Vergleichende Studien zur sophokleischen und euripideischen Elektra


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Vergleichende Studien zur sophokleischen und euripideischen Elektra

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BIBLIOTHEK

DER

KLASSISCHEN

ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN Neue Folge - Zweite Reihe - Band 19

ARMIN

VOGLER

Vergleichende Studien zur sophokleischen und euripideischen Elektra

HEIDELBERG CARL

WINTER

1967

: UNIVERSITATSVERLAG

D 30

Alle Rechte vorbehalten. Ὁ 1967. Carl Winter Universitätsverlag, gegr. 1822, GmbH., Heidelberg Phoromechanische Wiedergabe nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Verlag Imprimé en Allemagne - Printed in Germany + Archiv-Nr. 3459

Satz und Druck: Druckerei Winter, Darmstadt

MEINER

MUTTER

in Dankbarkeit und Verehrung gewidmet

VORWORT Die vorliegende Untersuchung

stellt die gekürzte Fassung einer Arbeit dar,

die unter dem Titel „Interpretationen zur Datierung und zum Zeitverhältnis der

beiden Elektren“ der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt a.M. im April 1964 als Dissertation vorgelegt wurde. In ihr wird der Versuch gemacht, durch eine eingehende vergleichende Interpretation der beiden Elektradramen unter Berücksichtigung der Choephoren des Aischylos einen Beitrag zum Verständnis der dichterischen Eigenart der drei Tragiker zu leisten, die die Arbeit am Stoff der Orestie zu einer unmittelbaren künstlerischen Auseinandersetzung geführt hat. Dabei soll zugleich die in letzter Zeit wieder umstrittene Frage erörtert werden, in welchem Abhängigkeitsverhältnis die beiden Elektradramen stehen, die von Sophokles und Euripides gedichtet wurden. Unter diesem Gesichtspunkt will die vorliegende Arbeit als ein Beitrag zur Methodologie in Prioritätsfragen verstanden werden. Es ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis,

an dieser Stelle meinem

Lehrer, Herm

Prof. Harald Patzer, für die freundliche Hilfe und Förderung bei der Entstehung und Drucklegung der Arbeit und insbesondere für die liebenswürdige Vermittlung der Aufnahme

dieser Untersuchung

in die Reihe der „Bibliothek der Klassischen

Altertumswissenschaft. Neue Folge“ herzlich zu danken. Mein Dank gilt auch dem Carl-Winter-Universitätsverlag in Heidelberg für die reibungslose Erledigung der Druckarbeiten. Fulda, im Februar 1967

Armin Vögler

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung

11

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

16

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen .

16

II. Der Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

32

ες,

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

.

52

I. Die Datierung der euripideischen Elektra .

52

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra .

86

C. Das Problem der Priorität

.

I. Methodische Vorüberlegungen

113

.

.

II. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra . a) Die Struktur des Eingangs . b) Die Leidensdarstellung der Elektra (Soph. El. 256 ff. — Eur. El. 300 ff.) . c) Die Anagnorisisszene d) Die Zeichenszene . e) Die Intrigenhandlung f) Der Agon g) Die Gesamtstruktur beider Dramen. D. Schlußbemerkung

.

Verzeichnis der benutzten Literatur

113

.

122 136 136 151 157 168 175 179 186 187 189

EINLEITUNG Angesichts der bruchstückhaften Überlieferung der dramatischen Literatur der Griechen ist es ein besonders glücklicher Zufall, daß wir von jedem der drei großen Tragiker je ein Drama erhalten haben, das denselben Mythos, die Orestessage, be-

handelt: die Choephoren des Aischylos sowie die beiden Elektren des Sophokles und Euripides. Die Philologie hat dieses Geschenk des Zufalls genutzt, um durch vergleichende Studien die Unterschiede in der künstlerischen Gestaltung und in der religiösen Durchdringung desselben Stoffes aufzudecken und dadurch die geistige Struktur eines jeden der drei Dichter zu erhellen. Dabei konzentrierte sich die wissenschaftliche Arbeit auf das Problem des zeitlichen Verhältnisses der beiden jüngeren Elektradramen. Diese Streitfrage beruht auf der Unsicherheit hinsichtlich der Datierung der beiden Tragödien, für die es keine didaskalische Nachrichten gibt!. Um nun eine annähernde Zeitbestimmung für beide Dramen zu gewinnen? und,

was noch wichtiger sein dürfte, die Beziehungen

zwischen beiden Dichtern,

die der staatliche Agon im Falle der Elektren zu einer unmittelbaren künstlerischen 1 Für die sophokleische Tragödie steht bisher nur eine grobe Datierung in die Spätzeit des Dichters fest. Für das Euripidesdrama kommt nach dem Versuch einer Frühdatierung durch Zuntz, The political plays of Euripides, Manchester 1955, eine Zeitspanne zwischen ca. 425 und 413 in Betracht. ? Die Frage der Chronologie des euripideischen Gesamtwerkes (insbesondere hinsichtlich der Dramen, die zwischen 430 und 410 anzusetzen sein dürften) ist mit der Arbeit von Zuntz (5. 0.) neu zur Diskussion gestellt worden. Auf die nach wie vor bestehenden grundsätzlichen Schwierigkeiten einer zeitlichen Fixierung der sophokleischen Dramen sowie auf manche höchst unsichere Kriterien, auf die sich die bisherigen Datierungsversuche stützten, macht zuletzt A. Maddalena, L’interpretazione

sofoclea dei miti di Aiace, di Antigone

e di Eracle, Studi in onore

di Luigi Castiglione, Firenze 1960, p.545 aufmerksam. Vor allem könnte angesichts der immer noch umstrittenen Datierung der Trachinierinnen und der nicht genauen Fixierung des ersten Oedipus ein schärferer Ansatz der Elektra nicht unwesentlich zur Aufhellung des Gesamtproblems der Chronologie beitragen. Daß die Frage der Datierung der Trachinierinnen bis heute der wunde Punkt geblieben ist, mag die folgende Skala verschiedenster Meinungen zeigen: Whitman, Sophocles 1951, setzt die Trach. zwischen 437 und 432 an. Schadewaldt, Hermes 80 (1952) p. 66 datiert sie nicht lange nach der Alkestis von 438. Schiassi, Riv. d. Fil. 1954, p. 17A2 plädiert auf Grund eines Vergleichs mit der eurip. Hypsipyle auf 414-410. M. Imhof, Bemerkungen zu den Prologen soph. und eur. Trag. Diss. Bern 1957, p.53 tritt für eine Spätdatierung (um 425) ein. L. Sirchia, La cronologia delle Trachinie, Dioniso XXI (1958), p. 59—73 vertritt auf Grund einer Analyse der lyrischen Partien einen Ansatz nach dem Oed. Rex. Kirkwood, A. Study of Sophoclean Drama, New York 1958 (Corn. Stud.) setzt die Trach. zwischen Aias und Antigone. Kamerbeek, Komm. Trach. 1959, p. 27 ff. datiert

das Drama in die Nähe des Aias und der Antigone, ohne darüber hinaus weitere Angaben zu machen. Auf Grund einer ausführlichen Analyse vertritt E. R. Schwinge, Die Stellung der Trach. im Gesamtwerk

des Sophokles, Diss. Hamb.

die Priorität der Trach. vor der Alkestis (438).

1960, mit Nachdruck

12

Einleitung

Auseinandersetzung geführt hat, besser beurteilen zu können?, scheint es ebenso notwendig wie lohnend, auf das Prioritätsproblem einzugehen. Das Elektrenproblem besitzt seine eigene Geschichte. Seit mit den Arbeiten von U.v. Wilamowitzt und H.Steiger® die beiden Grundpositionen festgelegt waren, sind beide Thesen immer wieder nachdrücklich verfochten worden®, ohne daß aber bis jetzt ein durchschlagender Beweis zur Klärung dieses klassischen Prioritätsproblems erbracht worden wäre”. Deshalb greift heute verständlicherweise eine Skepsis um sich3, die auch insofern berechtigt scheint, als den Bemühungen auf dem Feld anderer, berühmter Prioritätsfragen (Minucius Felix — Tertullian, Vergils 4. Ekloge — 16. Epode des Horaz, Homer, insbesondere Odyssee — epischer Kyklos) bisher ein allgemein anerkannter Erfolg versagt geblieben ist. Da somit die Möglichkeiten, die alte Streitfrage des Elektrenproblems zu lösen, beinahe ausgeschöpft scheinen, so daß es fast aussichtslos erscheinen muß, nach neuen Gesichtspunkten zu suchen, scheint auf den ersten Blick ein ehrliches non liquet am Platze. Wenn

wir uns aber trotzdem

dem Problem

zuwenden

wollen,

so bestimmen uns dazu ım wesentlichen drei Gründe: Auf wie unsicherem Boden wir noch stehen, beweist die Tatsache, daß auch die Datierung des Aias jüngst wieder zur Diskussion gestellt wurde. H. Grégoire, L’Ajax de Sophocle, Alcibiade et Sparte, Annuaire de l’Institut de Philol. et d’Histoire Orientales de l’Université Libre de Bruxelles 1953, p. 653—63, versucht auf Grund historischer Kriterien, den Zeitraum zwischen Sphakteria und Delion, also ca. 424, als Auf-

führungszeit des Aias wahrscheinlih

zu machen.

Als sicheren terminus

ante setzt er

erst 420 an.

® Bevor man ein endgültiges Urteil über Komposition, Handlungsführung und Motivverwendung eines der beiden Dramen wagen kann, bedarf es zuvor auch einer Klärung des Zeitverhältnisses. Je nach der Entscheidung dieser Frage wären dann manche Ergebnisse zu modifizieren. So dürfte es beispielsweise vor allem unter dramaturgischen Gesichtspunkten für das Gesamtverständnis der soph. El. von nicht unerheblicher Bedeutung sein, wenn man nachweisen könnte, daß Sophokles nicht nur die Choephoren des Aischylos, sondern auch die Elektra des Euripides vor Augen gehabt hätte. AU. v. Wilamowitz, Die beiden Elektren, Hermes 18 (1883), 214—263.

5 H. Steiger, „Warum schrieb Euripides seine Elektra?*, Phil. 56 (1897), 561—600. 5 Die Literatur bis 1890 findet man bei F. Kraus, Utrum Sophoclis an Euripidis Electra aetate

sit prior,

Progr. Passau,

1890,

p.3—9.

Einen

Überblick

über

den

Stand

der

Literatur bis in die letzten Jahre gibt neuerdings V. d’Agostini, Sul rapporto cronol. fra 1 ἘΠ. sof. e "Ἐ!. eur., Riv. di Studi class. III (1955), 1—13. Für die Priorität d. Soph. treten unter anderem ein: Steiger, Vahlen, Kaibel, Jebb, T. v. Wilamowitz, Kamerbeek, Parmentier. Das euripideische Drama lassen vorausgehen: U. v. Wilamowitz, Bruhn, Pohlenz, Elisei, Perrotta, v. Blumenthal u. a.

1 So halten z.B. in letzter Zeit das Problem

für noch ungelöst oder sogar unlösbar:

W. Zürcher, Die Darstellung des Menschen im Drama d. Eur., Basel 1947, p. 143 A 47; F. Martinazzoli, Euripide, Rom 1947, p. 214. — L. A. Stella, Il poema d’Ulisse, Biblioteca di Cultura Nr. 47, Florenz 1955, p.86 (Ancora insoluto); H. Diller, Menschen-

darstellung und Handlungsführung bei Soph., Ant. und Abendland, VI (1957), p. 166; R. Goossens, Euripide et Athènes, Bruxelles 1962, p.565 Stellung der Trach. im Werk d. Soph., Diss. Hamb. 1960.

und

E.R.Schwinge,

Die

8 A. Lesky, Gesch. d. griech. Lit., 2. Aufl. Bern 1963, p. 421 schreibt: „Noch immer bleibt die alte Frage nach dem zeitlichen Verhältnis der Elektradramen des Soph. und des Eur. ein verzweifeltes Problem. Der Umfang der Debatte und die Überspitzung der

Einleitung

13

1. Die letzten ausführlichen Abhandlungen zum Elektrenproblem liegen mit den Arbeiten von Perrotta und Elisei fast dreißig Jahre zurück. 2.Der Versuch von Zuntz, die bisher allgemein anerkannte Datierung der euripideischen Elektra auf 413 zu entwerten und das Drama in die Zeit zwischen 425 und 420 zu setzen, hat eine völlig neue Lage geschaffen. Abgesehen von den grundsätzlichen Konsequenzen, die dieser Schritt für die Interpretation der Elektra und die Entwicklung des euripideischen Gesamtwerkes haben muß, berührt er speziell die Elektrenfrage aufs engste. Fällt nämlich die Datierung von 413, so wird damit zugleich der einzige Fixpunkt entzogen, auf den man sich bisher innerhalb des Problemkomplexes noch stützen konnte, so daß dann die Datierung sowohl des sophokleischen wie auch des euripideischen Dramas in der Luft hängen. Dadurch wird natürlich auch die Bestimmung der relativen Chronologie erschwert. Insbesondere drängt sich die Frage auf, ob eine so entschiedene Frühdatierung der Euripidestragödie eine Priorität des sophokleischen Stückes noch zuläßt. Die Tragweite der Zuntzschen These verlangt also eine kritische Auseinandersetzung mit den sie stürzenden Kriterien. 3. Obwohl beide Elektren eingehend nach formalen wie inhaltlichen Gesichtspunkten analysiert worden sind, scheinen uns für das Mißlingen der bisherigen Bemühungen um die Bestimmung der relativen Chronologie grundsätzliche methodische Mängel verantwortlich zu sein. Die Auswertung sprachlicher Einzelanklänge stellt keine ausreichende Basis für die Bewältigung eines so schwierigen Prioritätsproblems dar, da auf so begrenztem Raum wie dem eines einzigen Verses oder gar eines Wortes eine sekundäre Bearbeitung kaum auszumachen sein dürfte. Auch der vielstrapazierte Gesichtspunkt der künstlerischen oder weltanschaulichen Polemik des späteren gegen den früheren Dichter belastet mit der Annahme von Tendenzschriften die Diskussion durch sehr subjektive und zudem psychologisierende Interpretationen, die gerade im Hinblick auf Prioritätsentscheidungen, in deren Wesen ohnehin schon der Hang zum Bewerten liegt, gefährlich werden können. Beide Dramatiker, so glauben wir, stehen zwar im Falle der Elektren in dem Verhältnis einer bewußten Rivalität, die man aber nicht als Polemik,

sondern als schöpferische Imitatio verstehen wird. Dieser Aspekt, der wohl am ehesten ein Verständnis für den Unterschied in der künstlerischen Gestaltung beider Tragôdien eröffnet, scheint uns grundlegend. Deshalb halten wir einen Vergleich beider Elektren unter rein dramatisch-künstlerischen Gesichtspunkten für einen fruchtbaren Ansatzpunkt, der uns noch nicht genügend ausgeschöpft zu sein scheint. Eine Synkrisis der Gesamtstruktur und der Funktion paralleler Szenen sowie des Richtungssinnes gemeinsamer Motive garantiert eine sicherere Arbeitsgrundlage als die oben genannten subjektiven Betrachtungsweisen, weil Werkstücke wie Prolog, Anagnorisis, Agon und Intrige auf Grund ihres technisch-stofflichen Charakters objektive Gegebenheiten darstellen. Vor allem aber lassen sich an solchen Strukturelementen wegen ihres gewichtigen Funktionswertes und ihrer kompoArgumente zeugen davon, daß brauchbare Ansatzpunkte nicht vorhanden sind und wir uns

bei

der

Einsicht

bescheiden

müssen,

daß

zwei

große

Dichter

denselben

geringem zeitlichen Abstand in völlig verschiedener Weise behandelt haben.“

Stoff

in

14

Einleitung

sitionellen Großflächigkeit die Symptome einer Kopie besser ablesen, da ein richtungsändernder Eingriff eines Nachahmers um so deutlicher zu Tage tritt, je größer der Wirkungsgrad des „angetasteten“ Kompositionselementes ist. Mit der Frage des Zeitverhältnisses hängt die der Datierung beider Dramen, die sich unter Absehung von der relativen Chronologie gewinnen läßt, eng zusammen. Um erstens im Streben nach möglichster Objektivität diesen Datierungsversuch nicht durch eine vorausgehende Untersuchung der Prioritätsfrage zu präjudizieren und um zweitens die Prioritätsentscheidung durch eine vorherige Auswertung aller Datierungshilfen zu stützen, wollen wir die Frage der Datierung der der relativen Chronologie voranstellen. Damit zeichnet sich der Aufbau der Arbeit in den Grundzügen ab. Nad einer kritischen Auseinandersetzung mit den wichtigsten der bisher vorgelegten Lösungsversuche, aus der sich schon erste Maßstäbe für den eigenen methodischen Weg gewinnen lassen, gilt es zunächst, die beiden Elektradramen unabhängig voneinander möglichst genau zeitlich zu fixieren, wobei sowohl eine aus formalen,

dramaturgischen, motivischen und inhaltlichen Kriterien gewonnene chronologische Einordnung in das Gesamtwerk des betreffenden Dichters wie auch ein Vergleich der Elektren beider Tragiker mit Dramen des jeweiligen Rivalen bzw. mit Komödien als Stützen herangezogen werden sollen. Dadurch wird erstens die Tragfähigkeit der These einer Frühdatierung der euripideischen Elektra, wie sie Zuntz und nach ihm Matthiessen und v. Fritz vertreten, überprüft. Zweitens läßt sich auf diese Weise der ungefähre maximale Zeitabstand der Elektradramen — die Frage des Zeitverhältnisses bleibt dabei noch ganz offen — ermitteln. Und drittens ergeben sich vielleicht schon erste Hinweise für die relative Chronologie selbst. Dieses zentrale Problem soll im abschließenden Hauptteil der Arbeit behandelt werden. Bei der Schwierigkeit der Aufgabe scheint es geboten, das Problem von zwei verschiedenen methodischen Voraussetzungen aus anzugehen. Dadurch könnte das gewonnene Ergebnis auf doppelte Weise gesichert werden. Wir halten deshalb die beiden folgenden Lösungswege für fruchtbar: 1. Man hält die vielen, gegenüber Aischylos’ Choephoren neuen, von ihnen also unabhängigen und deshalb notwendig auf direkten Einfluß zurückgehenden auffälligen strukturellen und motivischen Parallelen zwischen beiden Elektradramen gegeneinander und versucht mit Hilfe einer vergleichenden Analyse die Richtung der Abhängigkeit zu bestimmen. 2. Die grundsätzliche methodische Bedeutung des aischyleischen Choephorendramas für die Lösung des Prioritätsproblems ist noch nicht erkannt. Wenn drei dramatische Bearbeitungen des gleichen Stoffes vorliegen, von denen die zeitlich früheste Fassung als der thematische Archetypus, von dem die beiden jüngeren Dichtungen ihren Ausgang nehmen, bekannt ist, dürfte man mit einiger Wahrscheinlichkeit zeigen können, welche der beiden späteren Variationen des Grundthemas direkt aus dieser Vorlage ableitbar ist und welche zu ihrer Erklärung eines zusätzlichen Zwischengliedes bedarf. Außerdem besteht die Aussicht, die bei dem agonalen, öffentlichen Charakter der griechischen Tragödienaufführungen besonders exponierte Stellung des letzten Bearbeiters, der nach zwei vorausgegangenen Abwandlungen desselben Sujets auch noch als dritter dem Stoff eine neue

Einleitung

Seite abzugewinnen können.

sucht,

für die Prioritätsentscheidung

15

fruchtbar machen

zu

Die „große Unbekannte“ liegt natürlich wie immer bei Prioritätsentscheidungen

ın den methodischen Grundsätzen, nach denen die Richtung einer Abhängigkeit festgelegt wird. Der Grad von Evidenz der gewonnenen Ergebnisse hängt entscheidend von der Tragfähigkeit dieser Axiome ab. Es gilt deshalb, die methodischen Instrumente nach Möglichkeit so zu verfeinern, daß man mit ihrer Hilfe den oft minimalen entwicklungsgeschichtlichen Unterschied zwischen einem motivischen „noc nicht“ und „nicht mehr“ ausmachen kann und objektive künstlerische

Entwicklungen und Abhängigkeiten nachzuweisen vermag, ohne der Gefahr zu erliegen, dabei der dichterischen Individualität und der Eigengesetzlichkeit eines Dramas Gewalt anzutun. Dazu bedarf es vorweg eines systematischen Entwurfs einer Typologie der motivischen und strukturellen Nachahmung, um gewisse typische, für den Vorgang der Entlehnung allgemein verbindliche Symptome festzulegen. In diesem Sinne soll diese Arbeit als ein grundsätzlicher Beitrag zur Methodologie in Prioritätsfragen verstanden werden. Die Vielzahl der im einzelnen vorgetragenen Argumente dürfen wir mit dem Hinweis

verteidigen, daß, wie so oft in der Philologie, gerade auch auf dem Feld

von Prioritätsentscheidungen an die Stelle eines nicht möglichen mathematisch exakten Beweises die Addition von Wahrscheinlichkeitsbeweisen treten muß.

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche Der Versuc, einen neuen methodischen Ansatzpunkt zur Lösung des Prioritäts-

problems aufzuzeigen, erfordert zunächst eine kritische Auseinanderserzung mit den bisher vorgelegten Lösungsvorschlägen. Dabei müssen wir uns wegen der allzu umfangreichen Literatur und der unübersehbaren Zahl von Einzelargumenten auf die Kritik der wesentlichen vorausgegangenen Beiträge beschränken. Der Übersicht halber gliedern wir diese Antikritik analog den beiden hauptsächlich ins Feld geführten methodischen Aspekten in zwei Abschnitte: I. Vergleich der Gesamttendenz beider Stücke; II. Detailvergleih unter Berücksichtigung sprachlicher, metrischer und motivischer Parallelen.

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen U. v. Wilamowitz führte in seinem berühmten, oben bereits erwähnten Hermesaufsatz, in dem er für die Priorität der euripideischen Elektra eintrat, als

erster den Aspekt einer weltanschaulichen Polemik in die Diskussion um das Zeitverhältnis der Elektren. Er sieht in den beiden Tragödien nur ein Produkt literarischer bzw. religiöser Polemik, die er in dem Sinne deutet, daß Sophokles zur Verteidigung des Mythos und des alten Glaubens der schonungslosen Kritik des Euripides an Aischylos und dem von Apoll befohlenen Verbrechen des Muttermords den Kampf angesagt habe. Sophokles sei mit dem Entwurf seiner reinen und edlen Elektragestalt der teuflischen des Euripides entgegengetreten und habe wie Homer! den Muttermord als eine von der delphischen Religion sanktionierte Tat moralisch gerechtfertigt?. Mit dieser Interpretation der Elektradramen als Tendenzschriften beeinflußte U. v. Wilamowitz die folgende wissenschaftliche Diskussion nachhaltig. Zwar wurde seine These von der Priorität der euripideischen Elektra fast allgemein zurückgewiesen. An der verfehlten Gesamteinstellung den beiden Tragödien gegenüber änderte sich jedoch nicht viel. Sie wurden weiterhin als weltanschauliche Bekenntnisdramen aufgefafits. Man kehrte die Interpretation von Wilamowitz einfach in der Weise um, daß nun Euripides als der leidenschaft-

liche sittliche Neuerer den „unsittlichen, in die Barbarei des Heroenepos zurück1 Dabei

dient ihm der Vers Od.

Ὑ 310 als Beweis

dafür, daß

Homer

das Faktum

des

Muttermords des Orest bereits gekannt habe. Und Sophokles sei darüber hinaus legitimiert gewesen, aus y 310 die Billigung der Orestestat durch Zeus herauszulesen. Den Vers Od. y 310 versucht E. Schwartz, Die Odyssee, p. 306, zu streichen, während er den

vorhergehenden Vers durch y 311 im Zusammenhang mit ὃ 547 als gesichert erkannte. 2 Vgl. U. v. Wilamowitz, p. 235. $ So auch noch Heinemann, Die trag. Gestalten der griech. Literatur, Berlin 1920.

I. Vergleich der Gesamtiendenz beider Dramen

17

sinkenden Standpunkt“ des Sophokles angriff*. Als Hauptexponent dieser Meinung darf H. Steiger gelten, während E. Bruhn® mit seiner Deutung des sophokleischen Elektradramas als einer Apologie der delphischen Religion gegen den euripideischen Atheismus und M. Pohlenz? in der Nachfolge von U. v. Wilamowitz die Priorität der euripideischen Elektra verfechten. Trotz der verdienstvollen Versuche einer methodischen Neuorientierung durch T. v. Wilamowitz® und Perrotta® scheint es 4 Von einer homerischen Konzeption spricht J. Case, Apollo and the Erinyes in the Electra of Sophocles, Class. Rev. 1902, p. 195—200. 5 Phil. 56, 1897, p.560 ff. und „Euripides, Seine Dichtung und Persönlichkeit“, Leipzig 1912. Ihm schließen sich Jebb und Kaibel in ihren Kommentaren an. δ Kommentar zu Soph. El. 1912 und „Lucubrationum euripidearum capita selecta“, in Fleceisens Jahrbücher für Klass. Phil. XV (suppl.), p. 308—324. Bruhn versucht seine Ansicht von der Priorität der euripideischen Tragödie noch mit Hilfe eines argumentum e silentio zu stürzen (a. O. p. 29): Euripides polemisiert nachweislich gegen Aischylos, was durch die Verse 520—46 Eur. El. mit der Kritik an der Erkennungsszene der Choephoren als gesichert gilt; er würde gegen Sophokles, wenn dessen Elektra vorgelegen hätte, noch viel stärker polemisiert haben, da die sophokleische Tragödie mit ihrer Tendenz einer angeblichen Rechtfertigung des Muttermordes der Konzeption des Euripides viel schroffer entgegensteht. Er hat es aber nicht getan, auch an solchen Stellen nicht, wo wir im Falle einer Priorität des Sophokles eine polemische Beziehung unbedingt erwarten müßten. Die euripideische Tragödie geht voraus. Wir sind der Notwendigkeit enthoben, auf diesen Beweisgang Bruhns im einzelnen näher eingehen zu müssen, da T. v. Wilamowitz (Die dramat. Technik des Sophokles, 1917, 210) das argumentum e silentio bereits mit guten Gründen als Grundlage zur Lösung

des Prioritätsstreites zurückgewiesen

hat (Gleichwohl stellt sich Pohlenz in der

zweiten Auflage seines Tragödienbuches, Erläuterungen 128, erneut hinter die Beweisführung Bruhns). Allgemein darf aber folgendes bemerkt werden: Bruhn begeht methodisch den Fehler, daß er aus einer Überschätzung der Kritik des Euripides an der aischyleischen Erkennungszene, einer Kritik, die doch ganz vereinzelt dasteht, gar nicht

tief geht und quasi nur als literarisches Bonmot, wie es mein Lehrer H. Patzer einmal bezeichnete, verstanden werden darf, auch für den Fall einer Priorität des Sophokles notwendig eine literarische Polemik des Euripides gegen seinen Vorgänger pöstuliert. Eine solche Argumentation kann nur da aufkommen, wo man kleinliche Kritik als Tendenz euripideischen Dichtens ansetzt. Dafür gibt es m. E. keinen Anhaltspunkt. Gegen die Beweisführung

Bruhns

wendet

sich auch Perrotta, Sofocle,

1935, p. 401

A 3, der

bemerkt, daß Euripides sonst eine Kritik an seinen Zeitgenossen nicht nachgewiesen werden kann (vgl. auch P. Keseling, Phil. Wochenschrift 1941, p. 391 und K. Münschner, Zur mesodischen Liedform, Hermes 1927, p. 165 A 1.). Daß Euripides an der Erkennungs-

szene der Choephoren Kritik übt, wird, wenn man von Murray und neuerdings von W. =

Ludwig, Sapheneia, Tübingen 1954, 126 ff. absieht, allerseits angenommen.

Die griech. Tragödie, Göttingen, 1930, I p. 325 und II 89 f. u. 2. Auflage p. 306 ff. ” Ablehnend

gegenüber

Pohlenz’

Argumentation:

Denniston,

Komm.

zu

Eur. El.

p- XXXV; Schmid, Griech. Lit. Gesch. I, 2, 388 A 5. Pohlenz glaubt, daß ein Vergleich von Einzelheiten zu keiner Lösung führe. Man müsse daher mit allgemeinen Argumenten operieren: Der erste der beiden Tragiker, welcher nach Aischylos den Orestesmythos dramatisch gestaltet habe, sei derjenige gewesen, der aus einem inneren Zwang gegen die Choephoren geschrieben habe. Das gelte allein für Euripides. Hinter einer solchen Beweisführung steht natürlich wieder das alte, stark schematisierte Bild von einem schöpferischen Prozeß der beiden jungen Tragiker, gemäß dem Euripides grundsätzlich aus einem „serious ideational purpose“ heraus dichter, Sophokles dagegen „the sacred stories only for their own sake“ gestaltet. 8 Die dramat. Technik des Sophokles, 1917, p. 228 ft. 2 Vôgler,

Interpretationen

5 Sofocle, Messina, 1935, p. 404.

18

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

aber immer noch nicht gelungen zu sein, die von U. v. Wilamowitz begründete Hypothese zu überwinden, wie ihr Wiederaufleben in den Arbeiten von Whitman Ὁ und K. v. Fritz!! zeigt. Dieser kurze Überblick sollte als Einführung in die Problemlage zugleich die Fragwürdigkeit des an die beiden Elektren angelegten Maßstabes demonstrieren. Abgesehen davon, daß diese Betrachtungsweise eine Lösung des Problems schon deshalb nicht zu leisten vermag, weil sie die Priorität beider Dramen in gleicher Weise zu beweisen geeignet wäre, bleibt noch grundsätzlich zu prüfen, ob überhaupt der Versuch einer Identifikation des dichterischen Anliegens mit einer weltanschaulichen Tendenz einer unvoreingenommenen Betrachtung der Texte gerecht wird. Wir müssen feststellen, daß der von Wilamowitz und seinen Nachfolgern vertretene Interpretationsaspekt!? methodisch bedenklich erscheint, weil er zu einer sehr einseitigen Betrachtung des euripideischen und einer Mißdeutung des sophokleischen Stückes geführt hat, die ihre Entstehung dem Bestreben verdanken,

die

beiden Tragiker in ein bestimmtes gegensätzliches Verhältnis zu bringen, um daraus geeignete Schlüsse für die Prioritätsfrage ziehen zu können. Wenn wir im folgenden die weltanschauliche Betrachtungsweise als ungeeignet für eine Lösung des Elektrenproblems erweisen wollen, scheuen wir uns nicht, manche bereits gesicherte Erkennt-

nisse aufs neue vorzutragen, wo sie dazu beitragen können, das umstrittene Bild beider Elektradramen zu klären.

10 Whitman, Sophocles, Harvard Univ. Press 1951, p. 51. 11 K. v. Fritz, Antike u. moderne Tragödie, Berlin 1962 sieht in der euripideischen Elektra

eine Polemik gegen die moralische Grundlage der gleichnamigen soph. Tragödie und glaubt damit die Prioritätsfrage entscheiden zu können. Nach seiner Ansicht har Euripides bewußt durch die Beseitigung bzw. Veränderung der den sophokleischen Muttermord als unausweichliche Folge der gegebenen Situation kennzeichnenden Elemente der Motivation die Unausweichlichkeit des Mordes aufgehoben und mit dieser deutlichen Verlagerung der Akzente eine Ändernug der Bewertung der Tat angestrebt. Dieser Deutung können wir uns nicht anschließen, da sie entscheidende Tatsachen über-

sieht. Wenn v. Fritz z. B. darauf hinweist, daß vor allem die Unerträglichkeit der äußeren Situation, der bei Sophokles entscheidende Bedeutung

zukomme

(Elektra lebt inmitten

der vergifteten Atmosphäre des Palastes), von Euripides aufgehoben sei, übersieht er die eminente Funktion, die die Verlegung der Handlung in das erniedrigende Milieu des dürftigen Landlebens als stimulierendes Agens für die euripideische Heldin besitzt. Ebenso übersieht K. v. Fritz, daß die Motivation der Vergeltungstat in Form des Befehls Apollons bei Euripides gegenüber Sophokles wieder erheblich an innerer Konsequenz gewonnen hat und damit die Schwächung der Motivierung aus dem Charakter Klytaimnestras

kompensiert

wird

(vgl. Eur.

El. 71/3

und

1244 ff.). Im

euripideischen

Drama

befiehlt der delphische Gott den Mord ausdrücklich (anders bei Sophokles) und hat Orest, obwohl weit davon entfernt, dem Befehl Apolls skrupellos zu gehorchen, nicht den Mut, sich gegen den Spruch aufzulehnen. Des Gottes Weisheit wird bei Euripides doch gerade deshalb fragwürdig, weil Apoll dem Orest den entschiedenen Auftrag zum Muttermord gegeben hat. v. Fritz scheint uns mit seiner Auffassung eines in Euripides’ Elektra nicht motivierten und deshalb im letzten Sinne überflüssigen Muttermordes der Problemstellung des Dramas kaum gerecht zu werden. Damit müssen zugleich seine Folgerungen für den Prioritätsstreit als unbegründet angesehen werden. 13 Den alten Standpunkt nehmen auch u. 2. A. S. Owen,

date of the Elektra of Sophokles, p. 146; Ph. W. Harsh,

Greek Poetry and life, 1936, The

A Handbook of classical Drama,

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

19

Was das Drama des Euripides anbelangt, so kann die bereits von T. v. Wilamowitz13, Zürcher! und zuletzt von Schiassi!® kritisierte Charakterskizze der euripideischen Elektragestalt, wie sie U. v. Wilamowitz entworfen hat16, nicht aufrecht erhalten werden. Die Deutung der Elektra als teuflische Verbrecherin, ın deren Charakter der Muttermord zugleich seine Erklärung und Verurteilung finden konnte, ist aus folgenden Gründen verfehlt: 1. Wäre das von Wilamowitz entworfene Elektrabild vom Dichter beabsichtigt, so hätte er Orest als haltloses Werkzeug in der Hand einer verdorbenen, für den Mord allein verantwortlichen Schwester gezeichnet. Der Text dagegen zeigt, daß Orest von Anfang an zur Ausführung des Muttermords fest entschlossen 1511 und bis zum Zusammentreffen mit der Mutter zielbewußt dieses Vorhaben angeht '®. Nur über den Weg zu diesem Ziel ist er sich noch nicht im klaren. 2. Die Charakterisierung der Agamemnontochter im euripideischen Drama entspricht keineswegs dem von Wilamowitz entworfenen Zerrbild!®. Die freundliche, von Rücksicht getragene Haltung gegenüber ihrem Gatten (67 ff.) 2°, ihre Zuversicht auf die Heimkehr des ersehnten Bruders (330 ff.), die trotz ihrer mißlichen Lage immer wieder durchbrechende Liebe zum ermordeten Vater (153, 277 ff., 1102, 1146) 2t, die Anhänglichkeit an den Bruder (143, 300 ff.), vor allem aber die echte Reue nach der Tat und der schmerzliche Abschied vom Bruder zeigen die Unhaltbarkeit der Auffassungen von Wilamowitz, Steiger und Bruhn, der Elektra jede menschliche Regung absprechen zu wollen und in ihrer Person ein „Hinabziehen ins Niedrige, Lieblose, Unweibliche, ja Unmenschliche zu sehen“. Außerdem versucht der Dichter gerade im Unterschied zu Sophokles die Handlungsweise der Heldin durch die niederdrückenden äußeren Bedingungen ihres Lebens auf dem Land verständlich zu machen 2, Stanford 1944, p. 141 u. jüngst Stoessl, Die Elektra des Eur., Rhein. Mus. 1956, p. 90f. ein. 139.237 fl. 14 Die Darstellung des Menschen im Drama des Euripides, Basel 1947, p. 121 fl. 15 Komm. zur eurip. Elektra, Bologna 1957, introd. p. 33. 16 Die Belege im einzelnen bei v. Wilamowitz, p.238 A 2; vgl. dazu Pohlenz, p. 332 u. H. Hunger, Realistische Charakterdarstellung in den Spätwerken des Euripides, Comm. Vindob, 11.1936, p.10. 17 Vgl. Eur. El. 100f.,278ff. 18 Vgl. Eur. El. 615, 640 u. 646. 18 Gegen den neuerlichen Versuch von Friedrich, Euripides und Diphilos, 1953 p. 82 ff., aus

den verschiedenen Teilen des Dramas ein Charakterbild der Heldin zusammenzusetzen („instinktlos, unempfindlich, harthörig“), wendet sich mit Recht Strohm, Euripides, 1957, Zetemata 15,p.15 A 3. 20 Man vergleiche dazu die unverständliche Interpretation von Wilamowitz (p. 229): „Sie beherrscht, tyrannisiert, verachtet im Grunde den Mann, dem sie zu Dank verpflichter ist.“ — Diese Deutung kann nur einer einseitigen Interpretation der Verse 404 ff. entspringen.

2: Das Motiv der Pietät gegenüber dem Vater bildet allerdings für die euripideische Heldin nicht diejenige zentrale Triebkraft ihres Handelns wie für die sophokleische. Der Haß der euripideischen Elektra ist nicht nur die Kehrseite ihrer Liebe zu dem Ermordeten, sondern erwächst aus der augenblicklichen δυστυχία. Insofern scheint uns Zürcher (p. 122) das Motiv der Vaterliebe zu stark zu betonen. *2 Zu Elektras Leben in Armut: vgl. Rivier, Essai sur le tragique d’Euripide, Lausanne 1944, p- 136. 2"

20

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

3. Die Auffassung, die Gestalt der euripideischen Elektra diene nur dazu, das unmenschliche Gebot des delphischen Gottes zu kritisieren, entbehrt jeder Grundlage, da gerade Elektras Tat nicht auf den Befehl Apolls zurückgeht, sondern persönlichen Motiven entspringt, Apoll also dadurch nicht verurteilt werden kann. Zum Beweis dürften die Verse 1303-1307 dienen, wo aus der Fragestellung Elektras und der Antwort der Dioskuren deutlich hervorgeht, daß allein Orest’s, nicht aber Elektras Schuld auf Apoll abgewälzt werden kann. Nicht Apoll, sondern κοιναὶ πράξεις,

κοινοὶ δὲ πότμοι,

μία ἄτη, also eine Art Erbfluch, wird

für das

Handeln Elektras mitverantwortlich gemacht®. Neben dieser Fehldeutung der euripideischen Hauptfigur führte die einseitige moralisch-tendenziöse Betrachtungsweise der euripideischen Tragödie auch zu einer Überbewertung der Kritik des Dichters an dem Befehl Apolls zum Muttermord. Eine derartige Deutung dürfte nur dort Gehör finden, wo einseitig Götter- und Mythenkritik als Tendenz euripideischer Dichtung vorausgesetzt werden. Die Elektra des Euripides will zuerst als dramatisches Kunstwerk verstanden werden und nicht einfach ein Ausdruck aufklärerischen Protestes sein, wenn sie auch diesen

Protest in das Werk miteinbezogen hat?4. Ohne die Apollkritik zu unterschätzen, möchten wir behaupten, daß das dichterische Anliegen nicht auf einige wenige polemische Äußerungen? reduziert werden darf. Gegen eine solche Deutung sprechen gewichtige Gründe: 1. Wenn der Dichter sein Drama als Instrument destruktiver Götterkritik konzipiert hätte, so könnte man kaum verstehen, warum Euripides gerade die Hauptperson seines Stückes, Elektra, welche bei der Tat die Hauptinitiative entfaltet und somit die eigentliche Schuld und Verantwortung trägt, sich nicht auf Apolls Befehl stützen läßt2®, sondern ıhr Handeln durch persönliche Not und Erniedrigung motiviert. 23 Vgl. Schmid,

Griech. Lit. Gesch. I, 3, p. 491. Das

textkritische Problem

der Personen-

verteilung in den Versen 1292—1302 macht immer noch Schwierigkeiten. Mit Stoessls Lösung (Rh. Mus., 1956, p. 82 ff.) stimmen wir nicht überein und schließen uns der Lösung von Denniston an. Die Antwort der Dioskuren in Vers 1294 kann sich meines Erachtens

nur auf eine Frage des Chores 1292/93 beziehen, denn nur für ihn trifft der Plural οὐ μυσαραί zu. Die Entlastung Elektras vollzieht sich erst in den Versen 1305—07. Damit gehören auch 1298—1300 dem Chor. Den Vers 1295 gebe ich mit P und Denniston sowie Schiassi (gegen L und Murray bzw. Stoessl) nicht Elektra, sondern Orest. Im anderen Falle würde die Frage Elektras 1303 f. unverständlich. Stoessis psychologischer Erklärung, Elektras schuldbewußtes Gewissen gestatte es ihr immer noch nicht, sich durch Apolls Verantwortung als mitentlastet zu begreifen, kann ich nicht zustimmen. Zu einer Umstellung der Verse 1295—97 hinter 1302 im Sinne von Winnington-Ingram

(Class. Rev.

51, 1937, p.5f.), dem sich Schiassi, Rivista di Filologia 1953 p. 262 anschließt, sehe ich keinen zwingenden Grund (vgl. Spira, Untersuchungen zum Deus ex machia bei Soph. u. Eur., Diss. Ffm. 1957, p. 104 A 26). » Vgl. A. Lesky, Gesch. d. Griech. Lit. p. 421f., Stoessl, p. 88 ff., Spira p. 101 ff. und G. Schiassi, Rivista di Filologia 1956, p. 264 f. 25 Eur. El. 971, 1244, 1301. Dazu vergleiche auch

I. T.70f.,

711,

1174

und

Or. 28—30,

160 ff., 191, 417, 591—601.

2% Bezeichnenderweise beruft sich auch Orest unmittelbar nach der Anagnorisis (583—84) nicht auf den besonderen Befehl Apolls, sondern auf ein generelles Prinzip der Gerechtig-

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

21

2. Der Tadel an der Autorität Apolls wird durch den mehrfachen Hinweis des Dichters entschärft, Apoll habe trotz seiner ἀμαθία nur verlangt, was der Notwendigkeit entsprach und eine gerechte Bestrafung der Schuldigen herbeiführte (Eur. El. 1254, 1290, 1301). Der Gott trägt nicht allein die Schuld an der Mordtat, sondern teilt die Verantwortung mit der unabänderlichen Fügung der Moira und Ananke (1301) und der Wirkung des Geschlechterfluchs?7. 3. Die Kritik an dem delphischen Gott verliert noch mehr an Gewicht, wenn man sie im Zusammenhang mit der Funktion des Schlußteils der Tragödie, mit dem sie aufs engste verknüpft ist, interpretiert. Gerade in dem Versäumnis, die einzelnen Äußerungen der Polemik an Apoll in die Gesamtproblematik des Dramenschlusses einzuordnen, scheint uns ein Mangel vieler bisheriger Deutungen zu liegen. Nach dem Zusammenbruch der Geschwister dient das Erscheinen der Dioskuren dazu, den ϑνητοὶ πολύμοχϑοι in dieser Situation der Verzweiflung und scheinbaren Aussichtslosigkeit einen Ausweg zu zeigen. Die Dioskuren deuten das Leid der Geschwister im Zusammenhang einer vorher noch verdeckten höheren Ordnung (Eur. El. 1301 f.) und führen sie dadurch zu einer Einsicht in die Unabänderlichkeit des Geschehenen, die ein Tragen des Leides ermüglicht?8. Die Funktion der Dioskuren besteht nicht primär darin, Götterkritik zu üben, sondern das Geschick der

Agamemnonkinder zu deuten. Deshalb liegt die Bedeutung des Dramenschlusses nicht in der sporadischen Polemik gegen Apoll, sondern in der Botschaft des Dichters von der Hilfe der göttlichen Mächte für die in Schuld geratenen Menschen. Die Anklagen gegen Apoll können deshalb nicht isoliert betrachtet werden, sondern erhalten ihren tieferen Sinn erst dadurch, daß man sie als einen integrierenden Bestandteil der tragischen Gesamtkonzeption faßt. Der Mensch erlebt erst keit. Auch die Bedeutungslosigkeit des Pylades bei Euripides darf in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Zu stark schränkt Rivier die Bedeutung des Protests an Apoll ein (vgl. Denniston, p. XXI). Richtig dagegen seine grundsätzlichen Bedenken gegen die Auffassung, daß der Gehalt der eurip. El. mit einem Protest gegen die traditionelle Religion gleichzusetzen sei (vgl. p. 139 A 2). 27 Pohlenz will allerdings die Erwähnung des Orakelspruchs (1302) und der Moira (1301) streng sondern. Gegen die Meinung von Pohlenz und Steiger, der ἀλάστωρ in Vers 979 sei identisch mit Apoll, hat Zürcher, p.136 mit Recht Bedenken geäußert. Man wird Zürcher allerdings nicht mehr folgen können, wenn er p. 136 ff. die Schlußszene als Ausdruc einer Amathie der kosmischen Weltordnung deutet. 28 Unhaltbar scheint daher die These Zürchers p. 131 ff., der an eine innere Bedeutung der Gösttererscheinung für das Stück anscheinend nicht glaubt und deshalb gezwungen ist, den Umschlag Elektras in die Verzweiflung als „psychologisch“ nicht echt, sondern lediglich als eine dramentechnische Angleichung an Orests Befinden zu deuten und die Reue nach der Tat als „einer populären Psychologie entsprechend“ abzutun. 29 Spira, p.111,

betont

mit Recht

den sekundären

Charakter

der Apollkritik

des Orest

(V. 971), die einfach auf Grund einer Verlagerung der Problematik in den innermenschlichen Bereich mitgesetzt sei. Diese Deutung scheint mir sehr plausibel. Während der Tat erfährt der euripideische Orest die Wahrheit nicht wie bei Aischylos von außen in

Gestalt

der

Rachegöttinnen,

sondern

als

seelische

Verzweiflung,

als

innermensch-

lichen Vorgang. Er sieht die Problematik der Tat. Es bemächtigen sich seiner Zweifel, die schließlich auch die Autorität des Gottes treffen. Hier scheint mir im Sinne von Spira die sekundäre Funktion der Apollkritik sehr deutlich hervorzutreten: Sie ist nicht bestimmendes Telos im Drama, sondern lediglich erwas durch eine neue Konzeption Mitgegebenes.

22

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

vor dem göttlichen Hintergrund, hier in der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Befehl Apolls, der ihn zum Muttermord und damit in eine Grenzsituation treibt, die Zweifelhaftigkeit und damit die Tragik menschlichen Seins. Erst so wird er dieser menschlichen Urerfahrung gegenwärtig, die er von sich aus nicht zu bewältigen vermag und die ihn in ihrer ganzen Problematik zu Zweifel und letztlich zur Kritik an dem Gott veranlaßt. Aber gerade durch diese Kritik hindurch führt ein Weg zu einer neuen Ordnung, die von den Dioskuren aufgezeigt wird. Nicht auf der Götterkritik liegt also unserer Meinung nach der Akzent, sondern auf der Irrtumsfähigkeit, der Begrenztheit menschlichen Handelns und Wissens, das zunächst in die Katastrophe zu führen droht, aus der sich aber schließ-

lich durch das Erscheinen der Götter als helfender Löser ein neuer Weg auftur®®, Nicht die Kritik an Apoll, sondern eine Wiederherstellung der göttlichen Ordnung steht am Ende der Handlung®!. Die These von einer antitheologischen Tendenz des Euripides in seinem Elektradrama scheint uns danach unhaltbar und zur Lösung des Prioritätsproblems ungeeignet. Zu einer noch stärkeren Fehldeutung führte die weltanschauliche Betrachtungsweise bei Interpretation der sophokleischen Elektra, deren Verständnis immer noch problematisch ist#?. Da Sophokles am Ende seines Stückes auf ein Er30 Vgl. Zürcher, p. 139. 81: Der Deus ex machina in der euripideaschen Elektra ist kein bloßes Anhängsel zum Zweck einer Polemik, sondern sein Eingreifen stellt einen Bestandteil der Gesamtkonzeption dar, ohne den die vom Dichter bezeichnete Problematik unverständlich bleiben muß. Die Epiphanie des Maschinengottes als restitutives Prinzip bewirkt die Lösung der menschlichtragischen Aporie. Vgl. Schiassi, Riv. di Fil. 1956, p. 26 fl. 2 T. ν. Wilamowitz sieht in Opposition gegen Steiger und Bruhn die Klimax des Stückes in der Wiedererkennungsszene und hält auf Grund dieser primär vom Begriff des Dramaturgischen getragenen Interpretation jeglichen Versuch einer religiösen Deutung für verfehlt; Sheppard, Class. Rev. 41, 1927, p. 2-9 bzw.

