteren Momenten von Þrándrs Ordnungsetablierung hineinlesen. Das gleiche gilt für den Schluss der Erzählung: Er kann als Walten göttlichen Wirkens gedeutet werden, zeigt aber konkret keinen Eingriff Gottes zugunsten einer der Konfliktparteien. Dass dennoch Sigmundrs Erscheinung eine plötzliche Wirkmacht Gottes in den Ablauf der
235 Vgl. auch Glauser 1989, S. 221. Vgl. grundsätzlich zur Grenzüberschreitung und damit einer vorausgesetzten, Zweiteilung narrativer Grundsituationen auch die Kategorie des »Sujets« (Lotman 1993, bes. S. 329–340). 236 Vgl. hierzu Koschorke 2013, S. 236–247.
8.5 Narrative Strategien der Komplexitätssteigerung
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Ereignisse einspeißt, pluralisiert wiederum den Erzählablauf des Endes im Vergleich zur Ausgangssituation der Saga. Als Erklärung für die Absenz einer weiter geführten, mythisch basierten Erzählebene lässt sich gegebenenfalls die erhöhte Figurenzahl selbst anführen, denn die Reduktion hinsichtlich narrativer Ebenen steht der zunehmenden Pluralisierung der primären Erzählwelt entgegen. Während die Komplexität der Figurenebene im ersten Teil der Erzählung noch durch die Vervielfältigung der Erzählebenen potenziert wird, übernimmt der zweite Handlungskreis diese Vielschichtigkeit durch seine semantische Pluralisierung in die Handlungsebene. Bemerkenswert ist im Lichte dieser Beobachtung auch die Tatsache, dass für Sigurðr, Þórðr und Gautr eine narrative Pluralisierung gleich der von Þrándrs Position in Leifr und Þóra nicht stattfindet. Die Figuren, die Sigmundrs Position einnehmen, stellen auch im Sinne des mit ihnen verbundenen, semantischen Feldes in der Erzählung eine bloße Wiederholung dar. Þrándrs Neffen spiegeln Sigmundrs Eigenschaften auch in ihrer Konstellation zueinander lediglich, ohne sie zu erweitern. So ist insbesondere Sigurðr in erster Linie als Krieger dargestellt, der auf der politischen Ebene zu unüberlegt agiert, um erfolgreich zu sein. Er ist als kriegerisch und somit ›männlich‹ und aktiv ausgestaltet, womit er Sigmundrs narrative Position sehr deutlich spiegelt, wie in Kapitel 5 gezeigt. Anders als sein Vorgänger verbindet er sich aber nicht mit den norwegischen Königen und im Gegensatz zu Leifr sind ihm keine Figuren wie Þóra beigestellt. Mit Ausnahme seiner Frau Birna, die ihm immerhin zur Herrschaft in Þorhallrs Haushalt verhilft, unterhält er hauptsächlich homosoziale Verbindungen zu seiner Umgebung: Ihn umgeben hauptsächlich andere Männer. So agiert er allein auf sich gestellt, ergänzt nur durch den Þórir spiegelnden Bruder und Gautr, der ebenso schattenhaft gestaltet ist wie Einarr suðreyingr – gerade so wie Sigmundr präzise vor seinem Tod. In Sigurðrs Darstellung werden also auch im Verhältnis zu anderen Figuren lediglich Eigenheiten und semantische Komponten der Ausgestaltung der unterlegenen Konfliktgruppe aus dem ersten Handlungskreis wiederholt, ohne narrativ pluralisiert zu werden. Unterlegen scheint die Konfliktpartei, die Sigmundrs Rolle aus dem ersten Handlungskreis erneut einnimmt, und die ironischerweise gerade die Familie des Siegers aus dem ersten Konflikt der Færeyinga saga darstellt, in der zweiten Teilhandlung also auch deswegen, weil sie an der narrativen Pluralisierung der Erzählwelt nur numerisch, nicht aber konzeptionell partizipiert. Insgesamt zeigt sich somit, dass die von Glauser festgestellte Pluralisierung der Erzählwelt des zweiten im Vergleich zum ersten Teil der Saga ein wichtiges strukturelles Merkmal ihrer Komposition darstellt. Gleichzeitig ist allerdings festzuhalten, dass der zweite Handlungskreis nicht allein heterogener organisiert ist, sondern dass er den ersten in mehrfacher Hinsicht auch spiegelt und fortsetzt. Die Spiegelungen innerhalb der Saga sind dabei allerdings oftmals nicht alleine Wiederholungen von Figurenkonstellationen oder figürlichen Eigenschaftsclustern, sondern sie arbeiten oftmals mit Brechungen, Inversionen, Vermischungen und Ergänzungen.
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8.5.2 Inversion als narrative Strategie Die Gesamtorganisation der Færeyinga saga lässt sich, wie oben ausgeführt, als zweigeteilt fassen, sowohl was ihre beiden großen Handlungskreise betrifft, als auch in Hinblick auf die Konstellation der Figuren und Figurengruppen zueinander. Dennoch ist sie nicht ausschließlich binär strukturiert. Der scheinbaren Klarheit in der Struktur des ersten Handlungsteils steht einerseits die Pluralisierung der Erzählwelt in der zweiten Teilhandlung entgegen, andererseits spiegelt der zweite Handlungskreis den ersten in Parallelstellung, wobei Inversion einen wichtigen strukturellen Faktor darstellt. Wie oben beschrieben wiederholt der letzte Erzählabschnitt in seiner semantischen Gliederung den ursprünglichen Konflikt des ersten Handlungskreises, modifiziert ihn dabei aber auch und invertiert die Konstellation des erfolgreichen Zweigs der färöischen Familie, deren Streitigkeiten die Handlungsführung illustriert. Im Figurenpaar von Leifr und Þóra spiegelt sich die Position Þrándrs, mit der Inversion, dass diese aus der Familie seines Gegners stammen, während Sigurðr, Þórðr und Gautr aus der mit ihm verbundenen, überlegenen Position in die unterlegene seines ausgeschalteten Gegners Sigmundr fallen. Das Prinzip der Inversion betrifft dabei nicht allein die Vertauschung von Erfolg und Misserfolg der am Hauptkonflikt beteiligten Parteien, sondern ebenso die Struktur ihrer erzählerischen Präsentation: Wie oben dargestellt, lässt sich der siebte Move des von Glauser vorgeschlagenen Strukturschemas der Saga in Hinblick auf Thematik und Motivik als Wiederholung des dritten Moves betrachten, wenn in beiden Fällen eine Partei durch einen überraschenden Angriff den Sieg erringt. Dabei findet der Führer der gegnerischen Fraktion auf der Flucht den Tod und in beiden Fällen wird der Plan einer Heiratsallianz beider Familien ins Spiel gebracht. Auch das Element einer gewissen Heimlichkeit in der Darstellung der Vorgänge wiederholt sich, wenn Þrándrs Beteiligung an Sigmundrs Tod unklar verbleibt, während Þóras Plan erst in seiner Ausführung erkennbar wird. Die genaue Abfolge dieser Elemente jedoch steht sich in veränderter Anordnung gegenüber: Þrándr entbietet eine Hochzeit Leifrs mit Þóra erst nach seinem Sieg, wohingegen Sigurðr im Anschluss an seine Brautwerbung sein Schicksal ereilt. Þóra hält ihren Plan bis zum Ende geheim, während Þrándr, für seine übliche Taktik durchaus ungewöhnlich, offen gegen Sigmundr vorgeht und ihn auf dem Þing öffentlich droht. Auch die Art und Weise der Ausschaltung der gegnerischen Gruppe im Falle Leifrs und Þóras zeigt eine Inversion der Vorgänge zwischen Þrándr und Sigmundr, indem Þrándr seinen Angriff auf Sigmundrs Heimatinsel Skúfey vorbringt, während Sigurðr in friedlicher Absicht dorthin aufbricht, um dort von seinen Gegnern in die Falle gelockt zu werden. Damit tragen für den zweiten Handlungskreis der Færeyinga saga Pluralisierung und Inversion strukturell entscheidende Bedeutung. Nur, indem der ursprüngliche Konflikt narrativ erweitert wird, kann ein erzählerischer Schlusspunkt der Gesamthandlung erreicht werden, wie die Situation in der Herrschaftszeit Óláfrs des Heiligen oder die Konstellation von Þrándrs Neffen in ihrer alleinigen
8.5 Narrative Strategien der Komplexitätssteigerung
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Spiegelung Sigmundrs verdeutlichen. Werden vorgängige Konstellationen lediglich wiederholt, ist ein Abschluss der Erzählung nicht erreichbar. Während insofern nur Pluralisierung und Inversion die Erzählung an ihr Ende bringen können, spielen jedoch Spiegelung und paralleler Aufbau weiter eine bedeutende Rolle in der Gesamtorganisation der semantisch stets zweigliedrigen Saga. Die weitgehend in Parallelität zu den Ereignissen des ersten Handlungskreises ausgestalteten Elemente der zweiten Teilhandlung weisen einerseits den Text als eine Gesamtheit aus und stiften andererseits interne Ordnung. Insgesamt prägen somit deutlich ausgestaltete Dichotomien in paralleler Darstellung sowie eine sehr regelhafte Abfolge wiederholender, aber zunehmend pluralisierter und invertierter Erzählschritte den strukturellen Gesamtaufbau der Saga. Die zweiteilige Struktur des Textes bedingt dabei seinen parallelen Aufbau. Dieser wird vor allem im ersten Handlungskreis dazu eingesetzt, einen dem erzählerischen Prinzip von Inversion und Pluralisierung im zweiten Handlungskreis ähnlichen Effekt für Rezipientensympathien und narrative Erwartungen zu erzielen. Denn wie Glauser bemerkt, handelt es sich bei der Færeyinga saga gerade nicht um eine »bloße ideologische Propagandaschrift«,237 trotz ihrer unmittelbar deutlichen Zweigeteiltheit und vermeintlich klaren axiologischen Gliederung. Neben der von Glauser in diesem Zusammenhang angesprochenen Erzähltechnik238 ist dies auch Effekt der Textstruktur. Oben wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass Dichotomien die Oberflächenstruktur der Saga unbestreitbar bestimmen, indem ihre Protagonisten durchgängig im Kontrast zueinander entwickelt werden. Jedoch hat die Analyse dieser Protagonisten ergeben, dass die dichotomische Organisation des Figurenensembles keineswegs der Leitung der Interpretation dient, sondern im Gegenteil die offene Gegeneinanderstellung der Oppositionspaare das Hauptanliegen der Erzählung zu sein scheint. Die symmetrische Textstruktur führt dazu, dass die diametral gegensätzlichen Figurenkonzeptionen parallel neben- und nacheinander verhandelt werden. Sie erscheinen dadurch gleichberechtigt im Erzählgang, ohne dass eine Seite privilegiert würde. Die Anreicherung der Dichotomie von Sigmundr und Þrándr mit mythischen Beiklängen lässt, wie oben gezeigt, durch ihre weitgehend implizite Verortung zudem ein Prinzip großer Offenheit im Text erkennen, das den Rezipienten selbst überantwortet, einen weitergehenden Sinn aus ihrem Vorhandensein abzuleiten. Doch die Dichotomie erweist sich nicht allein in dieser Hinsicht als sehr offen gegeneinander konzipiert. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn durch die Darstellung erweckte Rezipientenerwartungen mit Regelmäßigkeit enttäuscht und sagatypische Darstellungsstrategien invertiert werden. Die Erzählung entscheidet sich also nicht für den Weg, die Rezipientenerwartungen zu erfüllen, die durch die Extremität der binären Polarisierung an der Textoberfläche erzeugt werden. In einem unmittelbaren Eindruck erscheint so Sigmundr unzweifelhaft als sympa-
237 Glauser 1994, S. 116. 238 Vgl. Glauser 1994, S. 116. Zur Erzähltechnik der Saga vgl. bes. Kap. 3 u. Kap. 5.
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8 Vielseitigkeit in Einheit. Zur narrativen Struktur der Færeyinga saga
thischer, wenn auch nicht fehlerloser ›Held‹ der Erzählung, während Þrándr in seinem rücksichtslosen Machtstreben als abgründige Figur entworfen wird. Anstatt aber diesen Eindruck zu verfestigen und durch den Narrationsverlauf die Interpretation beider Figuren als gut und böse zu bestätigen, nimmt die Narrationsentwicklung einen gänzlich andersgearteten Verlauf: Sigmundr stirbt und Þrándr bleibt über weite Teile der Erzählung siegreich. Nicht alleine die Erwartungen eines Rezipienten, der aus der moralisch überlegenen Darstellung Sigmundrs den Schluss zieht, er müsse die Hauptfigur der Gesamterzählung sein, werden allerdings invertiert, sondern ebenso narrative Konventionen. So lässt die im Vergleich zu seinem unmoralischen Gegner ungleich längere Fokalisierung Sigmundrs als primärer Akteur des Geschehens, durchgängig von Kapitel 10 bis 38, also über die Hälfte der Erzählzeit, schon erzähltechnisch die Erwartung entstehen, er müsse währenddessen als erzählerisches Zentrum der Saga fungieren. Doch ab dem Zeitpunkt seiner Rückkehr auf die Färöer ist es Þrándr, der hintergründig die Erzählung dominiert, da durch das mit ihm verbundene semantische Feld bestimmt wird, wie Herrschaft und Verhalten auf den Färöern ausgestaltet sein müssen. Diesen Herrschaftsprinzipien kann Sigmundr gerade aufgrund seiner narrativen Ausgestaltung nicht entsprechen. Er kann den Voraussetzungen, die Þrándrs Herrschaftsübernahme auf den Färöern geschaffen hat, weder persönlich noch in Bezug auf das semantische Feld der dort etablierten Erzählwelt erfüllen und scheitert folglich in seinen Bemühungen. Insofern zerstört die Erzählung die durch ihre dichotomische Struktur vordergründig erweckten Erwartungen. Die paritätische Abfolge der Fokalisierung beider Figuren auf der Handlungsebene in Glausers Move 1 und 2 eröffnet somit die dichotomisch ausgestaltete Strukturierung des Textes und die folgende Inversion der Erwartungen, die ab dem Zeitpunkt offenbar wird, in dem beide Figuren sich im gleichen Erzählraum aufhalten. Die auf Dichotomien basierte Gestaltung von Sigmundr und Þrándr dient somit dem Zweck, vordergründige Sympathien und narrative Erwartungen zu erzielen, um diese zu invertieren. Durch die vordringliche Stilisierung von Dichotomien dieser Art und der Unterwanderung der dadurch hervorgerufenen Erwartungen gelingt es der Narration der Færeyinga saga, hohe Komplexität zu erzeugen. Von derselben Komplexität zeugen die Figurenzeichnungen selbst: Þrándrs widersprüchliche Darstellung als hinn versti maðr […] ꜳ norðr lỏndvm,239 der seiner Umgebung aber doch so viel voraushat, dass er seine eigene Herrschaft effektiv durchsetzen kann, macht ihn zur schwer fassbaren Figur. Dazu trägt auch die destabilisierte Erzähltechnik bei, die mit Konventionen bricht, den Rezipienten irreführt und zur eigenständigen Beurteilung dieser Figur aufruft. Sigmundr wird die gleiche Komplexität auf einer anderen Ebene zugebilligt: In seinem Fall ist sie weniger charakterlich denn narrativ angelegt, indem seine Figurenanlage zwar eindeutiger festlegbar, aber in hohem Maße liminal geprägt ist. Sinn der zweigliedrigen Narrationsentwicklung scheint es
239 Fær, S. 79 (der schlimmste Mensch in den Nordlanden).
8.5 Narrative Strategien der Komplexitätssteigerung
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somit weniger zu sein, eindeutige Sympathien hervorzurufen und davon ausgehend eine ethische Didaxe zu erzielen. Das Unterlaufen der aufgebauten narrativen Erwartungen verkompliziert die moralische Interpretation der Saga und dient dazu, unmissverständliche Sympathien der Rezipienten mit beiden Konfliktseiten zu vermeiden.240 Eine ähnliche narrative Strategie der Interpretationsverkomplizierung stellt die Kombination der Thematiken von Unabhängigkeit der Nordatlantikinseln und Christianisierung dar – während gerade der unmoralische Þrándr wenigstens scheinbar die Unabhängigkeit der Färöer garantiert, symbolisiert der christliche Missionar völlige Abhängigkeit vom norwegischen Königshof. Gerade innerhalb dieser in der bisherigen Forschungsliteratur häufig betonten Dichotomie ergibt sich somit der Befund, dass sie weit weniger stark hervorgehoben ist, als sie vordergründig stilisiert wird. Auch hier werden etwaige Erwartungen von Rezipienten und Narration selbst invertiert: Der Vertreter des Christentums scheitert, nachdem er die Bekehrung durchgesetzt hat, ist zudem über seinen Ring der Þorgerðr auch mit dem Heidentum verbunden, und steht ebenso für die Negativseite der zweiten Thematik, für die man eine positive Evaluierung seitens des Textes annehmen könnte, der Unabhängigkeit. Beide Figuren sind in sich damit mehrdeutig angelegt, und ihre Gegeneinanderstellung ohne eine abschließende Wertung seitens einer textlichen Instanz erzeugt ein zusätzliches Maß an narrativer Offenheit. Zwar wird Þrándr von König Óláfr Tryggvason mit der oben zitierten Formulierung verunglimpft, dem steht jedoch die positive Bewertung seitens Þóra Sigmundardóttir entgegen. Und Sigmundr stirbt zwar, ist aber eindeutig diejenige Figur, die moralische und soziale Prosperität der dargestellten Gesellschaft auf ihrer Seite hat. Welche der binären Oppositionen, die beide Figuren ausdrücken, die ›richtige‹ ist, wird so weder durch die ohnehin zurückgehaltene Erzählstimme noch durch die narrative Bearbeitung des Stoffes eindeutig aufgelöst. Im Gegenteil wirkt das Anliegen der Textstruktur daraufhin ausgerichtet, jede mögliche, in ihr angelegte Interpretation mit Störfaktoren zu durchsetzen, sich der Eindeutigkeit explizit zu verweigern und Offenheit zu erzeugen. Die Rezipienten, denen eine solche Erzählung über Macht in dieser Art präsentiert wird, müssen sich selbst Antworten auf die implizierten Fragen des Textes überlegen: Sie werden zu selbstständigen Sinnbildungsmaßnahmen aufgerufen. Für die Struktur der Færeyinga saga bedeutet das, dass die von Glauser angenommene »strikt oppositorische Gliederung«241 nicht erst in der zweiten Handlungshälfte verwischt wird. Zwar ist der Befund der binären Strukturierung der Textoberfläche insbesondere für den ersten Handlungsteil korrekt, jedoch wird durch die narrative Inversionsstrategie der Präsentation die Aussage – oder Ideologie – des Gesamttextes, wie ihn seine Oberfläche präsentiert, unterlaufen. Die binäre Oberflächenstruktur des ersten Handlungskreises der Færeyinga saga erschafft durch ihre Darstellungsweise in Kombination mit
240 Für ähnliche narrative Strategien in der Hrafnkels saga Freysgoða vgl. Shortt-Butler 2016. 241 Glauser 1989, S. 216.
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8 Vielseitigkeit in Einheit. Zur narrativen Struktur der Færeyinga saga
der narrativen Strategie der Inversion nicht allein eine zweigeteilte Gliederung des Konflikts, sondern macht zugleich eine eindeutige Interpretation dieses Befundes unmöglich. Eindeutigkeit scheint ob der zweigeteilten Struktur des Textes nicht das Anliegen zu sein, das er an seine Rezipienten vermittelt. Fokuswechsel innerhalb des zentralen Konflikts und Verdrehung von narrativen und interpretativen Erwartungen dienen hingegen dazu, die Rezipienten aufmerksam, zugleich aber auch unentschlossen zu halten. Dieses Ziel kann dabei aber nur durch eine vordringliche, unmittelbar anschlussfähige und absolut anmutende Zweigeteiltheit der Darstellung erreicht werden.
9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick 9.1 Fazit: Unbestimmtheit als Erzählprinzip Fragt man zusammenfassend nach Ideologie, Weltsicht und literarischer Funktionsweise der Færeyinga saga, so ist im Lichte der hier vorgelegten Untersuchung zunächst eine Dominanz der Thematik von Macht über sämtliche Aspekte der Erzählung hervorzuheben. Die gesamte Erzählung, so konnte erwiesen werden, dreht sich um den Streit ihrer Figuren um die politische Macht über die ›fernen Inseln‹, deren Geschichte sie darstellt. Dabei verhandeln diese Figuren ihre jeweiligen Machtkompetenzen nicht allein autonom unter sich, wie die isländische Elite, deren Interaktion und Biographien die Isländersagas verarbeiten. Dem Gesamtgeschehen ist hingegen ein stetiger Rückbezug auf einen a priori gegebenen Herrschaftsanspruch des norwegischen Reiches und seiner Jarle und Könige über diese Inseln am Rande ihres politischen Einflussbereiches eingeschrieben. Im Zuge der an dieser Konstellation ausgefalteten Machtstreitigkeiten tritt, ebenfalls im Unterschied zu den Isländersagas, keine breiter gefasste Öffentlichkeit in den Blickwinkel der Erzählung. Entsprechend stellt die Saga dezidiert nicht die Frage nach den Auswirkungen der politischen Uneinigkeiten im Kreis der sozialen Oberschicht auf ein ausdifferenziertes Gesellschaftssystem. Im Gegensatz etwa zu den Königssagas steht allerdings auch nicht der Herrschaftsanspruch der norwegischen Monarchen über den nordatlantischen Archipel als Teil ihres Reiches im Interessenszentrum der Gesamterzählung, sondern dieser bildet lediglich die Rahmenbedingung für die Entfaltung des Konflikts der färöischen Protagonisten im Erzählgang. Das Zentrum der Plotentwicklung bildet der inner-färöische Machtkampf und diese thematische Zentralsetzung strahlt als Grundparameter auf die narrative Entwicklung und Gestaltung der Handlung zurück. Sie ist in umfänglichem Sinne »Problem-orientiert«1 und lässt sich strukturell als regelhafte Abfolge von Aktion und Reaktion bestimmen. Þrándr í Gǫtu greift zu Beginn der Saga aus eigenem Machtwillen in einen ohne sein Zutun ausgelösten Streit der eigentlichen Herrschaftsparteien ein, um ihn für sich auszunutzen und sich selbst zum Alleinherrscher aufzuschwingen. Dass dabei Sigmundrs Vater zu Tode kommt und er selbst unschuldig in die Sklaverei verkauft wird, durch eine glückliche Fügung aber freikommt, begründet seinen folgenden Aufstieg im Dienst des norwegischen Jarlshofes, der ihm dazu dient, die ihm legitim gebührende Position zurückzuerobern und Rache zu nehmen. Der eigene Machtverlust löst Þrándrs Gegenreaktion aus, die im Tod seines Konkurrenten gipfelt. Dieser wiederum begründet den Wunsch nach Rache in Sigmundrs Tochter und den Versuch Óláfrs des
1 Glauser 1989, S. 221. https://doi.org/10.1515/9783110774979-009
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
Heiligen, die abtrünnigen Inseln über eine Besteuerung wieder zum festen Teil seines Reiches zu machen. Den letzteren Gegner seiner eigenen Interessen vermag Þrándr erneut effektiv auszuschalten, doch in Sigmundrs Tochter Þóra findet auch er seinen Meister. Als Þrándr schließlich durch die Entlassung seiner Neffen aus seinem Dienst die eigene Machtposition entscheidend schwächt, können Þóras Ziele und die Leifr Ǫzurarsons eine wechselseitig fruchtbare Allianz eingehen, die schließlich Leifr, ebenfalls einen Erben der ursprünglich als legitim ausgewiesenen Machthaber, zum Alleinherrscher der Inseln macht. In diese Grundstruktur der politisch begründeten Auseinandersetzung wird eine Vielzahl verschiedener Themen eingebunden, die letztlich jedoch alle im Sinne der Weiterentwicklung der zentralen Machtfrage narrativ funktionalisiert werden. Der Dualismus von Þrándr und Sigmundr schließt so die Frage politischer Eigenständigkeit der Färöer im Verhältnis zum norwegischen Reich ebenso mit ein wie die Dichotomie von heidnischem und christlichem Glauben. Eine wechselseitig bedingte und zugleich doppelt perspektivierte Raumkonzeption zwischen den beiden Handlungsräumen Färöer und Norwegen konnte als hochgradig dynamisch und bestimmend für die Plotentwicklung erwiesen werden. Dabei entspricht die Beziehung beider Räume zueinander dem Zentrum-Peripherie-Modell im Konzept der »Semiosphäre«, das von Jurij Lotman entwickelt wurde.2 Dieses Raumkonzept der Saga resultiert in der Zentralstellung der Handlungsträger und deren Interaktion, die auf ihre eigene Dominanz über den Raum der Färöer drängen. Als am Erfolgreichsten stellt sich dabei Þrándrs Vorgehensweise heraus, dessen Darstellung entsprechend definiert, unter welchen Maßgaben Herrschaft auf den Färöern funktioniert. Die Dichotomie von ›Kolonie‹ und ›Mutterland‹ dient so als Hintergrundfolie der Plotentwicklung, verhandelt aber nicht eigentlich eine Frage von Unabhängigkeit oder Unterwerfung, weil die raumsemantische Perspektive innerhalb einer einzigen »Semiosphäre« im Text kein einseitiges Gefälle, sondern eine Interdependenz beider Räume herstellt. Þrándr herrscht so lange Zeit in unabhängigem Recht von der norwegischen Krone, doch am Ende stellt Leifr durch seine Lehnsnahme bei Hofe wieder das ursprüngliche Primat Norwegens über die Färöer her. Der Glaubenswechsel im Zuge der Christianisierungssequenz hingegen wird sowohl von Sigmundr, als auch seinem König Óláfr Tryggvason und ihrem Gegner Þrándr als reines Machtmittel benutzt und stellt insofern im Text keine absolute Scheidewand zwischen vorchristlicher und christlicher Zeit dar. Die gegensätzliche Konzeption beider Protagonisten ändert sich durch den Religionswechsel nicht, sondern wird dadurch nur um eine weitere Facette erweitert. Weitergehend stößt eine Durchwirkung des Konkurrenzkampfes beider Figuren mit Elementen, die aus einem heidnischmythischen Erzählkosmos angereichert scheinen, sogar die Frage an, inwiefern sich deren Wirkmächtigkeit im Ablauf der Ereignisse zu erkennen gibt.
2 Siehe Lotman 1990.
9.1 Fazit: Unbestimmtheit als Erzählprinzip
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Unabhängigkeits- ebenso wie Religionsthematik sind somit als Teilkomponenten des politischen Konflikts anzusprechen, dessen Entwicklungen und Verwerfungen die Erzählhandlung umreißt. In der Færeyinga saga sind insbesondere Sigmundrs politische und religionssystematische Affiliationen letztendlich zufällige und sich situationsbedingt ergebende Momente seiner Biographie und seines eigenen Machtstrebens in seinem Heimatland. Þrándrs Politik ist hingegen grundsätzlich auf die allumfassende Durchsetzung des eigenen Herrschaftsanspruchs ausgelegt, sodass er dauerhaft eine Agenda der Unabhängigkeit im Sinne der eigenen Nicht-Unterordnung verfolgt und dafür sogar sein religiöses Bekenntnis als Machtmittel einsetzt. Somit lässt sich die Forschungsperspektive abweisen, die den hauptsächlichen Gehalt der Færeyinga saga in den Thematiken von Unabhängigkeit und Religionswechsel ausmachte. Während die Komplexität der Narration auch in diesen Untersuchungen nicht unbeachtet geblieben ist, scheint doch die schnelle Konzentration auf die Komponente der »Ideologie« des Textes3 im Lichte der näheren Textanalyse korrekturbedürftig. Schon die widersprüchliche Situation in Bezug auf das Herrschaftsrecht Norwegens auf den Färöern, das lange Zeit abgewiesen, am Ende aber doch bestätigt wird, sowie die Tatsache, dass die Christianisierung als wichtige Etappe des Erzählganges bestehen bleibt, aber nur als ein weiteres Feld eines größeren Machtkampfes ausgestaltet ist, und dabei der christliche Missionar seinem widerständischen und apostatischen Gegner letztendlich unterliegt, zeigt, dass eine eindeutige ideologische Einfärbung des Textes von mehreren Störfaktoren und Paradoxien der Darstellung behindert wird. Wiederholt musste so in der hier vorgelegten Analyse dieses Machtkampfes als Grundkonstituente der Færeyinga saga festgehalten werden, dass der Gehalt dieser Erzählung sich überhaupt kaum eindeutig aus dem Text heraus festschreiben lässt. Im Gegenteil scheint sein Anliegen sogar zu sein, Eindeutigkeiten möglichst stringent zu vermeiden. So werden in Regelmäßigkeit Rezipientenerwartungen enttäuscht, gar ad absurdum geführt, und in kritischen Momenten der Handlung zeigt sich eine Darstellungstechnik, die mitunter ein kunstvolles Spiel ganzer Narrationsebenen in Gang setzt. Ihr Kennzeichen ist dabei das Verschweigen, das Nicht-Erzählen: Essenzielle Elemente des dargestellten Plots werden in ihrem Kern verundeutlicht und allein der Interpretation durch die Rezipienten überantwortet. Dieselbe Undeutlichkeit kommt zum Tragen, wenn durch geschickt konstruierte Ortswechsel unterschiedliche Figuren zu bestimmten Zeiten auf der Textoberfläche als Zentralinstanzen des Handlungsganges fokussiert werden, nur um danach wieder aus dem narrativen Zentrum zu gleiten und sich letztendlich gerade nicht als die Haupthand-
3 Einige der älteren Studien zur Saga tragen den Anspruch auf die Analyse im Text zu Tage tretender »Ideologie« wortwörtlich im Titel: So lautet etwa der Titel des Sagakonferenz-Beitrags von SkyumNielsen aus dem Jahr 1973 bereits »Ideology Transfered Into Epic«, während Guldagers zwei Jahre später erschienene Monographie die Saga als eksempel på ideologi i det islandske middelaldersamfund liest. Noch Glauser 1994, S. 116 unterstellt dem Text eine Tendenz zur »ideologischen Propagandaschrift«.