, :

163—165

glaubt, Apoll habe

zum Muttermord gar nicht aufgefordert (Dagegen Owen, Class. Rev. 1927, p. 50—52). Reinhardt sieht in der Tragödie ein auf die Gestalt Elektras zugeschnittenes Pathosdrama; Weinstock (Sophokles 1931) nennt die Elektra die Inkarnation der göttlichen Gerechtigkeit. Für Perrotta (Sofocle 1935) ist es „non la tragedia della vendetta, ne la tragedia del riconoscimento, ma la tragedia del sofference di Elettra® (p. 361); dagegen meint Bowra, Sophoclean Tragedy, 1944: „The story of triumph of justice is restored by the gods.“ (p.260); F. Letters, The Life and Work... p.245: „Sophocles’ Electra remains true to its title. It is primarily a character study of the heroine, though I have no intention of denying that the author has shown his attitude to Orestes and his mission quite plainely“; nach Whitman, Sophocles, 1951, geht es dem Dichter um „the problem of Electra’s salvation“ (p. 161). Kirkwood, A study of Sophocles Tragedy, 1958, vertritt die Ansicht, es sei das Drama Elektras, nicht des Orest oder der Rache. Kitto, Sophokles, Dramatist and Philosopher, 1958, betont unter teilweiser Zurück-

nahme früherer Ansichten den starken Einfluß der religiösen Anschauung; die Rache sei durch die Religion selbst gerechtfertigt (p. 26). Lesky schließt sich Bowra an (vgl. Die trag. Dichtung d. Hell, 1956, p.125). Man vergleiche auch die Deutung von H. Heubner, Die Elektra des Sophokles und ihr dichter. Anliegen, Festschrift Gymn. Wehrl. 1957. Wenn zuletzt R. Shwinge, Die Stellung der Trach. im Werk des Soph. Hamburg 1960, p.143 A2, feststellt, über die Bedeutung des dichterischen Gehaltes der sophokleischen Elektra herrsche Einigkeit, so wird diese allzu optimistische These

durch die oben angeführte Literatur der letzten Jahre widerlegt.

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

23

scheinen der Erinyen und eine Kritik an Apoll verzichtet und da das Drama im Gegensatz zu den Tragödien des Aischylos und Euripides mit einem Triumph der Geschwister zu enden scheint, denen keine Schuld zugeschrieben wird, deutete man das Drama als eine Apologie der delphischen Religion. Sophokles habe den Muttermord als „objektive Notwendigkeit“ rechtfertigen wollen®®. Gegen eine solche Deutung erheben sich schwerwiegende Bedenken. 1. Die Ansicht, Sophokles habe mit seiner angeblichen Billigung des Muttermordes auf die objektive Darstellungsart des Epos zurückgegriffen, entbehrt jeder Grundlage, da aus der von U. v. Wilamowitz herangezogenen Stelle Od. y 309. nicht hervorgeht, ob bei Homer überhaupt ein Muttermord vorliegt, und der Text mehrere Deutungen zuläßt®, Uns scheint J. T. Sheppard den tiefgreifenden Unterschied zwischen der homerischen und der sophokleischen Fassung klar be-

zeichnet zu haben ®®. 2. Eine rückhaltlose Billigung des Muttermords hätte den Dichter in schärfsten Gegensatz zu den eigenen sittlichen Anschauungen” und denen seiner Zeit?® gebracht, zumal bereits die Fassungen des Stoffes zwischen Homer und der Tragödie? im epischen Kyklos und bei Stesichoros unter dem Einfluß der delphischen Sühnungsreligion Hinweise auf die Notwendigkeit einer Sühnung des Muttermordes und auf dessen Problematik enthalten.

3 Vgl. U. v. Wilamowitz, Hermes 18 (1883), 214—263 und H. Steiger, Phil. 56 (1897), p-595 und 600. Bruhn, Pohlenz, jebb, Denniston schließen sich dieser Meinung ebenso an wie neuerdings Letters, The Life and Work of Soph., London 1951.

34 Vgl. Bowra, p. 218 und Kirkwood, p. 167 A 55. 35 Vgl. Schol. Od. y 310 und Schol. Od. a 300; vgl. Robert, Bild und Lied, p. 163; die Scholien weisen darauf hin, daß die Verse Od. γ 309 6. in einigen Ausgaben fehlten und Aristarch die Ansicht vertreten habe, der Dichter weise auf den Tod der Klyt. hin, jedoch nur auf die Tatsache als solche, ohne sich über die Art und Weise des Todes zu äußern. 36 Class. Rev., 41, 1927, p. 2—9.

37 Es beweist der Inhalt zweier verlorener Sophoklestragödien, des „Alkmaion“ und der „Epigonoi* (vgl. Pearson, Soph. fragm. p. 68 ff. bzw. 129ff.), daß der Dichter sich durchaus der Problematik des Muttermordes und der Notwendigkeit einer Sühnung dieses Verbrechens bewußt war. Aus der Erigone läßt sich nichts Sicheres gewinnen (vgl. Lesky, RE-Art. „Orestes“, p. 988 ff.). 38 Zum

Beleg

vgl.

Bowra

p.220,

und

M.Nilsson,

Gesch.

d. griech.

Religion,

München

1941, p.599 f. und bes. 601 ff. Daß die Notwendigkeit der apollinischen Blutrache aufs engste mit dem Gedanken der apollinischen Blutsühne und Reinigung verknüpft war, zeigt Th. Zielinski, Die Orestessage und die Rechtfertigungsidee, Neue Jahrb. 3, 1899, p.97;

vgl.

auch

Parke-Wormell,

The

H. Gossner, Orestes und das Problem

Delphic

Oracle,

Oxford

des Muttermordes,

1956,

p.303f.

und

Zeitschr. für d. Ost. Gymn.

LXIV, 1913, p. 193 ff. und p. 299f.

% Zur Entwicklung des Mythos Art. Orestes in RE;

vgl. Robert, Gr. Heldensage,

A.Olivieri, Riv. di Filologia,

1926, p. 1302 ff. A. Lesky,

1895, p. 145—207,

1897, p. 570—97,

1898, p. 266-93; K. Kunst, Wiener Studien 44, 1924/5, p. 18—32 und 143—54. 4 In den Nostoi weist die Begleitung Orests durch Pylades auf die Nähe Delphis und des Orakels (über die Stellung des Pylades vgl. Verrall, Komm. Aisch. Choeph., Introd. XIX f.). Da die ungefähr zur gleichen Zeit verfaßte Aithiopis (vgl. Jebb Komm. Elektra p. XXIV) bereits die Notwendigkeit der Reinigung von Blutschuld und die Funktion Apolls

als Sühnegott

voraussetzt,

darf eine

ähnlich

bedeutende

Rolle

Apolls

in den

24

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

3.Die verfehlte Deutung des sophokleischen Elektradramas im Sinne einer Tendenzschrift zur Verteidigung des Muttermordes beruht auf einer Verkennung des tiefen Unterschiedes im Verständnis tragischer Problematik, der zwischen dem Frühwerk des Dichters (Aias, Antigone, Trach., O.R.) und seinem Spätwerk besteht. Man wird der gewandelten Form der Tragik, die das Elektradrama mit dem Philoktet und dem O.C. zu einer Dramengruppe zusammenschließt, nicht gerecht. Um einige Irrtümer aus dem Wege zu räumen, scheint es uns geboten, in aller Kürze auf die Entwicklung des sophokleischen Gesamtwerkes einzugehen!. Die veränderte Auffassung vom Ablauf eines tragischen Geschehens und von der Stellung des Menschen innerhalb dieser tragischen Handlung in den Spätdramen des Sophokles wurzelt in einem neuartigen Verhältnis des Menschen zu Gott®. Will man

diesen Umbruch

charakterisieren, so kann

man

von

einer Akzentver-

lagerung sprechen, welche an die Stelle der schicksalhaften Verblendung, die in den frühen Stücken auf Grund eines von Gott gesetzten Schicksals zu einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen göttlihem Willen und menschlihem Handeln und schließlich zur unausweichlichen Katastrophe des Individuums führt, in den späten Stücken einen vorübergehenden menschlichen Irrtum setzt, der den Einzelnen zwar bis zu einem gewissen Grade in Gegensatz zu einem nur noch von fern wirkenden Götterwillen bringt, sih am Ende aber aufklärt und somit ein Zusammenfallen von göttlidhem und menschlichem Wollen ermöglicht. Diese neue Konzeption birgt nicht mehr die tragische Tiefe des Frühwerkes. In demselben Maße, wie die Stimme des Göttlichen immer weniger den Gang des Geschehens direkt beeinflußt und sich in den Hintergrund zurückzieht#, ohne allerdings ganz zu verstummen, bekommt das menschliche Handeln ein neues Eigengewicht. Es liegt dem Dichter nicht mehr vornehmlich, wie z. B. im Aias oder im ersten Oedipus, an der Darstellung des scharfen Gegensatzes von göttlichem Wissen und menschlicher Verblendung. Er bemüht sich weniger um die Frage nach der Ursache menschlicher Verschuldung und ringt nicht um die Erhellung tiefer weltanschaulicher Probleme (etwa um das der Berechtigung eines Muttermordes!), sondern sein Augenmerk Nostoi als sicher angesetzt werden (vgl. Denniston, p. X). A. Olivieri, Il mito di Oreste nel poema di Agia di Trezene Rev. d. Fil. 25, 1897, p.570—76 kommt bei seiner Rekonstruktion des Orestesmythos sogar zum Ergebnis: „Oreste, preso dalle Furie, va a Trezene, dove ἃ purificato ed assoluto.“ Für die Orestie des Stesichoros entnehmen wir aus Schol. Or. 268 und Stesichoros fragm. 40, B4 eine Verfolgung Orests durch die Erinyen nach dem Muttermord; Apoll gibt Orest einen Bogen zur Abwehr der Rachegeister. Setzt man schließlich mit U. ν. Wilamowitz (Das Opfer am Grabe, p. 246 ff.) eine delphische Orestie an, die als gemeinsame Quelle für den Kyklos, Stesichoros und Aischylos diente, so muß auch dieses Epos auf Grund der Inspiration durch die delphische Sühnungsreligion bereits die Verfolgung Orests durch die Erinyen und seine Entsühnung durch Apoll enthalten haben (vgl. Steiger, p. 592 A 53, Verrall. Kom. Choeph., p. XXV). #1 Dabei verdanke ich einem Sophokleskolleg meines Lehrers H. Patzer aus dem SS 1957 wertvolle Hinweise. # Zuletzt gibt E.R.Schwinge, Die Stellung d. Trach. im Werk d. Soph., Diss. Hamburg 1960, p. 115 fl. und 143 ff., ausgehend von der Funktion der Orakel, einen ausführlichen Überblick über das Gesamtwerk des Sophokles; er zeigt besonders gut, wie die Wand-

lung der Funktion des Göttlichen jeweils bedingt ist durch eine entsprechend verschiedenartige Stellung des Menschen. # Vgl. Reinhardt, Sophokles, p. 248.

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

25

ist vorzüglich auf ein neu entdecktes, reiches Menschentum, auf die Ergründung einer bis zum äußersten gesteigerten menschlichen Individualität gerichtet, in der sich dem Dichter die Ursache menschlicher Tragik erschließt“. Der Mensch, der in einer Welt niedriger Zwecke leidet, erhebt sich durch das Leid zum Träger eines tragischen Geschehens“5. Das Elektradrama fügt sich in dieses Bild des sophokleischen Spätwerkes. Nachdem Aischylos in einer Trilogie die Orestessage unter dem Aspekt der Problematik des Muttermordes und des auf dem Atridengeschlecht lastenden Geschlechterfluches behandelt hat, versucht Sophokles in seiner „Elektra“ dem Stoffe eine neue Seite abzugewinnen, indem er die Rachetat und ihre Folgen an die Peripherie des Stückes schiebt und seine dichterische Meisterschaft ganz auf die Gestalt Elektras, ihr Pathos und die Enthüllung ihrer tragischen Gestalt konzentriert*. In höchst kunstvoller Variierung werden fortwährend die Konturen des gleichen Bildes gezeichnet und vervollständigt: Die Lage Elektras als Ausdruck ihrer tragischen Individualität. Bis zum ersten Handlungseinschnitt, dem Auftritt des Pädagogen (Soph. El. 666 ff.), wird von der Monodie*” und der Parodos an Elektras perma44 Diese Entdeckung des Menschlichen in den späten Stücken des Sophokles kann demnach nur auf dem Hintergrund einer gewandelten Funktion des Göttlichen verstanden werden, wie sie vor allem in El. und Phil. deutlich zutage tritt. Die Form, in der das Göttliche in den Spätdramen in die Handlung eingreift, ist die der Verkündung eines Orakels. Den Tragödien El. und Phil. ist nun gemeinsam, daß das dramatische Geschehen zwar jeweils durch ein Orakel in Gang gesetzt wird. Dieses Orakel verkündet aber im Gegensatz zum Frühwerk nicht mehr ein Schicksal, welches den Menschen in Blindheit und Vernichtung führt, sondern gibt nur noch einen Auftrag, der zum Ausgangspunkt des Handlungsverlaufs wird. Wie im Philoktet so ist auch in der Elektra das eigentliche Geschehen mehr der Vorbereitung als der Vollendung der Tat gewidmet. Die Ausführung des göttlichen Befehls scheint an den Rand des Dramas gerückt und wird in beiden Tragödien erst im letzten Augenblick entgegen einem sich plötzlich abzeichnenden bestimmungswidrigen Ausgang durch einen deus ex machina — als eine noch rohe Form desselben darf man den Orest in der soph. El. auffassen — in die Bahnen des Mythos gelenkt. Im Mittelpunkt steht das menschliche Leid, das durch eine Intrige hervorgerufen wird. Diese Intrige in Bewegung zu setzen, ist wiederum Aufgabe des göttlichen Orakels. (Daß die Intrigenform bei Sophokles, wiewohl von Euripides übernommen, sich erheblich von der seines Vorbildes unterscheidet, zeigen Reinhardt, p. 146, 172f. und Lesky, Trag. Dicht., p. 128). 45 Vgl. die tiefgehenden Bemerkungen von Diller, Antike und Abendland VI, 1957, p. 165 ff. 48 Sophokles hat diese dramatische Grundkonzeption durch eine deutliche strukturelle Gliederung seines Stoffes unterstrichen: Der Teil des Dramas, welcher die Darstellung des Leidens der Heldin bis zum Höhepunkt in der erlösenden Anagnorisisszene enthält (Vers 86—1325), ist durch die beiden Auftritte des Pädagogen (V 1—22 bzw. 1326-71) umrahmt, der jedesmal die Notwendigkeit des Vollzuges des Rachegeschehens eindringlich betont, also das Rahmenthema exponiert. Sein Auftritt endet mit den Worten: ἵν᾽ οὐκέτ᾽ ὀκνεῖν καιρός, ἀλλ᾽ ἔργων ἀκμή. Bei seinem zweiten Erscheinen drängt er erneut zur Tat: νῦν καιρὸς ἔρδειν. Die Ausführung des Rachegeschehens, das sich an den großen Komplex des Pathos der Heldin anschließt, rollt nur in 113 Versen ab. Diese beiden so verschieden proportionierten Hauptteile des Dramas sind überdies noch durch einen „strengen strukturellen Hiat“ deutlich voneinander geschieden. (Vgl. V 77-85.) 47 Sie verdeutlicht als erste Form des Auftritts der Heldin die innere und äußere Einsamkeit der Heldin gleichsam leitmotivisch.

26

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

nente Leidenssituation immer wieder von einer neuen Seite beleuchtet. Dabei ist der Aufbau dieses „undramatisch-statischen“ Teils deutlich vom Prinzip der Steigerung bestimmt. Die Agamemnontochter gerät durch die Begegnungen mit dem Chor, der Schwester (328-471) und der Mutter (516-633), von deren aller Lebensform sie sich entschieden distanziert, in eine wachsende Isolierung, die mit dem Erscheinen des Pädagogen (673 ff.) durch die fiktive Nachricht vom Tode Orests ihren Höhepunkt erfährt“. Das mit dem Botenbericht eingeleitete tragischironische Doppelspiel zwischen Irrtum und Wahrheit wird im weiteren Handlungsverlauf, auf zwei Stufen gedehnt, verstärkt. 1. Die zweite Chrysothemis-Szene, in der Elektra die Freudenbotschaft der Schwester von der Ankunft des Bruders,

im frischen Irrtum befangen, für nichtig erklären muß. 2. In der Urnen-Szene, als Elektra aus der Hand des ohne ihr Wissen lebend vor ihr stehenden Bruders dessen eigene Asche empfängt. Diesem absoluten Höhepunkt der Leidensskala Elektras, der sich in ihrer ergreifenden Totenklage verdichtet, folgt in plötzlichem Umschlag höchst wirkungsvoll die Anagnorisis, die als die Lösung der weit über tausend Verse hindurch aufgebauten inneren Spannung den Höhepunkt des Dramas darstellt. Erst nach der „maßlosen* Wiedersehensfreude der beiden Geschwister und einer zweiten Anagnorisis zwischen Elektra und dem Pädagogen — man sieht, wie das Motiv der Rache hinter der Betonung des Seelischen zurücktritt#® — kommt es zur Durchführung der Intrige, mit der in ca. hundert Versen (1375— 1510) die traditionelle Handlung ihrem Ende zugeführt wird. Diese knappe Skizze des Dramenaufbaus läßt über die thematischen Absichten des Dichters kaum einen Zweifel. Sophokles will den Menschen darstellen, der in seinem Kampf um die höchsten Ziele, um die ἄγραφοι νόμοι, in einer verdorbenen und entgöttlichten Welt durch ein bewußt auf sich genommenes, gewolltes Leid seine bedrohte geistige Lebensmitte zu wahren sucht und dadurch das Göttliche neu bestätigt. In der zunehmenden Isolation entfaltet der Mensch seine höchste individuelle Eigenkraft. Aus dem aischyleischen Täter- und Rachedrama ist also bei Sophokles ein Leidensdrama, aus einem Orestesdrama ein Elektradrama geworden. Aus dieser neuartigen Deutung des Mythos ergeben sich wesentliche Folgerungen für die Frage nach der Stellung des Dichters zum Muttermordproblem. a) Stellt Elektra die zentrale Figur des Dramas dar, von der Struktur und Problemstellung bestimmt werden, dann kann das zentrale Problem nicht in der Person Orests und dessen Muttermord verkörpert sein®®. Sophokles rückt nämlich # Die eigentliche strukturelle Funktion des Botenberichtes muß Τὶ ν. Wilamowitz gemäß seiner einseitigen, von der dramatisch-technischen Wirkung her bestimmten Betrachtungsweise verkennen. Nicht so sehr soll der Bericht den Zuschauer täuschen, sondern in erster

Linie dient er doch zur Steigerung von Elektras Leiden, wobei die Wirkung gerade durch die Ausmalung des Todes (V 680 ff.) gesteigert wird. 49 Daß dabei Sophokles unter „Seele“ etwas völlig anderes als Euripides in seinen ThymosDramen (Med., Hippol.) versteht, ist schon von Reinhardt gegen Pohlenz (p. 334—338) klargestellt worden. 50 Reinhardt, p. 271 A 2, betont mit Recht, daß Sophokles lediglich um einer Sanktionierung des Muttermords willen die List Orests und das dadurch ausgelöste Leid Elektras kaum in solcher Breite gestaltet hätte.

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

27

Elektra in den Mittelpunkt seines Stückes, die sich weder auf den Willen Apolls stützt noch von einer Tötung der Mutter, sondern nur von der Ermordung Aigisths spricht51, Sie legt bei der Ausführung des Muttermordes nicht Hand an Klytaimestra, so daß sie nach griechischen Rechtsbegriffen keine Schuld trifft. Orest gilt als der allein Verantwortliched2. Aber er ist gerade eine Nebenfigur. Danach kann die Deutung der Tragödie als Versuch des Dichters, den apollinischen Befehl und den Muttermord zu verteidigen, nicht mehr aufrecht erhalten werden. b) Die Unterdrückung einer Verfolgung Orests durch die Erinyen, der Reue der Geschwister und einer Kritik an Apoll sind nicht Ausdruck einer positiven Haltung gegenüber dem Problem des Muttermords, sondern die notwendige Konsequenz der neuen dichterischen Konzeption. Sophokles ist aus künstlerischen Erwägungen bestrebt, durch Beiseitesetzung der metaphysischen Problematik der Tat der Person Elektras ihr einheitliches Ethos und der ganzen Tragödie ihre geschlossene Wirkung zu bewahren, zumal er sich im Gegensatz zu Aischylos zu einer

Reduktion

des

Stoffes

auf

ein Einzeldrama

entschließt,

wodurch

es ihm

unmöglich geworden war, beide Seiten des Mythos gleichmäßig zu verbinden®®. c) Gerecht ist für Sophokles wie für die beiden übrigen Tragiker (vgl. Aisch. Choeph. 930 u. Eur. El. 1051 bzw. 1244) die Tötung Klytaimestras nur als Erfüllung der Sühnepflicht gegenüber dem Vater% und als Beseitigung einer Verbrecherin®.

Si Vgl. M. Koopmann,

Die Bedeutung

der soph. El. für den Aufbau

München 1930, p. 21; Waldcock, Sophocles Sophocles the playwright, Toronto, 1957;

d. Handl.,

Diss.

the Dramatist, 1951, p. 185; M. Adams, neuerdings verfällt wieder Wasserstein,

Gnomon 1960, in psychologische Erklärungsversuche. Daß El. auch von der Notwendigkeit der Rache an Klyt. fest überzeugt ist, scheint mir deutlich. Eine eigenhändige Ausführung des Muttermordes hat sie aber nie geplant. 82 Diesen bedeutenden Unterschied in dem verschiedenen Grad einer moralischen Ver-

5

antwortung

beider Geschwister unterstreicht mit Recht F. J. H. Letters, The

Life and

Work of Sophokles, London, 1951, p. 259. Vgl.T. v. Wilamowitz, p. 218, Howald, Die griech. Trag., 1930, p. 112 u. Zürcher, p. 143. Immer wieder, vor allem zu Beginn in der Monodie (94 ff., 100 ff., 104 ff.) und in der Parodos, wo die wesentlichen Züge des Elektrabildes bereits umrissen werden, wird das

von der Heldin bewußt auf sich genommene Leid, das sich beinahe zur Ekstase einer Leidenssucht steigert, und ihr unbedingter Wille zur Rache als ein kultischer Dienst am

toten Vater bezeichnet. Die Liebe zu dem Ermordeten beherrscht ihr Fühlen und Handeln. Als sie vom

nächtlichen Traumbild

ihrer Mutter

hört, führt sie es bezeichnenderweise

sofort (459 f.) auf ein persönliches Wirken des Geistes des Toten zurück. Die Vergeltung tut not, damit die Welt nicht aus den Fugen gerate, damit δίκη, αἰδώς und εὐσέβεια gewahrt bleiben (248 ff.). Dies aber ist Wille der Götter. Wenn der Mensch dabei zu ihrem Dienst bestellt ist, muß er auch ganz Diener der Gottheit sein und das göttliche Gesetz in sich aufnehmen. Deshalb werden alle finsteren unterirdischen Wächter des Rechts von Elektra aufgerufen, die Vergeltung bereiten zu helfen (110 ff.). Deshalb unterwirft sich auch Orest dem Befehl Apolls. 55 Da bei Sophokles nur die gerechte Seite der Tat eine Rolle spielt, hat er alles getan, um Klyt. jeglicher Sympathien zu berauben. Diese negative Zeichnung von Kiyt. läßt aber nicht den Schluß zu, der Dichter habe den Muttermord ohne Einschränkungen billigen wollen. Daß die Ermordung Klytaimestras als wesentlicher Bestandteil des traditionellen Mythos in einer Behandlung des Orestesstoffes nicht fehlen durfte, geht schon aus Aristot. Poetik 1453 b 22 hervor. Die These von T. v. Wilamowitz, in der soph. El. stelle die

28

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

Das auch für ihn kritische Problem der Ermordung der Mutter®® hat der Dichter ausgeklammert®7, indem er Orest, den Muttermörder, in den Hintergrund schob®. d) Der Schlußteil der Tragödie stellt weder ein bloßes Anhängsel eines Anagnorisisdramas dar, das nur mitgeführt wird, weil es nun einmal zur Sage gehört, wie Reinhardt doch wohl zu stark betont, noch ist er Grundlage für eine Erörterung des Muttermordproblems, sondern die Rachehandlung steht im Dienst der Eheschließung des Elektrabildes5®”. Der Muttermord bleibt auch für Sophokles das tiefere Ziel der Handlung,

das aber nicht mehr als Tat des Täters Orest, sondern

als ein Geschehen verstanden wird, welches notwendig aus der Leidensgestalt Elektras, der virtuellen Trägerin der Rache, fließt. Klytaimestra als die Zerstörerin von Elektras Leben und Mörderin des Vaters muß

fallen, damit das Leiden und

Ausführung der Rachehandlung lediglih ein Zugeständnis an die Forderung nach Wahrung des Mythos dar, können wir allerdings nicht billigen (Ähnlich wie Wilamowitz J. Gollwitzer, Die Prolog- u. Expositionstechnik der griech. Trag., München, 1937, p. 8). Den Höhepunkt des Dramas bildet zwar die Anagnorisis, aber nicht den Abschluß. Außerdem wird erst auf dem Hintergrund des sich in Form der Ausführung des Muttermordes vollziehenden göttlichen Willens eine wesentliche, auf die Ethopöie der Heldin gerichtete Absicht des Dichters deutlich: Es offenbart sich die tragische Grenzsituation Elektras, die gerade

in der höchsten

Steigerung

des Arete-Strebens

in Gegensatz

zum

feststehenden Götterwillen gerät und etwas Bestimmungswidriges zu tun im Begriffe ist, dessen Vollzug erst durch das Eingreifen Orests als Deus ex machina verhindert wird. 58 Im Gegenteil läßt der Dichter die Heldin ganz bewußt ihr unziemliches Verhalten (ἔξωρα πράσσω κοὐκ ἐμοὶ προσεικότα V 618; vgl. 621; vgl. Soph. Phil. 903: τὴν αὑτοῦ φύσιν ὅταν λιπών τις δρᾷ τὰ μὴ προσεικότα), zu dem sie gezwungen ist (V.615 ff. καὶ

τὰ σὰ ἔργ᾽ ἐξαναγκάξει με ταῦτα δρᾶν βίᾳ) gerade in dem Augenblick betonen, als Klytaimestra von Elektra als ihrer Tochter (vgl. V. 614) die nötige αἰσχύνη (V. 615) gegenüber der Mutter (V. 613) fordert. Elektra protestiert in ihrer Erwiderung bezeichnenderweise nur gegen die Behauptung, sie habe das Schämen verlernt, nicht aber dagegen, von Klyt. für ἀναιδής gehalten zu werden. Sie gesteht eine eigene Schuld gegenüber

Klyt.

speziell

als ihrer

Mutter

zu,

schiebt

aber

diese

Schuld

auf Klytaimestras

δυσμένεια. Diese Tatsachen sind m. E. bisher bei der Deutung des Dramas und insbesondere bei dem Versuch eines Verständnisses der Hauptperson kaum genug berüsichtigt worden. Elektras Tragik liegt gerade in dem Paradoxon beschlossen, daß sie durch das Verhängnis der Umstände in eine von ihr bewußt gewollte Aufgabe hineinwächst, die ihrem weiblichen Empfinden im Grunde widerstrebt. 57 Es scheint im Gegenteil die tiefere Tragik der beiden Geschwister in der klaren Erkenntnis zu bestehen, daß allein durch einen furchtbaren Muttermord

die durch die Tötung

Agamemnons aufs tiefste zerrüttete Ordnung der Welt gerettet werden kann. Auch insofern halte ich es für verfehlt, von einem moralischen Optimismus im sophokleischen Drama zu sprechen. E. Brann, Class. Phil. 1957, p. 104, stellt sogar in etwas überspitzter Form fest: „Orestes’ tragedy really only begins where in the Elektra it so emphatically ends.“ Vgl.auch A. Wasserstein, Gnomon 1960 p. 178 (Rezension von Adams, Sophocles the playwright), der zu Recht gegen Adams bemerkt, daß gerade der Mord an der Mutter das tragische Element in dem Drama des Sophokles darstellt. 58 Macht man sich klar, wie entschieden bei Sophokles die Motivation der Tat auf der Steigerung der seelischen Leiden Elektras beruht, so wird deutlich, daß Orest und Apoll als primäre Handlungsfaktoren eliminiert werden. 5 Wenig überzeugend und mit der Forderung nach künstlerischer Geschlossenheit unvereinbar scheint mir die neue Deutung G. Schiassis in seinem Kommentar zur Elektra, Bologna

1958, p. 23.

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

29

Opfer der Heldin nach ihrer Wiedervereinigung mit dem Bruder auch noch in der Vollendung der Rache seine tiefste Sinngebung erfährt®°, Der Muttermord ist nicht mehr krönender Abschluß einer Rachetragödie, sondern einer Pathostragödie. 4.Läßt demnach die Funktion des Dramenausgangs als notwendiges Glied innerhalb der neuartigen Gesamtkonzeption eine Deutung der sophokleischen Elektratragödie im Sinne eines Tendenzdramas zur Verteidigung des Muttermords und des Apollbefehls nicht zu, so hat Sophokles überdies durch einige wesentliche sachliche Änderungen gegenüber seinem Vorgänger Aischylos einem solchen Mißverständnis vorgebeugt. a) Die Gestalt Elektras verdrängt Orest, auf den sich eine Diskussion um die Problematik des Muttermordes konzentrieren mußte®!, ebenso wie die Intrigenhandlung zur Vorbereitung der Rache den Zweck der Rache selbst. δ) Der Befehl Apolls wird zu Beginn nur kurz erwähnt (Soph. El. 32-37) und wirkt dann vom Auftritt Elektras an bis zum Ende des Dramas nicht mehr entscheidend in das Geschehen hinein (ganz anders in den Choephoren!). Außerdem geht bei Sophokles das Gebot des Gottes nicht spontan von Apoll aus, sondern erfolgt erst auf die Anfrage Orests hin, der sich schon vorher zum Muttermord entschlossen hat. Der Gott, der also nicht der Urheber der Tat ist, befiehlt dann

auch diese nicht direkt, sondern gibt nur notwendige Hinweise zur Art der Intrige®?. Schließlich wird die Wirkung des Orakels dadurch entscheidend eingeschränkt, daß gerade die Hauptperson Elektra sich nicht auf den Willen Apolls stützt.

c) Die Darstellung des Muttermordes verliert innerhalb der ohnehin schon knappen und von der breit angelegten, vorausgehenden Anagnorisisszene überschatteten Rachehandlung noch an Bedeutung, weil Sophokles die Szene des Muttermordes anders als Aischylos vor die der Tötung Aigisths schiebt und damit die Wirkung einer Antiklimax schafft®®, zumal er die Ermordung des Buhlen ausführ“ Vgl. Whitman, p. 160. “ Die auffällige Gefühllosigkeit, mit der Orest den Mord vollzieht, kommt allerdings nicht daher, daß er sich ganz als Werkzeug Apolls fühlt und insofern kein selbständig handelnder Charakter ist (so Heinemann, Dichtung der Griechen), sondern entspringt aus der künstlerischen Konzeption. Der Dichter richtet sein ganzes Augenmerk auf die Gestalt Elektras (vgl. J. Gollwitzer, Die Prolog- u. Expositionstechnik d. griech. Trag., Diss. München, 1937, p. 8). «2 Soph. El. V. 32-37; Von daher sind auch die Verse 80-85 zu verstehen. Die unbestimmte Ausdrucksweise in V. 70 bzw. 1264 ff. zielt nicht auf einen Befehl Apolls, sondern besagt nur, daß die Rückkehr Orests in die Heimat seit Aischylos eben ein „dämonisches“

Ge-

schehen war (Vgl. Sophokles El. 70 mit Aischylos Choeph. 941). Auch in dem Gebet Elektras (1376 ff.) vor der Tat wird Apoll lediglich in seiner Eigenschaft als Reiniger angerufen (Vgl. dazu Böhme, Bühnentechnik, p. 104). Das Gebet, enthält aber kein Indiz, das auf einen Befehl Apolls zum Muttermord schließen ließe. Zu bedenken ist ferner, daß allein Elektra die Betende ist, während der eigentliche Betroffene, Orest, bezeichnenderweise nicht miteinstimmt; schließlich bezieht sich auch die letzte Erwähnung des delph. Apollon durch Orest unmittelbar nach dem Muttermord in den Versen 1424 ff.

ausschließlich auf das von ihm selbst im Prolog genannte Orakel über die Form der Durchführung der Intrige. 63 Vgl. Weinstock, Sophokles, p. 92. Die Polemik W. Nestles gegen Weinstock (Gnomon

30

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

licher schildert. Dadurch unterstreicht der Dichter, daß die Frage des Muttermordes nicht das zentrale Thema seines Werkes ist®5. Zu dem gleichen Schluß führt das Fehlen eines Agons zwischen dem Muttermörder Orest und seinem Opfer, in dessen Verlauf Sophokles seinen Standpunkt zu dem Problem hätte darlegen können. 4) Der Dichter zeichnet Klytaimestra gerade nicht als Mutter®®, die unter der Hand der eigenen Kinder fällt, wie es Aischylos und Euripides®? getan haben, sondern als Verbrecherin. Das aber heißt: Das Muttermordproblem ist für Sophokles nicht das Anliegen des Stückes. e) Es fehlt eine unmittelbar auf die Bluttat folgende deutliche Rechtfertigung des Mordes unter Berufung auf Apoll. Ohne einen derartigen Hinweis aber läßt sich die These Steigers und Bruhns nicht halten®. 1938, p. 429 A 3) ist m. E. unbegründet. Die Worte Elektras 1424/25 (παῖσον, ei σϑένεις

διπλῆν) sind trotz ihrer Schärfe doch nur Ausdruck eines Momentes höchster innerer Spannung und nicht mit der Rolle zu vergleichen, welche die euripideische Elektra bei der Ausführung des Muttermordes spielt; man muß sich zudem hüten, diese Stelle als Indiz einer Bejahung des Muttermordes zu verstehen. Ihre Funktion scheint mir primär ethopoiethisch

zu sein: Elektra soll als die περισσά

(V.155),

die im Haß

ebenso

un-

bedingte wie im Leid und in der Freude gezeichnet werden. %4 Schadewaldt (Monolog u. Selbstgespräch, p. 125 A 3) stellt fest, daß der gesamte Schluß des Dramas

„ohne starke innere Beteiligung“

geschrieben sei. Das trifft insofern zu, als

dieser Schluß nicht von dem gleichen starken Affekt getragen wird wie die vorausgehende Anagnorisszene. Ein gradueller Abfall in der Pathoskurve ist nicht zu verkennen (Vgl. weiter Perrotta, p. 321 f., Owen, Class. Review 1927, p. 50 ff.).

% Daß die gegenüber Aischylos veränderte Reihenfolge der Mordtaten von größter Tragweite ist und

deshalb auch die von uns daraus

gezogenen

Schlüsse gerechtfertigt

sind,

zeigt deutlich die Gestaltung bei Aischylos: Für diesen war die umgekehrte Anordnung eine Notwendigkeit gewesen, denn auf die Ermordung der Mutter folgt als Höhepunkt des Konflikts unmittelbar Orests Schwanken über die Berechtigung der Tat und als äußerer Ausdruck dieser Situation das Erscheinen der Erinyen.

% Gerade diese Seite von Klytaimestras Schicksal aber läßt der Dichter auffälligerweise ganz im Dunkeln. Die Gattin Agamemnons wird vielmehr als eine aller mütterlichen Gefühle bare Verbrecherin gezeichnet. Klytaimestra steht außerhalb jeder Rechtsordnung (Dieses negative Gesamtbild verliert auch dann von seiner Geschlossenheit nichts, wenn man die Verse 770/1 als Zeichen echter Bewegtheit über das Schicksal des angeblich toten Sohnes auffaßt. Vgl. zuletzt Kitto, Soph. Dramatist and Philosopher, p. 14). Damit gelingt es dem

Dichter, den Eindruck der Ermordung einer Mutter durch den Sohn zu

vermeiden. Nicht Sohn und Mutter, sondern Rächer und Verbrecherin stehen sich gegenüber.

# Man beachte vor allem, wie bei Euripides das Erlebnis des Muttermordes nach der Tat hervortritt., Die Verzweiflung und Reue der Geschwister erwachsen allein aus dem Gefühl, die Mutter getötet zu haben. Schließlich fällt im Vergleich zu Sophokles ins Auge, wie anders Orest den Ausgang des Dramas beherrscht.

#8 Die Verse Soph. El. 1424 ff. wird man nicht zur Stützung einer solchen These fruchtbar machen können (εἰ ist nicht im Sinne von ἐπεί zu fassert). Im Gegenteil scheint mir aus dieser Stelle keineswegs unerschütterliche Ruhe und Vertrauen Orests, sondern vielmehr ein Gefühl der Unsicherheit über die begangene Tat zu sprechen, welches sich von der triumphierenden Reaktion Elektras deutlich abhebt. Man kann dabei auf das Wortspiel mit καλῶς sowie auf die Tatsache verweisen, daß sich Orest an dieser Stelle und in die-

ser Form zum ersten Mal nach dem Prolog auf das Orakel des Gottes beruft. Vgl. zur

I. Vergleich der Gesamttendenz beider Dramen

31

Dieser kritische Überblick hat gezeigt, daß die einseitig weltanschauliche Betrachtungsweise zu einer gewaltsamen Umdeutung der beiden Tragödien geführt hat, die einem unbefangenen Verständnis der Absichten der beiden Dichter und vor allem ihrem Verhältnis zueinander nicht förderlich sein kann. Man faßt die jeweilige Tragödie nicht mehr als Kunstwerk, sondern als Mittel der Invektive und vergißt dabei, daß bei den Griechen der Mythos ein verehrter Gemeinbesitz des gesamten Volkes war, an dem sich die Tragiker orientierten und den sie niemals primär als Mittel zur Polemik gegen den Zunftgenossen ansahen®, Da im Falle der Elektren eine solche Polemik offensichtlich nicht zu greifen ist?°, dürfte auf dieser Interpretationsgrundlage eine Klärung des Prioritätsstreites kaum möglich sein?!.

Außerdem

beweist

schon

die Tatsache,

daß

sich mit

der Annahme

von

Stelle auch Kirkwood, p. 241 f., der an Hand von mehreren Belegen am Ende des Dramas (V.1339, 1345, 1424 f., 1493 f. u. 1488) zu zeigen versucht, daß der Dichter durch ein

hintergründiges Spiel mit den Begriffen καλόν und κακόν beabsichtigt, „to create an atmosphere of shadow and questioning“. E. Brann, A note on the structure of Sophocles Electra, Class. Phil. 52, 1957, p. 104 A 3 meint: „The language of the play indicates by many ominous ambiguities that ... Orestes is not so bright as he appears when seen as a foil of Electra.“ Auch E.R. Schwinge, Die Stellung der Trach. im Werk des Soph., Hamb.

1960, p. 143 A 2 sieht in den Versen 1424 ff. den Beweis für „das Wissen des Sophokles um die im Stoff liegende Problematik“ (vgl. außerdem A. Lesky, Trag. Dichtung der Hellenen p. 125 f.; anders Steiger, p. 590 u. Perrotta p. 325; Kaibels (p. 290 f.) Versuch, eine Lücke von 3 Versen

nach 1427 anzusetzen, findet keinerlei Stütze. Zur Kritik an

Kaibel vgl. Steiger p. 590 u. Bowra p. 257 ff. Wichtig für den ganzen Fragenkomplex auch Keseling, Phil. Wochenschrift, 1940, p. 437. Es gibt m. E. noch andere versteckte Stellen,

die kaum mit einer Interpretation im Sinne eines ungetrübten, glücklichen Ausganges zu ‚vereinbaren sind. So z. B. können m. E. die prophetischen Worte Aigisths kurz vor seiner Ermordung (1497/98) nur als Vorverweis auf künftiges Unheil für das Atridengeschlecht gedeutet werden. Die in diesem Zusammenhang von Bowra gegebene Erklärung scheint mir nicht überzeugend. Die τὰ ὄντα κακά weisen nicht auf die bereits vollzogene Ermordung Klytaimestras und bedeuten keinesfalls als Gegensatz zu τὰ neAAovra „what have already taken place“. Mit dem Begriff τὰ ueAkovra wird demnach allein auf die kommende Verfolgung Orests durch die Erinyen angespielt. Dagegen liegt kein Grund vor, in den Schlußversen des Chores (1508—10) mehr als einen Hinweis auf das nun erreichte Ende der Leiden der Agamemnon-Kinder zu sehen,

es 70

71

insbesondere auf die Befreiung von Unterdrückung durch die Mörder. Der Chor faßt lediglich das äußere Resultat der Handlung kurz zusammen. Elektra u. Orest werden nach Beseitigung der Tyrannei (ἐλευϑερία) die ihnen gebührende rechtmäßige Stellung einnehmen. (Vgl. das im Prolog V.71f. angedeutete Ziel des Geschehens). Von einer Befreiung des Atridenhauses von aller künftigen Last der Sühne kann keine Rede sein (Vgl. Perrotta, p. 326; Kaibel, p. 301.). Vgl. Krieg, De Euripidis Oreste, p. 51. Dem Steigerschen Standpunkt scheint auch A.Rivier, Essai sur le Tragique d’euripide, skeptisch-ablehnend gegenüberzustehen, wenn er p.139 bemerkt: „Des lors, comment veut-on que le drame soit dirigé contre la religion traditionelle?“ Allerdings scheint mir der Interpret hier in ein neues Extrem zu verfallen, wenn er die Rolle Apolls allzu stark einschränkt und zum Schluß (p. 139) die Konzeption des Tragikers Euripides in die Formel zu pressen sucht: „c’est d’avoir utilise le mythe pour une fin profane. Liberté d’artiste, plutôt que le libre penseur.“ Versucht man vom Verhältnis der beiden jüngeren Elektradramen zu Aischylos auszugehen, so bewegt man sich auf der gleichen Ebene wie die vorhergehenden Interpreten. LS

32

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

Tendenzschriften die Priorität beider Tragödien beweisen ließe, die Fruchtlosigkeit

einer auf dieser Grundlage geführten Diskussion??. Man könnte nämlich kaum entscheiden, ob Euripides die Wirkung des sophokleischen oder umgekehrt Sophokles die des euripideischen Dramas mit seiner Replik hätte abschwächen wollen.

II. Der Detailvergleich auf Grund sprachlicher

und motivischer Parallelen Einen zweiten Weg zur Entscheidung des Prioritätsstreites bietet ein Vergleich beider Dramen unter dem Gesichtspunkt zweier stofflich verwandter Bühnenwerke. Hier scheint man von vorneherein auf sichererem Boden zu stehen, da ein solcher

Aspekt nicht dazu zwingt, mit einer voreingenommenen Auffassung an die Stücke heranzugehen,

die zu

einer

unangemessenen

Interpretation

der einzelnen

Teile

führen muß. Da sowohl die stofflichen Voraussetzungen wie auch die dichterische Absicht in beiden Dramen im wesentlichen dieselben sind, muß sich notwendigerweise eine größere Zahl von gemeinsamen Motiven, sprachlichen und gedanklichen Wendungen finden lassen, die eine Grundlage zur Lösung des Prioritätsproblems abgeben könnten. Aber auch die auf dieser Basis aufgebauten Lösungsversuche haben zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt, da sie meist von einer rein subjektiven Auswertung tatsächlicher oder scheinbarer Parallelen bestimmt waren. Das gilt insbesondere für die Verwendung von sprachlich-motivischen Einzelbeobachtungen zu einzelnen Versen, wie sie vor allem von Flessa73, Ribbeck?4, Kaibel75, Steiger”,

Linde’??, Denniston’8, Olivieri?% und neuerdings von Whitman® ins Feld geführt wurden. Hier wird oft ohne Grund jedes ähnliche Motiv durch einen gezwungenen Nachweis von rivalisierender Polemik und äußerlichem Imitationsstreben zu einem Argument in der Prioritätsfrage gestempelt. Wir müssen uns auf eine Kritik in allgemeiner Form beschränken: 1. Wörtliche Anklänge bilden allein keine ausreichende Basis zur Lösung der Prioritätsfrage. Abgesehen davon, daß wörtliche Anklänge beinahe regelmäßig Für die Bestimmung der relativen Chronologie der Elektradramen ist damit nichts gewonnen. Hat Sophokles zuerst die Konzeption des Aischylos als berechtigte Lösung verteidigt und Euripides nachher die moralische Beurteilung der Tat, wie sie Aischylos in den Choephoren und Eumeniden darstellt, verurteilt oder ist der umgekehrte Vorgang

Τὸ ?4 75 77

der wahrscheinlichere? 7 Vgl. Perrotta, p. 328. Die Prioritätsfrage der soph. und eur. Elektra, Prgr. Bamberg 1882. Zu Sophokles und Euripides Elektra, Leipziger Studien, VIII (1885), p. 384. Komm. Soph. El. 1896, p. 56 ff. 76 Op. cit., passim. Progr. Gymn. Königshütte, 1910, Soph. EI. im Verhältnis zu der des Euripides.

Vgl.

dazu die Rezension von Adami, Wochenschrift für Klass. Phil., 1911, p. 1331. Er weist mit Recht auf die Schwäche des methodischen Ansatzes bei Linde hin, der auf einer

petitio principii beruht.

78 Komm. Eur. El. 1939, p. XXXVIf.

ΤῸ Le due Electre, Riv. d. Fil., 25, 1897, p. 577-597.

80 op. cit., p.53. Der Argumentation von Whitman scheint Diller zuzustimmen in Antike und Abendland, Bd. 6, p. 166, A 16.

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

33

zur Stützung der Priorität beider Dramen verwertet werden können®!, sind sie meist so allgemeiner Art, daß eine direkte Beeinflussung nicht mit Sicherheit vorausgesetzt werden kann, sondern sie ergeben sich oft als formelhafte Wendungen aus der Gleichheit des stofflichen Vorwurf #.