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
lungsträger auszuweisen, zu denen sie zeitweilig stilisiert werden. Die diametral entgegengesetzten Figurencharakteristiken dienen diesem Ziel: Während Sigmundr als Ausbund einer ›Helden‹-Figur der Sagagesellschaft dargestellt wird, unterliegt er im politischen Zweikampf mit Þrándr deutlich. Dabei ist das Ausschlusskriterium nicht seine Unselbstständigkeit im Sinne der Abhängigkeit vom norwegischen Fürstenhof, wie der letztendliche Sieg seiner Tochter und seines königstreuen Schwiegersohns erweist. Þrándrs moralische Defizite hingegen verwehren ihm weder die Rolle als letztendliche Gesamtfokusinstanz der Erzählung noch als erfolgreicher Politiker, und die Destabilisierung der Erzählinstanz dient weitgehend seiner erzählerischen Schonung. Und auch die Skrupellosigkeit und Listigkeit, die Þóra und Leifr im Zuge ihres erfolgreichen Wegs zur alleinigen Vorherrschaft auf den Färöern an den Tag legen, zeigen an, dass moralische Verwerflichkeit in der Færeyinga saga geradezu als Voraussetzung erfolgreicher, politischer Langzeitstrategie und Herrschaftsbildung betrachtet werden muss. Die politische Botschaft, die der Text in dieser Hinsicht auszudrückt, ließe sich insofern als Aufruf zu strategischer Langzeitplanung verstehen, gegebenenfalls samt der Bereitschaft, die Grenzen des moralisch Vertretbaren wenn nicht eindeutig zu überschreiten, so doch zumindest zu biegen und zu dehnen. Der politische Antimoralismus, der dieser impliziten Botschaft eingeschrieben ist, wird allerdings durch die Zeichnung der Gegenseite in der Figur Sigmundrs aufgewogen, die die Rezipientensympathie erheblich direkter anspricht. Zudem gibt die Færeyinga saga auch ein Gegenmodell zu Þrándrs unmoralischer Herrschaftsaneignung an die Hand: Die erfolgreichste seiner Gegenfiguren ist Jarl Hákon, der Politik ähnlich nur in Reaktion betreibt, dabei aber seine moralische Integrität behalten kann, weil er maßvoll bleibt. Auch Sigmundrs und Sigurðrs von kriegerischen Idealen geprägte Politik wird ein gewisses Maß an Erfolg zugebilligt, allerdings ist dieses zeitlich erheblich beschränkt. Eine politische Didaxe lässt sich der Erzählung insofern nicht unterstellen. Es gibt verschiedene Wege an die Macht und verschiedene Gründe, die zu Machtverlust führen. Einige von ihnen werden, verdichtet in den Haupthandlungsträgern, in der Færeyinga saga narrativ abgearbeitet, dabei aber offen gegeneinandergestellt, ohne sie kommentierend zu evaluieren. Auch der Sympathiewert der Figuren für den Rezeptionsvorgang wird so gebrochen: Sigmundr ist eine leuchtende Gestalt, die aber zwischen den Ansprüchen ihrer Herrschaft und dem Ethos ihres Kriegertums derartig gefangen ist, dass sie schließlich stirbt. Dennoch wird sie den Rezipienten so eindringlich nahegebracht, dass die Erwartung ihrer abschließenden Durchsetzung hervorgerufen wird. Þrándr hingegen vermag mit seinem taktischen Geschick und seiner Gerissenheit gegebenenfalls zu faszinieren, ist aber nichtsdestotrotz ein skrupelloser Egoist, der in grenzenloser Selbstsucht keine allgemein rechtfertigbaren Ziele verfolgt. Auch er jedoch unterliegt schließlich Leifr und Þóra. Erwartungen und Sympathien werden durch die Figurenportraits insofern konstant hervorgerufen, aber unterlaufen und enttäuscht. Es wirkt geradezu, als erwecke die Erzählung Erwartungen, um sie ins Leere laufen zu lassen. Darüber hinaus wird keine der
9.1 Fazit: Unbestimmtheit als Erzählprinzip
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auftretenden Figuren auf einer absoluten, oberhalb der Diegese und ihren Angehörigen selbst angesiedelten Ebene eindeutig bewertet, etwa durch die Erzählstimme. Im Gegenteil werden die Figuren in ihren Eigenschaften, Zielen und Vorgehensweise lediglich in eine weitgehend offen gestaltete Konkurrenz zueinander geschickt, über die bestenfalls die Ergebnisse ihres Handelns ein implizites Urteil zu formulieren im Stande sind. Darüber hinaus sind fast sämtliche Hauptfiguren hochkomplex und in sich bereits mehrdeutig und durchaus widersprüchlich gezeichnet. In Þrándrs Fall dient diesem Ziel insbesondere die destabilisierte Darstellung von Schlüsselszenen der Interpretation seiner Figurenanlage: Dieses erzählerische Ungleichgewicht fordert die Rezipienten dazu auf, eigenständige Sinnzusammenhänge aus dem Erzählten, aber halb-verschwiegenen zu konstruieren. Sigmundr hingegen befindet sich hinsichtlich seines erzählstrukturellen Aufbaus im offen erkennbaren Umbruch mehrerer Erzählkonzepte, einerseits einer ›höfisiert‹ wirkenden Matrix, die ihn auf die als legitim ausgewiesene Herrschaftsposition führt und ihn in den Dienst durch einen Hof abgesegneter Ordnungsetablierung stellt, andererseits einer ›heroisch‹ wirkenden Charakterzeichnung, deren Grundbedingung ihre Exorbitanz ist. Zugleich mediiert er ständig zwischen diversen Positionen, ohne seinen eigenen Wert durchsetzen zu können. Sigurðrs schlechter Ruf am Ende der Erzählung konstituiert sich mehr oder minder unabhängig von seinen tatsächlich begangenen (Un-)Taten und befördert ihn in eine doppeldeutige Position: Einerseits werden die Rezipienten schon aufgrund des betont schlechten Rufes in der Öffentlichkeit gegen ihn prädisponiert, andererseits gibt der Erzählgang konkret eine divergierende Entwicklung an, die Sigurðrs tatsächlichen Charakter als immerhin etwas andersartig erscheinen lässt, als ihn sein Ruf in der Öffentlichkeit zeichnet. Leifr schließlich definiert seine Macht und seinen Wert stets nur aus dem Kontext an Figuren, der ihm beigestellt ist, während eine eigene Handlungsagenda kaum greifbar wird. Im Kern sind alle diese Figuren insofern mehrdeutig gestaltet, und das abschließende Urteil über sie muss durch die Rezipienten gefällt werden. Mithin kann als die Hauptthematik der Færeyinga saga also ihr politischer Diskurs gesetzt werden, der sich aber in einer in hohem Maße ausgewogenen Darstellung erschöpft. Die Bewertung wird den Rezipienten überantwortet, während die Erzählstimme sich damit begnügt, jedenfalls vorgeblich ›objektiv‹ Abläufe eines politischen Konflikts und Charakteristika der am Machtkampf beteiligten Figurenriege lediglich darzustellen. Þrándr, Jarl Hákon, Sigmundr, die beide Könige Óláfr Tryggvason und Haraldsson, Leifr: Sie alle streiten aus konkurrierenden Motivationen heraus und in unterschiedlichen Vorgehensweisen um Macht und politischen Einfluss, und einige Figuren sind dabei aus verschiedenen Gründen erfolgreicher als andere, während andere Figuren moralischer und/oder sympathischer gezeichnet werden. Insgesamt werden dabei alle in der Saga auftretenden Hauptfiguren wenigstens in ihrem Zusammenspiel überaus rund und ›lebensnah‹ portraitiert, indem ein hoher Grad an erzählerisch-figürlicher Profilierung erreicht wird. Ausgerichtet auf den zentralen politischen Diskurs ergibt sich somit der Befund, dass unterschiedliche Herrschertypen
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
erzählerisch in Konkurrenz zueinander gesetzt werden, und in ihrer charakterlichen Unterschiedlichkeit zueinander stark betont dargestellt werden, wobei ein abschließendes Urteil im Sinne von Rechtfertigung oder Moralität vom Text selbst nicht getroffen wird. Im Gegenteil dient die in hohem Maße ausgewogene Gesamtstruktur des Textes dem Ziel, offene und eindeutige Sympathien des Rezipienten für eine bestimmte Figur oder Figurengruppe zu unterdrücken oder zu verkomplizieren, während gleichzeitig ebenso eindeutige Negativwertungen unmöglich gemacht oder wenigstens deutlich erschwert werden. Zentrales Anliegen des Textes ist also ein essenziell offener, seine verschiedenen Komponenten nur verhandelnder statt bewertender Diskurs über Macht und ihre Modalitäten. Den Rezipienten wird geradezu ein Kaleidoskop unterschiedlicher Herrscher präsentiert. Dem übergeordneten Ziel dieser Präsentation ist die destabilisierte Darstellungstechnik um die Figur Þrándrs ebenso verpflichtet wie die Auswahl der eingeflochtenen Themen und die Strukturierung der Gesamterzählung. So ist es am Ende trotz all ihrer Befreiung von Regeln und der erfolgreichen Etablierung einer eigenen Ordnung nicht Þrándrs politische Agenda, die ungehindert siegt, sondern sein ehemaliger Ziehsohn Leifr setzt mit Þrándrs Herrschaftsmethodik die Herrschaftsart durch, für die Sigmundr steht. Angesichts ihrer komplexen Figurenzeichnung, Erzähltechnik und Struktur scheint die Færeyinga saga also nicht daran interessiert, ideologisch gefärbte Botschaften an ihre Rezipienten zu vermitteln, sondern stellt vielmehr eine zwar schonungslose, aber ausgeglichene, Analyse von Macht und Machtstrukturen dar. Dabei sind ihre erzählerischen Kennzeichen Offenheit und Mehrdeutigkeit. Der machtpolitische Diskurs wird in der Erzählung in der Hauptsache lediglich entfaltet, während die sich daraus ergebenden Rückschlüsse derart verstrickt sind, dass eine eindeutige »Ideologie« des Textes an sich nicht festgestellt werden kann. Das erzählerische Grundprinzip, dem der machtpolitische Diskurs der Færeyinga saga somit folgt, lässt sich als Unbestimmtheit fassen. Die Erzählsituation der Saga insgesamt bildet damit einen Paradefall jener Narrative, die Koschorke in seiner Monographie von 2013 untersucht hat.4 Ihm zufolge gründet sich der Erfolg von Narrativen gerade auf die Tatsache, »dass sich [ihnen] kein fester Ort innerhalb der kulturellen Bedeutungsproduktion zuschreiben lässt.«5 Nicht trotz, sondern wegen der »ontologischen Indifferenz« ihrer Inhalte ebenso wie ihrer kommunikativen Funktion, der Unentscheidbarkeit zwischen ›Wahrheit‹ und ›Fiktion‹ bzw. ›Eigentlichkeit‹ und ›Uneigentlichkeit‹,6 sei die Erzählung besonders dazu geeignet, »Prozessdynamiken zum Ausdruck zu bringen.«7 Als »sprachliche Artikulationen von Veränderlichkeit«8 seien Narrative denn auch nicht durch Binärstrukturierung allein gänzlich zu erfassen:
4 5 6 7 8
Vgl. Koschorke 2013. Als Vorstellung seiner Theorie vgl. bereits Kap. 1.4.2. Koschorke 2013, S. 17. Vgl. Koschorke 2013, S. 16–19. Koschorke 2013, S. 21. Koschorke 2013, S. 22.
9.1 Fazit: Unbestimmtheit als Erzählprinzip
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Durch ihre Nicht-Festgelegtheit und innere Unruhe stellen [Erzählungen] Zugänge zu einem kulturellen Fluidum her, in dem binäre Codes sich allererst ausbilden, in Konkurrenzen oder Allianzen eintreten, sich wechselseitig schwächen, stärken, kreuzen, verfestigen oder auflösen.9
Demzufolge schlägt sich die Instabilität und Relativität menschlicher Welterfahrung, Sozialbindung und Sinnkonstruktion im Medium der Erzählung besonders effektiv nieder, da sich dieses Medium in sich selbst durch dieselbe Unschärfe und Unbestimmtheit auszeichnet wie der Inhalt, den es ausdrücken soll. Narrativ lässt sich die Kontingenz menschlichen Lebens besonders effektiv bewältigen, weil sich in Erzählungen die gesamte Komplexität und Widersprüchlichkeit abbilden lässt (bzw. bereits abgebildet ist), die das menschliche Dasein prägt.10 Insofern lassen sich menschliche Erfahrungen in ihrer komplexen Unschärfe gut im Medium der Erzählung umsetzen, und die Færeyinga saga scheint einen Modellfall dieser Tatsache darzustellen. In der widersprüchlichen Zeichnung von Þrándr und Sigmundr schlägt sich die Erfahrung nieder, dass Moral, politischer Erfolg und menschlich positive Eigenschaften nicht zwangsweise Hand in Hand gehen oder einander bedingen. Dabei wird die Relativität des abzuleitenden Befundes, nämlich, dass erfolgreiche Herrschaft zum großen Teil aus Antimoral erwächst, zum Effekt seiner narrativen Darstellung. Die Færeyinga saga erschöpft sich wenigstens vorderhand in der bloßen Abbildung des Wechselspiels, das der Kampf um Macht und Einfluss auf den Färöern mit sich bringt, und der Komponenten, die an diesem Machtdiskurs Anteil haben (wie der Unabhängigkeits- und der Religionsthematik). Macht als solche ist ein diffuses Wechsel-Phänomen, indem sich im sozialen Miteinander Dependenzen und Hierarchien ausbilden, deren Herleitung nicht immer offensichtlich sein muss. Diese grundsätzliche Erkenntnis reflektiert auch die Færeyinga saga, in der die Macht zum Zentralparameter des Erzählganges wird.11 Sie untersucht letztlich, wie sich die diffuse Kategorie der Macht in der Dynamik sozialer Beziehungen ausbildet, welche Eigenschaften eine Figur der anderen vorausha-
9 Koschorke 2013, S. 22. 10 Vgl. Koschorke 2013, S. 11, der das Schlagwort der »Kontingenzbewältigung« damit abweist, dass nicht alleine Sinnstiftung, sondern ebenso Sinnabbau Effekt von Erzählung sein könne. Dabei ist zu bemerken, dass sein Ansatz auf den Versuch hinausläuft, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit als Konstitutionsmerkmal von Narration zu stärken. Insofern wäre seiner Kritik der »Kontingenzbewältigung« als Funktion von Erzählungen entgegen zu halten, dass diese nicht allein durch die Stiftung von Sinn erfolgt, sondern Kontingenz ebenso durch die Darstellung von Sinnauflösung verarbeitet werden kann. Zur Kategorie von Sinnbildung und Sinnbindung im Zusammenspiel zwischen Erzählungen und sozialen Zusammenhängen vgl. auch Koschorke 2013, S. 148–166. 11 Insofern ergibt sich nach Betrachtung der Færeyinga saga in der Tat eine erstaunliche Konfluenz der Machttheorie von Michael Mann 1986–2012 auf Basis von Weber 1980 und der Erzähltheorie nach Koschorke 2013. Diffuse soziale Phänomene werden in ebenso diffusen und komplexen narrativen Mustern abgehandelt, um begreifbar zu werden, ohne dass dabei eine eindeutige Aussageabsicht feststellbar wäre. Es geht hier weniger um Zeitvertreib, Ideologie oder Erklärung, sondern um das Begreifen der umgebenden Realität an sich.
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
ben muss, um Macht über sie ausüben zu können. Sie analysiert, wie eine Figur mit dem Charakter von Þrándr, Sigmundr, Óláfr Tryggvason oder Leifr in ihrer Konstellation zu anderen Handlungsträgern Macht erlangen kann, welche Strategien sie dazu anwendet, welche verwirft. Dadurch zeigt sie auf, worin somit die Macht der jeweiligen Figur und Persönlichkeit besteht. Weitergehend stellt der Text auch Überlegungen dahingehend an, wie die Macht des Einzelnen im wechselhaften Zusammenspiel mit anderen, die nach ihr streben, sich wieder auflöst und verloren wird. Die Saga narrativiert insofern Macht selbst in ihrer sozial bedingten Dynamik und muss sich dazu einer in hohem Maße offenen und dynamischen Form der Erzählung bedienen. Ein uneindeutiges, soziales Phänomen kann nur in ebenso uneindeutiger, narrativer Form als Thema bewältigt werden, der Inhalt bestimmt seine Darstellungsweise. Eine Beurteilung trifft die Erzählung selbst dabei aber nicht. Allerdings muss sie dies auch nicht notwendigerweise: »In den Modellszenarien, die sich daraus ergeben, stellen Bedeutungsfixierung und Unschärfe, Ordnung und Unordnung, Integration und Desintegration keine strikten Gegensätze dar, sondern sind Komponenten eines beweglichen Wechselspiels.«12 Die individuelle Bedeutung, die aus diesem Text generiert werden kann, ist damit grundsätzlich ebenso relativ wie der Inhalt, den sie darstellt: Politische Machtkonstellationen sind ebenso fluide wie die Lehren, die die Rezipienten aus der Darstellung ihrer Dynamiken ziehen können. Anders ausgedrückt: Die komplexe, widersprüchliche und weitgehend unbestimmte Darstellung des Plotinhalts der Færeyinga saga ist einerseits schlichter Ausfluss ihrer Eigenschaft als Erzählung und andererseits gerade deswegen bedenkenswert. Denn durch diese Offenheit erzielt die Saga einen hohen ›Realismus‹-Effekt. Die Figuren wirken ›lebensecht‹ gerade wegen ihrer widersprüchlichen Darstellung und die Dynamik und Veränderlichkeit realer politischer Gegebenheiten und Entwicklungen kann wirkungsecht eingefangen werden. Deren reine Analyse steht im Zentrum der Færeyinga saga, und die kunstvolle Inszenierung des ›Schwebezustands‹ hinsichtlich der Aussage, die sie vermitteln möchte, macht ihre erzählerische Effektivität aus. Die Erzählung garantiert hohe Anschlussfähigkeit, indem jede Schlussfolgerung, die durch die Festschreibung eines frei gewählten Elements der dargestellten Dynamik von politischen Machtprozessen in eine starre Sinnbindung erzielt werden soll, notwendigerweise relativ verbleibt. Eine solche Festschreibung muss sich in beinahe jedem Fall an den quer zu ihr stehenden Faktoren der Erzählung stoßen oder wenigstens reiben, und sie dementsprechend wegerklären, übergehen oder aber integrieren. Dadurch bleiben in der Interpretation allerdings narrative Reste zurück, die Grundlagen einer Gegeninterpretation bereits beinhalten und eine solche durch einen anderen Interpreten provozieren können. Der hohe Grad der Uneindeutigkeit des Textes legt viele Antwortmöglichkeiten ob seiner Sinndimension zugleich an, was den Zwang zur kommunikativen Aushandlung ihrer Referenz-
12 Koschorke 2013, S. 128–129.
9.1 Fazit: Unbestimmtheit als Erzählprinzip
623
gültigkeit mit sich bringt. Da jeder Rezipient der Færeyinga saga zu eigenständigen Sinnbildungsmaßnahmen aufgerufen wird, können viele unterschiedliche Interpretationen ihres Gehalts vorgelegt werden, die wiederum eine Kommunikation miteinander eingehen müssen, wenn sie zu einem gemeinsam als gültig erachteten Endergebnis gelangen wollen. Der unbestimmte Machtdiskurs der Saga dient also dazu, kommunikative Vergemeinschaftung unter ihren Rezipienten zu erzeugen, das unbestimmte Narrativ gebiert weitere Narrative. Darin deutet sich die Möglichkeit der Erzählung auf einen sozialen Relevanzgewinn ebenso an, wie sie in gewissem Sinne ›Eigenwerbung‹ betreibt. Ein abschließender Sinn und eine konstitutive Aussage lassen sich ihr nur in gemeinschaftlicher Auseinandersetzung zuschreiben, während dafür gleichzeitig eine tiefgreifende Textkenntnis zur Notwendigkeit wird. Die Saga setzt sich somit selbst zum Ziel, eine Debatte unter ihrem Rezipientenkreis zu erzeugen – und im Zuge dessen wieder und wieder rezipiert zu werden. Die sie rezipierende Gemeinschaft muss entscheiden, welche Botschaft aus ihrer Darstellung des machtpolitischen Konflikts auf den Färöern abzuleiten ist: Ob etwa eine Figur wie Þrándr für die dortige Gesellschaft positive Funktionen erfüllen kann, indem sie immerhin politische Unabhängigkeit vom norwegischen Königreich garantiert. Jedoch zahlt die färöische Gesellschaft dafür den Preis, vollständig von Þrándrs eigener, monarchischer Stellung dominiert zu werden – von einem Mann, für den außer den eigenen keine Regeln zu gelten scheinen, insbesondere nicht die von Moral und sozialer Reziprozität. Der Rezipientenkreis muss aus dieser Darstellung die Frage erörtern, ob eine solche Persönlichkeit politisch wünschenswert ist oder nicht. Alternativ wäre von den Rezipienten zu debattieren, ob eine Führungsfigur wie Sigmundr wünschenswerter erschiene, obwohl sie jegliche politische Eigenständigkeit aufgeben muss und sich ihr Erfolg als nicht langlebig erweist. Ebenso wäre zu beurteilen, ob Þóras Vorgehen aus Rache für den Tod ihres Vaters moralisch gerechtfertigt erscheint, obwohl ein im konkreten Fall explizit als unschuldig dargestellter Mann rücksichtslos ausgeschaltet wird: Sigurðr, der dezidiert entgegen Þóras Auffassung Leifr Þórisson nicht getötet hat. Und ist Leifrs letztendliche Herrschaft wirklich gottgewollt, obwohl er den Handlungsmaßstäben eines ›Mannes‹ der Sagagesellschaft nur mit nachdrücklicher Hilfestellung entspricht, sich selbst kaum profiliert und letztendlich im für ihn günstigsten Moment die Seite des Grundkonflikts vollständig wechselt? All diese Fragen können die Rezipient nur selbst und in einem größeren Kreis in Gemeinschaft beurteilen. Dazu müssen sich jedoch alle an der entsprechenden Sinnaushandlung Beteiligten intensiv mit dem Text auseinandergesetzt haben. Der offene Machtdiskurs des Textes befördert so seine sozial bedingte Anverwandlung ebenso, wie er das Potenzial anlegt, mehrfach rezipiert zu werden, um zu den tieferen Dimensionen seines Anliegens vorzudringen. Dabei wird zugleich ein hohes Maß an individueller Interpretierbarkeit garantiert,13 während der abstraktere Ge13 Von der die stark auseinanderdriftenden Interpretationen in der bisherigen Forschung Zeugnis ablegen.
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
halt des Politikdiskurses in ebenso hohem Maße allgemeingültig und fast zeitlos erscheint. Dass es dieser verhältnismäßig schlichte, aber dafür umso bemerkenswertere Befund ist, der das Hauptanliegen der Færeyinga saga prägt, macht die Erzählung selbst durch ihre destabilisierte Darstellungstechnik deutlich. Die Leerstellen, die sie damit generiert, dienen zwar vordergründig der moralischen Entlastung der Þrándr-Figur, zwingen die Rezipienten aber gerade dadurch zur aktiven Reflexion,14 und darüber hinaus zu kommunikativen Aushandlungsprozessen über den ›Sinn‹ des Dargestellten. All dies lässt die Annahme zu, dass Auslassungen, schwach motivierte oder durch Überdetermination beweglich gewordene Verknüpfungen eine integrative Wirkung entfalten und der kollektiven Anverwandlung eines Erzählstoffs förderlich sind. Deshalb kann man sagen, im Kern einer jeden guten Geschichte sei ein Rätsel verschlossen.15
Die Færeyinga saga, so lässt sich abschließend festhalten, über- oder unterdeterminiert fast sämtliche Verknüpfungen ihres Gehalts. Ein »Rätsel« liegt ihr damit sogar in mehrfacher Hinsicht zu Grunde. Die Verschweigetechnik ihrer Darstellung macht unaufgelöste Rätsel zum integrativen Teil der Erzählung und trägt damit zur Konstruktion des zweiten Rätsels bei, das sie ihrer Rezipientenschaft zur eigenen Auflösung überlässt: Das der Lehre, die aus ihrer Rezeption gezogen werden soll. Der Text verwehrt sich der Auflösung allerdings; er möchte offenkundig nicht belehren, sondern abbilden, verhandeln und nicht ideologisieren. So wird textimmanent eine narrative Welt entworfen, deren Dynamiken auserzählt werden und die ein in sich abgeschlossenes Abbild einer möglichen Wirklichkeit entwirft, dabei aber ihre eigenen Referenzwerte und Sinnverbindlichkeiten offenlässt: »Die Welt, die in diesem Raum zur Darstellung kommt, ist epistemologisch inkonsistent.«16 Epistemologisch inkonsistent ist nicht allein die dargestellte Welt, sondern auch ihre Bindung an die außertextliche Welt. Dies ist der Preis, den ein so offener Text wie die Færeyinga saga bezahlen muss, um effektiv werden zu können. Doch ist diese Inkonsistenz nicht allein Preis ihrer Narrativität, sondern auch ihr Vorteil: Die Anschlussfähigkeit, die sie damit generiert, sorgt für eine hohe Benutzbarkeit in unterschiedlichen Kontexten. Zudem schreibt sie sich gerade damit ihre Bedeutung selbst ein. Sie verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit sich ebenso wie eine Debatte über die Gültigkeit ihres Sinns. Die Macht, die in ihrem erzählerischen Zentrum steht und ihre unbestimmte Form bedingt, wird so auch zur Macht der Færeyinga saga als eines Narrativs. Weitab davon, unmissverständliche Botschaften zu vermitteln, stärkt der Text die Position der rezipierenden Gemeinschaft, indem er sie zu den
14 Oder, wie es North 2005, S. 60 treffend formuliert: »Some things must be read into Færeyinga saga if the saga is to make complete sense«. 15 Koschorke 2013, S. 76. 16 Koschorke 2013, S. 137.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext
625
Verantwortlichen seiner Aussage macht. Der Text entwickelt dadurch potenziell hohe soziale Strahlkraft. Er wählt sich ein umfangreiches und schwieriges Thema, begnügt sich aber damit, sich an sich daraus ergebenden Fragen abzuarbeiten. Er erzählt Macht und wird dadurch selbst als Erzählung machtvoll. Die Umsetzung von Macht in Erzählung ist, nach einer intensiven literarischen Analyse, der letztlich einzig eindeutige Zweck der Færeyinga saga als literarisches Werk. Weitergehende Sinngebungen lassen sich nur über ebenso intensive Analysen der diversen möglichen Kontexte dieses Textes erreichen, die im Rahmen der vorliegenden Studie nicht in gleichem Maße möglich waren. Ein kurzer Ausblick soll daher ihren Abschluss bilden.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext. Überlegungen zu Überlieferungssituation, Entstehungshintergrund und literaturgeschichtlicher Stellung der Færeyinga saga Zu Beginn der vorliegenden Studie wurden die diversen Problemfelder dargestellt, die eine Analyse der Færeyinga saga mit sich bringt und die durch ihre thematische Einzigartigkeit als historischer Text über die Färöer und ihre überaus komplexe Überlieferungssituation bedingt sind. Unzweifelhaft ergibt sich für die Saga als Ausgangslage einer auf ihren Kontext hin ausgerichteten Interpretation nur der Befund, dass sie aus dem isländischen Mittelalter stammt, ihren konstitutiven Zweck also in diesem Horizont finden muss. Darüber hinaus verbleiben die Eckpunkte ihres ›Sitzes im Leben‹, ihrer Position in der Literaturgeschichte Islands, ihrer Datierung und ihres konkreten, durch ihre Überlieferung bedingten Sinngebungsrahmens weithin ebenso in der Schwebe, wie der Machtdiskurs auf ihrer narrativen Ebene. Über viele dieser hier angerissenen Punkte können mehr oder minder nur Spekulationen angestellt werden, insbesondere über ihre Datierung. Diese wird aus nachvollziehbaren, wenn auch nicht unangreifbaren Gründen, auf Grundlage ihrer Intertextualität, wie sie Ólafur Halldórssons Studien eingehend behandeln, zumeist im sehr frühen 13. Jahrhundert angesetzt, obwohl die Færeyinga saga ›vollständig‹ nur in der Flateyjarbók aus dem späten 14. Jahrhundert erhalten ist. In einer möglichen, weitergehenden Kontextanalyse des Textes ergeben sich damit wenigstens zwei unterschiedliche Zeitebenen, in welche die im Zuge der hier vorgelegten, narratologischen Analyse erarbeiteten Ergebnisse rückgebunden werden können bzw. müssen: Einerseits den diskursiven Hintergrund Island etwa ein halbes Jahrhundert vor dem Ende der freistaatlichen Unabhängigkeit, andererseits den der handschriftlichen Großkompilation, die ursprünglich durch den Priester Jón Þórðarson im Auftrag Jón Hákonarsons angefertigt wurde. Darüber hinaus ergibt sich das Problem, die Textgestalt in ihrer Eigenschaft als Interpolationsteil der größeren Erzählkomplexe der Sagas über Óláfr Tryggvason
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
und Óláfr Haraldsson in deren jeweils unterschiedlichen Redaktionen sinnfällig zu machen. Im Zuge der vorliegenden Analyse konnte auf die bedauernden Worte Glausers, »die strukturelle Funktion der F[æreyinga] s[aga] für die umfangreicheren Erzählkomplexe über die Missionskönige aus dem 13. und frühen 14. [Jahrhundert] [bleibe] weitgehend ungeklärt«,17 nicht umfassend reagiert werden. Durch eine vergleichende Einbeziehung der unterschiedlichen Redaktionen der Færeyinga saga jeweils in anderen Textzeugen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta und der Óláfs saga helga zur Analyse der Flateyjarbók als Haupttext konnte jedoch erwiesen werden, dass die Erzählung in unterschiedlichen handschriftlichen Kontexten zweifelsohne unterschiedlichen Zielsetzungen dient, die auf die Gesamttextkonzeption rückwirken.