81 Diese Bedenken bleiben auch nach dem Versuch S. Lasers (Über das Verhältnis der Dolonie zur Odyssee, Hermes 86, 1958, p. 424 f.) bestehen, systematisch eine Typologie der verschiedenen Formen der Entlehnung zu entwickeln, eine „Pathologie der Nachahmung“. Daß der vollere, farbigere Ausdruck stets dem späteren Autor zuzuschreiben ist,

erscheint

uns

als

willkürlihe

Einengung

dichterischer

Phantasie;

Owen,

op. cit.

p.146, weist mit Recht auf die mangelnde Eindeutigkeit dieses Kriteriums hin. Wie man solche sprachlichen Anklänge hin und her wenden kann, zeigt Pohlenz? II, 128 am Beispiel Eur. El. 1004 bzw. Soph. El. 590. Tycho von Wilamowitz (p. 95) weist bereits darauf hin, wie wenig sich z.B. die wörtlichen Anklänge zur Lösung des Prioritätsstreits zwischen Trach. und Eur. Her. bewährt haben. Allein dieses Beispiel müßte hinsichtlich der Verwendung solcher Parallelen zur Vorsicht mahnen (Vgl. auch Dieterich, Schlafszenen auf der attischen Bühne, Rh. Mus. 1891, p. 26; Zielinski, Exkurse zu den

Trach., Phil. 56, p. 624 ff.; J. Heinz, Zur Dat. d. Trach., Hermes 1937, p. 287.). N 82 Außerdem finden viele zur Stützung der Priorität eines der beiden Elektradramen angeführten Stellen meistens schon, auf die Choephoren des Aischylos bezogen, eine plausible Erklärung und zwingen nicht zur Annahme einer Vorlage einer der beiden Elektren. Selbst in den Fällen, in denen die Annahme einer direkten Beeinflussung nahe liegt, läßt sich nicht mit Sicherheit angeben, welcher Stelle die Priorität zukommt. Das gilt

z.B. von dem Verhältnis Soph. El. 300-Eur. El. 327, dem in der Nachfolge Olivieris auch von Masqueray, Sophocle, Paris 1940%, p. 203 und jüngst wieder von N. Catone, Komm. Soph. El. p.10 erhebliche Beweiskraft zugebilligt wird. Doch wird man das ὡς λέγουσιν bei Euripides nicht nur auf den vorhergehenden Begriff κλεινός, sondern auf den Inhalt der ganzen Aussage beziehen müssen, wie schon Kaibel, p.59 betont hat und wie es dem euripideischen Sprachgebrauch entspricht (vgl. Bacc. 1274, EI. 115, Ion 295 und 1139, Or. 8). Damit scheint für die Annahme einer Anspielung auf Sophokles keine Veranlassung mehr zu bestehen. Ein häufig angeführtes (vgl. Kaibel, p. 62, Olivieri und Denniston p. 162 zu V. 865) Argument beruft sich auf das Verhältnis der Verse Soph. El. 341 bzw. 365 und Eur. El. 932 ff. Eine direkte Beeinflussung scheint hier möglich. Ob aber die allgemeinen Bemerkungen bei Euripides über das Verhältnis von Eltern und Kindern durch die analoge, auf den individuellen Fall der Chrysothemis zugeschnittene Äußerung bei Sophokles angeregt sein muß, wagen wir zu bezweifeln. Die euripideischen Verse entspringen ganz natürlich der dramatischen Situation und verdeutlichen die eigentliche Intention der Invektive Elektras: Elektra versucht nämlich die unmännliche Rolle Aigisths als eines völlig unter dem Einfluß Klyt. stehenden Weiberhelden anzuprangern (Auch Denniston bezeichnet p. 162 die euripideischen Verse 932—37 als durchaus „more euripideo“). Von keinerlei Beweiskraft scheint mir auch der Versuch Dennistons, Stellen

nachzuweisen, an denen es Euripides angeblich vermeiden will, in die Fußtapfen seines Vorgängers Sophokles zu treten und deshalb zu überspitzten Wendungen greift. (Vgl. auch

die

Kritik

von

P.Keseling,

Phil. Wochenschrift

1941,

p.392

und

Blumenthal,

Bursians Jahresbericht 1942, p. 32 f.) Wenig überzeugend auch der Versuch von Vahlen, Hermes 1891, p. 364, mit Hilfe der

Parallele Soph. El. 579 ff. und Eur. El. 1093 ff. die Priorität des Sophokles zu stützen (Vgl. dazu Steiger, p. 570). Bezeichnenderweise benutzt A. Elisei, Rendic. dell Acad. dei Lincei, 1931, p. 133, die Umkehrung der Argumentation Vahlens zum Nachweis der Priorität des Euripides. 3 Vögler,

Interpretationen

34

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

2. Ebenso unzureichend scheint uns der Versuch, einige sprachliche und motivische Wendungen als polemische Seitenhiebe gegen den Vorgänger auszulegen. Zu welchem Grad von Verwirrung die auf dieser Ebene geführte Diskussion geführt hat, zeigt der Versuch von Pohlenz, Griech. Trag. II, 90, der umgekehrt auf Grund

des Fehlens jeglicher Polemik von Seiten des Euripides gegen Sophokles mit diesem argumentum e silentio die Priorität der euripideischen Elektra erweisen zu können glaubt®8. 3.Die Behauptung, Euripides habe sich von dem Bestreben leiten lassen, Sophokles durch größere Wahrscheinlichkeit des äußeren Handlungsverlaufs zu überbieten84, scheint mir allein schon deshalb unbegründet, weil das euripideische Drama durch die Verlegung der Aktion vom Atridenpalast in ein ländliches Milieu zweifellos eine bewußt konstruierte Handlungsführung aufweist und daher kaum einen höheren Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erheben kann®®. Vor allem wirkt das Zusammendrängen einer Fülle von aufeinanderfolgenden Handlungsschritten,

83 So stützt sich jüngst Whitman immer noch auf die Verse Eur. El. 230 (vgl. dazu Steiger, p. 597; Flessa p. 91 f.; Wolterstorff p. 38) und Eur. ΕἸ. 893 ff. bzw. 895—904 (vgl. dazu Kaibel p. 54 A 2; Flessa p. 95; Ribbeck p. 383 ff.; Wecklein, Bursian 1886, p. 280; Christ,

Lit. Gesch. p. 182),

aus

denen

kaum

eine

sichere

Polemik

gegen

Sophokles

heraus-

zulesen sein dürfte.

Auch die Weigerung der euripideischen Elektra, auf Orests Angebot die Leiche Aigisths zu schänden, dient doch kaum einer kleinlichen Invektive gegen Sophokles, sondern steht im Dienst einer ethopoietischen Detailbeobachtung: Der Dichter ist bestrebt, den unbeherrschten Orest kontrastierend von der Schwester abzuheben, welche nicht eine nur äußerliche Schändung der Leiche, sondern mehr erstrebt: eine schonungslose,

grundsätzliche Abrechnung mit dem toten Feind. Über die Beweiskraft der Verse Eur. El. 883/4, die insbesondere von Ribbe& und Kaibel ins Feld geführt worden sind, geht die Diskussion weiter. Masqueray, Sophocle,

Paris 1940, p. 202 und jüngst N. Catone, Komm. zu Soph. El. Firenze 1959, p. 10 greifen wieder auf diese Stelle zurück, die ihrer Meinung nadı evident eine Polemik gegen den Anachronismus innerhalb des soph. Botenberichtes enthält, in dem Orest als Teilnehmer an den Pythischen Spielen auftritt. Man mag sich freilich auf die Schärfe der Antithese in V. 884 (ἀλλά) berufen; aber erstens kann diese Stelle allein eine Entscheidung nicht erbringen und zweitens genügt es, die Funktion des auffälligen Bildes aus der Sphäre des sportlichen Agons in dem Bestreben des Dichters zu sehen, die impulsive Anteilnahme

der über den geglückten ersten Abschnitt des Racheunternehmens

freudig

erregten Elektra und gleichzeitig ihren Stolz über die heroische Leistung des Bruders zu unterstreichen (vgl. auch die vorsichtige Stellungnahme von G. Schiassi, Komm. Eur. El.). Daß man zur Deutung der Euripidesstelle nicht notwendig über den unmittelbaren Kontext hinauszugehen und eine direkte Beziehung auf das soph. Drama anzunehmen braucht, beweist schließlich auch eine analoge Stelle aus der Medea (V. 1180 ff.). Auch Adams, Class. Rev. 49 (1935), p. 121 zeigt, wie die Funktion der aus der Atmosphäre des sportlichen Kampfes gegriffenen Bilder innerdramatisch bedingt ist. # Vgl. dazu Flessa p. 62ff.; Steiger p. 583 ff. und Schmid Griech. Lit. Gesch. I, 3, p. 489 ff. Kaum eines der Argumente hält einer kritischen Prüfung stand. So dürfte z.B. die Übertragung des Plans zur Tötung Klytaimestras auf Elektra bei Euripides andere Gründe haben als eine kleinliche Kritik an Sophokles, der den Pädagogen angeblich wider die Wahrscheinlichkeit allzusehr zur leitenden Person der Handlung gemacht habe. 85 Auf dieses Faktum hat bereits Delebecque, Euripide et la guerre de Péloponnèse, Paris, 1951, p. 285 aufmerksam gemacht.

11. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

35

deren natürlicher Ablauf eine längere Zeitspanne erfordert, auf den Zeitraum eines Tages befremdend. Durch sprachliche und motivische Einzelbeobachtungen läßt sich die relative Chronologie beider Dramen nicht sichern®®. Dazu bedarf es einer breiteren Arbeitsgrundlage in Form einer Synkrisis größerer Kompositionselemente. Erst J. Vahlen und T. ν. Wilamowitz haben diesen methodisch weit sichereren Weg des Strukturvergleichs verwandter Szenen und Szenenteile beschritten. So versucht Vahlen®7 die Priorität des Sophokles durch einen Vergleich der beiden Streitgespräche, T. v. Wilamowitz® durch eine Gegenüberstellung beider Anagnorisisszenen zu erhärten. Trotz des grundsätzlichen methodischen Fortschritts fordern aber auch diese beiden Arbeiten Kritik heraus: a) Vahlen: Vahlen findet den dramatischen Gewinn des euripideischen Streitgespräches so gering, daß es nur mit Rücksicht auf den vorausgegangenen Agon bei Sophokles der Handlung angegliedert sei®®. Diese Auffassung verkennt die notwendige strukturelle Funktion dieser Szene innerhalb des Dramas. Sie bildet einen unerläßlichen Baustein innerhalb der symmetrisch angelegten Rachehandlung. Wie Elektra mit Aigisth nach dessen Ermordung abrechnet, so tut sie es mit der Mutter vor deren ‘Tod im Agon. Und beide korrespondierenden Gerichtsszenen umrahmen die zentrale Situation des schwankenden, von der Schwester zur Tat angetriebenen Orest. Diese strukturellen Zusammenhänge beweisen gegen Vahlen, daß die Agonszene eine ursprüngliche Stellung im Dramenganzen einnimmt. Sie 8 Grundsätzlich richtig auch Perrotta p. 367. 87 Gesammelte phil. Schriften, II, 1891, p. 354 ff.

88 Die dramat. Technik d. Soph. 1917, p. 249 ff. 8 Ebenso Wolterstorff, p.53. Dieser stützt sich auf die These, die drohenden Vorwürfe Elektras gegenüber der Mutter im euripideischen Agon (insbesondere V. 1086 ff.) seien mit dem Gesamttenor des Dramas „unvereinbar“, da Eur. sonst bestrebt sei, Klyt. in möglichst

gutem Licht erscheinen zu lassen und dafür Aigisth zum eigentlichen Verantwortlichen zu stempeln. Insofern sei der eurip. Agon als Fremdkörper erst unter dem Einfluß des Soph. konzipiert. Die Schwäche der Beweisführung Woltersdorfs liegt auf der Hand, wenn man sich die eigentliche Funktion des eurip. Streitgesprächs klar zu machen sucht. Euripides versucht nämlich im Hinblick auf seine Darstellung des Muttermords unter dem zweifachen Aspekt eines grausamen Verbrechens, aber auch gleichzeitig einer unwiderruflichen Sühnetat diese Doppelschichtigkeit des Geschehens auch innerhalb des Agons durch den Standpunkt der beteiligten Personen zu verdeutlichen. Deshalb muß der von glühendem Haß und vom Bewußtsein des kommenden Triumphes erfüllten Tochter eine ahnunglose Mutter gegenübertreten,

die eigentlich

die Geschehnisse,

über die Elektra in einen

Rechtsstreit

ein-

zutreten beabsichtigt, seelisch schon hinter sich zurückgelassen hat und nur noch aus der Distanz zu betrachten vermag. Euripides entwirft das Bild einer Klyt., die mit der Mörderin Agamemnons nicht mehr identisch ist und in deren Worten immer wieder der tragische Gegensatz zwischen augenblicklichem Fühlen und früherem Tun durchklingt. Von diesem Bild der resignierenden Mutter hebt sich folienhaft die heimtückische Grausamkeit der Tochter ab. Was die Bewältigung der Vergangenheit anbelangt, stehen also Mutter und Tochter auf verschiedenem Boden. Klyt. wird von El. im Agon plötzlich unerbittlich wieder in die harte Vergangenheit zurückgestoßen. Diese tragische Doppelbodigkeit der Agonsituation herauszuarbeiten, war das Bestreben des Euripides. Erst so

konnte der Agon zu einem zentralen, sinndeutenden Element des Dramas werden. 35

36

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

dient sowohl der Charakteristik beider Gesprächspartner als auch der Sinndeutung des Rachegeschehens als eines unwiderruflichen Aktes®. b) T.v. Wilamowitz: Er begründet das Fehlen des von Euripides sonst in seinen Anagnorisisdramen (Taur. Iph., Ion, Hel., Hyps.) regelmäßig verwendeten lyrischen Freudenkommos nach der Erkennung in der Elektra mit der Priorität der sophokleischen Elektra, in der dieser Kommos ein Höhepunkt der Darstellung bilder. Euripides habe sich von der Gestaltung seines Vorgängers abheben wollen®!. Eine solche Erklärung scheint uns ebenso unbefriedigend? wie die entwicklungsgeschichtliche Deutung von Solmsen®. Das Fehlen des Kommos und die Kargheit der Gefühlsäußerungen in der Erkennungsszene der euripideischen Elektra dürfte ın dem von den übrigen Anagnorisisdramen verschiedenen stofflichen Vorwurf beruhen, der eine andersartige Gestaltung verlangt. Nach der Erkennung folgt nämlich nicht eine Rettungsintrige wie in der Helena und der Taur. Iph., sondern eine von einem Gott befohlene tragische Rachetat, die als zentrale Aufgabe den Vorrang vor der Freude der Erkennung hat. % Vgl. Strohm, p. 12ff. u. p.97f., der zeigt, daß Euripides innerhalb seiner Entwicklung eine zunehmende Verschmelzung des Agons mit der Handlung anstrebt. Auch die von Vahlen aufgezeigten sprachlichen Berührungen zwischen beiden Streitgesprächen haben keinerlei Beweiskraft: Daß die Drohung der euripideischen Heldin gegenüber ihrer Mutter (V.1093 ff.) vom Modell der analogen sophokleischen Verse bestimmt sein soll, scheint uns ebensowenig einsichtig wie die umgekehrte Argumentation bei A. Elisei, Ρ. 13544; Perrotta p. 381 A 2 u. Pohlenz? II, p. 132 f. Die beiden in der Gedankenfolge zweifellos ähnlichen Stellen ergeben sich aus der gleichen zugrundeliegenden Situation. Die Schlüsse, welche Vahlen schließlich aus einem Vergleich der Verse Soph. El. 597—602 u. Eur. El. 1087—93 zieht, sind unzulässig, da die beiden Partien auf Grund ihrer verschiedenen Funktion innerhalb des Agons überhaupt keine Basis für einen solchen Vergleich abgeben. " So auch U.v. Wilamowitz, S. Ber. Ak. Berl., Berlin 1921, p. 66. Die Priorität des Sophokles halten nach dem Beitrag von T.v. Wilamowitz Wuhrmann, Strukturelle Untersuchungen zu den beiden Elektren und zum eurip. Orest, Zürich 1940, und zuletzt immer noch ohne neue Argumente Καὶ. Matthiessen, Aufbau und Datierung der El., der Taur. Iph. und der

Helena des Euripides, Diss. Hamburg 1961, p. 139 für gesichert. 2 Übrigens scheint Euripides auch in der Gefangenen Melanippe (v. Wilamowitz SBBA 1921, p. 66) und in der Antiope (Schaal, De Eur. Antiopa p. 28) auf ein lyrisches Duett verzichtet zu haben. Allein diese Tatsache beweist, mit welcher Freiheit der Dichter seine

Motive verwendet. Chronologische Schlüsse lassen sich daher aus diesem Kriterium nicht ziehen. ® „Euripides Ion im Vergleich mit anderen Tragödien“, Hermes 1934, p.418 A 2. Die zu vergleichenden euripideischen Dramen stehen der eur. El. zeitlich zu nahe, als daß man die Gestaltung in diesem Drama als „unentwickeltes Surrogat“ des später ausgereiften Kommos begreifen könnte. % Strohm, p.78 weist mit Recht darauf hin, daß der Dichter die Intensität der Gefühls-

äußerung im Kommos jeweils auf die spezifische Situation des Getrenntseins abstimmt, die dem Erkennen vorausgeht. Die Einwände von Matthiesen, Aufbau u. Datierung d. El, d. Taur. Iph. u. d. Hel.d.Eur., Diss. Hamburg 1961 (jetzt Hypomnemata 4, 1964), p. 139 gegen die oben gegebene Erklärung für das Fehlen des Kommos scheinen mir kaum berechtigt. Der Hinweis auf die angeblich analoge Situation der soph. Elektra hilft nicht weiter, da dort auf Grund der andersartigen strukturellen Funktion

der Anagno-

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

Auf

den von Vahlen und

T.v. Wilamowitz

gewonnenen

37

methodischen

sichten fußen auch Arbeiten von Elisei®, Perrotta®® und Owen”,

Ein-

die sämtlich die

Priorität des Euripides verfechten. Elisei weist mit Recht auf das unzureichende Kriterium des Detailvergleiches und das Fehlen jeglicher Polemik von Seiten des Euripides gegen Sophokles hin. Sie neigt aber bei ihrem Versuch, die Priorität des Euripides zu erweisen, dem nicht unbedenklichen methodischen Grundsatz zu, mit

dern Nachweis der Unabhängigkeit des Euripides von Sophokles allein sei zugleich die Priorität des ersteren gesichert®. Deshalb versucht sie oft gewaltsam, alle motivischen Besonderheiten im euripideischen Drama aus den Choephoren des Aischylos abzuleiten. Dagegen verdienen die Ausführungen Perrottas wegen des methodisch grundsätzlich förderlichen Ansatzpunktes eines Strukturvergleiches zwischen beiden Elektradramen Lob. Wenngleich wir selbst auf dieser Art der Betrachtung aufbauen können, so rufen aber doch manche Einzelinterpretationen Perrottas Kritik hervor und beeinträchtigen die Stringenz seiner These erheblich. Nach Perrotta liegt die Elektra des Euripides vor der des Sophokles. Letztere ist später anzusetzen als die Helena (412), Taur. Iph. (wahrscheinlich 411), Ion (411-419) und Hypsipyle (ca. 410), dagegen früher als der Orestes von 408. So kommt man mit Wahrscheinlichkeit auf das Jahr 409, d.h. die sophokleische Elektra und der Philoktet gehören der gleichen Trilogie an®. Wir werden uns bei unserer Kritik im wesentlichen auf diejenigen Argumente Perrottas beschränken, die sich auf den Vergleich beider Elektren beziehen. Den Versuch einer Datierung des Sophoklesdramas auf 409 können wir kurz abtun!®, da Perrotta bei seinem Vergleich der Sophoklestragödie mit euripideischen Spätdramen oft in den Fehler einer allzu mechanischen Interpretation verfällt, die jede Ähnlichkeit zugleich auch immer als Abhängigkeit zu deuten versucht!%1, obwohl meistens der Beweis einer direkten risis — sie bilder die Peripetie des Dramas — der Vorrang der glücklichen Wiedererkennung vor der Rachetat gefordert ist.

% „Le due Elettre, La questione della priorita fra l’Elettra di Sofocle e quella di Euripide, Rendiconti della Academia dei Lincei, Roma, Bd. 7, 1931, p. 93—169. 96. Sofocle, Messina 1935, p. 363-404.

97 The Date of the Electra of Sophocles, Greek Poetry and Life, Essay pres. to G. Murray, Oxford 1936, p. 181—205.

#8 Zum Versuch Eliseis positiv Perrotta p. 364 A 1 und Blumenthal, Bursian 1938, p. 103; negativ

äußern

1955, p. 8f.

sich Denniston

p.XXXV

ΑἹ

und

Agostini, Rivista di Studi classici,

5% Das Ergebnis Perrottas akzeptiert mit Einschränkungen A. v. Blumenthal, Bursian 1942, Ρ. 6; negativ P. Keseling, Phil. Woch. Schrift 1940, p. 438 f. 100 Diese Datierung

auf 409 hält auch Webster,

Introduction to Sophocles, Oxford

1936,

p- 6, gerade wegen der Ähnlichkeit der Elektra mit dem Philoktet für unwahrscheinlich. 101 Aus formalen, insbesondere metrischen Übereinstimmungen in den Gesangspartien nach der Anagnorisis zwischen Soph. El. bzw. Hel., Iph. Taur., Ion und Hyps. (vgl. U. v. Wilamowitz, p. 244 und T. v. Wilamowitz, p. 259 f.) läßt sich kein sicheres chronologisches Indiz gewinnen, zumal nur ein Anagnorisisdrama des Soph. erhalten ist. Daß beispielsweise Euripides als erster (in Hel., Iph. Taur. und Ion) die Technik entwicelt

haben

soll, in den

Kommoi

nach

der Erkennung

den

weiblichen

Partner

in

lyrischen Maßen und den männlichen in Trimetern sprechen zu lassen und daß Soph.

38

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

Beeinflussung als notwendige Voraussetzung eines solchen Prioritätsvergleichs nicht erbracht werden kann!®, Hinzu kommt, daß Iph. Taur.i®* und Ion!“ wegen ihrer nach wie vor ungesicherten Datierung als Fixpunkte zur Bestimmung eines Terminus post quem nicht benutzt werden kônnen1®%. Bei der Entscheidung der Prioritätsfrage stützt sich Perrotta auf einen Vergleich folgender Dramenteile: a) Prolog b) Agon

c) Erkennungszeichen d) Anagnorisisszene

a) Der Prolog 1. Beide Dichter gestalten den Auftritt Elektras in ähnlicher Weise. Es gelingt Orest jeweils nicht, seine Schwester zu erkennen: Bei Euripides hält er sie für eine

Sklavin, bei Sophokles

wird

eine mögliche Erkennung

durch den Hinweis

des

ihm darin nachgefolgt sei, läßt sich bei der wichtigen ethopoietischen Funktion dieser metrischen Unterscheidung im Kommos der soph. El. ebensowenig beweisen, wie die Behauptung, Eur., nicht Soph. habe als erster das iamb.-dochm. Versmaß in Freudenkommoi verwandt (für die gegenteilige These mit gewichtigen Gründen T.v. Wilamowitz; vgl. auch OT.

1468 ff., El. 1160 ff., Trach. 1081 ff., die beweisen, daß nicht Eur,

sondern Soph. die Rede an Stellen höchsten Affektes durch lyrische Maße unterbrochen hat). Daß z.B. der Kommos der Taur. Iph. dem der El. d. Soph. nahesteht, wird man nicht bestreiten, ohne daß damit aber das Abhängigkeitsverhältnis zu klären wäre (für die Priorität der Iph. Bruhn, p. 30, für die der Soph. El. T. v. Wilamowitz p. 259 f.).

Auch die metr. Analysen der Parodoi (Perrotta, p. 397 f.) helfen nicht weiter. Die Polymetrie in den Parodoi findet sich nämlich bei Soph. nicht nur in El., sondern auch in Phil. und ©. C. und dürfte deshalb nicht auf den Einfluß d. Eur., sondern direkt auf

die Einwirkung der neudithyramb. Strömung nach 420 zurückzuführen sein. 10 Z.B. gibt das gemeinsame Motiv des in der Parodos Trost spendenden Chores für das Zeitverhältnis von S. EL und Eur. Hyps. nichts her, da der Typus des bei seinem Einzug mitfühlenden Chores ein allgem. Tragôdienmotiv bildet (vgl. Soph. Trac, Eur. Hipp., Androm., Hek., El., Hel.). Wenn in Soph. El. und Eur. Hyps. jedesmal eine sich vor der Parodos anbahnende Erkennung verhindert und an das Ende des Dramas geschoben wird (zur Rekonstr. vgl. Morel, De Eur. Hyps., Leipzig 1921 und Italie, Eur. Hyps., Berlin 1923), so läßt sich aus dieser Parallele nicht eine Priorität der Hyps. folgern, da die Verhinderung der Erkennung in der El. d. Soph. durch die Komposition notwendig gefordert wird, zudem die dramatische Streckung des Geschehnisablaufes zum stehenden Inventar des Anagnorisisdramas gehört (vgl. Eur. Ion, Iph. Taur.).

103 Perrotta setzt diese Tragödie auf 411; daß die taur. Iph. der Helena von 412 vorausgeht, wird man mit einiger Sicherheit annehmen dürfen (Vgl. Strohm p. 86); der Versuch Delebecques (p. 321 ff.) Elektra, Iph. Taur., Orest zu einer Trilogie zusammenzufassen, scheint unhaltbar. Als mögliches absolutes Datum für die Iph. Taur. kommt nach W. Ludwig, Sapheneia, Diss. Tübingen 1954, p.160f. das Jahr 414 in Frage. 14 Perrotta datiert den Ion auf 411—409.

1934, p.390 ff. die Spätdatierung

Für die Tragödie hat m. E. Solmsen,

wahrscheinlich

gemacht. Nach

Solmsen

Hermes

tritt aller-

dings Owen wieder für eine Frühdatierung (418/17) ein.

105 Beide Tragôdien und lassen selbst noch auf jeden dramas vor dem

liegen nämlich möglicherweise noch vor der euripideischen Elektra für den Fall, daß sie der sophokleischen Elektra vorausgehen sollten, Fall genug Spielraum für einen Ansatz des sophokleischen Elektrades Euripides.

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

39

Pädagogen auf die Notwendigkeit einer Grabspende verhindert. Daß die sophokleische Gestaltung eine unmotivierte, auf den bloßen äußeren Effekt abzielende Umbiegung einer noch bei Euripides natürlichen Situation sei, können wir nicht zugeben. Eine solche Interpretation verkennt die entscheidende strukturelle Funktion, welche diese kurze Szene für die Gesamtkonzeption des sophokleischen Dramas besitzt. Der Dichter deutet gleich zu Beginn durch die überraschend verhinderte Anagnoris dem Zuschauer den veränderten dramatischen Richtungssinn an, unter dem er den traditionellen Mythos gestalten will. Nicht mehr die Rachehandlung wie bei Aischylos wird im Zentrum der Tragödie stehen, sondern die mit dem unverhofften Fehlschlagen der Erkennung eingeleitete Darstellung des Pathos Elektras. Der scharfen Zäsur in der Eingangsszene1%% korrespondiert also als ferner Bezugspunkt die zentrale Anagnorisis am Ende107, Da außerdem der Hinweis auf den Apollbefehl und auf die Notwendigkeit der Rache Grund für die Verhinderung der Erkennung ist, wird dadurch zugleich schon zu Beginn der tiefere Sinn der tragischen Situation Elektras deutlich: Damit die Rachetat, also der Wille der Götter und zugleich das fanatisch angestrebte Lebensziel der Heldin, Wirklichkeit werden kann, muß Elektra auf eine Erkennung des Bruders verzichten und eine lange Leidensstrecke hindurchgehen, während der die Möglichkeit einer Erfüllung der Rachepflicht paradoxerweise in ein Nichts zu zerrinnen droht. Außerdem übersieht Perrotta die feine kontrastierende Zeichnung der Personen: Der alte Pädagoge irrt sich, der Bruder dagegen vermutet sofort die Gegenwart seiner Schwester. Orest, der hier, wo die Erkennung nicht erfolgt, sofort an die leidende Schwester denkt, vermag sie beim späteren Zusammentreffen zunächst nicht zu erkennen. Die Szene wird zusammen mit der ihr zugeordneten Anagnorisisszene zum Träger tragischer Ironie. Die beiden Szenen ergänzen sich im Gegensinne. Hier das ahnungsvolle Suchen Orests, dort sein ahnungsloses Tasten 108, 2.Daß der Prolog der sophokleischen Elektra euripideische Züge trägt, wird man nur z. T. zugeben!®, da er sich bei aller Besonderheit doch sowohl durch 106 Mit Recht weist Reinhardt (p.272) daraufhin, daß die Zäsur nicht Folge der Anwendung zweier verschiedener Prologformen ist, sondern umgekehrt selbst jene Anwendung bedingt. 107 Auf die enge strukturelle Responsion zwischen der kleinen Eingangspartie (V. 78-85) und der großen Peripetie in Gestalt der Anagnorisis (1098 ff.) weist auch M. Koopmann, Die Bedeutung der soph. El. für den Aufbau d. Hdig., München 1930, p. 28 f., hin. 108 Man beachte auch, wie die Auftrittsszene der beiden Rächer (Or. u. Päd.) wesentlich zur Ausgewogenheit der Gesamtstruktur beiträgt: Danach wird der Komplex des eigentlichen Elektradramas (5. E. 77—1097)

am Anfang und Ende jeweils vom Auftritt

der Gruppe

1098—1383)

Orest-Pädagoge

(1-76

bzw.

umrahmt.

Die

Elektragestalt

ist somit, ganz der themat. Situation entsprechend, auch hinsichtlich der Szenenführung

von beiden Rächerpersonen umgeben. Dieser ausgeprägte Formwille beweist, daß die Eröffnungsszene des Dramas in festem Verband mit den übrigen Bauteilen steht und somit nicht von der eurip. Vorlage her erklärt werden muß. Vgl. dazu E.Brann, Class. Phil. 1957, p. 104 A 2. 108 So weist z.B. nicht allein die Elektra, sondern auch Trach. und Phil. einen betont exponierenden Prolog auf. Die stofflihen und formalen Bedingungen eines Intrigen-

40

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

die dialogische Form der Eröffnung!!® und die deutliche Funktion der Charakterisierung der beiden Dialogpartner (Or. u. Päd.)!!! in die für Sophokles typische Technik der Drameneröffnung einordnet und sich dadurch zugleich erheblich von der euripideischen Prologform unterscheidett?, Die Eröffnungsszene der Sophoklestragödie bleibt nicht bei der euripideischen monologischen Selbstvorstellung stehen113, sondern erfüllt das exponierende Faktengerüst durch den dialogischen Nebensinn mit dramatischem Leben. Während Euripides dahin tendiert, die Prologreden unter Verzicht auf Ethos, Pathos und dramatische Einkleidung zur reinen Erzählung auszugestalten, besitzt der Elektraprolog des Sophokles gerade eine lebendige dramatische Durchformung 114, Auch die folgenden Prologteile weisen spezifisch sophokleisches Gepräge auf. So ist z. B. das der Monodie der sophokleischen Elektra (V. 86 ff.) zugrundeliegende Alleinsein nicht wie in der euripideischen Monodie durch das isolierende Pathos der Leidenschaft, sondern durch die Vereinsamung der Heldin bedingt. Auch der Kommos trägt viel stärker als bei Euripides wirkliche Züge einer echten dialogischen stückes, wie es El. und Phil. solchen Stücken, in denen von muß die Exposition bereits im 110 Das Pathos der beiden Reden mitbestimmt. Vgl. die starke die sich oft bis zum direkten

24 ff., 29 #., 73).

darstellen, fordern einfach eine derartige Gestaltung. In Beginn an die Intrige die Handlungsführung bestimmt, Prolog gegeben werden. wird in jeder Phase durch die Anwesenheit des Partners innere Bindung zwischen den beiden Gesprächspartnern, Appell an den Begleiter steigert (Soph. El. 1f., 11—15,

τ Vgl. Nestle, Die Struktur des Eingangs in d. att. Trag. p. 118 ff.; Th. Pluess, Die Eröffnungsszene der El. d. Soph., 1889, passim; R. Suys, Recherches sur l’Electre de Soph.,

Et. Class. 10, 1941, p. 117 ff. und Whitman, Sophocles, p. 154 f. Neben dem jugendlichen Eifer des alten Erziehers, dem Selbstbewußtsein Orests und dem innigen Verhältnis Orests zu seinem Erzieher hebt sich auch deutlich die ethoserfüllte Orts- und Naturbeschreibung (V2—10 bzw. 17—19) heraus, die sinndeutend in einer inneren Beziehung zum kommenden Rachegeschehen steht. 112 Auch Nestle schließt hinsichtlich der Prologtechnik neben den Trach. auch für die soph. El. auf eurip. Einfluß. Er legt dabei die Beobachtung zugrunde, daß Trach. und El. als einzige Stücke des Sophokles vor der Parodos 2 Szenen aufweisen, also dem typisch euripid. Prologaufbau folgen (vgl. Nestles Tabelle p. 86), während Soph. sonst meistens seinen Prolog in einer oder drei Szenen aufbaut. Dieser Schluß scheint

uns kaum beweiskräftig. Einmal ist die Zahl der soph. Prologe zu gering, um auf dieser schmalen Basis eine Typologie des sophokleischen Prologaufbaus entwickeln zu können (z.B. besitzen wir nur zwei Prologe mit einer Szene vor der Parodos). Hinzu

kommt, daß in der El. (V.77—85) ein Binnendialog die innere Verbindung zwischen den Prologreden

und

der Monodie

Elektras

herstellt, so daß

man

genaugenommen

von

einer Dreizahl der Szenen sprechen muß, die den Prolog tragen. Damit ist aber die typisch euripideische zweiszenige Anlage in Frage gestellt, denn die Form der Verknüpfung von Prologrede und Monodie mit dem strukturellen Mittel eines Zwischendialogs ist ein Charakteristikum der sophokleischen Prologgestaltung (vgl. Trach. 49--60) und widerspricht der Praxis des Euripides (vgl. Nestle p. 123). 113 Gerade in der eurip. El. bleibt der Prolog des Bauern vor der Selbstvorstellung (34 ff.) sachlich und unpersönlich. Die Prologrede soll nur die inhaltlichen Voraussetzungen zum Verständnis des Mythos geben. 114 Über die dialogische Form des Prologs bei Soph. siehe auch H. Decinger, Die Darstellung der persönlichen Motive bei Aisch. und Soph., Leipzig 1911, p. 159 und M. Imhof, Bemerkungen zu den Prol. eur. Trag., Diss. Bern 1957, p. 18 ff.

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

41

Auseinandersetzung, die in dem Versuch des Chores gipfelt, Elektra zur Aufgabe ihrer Leidenshaltung zu bewegen. Durch den Widerspruch der Heldin wird der Kommos beinahe zum Agon. Von einem euripideischen Charakter des sophokleischen Elektraprologs kann daher kaum die Rede sein!3. 3. Perrotta meint, Euripides habe den Auftritt des Chores besser motiviert und gehe deshalb Sophokles voraus!!®, Dazu ist zu sagen: Die Art der Motivierung bei Euripides in Form einer Einladung, die die Mädchen des Chores an Elektra überbringen, ist zwar originell, aber für die weitere Entwicklung des Geschehens unerheblich. Sophokles dagegen trägt der dramatischen Wahrscheinlichkeit mehr Rechnung, denn das Verbleiben seines Chores wird durch dessen Funktion als Tröster und Helfer Elektras gerechtfertigt. Außerdem scheint uns die beim Auftritt des sophokleischen Chores fehlende ausdrückliche Motivierung seines Erscheinens!1? bereits in den Versen 107-109 vorweggenommen zu sein!!®, Der Chor ist auf die lauten Klagen der Heldin hin erschienen, um diese zu trösten. Daher besteht nicht der mindeste Einschnitt zwischen Prolog und Ῥαγοάος 119, Die gefühlsbetonte Anrede des Chores setzt voraus, daß die Frauen das Jammern Elektras bereits vernommen haben. Im übrigen scheint der Dichter gerade durch die bewußt unvermittelte Art der Begegnung zwischen Heldin und Chor geschickt der inneren Situation beider Partner Rechnung zu tragen. Daß Elektra das Erscheinen des Chores ohne weitere Fragen hinnimmt, beleuchtet die innere Verfassung der Heldin, die sich gleichgültig gegenüber allem äußeren Geschehen ganz ihrem Klagen hingibt. Ebenso bedeutet es keinen Mangel an äußerer Wahrscheinlichkeit, sondern wirft einen für die Haltung

der Frauen charakteristischen

Zug ab, wenn der Chor für sein Erscheinen zunächst keine weitschweifige Begründung gibt. Der Anblick der verzweifelten Agamemnontochter erweckt ein

115 Die übrigen formalen Entsprechungen beweisen nur einen späten Ansatz der soph. El. aber nicht die Priorität der El. d. Eur., da ein etwaiger eurip. Einfluß auf das Sophoklesdramas nicht notwendig auf die ΕἸ. d. Eur. zurückgehen muß. Eine Monodie vor der Parodos z.B. findet sich nämlich bei Eur. nicht nur in El. und Ion, sondern auch schon

118 417 118 119

in Tro. (514) sowie Hekabe und Androm. Diese Dramen liegen möglicherweise (Tro.) oder sicher (Hek. und Andr.) vor der soph. El. und können also Soph. angeregt haben (dazu stimmt die Parallelität in der Verwendung von katalekt. Klageanapästen in der Monodie der soph. El. und d. eurip. Hek.). Daß uns bei Soph. nur ein Beispiel einer Verknüpfung von Monodie und folgender Parodos erhalten ist, dürfte an der lückenhaften Überlieferung des soph. Spätwerkes liegen, zumal in allen drei Spätdramen des Dichters der Einfluß des Neudithyrambus gerade in der Lyrisierung des Drameneingangs unverkennbar ist. Man muß sich also vor Spekulationen hüten. Kaibel (p.56f.) und Masqueray (Sophocle, Paris 1940°, Bd. I, p. 201f.) meinen umgekehrt, Eur. habe die unzureichende Motivierung bei Soph. korrigieren wollen (vgl. Zielinski, Exc. zu d. Trach. d. Soph., Phil. 1896, p. 523). Ahnlich in der Parodos der Trach. Auch diese Parallele spricht gegen die Folgerung Perrottas. Auch die Verse Soph. El. 251 ff. stellen eine nachträgliche Motivierung dar. Gegen die Kaibelsche Interpretation wendet sich zu Recht Suys, p.279. Er nimmt an, daß die Choreuten bereits während

der Monodie Elektras die Bühne betreten. Ebenso

habe Elektra schon während ihrer Arie die Frauen bemerkt.

42

A. Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

spontanes Gefühl des Mitleids, so daß zunächst für eine besondere Anrede und Erklärung des Kommens kein Raum bleibt 12°. 4.Im Unterschied zu den Choephoren setzt sich der Chor in den beiden Elektradramen

nicht mehr

aus

Personen

zusammen,

die innerhalb

des

Palastes

wohnen. Daß für eine solche Änderung gegenüber Aischylos nur Euripides wegen seiner Verlegung der Handlung aus dem Palast in ein ländliches Milieu einen zwingenden Grund gehabt habe und die ,unmotivierte“ Neuerung des Sophokles deshalb auf euripideischen Einfluß zurückzuführen sei, wird man nicht zugeben. Die neue Konzeption des Sophokles, das Pathos der Heldin in das Zentrum zu rücken, zwingt ihn zu seiner gegenüber Aischylos neuartigen Zusammensetzung des Chores. Elektra soll in einer Welt völliger Vereinsamung leben, nur von den Mördern

ihres Vaters umgeben,

dauernd von Mächten

bedroht, die sie zur Auf-

gabe ihrer Rachepfliht zu bewegen suchen und ihr damit ihre Lebensmitte zu entziehen drohen, eine Gefahr der sich alle großen sophokleischen Gestalten ausgesetzt sehen. In dieser gesteigerten Isolation darf Elektra nicht einmal Sklaven des Hauses zu Vertrauten haben. Hinzu kommt, daß die mahnende

Funktion des

sophokleischen Chores wesentlich wirkungsvoller von den älteren Bürgerfrauen Mykenes als Exponenten einer agamemnonfreundlichen Stimmung als von Sklavinnen erfüllt wird 121, 5.Nach Perrotta hat Sophokles die Figur des Pädagogen, die als Überbringer der fiktiven Todesnachricht genauso „überflüssig“ sei wie das Motiv der doppelten Todesbotschaft überhaupt (Päd.-Orest), aus dem euripideischen Elektradrama (Figur des alten Erziehers) entlehnt. Abgesehen davon, daß Sophokles mit der Einführung der Person des Pädagogen auf die Figur des Talthybios aus der voraischyleischen Fassung des Orestesmythos zurückgreift (vgl. Robert, Bild u. Lied, p- 165) und nicht Euripides kopiert!22, beruht die Argumentation Perrottas auf einer Verkennung des Grundgedankens des sophokleischen Dramas, in dem neben der Anagnorisisszene gerade die in doppelter Brechung gegebene Todesbotschaft und somit auch die Person des Pädagogen eine zentrale Funktion einnimmt. Nach dem moralischen Sieg Elektras über die Mutter im Agon bewirkt die Meldung des Alten einen niederschmetternden Rückschlag für die Heldin, der in schärfstem Kontrast zum Ausgang des Agons steht und eine erschütternde Pathosentfaltung ermöglicht!2®. Um diese dramatische Wirkung voll zur Geltung zu bringen, mußte

120 Vgl. auch Suys, Et. Class. 1942, p.79, der darauf hinweist, daß angesichts des Übermaßes an Leid konventionelle Höflichkeitsformeln nicht angebracht seien; dazu Parmentier, Mélanges Weil, p. 336. 121 Die Anteilnahme am Geschick der Dynastie vor allem 5. El. 160 ff., 1227, 1413.

auch

122 Ebensowenig scheint mir die Feststellung Stoessls (Rhein. Mus. 1956, p.88, ähnlich Kitto), der alte Erzieher bei Euripides müsse als Rudiment der sophokleischen Sagengestalt angesehen werden, als Beweis für die Priorität des Sophokles zu genügen. Der euripideische Pädagoge ist, zumindest was die Mechanemahandlung anbelangt, viel zu eng mit dem Handlungsgefüge verbunden, als daß man von einem bloßen Rudiment sprechen dürfte. 123 Vgl. Jaene, Die Funktion des Pathetischen im Aufbau soph. und eurip. Trag., Kiel

1929, p. 3ff.

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

43

Elektra auch noch von ihrer Schwester verlassen und unter dem Eindruck der fiktiven Todesnachricht möglichst lange von dem Bruder ferngehalten werden, bis endlich mit dem Auftritt Orests die letzte Steigerung des Trugs und zugleich die beglückende Lösung des qualvollen Schwebezustandes eintreten konnten. Auch die Darstellung der Entfaltung der Arete Elektras in dieser verschärften Situation der Isolation war ohne die Voraussendung des Pädagogen124 und die Verdoppelung des Todesmotives!?5 nicht möglich. Zugleich wird erst mit Hilfe dieses „szenischen Hyperbatons“ das ironische Spiel um Trug und Wahrheit eingeleitet, das sich bis zur Erkennungsszene fortlaufend steigert und dort seinen Höhepunkt erreicht. Die beiden Todesbotschaften bilden also Anfang und Ende einer kunstvollen kompositorischen Anlage1?6. b) Der Agon Perrotta vermißt sowohl die nötige Motivierung wie auch jeglichen Zusammenhang des sophokleischen Agons mit den übrigen Szenen und deutet diesen Befund als Anzeichen für eine Priorität des Euripides. 1. Wie sich bei Euripides der Agon an einer zufällig hingeworfenen aggressiven Bemerkung Elektras entzündet, die Klytaimestra zu einer Rechtfertigung herausfordert, so läßt sich die sophokleische Klytaimestra ganz natürlich durch ihre unverhohlene Wut über die vor aller Öffentlichkeit ausgestoßenen Schmähreden Elektras (V. 516--24) zu einer Verteidigung ihres Handelns hinreißen !27. Außerdem deuten die Geschehnisse unmittelbar vor dem Agon bereits auf eine solche Aus124 Solche Nebenpersonen, die an einer bestimmten Stelle in das Geschehen einzugreifen, um einen neuen Abschnitt des Leidensweges des Helden auszulösen, findet man bei Soph. oft. Man vergleiche die Rolle des Boten im O.T., des Wächters in der Antigone und des Emporos im Phil. 125 Zur Technik der Motivverdopplung in der soph. El. vgl. T. v. Wilamowitz, p. 222 ff., der mit Recht darauf hinweist, daß die ursprüngliche Motivierung der Voraussendung des Pädagogen, dem Gelingen des Anschlags zu dienen, von Sophokles bezeichnenderweise fallengelassen wird. Siehe auch Friedrich, p. 150 ff., der die gleiche Technik der Motivverdopplung auch für die beiden Chrysothemisszenen geltend macht. 126 Die entscheidende Funktion der Pädagogenszene wird durch deren strukturellen Stellenwert innerhalb der Gesamtkomposition unterstrichen. Die Reihenfolge des Auftritts der einzelnen Personen ergibt eine ausgewogene Szenenfolge, die vom Prinzip der symmetrischen Gliederung bestimmt wird. Es läßt sich folgendes Schema aufstellen: 1. Päd.-Orest, 2. Chrys., 3. Klyt. 4. Pädagoge,

3a. Klyt., 2a. Chrys., 1a. Orest-Päd. Die

Szene der fiktiven Todesbotschaft stellt also die strukturelle Achse eines axialsymmetr. Systems dar, um die sich die übrigen Sekundärpersonen in gegenläufiger Reihenfolge gruppieren (vgl. dazu H.E. Jaene, Die Funktion des Pathetischen im Aufbau soph. und eurip. Dramen, Leipzig 1929, p.17 und E.Brann, A Note on the Structure of Soph. El., Class. Phil. 52, 1957, p. 103 f.).

17 Das Stichwort, mit dem die Apologie Klytaimestras einsetzt, ist πατήρ (V. 525): Zunächst sucht sich Klyt. gegen ihre Tochter mit eigenen Angriffen zu wehren. (V. 523/4). Als Elektra auf die Ermordung Agamemnons hinzielt, ist das für Klyt. Grund genug, ohne Zögern mit einer Selbstrechtfertigung zu beginnen (V. 525 f.). Von einem „gewaltsamen Sprung“ spricht m.E. zu Unrecht T. v. Wilamowitz, p.180. Auch Bruhns und Kaibels Erklärungen befriedigen nicht.

.

44

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

einandersetzung hin: Elektra ist durch eine Drohung Aigisths, Klytaimestra durch einen unheilvollen Traum beunruhigt. Die psychologische Disposition beider Partner kommt also einem Streitgespräch entgegen. 2. Perrotta wird dem kunstvollen tektonischen Aufbau des sophokleischen Elektradramas nicht gerecht, wenn er den Agon isoliert findet. Die Agonszene bildet ein notwendiges Glied eines Kompositionsschemas, das deutlich auf dem Prinzip der Kontrastwirkung aufgebaut ist: Mit der vorausgehenden Chrysothemisszene ist der Agon aufs engste verknüpft!2®. In beiden Szenen verteidigt Elektra gegenüber der Schwester bzw. der Mutter, die beide ihre oppositionelle Haltung kritisieren, ihre Lebensaufgabe. Dabei stehen jeweils Elektra und ihre Gegnerin unter dem frischen Eindruck des Traumbildes Agamemnons. Die Harmonie, mit der die Begegnung der Schwestern schließt, wird beim Erscheinen Klytaimestras von der schrillsten Dissonanz abgelöst. Wie über Chrysothemis, so trägt Elektra auch über ihre Mutter einen Sieg davon. Dabei führt die Spannungskurve von der Begegnung mit der moralisch indifferenten Schwester??? zu dem Streit mit der schlechthin bösen Mutter, von der gelungenen Überredung der Schwester zu dem mit Rechtsgründen errungenen Triumph über die Mutter. Elektra kann am Ende des Agons wieder hoffen. Ihre Gedanken wenden sich (V. 601) Orest zu und bereiten damit die Szene der Trugbotschaft vor. Klytaimestra dagegen wendet sich voller Unruhe im Gebet an Apoll!%, Diese seelische Situation der handelnden Personen erfährt durch die folgende Szene der Trugbotschaft eine jähe Änderung: Sieg und Hoffnung Elektras, Niederlage und Enttäuschung Klytaimestras verkehren sich jeweils in ihr Gegenteil. Die Erwartungen der Heldin haben sich nicht erfüllt; ihre Lage scheint aussichtslos. Dagegen wird das Gebet der Mutter scheinbar erhört. Man sieht also deutlich, wie der Agon auf die folgende Trugrede zukomponiert ist. Von einer Isolation der Szene kann keine Rede sein. Mit dem Trug des Pädagogen bricht die vorher in verschiedenen Stufen aufgebaute Hoffnung Elektras1#! zusammen. Diese Zäsur wiederum bildet dann zugleich den Wendepunkt für eine aufsteigende Stimmungskurve, die durch die äußerste Entfaltung der Arete der Heldin bestimmt ist. Der Agon weist demnach nicht nur mannigfache Beziehungen zu den unmittelbar angrenzenden Szenen auf, sondern seine strukturelle Bedeutung erstreckt sich über weite Teile des Dramas.

128 Die Parallelität in der äußeren Situation ist offensichtlich (vgl. V. 328 ff. und 516 ff.). 129 Dem Vorschlag H. Heubners, Rhein. Mus. 104, 1961, p.152ff., die Verse soph. EI. 428—30 in Übereinstimmung mit den Hss. statt Chrysothemis der Elektra zuzuschreiben, stimmen wir zu. 180 Καὶ Reinhardt zeigt auf (p. 161 f.), wie das Streitgespräch noch unmittelbar im Gebet Klyt. mitschwingt. 181 1, Elektras Vertrauen auf eine von den Göttern garantierte Rechtsordnung in der Monodie. 2. Die auflebende Hoffnung infolge des Traumbildes in der Chrysothemisszene. 3. Der Triumph über die Mutter im Agon.

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

45

c) Die Erkennungszeichen 1. Während in den Choephoren des Aischylos und in der Elektra des Euripides die Funktion der Erkennungszeichen unmittelbar mit dem Vollzug der Anagnorisis verknüpft ist, leisten sie bei Sophokles für die Erkennung nichts. Sie sind aus der Erkennungsszene herausgelöst und in das zweite Treffen Elektras mit Chrysothemis einbezogen. Da Sophokles also von Aischylos und Euripides abweicht, ist er nach Perrotta der letzte Bearbeiter des Stoffes. Diese Argumentation scheint uns kaum durchschlagend, weil sich die Verwendung des Motivs in noch stärkerem Maße bei Sophokles und Euripides deckt und von der Gestaltung in den Choephoren abweicht. In beiden Elektren werden die Zeichen nicht mehr von der Heldin selbst, sondern von einer nahestehenden Person aufgefunden, die sie dann Elektra überbringt. In beiden jüngeren Dramen reichen im Gegensatz zu Aischylos die Zeichen als Indizienbeweis für die Ankunft Orests nicht mehr aus. Elektra schenkt den Tekmerien keinen Glauben, während der Überbringer jeweils von ihrer Beweiskraft überzeugt ist. Andererseits gehen in der Motivierung der Zeichenszene Aischylos und Sophokles zusammen. Bei beiden wird anders als bei Euripides die Auffindung der Erkennungszeichen mit dem Traumbild Klytaimestras und dem dadurch bedingten Opfergang zum Grab Agamemnons motiviert. Man wird auch darauf hinweisen, daß nur innerhalb des sophokleischen Dramas die Zeichenszene einen Einfluß auf das Geschehen nımmt. Sie bewirkt durch Elektras Verharren im Trug eine Vertiefung der Leidenswirkung gegenüber der Resignation am Ende des vorangegangenen Botenberichtes und leitet damit zu der Auseinandersetzung mit Chrysothemis über, in der dann die Isolation Elektras bis zu einem Grade gesteigert wird, daß sich die Heldin zur eigenen Tatbereitschaft durchringt!#2. Bei Euripides dagegen kommt dem Motiv für den weiteren Ablauf der Handlung keinerlei Bedeutung zu. Schließlich scheint uns die Zeichenszene gerade bei Sophokles auch hinsichtlich der strukturellen Festigkeit durchaus unverdächtig. Die zweifache Meldung von Orests Anwesenheit durch Chrysothemis bzw. Orest selbst korrespondiert der ebenfalls in doppelter Brechung gegebenen fiktiven Todesbotschaft. , 2. Nach Ansicht Perrottas setzt die Zeichenszene bei Sophokles die Kritik des Euripides an der parallelen Szene der Choephoren voraus!®, So verblüffend diese Annahme scheinen mag, so ist sie doch nicht zwingend. Nichts hindert anzu132 T.v. Wilamowitz dagegen meint (p.221), das Motiv könne im soph. Drama völlig fehlen. Es lasse sich nur als „künstliche Erhaltung“ des alten aischyl. Motivs verstehen. Dagegen haben K. Reinhardt (166 f.) und Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch, p. 59 A1 die notwendige dramatische Funktion der Lockenszene betont. 138 Es handelt sich bei Aischylos um a) die Ähnlichkeit der Haarloce, b) die gleichen Maße der Fußspuren und c) das von Elektra selbst gefertigte Kleid Orests. Sophokles läßt nun

in seiner

Elektra

das

Motiv

b fallen, ersetzt

das

Motiv

c durch

den

als

Beweisstück eindeutigen Siegelring Orests (Vers 1222 f.) und behält das Motiv a zwar bei, gibt ihm aber eine rationalere und unanfechtbarere Form. Chrysothemis erschließt nämlich die Anwesenheit Orests nicht mehr aus der Ähnlichkeit der Locke wie Elektra in den Choephoren — darauf bezieht sich die Kritik des Euripides —, sondern aus der Tatsache, daß kein Bewohner des Palastes sie gespendet haben kann.

46

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

nehmen, Sophokles habe selbst aus dem Streben nach Variation und größerer Wahrscheinlichkeit die oben genannten Änderungen getroffen. Vor allem aber finden diese Änderungen sämtlich in den gegenüber Aischylos’ Choephoren neuartigen dramatischen und szenischen Bedingungen ihre Erklärung. Die Szene ın den Choephoren spielt unmittelbar am Grabe des Vaters. So lag es für Aischylos nahe, das dramaturgisch wirksame Motiv der Ähnlichkeit der Fußspuren einzubauen. Sophokles dagegen kann nicht mehr auf diese Szenerie zurückgreifen, da bei ihm das Geschehen am Grab nicht mehr auf der Bühne vorgeführt, sondern

nur durch den allerdings sehr anschaulichen Bericht der Chrysothemis mitgeteilt wird. Das Fußspurenmotiv, das an das Grab gebunden ist, hätte durch das Fehlen des entsprechenden szenischen Hintergrundes an dramatischem Effekt verloren, und so ist es nur verständlich, wenn Sophokles es aufgegeben hat. Die

rationalere

Gestaltung

des Lockenmotivs

läßt sich darauf

zurückführen,

daß bei Sophokles nicht mehr Elektra selbst, sondern ihre Schwester Chrysothemis die Locke findet. Die mehr emotionale Argumentation der aischyleischen Heldin (V. 1174-78) mußte für Sophokles fortfallen, weil nicht mehr eine mädchenhafte, beinahe kindlich hoffende Elektra, sondern eine sachlich-kritische Chrysothemis die Szene beherrscht1%4, Die durchaus nebensächliche Funktion des Ringes in der sophokleischen Erkennungsszene wird allgemein zugegeben 1385, Elektra hat Orest bereits während der drei Antilabai (1220-23) von selbst erkannt, so daß der Ring nur noch ein bloßes Bühnenrequisit darstellt. Kaibel hat zudem gut gezeigt, daß der kurze Hinweis Orests auf den Ring des Vaters vor allem als wirksame Trennungslinie zwischen der Spannung des Erkennens und dem folgenden Freudenausbruch gedacht ist!3°. Gerade diese untergeordnete Bedeutung des Ringes scheint mir der Beweis dafür, daß Sophokles nicht unter dem Eindruck der „euripideischen Kritik“ gestanden hat. Sonst wäre er bestimmt bestrebt gewesen, eine gegenüber Aischylos rationalere, logisch unanfechtbare Lösung zu bringen. Die Einführung des Ringes als Erkennungszeichen beruht somit auf dem Wunsch des Sophokles nach Variation der aischyleischen Vorlage!#7. Im Ganzen beruht die Argumentation Perrottas auf einer Überschätzung der euripideischen Kritik 138, die doch nur eine beiläufige literarische Reminiszenz darstellt. 134 Vgl. die Ethopoiie der Schwester in der ersten Chrysothemisszene, die mit der Zeichnung in der Lockenszene gut zusammenstimmt. Siehe dazu Verrall, Komm. Choeph. p-44. Man darf noch bemerken, daß die aischyl. El. gegen Ende der Lockenszene (V.186 ff.) ihre Vermutung über eine mögliche Anwesenheit Orests ebenfalls in Form eines Syllogismus stützt. Sophokles kann also bei der Gestaltung seines Motivs Anregungen durch Aischylos weiterentwickelt haben, ohne daß man,

wie Perrotta es tut,

eine Einwirkung des eurip. Dramas annehmen müßte. 155 Vgl. Kaibel p.200, T. v. Wilamowitz p.210 und 232 f. und Reinhardt p.277, Anm. z. 5.172.

138 Kaibels Einwand

gegen Naucks

Umstellung

der Verse

1222 f. ist einleuchtend.

137 Man vergleiche auch die originellen Erkennungszeichen im Tereus und Tyro. Der Dichter brauchte sich demnach nicht an die Gestaltung der Choephoren gebunden zu fühlen.

138 Diese

veraltete

Sofocle, Bari

Auffassung

vertreten

1934; Blumenthal,

immer

Sophokles,

noch

Turolla,

Saggio

sulla poesia

di

1936, p. 199 bzw. Bursians Jahresberichte

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

47

d) Die Erkennungsszene Aus der Tatsache, daß sich ein lyrıscher Freudenkommos nach der Anagnorisis bei Sophokles nur in der Elektra, bei Euripides in der Iphigenie auf Tauris, Helena, Ion und Hypsipyle findet, läßt sich allein noch kein Kriterium für das Zeitverhältnis der beiden Elektradramen gewinnen. Einmal mahnt der deutliche Einfluß des Neudithyrambus ın den Spätdramen des Sophokles zur Vorsicht, und zum anderen besitzen wir von Sophokles im Gegensatz zu Euripides nur ein Anagnorisisdrama, so daß die nötige Basis für weitreichende Schlüsse fehlt, zumal man eine Wiedererkennungshandlung bei Sophokles noch für die Dramen Alexandros, Kreusa, Myser und Tyro vermuten darf. Man wird zudem nicht bestreiten, daß die Gestaltung der sophokleischen Erkennungsszene notwendiger Ausdruck der Stimmung der Personen ist!%. Auch ein Vergleih sowohl der metrischen Formen in den Kommoi der Anagnorisisszenen 14 als auch des Umfangs der Stichomythien vor der Erkennung 141, (Soph. El. 1176-1219 u. Eur. El. 555 bis 577) kann nichts beweisen. Damit ist die Kritik am Beitrag Perrottas abgeschlossen, die etwas ausführlicher ausfallen mußte, da bisher eine gründliche Rezension nicht vorlag. Wenn auch der methodische Ansatzpunkt einer Synkrisis größerer Strukturelemente ohne Einschränkung grundsätzlih zu bejahen ist und einen wesentlichen Fortschritt gegenüber

U. ν. Wilamowitz

und

Steiger

bedeutet,

so

scheint

uns

doch

dieser

Ansatz von Perrotta nicht genügend genutzt zu sein, da er meist bei einer vordergründigen, formalen Interpretation des einzelnen Motivs stehen bleibt und dem eigentlichen Funktionswert einer Szene nicht gerecht wird. Unter dieser isolierten Betrachtungsweise leidet vor allem die Deutung des sophokleischen Dramas. Der Nachweis der Priorität der euripideischen Elektra scheint uns deshalb nicht geglückt 142,

1938, p.95;

139

141

Harsh, Handbook

of Classical Drama,

Stanford

1948, p. 141; Pohlenz?,

p.311. Daß die „Kritik“ des Euripides an der aischyleischen Szene auch noch trotz eines Vorausgehens der soph. El. also trotz der darin getilgten, anstößigen σημεῖα wirkungsvoll sein konnte, hat T. v. Wilamowitz (p. 232 f.) gegen Bruhn bereits hervorgehoben. Wenn eine 45 jährige zeitliche Distanz zu den Choephoren den Effekt nicht beeinträchtigen konnte, dann wohl auch eine vorliegende soph. ΕἸ. nicht. Die Worte der freudig erregten Elektra sind in lyrischen Maßen gehalten, Orest, der schon den Blick auf die bevorstehende Rachepflicht richtet, antwortet in einfachen Dialogversen. Die allmähliche Beruhigung der Schwester spiegelt sich in der Abfolge der Metren: Zuerst Dochmien mit Jamben gemischt, dann Trochäen und schließlich reine iambische Trimeter. 140 Die Parallelen sind meist nicht deutlich genug. Daß man aus der Länge der Stichomythie in der soph. Anagnorisisszene, der längsten im soph. Gesamtwerk überhaupt (44 Verse), keine voreiligen Schlüsse ziehen darf, beweisen andere stihomythischen Partien von ebenfalls beträchtlihem Umfang: z.B. Aias (1120-1141),

Oid. Rex

(556-582

bzw. 1007—1046),

El. (385415),

Phil. (1224 bis

1255) und Oid. Col. (387—420). Gross, Die Stichomythie in der griech. Trag. und Kom. p. 60 ff. kommt nach einem Vergleich beider Partien zum Ergebnis der Priorität des Sophokles. Vgl. die Kritik Perrottas, p. 389 A 1.

“2 Vgl. H. W. van Pesch, De Idee van de menselijke beperktheid by Sophokles, Wagerungen 1953, p. 251.

48

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

Owen!# versucht das sophokleische Elektradrama in die Reihe der Spätdramen des Euripides einzuordnen. Er datiert es auf 410 und gibt damit der euripideischen Elektra von 413 die Priorität. Wir können uns den Argumenten für diese Zeitbestimmung des Sophoklesdramas nicht anschließen: 1.Der Schluß, die Polemik des euripideischen Orestesdramas von 408 gegen Sophokles’ Billigung des Muttermordes sei wirkungsvoller, wenn die Elektra des Euripides der gleichnamigen Sophoklestragödie vorangehe, geht erstens von einer Fehldeutung des sophokleischen Dramas aus, wie wir gezeigt haben. Zweitens dürfte der Orestes des Euripides vielmehr eine Antwort auf die aischyleischen Choephoren darstellen!4, wie K. v. Fritz, Antike und moderne Tragödie, gezeigt hat145, Mit dem von Owen konstruierten Bezug des Orestdramas zur Elektra des Sophokles fällt auch die gesamte Hypothese. 2. Die Gestalt der Chrysothemis wird in der euripideischen Elektra (vgl. V. 14) und in der Iphigenie auf Tauris (V. 562) vom Dichter völlig ignoriert, dagegen im Orest (V.23) und in der aulischen Iphigenie (V. 1146) erwähnt. Dieses Verhalten des Euripides muß weder aus dem Einfluß der bedeutungsvollen Chrysothemisgestalt der sophokleischen Elektra auf die beiden späten Dramen erklärt werden noch macht das silentium in der euripideischen Elektra bzw. in der Iph. Taur. die Annahme einer Priorität beider Stücke vor dem Sophoklesdrama notwendig. Einmal hatte Euripides ın seiner Elektra wegen seiner Verlegung des Schauplatzes aus dem Palast keinen Grund, Chrysothemis in die Handlung einzubeziehen. Außerdem zwingt die nur beiläufige Erwähnung der Chrysothemis im Orest und in der Iph. Aul. (hier wird nicht einmal der Name genannt) nicht, einen sophokleischen Einfluß anzunehmen. Damit erledigt sich zugleich der Schluß, nat Sophokles sei die Existenz der Chrysothemis nicht mehr zu ignorieren gewesen 14. 148 The date of Soph. El., Greek Poetry and Life, Oxford

1936, 146 ff. Vgl. die negative

Stellungnahme Dennistons, Komm. Eur. El. p. XXXIV A.2; positiv bewertet den Beitrag Owens L. Post, Sophocles, Strategy and the Electra, The classical weekly 46, 1963, Nr. 10, p. 151 f. 14 Vgl. Krieg, De Euripidis Oreste, 1934, p. 33 f. 145 Ob man umgekehrt mit diesem Ansatz die Priorität der soph. El. vor der euripideischen nachweisen kann — wenn Euripides bei der Konzipierung seiner Elektra nur die Orestie (und nicht auch das Sophoklesdrama) vorgelegen hätte, so würde er wohl seine Elektratragödie als Instrument seiner Kritik gegen Aischylos benutzt haben —, wie es von Fritz versucht, bleibt fraglich. Es darf nicht übersehen werden, daß tatsächlich auch die Elektra des Euripides eine deutliche Antwort auf das Choephorendrama darstellt. War in den Choephoren und Eumeniden die Stellung Apolls im Zusammenhang der Schuldfrage durchaus unangetastet geblieben, war also lediglich die Konstituierung einer

neuen

nicht mehr Schritt

sittlihen

Ordnung

in Aussicht

gestellt

worden,

in der

nötig sein sollte, so geht Euripides in seiner Elektra

weiter,

indem

er nun

den

Gott

dafür

tadelt,

überhaupt

eine

solche

konsequent eine

Situation

Tat

einen ge-

schaffen zu haben, in welcher eine solche Lösung wie die in den Eumeniden notwendig wurde. Diese Beziehungen lassen unserer Meinung nach den Versuh von V. Fritz scheitern. Außerdem ist damit unsere frühere Auffassung bestätigt, daß ein Verständnis des euripideischen Elektradramas nicht notwendig die Annahme einer Invektive gegen das gleichnamige sophokleische Stück zur Voraussetzung haben muß. 14 Die von Owen angeführten sprachlichen Parallelen zwischen der El. d. Soph. und dem

Philoktet beruhen sämtlich auf ähnlichen dramatischen Situationen und dem allgem. Sprachgebrauch und beweisen daher nicht viel. Schließlich könnten solche Anklänge

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen Nach

den Arbeiten von Perrotta, Elisei und Owen,

49

die alle für die Priorität

des Euripides eintreten, mehrten sich die Stimmen, die angesichts der Überspitzung der Argumente kritische Zurückhaltung forderten (Zürcher, Bowra, Lesky) und den Prioritätsstreit nach wie vor für offen hielten 47. So hat in jüngster Zeit außer Whitman (p. 51), der lediglich die Argumente Steigers auffrischt, nur noch W. H. Friedrich (Euripides und Diphilos, Zetemata, München, 1953, p. 768.) zu unserem

Problem

Stellung

genommen.

Sein

Hauptargument

zur

Stützung

der

Priorität des Sophokles gewinnt er aus einem beachtenswerten Strukturvergleich. Friedrich stellt mit Recht fest, daß Aischylos in den Choephoren ein auf die Person

Orests zugeschnittenes Rachedrama konzipiert habe, in welchem die Anagnorisis nur ein Vorspiel bilde. Die Struktur des sophokleischen Dramas stellt eine genaue Umkehrung der aischyleischen Verhältnisse dar. Die hier aus einem Vorspiel zur Haupthandlung erhobene Wiedererkennung und das damit gesetzte Elektradrama lassen den Vollzug der Rachehandlung zum Nachspiel werden. Euripides hat nach Friedrich die beiden Aspekte der beiden Vorgänger zusammengefaßt und Anagnorisis sowie Mechanemahandlung zu gleichwertigen Strukturelementen erhoben 143, So zwingend die methodisch förderliche Argumentation Friedrichs auf den ersten Blick auch scheinen mag, so übersieht sie doch entscheidende Formgesetze des euripideischen Schaffens: In mehreren, ungefähr gleichzeitigen Dramen (Kresphontes, Iph. Taur., Helena, Ion, Antiope, Hypsipyle) sind bei entsprechender Variierung jeweils Anagnorisis und Mechanema in dieser Abfolge zu tragenden Elementen der dramatischen Handlung erhoben. Die Elektra steht also strukturell fest im Umkreis der verwandten Dramen, insbesondere in engster tektonischer Analogie zu Helena bzw. Iphigenie auf Tauris. Somit ist man also nicht gezwungen, die Grundstruktur des Elektradramas als Synthese vorher getrennter Strukturelemente zu erklären und aus vorangegangenen Bearbeitungen des Stoffes zu entwickeln. Die Elektra weist einen typisch euripideischen Strukturtypus auf !#. nur einen ohnehin schon gesicherten terminus ante für die El. d. Soph. bestätigen, nicht aber den zeitlichen Abstand zwischen El. und Phil. festlegen, zumal es sich um zwei Werke desselben Dichters handelt (vgl. Denniston, p. XXXIV). 147 Ph. W. Harsh,

A Handbook

of Class.

Drama,

1948,

p. 141, bringt

keine

neuen

An-

regungen, genauso wie T.B.L. Webster, Introd. to Soph. 1936, der ähnlich wie Bruhn mit argumenta e silentio arbeitet. Zum Versuch Stoessls, Die Trilogie d. Aisch., Baden bei Wien 1938, vergleiche Böhme, Gnomon 1939, p. 364 ff. Die mit Hilfe von rudimen-

tären Szenen bei Eur. gewonnenen Argumente für die Priorität des Soph. sind fragwürdig, da die Fixierung solcher Rudimente die Strukturprinzipien des Eur. zu verkennen droht (vgl. Strohm, p.76 A1). Schließlih muß Stoessl notwendig voreingenommen an die Strukturanalyse beider Dramen herangehen, da seine Rudimente selbst schon auf einer Konstruktion fußen, insofern sie wieder im Dienst einer hypothetischen Rekonstruktion der Choeph. stehen. 148 Ἐς ist eine von Anfang an auf zwei Ziele zusteuernde Handlung, die V. 100 ganz klar vorausgesagt wird. Dabei wird man die Anagnorisishandlung wohl als vorbereitenden Szenenkomplex für die Haupthandlung, die Ermordung, ansehen müssen.

149 Mit ähnlichen Argumenten gegen Friedrich arbeitet Strohm, p. 80. Er beobachtet richtig, daß die Anagnorisis in Eur. El. mit der dortigen Mechanemahandlung von Beginn an ineinandergearbeitet ist. Gleichwohl darf man Friedrich zugeben, daß die erste Dramen4 Vögler,

Interpretationen

50

A.Kritik der bisher vorgelegten Lösungsversuche

Allerdings könnte das Argument Friedrichs dann ein entscheidendes Gewicht gewinnen, wenn sich nachweisen ließe, daß das euripideische Drama über die bloße Verknüpfung der beiden Strukturelemente Anagnorisis und Intrige hinaus auch in der Gestaltung dieser beiden Motive den direkten oder indirekten Einfluß des Sophokles voraussetzt. Diese Aufgabe bleibt noch zu leisten. Ein zweites Argument für die Priorität der sophokleischen Elektra gewinnt Friedrich aus einem Vergleich der beiden Szenen vor der Erkennung. In beiden Dramen werden die Erkennungszeichen als Hinweis auf eine mögliche Anwesenheit Orests entwertet. Elektra weist die Vermutungen, die der Überbringer der Zeichen an seine Beobachtung knüpft, entschieden zurück. Während bei Sophokles die Ablehnung pragmatisch motiviert ist und aus der Situation erwächst, da Elektra nach der Trugrede des Pädagogen an eine Rückkehr des Bruders nicht mehr glauben kann, muß die Ungläubigkeit der Heldin im euripideischen Drama, wo ja ein faktischer Grund für ihr Mißtrauen nicht mehr besteht, nach Meinung Friedrichs aus dem Wesen der Agamemnontochter hergeleitet werden. Euripides habe Elektra als „klug, aber instinktlos“ charakterisieren wollen. Diese psychologische Begründung stelle eine spätere Entwicklungsstufe als die pragmatische Motivierung dar. Dieser Argumentation vermögen wir nicht zuzustimmen, da sie, wie schon von anderer Seite mit Recht betont worden

ist15, auf einer Fehl-

deutung euripideischer Ethopoiie beruht. Friedrich geht noch immer von der höchst umstrittenen Voraussetzung aus, alle rationalen Äußerungen und Gefühle einer Person aus einem unabhängig von der einzelnen Szene feststehenden Charakterschema herleiten zu können. So kann man bezeichnenderweise die von ihm entworfene Charakterisierung der Heldin nicht mit dem Bild Elektras in Einklang bringen, das sich aus den übrigen Teilen des Dramas gewinnen läßt. In Wahrheit geht es dem Dichter um mehr als um eine einseitige Charakterisierung der Agamemnontochter. Er versucht in der Szene der Erkennungszeichen, wie in vielen anderen Anagnorisisdramen, eine Grundsituation menschlichen Seins zu verdeutlichen, die zu tragischer Verwicklung führen muß: Die Anfälligkeit menschlicher Existenz für die Gewalten von ἄγνοια und δόκησις. Die euripideischen Personen leben in einer Welt des Scheins, die oft nur um einen minimalen Abstand

von der Welt des Wissens getrennt ist. Je günstiger nun die Voraussetzungen zur Überwindung dieser ἄγνοια zu sein scheinen, um so tiefer verstrickt sich menschliches Wähnen paradoxerweise in die Unwissenheit und verbaut sich so, oft durch ein allzu selbstsicheres Pochen auf die Vernünftigkeit, wie hier das Beispiel der Elektra zeigt, den Weg zur rettenden Erkenntnis und zum Glück. Die ἔκλυσις ἀφροσύνης

hälfte wesentlich im Zeichen der Erkennung steht, die durchaus als eigenes Werkstück gesehen werden muß. Ab V. 215 (Orest hat El. bereits erkannt) liegt doch die Spannung einer jeden Moment

möglichen

Erkennung

über dem

Geschehen.

Positiv zum

Versuch

Friedrichs A. Spira, Unters. zum Deus ex mach. bei Soph. und Eur. 1957, p. 108 bzw. K. Matthiessen, p. 88. 160 Vgl. dazu Zürcher, p. 121 ff., Ludwig, Sapheneia, p. 126--28 u. Matthiessen p. 131—36, denen

wir manche

wertvolle

Anregung

verdanken.

Zur

Frage

der Echtheit

strittenen Partie Eur. El. 518—44 werden wir später Stellung nehmen.

der um-

II. Detailvergleich auf Grund sprachlicher und motivischer Parallelen

51

erfolgt dann im letzten Moment meist völlig unerwartet auf einem Weg, der vorher kaum in Betracht gezogen wurde. Diese Interpretation schließt eine Deutung aus dem individuellen Charakter Elektras aust5t, Man wird der Agamemnontochter nicht als psychologisch individuellen Wesenszug zurechnen wollen, was für attisches Denken allgemein und bei Euripides insbesondere als Wesensmerkmal menschlicher Grundstruktur zu werten ist152, Damit dürfte auch Friedrichs Hypothese der Boden entzogen sein.

11 Zugleich dürfte damit auch kleinlichen Polemik an den Newigers (Hermes 1961, p. scheint, der Boden entzogen

der Auffassung der Verse Eur. El. 518—44 im Sinne einer Choephoren, wie sie jüngst wieder in der Interpretation 4221.) und Fittons (Hermes 1961, p. 440 A 1) aufzuleben zu sein. Daraus ergibt sich aber eine notwendige Konse-

quenz: Wenn die Befürworter einer Athetese der obigen Verse (in der Nachfolge von A. Mai, Comment. phil. in honorem Theod. Mommseni; T. Tucker, Kommentar, Cam-

bridge 1901; L. Radermacher, Rhein. Mus. 58, 1903, p. 546 ff. verwerfen die Verse zuletzt

wieder

Böhme,

Hermes

73,

1938,

p. 203f.

u.

E. Fränkel,

Aisch. Agam.

III,

p- 821—26. Für die Echtheit sowohl der umstrittenen aischyl. wie eurip. Verse treten jüngst, allerdings gestützt auf bedenkliche methodische Ansätze, ein: H. J. Newiger, Hermes 1961, p. 427 8 bzw. 429A 1 und J. W. Fitton, The Suppliant Women and the Herakleidai of Euripides, Hermes 1961, p. 440 A 1.) ihre Legitimation zu einem solchen Schritt aus eben dieser verfehlten

Interpretation

beziehen,

so scheint unsere Deutung

auch einen nicht geringen Beweis zur Echtheit der Partie zu liefern. ὩΣ K. Matthiessen führt zu Recht als Parallelen an: Solon frg. 1, V. 63-70, frg. 16, frg. 17; Xenophanes frg. 30. 4:

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren Bevor wir auf die Prioritätsfrage eingehen, seien noch die Datierungskriterien angeführt, die sich aus beiden Dramen unabhängig voneinander gewinnen lassen. Dadurch können wir den ungefähren chronologischen Standort des jeweiligen Dramas innerhalb des Gesamtwerkes des betreffenden Dichters und zugleich den zeitlichen Abstand zwischen beiden Elektren unbeschadet ihrer relativen Chronologie bestimmen. Da wir nicht über didaskalische Urkunden verfügen, muß sich die Datierung auf eine Auswertung formaler wie stofflicher Motive und Strukturelemente stützen. Dadurch läßt sich vielleicht bei beiden Dichtern eine Entwicklung der Dramengestalt herausfinden, die als sicherer Leitfaden eine zeitliche Einordnung der jeweiligen Elektratragödie erlaubt!.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra Die Datierung des Euripidesdramas in das Jahr 413 galt bis vor kurzem als sicher. Man bezog die Schlußworte der Dioskuren (Eur. El. 1347 ff.)® auf die auf ι Dabei sind wir hinsichtlich einer relativen Chronologie euripideischer Dramen einerseits durch die Kenntnis einer wesentlich größeren Zahl von erhaltenen Stücken (auch fest datierten) gegenüber Sophokles im Vorteil; andererseits aber fällt es bei den Tragödien des Euripides schwerer, von einer Formbetrachtung auf die Chronologie zu schließen, da diese Form oft stärker von der Formkraft des jeweils vorliegenden Einzelstoffes als von kontinuierlichen Entwicklungstendenzen bestimmt ist. Σ Zuerst H. Weil, Sept. trag. d’Euripide,

1887, p. 569; Th. Zielinski, Gliederung

d. att.

Komödie, Leipzig 1885, p.98; E. Bruhn, Njbb. Supplem. 15, 1887, p.316; In jüngster Zeit haben diese Datierung angenommen: Delebecque, p. 289 ff; Friedrich, p. 13 u. 149; Whitman,

mann,

p.51;

Ludwig,

Chronologie

Sapheneia,

p. 136; A. Colonna,

d.att. Trag., Hamburg

Dioniso,

1951, p.78; A.Lesky,

2. Aufl., p. 420; N. Catone, Komm. zu Soph. El., Florenz

1947, p. 205;

Hoff-

Gesch. d. griech. Lit.

1959, der sich leider nicht mit

den Argumenten von Zuntz auseinander setzt; G. Schiassi, Riv. d. Fil. 1951, p. 1; Pohlenz?, I, p.307 u. II, p.128; M. Imhof, Bemerkungen zu den Prologen soph. u. eurip. Dramen, Diss. Bern 1957, der auf Grund einer Analyse der Prologtechnik die Elektra des

Euripides vor 412 und nach den Troerinnen ansetzt, leider aber die Ergebnisse von Zuntz ignoriert. Für ein früheres Datum treten auf Grund metrischer Beobachtungen ein: M. Haupt, Ztschr. f. d. üster. Gym. 1873, p. 660 ff. u. Descroix, Le trimètre iambique, p. 58.

Die Verse Eur. El. 1278 ff. dürften kaum als Vorverweis auf die Helena des Jahres 412 zur Datierung verwertet werden können. Vgl. dazu Zuntz p. 64-66; Neber, Euripidea, Mnemosyne, Neue Serie X, 1882, p. 271 und Spranger, Class. Quarterly, 1925, p. 126 ἢ. Ebenso unsicher scheint der Versuch von Delebecque, aus Eur. El. V.410 f. eine Anspielung

auf Tanaos und Argos und damit einen terminus post (die Schlacht von Thyrea im Jahre 414) für die euripideische Elektratragödie zu gewinnen. 3 Daß diese Stelle ebenso wie der Epilog im ganzen echt ist, wird heute nicht mehr bestritten. Anders Nauck, Euripides, 1889, I, p. LXXV.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

53

Drängen des Nikias* entsandte Hilfsflotte unter Demosthenes während der sızilischen Expedition von 4135. Weil das Hilfsgeschwader nach Thukydides erst ἦρος εὐθὺς ἀρχομένου auslief, kamen als Aufführungstermin nur die großen Dionysien des Jahres 413 in Betracht®. Das Datierungsproblem kam aber überraschenderweise

erneut

in Bewegung,

als

Zuntz,

ein

unduldsamer

Gegner

der

„interpretation historique“, das allgemein anerkannte Datum von 413 umzustoßen und die euripideische Elektra auf Grund metrischer und stofflicher Indizien in die späten zwanziger Jahre vorzudatieren und in die Nähe der Dramengruppe Andr., Herakliden, Hik. und Herakles zu rücken suchte”. Die bisher recht schwache Reaktion auf den Vorstoß von Zuntz® muß um so auffälliger erscheinen, als sich doch aus diesem Schritt beträchtliche Konsequenzen sowohl für die Deutung des euripideischen Spätwerkes im allgemeinen als auch für die Interpretation der Elektra im besonderen ergeben: Die Elektratragödie wird aus der so einheitlich wirkenden Gruppe der Tychedramen (El. Iph. Taur., Hel. Ion), die durch die Verbindung einer Erkennungshandlung und einer Intrige gekennzeichnet ist, herausgelöst und in eine Schaffensperiode des Euripides verpflanzt, deren Formtypus und Problemstellung in Dramen wie Hekabe und Hiketiden bzw. Herakles und Troerinnen greifbar wird. Matthiessen® stellt sich neuerdings kritiklos hinter Zuntz und sucht durch eine Analyse aller Euripidesdramen von 420-410 4 Ob man allerdings in μυσαρός darf, muß zweifelhaft bleiben. Form einer Gnome gehaltenen situation der Agamemnonkinder

und ὅσιος Anspielung auf Alkibiades und Nikias sehen Man beachte den engen Zusammenhang, in dem die in Verse 1350—53 mit der Lösung der tragischen Grundam Ende des Dramas stehen (Vgl. Soph. Αἴας 132, Eur.

Hipp. 1139 f.).

5 Vgl. Thuk. VII, 20; Dieser Ansatz scheint mir trotz der Bedenken Delebecques (p. 289) der einzig mögliche, zumal so die Anspielung ein Maximum an Aktualität gewinnt: Die Aufführung des Stückes liegt nur wenige Tage nach der Aussendung der Flotte. Außerdem bot dieses Hilfskontingent die letzte Chance für das Gelingen der Aktion, so daß die allgem. Sorge gut motiviert ist. In Frage käme noch die Anspielung auf die Hilfsflotte des

Eurymedon

im

Winter

414/13,

sowie

auf die Rettung

der

Flotte

des Nikias

(so

Delebecque). Neber, Mnemos. 1882, p. 271 bringt die Stelle unverständlicherweise mit Thuk. IV, 22 in Zusammenhang. 4 Schließlich haben wir berechtigten Grund zu der Annahme, daß Euripides überhaupt nicht an den Lenäen, sondern nur an den großen Dionysien aufgeführt hat (vgl. Hoffmann, Die Chron. d. att. Trag. u. Wilamowitz, Einleitung in d. griech. Trag. p. 40). Neuerdings hat C. F. Russo, Euripide e i concorsi tragici lenaici, Mus. Helv. 1960, p- 165 ff. diese Vermutung erhärtet. 7 G. Zuntz, The political plays of Euripides, Manchester 1955 u. Gnomon 1959, p. 410 f. 8 Abwartend gegenüber Zuntz Lesky, Gesch. d. Griech. Lit.?, p. 420 f.; positiv Mette, Gymn. 1959, p. 151, u. K. v. Fritz, Antike u. moderne Trag. Berlin 1962, p. 476 A 24; vgl. auch H. Diller, Gnomon

1960, p. 232, der von einem „kühnen Schritt“ spricht, neuerdings aber

seine abwartende Haltung aufgegeben zu haben scheint u. sich ebenfalls für die datierung entscheidet. Vgl. Diller, Erwartung, Enttäuschung, Erfüllung in d. griech. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissensch. 7, 1961, p.98 ff. Das letzte große Werk Euripides von A. Garzya, Pensiero e technica dramatica in Euripide, Collana di

FrühTrag. über Studi

Greci, 36, Neapel 1962, ignoriert sogar die Arbeit v. Zuntz u. behält unkritisch das Datum

von 413 bei (vgl. p. 76, A 12). 9 K. Matthiessen, Aufbau u. Datierung der Elektra, der Taur. Iph. und der Helena des Euripides, Diss. Hamb. 1961 (jetzt Hypomnemata 4, 1964).

54

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

den Frühansatz durch den Nachweis der Priorität der Elektra sowohl vor dem Herakles wie auch vor den Troerinnen zu erhärten. Da demnach die Datierung von Zuntz Anklang zu finden scheint, ist es bei der Tragweite seiner These geboten, zunächst den Vorschlag eines Frühansatzes der Elektra des Euripides auf seine Haltbarkeit hin zu überprüfen. Darüber hinaus wird für unsere Themenstellung eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Matthiessen erforderlich, weil dieser trotz des frühen Ansatzes der euripideischen Elektra im Elektrenstreit an der Priorität der Sophoklestragödie festhält, ein Schritt, der auch für die zeitliche Fixierung der Elektra des Sophokles gewisse Konsequenzen mit sich bringt. Zuntz geht von der Voraussetzung aus, daß Zeitanspielungen, wie man sie häufig bei Euripides zu finden glaubt, ein Durchbrechen der Distanz bedeuten würde, die das zeitlich ungebundene mythische Geschehen von der aktuellen Gegenwart trennt. In der Nachfolge von M. Haupt ist er bestrebt, die Beziehung der Epilogverse auf die sizilische Expedition zu entwerten. Man mag Zuntz grundsätzlich zugeben, daß man Zeitanspielungen zur Datierung von Tragödien auch bei Euripides mit Vorsicht benutzen muß und nicht über das Ziel hinausschießen darf, wie es z.B. bei Delebecque geschehen ist, dessen vermutete Zeitanspielungen häufig auf Fehlinterpretationen des Textes beruhen. Andererseits wird man aber auch trotz der berechtigten Kritik am Bild eines historisierenden Euripides zugestehen, daß der letzte der drei großen Tragiker mehr als die beiden anderen zum Zeitgeschehen Stellung nimmt. Die Tragödie wird eben vom Griechen nicht nur als eine rein mythhistorische, zeitlose angesehen, sondern steht in engstem lebendigen Bezug zur demokratischen Polisordnung und läßt somit aktuelle Bezugnahmen zu. In diesem Sinne formuliert Diller!%: „Der Sinn der euripideischen Menschen für das politische und soziale Gefüge und ihre Position darin ist immer wach, und sie haben immer das Bedürfnis, dazu Stellung zu nehmen.“ Uns scheint nun gerade die Beziehung auf die Ereignisse ın Sizilien am Ende der Elektra eine der wenigen sicheren Anspielungen zu sein!!. Wenn die Dioskuren in höchster Eile zur Rettung von Schiffen auf den Pontos Sikelos hinaus wollen, dann spricht doch daraus die Sorge um das Schicksal Athens, für das in dieser ernsten Situation die Krisis des ganzen Krieges gekommen ist. Wenn Euripides überhaupt auf ein Ereignis des peloponesischen Krieges Bezug zu nehmen Grund hatte, dann auf dieses Unternehmen. Und daß gerade die Expedition nach Sizilien in den zeitlich entsprechenden Stücken (Troer. El. Iph. Hel.) ihre Spuren hinterlassen

hat,

wird

auf

keinen

Fall

bestritten

werden

können.

In

diesem

Punkt

wird man Delebecque zustimmen12, Zuntz’ Argumente im einzelnen halte ich nicht für ausreichend, um Eur. El. 1307 ff. als Datierungsstütze zu entwerten'®:

10 Diller, Gnomon

1960, p.230;

Hinsichtlich

der Datierung

der Hiketiden

des Eur. hält

Diller bezeichnenderweise trotz der von Zuntz vorgebrachten Bedenken an der Beziehung auf das Bündnis von 420 fest (zuletzt vertreten von L. Greenwood, Aspects of Eur. Tragedy, Cambridge 1953, p. 94 ff.). 11 Im Gegensatz beispielsweise zu I. T. 1490 u. Or. 1682. 12 Vel. auch Lesky, Gesch. d. Griech. Lit., p. 420, über die Troerinnen. 18 Völlig berechtigt dagegen scheinen mir seine Zweifel an der Auffassung der Verse Eur.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

55

1.Man wird nicht zugeben, daß eine knappe Zeitanspielung bereits die notwendige Distanz zwischen Mythos und aktueller Gegenwart aufhebt. Solche Bedenken scheinen uns erst dann berechtigt, wenn man etwa Hauptpersonen des dramatischen Geschehens und die Problematik der Handlung als Chiffren des Zeitgeschehens versteht. Da wird dann Tragödie zur verkappten Historie. 2. Daß πόντος Σικελός geographisch nicht nur im engeren Sinne den unmittelbar Sizilien umgebenden Raum, sondern die gesamte Wasserfläche zwischen Süditalien und Griechenland bezeichnet, hat nichts zu bedeuten. Entscheidend ist nur, daß dieser Terminus zur klaren Umschreibung des in Frage stehenden geographischen Sachverhaltes ausreicht. Wie hätte der Dichter auch den Raum um Sizilien anders bezeichnen sollen als πόντος Zixeiög? Vor allem aber vermag Zuntz keine plausible Erklärung zu finden, warum ausgerechnet als Betätigungsfeld der Dioskuren die sizilischen Gewässer angegeben werden, die zudem in den späten zwanziger Jahren, in die er das Elektradrama zu datieren sucht, d. h. im Anfangsstadium des Krieges, noch keinerlei entscheidende strategische Bedeutung besaßen. Daß man hier nicht mit einem bloßen ornamentalen Füllwort rechnen darf wie im Falle von Sophokles’ Trachinierinnen 119, gibt Zuntz selbst zu (vgl. auch Bruhn, Jahrb. f. Klass. Phil. 1887, p. 316f.). Was konnte dann aber Euripides in dieser Zeit zur Erwähnung der Rettung einer Flotte auf dem πόντος Σικελός an bedeutsamer Stelle in einem Drama veranlassen? 3. Zuntz versucht die Aussagekraft der Verse 1347 ff. mit dem Hinweis einzuschränken, es sei bei Euripides ein Topos, daß der deus ex machina nach Erfüllung seiner innerdramatischen Aufgabe auch immer zugleich auf seine zukünftige Tätigkeit vorverweist, in den meisten Fällen in Verbindung mit der Angabe der neuen Wirkungsstätte. Vergleicht man aber die von Zuntz herangezogenen Parallelen mit der Elektrastelle, so zeigen sich bedeutsame Unterschiede, welche gerade die Sonderstellung des Motivs in der Elektratragödie beweisen und die Annahme einer besonderen Funktion unumgänglich machen: In keiner der analogen Stellen (Iph. Taur. 1488, Ion 1616, Orest 1682) nımmt die Ortsangabe, auf die der jeweilige Deus ex machina verweist, eine so pointierte Stellung ein, wie in der Elektra. Das Schlußwort der Dioskuren ist ein Hinweis auf eine ernste Notlage (vgl. σπουδῇ V. 1347), von einer Spannung, beinahe Dramatik begleitet, die in den Epilogen der vergleichbaren Dramen fehlt. Während dort der Maschinengott mit der Ankündigung seiner künftigen Aufgabe (Begleitung der vom Leid erlösten Personen des dramatischen Geschehens) eine Atmosphäre der Ruhe und Klärung schafft, bleibt in der Elektra eine Stimmung von Ungewißheit und Sorge. Daß dieser veränderte Charakter der Schlußszene in der Elektra des Euripides nicht nur und nicht einmal primär in der besonderen Stellung der Dioskuren als Retter in Seenot begründet liegt, zeigt zur Genüge eine Parallele, die Zuntz nicht anführt, obwohl sie für das hier zur Diskussion stehende Problem von

Gewicht zu sein scheint, insofern auch dort die Dioskuren als Maschinengötter auf-

El. 1278—83 als eines Vorverweises auf die bevorstehende Inszenierung der Helena, wie sie zuletzt immer noch von Agostini, Riv. d. Studi classici, III, p. 1 ff. vertreten wird.

56

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

treten. Wir meinen den Schluß der Helena. Auch hier (V. 1664-65) geben die beiden Brüder ihre künftigen Absichten kund, und zwar ganz im Einklang mit ihrer traditionellen

Funktion:

Sie wollen

beiden

Gatten,

Helena

und

Menelaos,

ein

sicheres Geleit für eine glückliche Heimkehr geben. Der Unterschied gegenüber der Art der Schutzfunktion der Dioskuren ın der Elektra springt ins Auge. Von einer drängenden Aufgabe ist im Finale der Helena nichts zu spüren. Es fehlt auch eine präzise Lokalisation des Tätigkeitsfeldes, die etwa dem πόντος Σικελός in der Elektra entspräche, sondern es wird nur von πάτρα (V. 1665) gesprochen. Ein letztes Argument gegen Zuntz liefert folgende Beobachtung: Während in der Iphigenie auf Tauris,

Ion, Helena

und

Orest die vom

deus ex machina

angekündigte Tätigkeit immer direkt durch eine mit dem Abschluß der Dramenhandlung gegebene innerdramatische Situation motiviert ist (im Ion und in der Iph. Taur. geleitet Athene die ihr anvertrauten Personen des dramatischen Spiels nach Athen; im Orest beabsichtigt Apoll, Helena in das Haus des Zeus einzuführen;

in der Helena wollen die Dioskuren das glückliche Paar nach Hause geleiten), liegt allein im Elektradrama der Grund für die künftige Aufgabe des deus ex machina jenseits der innerdramatischen Voraussetzungen. Diese Sonderstellung verlangt unserer Meinung nach eine besondere Erklärung, welche am ehesten durch die Annahme einer Beziehung auf ein aktuell-politisches Ereignis gegeben scheint. Hinzu kommt folgendes: In allen übrigen Stücken sind die Personen, die sich in den Schutz der Maschinengötter begeben, genau bestimmt. Diese Tatsache zwingt auch zu einer eindeutigen, und zwar historischen Fixierung der sich in den sizilischen Gewässern befindlichen Flotte. Diese Beobachtungen sollten dazu dienen, die m. E. allzu skeptische Argumentation Zuntz’ zu entkräften und zu zeigen, daß die Verse Eur. ΕἸ. 1347 ff. durchaus als Datierungsstütze gelten dürfen. Man wird Zuntz zwar zugestehen, daß die Schlußworte der Dioskuren mitsamt den umstrittenen Versen einen integrierenden Bestandteil des Dramas bilden. Aber diese Erklärung gilt nicht uneingeschränkt. Gerade bezüglich der entscheidenden Partie Eur. El. 1347 ff. bleibt, wie wir hoffentlich zur Genüge gezeigt haben, ein Vakuum, das interpretatorisch aus dem Gefüge des Dramas nicht auszufüllen ist. Wir haben hier das typische Beispiel eines Kontextes vor uns, dessen Verständnis eine historische Interpretation erfordert. Die Bedeutung des Sprachdenkmals beruht auf Vorstellungen, welche in den Worten an sich nicht liegen, aber sich an ihren objektiven Sinn vermöge seiner Beziehung auf reale Verhältnisse knüpfen. Die historische Auslegung ist eben nicht identisch mit Sacherklärung; die Sache wird auch durch die grammatische Auslegung klar. Aber der objektive Wortsinn an sich, wie ihn diese grammatische Auslegung bestimmt, ist selbst das Resultat unausgesprochener Voraussetzungen, welche die historische Auslegung zu ermitteln hat. Eben dieser problematische Restbestand räumt die ohnehin schon kaum schwerwiegenden Bedenken Zuntz’ beiseite und zwingt zur Annahme, daß der deus ex machina in der Elektra des Euripides aus der dramatischen Illusion heraus in die Realität der Zeitgeschichte tritt. Man darf noch hinzufügen: Die ordnende Funktion der Dioskuren dürfte dem athenischen Publikum um so lebendiger erschienen sein, wenn es die göttlichen Brüder ihre Hilfe in den Dienst einer für Athen hochaktuellen Sache stellen sah.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

57

Auch die von Zuntz zur Stützung der Frühdatierung der Elektra vorgebrachten Argumente motivischer und struktureller Art sind nicht überzeugend, ganz abgesehen davon, daß gegen einen solchen Frühansatz gewichtige formale und sachliche Parallelen zu den übrigen Spätdramen sprechen (s. u.). Im wesentlichen stützt sich Zuntz in Anlehnung an Strohm auf zwei Argumente: A. Die Funktion des Elektraagons weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Agontechnik des Hippolytos (428) auf!4, insofern der Beginn des Streitgesprächs jeweils in eine bereits angelaufene Handlung fällt, die notwendig unmittelbar nach dem Agon zur Katastrophe des einen Agonpartners führen wird, so daß der Verlauf des Streitgesprächs am Schicksal der beteiligten Personen nichts mehr zu ändern vermag. Diese gemeinsame Atmosphäre des „zu spät“ schließt nach Zuntz die Agonreden beider Dramen eng zusammen. Beidemal beleuchtet das Streitgespräch das Geschehen nur noch retrospektiv von einer höheren Sicht aus. Wir werden später versuchen, eine Erklärung für diese Analyse zu geben, welche nicht zu dem gewagten Schritt einer Umdatierung zwingt. Zunächst aber sei gegen Zuntz folgendes bemerkt: Daß seine Hypothese in sich widersprüchlih ist bzw. zu schwerwiegenden Konsequenzen

führt, beweist die Tatsache,

daß er selbst mit seinem

Frühansatz

nicht ernst zu machen wagt. Sonst hätte Zuntz die Elektra nicht in die späten zwanziger Jahre rücken dürfen, sondern konsequent in die Nähe des Hippolytos von 428 setzen müssen. Diese Datierung vermag er aber nicht aufrechtzuerhalten. Seine These erfährt nämlich dadurch eine bedeutende Schwächung, daß gerade die Gestaltung des Elektraagons in wesentlichen Punkten von der formalen und strukturellen Anlage der Streitgespräche in der Periode um 428 (Alk. Med. Hipp.) abweicht, Man darf trotz gewisser Übereinstimmungen, die aber, wie sich sofort herausstellen wird, überwiegend nur äußerlicher Art sind, die tiefgreifenden Unterschiede

nicht übersehen, wie sie beispielsweise zwischen den Agonen im Hippolytos und der Elektra zutage treten. a) Der äußere, nicht mehr aufzuhaltende Geschehnis- oder besser Schicksalsablauf, in den beide Agone hineinragen, ist durchaus verschieden motiviert. Im Hippolytos droht das durch den Fluch des Theseus beschworene Eingreifen Poseidons den einen Agonpartner, Hippolytos, zu einem späteren Zeitpunkt zu vernichten. Sein Gegenüber, Theseus, hat im Augenblick des Agons jedoch selbst keinen Einfluß mehr auf die bereits ausgelöste Katastrophe. Das Streitgespräch 16 Die von Zuntz ins Feld geführten Beziehungen zwischen Alkestis, Medea u. Elektra hinsichtlich der agonalen Technik scheinen uns zu weitreichenden chronologischen Schlüssen kaum ausreichend. 15 Zuntz gibt z.B. zu, daß der Agon in der El. hinsichtlich des Grades der psychologischen

Durchformung weiter entwickelt ist als die Streitgespräche der Frühdramen (Gnomon 31, 1959, p. 410). Nach seiner Ansicht würde unter diesem Gesichtspunkt eine Datierung der EL etwa in die Nähe der Hek. u. Androm. nahegelegt. Aber auch diesen Ansatz ist er bereit, sofort wieder zu verwerfen, da er auf Grund der von ihm stark betonten Unter-

scheidung von Zwei- bzw. Dreipersonenagonen eine gleichzeitige Aufführungszeit von El. u. Hek. verwirft.