9.2.1 Unterschiedliche Texte, unterschiedliche Sinngebungen: Zur Gestalt der Færeyinga saga außerhalb der Flateyjarbók So dient der radikal kürzere Erzählgang der Redaktion in den Handschriften der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta außerhalb der Flateyjarbók der Zentralstellung von dessen Regierungszeit als eigentlicher Protagonist der Erzählung. Der Bericht über die Färöer endet konsequent nach dem Auftritt des Königs, der die Bekehrung der Inseln zum Christentum veranlasst. Dabei kommt es zu einer diametralen Umwertung der an der Handlung beteiligten Figuren. Sigmundr tritt hier als durchweg positiv gezeichneter, einziger Protagonist auf, dessen gesamte Biographie auf seine Begegnung mit König Óláfr hin ausgerichtet wird. Er führt im Auftrag des Königs die Christianisierung der Färöer durch, die für diese Redaktionen als Hauptkriterium und Anliegen der Einbeziehung des Stoffes betrachtet werden muss. Þrándr hingegen ist ein finsterer Antagonist, der unterliegt und zuvor nur aufgrund der Güte Sigmundrs, die als Vorverweis auf seinen späteren Übertritt zum Christentum gewertet werden kann, noch einen Teil seiner unrechtmäßig angeeigneten Machtposition auf den Färöern für sich behaupten kann. Dem Ziel dieser Darstellung dienen Textänderungen im Vergleich zur Færeyinga saga der Flateyjarbók auch auf submakrostrukturellem Level, wenn etwa von Beginn an das durch die norwegischen Herrscher auf den Färöern errichtete SysselSystem betont und der raumsemantische Entwurf des Handlungsschauplatzes Norwegen durch die Reduktion seiner Aufladung in einer Motivik von ›Folktales‹, Märchen und Vorzeitsagas als weit weniger ›andersartig‹ im Vergleich zu den Färöern gezeichnet wird. Die unterschiedlichen Redaktionen dienen so einem unterschiedlichen Sinn und damit auch einem unterschiedlichen Ziel des jeweiligen Verfassers. Dabei fallen auch für die jeweils verschiedenen Redaktionen der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta im internen Vergleich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auf.
17 Glauser 1994, S. 115.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext
627
So wird Þrándr in Redaktion B (AM 53 fol.) besonders deutlich verdammt, während Redaktion D (AM 62 fol.) sich bemüht, die Outlaw-Episode möglichst logisch und von vorne herein ohne die mysteriöse Erzählatmosphäre, die die Sequenz in der Flateyjarbók durchzieht, aufzulösen. Redaktion C (AM 54 fol.) weist hingegen ein noch geringeres Interesse für färöische Geographie auf, einschließlich der Erwähnung einer nicht-existenten Sauðey. Als vorläufiges Ergebnis diesbezüglich lässt sich festhalten, dass die Narration der Færeyinga saga dieser Textredaktionen im Gegensatz zur Flateyjarbók dezidiert nicht vom Prinzip der Unbestimmtheit beherrscht werden. Stattdessen verleiht ihnen eine recht eindeutige zugrundeliegende Ideologie ihre Form, die im Dienste des größeren Erzählkomplexes über Óláfr Tryggvason steht. Für diese Textredaktionen lassen sich die Interpretationen und Ergebnisse der bisherigen Forschung insofern als zutreffend festhalten: Hier geht es tatsächlich um die Rechtmäßigkeit kolonialer Unterordnung und der Durchsetzung des Christentums.18 Im Hintergrund der Darstellung lässt sich auch das isländische Prisma der Textentstehungssituation bestätigen, das Bonté herausgearbeitet hat:19 Während die Isländer sich der Freiwilligkeit ihrer Konversion unter Óláfr Tryggvason rühmen können,20 dient die Zwangskonversion und ihre Verquickung mit politischer Unterwerfung, wie sie die Geschichte von den Färöern präsentiert, in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta als negative Kontrastfolie. Das offene Narrationsprinzip der Flateyjarbók-Redaktion entfällt hier weitestgehend, eine ideologische Einfärbung der Darstellung, die ihre Ansicht der Dinge auf den Rezipienten zu übertragen bemüht ist, lässt sich dagegen im Text erkennen. Entsprechend steht im Zentrum der Erzählung auch nicht das Konzept der Macht an sich, sondern die rechtmäßige, göttlich legitimierte Autorität des Missionskönigs, der die heidnische Welt nach seinen Vorstellungen neu ordnen kann. Die so feststellbare Sinngebung des Textes, die ihren Gehalt im Vergleich zur Flateyjarbók dramatisch umwertet, lässt sich schlüssig mit dem klerikalen Hintergrund der Textentstehung der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta erklären. Zwar wird dezidiert isländische Unabhängigkeit durch die Darstellung implizit gerühmt, die anderen nordatlantischen Kolonien aber befinden sich zu Recht im Einflussbereich des norwegischen Reiches, und der Gesamtfokus liegt auf dem christlichen Königtum des namensgebenden Protagonisten der die Færeyinga saga umgebenden Großerzählung. Von dieser ideologisch gefärbten Textgestaltung deutlich unterschieden zeigt sich dagegen die Texteinbindung der Færeyinga saga in diverse Redaktionen der Óláfs saga helga, die Snorri Sturluson zugeschrieben wird. Der hier überlieferte Textabschnitt der Færeyinga saga beruht in seiner Darstellung durch die destabili-
18 Für diese Interpretation der Saga siehe Guldager 1975; Harris 1986, bes. S. 204–210; Guttesen 1999, S. 147; Mortensen 2005, S. 91; Bonté 2014a; Bonté 2014b; Harlan-Haughey 2015. 19 Siehe Bonté 2014a; Bonté 2014b. 20 Siehe Weber 2001a.
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
sierte Erzählinstanz maßgeblich auf dem Prinzip unbestimmter Offenheit, das auch die Flateyjarbók auszeichnet. Da die Redaktionen mit Ausnahme der Flateyjarbók jedoch nur die Kapitel 43 bis 48 enthalten, entfällt der Schluss der Erzählsequenz, der über die Darstellung von Þrándrs königsgleicher Machtposition die Auflösung der undeutlichen Erzählentwicklung zuvor zu bieten scheint. Dadurch enthält der Text dieser Redaktionen ein hohes Maß nicht aufgelöster Uneindeutigkeit, die umso mehr den Rezipienten die Sinnbarmachung der erzählten Vorgänge überantwortet. Ein szenisches Analogon der Vorgänge, wie sie die Flateyjarbók mit der HaleyriSzene enthält, entfällt hier ebenfalls; der Rest der Erzählung kann bestenfalls durch eine Kenntnis der weitergehenden Geschichte seitens der Rezipienten erschlossen werden. Die für die isländischen Sagas so häufig betonte und debattierte ›Objektivität‹ der Erzählsituation erreicht darin einen Höhepunkt, der sich durchaus mit der gängigen Vorstellung der literarischen Meisterschaft Snorri Sturlusons begründen ließe. Da jedoch die entsprechende Erzählsequenz auch in der Flateyjarbók auf eine Vorlagenhandschrift der Óláfs saga helga zurückzugehen scheint, ist eine Bewertung dahingehend, wie ›originalgetreu‹ hier die Darstellung einer hypothetisch ursprünglichen *Færeyinga saga übernommen worden sein mag, nicht möglich. Die Darstellungsweise und angedeutete Auflösung ex post in der Flateyjarbók passen sich indes in die grundsätzliche Erzählsituation um Þrándr auch an vorigen Stellen der Færeyinga saga nahtlos ein. Es ergibt sich insofern ein uneindeutiger Zwischenbefund: Snorri könnte für die meisterhaft destabilisierte und vermeintlich ›objektive‹ Darstellungsweise als verantwortlich angenommen werden, jedoch gestaltet sich eine endgültige Bewertung als schwierig. Obwohl die Darstellung im Einklang mit der offenen Textkomposition der Flateyjarbók-Redaktion steht, lässt sich durchaus die von Glauser formulierte Hypothese nachvollziehen, die Abschnitte über die Auseinandersetzungen der färöischen Anführer mit Olav dem Heiligen [seien] so in die Haupthandlung der Óláfs s[aga] helga ein[gefügt], daß sie die Darst[ellung] der Opposition der Isländer gegen den norw[egischen] König konturier[t]en und zur Glorifizierung der isl[ändischen] Standhaftigkeit beitr[ü]gen.21
Zieht man den Kontext des Abschnitts über die Färöer im Erzählkomplex der Óláfs saga helga zu Rate, schlägt sich ein Unabhängigkeitsdiskurs in der Darstellung des Textes nieder, wie ihn einige Forscher für die Saga insgesamt ansetzen.22 Der Besteuerungsversuch der Färöer wird in Parallele zur Interaktion Óláfrs des Heiligen mit den Isländern eröffnet und abgearbeitet, wobei der König in beiden Situationen entgegen seinem Beinamen als rein politischer Herrscher auftritt und in beiden Fällen letztendlich erfolglos bleibt. Die Erzählung über die Färöer konturiert den Handlungsverlauf der Óláfs saga helga insofern auch in Bezug auf dessen Kontakt mit
21 Glauser 1994, S. 115. 22 Siehe Skyum-Nielsen 1973; Haugan 1987; weiterhin Finnur Jónsson 1927, S. XIV; Ólafur Halldórsson 1987, S. ccxxxi–ccxxxii.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext
629
Island und lässt sich dabei als implizite »Glorifizierung isl[ändischer] Standhaftigkeit« verstehen. Die Färöer, von denen erfolgreicher Widerstand gegen die Besteuerungspläne durch Óláfr geleistet wird, werden damit zum nachahmungswürdigen Beispielfall Islands – ganz im Gegensatz zum Vergleich der Inseln mit Island, wie ihn die Óláfs saga Tryggvasonar en mesta anstrengt. Es ist verlockend, hinter dieser Darstellung der Abläufe vorläufig die Agenda Snorri Sturlusons, vor dem Hintergrund seiner persönlichen Biographie als isländischer Politiker am norwegischen Königshof ausmachen zu wollen. Eine abschließende Bewertung dieser Überlegung möchte die vorliegende Studie indessen nicht vornehmen: Eine solche bedürfte einer intensiveren Analyse des Zusammenhangs des Færeyinga saga-Abschnitts mit dem übrigen, Snorri zugeschriebenen Schrifttum, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden konnte. Gestalt und Ideologie des Textes mit der historischen Person Snorris zu verbinden, kann gute Gründe vorweisen – so etwa auch den vermeintlichen ›Óðinns‹-Auftritt vor Karl von Møre auf dem färöischen Þing, den ein mythologisch derart geschulter Mann wie Snorri in glaubhafter Weise entwickeln hätte können. Dennoch ist die überlieferungsbedingte Situation des entsprechenden Teilstücks der Færeyinga saga zu komplex, um solche Ergebnisse eindeutig formulieren zu können. Zu bedenken ist auch, dass hier ebenfalls unterschiedliche Textredaktionen unterschiedliche Zielsetzungen zum Ausdruck bringen, etwa wenn in Redaktion B (AM 68 fol., 1. Hälfte AM 61 fol.) Þrándrs Rolle in den Ereignissen wesentlich zu seinem Nachteil ausgestaltet wird.