58

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

ist also hier in ein sich bereits jenseits aller menschlichen Möglichkeiten vollziehendes, göttlich gelenktes Verhängnis eingebettet, das anders als in der Elektra von keinem der beiden Agonpartner durchschaut wird. Der Agon fällt aber nicht eigentlich in eine bereits angelaufene Aktion im engeren Sinne, wie es im Elektradrama der Fall ist. Dort haben die Agamemnonkinder den ersten ‘Teil ihrer Racheintrige, die Tötung Aigisths, vollendet und stehen unmittelbar vor der Ermordung Klytaimestras. Indem die Königin der Bitte Elektras um einen Besuch ihrer Hütte nachkommt, hat sich das Räderwerk einer Intrige in Bewegung gesetzt; es ist im Gegensatz zur Situation im Hippolytos sowohl ganz bewußt ausgelöst worden wie es auch noch angehalten werden könnte. Durch den folgenden Agon wird die Mechanemaaktion still gelegt, um nachher mit der von Elektra bewerkstelligten Täuschung Klytaimestras wieder aufgenommen zu werden. Der Agon dringt in die Intrige ein. Nur hier im Elektradrama kann man demnach von einer Unterbrechung des Handlungsablaufs durch den Einbau eines Agons sprechen. b) Deutlich verschieden stellt sich in beiden Dramen auch das Verhältnis der einzelnen Agonpartner zum vorausgehenden Handlungsablauf dar. Während man bei Phädras Tod als Folge eines Selbstmordes von einer Täterschaft des Theseus, also des anklagenden Agonpartners, absehen muß, geht der Mord an Aigisth gerade auf die ausgefeilte Intrige derjenigen Partei zurück, deren Interessen im Agon von der anklagenden Elektra vertreten werden. Umgekehrt trifft den in die Verteidigung gedrängten Agonpartner, dessen Katastrophe unmittelbar bevorsteht, nur im Hippolytosdrama indirekt eine Schuld am Tod der vor Beginn des Agons aus dem Leben geschiedenen Person, während in der Elektra die angeklagte Klytaimestra gerade jeglicher Schuld an der Ermordung Aigisths enthoben ist. c) Ein weiterer Unterschied betrifft die Form, in der die Streitgespräche jeweils ausgelöst werden. Im Hippolytos sucht der Titelheld aus freien Stücken, zufällig und ahnungslos seinen Vater Theseus auf und erfährt so noch vor dem Agon vom grausamen Geschick seiner Mutter. In der Elektra dagegen wird Klytaimestra durch eine List ihres Agonpartners Elektra herbeigelockt, um so ihre eigene Vernichtung zu beschleunigen. Dabei wird die Mutter, im Gegensatz zur Situation im Hippolytos, über den Tod Aigisths bis zum Ende des Agons im unklaren gelassen 17. d) Gegen die von Zuntz betonte Parallelität beider Agonszenen spricht die Differenz hinsichtlich des thematischen Verhältnisses von Agon und Dramenganzem. In der Tragödie von 428 bildet der gerade entdeckte Selbstmord Phädras den Gegenstand der Auseinandersetzung. In der Elektra dagegen entzündet sich der

16 Umgekehrt dringt im Schlußteil des Agons der Elektra die Intrige in den Agon ein und treibt das Geschehen voran. Auch dieses Moment kommt in der Parallelszene des Hipp. nicht zur Geltung. 17 Diesen Eindruck verstärkt noch die Tatsache, daß im Hipp. der hinzukommende Partner in eine mit Haß geladene Atmosphäre hineingerät und damit notwendig die Situation eines Agons gegeben ist, während demgegenüber der Elektraagon sich erst an einer zufällig hingeworfenen Bemerkung Klyt. entspinnt (V. 1004).

I. Die Datierung der euripideischen Elektra Disput

an einem

außerhalb

des dramatischen

Geschehens

59

liegenden,

in der Vor-

geschichte des Sagenstoffes wurzelnden Faktum, der Ermordung Agamemnons. Die dem Streitgespräch vorausgehende Tötung Aigisths hat nurmehr die Funktion, die hintergründige Amphibolie des Wortgefechtes zu steigern. Unsere Bemerkungen dürften gezeigt haben, auf wie unsicheren Fundamenten der Versuch von Zuntz aufgebaut ist, durch den Nachweis einer Parallelität in der Agontechnik eine zeitliche Nähe von Hippolytos und Elektra zu konstruieren. Die aufgewiesenen Entsprechungen überschreiten sämtlich nicht den engen Rahmen des äußerlich Faktischen. Die tiefere Motivierung und innere Anlage der Agonszenen jedoch weisen jeweils spezifische Züge auf, welche die vordergründigen Gemeinsamkeiten bei weitem überwiegen. Vor allem vermag Zuntz nicht ein einziges Argument anzuführen, das den traditionellen Spätansatz der Elektratragödie in Frage stellen könnte. Nicht so sehr die Betonung der Gemeinsamkeit mit Frühdramen als vielmehr der Nachweis einer Unvereinbarkeit mit den späten Stücken hätte der Hypothese Gewicht verleihen können. Aber eben an diesem Punkt werden

die Grenzen

der Arbeit von Zuntz deutlich. Wenn

dieser z.B. versucht,

durch eine scharfe zeitliche Trennung von Zwei- bzw. Dreipersonenagonen ein sicheres Kriterium für die Ermittlung von Früh- bzw. Spätdramen zu gewinnen 18, so übersieht er, daß das von ihm aufgestellte Entwicklungsgesetz durch die um 408 aufgeführte Antiope durchbrochen wird! und damit für Datierungszwecke ausscheidet??, ganz abgesehen davon, daß die Form des Zweipersonenagons in der Elektra aus innerdramatischen Gründen gefordert ist: Die letzte, entscheidende Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter verträgt keinen dritten Partner (Orest als Vollstrecker der Intrige darf nicht erscheinen). Sonst fügt sich das Elektradrama hinsichtlich seiner Agontechnik nahtlos in das Bild der Spätdramen ein. Gerade der Charakter des Streitgesprächs als einer förmlichen Gerichtsszene, in deren Zentrum eine gebrochene Klytaimestra steht, paßt gut zu der Agonform der späteren Dramen wie Tro. Phön. Bacch. Auch der Agon vor der Katastrophe, der rückblickend die Ursachen des Konfliktes verhandelt, begegnet in den Troerinnen und Phönissen ebensogut wie im Hippolytos®t. 18 Ein einheitliches Charakteristikum der frühen Dramen stellt die Form des von zwei Personen bestrittenen Agons dar (Alk. Med. Hipp.). 1% Dort kommt es nämlich zu einem Agon zwischen zwei Personen. Zethos und Amphion streiten über den Wert der vita contemplativa bzw. activa.

® Versucht man einmal die für unsere Frage wesentlichen Dramen hinsichtlich des Unterschieds von Zwei- bzw. Dreipersonenagonen aufzuschlüsseln u. das Ergebnis mit der einigermaßen gesicherten relativen Chronologie der einzelnen Dramen in Einklang zu bringen, so erweist sich die Schwäche der Hypothese. Es bietet sich nämlich folgendes „Entwicklungsbild“: Herakliden 3 P. Ag. — Hippolytos 2 P. Ag. — Andromache 2 P. Ag. — Troerinnen 3 P. Ag. — Antiope 2 P. Ag.

Angesichts dieser sprunghaften Folge scheint uns der bisher gültige Ansatz der Elektra auf ca. 415 keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. # Dabei zeigt gerade der Agon der Troerinnen die gleiche dramatische Funktion wie das Streitgespräch des Elektradramas, ja die Übereinstimmungen erstrecken sich bis in Einzelheiten: In beiden Fällen werden gegen eine Tochter des Tyndareos Vorwürfe wegen ihres Verhaltens während der Kämpfe um Troia erhoben. Ähnlich wie in der El. wird auch in

60

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

Ganz

entschieden

tiefere

Ursache

auf einen späten Ansatz

für den

Streit

nicht

aus

deutet auch die Tatsache,

der momentanen

Handlung

daß

die

erwächst,

sondern in der Vorgeschichte des Mythos verankert ist, wie in Orest, Phön., Bac. B. Zuntz weist auf die verschiedenartige Zielsetzung der Intrige in Hel. und Iph. Taur. einerseits und Elektra andererseits hin. Während in den beiden ersten Stücken das Mechanema im Dienst einer Sicherung der äußeren εὐτυχία und

σωτηρία stehe, habe es in der Elektra die Funktion, eine befohlene Rachehandlung mit dem Ziel der Liquidierung des Gegners zum erfolgreichen Abschluß zu führen. Dazu ist zu sagen: Selbst wenn man den andersartigen Charakter der Intrige in der Elektra und die stärkere Akzentuierung des Rachemotivs zugibt, welche das Elektradrama auf den ersten Blick als Drama sui generis erscheinen läßt, so ist doch diese Gewichtsverteilung durch den gegenüber Helena, Ion und Iphigenie andersgearteten, festgelegten stofflichen Vorwurf bedingt und macht daher nicht eine Umdatierung notwendig®?. Hinzu kommt, daß sich die Elektra als Intrigenstück mit dem besonderen Akzent eines Rachedramas durchaus in die spätere Schaffensperiode des Euripides (um 412) einfügt. In der Antiope, deren später Ansatz um 408 gesichert ist, dient die geplante Intrige der Brüder wie in der Elektra zur Rache an Dirke und Lykos®3. Schließlich übersieht Zuntz, daß auch den Troerinnen der Agon von Katastrophenereignissen eingerahmt, die für die beiden Agonpartner schicksalhafte Bedeutung haben. Unmittelbar voraus geht die Deportation des kleinen Astyanax (Kassandra u. Andromache haben Hekabe bereits verlassen müssen), unmittelbar nachher wartet auf die Königin die Verschleppung als Kriegsgefangene. In beiden Dramen bildet demnach der Agon die zweite Szene eines größeren Geschehenszusammenhangs, in dessen erstem Abschnitt ein äußeres Ereignis die Voraussetzungen für den Agon schafft. Inmitten dieses Geschehnisablaufes steht wie in der El. der Agon zwischen

Hek. u. Hel. betont isoliert. Er ändert an der Faktizität der Ereignisse nichts

mehr, er macht nichts wieder gut. Über Hekabe wird wie über Klyt. die Katastrophe hereinbrechen. Hier wie dort liegt über den Frauengestalten unendliche Resignation. Aber trotz oder gerade wegen der Unmöglichkeit einer Annullierung der Wirklichkeit wird in beiden Agonszenen eine Neuorientierung, eine Neubewertung des Geschehens eingeleitet, indem hinter alles vordergründige Leiden und Hassen geleuchtet und die Frage nach der Dike neu gestellt und gelöst wird. Jüngst stellt auch K. Matthiessen, p-75ff. fest, „daß sowohl in der Argumentation als auch in der Formulierung große Ähnlichkeit zwischen beiden Streitgesprächen besteht“. 2 Zuntz spricht gleichfalls von einem grundsätzlichen

„abyss between

the awful myth of

the Tyndaridae and the fairy land of Iph. and Hel.“. Er ist sich aber nicht bewußt, daß er sich damit die Basis für eine chronologische Auswertung

seiner Strukturanalyse

ent-

zieht. Im übrigen würde ein konsequentes Festhalten an dieser Strukturbeobachtung beispielsweise zu der unhaltbaren zeitlichen Trennung von Helena/Iphigenie und Ion führen, da der Ion bezüglich des Verhältnisses von Anagnorisis und Mechanema von den übrigen Dramen abweicht. 23 Dabei zeigt auch die Gestaltung der Intrigenhandlung auffällige Parallelen zur Elektra, was für das Datierungsproblem der Elektra von Bedeutung sein dürfte: Nachdem Dirke (Aigisth) bereits getötet ist, wird der thebanische Tyrann Lykos (Klyt.) von dem Rinderhirten (Pädagogen) in die Hütte gelockt, in der sich die Mörder Zethos u. Amphion (die Agamemnonkinder) verborgen halten. Am Ende der Szene — Lykos hat bereits die Hütte betreten — spricht der Chor einige Worte, die deutlich an das anklingen, was El. über ihre blind ins Verderben schreitende Mutter spricht. Dieses Beispiel der Antiope dürfte gezeigt haben, daß die Stellung des Mechanemamotivs einer Spätdatierung der

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

61

in der Elektra ähnlich wie im Orest der doppelte Zweck der Intrige (Rettung und Rache) gekoppelt ist. Es liegt eine Tisis-Soteria Aktion vor. Der Aspekt der eigenen Soteria tritt auch in der Elektra wirksam hervor. So hat der Dichter alles getan, um den Eindruck der äußeren δυστυχία der Heldin vor der Erkennung zu steigern**. Das Gefühl der Sehnsucht nach εὐτυχία erfüllt die Agamemnonkinder ebenso wie die Geschwister in der Iphigenie auf Tauris und die beiden Gatten in der Helena. Die von Zuntz betonte Akzentverschiebung ergibt sich einfach daraus, daß in der Elektra nicht einfach eine Befreiung, sondern ein Mord zur εὐτυχία führen soll. Damit dürfen die Dramen Elektra, Helena, Iph. Taur. zu einer morphologisch wie zeitlich geschlossenen Gruppe vereinigt werden®®.

& À

El. nicht im Wege steht. Erinnern wir auch noch an die Funktion der Intrige im Ion, die zwar in ihrer Verflechtung mit der Erkennungshandlung von der Elektra verschieden ist, aber zumindest in ihrem Charakter als Rachehandlung mit der Gestaltung in der ΕἸ. auf eine Stufe gestellt werden darf. Vgl. Stoessl, Rhein. Mus. 1956, p. 52; Rivier, p. 136.

Vgl. Eur. El. 135 und 332 und die Eröffnung des Agons. Daß die Relegatio der Heroinen an das Ende der Welt in Iph. Taur. und Hel. der aussichtslosen Situation der Elektra vergleichbar ist, gibt Zuntz (p. 410) selbst zu. 8ε Zu beachten sind allerdings die metrischen Beobachtungen, die Zuntz zur Stützung seiner Frühdatierung ins Feld führt, da sie sich einer subjektiven Ausdeutung entziehen und ein objektives Kriterium abzugeben scheinen. Wie schon mehrere vor ihm (Zielinski, Tragodoumenon,

Libri

tres,

Warschau

1925,

p.133—240;

1. Descroix,

Le

trimètre

iambique de iambographes à la comédie nouvelle, Macon, 1931; Ceadel, Resolved feet in the trimèters of Euripides, Class. Quart. 1941, p.67; Krieg, Der troch. Tetrameter bei

Eur., Philologus

1936,

p.42)

weist

er auf

die Schwierigkeiten

hin,

die

angesichts

einiger metrischer Besonderheiten einer Datierung der EI. in die Spätzeit im Wege stehen. Unserer Meinung nach wird dabei die Metrik aber als chronolog. Hilfsmittel überschätzt. Es muß nämlich bedenklich stimmen, daß die aus der Metrik gewonnenen Indizien in keinem Fall ein geschlossenes Bild liefern, sondern z. T. sogar Ergebnisse zeitigen, die mit der in großen Linien überschaubaren Entwicklung des eurip. Gesamtwerkes unvereinbar sind. Hier muß die Kritik an Zuntz einsetzen: a) In allen Dramen vom Herakles ab greift Eur. zunehmend auf den alten Dialogvers der Tragödie, den troch. Tetrameter zurück. In allen Dramen, die vor dem Herakles anzusetzen

sind, und

ın der Elektra

finden sich keine Tetrameter.

Daß

man

aus der

Handhabung dieses Metrums aber keine Schlüsse ziehen darf, geben schon Krieg, Hermes 43, p.51 und Platnauer, Komm. Iph. Taur. 1938, p. XIV A1 zu. Über ihre allgemeinen Zweifel hinausgehend darf man an konkreten Tatsachen hinzufügen: Legt man die Entwicklung des troch. Tetr. als Datierungsstütze zugrunde, ergeben sich unhaltbare Folgerungen. Der Herakles wäre hinter die Troerinnen und in die Nähe der Helena (412) zu setzen. Die Bacchen, die sicher nach 406 liegen, gingen dem Orest, den Phoenissen und

dem

Ion

(!) voran

und

würden

in die Nähe

der

Iph. Taur.

rücken.

Umgekehrt

differiert die Zahl der Tetr. bei den gleichzeitig aufgeführten Bacch. und Iph. Aul. erheblich (Verhältnis 1:4). Auf Grund dieser Unstetigkeit ist m.E. eine Datierung der El. auf 413

nicht

ausgeschlossen;

ebenso

wie

im

Falle

der Bacchen

auch in der EI. mit einer archaisierenden Stilisierung zu rechnen Ρ. 43 f. und Wilamowitz,

haben

dürfte

man

(vgl. Krieg,

Herakles I, p. 148). Fügen wir noch hinzu, daß auffallender-

weise aus der Antiope und der Hypsipyle, sehr späten Dramen, keine Tetrameter erhalten sind. b) Die Auflösungen innerhalb des iambischen Trimeters nehmen bei Eur. im Gegensatz zu Soph. nach dem Ausweis der sicher datierten Stücke mit ziemlicher Stetigkeit zu

62

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

Scheinen uns also die Argumente von Zuntz nicht durchschlagend, so gilt das in gleihem Maße für den Versuch von K. Matthiessen®", die Frühdatierung der Elektra durch den Nachweis der Priorität des Dramas vor dem Herakles und den Troerinnen zu stützen. Matthiessen arbeitet zwar manche vorzügliche Parallelen zwischen den genannten Stücken heraus. Sein Vorhaben aber, aus diesen Parallelen Kriterien für eine relative Chronologie zu gewinnen, scheint uns mißlungen, da er — methodisch bedenklich — die einzelnen Motive aus dem Zusammenhang des Dramenganzen herausreißt und deshalb immer dort Entwicklungstendenzen herausarbeiten zu können glaubt, wo eine Strukturanalyse zu zeigen vermag, daß die Gestaltung des betreffenden Motivs durch innerdramatische Gründe bedingt ist.

(Wir legen die Tabelle von Ceadel zugrunde, die mit Recht die Eigennamen nicht berücksichtigt). Es ergeben sich folgende Zahlenverhältnisse: Alkestis (6,2%), Troerinnen (21,2%) und Orest (39,4%/0). Danach müßte die Elektra (16,9%) in die Nähe von Hekabe und Hiketiden gestellt werden. Aber auch hier läßt sich nur ein sehr allgemeines Entwicklungsbild herauskristallisieren, da die Entwicklungen im Einzelfall durchbrochen werden und insbesondere einen sehr unregelmäßigen Verlauf nehmen: In der frühen Phase verzeichnen wir von Alkestis (6,29,0) bis Hippolytos (4,3%/e) in einem Zeitraum von zehn Jahren einen Rückgang der Auflösungen von ca.2°o, von Hippolytos bis Andromache (11,3%/0) innerhalb von ca. drei Jahren ein sprunghaftes Ansteigen um 7 %s. Dem folgt ein nur sehr geringer Grad von Zunahme um ungefähr 2% in den nächsten fünf Jahren (Hek. und Hik.). Von den Troerinnen bis zur Helena ist dagegen innerhalb von drei Jahren ein Anwachsen um 69,9 zu konstatieren, dem dann jeweils im Zyklus von zwei Jahren zuerst eine Abnahme von 2% (Phoen.), ein Ansteigen um 14% (Orest) und wieder eine Reduzierung um 55,0 (Iph. Aul.) folgen! Auch hier zeigt sich

also ein eminenter Unschärfegrad. Euripides durchbricht gelegentlich einfach die Entwicklung seines eigenen Formgesetzes (vgl. auch die der Chronologie der Dramen völlig zuwiderlaufende Handhabung der Trimeterauflösung bei Sophokles). Angesichts dieser Unstetigkeit ist gegen eine Datierung der Elektra auf 413 nichts einzuwenden, da ein Rückgang in der Zahl der Trimeterauflösungen von den Troerinnen bis zur Elektra, also innerhalb von zwei Jahren, um 4° sich durchaus mit der Entwicklungstendenz im ganzen vereinbaren läßt. Ceadel räumt ebenfalls die Möglichkeit einer „accidential variation“

im Falle der EI. ein, ebenso wie Zielinski, p. 141. Dieser

hält

es allerdings für wahrscheinlich, daß das Drama 419/18 abgefaßt und erst 413 aufgeführt wurde. Gegen eine solche unsichere Erklärung wendet sich mit Recht Zuntz, p.58. Macurdy, The chronology of the extant plays of Eur., Columbia 1905, p. 110 f. erklärt die metrischen Eigentümlichkeiten in der El. des Eur. mit dem Bestreben des Dichters, die vorausgegangene El. des Soph. nadızuahmen. Für eine solche Erklärung liegen keinerlei Anhaltspunkte vor. c) Aus der Häufigkeit der Daktylen im ersten Fuß läßt sich nichts gewinnen: Sie nehmen zwischen Troerinnen und Helena nicht mehr zu, was Zuntz nicht berücksichtigt. Außerdem steht die Elektra mit 6% Daktylen im ersten Fuß von den Hiketiden (259,9) und Andromache (3/0) weiter entfernt als von der Helena. d) Die Zahlen für die Daktylen im dritten Fuß zeigen ein völlig unregelmäßiges Bild: Von

Alk.

zu Medea

+15°%,

von

zu Hipp. + 11%, von Hipp. zu Hek.

Med.

zu Herakliden

— 6%,

von Herakliden

— 13/6, von Hek. zu Hik. + 11%, von Hik.

zu Her. — 10°, von Her. zu Tro. + 21/0, von Tro. zu Hel.

— 79/0. Die Hek. hat z.B.

die gleiche Zahl von Daktylen wie die Iph. Taur. Warum sollte man dann nicht zugeben können, daß die El. 2% mehr aufweist als die Troerinnen? Zusammenfassend kann man sagen: Der metrische Befund schließt einen Spätansatz der El. nicht aus. Die metrischen

Indizien

beweisen

nur, daß

die EL

weder

als ganz

I. Die Datierung der euripideischen Elektra 1. Das

Zeitverhältnis

63

Elektra-Troerinnen

Matthiessen geht von der Stellung der Agone in beiden Tragödien aus (El. 1011— 1096 bzw. Tro. 914-1035) und findet den entscheidenden Ansatzpunkt in der veerschiedenartigen Funktion der beiden Redekämpfe?®: Während in der Elektra auf das Streitgespräch unmittelbar die Vernichtung der unterlegenen Partei folge, werde in den Troerinnen dem durch Hekabes Beredsamkeit herbeigeführten Todesurteil über Helena niemals die Vollstreckung folgen. Während in der Elektra also der Redeagon als eine Vorstufe des hinterszenischen Geschehens einen festen Bestandteil der Handlung bilde, bleibe der Helenaagon der Troerinnen dramatisch wirkungslos. Diese letzte Beobachtung läßt nach Matthiessen auf die Priorität der Elektra gegenüber den Troerinnen schließen. Dieser Schluß scheint uns aus mehreren Gründen jeder Beweiskraft zu entbehren: Die beiden Agone sind hinsichtlich des Verhältnisses der beteiligten Personen zur tragischen Problematik, speziell zur Schuldfrage, durchaus inkommensurabel. Während Hekabe, die Siegerin des Troeragons, als der unschuldige Partner, der von der sicheren Position des Rechts aus argumentieren kann, einen letzten, end-

gültigen Triumph über die schuldige Helena feiert, ganz unabhängig von der weiteren Entwicklung des Geschehens, ist die Stellung Elektras als Siegerin im Agon eine durchaus verschiedene: Elektra muß ja schließlich selbst zu einer Schuldigen werden, d.h. aber: Die überlegene, sichere Position, die sie im Verlauf des Agons gewinnt, kann nicht wie im Fall der Hekabe die endgültige sein. Es muß die Umsetzung des im Agon errungenen Triumphes in die Tat folgen, welche Schuld schafft, damit schließlih das Ergebnis des Streitgesprächs (die Tötung Klytaimestras) durch den folgenden Geschehnisablauf korrigiert werden kann. Mit der Tat, die die Agamemnontochter im Agon verteidigt, hat sie zwar gerechte Rache für den Vater geübt, aber zugleich die verhängnisvolle Schuld eines Mutter-

frühes noch ganz spätes (nach 412) Stück gelten darf. Man kann sogar einzelne gewichtige metrische Kriterien als Beleg dafür anführen, daß die Frühdatierung in das Ende der zwanziger Jahre, wie sie Zuntz anstrebt, unwahrscheinlich ist und daß am bisherigen Spätansatz festzuhalten ist: a) Auflösungen im 5. Versfuß treten nicht vor Herakles, dagegen regelmäßig in allen späteren Stücken auf; so auch in der Elektra. b) 3 Auflösungen innerhalb eines Metrums, ein Kriterium für die spätesten Dramen, begegnen noch nicht in Herakles und Troerinnen, sondern erst ab El. (V.61), außerdem

je einmal

in Iph. Taur.,

Ion, Phoen.,

Iph. Aul. und

7mal

im Orest.

c) 4 aufeinanderfolgende Verse mit Trimeterauflösungen sind nicht vor Troerinnen (1167—70) und EI. (12—15) anzutreffen und finden sich mit zunehmender Häufigkeit in sämtlichen Spätstücken. 27 „Aufbau und Datierung der Elektra, der Taurischen Iphigenie und der Helena des Euripides", Diss. Hamburg 1961, p. 75—86 (jetzt Hypomnemata 4, 1964). 28 Allgemeine Parallelen, wie sie der Verfasser auf den Seiten 75 f. anführt, beweisen keine direkte Beziehung zwischen beiden Stücken, da es sich um Ähnlichkeiten handelt,

wie sehr mehr oder weniger ausgeprägt zwischen fast allen Agonszenen bei Euripides bestehen.

64

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

mordes auf sich geladen. Die Differenz in der Funktion beider Agone ist also einmal durch die unterschiedliche Stellung der beiden Hauptpersonen, Elektra bzw. Hekabe, zum Schuldmotiv bedingt. Erscheint damit schon eine chronologische Auswertung des Agonvergleichs fraglich, so wird diese Skepsis dadurch voll bestätigt, wenn man sich klarmacht, daß das Fehlen einer dem Agon folgenden Vernichtung des Gegners in den Troerinnen nicht etwa, wie Matthiessen meint, eine Abstumpfung des Motivs gegenüber dem Elektradrama bedeutet, sondern im Sinne der den Troerinnen zugrundeliegenden Tragik notwendig scheint: Euripides strebt in diesem Stück danach, gerade den Sieg Hekabes im Agon vom übrigen Geschehnisablauf zu isolieren, also eine Realisierung des Triumphes zu verhindern. Die Szene steht damit aufs engste im Einklang mit der Grundstimmung der Tragödie. Das ausweglose, monotone Leid des Menschen wird dadurch unterstrichen, daß der Agon in seinem Ergebnis Ausdruck unendlicher Resignation wird, indem er das Bild der vereinsamten, selbst in der letzten Äußerung von Macht doch ohnmächtigen königlichen Greisin ausmalt. Der Logos der Dike und der Lauf der realen Welt klaffen unheilbar auseinander. Die dramatische Wirkungslosigkeit des Troerinnenagons läßt demnach keine Schlüsse auf die relative Chronologie des Stückes zu, sondern ist von der tragischen Gesamtstruktur her gefordert, ebenso wie die Gestaltung des Elektraagons dem Gesetz der Tragik dieser Tragödie folgt. Beruht die Tragik der Hekabe auf der faktischen Ohnmacht gegenüber den herrschenden Mächten, so besteht die der Agamemnontochter

in einem Handeln,

das zugleich gerecht und ungerecht ist. Ausdruck dieser tragischen Grundsituation ist auch hier der Agon durch seine enge Verknüpfung mit dem folgenden Mord, wodurch die plötzliche Umbewertung der Tat transparent wird. Hatte Elektra im Streitgespräch noch auf die Position der Dike gepocht, so enthüllt sich im Augenblick der Mordtat bereits das Unerhörte: Im Vollzug der gerechten Rache haben die Kinder ihre Mutter getötet. Der Versuch Matthiessens, die Priorität der Elektra vor den Troerinnen nachzuweisen, scheint uns mißglückt®®. 2% Eine Einzelbeobachtung scheint uns das umgekehrte Zeitverhältnis nahezulegen: Man wird sich die hinsichtlich ihrer Gedankenführung und Tendenz auffällig parallelen Verspartien Eur. Tro. 1023—28 bzw. Eur. El. 1071-75 kaum unabhängig voneinander entstanden denken können. In den beiden jeweils einem Agon zugehörigen Passagen, die auch sonst manches

Gemeinsame

aufweisen

(vgl. u.a. El. 1076 f. und Tro. 1004—7;

die parallele Funktion beider Agone betont Strohm, p.15), wird einer Tochter des Tyndareos (Helena bzw. Klytaimestra), welche die eheliche Treue gebrochen und dadurch Unheil

über

das

eigene

Geschlecht

gebracht

hat,

ein

übertrieben

kokettes

Benehmen

vorgeworfen, welches den äußeren Umständen nicht angemessen, nicht εὐπρεπές sei (vgl. die auffällige Entsprechung in den Versen El. 1071 und Tro. 1023 f.). Es dürfte nun nicht schwerfallen, die Verwendung des Motivs innerhalb des ψόγος Ἑλένης der Troerinnen gegenüber der Elektrastelle als früher zu erweisen. Dafür sprechen folgende Gründe: 1. Während Hekabe in den Troerinnen berechtigten Anlaß zum Tadel hat, da zum Zeitpunkt des beanstandeten Benehmens Helenas Verfehlung mit all ihren Konsequenzen bereits offen zutage getreten, ihr Benehmen also mit dem Odium des Skandalösen belastet war und sie somit Grund zur Zurückhaltung gehabt hätte, ist in der Elekıra dieser wirkungsvolle, enge zeitliche Bezug zwischen Benehmen der Klyt. und Vorwurf ihrer Tochter nicht mehr gewahrt. Elektra tadelt ein Verhalten ihrer Mutter, das bereits Jahrzehnte zurückliegt, aber erst nach der Ermordung des Gatten in seiner Tragweite

I. Die Datierung der euripideischen Elektra 2. Das

Zeitverhältnis

65

Elektra-Herakles

Nachdem Matthiessen zunächst auf einige grundsätzliche Parallelen im Gesamtaufbau und Verlauf des Rachegeschehens (insbesondere auf den hinterszenischen Vollzug der Rachetaten EI. 1098 ff. Her. 701 ff.) verwiesen hat, die aber kaum eine engere Beziehung zwischen beiden Stücken wahrscheinlich machen können, da sie im ersten Falle allgemeinster Art sind und darüber hinaus wesentliche Unterschiede der Komposition nicht verdecken können®®, sich im zweiten Fall dagegen sichtbar wurde. Lebt die Auseinandersetzung in den Troerinnen vom Effekt der Unmittelbarkeit, so ist der Disput in der El. überhaupt nur durch die Aufgabe dieser Wirkung möglich. 2. Elektra sieht sich deshalb auch gezwungen, ihrer Argumentation dadurch Nachdruck zu verleihen, daß sie den speziellen Sachverhalt in den Rahmen einer weitschweifigen, blassen Gnomik

zu kleiden und zu Eikosbeweisen

ihre Zuflucht zu nehmen

sucht, die

das Motiv seiner Schärfe und originellen Lebendigkeit, wie sie in der analogen Stelle der Troerinnen zu finden sind, berauben. Dieser Wandel vom Konkreten zum Abstrak-

ten, von der farbigen, einmaligen Situation zur formelhaften Gnomik weist die Elektrastelle als die spätere aus. 3. Damit zusammen hängt folgender Unterschied: Es fehlt in der EI. überhaupt jene direkte kausale Beziehung von Schuld und ἀπρεπές des Benehmens, wie sie in den Troerinnen vorliegt. Die Kritik an Klytaimestra wirkt dadurch weit weniger berechtigt als die an Helena in den Tro., obwohl sich die Vorwürfe decken. Die faktische Begründung des Vorwurfs in den Troerinnen ist näherliegender und ursprünglicher. 4. Es steht wohl

außer Frage, daß das Bild weiblicher Koketterie wesentlich besser

zu der Helenagestalt paßt und dort seinen ursprünglichen Platz hat. Die Anwendung auf die Klytaimestragestalt stellt eine sekundäre Übertragung dar. Diese Behauptung findet ihre Bestätigung durch den Aufbau beider Dramen. Im Gegensatz zu der Elektrapartie, wo das Motiv des berechnenden Kokettierens lediglich auf die Agonstelle beschränkt

ist, kommt

ihm

in

den

Troerinnen

durch

weitreichende

Beziehungen

eine

tragende Bedeutung zu. Es ist dort ein Leitmotiv. Das Bild der dämonischen, betörenden Schönheit Helenas scheint an mehreren Stellen durch (891 f., 1049 ff. und bes. 1107 ff.) und gewinnt noch dadurch sinnfällig an Wirkung, daß es in plastische Aktion umgesetzt wird, was in der Elektrastelle fehlt: Es ist Helena, wie die Situation des Agons

beweist, anscheinend bereits gelungen, ihren früheren Gatten erneut zu umgarnen. Allem Gerede des Menelaos und der Argumente

Hekabes

zum Trotz darf sie sicher sein, der

gerechten Strafe zu entgehen. Aus all diesen Überlegungen heraus scheint uns die Priorität der Troerinnen vor der Elektra naheliegend. Die von Matthiessen durchgeführte Gliederung der beiden Tragödien nach dem aristotelischen Schema der μέρη τῆς τραγῳδίας und der darauf aufgebaute Vergleich scheint uns wenig ergiebig: Abgesehen davon, daß das für die Elektra zugrunde gelegte vierteilige Schema als umstritten gelten darf (Solmsen, Ion, p. 391 ff. und Zürcher, p. 108— 148 nehmen einen dreiteiligen Aufbau an. Ludwig, Saph., p. 126—130 gliedert das Drama in fünf Abschnitte), weisen

Herakles

und Elektra bezüglich ihrer Tektonik

erhebliche

Differenzen auf: Den je drei Epeisodia und Stasima der El. stehen je vier im Herakles gegenüber. Legt man die Einteilung von Matthiessen zugrunde, so umfaßt der erste Abschnitt der Elektra den Eingang der Tragödie (nach der Definition von Nestle), der des Herakles dagegen Eingang samt erstem Epeisodion. Der zweite Abschnitt der Elektra

umfaßt

das erste und

zweite

Epeisodion,

der des Herakles

hingegen

nur das

zweite Epeisodion. Den vierten Teil der ΕἸ. füllt die Exodos, den homologen Teil im Herakles dagegen das vierte Epeisodion. Die parallele Handlungsführung in den ersten drei Abschnitten, auf die Matthiessen 5 Vögler,

Interpretationen

66

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

leicht aus der Ähnlichkeit der stofflichen Vorlage erklären lassen bzw. deutlich einem festen, auch für Aischylos und Sophokles verbindlichen Szenentypus ehtspringen®!, versucht der Verfasser an Hand einer Synkrisis beider Dramenschlüsse den Beweis der Priorität des Herakles vor der Elektra zu erbringen. In beiden Stücken führt eine scharfe Zäsur innerhalb der Handlung zur plötzlichen Umwertung der hinterszenisch ausgeführten Racheintrige. Ein vorher sinnvolles Geschehen wird plötzlich zunichte gemacht und in Sinnlosigkeit verkehrt (Her. 84 ff. u. El. 1172). Doch bestehen erhebliche Unterschiede in der Art, wie dieser Umschlag herbeigeführt wird. Während in der euripideischen Elektra das Ecce unmittelbar auf die Rachehandlung folgt, in deren Verlauf aus einem Triumph ein schuldhaftes Verhängnis wird — im Vollzug einer gerechten Rache haben die Kinder ihre eigene Mutter getötet —, erfolgt im Herakles die Aufhebung der vorausgehenden Ruhmestat (die Rettung der Familie durch den Helden) erst durch Einp-83

verweist,

wird

man

zugeben,

doch

bezieht

sich

diese

Parallelität

(1. Leid

der

vergeblich auf den Retter Wartenden, 2. Glücksumschlag mit dem Erscheinen des Retters, 3. Planung und Ausführung einer Intrige) zunächst nur auf die gröbsten Handlungsstufen und kehrt in analoger Weise im Grundriß aller übrigen Anagnorisis-MechanemaDramen wieder, so daß keinerlei voreilige Schlüsse gezogen werden dürfen. Außerdem fehlen im Her. die für die El. konstitutiven Kompositionselemente Anagnorisis bzw. Planszene mit abschließendem Gebet um Gelingen der Intrige, die für alle späteren Dramen wie I. T., Hel., Ion und auch z. T. Orest streng verbindlich sind. Diese Inkongruenzen sprechen gegen eine enge Zusammenfassung beider Stücke und lassen zugleich die Priorität der Elektra vor dem Herakles als sehr unwahrscheinlich erscheinen, da sie

das Elektradrama motivtechnisch deutlich einer späteren Dramengruppe (415—410) zuweisen. Auch das jeweilige Mechanema läßt sich nicht zur Deckung bringen. Die beiden Racheintrigen stehen hinsichtlich ihres Strukturwertes im Handlungsablauf auf verschiedener Stufe: Während in El. auf Grund des Apollbefehls die Mechanemahandlung bereits zu Beginn des Werkes konzipiert ist und die Rückkehr Orests damit die gesamte Handlung

auslöst, entspringt die Rache im Herakles erst während der drama-

tischen Handlung einem plötzlichen Umschlag der Gesamtkonstellation. 81 Die einer hinterszenisch vollzogenen Rachetat vorausgehende Überlistungsszene, in der sich der scheinbar Starke im vollen Bewußtsein seiner „Stärke“ von dem scheinbar Schwachen überreden läßt, dorthin zu gehen, wo ihm der Untergang bestimmt ist, begegnet

z.B.

außer

Herakles

(701--33)

und

EI.

(1098-1146)

noch

im

Agamemnon

(908—48) und in den Choeph. des Aischylos (838—54), in der El. des Soph. (1442-65) und bei Eur. in den Dramen Hekabe (953-1012), Orest (1321-52) und Antiope (25-47; vgl. Page 60-71). Dabei pflegt der Überlistende oft schon vor der Tat seine wahren Gedanken zu verraten, die in ihrem „unverhüllten Doppelsinn“ vom Opfer aber nicht erfaßt werden. Solche aus der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen, Macht und

Ohnmacht erwachsenden Dialoge sind nicht auf Herakles und Elektra beschränkt, sondern finden sich im Agamemnon (941—43), Soph. ΕἸ. (1448-65), Hekabe (1006 und 1021 f.), Orest (1337—43) und Antiope (25—43). Die Vergegenwärtigung des hinterszenischen Geschehens durch die Deutung des Chores ist ebenfalls ein stehendes Motiv: vgl. Choephoren (855—68), Soph. El. (1384-97),

Medea (978—87), Hipp. (732—75), Hek. (1023-34), Orest (1553-65), Antiope (4347).

Das Gleiche gilt für die Schreie des hinter der Bühne Getroffenen und das Urteil des Chores vor dem folgenden Ecce. Der Chor fast hier meistens zum Preis der Dike sein Urteil über die Tat zusammen, vgl. Agam, Choeph. (935—72), Med. (1282—92), Soph.

El. (141720), Hek. (1036-38), Antiope (53-55).

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

67

wirkung eines zweiten, aus dem Bereich des Göttlichen hereinbrechenden Geschehens. Von Hera mit Wahnsinn geschlagen, wird Herakles dazu getrieben, seiner Familie den Untergang zu bereiten, vor dem er sie eben noch bewahrt hatte. Die eine doppeldeutige Tat in der Elektra ist demnach im Herakles in zwei Handlungsstufen zerlegt. Diesen Befund glaubt Matthiessen nun im Sinn einer Entwicklung von einer einfachen (eine Peripetie) zu einer differenzierten Strukturform (zwei Peripetien) interpretieren zu können. Dagegen spricht unserer Meinung

nach zweierlei: a) Man sieht keinen Grund, warum — eine chronologische Auswertung der Analyse der Dramenschlüsse vorausgesetzt — die Entwicklung nicht ebensogut in umgekehrter Richtung hin zu der strafferen Form im Sinne einer Kontraktion des Vorbildes gegangen sein sollte. Diejenige Struktur, die einen Wendepunkt innerhalb einer dramatischen Entwicklung auf einer einzigen Handlungsstufe in konzentrierter Weise bewältigt, scheint uns gegenüber einem Kompositionsschema, das den gleichen Handlungsschritt erst mit Hilfe einer erweiterten Szenenfolge erreicht, entwicklungsgeschichtlich später zu sein. b) Die jeweilige äußere Struktur der Dramenschlüsse ist eng der inneren Struktur der tragischen Problematik angepaßt. Sie erwächst also notwendig aus den innerdramatischen Gegebenheiten. Damit ist jeder chronologischen Auswertung der Strukturanalyse die Basis entzogen. Die Tragik der Agamemnonkinder liegt in dem immanent verhängnisvollen Doppelsinn einer Tat, in der trotz eines göttlichen Befehls gerechte Rache und scheußliches Verbrechen, sinnvolles und sinnloses Geschehen zusammenfallen. Die Rettung der Familie durch den Titelhelden im Herakles dagegen steht als Ruhmestat und glanzvoller Abschluß seiner im Dienste der Menschheit vollbrachten Leistungen nicht bereits im Zwielicht eines unerwarteten Umschlags, der das Resultat dieser Tat zunichte macht und darf diesen Doppelsinn, gemessen an der dichterischen Intention, auch gar nicht enthalten. Die Tat des Herakles als Ausdruck menschlichen Glücks und menschlicher Sicherheit muß

im

höchsten

Glanz

erstrahlen,

damit

der vernichtende

Schlag

der Götter,

der den Helden jäh ins Verderben reißt, um so deutlicher sichtbar wird®2. Euripides versucht in diesem Drama, dessen gedankliche Nähe zu den Frühdramen des Sophokles,

insbesondere zum Aias, schon oft konstatiert worden

ist, die unüber-

brückbare Kluft zwischen menschlihem Wähnen und göttlichem Wissen und die jähe

Verwundbarkeit

menschlicher

Existenz

zu

demonstrieren.

Und

eben

diese

tragische Idee verdichtet sich mit unheimlicher Gewalt in dem szenischen Kunstgriff einer unmittelbaren Konfrontierung des menschlichen Triumphes des Herakles mit seiner Zerschmetterung durch die Götter (vgl. Aisch. Niobe, Soph. Aias). Die doppelte Peripetie erweist sich somit als eine beabsichtigte Spiegelung der spezifischen Form der Tragik, die dem Herakles zugrunde liegt®. Den Nachweis einer Priorität der Heraklestragödie des Euripides vor der Elektra scheint uns Matthiessen nicht erbracht zu haben.

# Vgl. Zürcher p. 90. ® Der Irrtum von Wilamowitz 5+

(Her.

I, p. 127), der, um

die Einheit des Stückes um

68

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

3. Die

Stellung der euripideischen im Spätwerk des Dichters

Elektra

Matthiessen versucht seinen durch strukturelle Kriterien gewonnenen Ansatz durch eine Einordnung des Elektradramas in gedankliche Entwicklung des euripideischen Spätwerkes zu stützen. a) Die im Herakles gefundene Lösung des Problems einer Bewältigung des aus tragischer Schuld erwachsenden Leids durch das Motiv der Freundschaft (vgl. die Theseusszene 1153-1429) sei auf der Stufe der Elektra noch nicht in den Gesichtskreis des Tragikers getreten. Die im Mythos bereitliegenden Möglichkeiten (Pylades als Freund des Orest) seien nicht genützt und auch der Auftritt der Dioskuren bringe „nichts wesentlich Neues“. Das Elektradrama ende ohne eine tiefere Sinn-

deutung des menschlichen Leides aporetisch und sei somit früher als der Herakles. Diese Interpretation beruht auf einer Fehlinterpretation des Schlußteils der Elektratragödie, insbesondere der Funktion des deus ex machina. Der Interpret übersieht nicht nur, daß Euripides das Motiv der Freundschaft in Form der Verheiratung der Heldin an Pylades®* durchaus in das Elektradrama einbezogen hat, sondern er verkennt auch den restitutiven Charakter des Dioskurenauftritts, wie wir ihn

oben bereits erläutert haben. Der deus ex machina in der Elektra vermag zwar nicht das Leid aufzuhalten (ebensowenig wie übrigens der Zuspruch des Freundes im Herakles), aber seine Weisungen (V. 1249 ff.) dienen dazu, die Ordnung im Sinne der Gerechtigkeit wiederherzustellen. Die Situation bleibt zwar in ihrer Furchtbarkeit

unverändert,

aber

sie ist im

Unterschied

zu

der

trostlosen

Ver-

zweiflung unmittelbar nach der Tat in den umfassenden Gedanken einer Fügung von Ananke und Moira eingeordnet. Im Licht dieser klärenden, tröstlichen Einsicht kann die Bemeisterung auch des beinahe untragbar scheinenden Leides gelingen. Dieser Grundgedanke des Elektradramas ist Matthiessen ebenso verborgen geblieben wie die ausdrückliche Verheißung des schließlichen Glücks für alle Beteiligten (vgl. V. 1291). Euripides hat in beiden Dramen, Herakles wie Elektra, die gleiche Aufgabe, Leid zu lindern und Ordnung wiederherzustellen, mit verschiedenen dramatischen Mitteln zu lösen versucht: Im Herakles durch das Motiv der Freundschaft,

in der Elektra mit Hilfe des restituierenden deus ex machina.

Dieser Befund, läßt für entwicklungsgeschichtliche Spekulationen keinen Raum, zumal wenn man die „überzeitliche“ Stellung des deus ex machina bei Euripides hinzunimmit. b) Matthiessen versucht die Elektra aus dem morphologisch wie zeitlich zusammengehörigen Block der Tychedramen (Ion, I.T., Hel.) herauszulösen und einen scharfen Schnitt zwischen diese Tragödien und eine zweite Gruppe von Dramen zu legen, zu der Elektra, Herakles und Troerinnen gehörten. Die Grund-

jeden Preis zu retten, die psychologische Vorbereitung des Wahnsinns in der Maßlosigkeit des Helden bei seinem Zorn gegen Lykos zu finden glaubt, ist heute als solcher erkannt. Dem Dichter geht es gerade nicht um die Einheit. Er will den Bruch zwischen menschlichem und göttlichem Handeln so deutlich wie möglich machen. % Eur. El. 1249, 1284 f., 1311 £., 1340.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

69

stimmung in diesen drei Stücken, in denen nicht die Tyche, sondern ein sinnlos zerstörender Wille der Götter herrsche, der dem Menschen als schwankende Tyche erscheine, sei pessimistish. Am Ende stehe die Aporie und die Kritik an den Göttern. Von diesen Dramen hebt sich nach Matthiessen eine spätere Gruppe ab, zu der insbesondere Ion und Iph. Taur. gehören. Der Tragiker habe hier anscheinend das aischyleische Vertrauen in die Götter wiedergewonnen. Der Sinn des göttlichen Wirkens in der Welt sei auch der menschlichen Einsicht zugänglich. Der Gott offenbare gerade ın dem Augenblick seine Macht, als seine Sprüche widerlegt zu sein scheinen. Nur solange den Menschen das Ziel des göttlichen Handelns noch verborgen sei, glaubten sie an die Macht der Tyche (vgl. Iph. Taur. 475—78, Ion 1512—18).

Wenn auch diese Interpretation durch manche wertvolle Einzelbeobachtung zum Verständnis des euripideischen Spätwerkes beiträgt, so scheint uns die Einordnung des Elektradramas doch bedenklich. Die Funktion des Dioskurenauftritts wird auch hier wieder verkannt®. Dem deus ex machina in der Elektra kommt die klärende Aufgabe zu, den verzweifelten Geschwistern nach der Mordtat durch eine Deutung des Geschehens in einem höheren Zusammenhang (Eur. El. 1301 f.) 85 Grundsätzliche Bedenken wird man auch gegen den für die Dramengruppe HeraklesTroerinnen zugrundegelegten Begriff des „Pessimismus“ erheben müssen, jedenfalls in dieser scharfen Form, die doch nichts anderes meint, als die Negativität des Tragischen

absolut festzuhalten. Mag ein Begriff wie „pessimistische Tragik“ in der modernen Tragödie angebracht sein, wo durch das Hineinziehen des Sittlichen in das Tragische die Grenzlinie von Held und Schicksal mehr

und mehr

verschwimmt,

der Unterschied

von Handeln und Leiden sich auflöst und am Ende die Situation den Charakter, die Tat den Täter beherrscht, wo schließlich der Mensch nur noch ein Treffpunkt divergierender Kräfte ist und das Tragische zum Einbruch des Relativismus und des Chaos ın die Welt wird, für das Verständnis einer antiken Tragödie scheint uns ein Terminus wie Pessimismus kaum glücklich gewählt zu sein: Die griechische Tragik ist unlösbar — und das gilt für Euripides so gut wie für Aischylos und Sophokles — verbunden mit der Urbeziehung des Menschen zum Göttlichen. Dieses in seinem letzten Grund im Religiösen wurzelnde Phänomen des Tragischen schließt einen Pessimismus aus. Ebenso wie eine vollkommene, in sich geordnete, vernünftige Welt aufhört, tragisch zu sein, so löst auch eine völlig chaotische, pessimistische Welt das Tragische in den Nihilismus auf. Die Tragödie bewegt sich vielmehr an jenem eigentümlich gleitenden Punkt zwischen Theodizee und Nihilismus. Indem der tragische Glaube immer wieder versucht, sich gegen die Gefahr zu behaupten, im Tragischen in den Abgrund des Nichts hineingerissen zu werden, steht das Tragische jenseits des Gegensatzes von Optimismus und Pessimismus. Diese Maßstäbe müssen bei der Deutung vornehmlich einer griechischen Tragödie versagen, weil sie in der höheren Instanz, in einer Art coincidentia oppositorum aufgehoben sind, die das Unversöhnliche wieder auflöst. Es zeichnet sich die Struktur der griechischen Tragik dadurch aus, daß gerade das Hineingeworfenwerden in das scheinbare Nichts zu einem in das Göttliche mündenden Sinn zu werden vermag. Durch den Untergang des Menschen wird zugleich an die Sphäre der Götter gerührt. In der Verdunklung des Gottes vollzieht sich seine eigentliche Enthüllung. Dieses Wirken des tragischen Paradoxon läßt sich nicht mit Kategorien wie Pessimismus einfangen. Damit wird zugleich deutlich, wie fraglich die von Matthiessen zur Bestimmung der relativen Chronologie der eurip. Elektra angesetzte Entwicklung von einer pessimistischen zu einer aischyleisch-optimistishen Grundhaltung des Tragikers Euripides zwischen 420 und 410 ist.

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B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

den göttlichen Plan einer Wiederherstellung der Ordnung® zu erläutern und diesem Götterwillen zum Durchbruch zu verhelfen, der den Agamemnonkindern einen Weg aus dem Leid zur Eudaimonia ermöglicht (1291). Das Elektradrama weist also letztlich eine „optimistische“ Grundstimmung auf und hebt sich von Dramen wie Herakles und Troerinnen ebenso ab wie es sich gerade ım Sinne der von Matthiessen entworfenen Kategorien (Offenbarung der göttlichen Macht, Möglichkeit einer Einsicht des Menschen in das göttlihe Wirken) den Stücken Ion und Iph. Taur. nähert, in denen ebenfalls ein deus ex machina dem Menschen eine Deutung seines Schicksals im Sinne eines übergreifenden Götterwirkens vermittelt. Nicht geringe Schwierigkeiten macht außerdem der Versuch, die Form des Götterwirkens im Herakles und Elektra auf eine Stufe zu stellen. In beiden Dramen wird zwar durch göttlichen Eingriff ein bis dahin sinnvolles Geschehen mit einem Schlag zerstört. Das direkte Eingreifen Heras in das dramatische Geschehen dürfte aber mit dem Orakelspruch Apollons, der zunächst nur die Funktion hat, die Handlung in Gang zu setzen, kaum vergleichbar sein. Der delphische Gott ist nie in dem Sinn für den entscheidenden Umschlag verantwortlich wie Hera im Herakles. In der Elektra kommt der Anstoß zur Umwertung nicht von außen (so ım Herakles), sondern liegt immanent in dem verhängnisvollen Doppelcharakter der Tat beschlossen, welcher unabhängig von dem Dictum Apolls besteht. Und während es sich im Herakles um den Eingriff einer bestimmten Gottheit handelt, nämlich Heras, nennen

die Dioskuren

als entscheidende Faktoren

neben

dem Orakel Apolls eine Art unpersönlichen Schicksals, Ananke und Moira. LäRt sich schon das Wirken des Göttlichen in beiden Dramen nicht zur Deckung bringen, so erweist sich auch das menschlich-göttliche Verhältnis als ungleichwertig. Hera gilt a priori als Feindin des Herakles und stürzt ıhn in die Katastrophe des Wahnsinns. Apoll befiehlt dagegen zunächst nur die gerechte Rache für den ermordeten Vater, erklärt sich also mit der Rachetat Orests solidarisch. Die Beschränkung des Wirkungsradius des Orakelgottes wird noch dadurch unterstrichen, daß die Hauptperson

des

Dramas,

Elektra,

ihren

Wunsch

nach

Rache

keineswegs

durch

den

Auftrag Apolls, sondern primär durch die eigene Erniedrigung motiviert. Damit zusammen hängt ein entscheidender Unterschied in der tragischen Grundkonzeption zwischen Herakles und Elektra, der eine Zusammenfassung der beiden Stücke bedenklich erscheinen läßt. Im Herakles steht als Grundgedanke der Tragödie die elementare Auseinandersetzung des Menschen mit der Allmacht des Göttlichen, das menschliche Stärke als Wahn erscheinen läßt, im Zentrum der Handlung. Dieser Antagonismus

nimmt

in der Elektra, was

die Protagonistin

des Stückes

angeht,

einen unverhältnismäßig geringeren Raum ein, ja ist in dieser Form überhaupt nicht zu greifen. Der Blick richtet sich vielmehr auf die „Psychologie“ des menschlichen Einzelschicksals, das mit der Tragik einer zwiespältigen Tat konfrontiert wird. Die Tragik erscheint nicht wie im Herakles in Gestalt einer Zerschmetterung von beinahe aischyleischen Dimensionen, sondern wurzelt — und das macht den geistigen Abstand zwischen den Stücken vollends deutlich — zunächst außerhalb 56 Eur. ΕἸ. 1262-69.

1. Die Datierung der euripideischen Elektra



der göttlichen Einflußsphäre und wird erst im Schlußabschnitt durch eine stärkere Einbeziehung des Orakels in die Deutung der Problematik auf die Stufe des Gegensatzes Gott — Mensch gehoben, wie er den Heraklesstoff durchgängig bestimmt. Wenn Matthiessen als ein Leitmotiv von Herakles bzw. Troerinnen das Gefühl einer Angst vor der unentrinnbaren Göttermacht ansetzt, so gehört die Elektra nicht in diese Kategorie von Tragik. Daß die Elektratragödie in die Nähe der zweiten Gruppe von Tychedramen (Iph. Taur. Ion Hel.) eingestuft werden sollte, kann ein Blick auf das im ganzen recht schwierige Verhältnis von Tyche und Göttervorstellung zeigen’. In den frühen Dramen des Spätwerks, Herakles und Troerinnen, deckt sich der Tychebegriff fast völlig mit der Idee vom Wirken der Götter. Tyche ist hier nicht ein Spiel des irreligiôsen Zufalls, sondern hinter dem scheinbaren Auf und Ab der Tyche verbirgt sich ein planendes göttliches Handeln, das freilich der verdunkelten Ratio des Menschen als vordergründiger Zufall erscheint. Tyche ist immer τύχη ἐκ ϑεῶν (vgl. Her. 309, 1393 u. Tro. 696). In der Elektra vollzieht sich das Wirken der Tyche zunächst auch als Verwirklichung göttlicher Pläne, hier in Form eines Orakels (vgl. Eur. El. 890: ϑεοὺς μὲν ἡγοῦ... τύχης ἀρχηγέτας τῆσδε). Doch bleibt in diesem Drama ebenso wie in Ion, Iph. Taur., Helena noch genügend Raum für ein neuartiges Wirken der Tyche, das am ehesten als unvorhersehbarer glücklicher Zufall verstanden werden kann®®. Man wird dabei vor allem an die Person des alten Erziehers in der euripideischen Elektra erinnert, der zufällig das Grab Agamemnons besucht und mit den dort gefundenen Erkennungszeichen die Anagnorisis einleitet, sowie an den durch rein zufällige Kenntnis des Aufenthaltsortes Aigisths entworfenen Plan zu dessen Tötung (vgl. Eur. El. 301, 403, 594, 602, 610, 758, 892: τὸν τῶν ϑεῶν τε τῆς τύχης 9° ὑπηρέτην u. 1110). Auch dieser „säkularisierte* Tychegedanke verweist die Elektratragödie entschieden in die Gruppe der Werke, die sih um das Jahr 412 gruppieren und läßt den Ansatz von Matthiessen als kaum akzeptabel erscheinen®. Der Versuch von Zuntz und Matthiessen, das bisher gültige Datum der euripideischen Elektra zu entwerten, hat uns nicht überzeugt. Wir sehen uns im Gegenteil veranlaßt, um so entschiedener an der Datierung von 413 festzuhalten, als für diesen Ansatz eine Fülle motivischer wie formaler Indizien spricht, welche angesichts der zahlreich erhaltenen Dramen der späten Schaffensperiode des Dichters

’ Vgl. die aufschlußreiche, gründliche Arbeit von G. Busch, Unters. zum Wesen der τύχη in der Trag. des Euripides, Heidelberg 1937.

8 G.Busch kommt ebenfalls zu dem Schluß, daß man bei Euripides deutlich zwei Stufen einer Tychekonzeption zu trennen habe: Die frühen Tychedramen zeigen einen Tychebegriff, der ungefähr einem allgemeinen Schicksalsgedanken äquivalent ist; in den späteren dagegen nähert sich die Bedeutung von Tyche fast einer Art Zufall oder Chance. Busch betont m.E. nur zu wenig, daß in die spätere Gruppe beide Tychevorstellungen eingehen und nebeneinander bestehen. # Im übrigen vermißt man bei Matthiessen eine Stellungnahme zu den Ausführungen Riviers, Essai sur le tragique d’euripide, p.145 ff. und 164, wo bereits überzeugend die Eigenständigkeit der Dramengruppe Ion, Iph. Taur., Hel., El. (les drames romanesques) gegenüber früheren Stücken, wie z. B. auch Herakles, demonstriert ist.

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B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

(ab 415) von beinahe erdrückendem Gewicht sind. Es scheint uns bei dem augenblicklichen Stand der Diskussion geboten, die einzelnen Kriterien als gewichtige Stütze unserer These anzuführen: 1. Mit den zeitlich eng aufeinander folgenden Tragödien Iph. Taur., Helena, Ion, Antiope, Hypsipyle u.a. (alle zwischen 414 und 408 einschließlich aufgeführt) verbindet sich die Elektra zu einer morphologisch wie chronologisch geschlossenen Gruppe. In diesen Stücken bilden Anagnorisis und Mechanema die bestimmenden Kompositionselemente*. Es hat den Anschein, als ob der Dichter in diesen Jahren mit

dem

gleichen

thematischen

Grundriß

immer

wieder

experimentiert,

bis er

ihn variierend ausgeschöpft hat und sich später (Orest Bakchen, Iph. Aul.) neuen Stoffen und Problemkreisen zuwender*!. Allein das häufige Auftauchen der Anagnorisis innerhalb eines engen Zeitraums und an bedeutsamer Stelle in der Handlung deutet darauf hin, daß die Verwendung des Motivs als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls des Tragikers angesehen werden darf, das sich in einer deutlich begrenzten Phase des euripideischen Schaffens lokalisieren läßt, zu der auch unzweifelhaft die Elektra gehört. Dabei fällt insbesondere die Parallelität des Aufbaus der Elektra mit dem in der Helena bzw. Iphigenie auf Tauris ins Auge, also mit Dramen,

die in die unmittelbare

Nähe

von

413

zu setzen

sind. In

diesen

Stücken, die eine gesonderte Gruppe innerhalb der Anagnorisisdramen darstellen, werden getrennte Verwandte, Gatten oder Geschwister durch das unerwartete Wirken der Tyche auf wunderbare Weise zusammengeführt und planen anschließend eine Intrige#?, deren Durchführung aber in irgendeiner Form scheitert bzw. nicht den gewünschten Enderfolg zeitigt*° (so auch im Ion u. Orest), um schließlich von den als ordnende Maschinengötter ins Geschehen eingreifenden Göttern auf unerwartete Weise „gerettet“ zu werden. 2. Die Befreiung in Not befindlicher Personen spielt als Motiv eine bedeutende Rolle in EI., Hel., Iph. Taur., Antiope, Hypsipyle, Andromeda und Auge. Alle diese Stücke liegen nach 41544.

4 Das Anagnorisismotiv findet sich sonst in folgenden nicht mehr erhaltenen Stücken, die alle nach 415 liegen (!): Alexandros (415, nach Aelian V. H. 2, 8), Weise Melanippe (vor 411, vgl. Aristoph. Thesmoph. 547), Gefesselte Melanippe (kurz vor 405, vgl. Schol. Arist. Ran. 53), Alkmeon in Korinth (posthum aufgeführt nach Zeugnis von Schol. Arist. Ran. 67). In die gleiche Periode können dem Inhalt nach auch die Auge und Alope gehören (vgl. Howald, p. 74). 4 Das Gleiche gilt auch von den Freundespaaren, die in Not geraten. Außer im Herakles sondern innerhalb eines bestimmten Zeitraums einen einzigen thematischen Grundriß mehrmals variiert, betont mit Recht, Friedrich, p. 13, der von „Gruppenbildung“ spricht und dabei auf die systematische, beinahe wissenschaftliche Arbeitsweise des Tragikers verweist. 4 In El. und Iph. Taur. löst ein Götterbefehl das Mechanema aus. © Das gilt auch für die Elektra, denn der Zusammenbruch der Geschwister erfordert das Eingreifen des deus ex machina. 4 Das Gleiche gilt auch von den Freundespaaren, die in Not geraten. Außer im Herakles (Herakles-Theseus) begegnen sie nur beim späten Euripides: Elektra (Orest-Pylades), Iph. Taur. (Orest-Pylades). Oder Geschwisterpaare: Elektra (Orest-Elektra), Antiope (Zethos-Amphion), Hypsipyle (Thoas-Euneos), Phönissen (Eteokles-Polyneikes).

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

73

3. Eine spürbare Kritik an Apoll verbindet EI., Iph. Taur., Ion und Orest. 4. In die Nähe der Iphigenie auf Tauris und des Orest rückt das Elektradrama, weil in allen drei Stücken das Schicksal Orests in seinen verschiedenen Phasen als dramatischer Vorwurf benutzt wird®. Der Dichter, der bis dahin die Troiasage vom Standpunkt der troischen Seite aus gestaltet (Androm. Hek. Alex. Tro. Palamedes), nähert sich nun demselben Sagenkreis nach 415 von der griechischen Seite aus (El. Hel. Iph. Taur. Orest). 5. Daß die Struktur der Anagnorisishandlung in der Elektra wesentliche Übereinstimmungen mit dem Aufbau der übrigen Erkennungsdramen aufweist, ist bisher zu wenig beachtet worden#®. a) In EI.I. T. u. Helena geht der Szene der eigentlichen Wiedererkennung eine erste Begegnung der beiden Partner voraus, in deren Verlauf diese in ihrer Agnoia vor dem letzten erlösenden Schritt immer wieder zurücschrecken und das Ziel jeweils

um

ein Minimales

verfehlen, bis schließlich sogar ein Abbruch

der ange-

knüpften Beziehungen droht. Erst im letzten Augenblick bietet sich eine unerwartete Lösung an. In diesen Szenen wird das trügerische-paradoxe Spiel der Tyche handgreiflich deutlich. b) Ein Mittel, dem Gedanken der Beschränktheit und Ahnungslosigkeit des Menschen Gestalt zu verleihen, eröffnet sich dem Dichter mit der Verwendung vielfältiger Äußerungen, die in einem tieferen Sinn wahr sind als es den Personen selbst bewußt ist. Solche Stellen (El. 244f., 283f., Iph. 609 ff., Hel. 503 ff., Ion 313, 330, 354) verbinden Helena, Iphigenie Taur., Ion mit der Elektra. c) Beim Auftritt des männlichen Partners flieht in Elektra und Helena der weibliche Gegenspieler. So müssen Orest bzw. Menelaos je zweimal zum Bleiben mahnen (Εἰ. 220 u. 226, Hel. 548 u.555), bis Elektra und Helena ein Gespräch beginnen.

6.Der Spätansatz der euripideischen Elektra wird weiter gestützt durch eine Synkrisis der Mechanemahandlungen in den verschiedenen Intrigenstücken. Vergleicht man nämlich die Gestaltung der Intrigenhandlung in der Elektra mit den entsprechenden Kompositionselementen in Iph. Taur. und Helena, so ergeben sich auffällige Parallelen in der Verwendung und Verarbeitung einzelner Formteile. a) In allen drei Dramen wird nach der Anagnorisis die Intrigenhandlung mit einer ausführlichen, jeweils in stihomythischer Form gehaltenen Planungsszene eingeleitet”, an der alle am Komplott beteiligten Personen teilnehmen (EI. 596— 698, I. T. 1017-1055, Hel. 1032-1106). Diese Szenen finden regelmäßig ihren Abschluß mit einem Gebet der Verschworenen an die Götter um gutes Gelingen des Vorhabens (El. 671ff., 1. Τ. 1082 ff., Hel. 1093 ff.). Dabei wird der Krisischarakter des Unternehmens dadurch unterstrichen, daß die weibliche Hauptperson “K.v. Fritz betont zuletzt mit Recht (Ant. und moderne Trag. p. 129), daß die vielen engen Beziehungen zwischen den Dramen El. und Or. (408) einen größeren zeitlichen Abstand zwischen den Stücken kaum als möglich erscheinen lassen. “ Andeutungen bei Solmsen, Hermes 1934, p. 390 ff. * Dieser Grundriß ist in der Helena durch den Einschub des Theonoeauftritts etwas variiert.

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B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

ein Fehlschlagen der Intrige als Anlaß zum Selbstmord zu nehmen gedenkt (EI. 686 ff. u.691 ff., 1. T. 1065. u. 1073f., Hel. 1090f.). Die Dramen Elektra und Iphigenie verbindet außerdem die Bitte der Heldinnen an den Chor um loyale Unterstützung des Intrigenplanes (El. 694 ff., I. T. 1056). b) Die Zeit zwischen Beratung und Mechanema wird in allen drei Dramen durch ein Chorlied überbrückt (EI. 699, I. T. 1089, Hel. 1107). c) Auffällig parallel ist auch der Ablauf der Intrige komponiert: Der zur Überwältigung der Gegner geschmiedete Plan ist jeweils auf einer gleichartigen Taktik aufgebaut. Die Verbündeten greifen jedesmal auf diejenige Grundsituation zu Beginn des Stückes zurück, welche zunächst den Grund für das scheinbar ausweglose Leid der Heldin ausmacht. Gerade dieser ursprünglichen Leidenssituation bedienen sich die Verschwörer und kehren sie zu einer Waffe gegen ihre Feinde um,

indem

die Heldin

ihre frühere, jetzt eigentlich überholte Rolle weiterspielt

und damit die Gegner täuscht. Im einzelnen äußert sich dieses Motiv des „Triumphes durch die Schwachheit“ folgendermaßen: Elektra verbleibt in ihrer äußeren Notsituation der unstandesgemäßen Ehe mit dem Bauern und kann damit Klytaimestra durch Vorspiegelung ihrer Mutterschaft ins Verderben locken. Iphigenie spielt ihre anfängliche Rolle als Priesterin weiter und schafft damit die Voraussetzung zur Auslösung des Mechanema. In der Helena bedient sich Menelaos zum Zweck der Intrige gegen Theoklymenos des Mittels einer fingierten Altarflucht, die das Pendant zur echten Flucht Helenas zum Altar am Dramenbeginn

liefert. 4) Das Zusammentreffen der weiblichen Hauptperson mit dem zu überlistenden Opfer führt jeweils zu wirkungsvollen dramaturgischen Bühnenbildern: Iphigenie tritt als Priesterin mit dem Götterbild unter offiziellem Geleit aus dem "Tempel (1156). Helena, in düsteres Schwarz gekleidet, verläßt die Wohnung, um sich zur Totenfeier zu begeben (1369). Elektra tritt in ihrer erbarmungswürdigen Armut ihrer mit fürstlichem Pomp ausgestatteten Mutter entgegen. Hierher gehört auch die Neigung des Euripides, das Einwirken der Umwelt auf die Handlung, insbesondere auf die Intrigenhandlung auf der Bühne sinnfällig zu machen. Das Lokal wird zu einem Handlungsträger und bestimmt die Strategie der Intrige entscheidend mit. In der Elektra wird das ländliche Milieu in Argos und vor allem das Bauernhaus zum Zentrum eines Komplottes, wo alle Fäden der Intrigenhandlung zusammenlaufen und Klytaimestra schließlich in die Falle geht“. In der Iphigenie auf Tauris bilden die düsteren Mauern des drohenden Artemistempels einen Ort voller Gefahren, aus denen man sich nur durch ein ausgeklügeltes Mechanema retten kann. Auch in der Helena gewinnt der Palast des Theoklymenos die gleiche Bedeutung. Diese frappierenden Parallelen in der Komposition der Intrigenhandlung lassen eine so ausgeprägte Formtendenz erkennen, daß sich 4 Mit Recht betont daher Diller (Umwelt und Masse als dramat. Faktoren bei Euripides, Euripide, Fondation Hardt, Bd. VI, p. 99), daß Elektras Verheiratung mit dem Bauern nicht nur psychologisch, sondern auch bühnenstrategisch bedeutsam wird. 4 Diller, Umwelt und Masse... weist auf die in diesem Drama wirksamen märchenhaften

Züge hin (p. 99).

1. Die Datierung der euripideischen Elektra

75

der Schluß auf eine zeitliche Nähe der drei Dramen (Hel. El. Iph. Taur.) von selbst ergibt>®. Diese Gruppierung wird noch gestützt, wenn man zeigt, daß der den Spätdramen (wir meinen die Stücke um 412) zugrundeliegende Intrigenbegriff hinsichtlich seines Verhältnisses zum ϑυμός von den Intrigenstücken der früheren Perioden (Medea, Hippolytos, Hekabe) deutlih zu sondern ist. Auch in den frühen und mittleren Dramen ist ein Mechanema tragendes Kompositionselement. Entspringt aber in diesen Stücken die Intrige ausschließlich egoistischen, durch keinen göttlichen Auftrag legitimierten Motiven der Rache und Eifersucht, erwächst sie aus der spezifischen Leidenschaft einer Frau mit ihrer δεινὴ καὶ αὐϑάδης φύσις, in der das rettungslose Ausgeliefertsein des Menschen an den dämonischmaßlosen ϑυμός deutlich wird, so weist die Intrige der Spätdramen einen andersgearteten Richtungssinn auf. Das Mechanema ist in diesen Tragödien primär in dem Wunsch nach Rettung, nach Aufhebung einer äußeren Isolation und Verbesserung der sozialen Lage des Helden begründet. Die affektgeladene Spontaneität wird durch den Antrieb einer äußeren Situation abgelöst, wobei dieser Gedanke einer objektivierten Motivationsschicht auch durch den häufigen Götterbefehl, der das Mechanema in Gang setzt, unterstrichen wird (vgl. z.B. El. Ion, Iph. Taur.). Die Elektratragödie gehört danach unzweifelhaft zu den Spätstücken. Wichtiger aber scheint es uns, daß gerade die für jedes $uuös-Drama typische Thematik vermißt wird: Die Darstellung des unruhigen Flackerns des ϑυμός, des stufenweisen Anlaufens eines Motors, der schließlich alle Kräfte der Logosschicht des Menschen überlagert. Elektra dagegen verfügt schon zu Beginn des Dramas über den Grad von Leidenschaft, der später die Ermordung der Mutter verursacht. Es geht im Elektradrama nur noch um Umsetzung dieser Leidenschaft in die Tat der Rache. Es steht daher

außer Zweifel,

daß

Euripides

den Orestesstoff nicht wie in den

Dramen der dreißiger und zwanziger Jahre (Med. Hipp. Hek.) in der Tendenz gestaltet hat, ein Leidenschaftsdrama zu schaffen. Der Gestalt einer Medea und

50 Ergänzend sei noch eine Beobachtung hinzugefügt, die das Gesagte zu unterstützen vermag: Schon W.Krieg, De Euripidis Oreste, 1934, p. 44 f. und 79, weist auf deutliche Parallelen in der Struktur der hinterszenischen Intrigenhandlungen in El. und Orest (408) hin, besonders im Aufbau der Beratungsszenen (El. 598-693 bzw. Or. 1098-1245). In beiden Fällen sind jeweils drei Personen, die Geschwister und ein Diener, der zu den

ersteren in einem besonderen Vertrauensverhältnis steht, an der Planung beteiligt. Wie in der El. zuerst der Pädagoge das Mechanema zur Tötung Aigisths, anschließend Elektra das zur Beseitigung Klyt. entwickelt, so zeigt in völliger Entsprechung im Orestes zunächst Pylades den Weg zur Ausschaltung Helenas und darauf Elektra den zur Ergreifung Hermiones. In keinem Falle entwickelt also Orest den Intrigenplan selbst, sondern wird von seiner Umgebung instruiert. Auf die Beratungsszene folgt jeweils ein Gebet um glückliches Gelingen des Vorhabens, beidemal in Triadenform gehalten. Diese Entsprechungen weisen m.E. einen Grad von Verbindlichkeit auf, der die Annahme einer Imitation des Elektradramas im 408 aufgeführten Orestes wahrscheinlih macht (In die gleiche Richtung weisen zahlreiche wörtliche Anspielungen, vgl. dazu Krieg, p. 33, A.15). Das besondere Nahverhältnis spricht jedenfalls ebenso entschieden gegen eine Frühdatierung der El, wie es umgekehrt mit einem Ansatz auf 413 eine plausible Erklärung finder.

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B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

einer Elektra liegen verschiedene Konzeptionen vom Menschen und seiner Gefühlswelt zugrunde. Der ϑυμός, wie er in der Elektratragödie begegnet, scheint uns nicht mehr in dem Sinne adäquater Ausdruck für das Gefühlsleben der Heldin zu sein, wie das für die Dramen der vorausgehenden Periode gelten darf5!. Einige zusätzliche Beobachtungen dürften geeignet sein, den Abstand des Stückes zu Medea, Hippolytos und Hekabe zu bezeichnen. Elektra unternimmt in ihrer Isolierung, allein auf sich gestellt, keinen Versuch, die Rache zu vollziehen. Das ϑυμός- Μοτῖν wird erst dann wirksam, als nach Vollzug der Erkennung mit der Anwesenheit Orests die Möglichkeit zu einer Komplottbildung besteht. Figuren wie Medea, Phaidra und Hekabe wirken dagegen aus der dumpfen Situation des Alleinseins heraus. Das ist für die Intrige in ihrer frühen Form Voraussetzung. Indem das Elektrastück in seinem ersten Teil als Anagnorisisdrama angelegt ist, nimmt es einen Handiungsverlauf, der seinem Richtungssinn nach dem Aufbau eines Buuög-Dramas entgegensteht. Diese Struktur macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen frühen und späten Dramen hinsichtlich der Form, wie sich menschlihe

Aktivität

äußert,

deutlich.

Während

in

den

frühen

und

mittleren

Dramen der Retter oder Rächer als kraftvolle Einzelpersönlichkeit allein handelt, (Herakles in Alkestis, Medea,

Phädra, Bellerophontes, Theseus im Herakles

und

den Hiketiden, Orest in der Andromache) verbinden sich in den späten Stücken mehrere Personen (meist zwei) zur Durchführung ihrer Ziele zu Komplotten, die den Charakter einer Verschwörung tragen (Orest u. Pylades in El. u. Iph. Taur., Helena und Menelaos in der Helena, Kreusa und der Pädagoge im Ion, die Zwillingsbrüder in den Stücken Antiope, Hypsipyle und Melanippe, Antigone u. Haimon in der Antigone, Teiresias u. Kadmos in den Bakchen). Die Elektra stellt sich also hier entschieden zu den Spätdramen nach 415. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß in den Tragödien dieser Epoche anders als in Medea, Hippolytos und Hekabe die Entscheidung über Erfolg oder Fehlschlagen der Intrige nicht mehr in die Hand des Menschen gelegt ist, sondern weitgehend von der Macht der Tyche bestimmt wird. So steht z.B. in der Elektra unmittelbar vor dem Entwurf des Intrigenplanes der Hinweis auf die unberechenbare Tyche. Es fehlt die auf eine δεινὴ φύσις gegründete siegessichere Gewißheit der Akteure. Statt dessen unterliegt der Verlauf der Mechanemahandlung der Elektra den gleichen Bedingungen wie in Iph. Taur., Helena, Ion: Eine weitere Bekräftigung unserer Datierung5?. Abschließend darf man auf die verschiedene dichterische Intention verweisen, die Euripides seinen frühen bzw. späten Mechanemadramen zugrundelegt. Man wird den Unterschied in knappster Form etwa so formulieren können: In Medea und Hekabe geht es primär um die Darstellung der Ursachen und Wirkungen des ϑυμός. Die Mechanemahandlung ist zu diesem 51 Diese Gewichtsverschiebung finder auch sprachlich ihren Niederschlag. Bezeichnenderweise begegnet in der Elektra des Euripides der Terminus θυμός in seiner genuin euripideischen, aus der Medea her bekannten Bedeutung überhaupt nicht (176 und 578 sind neutral).

δὲ Das Buuög-Motiv ist in der Elektra bezeichnenderweise im Gegensatz zu Medea oder Hekabe nur bis zum äußeren Sieg geführt. An die Stelle des endgültigen Triumphes tritt die Verzweiflung über ein Verbrechen.

1. Die Datierung der euripideischen Elektra

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Zweck erfunden. In der Elektra dagegen wie in den zeitlich angrenzenden Dramen ist die Rachehandlung oder das Rettungsmechanema vorgegeben. Das $unög-Motiv dient nun als Hilfsmittel. Der thematische Akzent hat sich verschoben und liegt nun entschieden mehr auf der Bewältigung der von den beiden Strukturprinzipien Anagnorisis — Mechanema getragenen Gesamtkomposition. Und eben diese auch für das Elektradrama gültige dichterische Konzeption scheint uns eine Bestätigung für die Geschlossenheit einer Dramengruppe, zu der neben Helena, Iph. Taur. u. Ion auch die Elektra gehören muß>®. Zusammenfassend darf man feststellen: Nach unseren Untersuchungen zur Intrigenform, zum Begriff des Mechanema und des ϑυμός bei Euripides scheint ein Frühansatz der Elektra in die zwanziger Jahre (so Zuntz) fast unmöglich. Umgekehrt sprechen alle Indizien für eine Datierung nach 415, vornehmlich in die Nähe von 412. 7.In den euripideischen Dramen nach 420 (nach dem Herakles) steht das menschliche Geschehen unter dem unberechenbaren Einfluß der Metabolai der Tyche. Das Leben ist für den vordergründigen Betrachter ein Schauplatz für das Wirken höherer Mächte geworden, die mit dem Menschen ihr Spiel treiben und denen er beinahe hilflos gegenübersteht. Er vermag nur mit der Hilfe des günstigen καιρός im Bunde mit der ordnenden Hand der Götter einen Sinnzusammenhang inmitten des unsteten Auf und Ab herzustellen. So wird in diesen Stücken die Tyche zum Zeugnis der Beschränktheit menschlicher Existenz. Daß sich mit der Eröffnung dieser Dimension des Menschlichen ein Umschwung gegenüber den frühesten Euripidesdramen abzeichnet, braucht kaum eigens erwähnt zu werden. An die Stelle der uuôs-Aktivität, die den Schwachen stark machen kann, tritt die

Abhängigkeit des Menschen vom Schicksal. Aber auch das neue Tychelebensgefühl selbst stellt sich nicht als einheitliche, keiner Entwicklung unterworfene "Thematik dar. Eine genauere Differenzierung eröffnet unserer Meinung nach die Möglichkeit einer Präzisierung des chronologischen Ansatzes des Elektradramas. Als früheste Gruppe innerhalb der Tychestücke heben sich die Dramen Hiketiden, Herakles, Erechtheus und Troerinnen (415) heraus. Dort nimmt das Geschehen jeweils einen unglücklichen Ausgang. Das Wirken der Tyche (Fügung) manifestiert sich in einem sinnlosen, weil sinnentleerenden Umschwung und ruft bei den Personen eine Stimmung der verzweifelnden Resignation hervor. Insbesondere in den beiden spätesten der oben genannten Stücke (Her. Tro.) erscheint der Mensch vornehmlich als der resignierende Dulder, dessen Tragik sich als dumpfes reines Leiden darstellt, das entweder während des Geschehens über ihn hereinbricht (Herakles) oder ihn bereits zu Beginn der Handlung in die Kniee gezwungen hat. Für diese Stufe der Tychekonzeption darf allgemein gelten, daß das Pathos die Handlung nicht mehr aktiv bestimmt, sondern

nur noch als eine Reaktion

des Gefühls be-

s Daß Begriff und Funktion des Mechanema in den Tragôdien der Medeazeit und der Spätzeit nicht kommensurabel sind, zeigt auch gut Zürcher, p. 108 f. Vergleiche auch Lesky, Zur Problematik des Psychologischen in der Trag. d. Euripides, Gymn. 67, 1960, p- 17. Insofern scheint uns Schiassi (Elettra, Introd.

e commento, Bologna 1958, p. 25 f.),

der sich übrigens mit Zuntz nicht auseinandersetzt, nicht scharf genug zu differenzieren.

78

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

gleitet. Diese frühe Tychestruktur wird von einer späteren abgelöst, in der wir eine verstärkte Entfaltung menschlicher Aktivität, die freilich nicht immer von Erfolg gekrönt ist, zu spüren meinen. Die Stufe des reinen Leidensbios scheint überwunden. Außerdem dient in diesen Stücken (Iph. Taur., Hel., Ion), zu denen wir aud die Elektra stellen müssen, das Wirken der Tyche dem Nachweis einer glücklichen Wendung54. Auch in der Elektra wirkt Tyche in dieser Richtung, indem sie sowohl für den glücklichen Ausgang der Anagnorisis als auch für den erfolgreichen Abschluß der Mechanemahandlung (insbesondere der Intrige gegen Aigisth) verantwortlich zeichnet. Daß sich nach der Tat eine Umbewertung des Geschehenen vollzieht, stellt zunächst das faktische Gelingen der Intrige als solches nicht in Frage®®, zumal die Verzweiflung der Muttermörder durch den Hinweis auf ein künftiges Glück aufgehoben wird (Eur. El. V. 1290 f.). Der Gesamtausgang des Elektrastückes erweist damit das neue sinnvolle Tychewirken, wie es für die späten Tychedramen charakteristisch ist. Dabei kann die Bedeutung der Anagnorisis als Träger des Tychegedankens nicht genug hervorgehoben werden. Das gilt in hervorragendem Maße für das Elektradrama®7. Da aber die Erkennungshandlung eben in den Dramen bis 415 (Troerinnen) fehlt, kann es wohl keinen Zweifel darüber geben, daß die Elektra allein schon hinsichtlich der dramatischen Mittel, mit denen

das

Wirken der Tyche demonstriert wird, zur Gruppe der späten Tychedramen gehört. 51 Die weitreichenden Beziehungen zwischen menschlicher Tragik und dieser Form des Tychewirkens zeigt gut am Beispiel der Iph. Taur. Strohm, Iphigenie im Tauerland, Ausg. mit Erläut., München 1950, p. 19 ff. Grundsätzlich wichtig bleiben Friedländer, Antike Il

(1926) p. 108; Jäger, Paideia 15, 1936, p. 445; Zürcher p. 149 f. und Lesky, Zum Orest d. Eur., Wiener Studien 53 (1935), p.38. Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch p. 250—-62 vermag wesentliche Beziehungen zwischen dem Wirken der Tyche und der Form der Selbstäußerung euripideischer Personen aufzuzeigen. 55 Vgl. dazu in der Elektra

des Euripides

folgende

Stellen: V.403,

594, 602, 610,

648,

758, 892.

56 Das scheint mir K. Matthiessen zu übersehen, wenn er die Elektra mit dem Herakles auf eine Stufe stellt. δ᾽ In der Anagnorisisszene droht Elektras ἄγνοια, die in einer allzu selbstsicheren Vernünftigkeit wurzelt, die letzte Aussicht auf eine mögliche Erkennung zu versperren. Je mehr der alte Diener auf der Beweiskraft der Zeichen insistiert, desto entschiedener

sträubt sich Elektra gegen die vorgebrachten Argumente, so daß unmittelbar vor der Erkennung die Trennung zwischen den Geschwistern noch einmal in ironisch-paradoxer Weise verschärft wird. Ohne es zu wissen, arbeiten die Menschen ihrem Glück entgegen,

bis sich dann unerwartet durch eine schlagartige Wendung das Dunkel der Situation erhellt. Vorher aber scheint auf eine gewisse Strecke hin menschliches Nichtwissen über Wissen zu triumphieren. Und dabei hat gerade die Blindheit ihren Ursprung in einer allzu selbstsicheren Klugheit, in einem bis zur Spitze getriebenen rationalen Kalkulieren. Euripides bemüht sich deshalb auch mit einer an Akribie grenzenden Genauigkeit um eine lückenlose Darstellung der einzelnen Phasen des Erkennungsvorgangs, ein Eifer, den man

so lange für Pedanterie halten konnte, als man

die eigentliche Intention des

Dichters durch eine einseitige Überbetonung des rivalisierenden Verhältnisses zu Aischylos’ Choephoren übersehen mußte. Gerade in der engen Durchdringung der Anagnorisisszene mit der Kategorie der Tyche scheint mir der entscheidende Beweis für die Echtheit der umstrittenen Verse Eur. El. 518—44 zu liegen.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

79

Im Ganzen wird man als Ergebnis festhalten können: Von der Konzeption des Tychebegriffes her kann man die Elektratragödie weder den $vu6ç-Dramen der Frühzeit noch den Werken mit patriotischer Tendenz (Hik., Herakliden) noch schließlich einem der Stücke des kollektiven Leids wie etwa den Troerinnen zuordnen, selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Entwicklung eines dichterischen Schaffens sich nicht in der mechanischen Abfolge schematisch voneinander geschiedener Perioden vollzieht. Die Elektra liegt danach sicher nach 415. 8. Hinsichtlich der Form der Pathosäußerung läßt sich, wie schon Schadewaldt zu zeigen vermochte, eine deutliche Entwicklung feststellen. Seit dem Jahre 415, dem Aufführungstermin der Troerinnen, geht das Bestreben des Dichters in zunehmendem Maße dahin, das Pathos des Einzelschauspielers in die Form der gedämpften, threnosartigen Leidensäußerung zu kleiden, die die eruptive Ausdrucksform der späten zwanziger Jahre (Hek. Androm.) ablöst. Ein fester lyrischer Sprachstil verdrängt den individuellen Gefühlsausdruck. Diese neue Form der gesammelten Pathosäußerung rückt die Elektra in die Nähe der Troerinnen (man vergleiche den in Klageanapästen gehaltenen zweiten Teil der Monodie der Hekabe mit Tro. 98-152 u. mit der Monodie der Elektra, V.121ff.). Beide Dramen bezeichnen eine Übergangsstufe, wobei in der Elektra die Merkmale des „neuen Stils“ noch deutlicher hervortreten als in dem Drama des Jahres 415, was unseren Ansatz von 413 bestätigt. Im Ion (ca. 413-411) erreicht dieser Stil seine reife Form®®. 9. Der deus ex machina wird nach ersten Ansätzen ın Andromache, Hippolytos, Hiketiden und Melanippe σοφή erst in den Dramen um 415 bei Euripides zu einem stehenden Bühnenrequisit. Diese entwickelte Form des Motivs verbindet das Elektradrama mit Stücken wie Helena, Iph. Taur., Ion, Antiope, also mit Werken, die auch sonst eine enge Verwandtschaft zur Elektra erkennen lassen. Die chronologischen Konsequenzen ergeben sich von selbst. Während die in den frühen Stücken auftretenden Götter in keinem Falle als ausgebildete Maschinengötter gelten können (weder Artemis im Hipp. noch Thetis in Androm. noch Athene in den Hik. noch Hippe in der weisen Melanippe), da sie der Handlung keine entscheidende Wendung geben, sondern sich ihre Funktion auf die Rolle des Tröstenden bzw. Aufklärenden beschränkt, hat der Deus ex machina der Spätdramen die ungleich bedeutendere Aufgabe, einem ernstgemeinten Götterwillen zum Durch5 Dieser Stil eines ermattenden Pathos, der wesentliche Formelemente aus der neudithyrambischen Strömung der zwanziger Jahre bezieht, ist durch eine intensive Verwendung der musikalischen Ausdrucksformen in der Dichtung gekennzeichnet. Seine hervorstechendsten Merkmale sind einmal eine Fülle an Wortschmuc (viele Epitheta), zum anderen eine gleichförmig dahinfließende Rede mit unverhältnismäßig langen, z. T. nur locker aneinandergereihten Einheiten (vgl. in der Monodie des Euripides die Verspartien 130—39, 141—49, 151—58). Die Gesangspartien aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre lassen dagegen noch deutlicher Spuren der asyndetischen Aneinanderreihung kurzgliedriger Fragen und Ausrufe erkennen, die das Pathos unter wiederholtem accelerando stoßweise hervorbrechen lassen. Besonders gut läßt sich dieser eruptive Frühstil in der zweiten Monodie der Hekabe im gleichnamigen Drama (V. 154 ff.) und im anschließenden Kommos zwischen Hekabe und Polyxena (V. 177 ff.) beobachten. Eine ausführliche Darstellung der Pathosentwicklung bei Euripides gibt Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch, p. 151—161.

80

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

bruch zu verhelfen. Die Maschinengötter treten als helfende Retter auf und geben dem Geschehen eine tatsächlihe Wendung, die meist zu einer Enthüllung des übergreifenden Sinnbezuges führt. Hier leistet der deus ex machina etwas, zu dem der Mensch aus eigener Kraft nicht mehr fähig gewesen wäre. So eröffnen die Dioskuren in der Elektra jedem der beiden Agamemnonkinder sein künftiges Schicksal und zeigen einen echten Ausweg aus der Verzweiflung. Erst durch den von ihnen enthüllten Sinnzusammenhang erfährt die Handlung den sinnvollen Abschluß, 10. Die enge Verwandtschaft im Aufbau zwischen den Stücken Elektra, Ion, Phoenissen läßt sich am ehesten durch eine zeitliche Nähe der Dramen erklären. Sie weisen übereinstimmend denselben szenischen Grundriß auf, der sonst in den euripideischen Tragödien nicht begegnet. Es handelt sich um ein fünfteiliges axialsymmetrisches Kompositionsschema. Dabei erstreckt sich die Parallelität auch auf das Verhältnis des Mittelteils zu den angrenzenden Flügelstücken. Euripides scheint demnach die Struktur des Elektradramas kurze Zeit später im Ion und den Phoenissen wieder verwandt zu haben® (vgl. dazu Ludwig, Sapheneia, p. 134). 11.Der starke Einfluß der neulyrischen Tendenz der zwanziger Jahre im Elektradrama schließt eine Datierung des Stückes vor die Troerinnen, d.h. vor 415, fast mit Sicherheit aus. So z.B. muß die zunehmende Lyrisierung des Drameneingangs als sicheres Kriterium für einen späten Ansatz gewertet werden: Eine Monodie mit folgender kommatischer Parodos weisen neben Elektra nur Troerinnen, Ion und Hypsipyle auf. Kommatische Parodos begegnet zum ersten Mal in den 'Troerinnen®!. Dialogische, auf Chor und Schauspieler verteilte Stasima (die Parodoi sind dabei nicht berücksichtigt) finden sich außer Elektra (V. 859 ff.) noch in ausgesprochen späten Dramen wie Helena (V. 330 ff.), Iph. Taur. (V. 664 ff.), Orest (V. 1246 ff.) und Iph. Aul. (V. 1475 ff.). Eine besondere Spielart des sogenannten „neuen Liedes“, das dithyrambische Stasimon, gilt als Charakteristikum des euripideischen Spätwerkes. Nach einer

59 In der Helena hindern die Dioskuren den Theoklymenos an der Tötung Theonoes und sichern die glückliche Heimfahrt der beiden Gatten. Im Ion hindert Athene den Helden an der Ausführung eines schwerwiegenden Entschlusses und veranlaßt ihn mit seinen Eltern nach Athen überzusiedeln. In der Iphigenie auf Tauris hindert Athene den Thoas an der Verfolgung der entflohenen Griechen. Im Orest verhindert Apollon einen Zweikampf zwischen Orest und Menelaos. Im echten Schluß der aulischen Iphigenie unterbleibt durch Intervention der Artemis die Schlachtung Iphigenies, wie auch Hermes in der Antiope die Tötung des Lykos hindert. P. Decharme, Euripide, Paris 1893, p. 387 ff. analysiert die einzelnen Fälle des Deus ex machina und hebt gut die jeweils verschiedene Funktion des Motivs heraus. Vgl. auch Schmid-Stählin, I, 3, 756 £.

“Ὁ In der El. gliedert sich das Drama in folgende fünf Hauptteile: 1. Die Einheit von Prolog und Parodos (1—212). 2. Das erste Epeisodion (213—431).

3.Der Mittelteil mit den tragenden Strukturelementen Anagnorisis und Mechanemaplanung (432—746). 4. Die Ausführung der Intrige mit der Aigisth- und Klytaimestraszenengruppe (747—1232). 5. Der Götterauftritt (1233—1359). #1 Systematische Monodie mit folgender Parodos außer El. 112ff. nur noch im Ion.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

81

nicht voll entwickelten Frühform (Hekabe 905 ff.) findet man diese Liedform je einmal in Troerinnen (511ff.), Helena (1301ff.) und Iph. Taur. (1234 ff.), je zweimal in der Elektra (432 ff. u. 699 ff.) und Phoenissen (635 ff. u. 1029 ff.) und schließlich dreimal in der Iphigenie auf Aulis (164 ff., 751 ff. u. 1036 ff.). Scheint dieser Befund schon ausreichend, eine Spätdatierung des Elektradramas zu beweisen, so vermag eine Zusammenstellung der wesentlichen Merkmale dieses Liedtypus unsere Behauptung noch zu stützen δξ: a) Die späteuripideische Eigenart eines lockeren Aneinanderreihens von Partizipien und relativischen Nebensätzen, welche die vorausgehende Apostrophe beinahe wirkungslos machen, als Form eines barocken Chorliedstils begegnet neben El. 432 ff. noch Orest 316 ff. u. Ion 492 ff. b) Die Einführung kurzer, direkter Reden vor allem am Strophenabschluß finder man häufig: Hel. (1341 u. 1458), Troerinnen (524 u. 1092), Elektra (708 u.

1151), Iph. Aul. (1062) u. Bakchen (526).

c) Die Neigung des Dichters, einen Gegenstand mit Pathos apostrophieren, begegnet in El. 432, Iph. Aul. 573 u. Phoen. 1019. d) Die häufig ornamentalen Schilderungen, die teilweise den Charakter eines verspielten Eidyllions annehmen, z. B. die Beschreibung von Festen (El. 434 u. 711, Ion

495

u. 1080,

I. T. 427,

Hel. 1454

u. 1466,

I. A. 1055, Ba. 120, 404)

oder

die

detaillierte Beschreibung der bildenden Kunst (Ion 495, Ba. 150 u. 865, EI. 421: Die Nereiden mit den Waffen Achills) und Darstellungen aus dem Bereich der

Musik (Ion 501, I. T. 1125, El. 702, vgl. auch I. A. 573 #., I. T. 1125, Hel. 1345 8), weisen die Elektra eindeutig in die Spätphase®, 12. In den späten Dramen und in der Elektra ist ein an Aischylos erinnerndes Bestreben des Dramaturgen Euripides spürbar, das Bühnenbild mit exotischen Farben auszumalen. Wir erwähnen nur: Die bakchantischen Tänze Kassandras und das Lied vom Kult des phrygischen Zeus in den Troerinnen; Phrygische Sklavinnen als Nebenchor in der Elektra (998 ff.); die Rolle des Phrygers im

Orest; der Chor der Phoenikerinnen in den Bakchen; das orientalische Milieu ın

der Andromeda, das ägyptische in der Helena, das skythische in der Iph. Taur.% “2 Daß diese Lieder in vieler Hinsicht von einer unverwechselbaren Eigengesetzlichkeit sind, hat W. Kranz, Stasimon, p. 251 ff. deutlich gezeigt. Nach der Häufigkeit der neugebildeten Wörter

in den lyrishen Teilen teilt Breitenbach,

Unters.

zur Sprache

der eurip.