9.2.2 Ein offener Text mit mehrschichtiger Funktion: Zu den Aufbauprinzipien der Flateyjarbók in Hinblick auf die Færeyinga saga Beide aus dem Textvergleich der vorliegenden Studie somit wahrscheinlich gewordenen, jedenfalls vorläufig als Rahmenideologien der texttragenden Óláfs sögur formulierbaren Diskursperspektiven scheinen in gewissem Sinne auch in die Textredaktion der Flateyjarbók hinein, die die beiden Textpartien der Christianisierung und des Færeyinga þáttr ok Óláfs konungs direkt aus Vorlagenmanuskripten beider Sagas zu übernehmen scheint. Diese Erzählsequenzen fügen sich jedenfalls überzeugend in den von Würth erarbeiteten Gestaltungsrahmen des Codex und die von ihr untersuchte Gesamtdarstellung der beiden Königsfiguren im Handlungsgang.23 Durch die isländischen Prismen der Darstellung – dem Gegensatz isländisch-freiheitlicher und färöisch-aufgezwungener Konversion einerseits und der Standhaftigkeit sowohl Islands als auch der Färöer bei der Abwehr von Herrschaftsansprüchen Óláfrs des Heiligen andererseits – wird Óláfr Tryggvason umso mehr in seiner Bedeutung für die isländische Geschichte hervorgehoben und Óláfr Haraldsson umso deutlicher zum gerechten König spezifisch seiner norwegischen Untertanen.
23 Siehe Würth 1991.
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
Die Einbindung des im Vergleich zu den anderen Redaktionen dramatisch längeren Textes der Færeyinga saga lässt sich hingegen nicht allein über diese Gesamtdarstellungsabsicht erklären. Er bietet, im Gegensatz zu Krakows Annahme,24 einen substanziell anderen Inhalt und eine nicht hauptsächlich ideologisch fundierte Aussageabsicht. Auf den ersten Blick widerspricht sogar die Zeichnung des erfolgreichen und moralisch nicht nachhaltig angreifbaren Jarl Hákon der Darstellung dieser Figur im restlichen Codex, etwa dem Þorleifs þáttr jarlsskálds. Óláfr Tryggvasons Auftritt wirkt zudem im Horizont der Färöer-Erzählung wie ein Übergriffsversuch mit der Absicht, den Deutungsrahmen der Geschichte umzuwerten, wie durch die Analyse seiner Figur erwiesen werden konnte. Das eminent politische und zudem offene Gestaltungsprinzip der Færeyinga saga in ihrer vollen Gestalt in der Flateyjarbók lässt sich nachdrücklich nicht auf die eindeutige Ideologie der anderen Textträger herunterreduzieren. Auch die Texteinbindung in Jón Þórðarsons Manuskript muss insofern (zusätzlich) von anderen Grundsätzen geleitet sein. Die bisherigen Forschungen zu den Gestaltungsprinzipien der Großkompilation betonen allerdings recht einseitig die zum Teil auch von ihrem Schreiber selbst formulierten, christlich geprägten Zielsetzungen.25 Diese alleinige Fokussierung vermag jedoch das durch die obige Analyse aufgeworfene Problem der Færeyinga saga als unbestimmter Machtdiskurs nicht zufriedenstellend zu lösen. Der Blick auf die narrative Gestalt dieser Saga in ihrem Hauptüberlieferungsträger legt damit eine weitergehende Studie zu den Gestaltungsprinzipien der Flateyjarbók nahe. Die Themen von Christianisierung und Unabhängigkeit nordischer Länder im Nordatlantik werden behandelt, sind auf den Gesamttext der Færeyinga saga bezogen aber zu geringfügig, um allein als Motivation der Textaufnahme herhalten zu können. Einen möglichst vollständigen Bericht über die beiden christlichen Könige und ihre Aktivitäten zu bieten, kann also nicht einzige Grund gewesen sein, weshalb Jón Þórðarson die gesamte Færeyinga saga aufnahm, und die Art ihrer Einbindung muss kleinteiliger begründet sein. Unwahrscheinlich und daher grundsätzlich abzuweisen ist die mögliche Erklärung, der Jón Þórðarson habe seinen eigenen Text nicht recht im Griff gehabt und die Divergenzen zwischen zweckmäßiger Einbindung der Erzählung in die Gesamthandlung und weitergehender Aussage der Færeyinga saga seien deshalb nicht weiter ins Gewicht gefallen. Allein die meisterhafte Gesamtkomposition des Textes, trotz seiner so verstreuten Einbindung, zeugt eindeutig vom Gegenteil dieser Hypothese. Die Einbindung der Saga perspektiviert hingegen den Gesamterzählfluss der Großkompilation: Korrespondenz- und Kontrastpaare ergeben sich zu anderen in den Text eingehängten Þættir. In der Laxdœla saga etwa misst sich Kjartan am Hof Óláfr Tryggvasons in Korrespondenz zu Sigmundr mit dem König in Wettkämpfen und unterliegt, während die genannte, gegensätzliche Darstellung Jarl Hákons einen Kontrast zum Rest des Codex bildet.
24 Siehe Krakow 2009, bes. S. 56. 25 Siehe Würth 1991; Ashman Rowe 2005.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext
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Auch in den Einzelzusammenhängen setzt die Færeyinga saga Akzente im Erzählgang, wenn Sigmundrs Tod konsequent nach dem König Óláfrs erzählt wird, der ihn zu seinem Mittelsmann auf den Färöern gemacht hat, oder wenn der Bericht von der Auseinandersetzung zwischen Óláfr dem Heiligen und den Färingern im Vergleich zu anderen Redaktionen umgeordnet und en bloc berichtet wird.26 Ebenso wurde die Interpolationsstelle des Þáttr frá Þrándi ok Sigmundi innerhalb der Óláfs saga Tryggvasonar umgeordnet.27 Auf einzelne derartige Elemente wurde im Verlauf der vorliegenden Analyse dabei bereits fortlaufend verwiesen. Auch abseits der erzählerischen Strukturierung der Flateyjarbók passt der Text der Færeyinga saga in die Rahmen, die die Handschrift bietet. Sie ist eine Historia Magna, die die norwegische Königsgeschichte von etwa 850 bis 1030 erzählerisch aufbereitet, und dabei den gesamten Norden, von Grönland über Island und die britischen Inseln bis Kontinentalskandinavien, Deutschland und Russland zum Handlungsschauplatz hat. Dass Jón Þórðarson bei diesem riesigen Projekt auch die ausführlichste Erzählung von den Färöern miteinbezog, verwundert kaum. Die Aufnahme des Færeyinga saga-Textes aber dürfte sich nicht allein geographischen Gesichtspunkten zu verdanken haben, sondern kann gerade ob des Ergebnisses der vorliegenden Studie sinnfällig gemacht werden: Die Erzählung bietet eine offene Narrativierung von Machtpolitik. Interessant zur Erklärung der Einbindung eines solchen Textes erscheint die Hypothese, die Ólafur Halldórsson aufgestellt hat.28 Seiner Ansicht nach könnte der Prachtcodex ursprünglich als Geschenk für den norwegischen König Óláfr IV. Hákonarson gedacht gewesen sein, der aber 1387 verstarb, weshalb im folgenden Jahr Jón Þórðarson seine Arbeit beendete und der Codex durch Magnús Þórhallsson unter geänderter Zielsetzung neu konzipiert und überarbeitet wurde. Trifft diese Hypothese zu, käme der Færeyinga saga innerhalb des Manuskripts die Funktion eines Fürstenspiegels zu. Der König erhielte Unterweisung in unterschiedlichen Strategien der Machtanwendung, und zwar doppelt perspektiviert dadurch, dass sowohl die norwegischen Könige als auch die färöischen Großen ihre eigenen Machtspiele im Text ausführen – lehrreich wäre ein solcher Text nachdrücklich. Seine innere Unbestimmtheit wäre dann auch als Strategie der Vorsicht des Verfassers vor allzu direkter Unterweisung des königlichen Empfängers deutbar, erfüllte aber zudem eine didaktische Funktion. Auch ein royaler Rezipient des Textes müsste sich im Austausch mit der Umgebung seines Hofes, Beratern oder Erziehern über die Lehre verständigen, die er aus einer solchen Erzählung zu ziehen habe, respektive selbst eine wertende Einschätzung des Textgehalts vornehmen und sich insofern vertieft mit den Modalitäten politischer Herrschaft
26 Vgl. Würth 1991 S. 63–64. 27 Vgl. Krakow 2009, S. 56–61 u. S. 112–118. 28 Siehe Ólafur Halldórsson 1990a. Die Auffassung wird von Würth 1991, S. 29 unter Betonung ihrer rein spekulativen Natur durchaus als Möglichkeit erwogen und von Zernack 1999 sowie Ashman Roqwe 2005 als Arbeitshypothese der Analyse des Textaufbaus verwendet.
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9 Schlussbemerkung: Erzählung und Macht. Gesamtfazit und Ausblick
und ihrer jeweiligen Berechtigung auseinandersetzen. So wäre im Vorgang der Textrezeption gerade über seine Offenheit eine Didaxe erzielt: Der König wäre durch sie veranlasst, politische Überlegungen zur Anwendung von Macht anzustellen, um die in seinen Codex eingeschlossene Erzählung verstehen zu können. Dies würde eine komplexe Textvermittlungsstrategie Jón Þórðarsons erkennen lassen und eine trotz ihrer Verdecktheit in der Offenheit des Textes sehr selbstbewusste Hinwendung an den König. Nicht allein in einem solchen, rein spekulativen Sinnrahmen allerdings ließe sich die Færeyinga saga in ihrer charakteristischen Offenheit in den Kontext des Großcodex und seine narrative Ideologie einordnen. Insgesamt lässt sich dem Codex ein Ideal von Königsherrschaft ohne Zwang unterstellen, auch unter der Oberfläche wertungsfreier Darstellung von machtpolitischen Strategien konkret in der Færeyinga saga. König Óláfr Tryggvason wird in seiner Bedeutung für Island besonders dadurch hervorgehoben, dass dieses die von ihm verlangte Bekehrung freiwillig vollzieht und Óláfr Haraldsson wird insgesamt als guter König all jener gezeichnet, die sich seiner Herrschaft freiwillig unterordnen. Sein Scheitern beim Versuch des herrschaftlichen Ausgriffs in den Nordatlantik verdankt sich seinem Versuch, diesen mit Zwang durchzusetzen. Korrespondierend erweist sie sich die Zwangsbekehrung der Färöer auf die Gesamterzählung bezogen als oberflächlich und nicht als langlebig. In diese Darstellungsabsicht der Færeyinga saga fügt sich auch ein, das Jarl Hákon zwanglos in seinen Dienstmannen Freiräume einräumender Weise die Durchsetzung seiner Herrschaft auf den Färöern erreichen kann. Dabei lässt sich als weitergehende Hypothese formulieren, dass überhaupt der Gesamttext der Flateyjarbók letztendlich nur wenig streng ideologisch reguliert ist. Dass die Christianisierung im Kontext der Færeyinga saga kaum eine Rolle spielt und eine explizit heidnische Figur wie Jarl Hákon eine positive Evaluation erhält, deckt sich mit anderen Erzählungen, die in der Flateyjarbók vorkommen. So kann dort auch der heidnische Donnergott Þórr selbst König Óláfr Tryggvason aufsuchen, um in einer Unterredung mit dem König unter der Mahnung, die eigene Vergangenheit nicht zu vergessen, das letzte Wort zu behalten und lächelnd zu entschwinden. Heidnische Vergangenheit und christliche Zukunft treten somit eher in Dialog, als abschließend gegeneinander gestellt zu werden.29 Das gleiche Prinzip zeigt sich, wenn in einer Geschichte wie dem Þorsteins þáttr uxafóts die Bekehrungsthematik fast mechanisch bedient zu werden scheint, um noch weitere Abenteuer von Þorsteinn Ochsenfuß berichten zu können, inmitten derer er sich unvermittelt zum rechten Glauben bekennt. Es entsteht so mitunter der Eindruck, Jón Þórðarson habe die Bekehrungsszenen vor allem zur Absicherung gegen engstirnigere Zeitgenossen eingefügt, während sein eigenes Interesse nicht zuletzt dem gekonnten Aufbereiten erzählerisch interessanter und unterhaltsamer Geschichten gegolten habe. Letzten Endes scheint ein nicht geringer Teil dessen, was auch die Flateyjarbók zusammen-
29 Vgl. hierzu auch Kaplan 2011, die sich mit vier Óðinns-Auftritten im Gesamtcodex auseinandersetzt.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext
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hält, die schlichte Lust am Erzählen zu sein, das Erzählen um seiner selbst willen, das grundsätzlich der menschlichen Bewältigung von Welterfahrung auch fernab von ideologischer Didaxe dienen kann. Die hier vorgebrachten, über die Gestaltung der Færeyinga saga ableitbaren Ideen zur Gesamtkomposition der Flateyjarbók als ihres primären Überlieferungsträgers können nicht beanspruchen, mehr als bloße Grundsatzhypothesen und näher zu überprüfende Beobachtungen darzustellen. Alle in der Flateyjarbók enthaltenen Texte müssten in ihrem Verhältnis zueinander auf ihre Ideologie, Gestaltungsprinzipien und Gesamtstrukturierung geprüft werden, um die hier formulierten Gedanken weitergehend auf ihre Stichhaltigkeit und Berechtigung hin zu überprüfen. Ein solches Projekt steht bisher jedoch noch aus.
9.2.3 Unbestimmtheit als Gattungsmerkmal? Die Færeyinga saga im Horizont der Isländersagas Infolgedessen lässt sich als Zwischenfazit einer Kontextualisierung des im Rahmen der vorliegenden Studie erarbeiteten Machtdiskurses der Færeyinga saga in ihrem primären Überlieferungsträger festhalten, dass er nicht restlos in die bisher erbrachten Ergebnisse der Studien zu dessen Gestaltungsprinzipien überführt werden kann. Es lässt sich beobachten, dass die Saga an verschiedenen Stellen an bisherigen Interpretationen zur Flateyjarbók aneckt und sich als widerständig gegen die bisher vorherrschende Ansicht des Weltbildes des Codex’ erweist. Dieser Befund kann auch als Stütze derjenigen Textansicht verstanden werden, die die Saga als ursprünglich unabhängigen Text begreift, der im Zuge der Zusammenstellung der Flateyjarbók nach einem verlorenen Originalmanuskript abgeschrieben worden sei, wie sie notwendigerweise auch der vorliegenden Studie über weite Teile zu Grunde gelegt werden musste. Eine solche Ansicht kann nachvollziehbare Gründe vorbringen, wie bereits eingangs dargelegt wurde. Auch in dieser Perspektive eröffnet die charakteristischen Offenheit der Erzählung als Machtdiskurs eine ergiebige Anschlussfläche für Überlegungen zu ihrer literaturgeschichtlichen Stellung im isländischen Mittelalter. Grundparameter dafür ist eine auf mehreren Ebenen rechtfertigbare Eingliederung der Færeyinga saga in den narrativen Horizont der Isländersagas. Mehrfach wurde in der vorliegenden Arbeit auf verschiedene Paralleltexte und insbesondere narrative Konventionen und Darstellungsstrategien aus dem Korpus der Isländersagas verwiesen. Dies gestaltet sich als möglich, weil die in der Færeyinga saga dargestellte Gesellschaft grundsätzlich in Ähnlichkeit zur in den Isländersagas entworfenen Gesellschaftsform lesbar erscheint: soziale Mechanismen, der Rechtsgebrauch, flach scheinende gesellschaftliche Hierarchien und Versuche einzelner, die alleinige Vorherrschaft zu erobern, die Zentralsetzung der Kategorien der Ehre für Teilnehmer an sozialen Prozessen gleichen sich. Schon aufgrund dieser intradie-
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getischen, phänomenologischen Ähnlichkeit scheint es nicht ungerechtfertigt, die Færeyinga saga in diese Gattung einzuordnen, wie dies verschiedentlich, wenn auch zögerlich, bereits getan wurde. Diese tentative Gleichsetzung mit den Isländersagas kann ausgeweitet werden, wenn man die axiomatisch angenommene Datierung des Textes als sehr früh, aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts, in die Argumentation mit aufnimmt. Diese Entstehungszeit läge noch vor den als ›klassisch‹ betrachteten Isländersagas, die zumeist um die Mitte dieses Jahrhunderts angesetzt werden.30 Das Sujet der Färöer und des Machstreits lässt sich gerade vor dem Hintergrund einer frühen Textentstehung sinnfällig machen: Der Stoff befindet sich in seiner Gegenüberstellung nordatlantischer, mehr oder minder freier Nicht-Isländer und norwegischer Fürsten zwischen den Königs- und den Isländersagas, die literaturgeschichtlich aufeinander folgen.31 Auf dieser Grenze ist er an die beiden Könige geknüpft, über die als Erste Sagas verfasst wurden.32 Zudem befindet sich mit Sverrir Sigurðarson in den Jahrzehnten zuvor ein Mann auf dem norwegischen Thron, der von den Färöern stammt, in der einen oder anderen Weise also vielleicht als Katalysator der Stoffvermittlung gedient haben könnte und als solcher gelegentlich auch überlegt wurde.33 Insbesondere aber das Thema persönlicher politischer Macht im Verhältnis zu einem Königshaus und die Erzählweise der Færeyinga saga in der hier ausgearbeiteten, charakteristischen Offenheit wären in dieser weitergehenden Perspektive auf die isländische Literaturgeschichte von Interesse. Wie insbesondere Boulhosa überzeugend dargelegt hat, lassen sich Island und vor allem seine Oberschicht grundsätzlich nicht losgelöst vom norwegischen Königshaus denken. Es gibt Wechselwirkungen über Jahrhunderte, und der Vertrag von 1262–1264 ist keine historische Entwicklung aus dem Nichts.34 Insofern wäre die Frage des Verhältnisses von lokalen Machthabern zur Königsinstanz im isländischen Mittelalter ohnehin von Interesse. Gerade zu Beginn des 13. Jahrhunderts, noch vor dem Ausbruch der Wirren der Sturlungenzeit, aber bei gleichzeitig bereits vorhandener Machtkonzentration unter den Oligarchen, dürfte sich dieses Interesse gesteigert haben. Die literarische Öffentlichkeit Islands dürfte zu dieser Zeit bereits ein Gespür dafür entwickeln, was persönliche Macht und ihr Zuwachs einerseits für eine Gesellschaft, andererseits aber auch für die Persönlichkeit des Machthabenden bedeuten, und für dieses Gespür wäre die Færeyinga saga ein literarischer Ausdruck. Hier streiten machtvolle Einzelne miteinander, während die umgebende Gesellschaft, die in Analogie zur
30 Zurückgehend auf den Datierungsversuch von Sigurður Nordal 1953. Zur grundsätzlichen Problematisierung solcher Datierungsversuche in jüngerer Zeit vgl. etwa Meulengracht Sørensen 1993, S. 116–120; Würth 2000, S. 512; Vésteinn Ólason 2011, S. 65–66. Die Mitte des 13. Jahrhunderts bleibt jedoch als Abfassungszeitraum, der in den diversen Forschungen untersucht wird, persistent. 31 Vgl. Schier/Heizmann 2009a, S. 249–250. 32 Vgl. Zernack 2001, bes. S. 131–132. 33 Siehe Turið Sigurðardóttir 2001; North 2005, S. 73. 34 Siehe Boulhosa 2005.
9.2 Ausblick: Ein unbestimmtes Narrativ im Kontext
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isländischen gesehen werden kann, vollkommen stumm und ausgeblendet bleibt. Bestenfalls wird sie für die Machtdemonstrationen der herrschaftlichen Konkurrenten nach gusto eingesetzt und instrumentalisiert. Dies ließe sich als Reflex einer Gesellschaft verstehen, die zu begreifen beginnt, dass ihre Machthaber über ihre eigenen Interessen hinweg miteinander in Konflikt geraten und sie selbst für diese zunehmend an Bedeutung verliert; dass sich also eine aristokratische Elite abzugrenzen beginnt. Für die frühe Datierung noch vor den Isländersagas und ihrem Interesse für gesellschaftliche Mechanismen, spräche dabei insbesondere die Offenheit der Færeyinga saga. Trotz extrem divergierender Figurenzeichnungen wird über keinen der Protagonisten moralisch der Stab gebrochen und ihre machtpolitischen Vorgehensweisen nicht kommentiert. Dies könnte als Ausdruck des Zeithorizonts noch vor dem Zusammenbruch der isländischen Freistaatszeit verstanden werden, immerhin dürften die gesellschaftlichen Auswirkungen machtpolitischer Umwälzungen in Hinblick auf die Autarkie Islands zu dieser Zeit noch nicht so virulent sichtbar gewesen sein, wie etwa 50 Jahre später. Dass die Thematik zugleich nicht auf Island ausgebreitet, sondern auf die benachbarten Färöer ausgelagert wird, spräche zudem für ein Bewusstsein, gerade keinen ›Schlüsselroman‹ auf die Zeitgeschichte vorzulegen, sondern die Mechanismen der Macht und ihre Auswirkungen untersuchen zu wollen – in offener Frage ans isländische Publikum, welche Art politischer Führungselite man sich als Gesellschaft selbst geben will, eine gerechte, aber abhängige und gefährdete wie Sigmundr, oder eine rücksichtslos selbstbezogene, aber überaus erfolgreiche wie Þrándr. Leifr und seine letztendliche Einnahme der Machtposition ließe sich in dieser Perspektive als verhaltene Hoffnung auf eine fast messianisch gerechte Figur in der Oberschicht verstehen, die die Machtstreitigkeiten beenden und die Gesellschaft in eine friedliche Prosperität überführen könnte. Dies würde sich insgesamt mit den oben vorgelegten Beobachtungen decken, dass sich in der Darstellung der Saga immer wieder isländische Prismen ausmachen lassen, insbesondere in Hinblick auf die Darstellung ihrer Räume. Wie in Kapitel 2 argumentiert wurde, enthält die Darstellung mehrfach Verfremdungseffekte, die die Färöer zu einem Land in Ähnlichkeit zu, zugleich aber doch deutlich unterschiedlich von Island zeichnen. Das Thema der Unabhängigkeit scheint so nie um seiner selbst willen in Betracht gezogen, sondern die gesamte Darstellung wirkt in mehrfacher Perspektive distanziert. Eine so politische und zudem offene Erzählung mit den Färöern an einem in der isländischen Literatur anderweitig weitgehend unbekannten Ort zu situieren, dient in auch der Entlastung eines spezifisch isländischen, literarischen Identitätsdiskurses, wie in die Isländersagas hervorbringen. Die Ähnlichkeit der Färöer als Milieu der Handlung stellt Vergleichbarkeit der beschriebenen Gesellschaft und ihrer Protagonisten mit der Gesellschaft her, die in den Isländersagas beschrieben wird, hält diese und damit auch die literarische Identität der Isländer aber von der zynisch anmutenden Maßlosigkeit des Machtkampfes in der Færeyinga saga rein. Das Milieu, in dem die Erzählung situiert wird, erlaubt deshalb
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ein freieres Spiel mit Thematiken, die die isländische Gesellschaft betreffen, stellt Vergleichbarkeit her, um diese für eine isländische Rezipientenschaft diskutierbar zu machen, ist aber nicht an die Regeln der narrativen Abbildung Islands gebunden. So können literarische Wenn-Dann-Fragen für die isländische Gesellschaft als primäre Rezipienten des Textes eröffnet werden, ohne notwendigerweise Kritik an Vorgängen innerhalb dieser Rezipientengemeinschaft aufkommen lassen zu müssen. Ein solch konkreter zeitgeschichtlicher Hintergrund muss jedoch, aufgrund der Datierungsproblematik nicht nur der Færeyinga saga, sondern der Sagaliteratur als solcher, spekulativ verbleiben. Indessen könnte jedoch insbesondere auf das hier ausgearbeitete Erzählprinzip der Offenheit auch zur Genrediskussion der Isländersagas beitragen. Die Færeyinga saga wird meist nur unter Vorbehalt zu diesen gerechnet, weil kein Isländer als Protagonist auftritt. Betrachtet man die Færeyinga saga aber unter narratologischen Gesichtspunkten in diesem Kontext, stellen sich ebenfalls große Gemeinsamkeiten heraus. Dass diese Erzählungen oft mehrdeutig und deswegen ideologisch von einem modernen Forschungsstandpunkt aus schwer bewältigbar erscheinen, ist sicherlich kein neuer Befund. Offenheit und Unschärfe sind nicht allein als primäres narratives Merkmal der Færeyinga saga, sondern können auch als Konstituente der Gattung der Isländersagas, der sie angehört, begriffen werden. Koschorke zufolge müssen Narrative im Kern uneindeutig sein, um soziale Relevanz entwickeln zu können.35 Die Tatsache, dass sie nicht nur Kontingenz bewältigen und Sinn stiften, sondern im Gegenteil auch Kontingenz erzeugen und Sinn zerstören können, und das Wechselspiel zwischen beiden Komponenten setzen dieser Konzeption zufolge den Aushandlungsprozess kultureller Wahrheiten in Gang. Dieses Verständnis von Narration lässt sich gewinnbringend auf die Isländersagas übertragen. Sie sind oft mehrdeutig, verschweigen Vorgänge, konterkarieren aufgebaute Erwartungen. Auch sie dienen der Stiftung von Gemeinschaft und Kultur in der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. Diese Beobachtung kann als weitgehender Forschungskonsens betrachtet werden.36 Die Art und Weise der Sinnstiftung in den Isländersagas aber wäre mit Blick auf Koschorkes Theoriekonzept noch näher auszuarbeiten. Auf dieser Basis wäre es möglich, die Isländersagas weniger allein als Medium einer konsistenten Identitätsstiftung des mittelalterlichen Island zu analysieren, sondern gleichberechtigt auch die Inkonsistenzen an den Rändern dieses Identitätsdiskurses in Betracht zu ziehen. Als Hypothese wäre formulierbar, dass die Isländersagas zur Bildung einer isländischen Identität auch und gerade dann beitragen, wenn sie Rätsel, unaufgelöst Komplexes und Mehrdeutigkeiten aufweisen. Die sie rezipierende Gesellschaft muss ihre Sinndimension dann kommunikativ aushandeln, sich über ihren Aussagewert verständigen und sie somit in kollektiver Zusammenarbeit deuten. In ihrem literarischen Zusammenspiel und seiner Wechselwirkung mit der Rezeption durch die mit-