Lyrik, Tüb. Beitr., 20, Stuttgart 1934, die Dramen des Euripides in vier Gruppen ein, wobei die Elektra zu Androm. Hek. Hik. und Tro. gestellt wird. Doch wird dabei der chronol. Rahmen gesprengt, so daß daraus keine Datierungsstütze zu gewinnen ist. Nach der Strophenlänge in den lyr. Teilen sucht W. Kranz, De forma stasimi, Diss. Berlin 1910, die Stücke zu datieren. Danach werden ab 420 die Strophen länger und nehmen aischyleische Dimensionen an. 42 Anzeichen eines direkten, wenn auch kaum dramatisch weitreichenden Eingreifens des Chores in die Handlung begegnet nur in späten Dramen: In der Helena, wo der Chor den Rat zur Befragung Theonoes erteilt und in der Elektra sowie im Orestesdrama, wo er jeweils Wache steht. Doch für chronologische Spekulationen ist hier die Basis wohl zu schmal.

% Eine ausführliche Darstellung des Nichthellenischen bei Euripides gibt Kranz, Stasimon, p. 110 ff., wo allerdings das Elektrachorlied keine Berücksichtigung findet. 6 Vögler,

Interpretationen

82

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

13. Die stichomythische Technik®% verlangt eine chronologische Fixierung der Elektratragödie in die Jahre nach 415. Während Euripides in seiner frühen und teilweise auch mittleren Schaffensperiode meist in aischyleischer Weise kurze Stichomythien lediglich zur Beschleunigung des Handlungsablaufs in längere geschlossene Redestücke einbaut, tritt erst ab Elektra die stichomythische "Technik in voll entwickelter (Füllverse, Antilabei, Distichomythien), streng stilisierter Form hervor. Die Stichomythie wird fast zur einzigen Dialogform und damit zu einer Aussageform mit streng geprägtem Ethos. Stichomythien mit mehr als siebzig Versen finden sich nur in Elektra, Ion, I. T. und Helena, von ähnlicher Länge im

Orest und in den Phoenissen, während noch in den relativ späten Troerinnen (415) sich keine Stichomythie länger als 13 Zeilen hinzieht®®. 14. Die Technik des Dreigesprächs, die erst in den spätesten Dramen ihre Vollendung erreicht (vor allem in den Phoenissen), ist in der Elektra schon ebensoweit entwickelt (vgl. die Szenengruppen Bauer, El. Or.; oder Pädagoge, El. Or. besonders

V. 667-684;

oder

Dioskuren,

El.

Or.

besonders

V. 1301-30)

wie

in

den Troerinnen (Talth. Kass. Hek. und Men. Hek. Hel.) und in der Iphigenie auf Tauris (Iph. Or. Pyl.). Dagegen ist das Dreigespräch in den Hiketiden (513 ff.) und im Herakles (531 ff.) noch bewußt unterdrückt oder eingeschränkt, was für die Chronologie von Bedeutung sein dürfte®7. 15. Daß die Elektra auch hinsichtlich der Technik des Botenberichtes den Spätdramen des Euripides zugezählt werden muß, dürfte nach den aufschlußreichen Beobachtungen von Ludwig“ erwiesen sein: Danach ist die Okonomie des Botenberichts in der Elektra (774-858) durch das für die Spätzeit des Dichters typische

# Vgl. Groß, Die Stichomythie in der griech. Trag. und Kom., Diss. Berlin 1905, p. 45. “In der Elektra sind vier für den Handlungsablauf entscheidende Szenen in stichomythische Form gekleidet, die alle eine Spätdatierung des Dramas nahelegen: a) Das Gespräch zwischen den Geschwistern bei ihrem ersten Zusammentreffen (213—290). Solche erzählende Stichomythien kommen ın den Dramen bis einschl. Troerinnen nicht vor. Sie stellen dagegen ein einheitliches Charakteristikum der späten Stücke dar. Dabei erweist sich die äußere Situation in allen Fällen als parallel: Zu einer Person, die schon längere Zeit am Ort der Handlung weilt, kommt jeweils eine zweite hinzu, und es entwickelt sich ein breites Frage- und Antwortspiel (vgl. Helena 68-163, I. T. 467—577, Ion 238—368, Phoen. 355—442).

b) Das Gespräch zwischen Elektra und dem Pädagogen (560—77). c) Die Beratungsszene zwischen Orest, Elektra und dem Alten (596-698): Solche Beratungen von zwei oder drei Personen in stichomythischer Form kommen nur im Spätwerk

des Dichters vor

(vgl. Helena

1032ff.,

Ion 923 ff., 1. T. 1017 ff., Orest

1018 ff.).

Eine Neueinteilung der Verse Eur. El. 671 ff. versucht in Opposition zu Kirchhoff und Stoess] zuletzt V. di Benedetto, Hermes 89, 1961, p. 320 f. Er gibt 671---72 Orest, 673 dem Alten, 674—75 Elektra, 676 dem Alten, 677 Orest. Sicheres wird sich nicht ausmachen

lassen; doch scheint mir eine Lösung am besten, die den streng stichomythischen Charakter der Partie wahrt.

d) Das Gespräch zwischen den Geschwistern, in dem die Schwester die Bedenken des Bruders zu zerstreuen versucht (900 ff.). #7 Listmann, Die Technik des Dreigesprächs in der griech. Trag., Diss. Gießen 1910 stellt die ΕἸ. mit Tro., I. T. und Hel. in eine Gruppe. Vgl. auch W.Krieg, De Euripidis Oreste, Diss. Münster, 1934, p. 52 ff. ‘8 Sapheneia, p. 15 ff. und 26 ff.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

83

Bestreben bestimmt, den Botenbericht strengsten Formgesetzen zu unterwerfen und die mannigfaltigen inhaltlihen Nuancen durch eine klare Gliederung zu unterstreichen. Diese Sapheneia läßt sich als Stilprinzip nicht vor den Troerinnen nachweisen.

Wie

stark

es den

Grundriß

des Botenberichtes

der Elektra

beeinflußt,

wollen wir zu zeigen versuchen. Der Aufbau stellt sich folgendermaßen dar: I. Vorbereitung: II. Hauptteil: a) δ)

III. Schluß:

774-802 803-843 803-818 819-829

(Die Hdi. bis zum Schlachtopfer) (Opferhandlung u. Ermordung Aigisths) (Aigisth vollzieht das Ritual) (Die symbolische Vordeutung des Opfers auf die kommende Katastrophe) c} 830-843 (Der Vollzug der Katastrophe) 844—858 (Das Geschehen nach der Tat).

An diesem Grundriß fällt auf, daß der Vorbereitungsteil genau halb so lang ist wie der Hauptteil und das Nachspiel zusammen® (28 gegenüber 56 Versen) und der Mittelteil etwa so umfangreich wie die Seitenglieder (41 Verse zu 43 Verse) gerneinsam. Die Länge der einzelnen Teile ist demnach gemäß ihrer thematischen Bedeutung abgestuft. Das Kompositionsschema ist als dreiteilig-axialsymmetrisch zu bezeichnen. Die inhaltlich zentrale Szene bildet auch strukturell die Mitte und spiegelt in sich noch einmal den dreiteiligen Gesamtaufbau. Eine derartige Tektonik findet sich nur noch in den Botenberichten des Orest (866-956) und der Iph. Taur. (1327-1419). Euripides unterstreicht diese Gliederung noch, indem er im Unterschied zum Hauptteil, der zwei handelnde Hauptpersonen und einen detaillierten Erzählstil aufweist, im Schlußteil neue Personen (Diener Aigisths) ins Spiel bringt und mit raffendem Erzähltempo die einzelnen Stationen des Geschehens in gedrängter Form zusammenfaßt”®. 16. Die Jahre zwischen 415 und 410 (Tro. I. T. El. Hel. Ion) zeigen Euripides auf dem Höhepunkt seiner Neuerungen in der Prologtehnik?1. Es sind die Symptome einer die traditionellen Formen lockernden Prologtechnik spürbar, als deren Charakteristika sich herausheben lassen: Die Auflösung des Prologs in Vorspiel (monologisches Proömium als eine geschlossene, gegen das Übrige fest abgegrenzte Szene) und Arie; die Auflösung der Parodos in einen Wechselgesang, wodurch das Eingangslied des Chores seine Bedeutung als Zäsur zwischen Prolog und Beginn 49 Ein ähnliches Verhältnis zwischen Vor- und Hauptszene weist nur noch der dritte Botenbericht der Phoenissen (1428—79) auf, also auch eines späten Stückes. 70 Dieser Kompositionstypus hat eine verblüffende Analogie in der Botenszene des Ion (1122-1228). Vgl. dazu Ludwig, Sapheneia, p. 18. 71 Vgl. dazu manche wertvolle Beobachtung bei L. Méridier, Le prologue dans la tragédie d’Euripide, Paris 1911. M. Imhof, Bemerkungen zu den Prologen d. soph. und eur. Trag., Diss. Bern 1957, p. 38 ff. und 46 ff., kommt auf Grund einer Analyse der eurip. Prologtechnik zu wesentlichen Schlüssen hinsichtlich der Entwicklung der Prologform. Als Ergebnis schälen sich vier Gruppen von Dramen heraus (vgl. p. 109ff.), die jeweils einer fest umrissenen Periode zuzuordnen sind. Danach gehört die Elektra zusammen mit Hek. Tro. I. T. Hel. Ion in die Phase zwischen 420 und 410. 6*

84

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

des Dramas verliert; eine zunehmende Lyrisierung des Drameneingangs und damit zusammenhängend eine Steigerung der szenischen Wirkung”?. Keine dieser Erscheinungen fehlt im Prolog der Elektra’”®. In den späteuripideischen Prologen erfährt die Gestalt des xpoAoyitwv eine neue Prägung, die sich auch auf die Gestaltung der Eingangsrede auswirkt. Im Gegensatz zur Technik ın den Dramen vor 415 geschieht die Selbstvorstellung des Prologsprechers erst sehr spät (z.B. El. 34 ff.), da zunächst breit ausgesponnene mythhistorishe Fakten (El. 1-34) berichtet werden. Erst allmählich führt die Eröffnungsrede von der mythischen zur aktullen dramatischen Situation74. Eine stufenweise Intensivierung der emotionalen Beteiligung des Prologsprechers kennzeichnet sämtliche Prologreden dieser Schaffensperiode, eine Bewegung vom unpersönlichen Referat zur individuellen, lebendig empfundenen Ausdrucksform. (Vgl. EL V. 43 u. 47). Neben der Elektratragödie weisen noch Helena, Iphigenie auf Tauris und Orest diesen Prologstil auf: Eine Bestätigung unseres Datierungsvorschlags. 17. Aus der Entwicklung von Sprache und Stil bei Euripides lassen sich für die Datierung der Elektra Indizien gewinnen, die unsere These aufs wünschenswerteste stützen:

a) Wortschatz: Es läßt sich in der Elektra ein Wortschatz nachweisen, der ausschließlich auf Spätdramen beschränkt ist. Die Belege dafür sind entsprechend zahlreich, um chronologische Konsequenzen ziehen zu können”®. 78 So ist in den Spätwerken die Tendenz unverkennbar, den Prolog mit breit angelegten biotischen Stimmungsbildern zu füllen. Hierher gehören neben der Echoszene in der Andromeda, der Darstellung von Orests Krankenlager im Orest und der Teichoskopie in den Phoenissen auch die beschaulichen Morgenszenen zu Beginn von Elektra und Ion. 78 Hinzu kommt als wichtiger Datierungshinweis die enge Verwandtschaft zwischen Elektra und der Iphigenie auf Tauris bezüglich der Struktur des Drameneingangs. In beiden Stücken trennt ein scharfer Einschnitt den lyrischen Prologteil von dem iambischen, d.h. die Exposition der Handlung von der der Stimmung. Dabei fallen insbesondere die parallelen Einschnitte auf, welche in der Elektra die zum Dialog erweiterte Prologrede (54-81) von der dialogisch eingekleideten Rhesis Orests (82—111) und diese wieder von der anschließenden Monodie der Heldin (112ff.) trennen und welche analog in der Iphigenie den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Eingangsrhesis und Kommos durch die isolierte Stellung des Zwischenprologs (67—122; eine verkappte 2. Prologrede) unterbinden. Eine Tendenz zur Sonderung der verschiedenen Teile der Exposition — hier natürlich durch den Typus des Anagnorisisdramas bedingt, da die Exposition der Partner getrennt erfolgen muß — findet sich in dieser Form und Schärfe in keinem anderen Drama des Euripides. Der Gedanke an ein zeitliches Nahverhältnis zwischen Elektra und Iphigenie auf Tauris ist kaum von der Hand zu weisen. 14 Wie die Wandlung vom Prologsprecher zum agierenden Darsteller stufenweise vor sich geht, hat Riemenschneider, Held und Staat in Euripides Phoenissen, Diss. Würzburg 1940, p. 12 am Beispiel der Phoenissen gezeigt. 75 Wir stützen uns bei dieser Untersuchung

auf das Material, welches Breitenbach, Unter-

suchungen zur Sprache der eurip. Lyrik, Tüb. Beiträge, Heft 20, Stuttgart 1934, vorgelegt hat. 76. Im einzelnen siehe Breitenbach, der auch zeigt, daß sich bei Euripides weder aus der Häufigkeit der Neubildungen noch aus der Verwendung epischer oder aischyl. Wörter Anhaltspunkte für eine Datierung ergeben.

I. Die Datierung der euripideischen Elektra

b) Laut- und 1. Der Dorismus 2. Die altepische Tro. 538, 838,

85

Formenlehre: ἅμος findet sich neben EI. 555 nur noch in Hel. 531 Genitivendung — oıo begegnet fast ausschließlich in Spätdramen: El. 465, I. T. 1148, Phoen. 820, Orest 822, Hyps. col. I, 3, p. 51,6

(Arnim), I. A. 1069

3. Homerische Streckbildungen für Zahlbegriffe sind Charakteristika für späte Zeit:

δίπτυχος (Hel. 1287, El. 1238, I. T. 242, 474, 1289), ötyovos (EL. 1179), δίπαλτος

(1. T. 323), teiyovog (Ion 496), δεκάσπορος (Tro. 20), δωδεκάστολος (I. A. 271). c) Tropik: 1. Die Einkleidungsformel οἷος, οἷα, οἷον für Vergleiche findet sich mit Ausnahme von Hipp. 564 nur in Dramen der letzten Schaffensperiode: EI. 151, 863, Hel. 187,

1480, Or. 1404, 1492,

147977,

2. Die seit Pindar beliebte Verschränkung der Epitheta (Enallage), die beim späten Euripides beliebtes Stilmittel wird, ist in der Elektra häufig zu beobachten ”®. 3. Eine bestimmte Form der Synekdoche, nämlich die Bezeichnung des Teils durch das Ganze, ist auf Spätdramen beschränkt: El. 724, Ion 146, I. A. 1477, 1510, 1517.

4. Nur in Spätstücken (Her. Tro. El. I. T. Phoen. Or. I. A.) begegnet als besondere Form der Brachylogie der Fall, daß ein zusammengesetztes Adjektiv an die Stelle eines mit Adjektivattribut versehenen attributiven Genitivs tritt. d) Figuren: Von den Figuren des Verschweigens findet sich die Aposiopese fast nur in Spätwerken: Tro. 713, 845, El. 945, Hel. 156, I. T. 1232, Phoen. 751, Or. 26, 11449,

e) Musik: Euripides verwendet das volkstümliche Motiv des Refrains schließlich in Spätstücken: El. 112 ff. Ion 125 ff., Bakchen 827 ff. u. 992 ff.

aus-

Ziehen wir das Fazit aus dieser thematischen und formalen Analyse, so ergibt

sich für die Datierung des euripideischen Elektradramas als ziemlich sicheres Ergebnis: Die Elektra gehört der Gruppe der Spätdramen nach 415 an, die sich von den übrigen Dramen deutlich abgrenzen lassen. Eine Frühdatierung scheint uns danach ebenso ausgeschlossen, wie umgekehrt der aus der Anspielung der Dioskuren auf die sizilische Expedition gewonnene Ansatz von 413 bestätigt wird®®, Auch nach dem Vorstoß von Zuntz glauben wir ohne Bedenken feststellen zu können: Die Elektra des Euripide ist auf 413 zu datieren®t.

77 Vgl. Breitenbach, p. 164 f. 78 Vgl. Breitenbach, p. 182 ff. 7% Aus der Verwendung der Alliteration und der Anadiplosis läßt sich m.E. keine Datierungskriterium gewinnen. Anders Breitenbach (218 f.) und Kranz (231). 80 Einen terminus post für die Elektra des Euripides scheint mir die Parabase der zweiten Bearbeitung von Aristophanes Wolken zu liefern, die um 419 verfaßt sein muß (Wir besitzen einen festen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Abfassungszeit: terminus post ist Eupolis’ Marikas, aufgeführt an den Lenäen 421 wegen Nub. 553. Mit Geissler 46 f. und 49 f. wird man auch Hermippos’ Artopolides (420/19), Platons Hyperbolos (420/19) und Leukons Phratores (421) noch vor die Wolkenparabase setzen. Vgl. T.Kock, Ausξεν. Kom. d. Aristoph. Berlin 1894, Bd. I, p.31. Als terminus ante darf mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Ostrakisierung des Hyperbolos (Frühjahr 417) gelten). Aus den Versen 534—36 geht trotz des Widerspruchs von H. J. Newiger, Elektra in Aristoph.

86

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra Hier stehen wir bei der geringen Anzahl von überlieferten Dramen auf wesentlich unsichererem Boden als im Falle der Datierung des Euripidesdramas. Zunächst läßt sich nur die Zugehörigkeit des Elektradramas des Sophokles zu den beiden Spätwerken Philoktet (409) und Oed. Col. (posthum 402/401) nachweisen®2, ein Wolken, Hermes 1961, p. 422 ff. hervor, daß die aischyleische Fassung szene zwischen Or. und El. damals noch als die volkstümlichste galt der Parodie seitens des Euripides ausgesetzt war (Die Euripidespartie Wilamowitz, Friedrich, Freymuth und gegen Fränkel und Böhme für

der Erkennungsund noch nicht halten wir mit echt). Nach der

Wolkenparabase ist eine Datierung der El. d. Eur. auf 424-—-20, wie sie Zuntz

anstrebt,

unmöglich. Newigers Versuch, aus den Versen der Wolkenparabase (534—36) auf eine bereits aufgeführte eurip. Elektra zu schließen, halten wir für verfehlt! Wir stimmen ihm zunächst

nach dem Vorgang von R.Hacforth (Cl. Rev. 52, 1938, p.5ff.) darin zu, daß die Deutung der umstrittenen Verse im Sinne von Schol. Ven. ad. Nub. 534 unmöglich sein dürfte, da sie unlösbare Schwierigkeiten mit sich bringt. Es bleibt danach nur eine Erklärung mit Hilfe Schol. Rav. ad. Nub. 534. Das bedeutet, daß die Locke Orests nichts anderes als den Beifall der gescheiten Zuschauer bedeutet, den die Komödie jetzt sucht. Legt man diesen Vergleichspunkt als den einzig möglichen zugrunde, so scheint es unverständlih, warum Newiger zum Verständnis des von Aristophanes gebrauchten Bildes ein Vorausgehen der El. d. Eurip. postuliert. Die Verse Nub. 534—36 sind durch den Bezug auf Aischylos’ Choephoren durchaus verständlich. Insbesondere was den Vers 536 anlangt, scheint mir Newingers Deutung gesucht. Die Komödie, die in der Gestalt der aischyleischen Elektra auftritt, sucht nicht nur das Wohlwollen, sondern will

und wird es sogar erkennen (γνώσεται)! Das heißt: Aristoph. meint, er werde an dem kleinsten Zeichen leicht die gebildeten, seiner Darstellungskunst aufgeschlossenen Zuschauer herausfinden, die sein erstes Lustspiel schon freundlich aufgenommen hatten. Darin

liegt gerade die Pointe! Der Dichter will sich der Unterstützung seines Publikums nach dem Durchfall der ersten Wolken genau versichern! Der Vers 536 gehört also notwendig zum Verständnis der Absicht des Dichters hinzu und stellt nicht etwa nur eine schwache captatio benevolentiae dar, wie Newiger formuliert, der dann diesen Vers erst mit Hilfe einer unbeweisbaren Anspielung auf Eur. El. deuten kann. Eine solche Parallele bringt zudem erhebliche Schwierigkeiten mit sich, welche die von Aristoph. intendierten Analogien verwischen und so die Wirkung des Vergleichs zerstören. 1. Mit dem wie selbstverständlich gesetzten κατ᾽ ἐκείνην ᾿Ηλέκτραν spielt der Dichter deutlich auf die bereits kanonische Form der aischyleischen Elektrafigur an. 2. Es heißt von Elektra ausdrücklich: ξητοῦς᾽ NAdev. Das gilt nur von der Elektra der Choephoren und schließt eine Beziehung auf das Euripidesdrama um der Deutlichkeit der Anspielung willen aus. Die eurip. Heldin geht weder zum Grab noch sucht sie des Bruders Locke. 3. Das schlagartige Erkennen der Locken des Bruders paßt gleichfalls nur auf die aischyleischen Verhältnisse (vgl. Cho. 170). Bei Eur. erkennt El. nicht nur nicht den leibhaftig vor ihr stehenden Bruder, sondern weist auch den Evidenzcharakter der Zeichen entschieden zurück. 81 Über die zum Elektradrama gehörige Trilogie läßt sich nichts Sicheres ausmachen. Zuletzt vermutet R. Goossens, Euripide et Athènes, Brüssel

1962, p.564

A 2 folgende

Gruppierung: Elektra, Phaethon u. Melanippe. 82 Dieser Ansatz gilt heute als sicher, wenn man von solchen extremen Datierungsversuchen absieht, wie sie bei M. Croiser, Oidipe roi de Sophocle, Paris 1931, und Kuiper, De Ontwikkelingsgang der Griekse Letterkunde, Haarlem 1914, p. 114 zu finden sind.

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

87

sehr vages Ergebnis, das wir aber später präzisieren zu können glauben. Für den Spätansatz sprechen folgende Kriterien®: 1. Die metrische "Technik weist auf eine Spätdatierung: Die Häufigkeit der Antilabe im iambischen Trimeter ist ein Charakteristikum des späten Sophokles. Dieser Personenwechsel begegnet in der Elektra 27 mal, im Philoktet 30 mal und im Oed. Col. 52 mal. Diesen Stücken kommt am nächsten der Oed. Rex mit nur 12 Fällen, während die Antigone nur zehn und die Trach. ganze zwei Beispiele aufweisen. Außerdem ist in der Elektra der Vers 1502 so auf zwei Personen verteilt, daß er ın drei Teile (aba) zerfällt. Diese seltene Form der Antilabe begegnet sonst nur im Philoktet (753, 810, 814, 816) und im O.C.

(832),

Unvermischte, melische Klageanapäste, die durch Häufung der Katalexe, Spondeen und molossischen Klauseln charakterisiert sind, begegnen neben Soph. El. (Monodie 86—120 u. zweite Strophe des Wechselgesangs 850 ff.) innerhalb der griechischen Tragödie nur in Stücken um und nach 415, wie in den euripideischen Dramen

Tro., Ion, I. T.85.

2. Das sophokleische Elektradrama trägt Spuren der neulyrischen "Tendenz der späten zwanziger Jahre®® in einem Ausmaß, daß eine Datierung vor 420 kaum möglich scheint, dagegen ein Ansatz um 415 als sehr wahrscheinlich gelten kann: a) Die Elektra bildet das einzige Stück des Sophokles, in dem eine Einzelperson (Elektra) noch vor der Parodos eine Klagemonodie in Anapästen singt. Dieser Typus der Klagearie hat seine Parallele nur in den mittleren und späten Euripidesdramen wie Androm., Hek., Tro., El. Ion. b) Die Parodos der Elektra ist als Kommos zwischen Heldin und Chor gestaltet. Entsprechendes findet sich auch im Phil. und O.C. c) Kommatische Parodos mit vorausgehender Monodie findet sich neben Soph. El. nur noch in den nicht vor 415 anzusetzenden Euripidesstücken Tro., El, Ion,

Hyps., wobei die Parallelität zwischen Soph. El. und Eur. Tro. besonders auffällig ist, da in beiden Stücken auf eine anapästische Monodie ein melischer Kommos mit systematischem Bau folgt (in Soph. El. allerdings ohne Epode)®?.

8 Vgl. dazu manchen guten Hinweis bei Jebb, Komm. Soph. El. p. LVI, Perrotta p. 364 fl. und U. ν. Wilamowitz, p. 242 ff. 84 Im O.R. finden sich zwar zwei Trimeter mit dreifacher Brechung (655, 684). Dabei teilen

sich aber Chor und Schauspieler in den Vers. 8 Alle übrigen metrischen Beobachtungen (Trimeterauflösungen, stellvertretende Anapäste, Zerreißung des anap. Dimeters, stichisher Gebrauch des Hexameters, die Verwendung von Dochmien, der einsilbige Verschluß, Verkürzung des langen Auslautvokals vor vokalischem Anlaut in den Anapästen) wie sie z.B. von Dieterich, Rh. Mus. 1891, p. 43 ff. u. Zielinski, Phil. 1896, p. 622ff. benutzt werden, können m. E. nicht als Datierungskriterien in Anspruch genommen werden. ® Dazu

vgl. W. Nestle, Die

wood, p. 182.

Struktur d. Eingangs, Tüb. Beitr. 10, 1930, p. 124 ff. u. Kirk-

81 Diese enge Verwandtschaft mag auf zeitliche Nähe deuten, zumal beide Monodien zum Unterschied 2. B. zur Hekabe auf leerer Bühne gesungen werden.

88

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

d) Die Parodos der Elektra hat eine Länge von 128 Versen. Ähnlich umfangreiche Auftrittslieder des Chores findet man nur in ausgesprochen späten Stücken wie im ©. C. des Sophokles und I. T., Bak., I. A. des Euripides.

e) Unter dem Einfluß des Neudithyrambus weist die Parodos der sophokleischen Elektra eine polymetrische Form auf. Aolishe Maße wechseln mit Jamben und Daktylen. Vergleichbare Partien gibt es bei Soph. nur im Philoktet und in der Parodos des ©. C., bei Euripides in der Epode der Bakchenparodos und in einzelnen Monodien der Phoenissen, der beiden Iphigenien und des Orest, vor allem in der Kastratenarie im Orest (1369-1502).

f) Das Amoiboion zum Abschluß der Anagnorisis (1232-87) hat die sophokleische Elektra mit I. T., Hel. u. Ion gemeinsam®®. g) Reine Chorlieder werden in der Zeit um 415 seltener. In der Elektra des Sophokles finden sie sich noch an drei Stellen (472-515, 1058-97, 1384-91). An die Stelle des geschlossenen Stasimons tritt häufig ein lyrisches Duett zwischen Schauspieler u. Koryphäus. Diese Form des μέλος ἀπὸ σκηνῆς verbindet die Elektra des Sophokles (824-70) mit dem Philoktet (1170 ff.) und dem O. C. (178 ff., 510 ff.

u. 1677 ff).

h) Mittel ist ein nur in

902).

Die rhythmische, gedankliche und bisweilen auch sprachliche (durch das der Apostrophe) Isolierung der Epode des Chorliedes vom Strophenpaar typisches Kennzeichen des „späten Stils“ und begegnet neben Soph. El. 472 späten Dramen des Euripides: vgl. Ion (492, 714), I. A. (543) u. Bak. (135 u.

3. Auf Grund der Entwicklung der stihomythischen Technik des Sophokles läßt sich ein sicheres chronologisches Indiz gewinnen. In den späten Dramen fördert die kurze Wechselrede in immer stärkerem Maße die Handlung. Die Stichomythie entwickelt sich zur beherrschenden Dialogform. In der Elektra scheint uns diese Entwicklung schon sehr weit vorangeschritten zu sein, da fast alle entscheidenden Szenen die Form der Stichomythie tragen: Die beiden Auseinandersetzungen

zwischen

den

Schwestern,

der

Agon

zwischen

Mutter

und

Tochter,

die Gespräche zwischen Klytaimestra und dem Boten”bzw. zwischen Orest und seiner Schwester. Besonders die letzte Szene zeigt eine virtuose Beherrschung dieser Technik: Ein zwingendes Indiz für einen Spätansatz, wenn man den O.R. formgeschichtlich zum Vergleich heranzieht. 4. Elektra, Philoktet und Od. Col. weisen gegenüber den früheren Dramen eine größere Reife in der Technik des Dreigesprächs auf®®. In der Elektra wird das besonders

deutlich in den

ein Vergleich mit O.R,

Partien

660-679,

766-822

u. 1339—83.

Wieder

den formgeschichtlichen Abstand auf. Zwar kommt

deckt

die

8 In diesen Freudenkommoi singt der weibliche Partner, der männliche spricht in Jamben. Ähnliche Form zeigt in Soph. El. auch die zweite Strophe des letzten Liedes (140340): Elektra singt, eine Gruppe von Personen redet in Sprechversen. 80 Sonst darf man

Kranz,

Stasimon, p. 174, zustimmen, wenn er feststellt, daß sich „eine

Stilwandlung der Chorlieder (bei Soph.) nicht von dem Grade erkennen läßt, daß die spätesten einer völlig neuen künstlerischen Epoche zuzuweisen wären.“ » Gute Beobachtungen zur Technik des Dreigesprächs finden sich bei J. Heinz, Zur Datierung d. Trach., Hermes 1937, p. 279 ff.

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

89

Form des entwickelten Dreigesprächs auch einmal im ersten Odipus vor (Iok., Od., Kreon). Daneben findet sich dort aber noch ausgeprägt die alte, vom Aias her bekannte Technik der Reihung von mehreren Dialogen zwischen drei Personen®!, die in der Elektra bereits deutlich überwunden ist®. 5. Die Betrachtung der sophokleischen Prologform (hier im weiteren Sinne verstanden als Bezeichnung aller Szenen bis zur Parodos) gewährt wichtige formgeschichtliche Einblicke, die auch chronologisch auszuwerten sind. Es läßt sich die deutliche Tendenz einer Entwicklung des Prologes von einem in sich geschlossenen Vorspiel zu einer auch formal fest mit dem Beginn der Handlung verknüpften Eingangsszene erkennen. Unter diesem Gesichtspunkt schließen sich die drei späten Dramen

(EI. Phil. O.C.)

eng

zusammen,

da

in ihnen

durch

die Auflockerung

der geschlossenen Parodos in einen Wechselgesang ein fließender Übergang zwischen Prolog und Handlungsbeginn erreicht 1.198, Damit tragen die Parodoi dieser Trias ım Gegensatz zu den übrigen Stücken entschieden den Stempel der Aktivität, weil

im Kommos

eine Person des Dramas

dem Chor nicht nur an die Seite tritt,

sondern sogar die führende Rolle im Wechselgesang erhält: In der Elektra beherrschen die Klage und der Wunsch nach Rache die Parodos und leiten damit fließend zu den folgenden Szenen über, die vom gleichen Leitmotiv beherrscht werden. Der Auseinandersetzung mit dem Chor folgen geradlinig die Begegnungen mit Schwester und Mutter”. Die gleiche enge Verbindung der Parodos mit der Handlung zeigen auch Phil. und O.C.

51 Wenn auch nicht mehr in der starren Form; die einzelnen Dialoge fließen glatter ineinander über. ®2 Man beachte z.B. im O.R. die Verspartien 928—1073 bzw. 1123 ff. Dort entwickelt sich kein echtes Dreigespräch, da die drei Personen nicht als eine Gruppe sprechen, sondern der Dialog von je zwei Teilnehmern von dem Einsatz des dritten deutlich abgesetzt ist. Die Gesprächsfolge stellt sich deshalb so dar: Bote-Iok., Oed.-Iok., Oed.-Bote, Oed.-Iok.,

Oed.- Bote, Oed.-Iok. Wenn dagegen in der Elektra ein Dreigespräch vermieden wird, so ist das Verstummen der dritten Person immer motiviert, wie z. B. in der Szene zwischen

El. u. Aigisch, wo Orest die Intrige nicht gefährden darf. 95 Dabei fällt auf, daß Prolog u. Parodos jeweils getrennt die Exposition der äußeren bzw. inneren Handlung leisten. Besonders ausgeprägt in der Elektra, wo die Prologrede mit der Exposition der Intrige den äußeren, Arie und Parodos dagegen den inneren Handlungsträger (Elektra) exponieren. So werden Spiel und Gegenspiel, die später das innere Gefüge der Handlung bestimmen, aufeinander zugeführt. % Innerhalb der Parodos des Philoktet unterscheiden wir drei Teile: im ersten (135—68) erhalten die den Chor bildenden Schiffsleute des Neoptolemos von ihrem Herrn genaue Anweisungen für die bevorstehende schwierige Aktion. Der zweite Teil (169-190) bildet eine Ruhepause innerhalb des dramatisch bewegten Ganzen. Der Chor beklagt das Elend des Philoktet, das ihm eben zum erstenmal vor Augen getreten ist. Im dritten Teil setzt sich mit der Annäherung des Helden selbst die Handlung fort. Lebhaft bewegt ist auch die Parodos des zweiten Oedipus (117—235). Jener ξένος, der den greisen Bettler zuerst im Hain der Eumeniden entdeckt hat, hat auf seinem Weg zum Landesherrn (V. 297 f.) die Bürger des Gaues Kolonos herbeigerufen, damit sie vorläufig über das weitere Verweilen des Alten an heiliger Stätte entscheiden sollen. Voll Entrüstung über die Entweihung des Haines eilen jene sofort herbei, um den Frevler zu vertreiben. Dieses Suchen und die folgenden Verhandlungen mit Oedipus, die dazu

90

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

Dadurch verliert der Prolog in den Spätdramen seine früher relativ selbständige Stellung und wird zum Handlungsträger®, zu einem ersten Akt des Geschehens. So wird in der späten Schaffensperiode des Sophokles das Ideal einer formalen und funktionalen Einheit des Dramas angestrebt. Den gewaltigen Abstand zu der Frühform der Prologtechnik kann ein Blick auf die Antigonetragôdie deutlich machen®, Die für die Spätstücke charakteristische gedankliche Einheit des Prologs gestattet eine kontinuierliche Steigerung des Pathos innerhalb des Prologs. Unter diesem Aspekt muß man das Elektradrama vom O.R. trennen, dessen Prologstruktur nicht von einer Intensivierung des Pathos, sondern höchstens von einer Forcierung der Spannung bestimmt wird, und in die Nähe des Philoktet (409) rücken. In der Elektra stellt das Gebet der Heldin in der Monodie eine steigernde Parallele zum Gebet Orests im Prolog dar (67-72). Die Auseinandersetzung mit den Frauen des Chores in der Parodos eröffnet gegenüber der Monodie einen tieferen Aspekt des Leides der Heldin: Aus der in der Monodie im Übermaß des Leidens fast Resignierenden (V. 119) wird eine bedingungslose Verfechterin des Rachegedankens (245—50). Im Philoktet ist die Steigerung des Pathos in die chorischen Partien des Kommos verlegt. Furcht und Anteilnahme wachsen zusehends. Im Odipus auf Kolonos wird das tragische Schicksal des Helden dem Zuschauer in einem allmählichen Crescendo plastisch vor Augen geführt. Von den ungeduldigen Fragen im eröffnenden Dialog führt der Weg über das Schlußgebet bis zur Schilderung der Vergangenheit des Odipus im Kommos. Hinsichtlich der Prologtechnik darf man noch anführen, daß die äußere Szenerie der Handlung in den späten Dramen wesentlich das Ethos der Eingangsszene bestimmt. Während Aischylos und der frühe Sophokles die Ortsbezeichnung nur beiläufig in die Eingangsrhesis einflechten®”, treten vom Elektradrama ab die örtlichen Verhältnisse in eine enge innere Beziehung zu den handelnden Personen. Die Szenerie wird führen, daß der greise Dulder dem Verlangen des Chores nachgibt, bieten so einen Anknüpfungspunkt für die folgende Handlung. % Vgl. dazu M. Imhof, Bemerkungen zu d. Prol. d. soph. u. eurip. Tragödien, Bern 1957, p. 20.

% Die Parodos der Antigone hebt sich von den zur Spätphase gehörenden Auftrittsliedern entschieden ab. Sowohl vom Aspekt der Stimmung wie dem der Handlung aus kann man hier kaum von einer Einheit des Prologs sprechen. Die Parodos steht isoliert. Die Stimmung, die das Aufzugslied beherrscht steht in schneidendem Kontrast zur Wirklichkeit des Dramas überhaupt (Tod von drei Personen an dem mit Jubel begrüßten Siegestag) u. im besonderen zur unmittelbaren vorausgehenden Eingangsszene: dort die leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen den beiden ungleichen Schwestern, von denen die eine gegen das brutale Verbot Kreons mit der ganzen Kraft schwesterlicher Liebe sich auflehnt, während die andere das neue Unglück ihres Hauses mit stiller Ergebung zu tragen bereit ist; hier ein triumphierender Siegesgesang, ein wildes Schlachtgemälde. Von einer Rücksichtnahme auf die Handlung, die durch den Prolog eingeleitet ist, ist also in

der Parodos keine Spur zu finden. Die relative Selbständigkeit der Parodos der Antigonetragödie wird

noch dadurch

unterstrichen, daß sie an die Vorgeschichte

der Handlung

anknüpft und damit die unmittelbar vorausliegende Entwicklung des Dramas ignoriert. " Vgl. dazu W. Nestle, Die Struktur des Eingangs in der att. Trag., Tüb. Beiträge, 10, 1930, p. 44.

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

οἵ

ethopoietisch wirksam. Sophokles erreicht diese lebendige Expositionsform jeweils dadurch, daß eine Person einer zweiten die örtlichen Verhältnisse beschreibt (In der Elektra der Pädagoge dem Orest, im Philoktet Odysseus dem Neoptolemos, im O.C. Antigone dem blinden Odipus). So wird die Beschreibung von Argos dem jungen Orest zum lebendigen Symbol für die Notwendigkeit der Rache an den Mördern des Vaters. Argos wird zugleih zum sinnfälligen Ausdruck des Rechtsanspruchs des Rächers. Im O.C. beschreibt die Tochter dem blinden Vater den Hain der heiligen Göttinnen, der für Odipus nach dem Weg seines Elends schließlich gemäß dem Spruch des Orakels Stätte des Friedens und der Erhöhung sein wird. Wir fassen zusammen: Die Prologtechnik des sophokleischen Elektradramas beweist deutlich den Abstand zwischen Elektra und dem ersten Odipus und legt eine Datierung der Elektra in die Nähe des Philoktet (409) nahe. 6. Ebenso wie durch metrische und stilistische Aspekte®® wird unsere zeitliche Einordnung des sophokleischen Elektradramas auch durch eine Betrachtung der Struktur bzw. der Motivik und Thematik gestützt. Daß sich die Dramen Aias, Antigone und Trachinierinnen bezüglich ihrer Komposition von O.R. und den drei übrigen Stücken deutlich abheben, dürfte heute nach den Ausführungen Websters kaum noch bezweifelt werden können®. Danach ist das Kennzeichen der frühen Werke ein zweiteiliges Kompositionsschema. Durch den Tod des Helden (Aias, Antigone, Deianeira) wird im Ablauf des Geschehens jeweils eine deutliche Zäsur gesetzt, welche das Drama in zwei gesonderte Handlungsstufen ,aufspaltet“ 10, Diese diptychische Kompositionsform der frühen Werke wird von dem Formprinzip einer straffen Einheit des Aufbaus abgelöst, das mit einer neuartigen zentralen Stellung der Hauptperson innerhalb des Geschehens zusammengeht. Wie im Philoktet so schließt sich auch in der Elektra das gesamte Geschehen um die zentrale Figur zusammen, die nach dem Auftritt die Bühne nicht mehr verläßt und deren Wesensentfaltung die Aktion des Dramas ausmacht. Man wird an dieser Stelle den Rahmen der Interpretation etwas weiter spannen müssen, um die Konsequenzen dieser bedeutsamen formgeschichtlichen Wandlung ermessen zu können. Der für die Spätstücke charakteristische Kompositionstypus hängt nämlich aufs engste mit einem veränderten Handlungstypus zusammen, dem eine neue Vorstellung von innerem Geschehensablauf zugrundeliegt. Kurz gesagt: Das, 58. Aus der Arbeit von F. Earp, The Style of Soph., New York, 1945, läßt sich nur gewinnen, daß El. zwischen O.R. u. Phil. anzusetzen ist. Andere formale Kriterien (Elision, Krasis, Synizese, Enjambement) liefern widerspruchsvolle Ergebnisse. Vgl. Siess, Chronolog. Unters. zu den Trag. d. Soph., Wiener Studien 36, p. 244—94 u. 37, p. 27—62. # Webster, Introduction, p. 102; Kirkwoods jüngste Bedenken (p.293), Soph. könne zu jeder Zeit seines dichterischen Schaffens Stücke diptychischer Kompositionsform geschrieben haben, haben kein Gewicht. Man darf nämlich nicht übersehen, daß Unterschiede künstlerischer Art, wie sie in der verschiedenen Struktur von Dramen transparent werden,

letztlich immer Ausdruck einer prinzipiellen Entwicklung der tragischen Gesamtkonzeption des Dichters sind und insofern Schlüsse auf die Chronologie zulassen. 19 E.R.Schwinge will auch in der Gestaltung der Diptychonform noch „einige Differenzierungen“ herausarbeiten und von da aus die Priorität der Trach. vor der Antigone beweisen. Anders J. Heinz, Zur Datierung der Trach., Hermes 72, (1937), p. 277.

92

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

was Aristoteles in seiner Poetik als konstitutives Element der dramatischen Dictung unter dem Begriff πρᾶξις zusammenfaßt, stellt sich beim frühen und späten Sophokles verschieden ausgeprägt dar. In den diptychischen Tragôdien Aias, Antigone und Trachinierinnen hat die Handlung, die zu Beginn einsetzt, im ersten Dramenteil bereits einen vorläufigen Abschluß gefunden, als die gleiche Handlung nach der Zäsur jeweils eine sichtbare Richtungsänderung erfährt und auf ein scheinbar neues Ziel zustrebt. Wir betonen scheinbar, weil gerade erst in der kontrapunktischen Spannung zwischen den beiden „Teilstücken“ die höhere kompositorische wie auch gedankliche Einheit des Dramas begründet liegt. Besonders deutlich wird diese Technik in den beiden Doppelschicksalstragödien Antigone und Trachinierinnen, wo Schicksal und Gegenschicksal gerade durch ıhre Isolierung (Herakles trifft z.B. Deianeira nicht mehr lebend an) den tragischen Einheitsbezug herstellen!%!. Gemeinsam ist allen drei Tragödien die einheitliche Funktion der nach der Zäsur einsetzenden zweiten Handlungsstufe. Ihre Bedeutung liegt in ihrem Enthüllungscharakter, der zum Schluß des Geschehens, die tragische Verwicklung durchleuchtend, dem Zuschauer wie den Akteuren zu einem vorher verwehrten Sehen verhilft. Damit wird der gedankliche Bogen zum ersten Handlungsabschnitt gespannt. Die restitutive Funktion garantiert die Einheit des Stückes!®, Von dieser Form der Handlungsführung setzen sich die übrigen vier Tragödien O.R., EL, Phil. u. O.C. deutlich ab. Die Handlung entwickelt sich nun stufenweise, aber stetig in Richtung auf einen festen Fixpunkt. Diese strenge Kontinuität kennt keinen zäsurartigen

Neuansatz,

wie er in den

Dramen

begegnet, sondern läßt nur Hindernisse zu, die sich dem

Ablauf

des

Geschehens

in

den

Weg

stellen,

aber

überwunden

frühen

geradlinigen werden.

Das

Handlungsziel steht seit dem exponierenden Prolog unverrückbar fest: Im O.R. die Aufdeckung und Bestrafung des Laiosmörders, in der Elektra die Rache an den Agamemnonmördern, ım Philoktet die Beteiligung Philoktets mit seinem Bogen am Krieg um Troia und im zweiten Odipus die Aufnahme des alten Odipus in Attika und sein Eingang in das erhöhte Dasein eines Heros der Polis.

101 Im einzelnen ist dazu zu den Dramen auszuführen: Im Aias wird der erste Abschnitt der

Handlung ganz vom Thema der Schuld und des Selbstmordes des Helden beherrscht. Nach dessen Vollzug rückt aber ausschließlich der Bestattungsstreit in das Zentrum, durch den das Verhältnis des Aias zu den Göttern seine versöhnende Klärung erfährt.

In der Antigone steht die verbotene Bestattung des Polyneikes, die Ermittlung u. Bestrafung des Täters zunächst im Mittelpunkt des Geschehens. Nach dem Tod Antigones folgen mehrere Szenen, die dazu dienen, die Verblendung Kreons zu enthüllen. In den Trachinierinnen endet der gegen den göttlichen Willen (bekundet durch das Orakel) gerichtete Versuch der Heldin, die Liebe des Gatten zu retten, mit einer Katastrophe.

Als Hyllos seine Nachricht überbringt, begeht Deianeira Selbstmord. Damit hat das äußere Geschehen einen ersten Abschluß gefunden. Der Schluß des Dramas bringt den Auftritt des sterbenden Herakles und die Enthüllung des bis dahin unbekannten Orakels. 102 So eröffnet der zweite Dramenteil im Aias eine tiefere Einsicht in das Verhältnis des Helden zu den Göttern, in der Antigone und in den Trachinierinnen das enthüllende Selbstverständnis des Kreon bzw. des Herakles. Am

Ende steht hier das γνῶϑι σαὐτόν,

die Einsicht in die eigene Verblendung bzw. in die tragische Gebundenheit der eigenen Existenz.

11. Die Datierung der sophokleischen Elektra

93

Diese Divergenzen in der Struktur wie der Handlungsführung!®® zwischen Früh- und Spätwerk möchten wir im Sinne einer formgeschichtlichen Entwicklung verstehen, nach der die Elektra eindeutig zur Spätphase gehört. 7. An dieser Stelle dürfen wir die grundlegenden Interpretationen von K. Reinhardt zur Stütze heranziehen, der auf dem Weg einer entwicklungsgeschichtlichen Deutung der sophokleischen Tragik nachweisen konnte, daß die Elektra zusammen mit dem Philoktet und dem Odipus auf Kolonos in Dialoggestaltung und Szenenführung die Wesenszüge eines gereiften sophokleischen Altersstils aufweist 104. 8. Hinzu kommt in den drei späten Dramen eine veränderte Auffassung des Dichters vom Leiden des Menschen und vom Wesen der Tragik überhaupt!%, die nicht mehr wie früher allein eine Folge eines direkten Eingreifens der Götter ist, sondern mehr in einer gesteigerten menschlichen Eigenkraft ihren Grund hat, ohne daß dabei aber die göttliche Orientierung fehlt. Die Tragweite dieser Entwicklung, die ihrerseits wieder nur die notwendige Konsequenz der oben angedeuteten Emanzipierung der Menschen aus dem isolierenden Griff des Göttlichen und einer vom Frühwerk deutlich unterschiedenen Wirkungsweise des Göttlichen (insbesondere des Orakels) darstellt, scheint mir bisher noch nicht richtig erkannt zu sein, sieht man einmal von den jüngsten, grundiegenden Ausführungen Dillers ab, die wesentliche neue Impulse zu einer Deutung des späten Sophokles liefern 106, Das Hauptmerkmal wird m. E. bei einem Vergleich der tragischen Problematik in den Dramen Elektra/Philoktet einerseits und ©. R. andererseits deutlich. Sowohl in der Elektra wie im Philoktet steht im Zentrum des dramatischen Geschehens vorwiegend das Leid des Helden, in das er durch den Trug seiner Gegenspieler in Form einer Intrige immer tiefer hineingestoßen wird. Leiden wird hier im Raum mensclicher Verursachung sichtbar, welche in das Schicksal eines Helden eingreift, dessen Charakter durch höchste menschliche Individualität und dessen äußere Lage bereits vor Beginn der Intrige durch ein Höchstmaß von Isolation gekennzeichnet ist. Tragik stellt sich nicht mehr so sehr als die Tragik des Täters dar, dem sich zerstörerische göttliche Mächte entgegenstellen und der in wahnhafter Blindheit, aber auch aus höchstem Aretestreben handelnd in diesem Kampf zerbricht (Aias, Kreon, Deianeira, Herakles u. Odipus), sondern die Tragik des späten Sophokles nimmt die Form des reinen Leidens an, das dadurch hervor-

108 Wir glaubten, diese Ausführungen etwas breiter anlegen zu müssen, weil der Begriff der Handlung

bei Sophokles

in den meisten Deutungen

der letzten Zeit unserer Meinung

nach zum Schaden der Gesamtinterpretation vernachlässigt wird. Hier scheint uns auch ein möglicher Ansatz zur Kritik der Reinhardtmonographie zu liegen, wo doch wohl der Begriff der Situation das Moment der Handlung, von dem die dramatische Dichtung lebt, zu sehr in den Hintergrund drängt. Situation hat den Charakter des Stationären, Handlung lebt von der verknüpfenden Dynamik. 104 Vgl. auch die Beobachtungen zur Chronologie des soph. Gesamtwerkes bei T. B. L Webster, Plotconstruction in Sophocles, Class. Rev. 1932, 14650.