35 Siehe Koschorke 2013. 36 Siehe etwa Hastrup 1990a; Meulengracht Sørensen 1993; Weber 2001a.
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telalterliche Gesellschaft kann dadurch kollektive Bedeutung und Kultur, Identität, auf Island erzeugt werden. Dass die Interpretation eines literarischen Textes stets auch eine Gegeninterpretation erzeugen kann, macht textliche Offenheit in hohem Maße funktional für ihre Relevanz. Legt man diese Beobachtung einer Auseinandersetzung mit den Isländersagas als literarischer Erzeugnisse zugrunde, wird sichtbar, dass die Texte oftmals weniger an der Bildung einer kollektiven Identität unter ihrem Rezipientenkreis interessiert sind, sondern ihnen dem noch vorausgehend daran gelegen ist, zunächst eine Diskussionsgrundlage in ihrer sozialen Umgebung zu stiften. Diese theoretische Annäherung ließe sich auch mit den vielen unterschiedlichen Varianten der Sagas, die oft in mehreren Redaktionen verschiedener Handschriften vorliegen, verbinden. Wenn das mittelalterlicher Textverständnis als solches angesichts der textlichen Varianz einzelner ›Werke‹ als offen bewertet werden muss37 und sich dies auch auf das Kompositionsprinzip der Erzählungen erstreckt,38 lässt sich diese Offenheit auch auf das Wesen der mittelalterlichen Narrative Islands übertragen. Unzweifelhaft ist, dass die Sagas als überaus komplexe Literatur betrachtet werden müssen. Viele der Erzählungen schließen in dieser Komplexität allerdings auch verschwiegene oder verdeckte Elemente mit ein. So besteht etwa der Kern der kürzeren Textredaktion der Gísla saga Súrssonar letztlich darin, dass der Mord an Vésteinn nie eindeutig aufgelöst wird, während zugleich mehrfach übermotiviert und doch nicht gänzlich glaubhaft aufgelöst scheint, weshalb Gísli seine verräterische Strophe vor seiner Schwester spricht.39 Damit bleibt der Kern der sich im Anschluss entwickelnden Vernichtungsspirale verwischt und in letzter Konsequenz den Rezipienten zur Auflösung überlassen. War Gíslis Totschlag am Mann seiner Schwester gerechtfertigt angesichts der Tatsache, dass völlig unklar bleibt, wer ihn tatsächlich getötet hat? Und waren es eigene Schuldgefühle, der Zauber des Þorgrímr nef oder womöglich eine enge Verbindung zwischen Þorgrímr und dem Gott Freyr, die unausgesprochen Gísli zu seinem Selbstverrat provozieren?40 Textliche Spuren werden angelegt, jedoch nicht eindeutig verengt, sondern offen nebeneinander prozessiert. Guðrún in der Laxdœla saga antwortet auf die Frage ihres Sohnes, wen sie am meisten geliebt habe, mit ihrem berühmten Þeim var ek verst-Geständnis, also einem unaufgelösten Rätsel. Es scheint nicht zu weit gegriffen, zu vermuten, dass die Erzählung absichtlich mit diesem Rätsel endet. Die Rezipienten müssen daraufhin entscheiden, wann Guðrún ihre schlimmste Tat ausgeführt hat, und wen sie daher am meisten geliebt hat. Die Folgerung müsste entsprechend lauten, dass es dem Erzäh-
37 Vgl. Würth 1999, S. 198. 38 Siehe Clover 1982. 39 Zu diesem Komplexitäten der Gísla saga vgl. als rezenten Überblick Heizmann 2016. 40 Die letztere Auffassung vertritt Jón Hnefill Aðalsteinsson 1998. Angesprochen wird eine implizite »Freyr-Ideologie« im Hintergrund der Saga auch von Meulengracht Sørensen 2001a, S. 189. Als Überblick dieser Interpretation siehe auch Schmidt 2015, S. 112–116. Zur Ambiguität der Szene grundsätzlich vgl. Poilvez 2016, S. 40–42.
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ler der Saga darum geht, eine Debatte über die Liebschaften seiner Protagonistin und deren Konsequenzen anzustoßen.41 Ebenso wie der offene Machtdiskurs der Færeyinga saga hält diese Formel am Ende der Laxdœla saga also die Rezipienten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text an, um beantwortet werden zu können. Zugleich befördert das Rätsel im Zentrum des Textes eine Diskussion über seine Auflösung unter seinen Rezipienten und kann dadurch, analog zur Færeyinga saga, soziale Relevanz gewinnen. Eine ähnliche Situation der Offenheit ergibt sich auch für die hochkomplexe Njáls saga, bei der nach genauer Textlektüre zunehmend unklar wird, ob Njáll in Übereinstimmung mit seiner Darstellung durch den Erzähler ein leuchtendes Vorbild ist, oder Island und sein Rechtssystem am Ende sehenden Auges in den Untergang führt.42 Und auch über den ideologischen Gehalt der Hrafnkels saga oder Eyrbyggja saga wurde bis heute keine zufriedenstellende Einigung erzielt, weil Hrafnkell und Snorri goði als deviante, hinterlistige und unsympathische, machtbesessene Figuren vor einem komplexen Hintergrund als Protagonisten gezeichnet werden.43 So offen sind diese Sagas nicht zuletzt deshalb, weil sie in einem konstanten Tradierungs-, Interpretations- und Interaktionskontinuum auch im intertextuellen Sinne verankert sind, die kaum eine feste Ideologie verbreiten soll, sondern insgesamt eine lebendige Diskussion des mittelalterlichen, literarischen Island mit sich selbst über sich selbst darstellt. Die genauen Mechanismen der sozialen Produktivität der Isländersagas als kollektives Medium der Kulturbildung im Sinne ihrer unbestimmten Eigenschaften als Erzählungen nach Koschorke wären in Folge der hier ausgeführten, vorläufigen Beobachtungen aufzuklären. In diese Diskussion gehört unbedingt auch die Færeyinga saga, die, ebenso wie die Isländersagas, in ihrer narrativen Gestalt eher Fragen stellt, als fixierte Botschaften auszugeben. Die Sagas, so lässt sich vorläufig festhalten, gehen im unmittelbaren Rezeptionseindruck in offener und wenig ideologisch durchtränkter Art existenziellen Fragen des menschlichen Lebens nach und beziehen gerade daraus ihr noch bis heute faszinierendes Interesse. Die Færeyinga saga sucht sich in dieser literarischen Umgebung ihr Thema an der Schnittstelle von Herrschaftspolitik und Macht allgemein, bearbeitet und verhandelt es in überaus komplexer und lebendiger Art und Weise und bringt so eine Erzählung hervor, die viele Fragen für jeden impliziert, der in eine aufmerksame Auseinandersetzung mit ihr eintritt. Die Antworten, die sie auf diese Fragen gibt, sind dabei so komplex und vielschichtig wie das Leben selbst, das sie hervorgebracht hat. Dieses ist stets abhängig von einem jeweils gegebenen Kontext, hochkomplex und dynamisch, ebenso wie der narrative Machtdiskurs der Færeyinga saga. Nur der Einzelne kann sie endgültig deuten, doch gerade deshalb kann sie Bedeutung für viele gewinnen.
41 Zu diesem Sinn der Szene vgl. auch Shortt Butler 2016, S. 349–350. 42 Vgl. zu dieser Komplexität Tirosh 2014; Miller 2014; Sauckel 2018. 43 Zu den Aspekten der Offenheit in beiden Sagas vgl. jeweils Shortt Butler 2016; Miller 2017; Elín Bára Magnúsdóttir 2015.
Abkürzungen, Siglen und Titelverweise ATU Dicuil, Liber Flat Flateyjarannálar Fær FærCCR FærFJ FærÍF Gesta regum Anglorum Gulaþingslǫg Ldn Nj ÓH ÓHHkr ÓT SnE Prologus Vellekla
Uther 2011 Tierney (Hrsg.)/Bieler (Übers.) 1967 Flateyjarbók Flatøbogens Annaler Færeyinga saga 1987 Færeyinga saga eller Færoboernes Historie Færeyinga saga. Den Islandske Saga om Færingerne Færeyinga saga, Óláfs saga Tryggvasonar eptir Odd munk Snorrason Mynors, Roger A. B. u. a. (Hrsg. u. übers.) 1998–1999 Eithun u. a. (Hrsg.) 1994 Landnámabók Brennu-Njáls saga Saga Óláfs konungs hins helga Óláfs saga ins helga Óláfs saga Tryggvasonar en mesta Snorri Sturluson. Edda. Prologue Marold (Hrsg.) 2012
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Quellenindex Ágrip af Nóregskonunga sǫgum 14, 82, 161 Annales regii 81 Annales Reseniani 81 Áns saga bógsveigis 15 Árna saga biskups 44, 81 Atlaqviða in grœnlenzca 261 Auðunar þáttr vestfirzka 158, 162 Baldrs draumar 239 Bárðar saga Snæfellsáss 117, 563 Böldl, Klaus – Die fernen Inseln 4 Brennu-Njáls saga 15, 49, 82, 84–85, 91, 93, 132, 140, 148, 168, 190, 193, 212, 253, 348, 359, 399, 431, 435, 444, 446, 472, 474, 491, 555, 573, 584–586, 638 Bǫglunga saga 92 Debes, Lucas Jacobssøn – Færoæ & Færoa reserata 2, 9, 12 Dicuil – Liber de mensura orbis terrae 1, 3–4 Droplaugarsona saga 15, 92, 283–284 Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana 112, 456, 458 Egils saga Skalla-Grímssonar 49, 83, 88, 97– 98, 132–133, 140, 232 Einarr skálaglamm Helgason – Vellekla 276 Eiríks saga rauða 148, 237, 563 Eyrbyggja saga 15, 49, 93, 148, 156–157, 161– 163, 237, 248, 285, 481, 501, 556–557, 559, 576, 638 Fagrskinna 82 Finnboga saga 274 Flateyjarannálar 81 Flateyjarbók 3, 7, 9, 11, 28–35, 37–41, 44, 46, 51, 55–57, 66–67, 69, 82–83, 109, 114– 117, 123–125, 137, 140, 145, 147–149, 160, 173, 196–197, 207, 214–216, 220–223, 225, 232, 248–250, 252, 255, 257, 261, 264, 266, 270–271, 276, 281–282, 301– 303, 308, 329, 334, 336–339, 343–345, 348, 351–352, 355, 358–360, 365, 373– 374, 377–378, 382–383, 387, 389, 409, https://doi.org/10.1515/9783110774979-012
448, 451–452, 455, 457–459, 463, 467, 469, 493–495, 501–502, 505–506, 511– 515, 517, 521–522, 525, 537, 539–540, 549, 577, 584, 591, 625–633 Flóamanna saga 87, 563, 576 Friis, Peder Claussøn – Norriges oc omliggende Øers sandfærdige Bescriffuelse 9 – Norske Kongers Chronica 7, 9 Frostaþingslǫg 182 Gautreks saga 563 Gísla saga Súrssonar 15, 83, 140, 236, 462, 480, 556, 637 Graba, Carl Julian – Tagebuch, geführt auf einer Reise nach Färö 2, 4 Grágás 153, 161, 171, 461, 472, 481, 599 Grettis saga Ásmundarsonar 148, 161, 268, 274, 460–462, 464 Grœnlendinga saga 15 Grógaldr 239 Gulaþingslǫg 104, 176, 186, 238 Hákonar saga Hákonarsonar 81 Hákonar saga herðibreiðs 239 Hallfreðar saga 132, 161, 194 Hammershaimb, Venceslaus Ulricus – Færøiske Kvæder II 12 Haralds saga hárfagra 88, 117, 122, 277 Harðar saga 116, 480, 584–586 Hauksbók 84, 86, 88–90, 92–93, 100, 284 Hávamál 72 Heilagra manna sögur – Vitæ Patrum 238 Heimskringla 7, 9, 29–30, 33, 48, 82, 88, 122, 133, 152, 239, 466, 517 Hemings þáttr Áslakssonar 355 Hervarar saga ok Heiðreks 239 Historia Norwegie 82, 276 Hrafnkels saga Freysgoða 156, 211, 248, 556, 613, 638 Hrólfs saga kraka 274 Hyndluljóð 590–591 Íslendingabók 133, 217 Íslenzkar þjóðsögur og ævintýri 111–112, 458, 460, 464, 466–467
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Quellenindex
Jómsvíkinga saga 14, 29, 39, 48, 584 Kaiserchronik 347–348 Kjalnesinga saga 116–117, 463 Konráðs saga Keisarasonar 15, 283–284 Landnámabók 14, 33, 83–91, 100, 148, 236, 452 Lárentíus saga biskups 81 Laxdœla saga 14–15, 37, 45, 56, 83, 91–93, 132, 134, 212, 253, 307, 337, 472, 474, 481, 630, 637–638 Locasenna 563 Magnússona saga 277 Maríu jartegnir 346–347, 585 Maríu saga 237–238, 346–348 Möðruvallabók 45, 132 Nibelungenlied 267, 297, 366, 588–589 Norna-Gests þáttr 194 Óláfs saga helga 3, 11, 29–30, 33–38, 40, 44, 82, 123–124, 130, 196–197, 214, 216, 232, 334, 336, 355, 358–360, 373, 381–382, 387, 466, 515, 517, 539, 549, 626–628 Óláfs saga helga (Heimskringla) 30, 334, 466, 517 Óláfs saga Tryggvasonar (Oddr Snorrason) 35, 82, 117, 336 Óláfs saga Tryggvasonar en mesta 3, 12, 29– 31, 33–37, 39–40, 67, 84, 114, 123, 130, 147–148, 156–157, 161, 173, 194, 197, 215– 216, 221, 232, 234, 248–249, 255, 257, 259, 266, 270, 272–273, 278, 281–282, 301–303, 308, 329–330, 336, 343–344, 348, 351, 355, 448, 450–451, 455, 457, 459, 468–469, 501, 505–506, 511, 513– 514, 538, 549, 563, 579, 584, 626–627, 629, 631 Orkneyinga saga 14, 42, 48–49, 91, 148, 276
Skálholts-Annaler 81 Skaufalabálkur 161 Skírnismál 582, 590 Sneglu-Halla þáttr 134, 558–559 Snorra Edda 273, 276, 563 Steins þáttr Skaptasonar 345, 355 Sturlubók 85–86, 88–89 Sturlunga saga 15, 42, 81, 161, 285 – Íslendinga saga 285 – Prestssaga Guðmundar góða 81 – Svínfellinga saga 161 Svabo, Jens Christian – Indberetninger fra en Rejse i Færøe 2 Sverris saga 43, 91 Tarnovius, Thomas Jacobsen – Ferøers Beskrifvelser 2 Theodoricus monachus – Historia de Antiquitate Regum Norwagiensium 88 Thormodus Torfæus – Commentatio Historica, de rebus gestis Færeyensium seu Faröensium 2, 7, 9, 28 Thorstensen, Peter – Historisk Beretning om Indbyggernes Bedrifter paa Færøerne 7 Tindr Hallkelsson – Hákonardrápa 590 Trójumanna saga 161, 163 Vatnsdœla saga 83, 93, 133, 160–161, 232, 285, 467, 480, 556, 559 Víga-Glúms saga 132, 194, 274, 556 Víglundar saga ok Ketilríðar 283–284 Vilmundar saga viðutan 273 Vǫlsunga saga 15, 366, 481, 564–566, 594 Vǫluspá 239 William von Malmesbury – Gesta regum Anglorum 347 Ynglinga saga 152, 592
Ragnars saga loðbrókar 481, 590 Rauðúlfs þáttr 465–467 Reykdœla saga 194 Saxo Grammaticus – Gesta Danorum 590 Sigmundarkvæði 12
Ævi Snorra goða 87 89 Ǫgmundar þáttr dýtts ok Gunnars helmings 590 Ǫrvar-Odds saga 563 Þorláks saga byskups 91 Þorleifs þáttr jarlsskálds 42, 502–503, 584, 630 Þorsteins saga Víkingssonar 194