106 Hier verdanke ich meinem Lehrer H. Patzer wertvolle Anregungen. 105. Diiller,

Göttliches

u. menschliches

Wissen

Menschendarstellung u. Handlungsführung

p- 1578.

bei

Soph.,

Kiel

1950,

p. 22

und

bei Soph., Antike u. Abendland,

Diller,

6, 1957,

94

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

gerufen wird, daß der edle Mensch (γενναῖος) allein inmitten einer Welt des Niederen und Gemeinen nicht mehr angreift, sondern sich in klarer Erkenntnis der Bedrohtheit der Ordnung und seiner Aufgabe gegen ein Übermaß des Bösen wehrt und damit, seine gefährdete Lebensmitte wahrend, seine Arete entfaltet. Im schließlichen Sieg bestätigt der Held sich und das Göttliche. War in den Frühdramen bis zum ersten Odipus der Mensch in Verblendung befangen und gründete somit sein Leiden in einem Verfehlen der göttlichen Wahrheit, so befinden sich Elektra bzw. Philoktet in einem Irrtum gegenüber einem Trug (Intrige), in den sie durch menschliche Ränke verstrickt sind. Der Mensch steht nicht mehr dem Gott, sondern dem Menschen gegenüber, dessen Handlungsbereich bis zur Inszenierung einer Intrige erweitert ist, deren Aufgabe es sein soll, die tragische Situation der Helden zu enthüllen. Diesem größeren Gewicht menschlicher Aktivität entspricht ein Zurücktreten des göttlichen Einflusses. Die Götter ziehen sich aus dem Menschengetriebe zurück und treiben nicht mehr von innen an, sondern

lenken

nur

noch

auf

weite

Sicht.

Damit

verliert

auch

das

Orakel!,

durch das das Göttliche in den Frühdramen bestimmend eingreift, an Bedeutung und bleibt zunächst auf eine das Geschehen auslösende Funktion beschränkt. Während in den frühen Schicksalstragödien1% der Mensch sich dauernd mit einem Götterwillen

auseinanderzusetzen hat, der in beinahe aischyleischer Weise

direkt

zuschlägt und sich gerade der menschlichen Arete zu seinem Durchbruch bedient, erscheint

das

Göttliche

in den

drei

Dramen

El. Phil. u. O.C.

„nur

noch“

als

güriger, fern wirkender Löser verwickelter Situationen (vgl. der Deus ex machina im Phil.). An die Stelle der früheren Verblendung und der damit gesetzten Katastrophe tritt der menschliche Irrtum, nach dessen Beseitigung göttliches und menschliches Handeln im Einklang stehen!®, Insofern bleibt trotz aller aufgewiesenen 107 Die zentrale Bedeutung, die dem Orakel als Kundgebung des göttlichen Willens im Werk des Soph. zukommt, arbeitet zuletzt E. R. Schwinge, Die Stellung der Trach. im Werk des Soph., Diss. Hamb. 1960, p. 115 ff. gut heraus. Indem er die jeweilige Funktion des Orakels im Dramenganzen untersucht, gewinnt er chronologische Kriterien, die den tiefgreifenden Unterschied zwischen den 4 frühen und 3 späten Dramen unterstreichen. Für unsere Fragestellung scheint wesentlich, daß sich auch innerhalb der drei Spätstücke

noch gewisse Differenzierungen bezüglich der Stellung des Orakels erkennen lassen, die für eine genauere zeitliche Fixierung der Elektra nicht ohne Bedeutung sein dürften u. unseren eigenen, noch zu entwickelnden Ansatz vollauf bestätigen. Es zeigt sich näm-

lich, daß El. u. Phil. ganz eng zusammengehören und sich teilweise vom ©. C. abheben. Hatten sich die Götter in EL u. Phil. ganz weit zurückgezogen, so gewinnen sie imO.C.

eine z. T. völlig neue Bedeutung. Zwar hat der Dichter auch hier das schicksalsetzende Eingreifen des Gôttlichen, wie es für die frühen Tragödien charakteristisch ist, aufgegeben, aber dieses Göttliche ist hier identisch mit dem „Bereich, in den das menschliche Geschick einmünder u. zuletzt in die Gestalt des Oedipus völlig übergeht“ (Schwinge p- 155). Das Göttliche wird nun in der Weise wirksam, daß es das Menschliche in einer ganz neuen Form der Begegnung (neu auch gegenüber El. u. Phil.) in seinen Raum einbezieht.

1% Den Unterschied der theologischen Idee in den Spätwerken gegenüber der in der Schicksalstragik der frühen Jahre zeigt Reinhardt (p. 160 f. u. p. 187 f.) auf. 1® Daß für die drei Spätdramen das Charakteristikum eines glückhaften Ausgangs in

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

95

tiefgehenden Wandlung auch im sophokleischen Spätdrama eine theologische Orientierung erhalten, so daß es geradezu einem Verkennen der Entwicklungstendenz gleichkäme, von einer Profanierung der tragischen Konzeption im Spätwerk des Sophokles zu sprechen!!%. Die Welt, in der die Götter aus der Ferne wirken, ist ja keine entgötterte Welt. Der vorgegebene Götterwille setzt sich auch in Elektra und Philoktet durch. Der Dichter hat nur die Akzente in Richtung auf eine intensivere Deutung des Menschen als eines selbständigen Faktors im tragischen Kräftespiel verlagert!!1, Wesensentfaltung der Hauptperson macht die eigentliche Aktion des Dramas aus, wobei die Wirkung dieser gesteigerten Individualität des Helden sich auch dem Gegenspieler mitteilt, welcher erst sehend wird, als der Held ihm seine wahre φύσις enthüllt: So eröffnet sich jeweils dem Orest und dem Neoptolemes im Erleben (besonders deutlich zu Beginn der Anagnorisis in der Elektra) des Leidensbios der Zentralfigur ein tieferes Verständnis des Geschehens. Damit sind wir an einem für das Verständnis der späten Tragik bei Sophokies entscheidenden Punkt angelangt: Eine den frühen Werken bis einschließlich Odipus Rex noch fremde Kraft greift in den Handlungsablauf ein, das Humane,

welches nicht nur in einer neuen Form des menschlichen Leidens, sondern

ebenso in einem Gefühl gegenseitiger menschlicher Verbundenheit und Schicksalsgemeinschaft seinen Ausdruck finder!!2,

in gleihem Maß Geltung hat, wird man kaum behaupten können. In der El. liegen die Verhältnisse komplizierter: Glücklich endet das Geschehen nur insofern, als die Agamemnonkinder die ihnen zustehende rechtliche Position wiedergewinnen und gemäß dem Apollbefehl ihren Vater sühnen. Höchst tragisch scheint dagegen der Ausgang hinsichtlich der Situation Orests als eines Muttermörders. Dieser letzte Aspekt ist aber, wie wir oben gezeigt haben, für Sophokles aus innerdramatischen Gründen irrelevant. 110 Deshalb scheint uns Schwinge in seiner Analyse über das Ziel hinauszuschießen, wenn er p.148 betont, in El. u. Phil. spiele sich „vor dem göttlichen Hintergrund ein rein menschliches Geschehen“ ab. Die Wirkung der divine action versucht grundsätzlich richtig auch Kitto, Sophocles, Dramat. and Philosopher, London 1959, für das Spätwerk des Dichters zu retten; er verfällt aber in den Fehler, ihr einen viel zu großen Wirkungsbereich einzuräumen. Auf diese Weise wird der Unterschied zwischen frühen u. späten Tragödien gänzlich verwischt. 111 Am klarsten scheint mir die Deutung von H. Patzer, Die Anfänge der griech. Tragödie, Wiesbaden 1962, p. 161 f., der von seinem fruchtbaren Ansatz einer theologischen Para-

deigmatik des Dithyrambus her die menschlich-göttliche Antinomie u. damit das religiöse Fundament auch für die späten Dramen des Soph. als gültig erweisen kann. Der Sachverhalt scheint uns gut getroffen, wenn Patzer zwar feststellt, daß der theologische Grundgedanke an innerer Konsequenz verliert, zugleich aber von einer „Fortsetzung der früheren theologischen Idee als Rahmen, in dem nur der Akzent auf den menschlichen Verwicklungen stärker als bei Aischylos und dem frühen Sophokles gesetzt ist“, spricht

(p. 162).

112 Abgesehen von Schwinge, Die Stellung der Trach. im Werk des Soph., Diss. Hamb. 1960, p. 148 ff. u. 156 ff., dem ich manche wertvolle Anregung verdanke, und K. Alt, Schicksal u. Physis im Philoktet des Sophokles, Hermes 1961, p. 141 ff. (dort wird das menschliche Problem an dem Spannungsverhältnis von χρέων und φύσις gut herausgearbeitet) ist, soweit ich sehe, auf diese Entwicklung bisher nur andeutungsweise verwiesen worden. Lesky, Sophokles u. das Humane, Alm. d. Osterr. Akad. d. Wiss. 101, 1951, 222 ff. ver-

96

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

9. Ein eingehender Vergleich mit dem auf 409 datierten Philoktet scheint uns geeignet,

den

zeitlichen Ansatz

des Elektradramas

noch

genauer

zu

bestimmen,

zumal der bisher abgegrenzte Zeitraum der „sophokleischen Spätphase* nod zuviel Spielraum läßt. Um es gleich vorwegzunehmen: Elektra und Philoktet weisen wie kein anderes sophokleisches Tragödienpaar auffällige Parallelen im Aufbau und in der Handlungsführung auf: a) Ein Orakel setzt jeweils eine Intrigenhandlung in Gang!!3, die der Durcsetzung eines Götterwillens dient. b) In beiden Dramen wird das Geschehen mit dem Auftritt der intrigierenden Partei, des Gegenspielers des Helden, eröffnet. Dabei erstreckt sich die Parallelität sogar auf die Gruppierung der Personen: Je zwei zentrale Figuren (in El.: Orest und der Pädagoge; im Phil.: Odysseus und Neoptolemos) werden von einer dritten Person begleitet, die als κωφὸν πρόσωπον fungiert (in ΕἸ. Pylades, im Phil. ein Späher). Auch das jeweilige Gespräch zwischen den beiden Intrigenpartnern zu Beginn weist manche gemeinsamen Züge auf114,

sucht das Humane

als ein für das gesamte Werk

des Soph. charakterisches

Wesens-

merkmal in den Griff zu bekommen, gibt aber selbst zu, daß es erst im Spätwerk seine

eigentliche Ausprägung

erfährt. Bezeichnenderweise klingt der Begriff des Humanen,

wie Lesky auch bemerkt, im O.R. noch nicht an (Zum umstrittenen Vers Antigone 523

vgl. zuletzt Schwinge p. 156 A 2). An anderer Stelle weist Lesky zwar auf einen Wandel bezüglich der Funktion des Göttlichen im soph. Spätwerk hin (z.B. Trag. Dichtung der Hellenen, p. 126 und Griech. Lit. Gesch. p. 272), versäumt es aber zu betonen, daß das Zurücktreten des Göttlichen nicht einen Verlust an Tiefe tragischer Weltsicht bedeutet, sondern die Entdeckung des Humanen ermöglicht. Auch Diller drückt sich nur vage aus, wenn er bemerkt (Göttliches Wissen ... p.22): „Was in den Tragödien des Achtzig- bis Neunzigjährigen in Elektra, Philoktet und Oedipus auf Kolonos Gestalt gewonnen hat, sieht nun

unverkennbar

anders

aus.“

Kitto

(Sophocles,

Dramatist

and

Philosopher,

London 1958) setzt die Kraft des neu entdeckten Menschlichen überhaupt nicht in Rechnung. Vgl. die Interpretation Kittos zum Elektradrama (p. 26 ff.), die wohl nicht immer

das Richtige trifft, und dazu

die Rezension

von

Kamerbeek,

Gnomon

1959,

Ρ. 167 f. Vgl. zum

Problem noch Pohlenz, Βα. 1, p. 348 ff.; Schadewaldt,

Sophokles

u. Athen,

neuerdings in Hellas u. Hesperien p. 225 ff.; Daß man zum Zentrum des späten sophokleischen Menschenbildes noch nicht vorgedrungen ist, scheint mir an der immer noch beträchtlichen Wirkung zu liegen, die die

These von T. v. Wilamowitz ausübt, gerade auch im Hinblick auf das Elektradrama. Auf Grund seiner extrem antipsychologischen Konzeption geht Wilamowitz an allen Erscheinungsformen des Menschlichen vorbei und deutet sie im Sinne der dramatischen Wirkung, die auf den Zuschauer ausgeübt werden soll. 113 Vgl. 5. El. 32—37, 1264 ff. u. Phil. 91, 101, 107.

114 1, Die detaillierte Schilderung des Ortes der Handlung zu Beginn des jeweils dialogischen Prologes (El. 4 ff.; Phil. 1 ff., 16 ff., 31ff.). 2. Die Aufforderung, zur Tat zu schreiten (El. 20ff.; Phil. 11 f.). 3. Die Entwicklung des Intrigenplans (ΕἸ. 36 ff.; Phil. 54 ff.). 4. Allgemeine Reflexionen hinsichtlich der Berechtigung der Anwendung trügerischer List

(EI. 59 ff. u. 64, Phil. 79 #., 86 ff., 117 8.

5. Der Beginn der Mechanemahandlung (EL. 73 ff., Phil. 123 £.). 6. Gebet an die Götter um gutes Gelingen (El. 67 f., Phil. 133 ff.).

11. Die Datierung der sophokleischen Elektra

97

c) Die Gestaltung der Intrigenhandlung!!5 weist spezifisch sophokleische Züge auf: Täuschung und Intrige sind nicht mehr primär wie bei Euripides auf den Zwe der Rache und Überlistung, auf das effektvolle Spiel mit dem raffiniert inszenierten Mechanema gerichtet, sondern sind in den Dienst der Ethopoiie des Helden gestellt, dessen menschliche Größe sich erst in dem mit der Intrige hereinbrechenden Leid entfaltet. Wie im Philoktet so konzentriert sich das Geschehen auch in der Elektra mehr auf die stufenweise Entfaltung der Intrige als auf ihre faktische Vollendung. d) Beiden Tragödien ist gemeinsam, daß schon vor dem Anlaufen der Mechanemahandlung die Hauptperson zu einem dauernden Leiden verurteilt ist: Elektra lebt

inmitten

der Mörder

des Vaters, Philoktet

fristet ein Dasein

in Krankheit

und Einsamkeit. Dieser Bios des Leidens wird durch eine detaillierte Schilderung der feindlihen Umwelt sichtbar gemacht. So sind z.B. die beiden Hauptpersonen an einen bestimmten Ort gebunden, der zum Symbol ihres Leidens wird (El. u. der Eingang des Palasts, Phil. u. die Höhle). Das Ausgestoßensein bildet den notwendigen Untergrund für die Daseinsform der beiden Helden. e) Der Held nimmt jeweils eine Haltung zu seinem Schicksal ein, die den früheren Dramen durchaus fremd ist. Während in den Frühdramen (z.B. Aias u. Trach.) Leiden vom Menschen als etwas Fremdes, von außen Gewirktes, man möchte sagen als eine „Heimsuchung“ empfunden wird, ist es in Elektra und Philoktet identisch mit der Daseinsform des Menschen geworden: Der von Beginn an unter ein bestimmtes Schicksal gestellte Mensch — er drängt nicht erst handelnd auf sein Schicksal hin wie in den frühen Dramen — offenbart jetzt nicht nur ein bloß getragenes, sondern gewolltes Leid116, f) Die Handlung beider Dramen besteht in einer schrittweisen Steigerung des bisherigen Maßes des Leidens des Helden bis an den Rand einer Selbstaufgabe. Elektra bzw. Philoktet werden zum Spielball der Intrigenpartei und verstricken sich immer tiefer in den Irrtum. Die Ausmalung des tragisch-ironischen Widerstreits von äußerer Wahrheit und scheinbarem Wissen der Getäuschten in beiden Tragödien zeigt deutliche Parallelen. g) Auf dem Höhepunkt seiner Passion ist der Held in Gefahr, das zu verlieren, was seine Lebensmitte ausmacht: Elektra den Bruder, Philoktet den Bogen.

Beidemale bezeichnet der Verlust die höchste Stufe der Isolierung und die drohende Ausweglosigkeit (ΕἸ. 1151 u. 1163, Phil. 923 u. 950). h) Gleichzeitig wird in der äußersten Not die Kraft des Humanen wirksam, die schließlich den Gegensatz von Leiden und Trug aufzuheben vermag. In der Elektra offenbart die Heldin ihr Ethos in tiefstem Sinn, als sie um den scheinbar toten Bruder trauert, der in Wirklichkeit lebend vor ihr steht. Erst jetzt, da ihre 115 Ein allen drei Spätdramen gemeinsames Motiv sei hier noch aufgeführt: In sämtlichen Stücken steht am Beginn die Ankunft eines Fremden, der auf besondere Weise mit dem neuen Ort der Handlung und der Person, mit der er in Beziehung treten will, verbunden ist. Die Aufnahme des Kontaktes erzeugt jeweils die dramat. Spannung (Orest und Oedipus kehren als Fremde in die Heimat zurück). 116 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist die Arbeit von R.Camerer, Zorn und Groll in der sophokleischen Tragödie, Leiden, 1936, p. 96. 7 Vögler,

Interpretationen

98

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

Isolation bis an die Grenze des Möglichen geführt ist, erkennt Orest seine Schwester (V. 1177) und vermag von Mitleid bewegt (1177 ff.) den Trug nicht mehr aufrechtzuerhalten. Er gibt sich zu erkennen (1217 ff.)117. Auch das Leidensschicksal des Philoktet enthüllt sich in der Hingabe des Vereinsamten an den vermeintlichen Beschützer Neoptolemos. Erst als durch den Anfall (V. 730 ff.) das Leid des Helden offenkundig wird, wird Neoptolemos durch menschliches ouunadeiv bewogen, dem Leidenden die Wahrheit zu sagen. Nach einer vorübergehenden Verschärfung der Situation (Ankunft des Odysseus und beider Abgang) setzt sich dann das Mitgefühl des Neoptolemos endgültig durch. Er bringt gegen den Willen seines Begleiters Philoktet den Bogen zurück. Wie in der Elektra hebt die Kraft des Humanen die Isolierung des Helden auf118. i) In beiden Tragödien führt die durch das Leid gesteigerte Individualität, die zu höchster Entschlossenheit durchbrechende Arete des Helden notwendig zu einem innerdramatischen Knoten. Es droht etwas Bestimmungswidriges, dem göttlichen Anspruch Zuwiderlaufendes zu geschehen. Der Held gerät in einen Gegensatz zum Götterwillen. Er droht, den göttlichen Willen zum Scheitern zu bringen. Die sittliche Eigenleistung der Zentralperson erweist sich als stärker als der Orakelspruc. Erst spät kann durch das Erscheinen eines Deus ex machina11? (in der Elektra Orest auf Apolls Befehl. Hier allerdings noch nicht voll ausgebildet) die göttliche Bestimmung erfüllt werden. Die chronologischen Folgerungen aus der Synkrisis der beiden Tragödien ergeben sich von selbst: Elektra und Philoktet schließen sich auch gegenüber dem O.C. zu einer gemeinsamen Gruppe zusammen. Da die Elektra dem Philoktet vorausgehen dürfte!20, scheint es geboten, das Elektradrama nicht zu weit vor 409

117 Vgl. Reinhardt p. 165 ff.: „Noch einmal werden

Schein und Wahrheit im Geschehen

vertauscht, damit die innere Wahrheit, die Seele sich erweise.“

118 Zu den entsprechenden Partien des Philoktet vergleiche die Interpretation Schwinges, Die Stellung der Trach., p. 156 ff., die sich in manchen Punkten mit der unsrigen deckt.

119 Auch einige verlorene Dramen scheinen mit Maschinengöttern oder zumindest mit Göttererscheinungen geendet zu haben, z.B. die Syndeipnoi mit dem Auftritt der Thetis sowie Tyro I und II mit dem Poseidons, Tereus ebenfalls mit dem Poseidons (Vgl. dazu

Blumenthal,

Sophokles,

RE,

3A,

1927,

1040—94).

Von

diesen

Stücken

lassen

sich nur zwei zeitlich ungefähr fixieren: Der Tereus liegt wohl kurz vor 414, da Aristoph. Aves auf ihn anspielen. Die Tyro B ist zwischen 420 und 411 anzusetzen auf Grund einer Parodie in der Lysistrate. Das dürfte für die Datierung der EL nicht unwesentlich sein.

120 1 Die Isolation des Helden ist durch die Menschenleere der Insel im Philoktet ungleich schärfer akzentuiert als in der Elektra. 2. Das Motiv des durch die gesteigerte Individualität des Helden gefährdeten Handlungszieles leistet im Philoktet mehr als in der Elektra, da es bis zur letzten Konsequenz durchgeführt wird. Im Philoktet droht das Unternehmen gegen Troia ganz zu scheitern, während in der Elektra das faktische Handlungsziel,

die

Rache

als solche,

nicht

in Frage

gestellt wäre,

sondern

nur

die

von Apoll festgelegte Form ihrer Ausführung. Außerdem ruft im Philoktet die ethopoietische Gegenbewegung des Helden gegen die Intrige noch einen zusätzlichen Konflikt zwischen Odysseus und Neoptolemos innerhalb der Intrigenpartei hervor, so daß man gegenüber der Situation in der Elektra von einer Komplizierung der Handlungsstrukturen sprechen kann. 3. Die Lösung des Knotens in der Elektra (Anagno-

11. Die Datierung der sophokleischen Elektra

99

anzusetzen. Auf jeden Fall dürfte der zeitliche Abstand zwischen O.R. (etwa auf 426 zu datieren) und Elektra größer sein als der zwischen Philoktet und Elektra, da diese sich thematisch wie formgeschichtlich in gleichem Maß vom ersten Odipus unterscheidet wie sie dem Philoktet gleicht. Zur Gewinnung eines genaueren termi‘ nus ante bzw. post wird man auf die schwierige Aufgabe verwiesen, das Verhältnis der sophokleischen Elektra zu den in der Spätzeit (nach 420) recht zahlreichen euripideischen Bühnenwerken und Komödienaufführungen zu klären. Als sicherer terminus ante quem darf der Philoktet des Jahres 409 gelten. Anspielungen der Komiker geben wenig her, da die durchweg unsicheren Datierungen der Komödien keine genauere Fixierung erlauben!21. Doch läßt sich ein

121

risis durch Orest) stellt gegenüber dem Heraklesauftritt im Philokter (als deus ex machina) ein noch nicht voll entwickeltes Surrogat dar. Die erste sichere Komikerparodie findet sich nach Schol. soph. El. 289 in Aristophanes’ Gerytades frg. 168 (Edm.). Die Datierung der Komödie ist umstritten. Usener und Körte ziehen 407 bzw. 408 in Betracht. Edmonds hält 403 für wahrscheinlich. Wenn, wie Geissler glaubhaft zu machen sucht, die Fragmente 19-31 D. zu der Komödie gehören, dann wäre nach Ausweis von Schol. zu frg. 25 und mit Benutzung von Thuk. 8, 89, 2 ein Ansatz auf 411 bzw. 410 möglich. Van Leewen, gefolgt von Demianczuk und Geissler, ist gegen diesen Ansatz, wohl mit Recht, da der schol. frg. 25 erwähnte Theramenes 410/9 auf keinen Fall Stratege war (vgl. Hatzfeld, R.E., A XI, 1938, 113—24). Daß die Ämter eines Strategen und Taxiarchen sich decken, ist kaum glaubhaft. Wir sind der Meinung, daß der Gerytades auf 409/8 zu datieren ist. In diesem Amtsjahr ist für Aristokrates das Strategenamt bezeugt. Wenn sich Aristophanes mit seinem Polyidos (frg. 452 Ed.) auf Soph. EI. 1173 bezieht (was aber keinesfalls als sicher gelten kann, da die Echtheit dieser Verse umstritten ist), so hilft das ebenfalls nicht viel

weiter, da für die Komödie ein Zeitraum zwischen 418 und 408 offensteht (vgl. Geissler, Die Chronologie der altatt. Kom., München 1925, p. 51 in den phil. Unters. 1925). Wahrscheinlich liegt der Polyidos des Aristoph. später als der des Euripides, ein sicher spätes Drama, das Murray (Ath. Dr. III 341) nach 415 ansetzt, Aber hier muß so ziemlich alles unsicher bleiben. Der Versuch von Colonna (Sulla cronologia dell’Elettra di Sofocle, Dioniso

10, 1947, p. 204—209), mit Hilfe des erweiterten, neuverôffentlichten

Sophoklesscholions (ἐν Πέρσαις add. Ven. 468, nunc 653; vgl. Peppink, Mnemosyne, ser. III, I, 1934, p. 76) auf Grund der Parodierung des Verses Soph. El. 86 (vgl. schol. Soph. ΕἸ. 86) in den Persern des Pherekrates einen terminus ante zu gewinnen, scheint uns mißlungen. Erstens ist auch mit Hilfe des Dramenkataloges bei Athenaios (276 ff.) keine Sicherheit über die Datierung der Perser zu gewinnen, weil die dazu nötige Aufführungszeit der Tagenistai des Aristoph. nicht geklärt werden kann (nach Geissler, p- 79, 415-400;

nach Körte

R. E. kaum

vor 415; Edmonds

p. 253

entscheidet sich

dagegen für 422; Colonna p.208 für 420—16). Ein präziser Ansatz für die Perser des Pherekrates läßt sich danach nicht gewinnen. Mit Gewißheit läßt sich nur sagen, daß Pherekrates nach 410 nicht mehr geschrieben hat, wodurch das Zeitverhältnis beider Elektren aber nicht berührt würde, Die Vermutung Colonnas, die Komödie sei zwischen 422 und 416, die soph. El. demnach

besitzt also keinerlei Gewicht.

zwischen 423

und

417 zu datieren,

Diese Zahlenkonstruktionen braucht man

aber kaum

weiterzutreiben, da die Echtheit der Perser bereits im Altertum angezweifelt wurde (Kock, C.A.F.I, 181), wie aus den Fragmenten 128, 131, 132, 133 und aus dem

Schol. Aristoph. Ran. 362 hervorgeht. Hinzu kommt, daß die Komödie mit dem Titel Perser, deren Fragmente

auf uns gekommen

sind, nach den Fröschen des Aristophanes

(405) liegen muß, da sich nach Angabe des Scholiasten der Verfasser der Perser auf die Frösche bezieht (V. 362) und die betreffende Stelle mißversteht (vgl. Römer, 7*

100

B.Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

genauerer terminus ante durch einen Vergleich der sophokleischen Elektra mit den beiden Euripidestragödien Helena bzw. Iph. Taur. gewinnen, die beide zeitlich gesichert sind: Die Helena liegt nach den Didaskalien 412122, die Iphigenie spätestens 411.

a) Das Zeitverhältnis Sophokles’ Elektra-Helena Wir möchten an dieser Stelle ein schon von E. Bruhn 125 und T. v. Wilamowirz 24 vorgebrachtes, beim ersteren allerdings anders gedeutetes Argument zu erhärten versuchen, dessen Evidenz in jüngster Zeit entschieden bestritten worden ist!#. In der Helena des Euripides fassen Menelaos und Helena nach der Anagnorisis einen Intrigenplan. Dabei schlägt Helena ihrem Gatten vor, er solle sich als tot ausgeben. Eur. Hel. 1049-56 126: E: ἄκουσον, ἤν τι καὶ γυνὴ λέξῃ σοφόν. βούλῃ λέγεσϑαι, μὴ ϑανών, λόγῳ ϑανεῖν; M:

κακὸς μὲν ὄρνις" εἰ δὲ κερδανῶ, λέγειν ἕτοιμός εἶμι μὴ θανὼν λόγῳ ϑανεῖν.

E: καὶ μὴν γυναικείοις σ᾽ ἄν οἰχτισαίμεϑα κουραῖσι καὶ ϑρήνοισι πρὸς τὸν ἀνόσιον. Μ:

σωτηρίας δὲ τοῦτ᾽ ἔχει τι νῷν ἄκος;

παλαιότης γὰρ τῷ λόγῳ γ᾽ ἔνεστί τις. Dieser letzte Einwand des Menelaos gegen den Vorschlag seiner Gattin kann nur den Sinn haben: „quid enim magis obest tali consilio quam tritum esse vetustate?“127 Menelaos sagt mit anderen Worten: Erwartest Du von diesem Trick Rettung? Ich nicht, denn er ist schon zu durchsichtig durch den öfteren Gebrauch!128 Ohne einen Bezug auf eine konkrete Situation verliert die Stelle Studien zu Aristoph. p.91). Man wird sich wohl Geissler, p.42 und de Marco (Uno scolio sofocleo ed i „Persiani“ attributi a Ferecrate, Dioniso 11, 1948, p. 6 f.) anschließen und die Existenz zweier Perser-Komödien annehmen müssen. Eines stammte von Pherekrates selbst und ist verloren. Ein zweites datiert aus hellenistischer Zeit, das nach dem Verlust des Modells dem Pherekrates zugeschrieben wurde und auf das sich Athenaios bezieht. Damit ist die in dieser Komödie erhaltene Parodie der Elektra des Sophokles für eine genauere chronologische Fixierung der Tragödie unbrauchbar (vgl. auch de Marco, p.7 und Hoffmann, Chronologie d. att. Trag., p. 53 f.). 125 Vgl. Schol. Aristoph. Thesmoph. 1012—60. 123 Jahrbücher für Klass. Phil., Leipzig 1887, p. 306—12. 124 op. cit. p. 255 f. 125 W, Ludwig, Sapheneia, p. 65. 126 Ich behalte

in Vers

1050

λόγῳ

neben

λέγεσθαι

trotz

der Bedenken

Musgraves

bei,

da erst so die vom Dichter beabsichtigte Parallele zu Vers 1052 herauskommt. 127 Vgl. Bruhn, p. 307: Zur Bedeutung von παλαιότης, das sonst bei den Tragikern nicht vorkommt,

vgl. auch Kaibel p.79 und Terzaghi, Komment.

zur Helena,

1912, ad loc.

128 Die von Ludwig, Sapheneia, angeführten, angeblich analogen Stellen El. 655, Ion 998, Or. 118 ff. sind mit unserer Helenastelle nicht zu vergleichen. Παλαιότης trägt hier nicht den Klang des Dunkeln, wie Ludwig meint, hat also nicht die Bedeutung

„Unklarheit,

Undurchsichtigkeit“. Wenn außerdem das begründende γάρ in V. 1056 einen Sinn haben soll, so kommt in V.1055 doch der Zweifel des Menelaos an der Wirksamkeit des

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

101

ihre eigentliche Pointe!®?,. Da sich nun aus dem Helenadrama selbst keine solche Bezugssituation gewinnen läßt, die den Vers 1056 klären könnte, ist man auf die Suche nach einer allgemein bekannten Begebenheit angewiesen, welche Euripides zu seinem Hinweis auf eine παλαιότης hätte veranlassen können. Man wird kaum annehmen können, daß Euripides auf dasselbe Faktum anspielt wie Sophokles in der Prologrede des Orest im Elektradrama (El. 59-64). Während dort Orest ausdrücklich (62-65) von den σοφοί spricht, die das Mittel der falschen Todesbotschaft angewandt hätten, so daß der Zuhörer eine Beziehung zu zeitlich weit zurückliegenden Persönlichkeiten wie Zalmoxis (Herodot 4, 94 ff.), Aristeas (Herodot 4, 13) oder Pythagoras (schol. Soph. El. 62) herstellen konnte, ist die Anspielung in der Helenastelle so knapp gehalten, daß man eher ein aktuelles Ereignis als Hintergrund annehmen wird. Von historischen Persönlichkeiten, die um ca. 420-415 die Nachricht von ihrem eigenen Tode verbreitet hätten und die zudem noch so bekannt gewesen wären, daß Euripides auf sie hätte Bezug nehmen können, wissen wir nichts. Thukydides und die Komödie schweigen bezeichnenderweise. Bevor in dieser Richtung weitere unergiebige Vermutungen angestellt werden, sollte man die Möglichkeit einer literarischen Anspielung ın Betracht ziehen 139. Euripides spielt, so glauben wir, auf vorausliegende Tragödien an, in denen bereits das Motiv der fiktiven Todesmeldung zur Durchführung einer Intrige Anwendung gefunden hatte. Erst so ergibt sich nämlich eine der Helenastelle analoge Vergleichssituation, da alle eventuellen historischen Parallelen den Zusammenhang mit dem Intrigenelement vermissen lassen. Von den bekannten Stoffen der Tragödiendichtung kommen zunächst mit Sicherheit nur Aischylos’ Choephoren aus dem Jahre 458 und der Kresphontes des Euripides (nach Schmid I, 3, p.396 zwischen 429 u. 425 anzusetzen) in Frage!®!, Beide Stücke liegen aber von der Gattin entwickelten Planes zum Ausdruck. Dann aber kann der Vers 1056 nicht in dem Sinn verstanden werden, als sei auf Menelaos’ Unwissenheit angespielt, dem noch nicht deutlich geworden sei, wie das Ziel der Rettung auf dem angegebenen Weg erreicht werden könne. Auch die folgenden Worte des Menelaos (V. 1059 f.) stehen einer solchen Deutung entgegen, da sie zeigen, daß er den Intrigenplan im einzelnen durchschaut hat. 1209 Daß man hier mit einer solchen Anspielung zu rechnen hat, beweist schon die isolierte Stellung der Verse 1055/56 innerhalb der distichomythischen Partie. Sie wirken wie ein Einschub und sind für den Fortgang der gedanklichen Entwicklung eigentlich nicht notwendig. Weder Helena geht auf die kritische Äußerung des Gatten in irgendeiner Form

ein, noch insistiert Menelaos

auf seinen Bedenken,

sondern

geht vielmehr

sofort auf Helenas Vorschlag ein (1059/60). Die Worte der Helena (1057/58) könnten also unmittelbar auf ihre Bemerkung in 1053/54 folgen. 130 Daß sich Euripides auch sonst häufig auf Stellen der älteren Literatur, hauptsächlich der dramatischen

bezieht,

zeigt Schmid

I, 3, p. 317. Vgl. auch Krauße,

De

Euripide

Aeschyli instauratore, Diss. Jena 1905. Bekannt ist die Phoenissenstelle (751 f.) aus dem gleichnamigen Euripidesdrama, die eine Anspielung auf die entsprechende Szene in den Septem darstellt. 131 Die Iphigenie auf Tauris kann nicht herangezogen werden, da dort das Motiv nur in der Einkleidung eines Traumes der Heldin wirksam wird und lediglich für die Erkennungshandlung, nicht aber für die Intrige von Bedeutung ist. Das Gleiche gilt für den Aletes des Sophokles.

12

B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

zeitlich weit von der Helena entfernt. Wesentlich aktueller und effektvoller mußte dagegen das Helenazitat als Anspielung auf die Handlung der sophokleischen Elektra wirken, die wie keine andere Tragödie von dem Motiv der fiktiven Todesbotschaft bestimmt wird!®®, Einmal liegen beide Dramen zeitlich nicht weit auseinander. Zum anderen gewinnen die Helenaverse nur auf dem Hintergrund des sophokleischen Dramas Profil: Die dramatische Situation in beiden Stücken entspricht sich genau. Orest entwickelt dem Pädagogen seinen Intrigenplan, Helena schlägt dem Gatten das gleiche Mechanema vor. Während Orest aus der Tatsache, daß die List der eigenen Todesmeldung schon oft erfolgreich erprobt worden ist, neuen Mut schöpft (V. 65), bedeuten dem Menelaos die gleichen Voraussetzungen gerade umgekehrt ein schlechtes Vorzeichen. Wird schon durch die Analogie der äußeren Situation eine literarische Reminiszenz!®® nahegelegt, so gewinnt die Helenapartie noch an Leben, wenn man bedenkt, daß Euripides in seiner Elektra

das Motiv der fiktiven Todesnachricht, welches in Sophokles’ gleichnamigen Drama eine zentrale Stellung behauptet, völlig ignoriert, es aber kurze Zeit später in der Helena, verbunden mit dem Hinweis auf eine allzu häufige Benutzung, verwendet. Fügen wir noch hinzu, daß deutliche gedankliche wie sprachliche Übereinstimmungen zwischen Soph. ΕἸ. 59-64 und Helena 1049-56 ein direktes Abhängigkeitsverhältnis als sicher erscheinen lassen 134, Euripides nimmt also in seiner Helena von 412 auf die Elektra des Sophokles Bezug. Das bedeutet, daß die Elektra vor 412 anzusetzen ist bzw., da die Helena

an den großen Dionysien 412 aufgeführt worden ist, spätestens auf die Lenäen des gleichen Jahres fällt. Mit Hilfe dieses neuen terminus ante quem ergibt sich auch für das Zeitverhältnis der beiden Elektren schon ein klareres Bild. Da das Drama des Euripides an den großen Dionysien 413, das des Sophokles aber spätestens an den Lenäen 412 zur Aufführung kam, bleibt für den Fall einer Priorität des Euripides nur noch ein einziger möglicher Aufführungstermin des sophokleischen Dramas, nämlich die Lenäen 412135. Damit scheint die Wahrscheinlichkeit für eine Priorität der euripideischen Elektra wesentlich eingeschränkt. 132 Bezugnahmen des Euripides auf Sophokles sind auch sonst zahlreich. Vgl. F. Schröder, Diss. philol. Argentoratenses 6, 1882, p. 101—10. Aufschlußreih auch Th. Zielinski, Phil. 1896, p. 624 fl. Direkte Beziehungen des Euripides auf die Elektra des Soph. finden sich im Orest: Orest 1300-52 und 5. El. 1442—80; Or. 1204—8 und 5. El. 970-2 (vgl. dazu Post., Class. Weekly 46, 1953, p. 152); Or. 1244—1352 und 5, EI. 1938 £. (vgl. dazu Krieg, De Eur. Or., p. 60). 139 Bruhn deutet die Helenastelle als Polemik gegen Soph., der in seiner Elektra Ereignisse der Heroenzeit und der eigenen Gegenwart durcheinandergeworfen habe. Diese Erklärung scheint uns im Text keinerlei Stütze zu finden. Ebensowenig darf man die kritischen Bemerkungen des Menelaos als Versuch des Euripides werten, sich für die erneute Anwendung eines traditionellen Motivs zu entschuldigen. Ludwig, Sapheneia, lehnt eine solche Deutung mit Recht ab. Da er aber selbst eine Beziehung der Helenastelle auf Soph. El. anscheinend nur unter diesem Aspekt in Erwägung zieht, kommt er zu dem voreiligen Schluß, daß eine Beziehung überhaupt ausgeschlossen sei (p. 151). 184 Vgl. T. v. Wilamowitz, p. 255 A1; man beachte: Hel. 1050 und 63, sowie Hel. 1051 und EI. 61.

188 Dieses Datum scheinlich.

1052 bzw. EI. 59 und

hält Bruhn (Jahrb. f. Klass. Phil., Leipzig 1887, p. 318 f.) für wahr-

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

b) Das Zeitverhältnis

103

Sophokles’ Elektra-Iphigenie auf Tauris

Daß sich beide Stücke als Anagnorisisdramen nahestehen, ist schon mehrfach beobachtet worden, ohne daß man dabei allerdings über skizzenhafte Vergleiche, die sich zudem auf vereinzelte Motive (meist den Kommos der Erkennungsszene) beschränkten, hinausgekommen wäre. Eine erschöpfende vergleichende Analyse kann auch hier nicht vorgenommen werden. Uns geht es bei der folgenden Synkrisis lediglih darum, Indizien für eine Zeitbestimmung des sophokleischen Elektradramas zu gewinnen. Die Voraussetzungen für einen derartigen Versuch scheinen günstig zu sein, da beide Tragödien einen von allen übrigen Erkennungsdramen abweichenden Typus der Anagnorisis aufweisen und sich diese motivische Parallelität bis zu einer analogen szenischen Anlage beider Stücke ausweitet. Hinzu kommt eine stoffliche Gemeinsamkeit: Die beiden Werke behandeln jeweils das Schicksal der Agamemnonkinder, insbesondere dasjenige Orests. Diese weitreichenden Übereinstimmungen führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluß einer direkten Beziehung zwischen den Stücken, so daß die Synkrisis eine genauere Datierung der sophokleischen Elektra verspricht!®®. Zunächst seien die Parallelen aufgeführt: 1. In beiden Dramen steht am Beginn der Wiedererkennungshandlung die gleiche tragisch-ironische Leidenssituation der beiden Partner, die sich in dieser Form nur in der Elektra des Sophokles und der Iph. Taur. des Euripides findet. Beide Geschwisterpaare wissen nicht nur nicht um das wahre Sein des Gegenüber, sondern die Schwester, jeweils durch ein kurz zurückliegendes Ereignis irregeleitet (Trugmeldung des Pädagogen bzw. Traum der Iphigenie), glaubt den Bruder sogar tot. Die Hoffnung auf Rettung scheint vernichtet, die äußerste Isolation besiegelt. Die in die Erkennungshandlung hineingezogene Todesnachricht unterscheidet beide Tragödien von allen übrigen Anagnorisisdramen "31, Die trennende Distanz, die 138 Zuletzt setzte sich K. Matthiessen, p. 65 ff. für die Priorität des Sophoklesdramas ein, ohne allerdings wesentlich neue Argumente zu bringen. Einige seiner Beweise scheinen uns kaum geeignet, das Zeitverhältnis beider Dramen zu klären. So sehen wir z.B. keinen Grund, die Form des Eingangs in der Iphigenie als eine Weiterentwicklung der homologen Partie in der EI. aufzufassen. Abgesehen von den beträchtlichen Unterschieden im Aufbau (es fehlen in der I. T. die Monodie der Heldin und umgekehrt in der EI. die Prologrede der Hauptperson) lassen sich die verbleibenden Æhnlichkeiten in der Struktur des Eingangs durch die gemeinsame Form des Anagnorisisdramas ausreichend erklären. Aus der parallelen Gestaltung der beiden Freudenkommoi nach der Anagnorisis (El. 1232—87, Iph. Taur. 827—99), die wohl kaum unabhängig voneinander

entstanden

sein

dürften,

läßt

sich

kein

sicheres

Indiz

für

die

relative

Chronologie gewinnen (vgl. den Versuch von T.v. Wilamowitz, p. 259 ff.). Die von Euripides in der Iphigenie gewählte Form des Wechsels zwischen Iyrischen Maßen und Sprechversen zur Charakterisierung des weiblichen bzw. männlichen Partners läßt sich zureichend aus der Verschiedenartigkeit männlichen und weiblichen Fühlens rechtfertigen. 137 In den übrigen Anagnorisisdramen nimmt das Motiv der fiktiven Todesbotschaft eine andere Funktion im Dramenganzen ein: Im Kresphontes des Euripides gibt der Held zwar vor, sein eigener Mörder zu sein und täuscht damit seine Gegner; er selbst aber übersieht klar die Situation, ist also nicht im Irrtum befangen. Die Erkennung vollzieht sich nur einseitig. Dadurch unterscheidet sich das Drama von den beiden hier ver-

104

B.Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

einem Zueinanderfinden der Geschwister entgegensteht, ist vergrößert, Agnoia und Doxa sind verschärft. 2. Am Beginn beider Erkennungshandlungen steht die Exposition des Todesmotives (El. 680—763, 1. T. 42-58) 188. Nach einem Leidenskommos zwischen Heldin und Chor (S. El. 823-70, I. T. 123—235)1%, der nach den vorausgehenden Trimeterszenen eine Steigerung vom Faktum zur Stimmung bewirkt, erfährt das bisher nur vorsichtig angedeutete ironisch-doppeldeutige Spiel eine erste Zuspitzung: In beiden Dramen betritt eine dritte Person die Bühne (Chrys. bzw. der Hirte) und berichtet von Ereignissen, die aufs engste mit der Ankunft des lebenden Orest verbunden sind und zugleich zum ersten Mal einen indirekten Kontakt zwischen beiden Partnern

schaffen, ohne daß

diese es ahnen.

Die Doxa

verwehrt

der Schwester

jeweils den Blick für die Tragweite der berichteten Geschehnisse. 3. Der tragische Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Gang der Ereignisse und dem

Scheinwissen

der Schwester

wird

dadurch

verschärft,

daß

die Heldin,

irregeleitet von einer falschen Ausdeutung der vorherigen Nachricht, einen Plan faßt, dessen Ausführung dem vorausbestimmten Gang der Dinge entgegenzuarbeiten und eine Gefahr für das Vorhaben des Bruders heraufzubeschwören droht, ja letztlich den Vollzug des Gôtterwillens in Frage stellt (jeweils einen Orakelspruch Apolls). Aus der Agnoia erwächst ein Konflikt. Je näher sich die Geschwister kommen, desto mehr verdichtet sich die Gefahr einer Entzweiung und eines Scheiterns menschlicher und göttlicher Pläne. 4. Mit dem Zusammentreffen der Geschwister erreicht die tragische Ironie den Höhepunkt Orest tritt, ohne um die wahre Herkunft seines weiblichen Gegenspielers zu wissen, der Schwester gegenüber, die nicht nur ebenso ahnungslos, sondern dazu bewußt irregeleitet ist und deshalb den lebend vor ihr stehenden Bruder für tot hält.

glichenen ebenso wie andere Erkennungsstücke, in denen der Grund für die Annahme des Todes eines der beiden Erkennungspartner außerhalb der laufenden Handlung liegt, also nur Vorgeschichte gehört und das Motiv selbst die Erkennungshandlung nicht entscheidend bestimmt. (Ion, Alkmeon in Korinth). In der Antiope spielt das Motiv nicht in der Anagnorisis, sondern nur in der Intrigenhandlung eine Rolle (vgl. Schmid,

I, 3, p.562).

Die Helena,

die sonst eng mit I. T. verwandt

ist, nimmt

insofern eine Sonderstellung ein, als sich dort die Meldung vom Tod des Menelaos bereits vor der Erkennung durch den Spruch Theonoes wieder als unzutreffend erweist und somit die Heldin,

anders

als in Iph. und

5. El., gerade mit der Gewißheit

vom

Leben des Gatten dem Partner begegnet. Die Agnoia entbehrt hier des verschärfenden Moments der tragischen Ironie, wie es für unsere beiden Dramen kennzeichnend ist. 138 Die Verse 1. T. 59-60 müssen, wie schon Klinkenberg und Jachmann gezeigt haben, athetiert werden. 19 Als Parallelen vergleiche: S. El. 868 ff. und 1.TT. 173 ff. sowie S. El. 850 ff. und 1. T. 201 8. In der I.T. ist er aus Gründen der dramatischen Oekonomie als rituelle Totenklage stilisiert, die zahlreiche enge Berührungen mit Elektras Klage an der Urne aufweist: vgl. 1. T.172—6

und El. 1136—41;

1.T. 230—5

und

EI. 114348;

I. T. 156—9

und

El.

1156—59. Zu beachten scheint uns in beiden Partien vor allem das Hinstreben der Schwester zum toten Bruder zu sein, dessen Gestalt der Trauernden beinahe körperlichlebendig vorschwebt.

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

105

5. Trotz der trennenden Distanz des Irrtums bricht zugleich in gegenläufigem Spiel unbewußt die Wahrheit durch, indem erste Fäden einer tieferen Verbundenheit geknüpft werden. Elektra strebt zur Urne des toten und damit in einem tieferen Sinn zum

vergegenwärtigt

lebenden Bruder, dessen Leidensstationen sie sich noch einmal

(5. El. 1119 ff. u. 1182ff.), während

über diese Anteilnahme

der „Fremden“

an einem

Orest seiner Verwunderung „fremden

Schicksal“ Ausdruck

gibt (1123-25) und mit seiner Bemerkung πρὸς αἵματος φύσιν (1125) fast bis zur Wahrheit vordringt. Iphigenie fühlt sich ebenfalls zu den dem sicheren Tod Geweihten hingezogen. Auch sie verfolgt mit Interesse alle Einzelheiten ihres Schicksalsweges (I. T. 472ff.). Orest dagegen vermag wie in der Elektra sein Erstaunen über dieses unerklärlihe συμπαϑεῖν nicht zu unterdrücken und dringt ebenfalls mehrmals mit seinen Fragen bis zur Schwelle der Erkennung vor! (I. T. 483, 494, 496). Doch der Katalog der nahen Berührungen läßt sich noch weiterführen: Als die Schwester schließlich immer mehr in Person und Schicksal des Fremden einzudringen sucht (jeweils im Rahmen einer Stichomythie!), verschließt sich Orest dieser Annäherung. In beiden Dramen begegnet die gleiche tragische Paradoxie in der gleichen Situation. Umgekehrt überhört die Schwester, noch immer im Banne der falschen Todesvorstellung, alle Andeutungen, die auf die richtige Spur führen könnten (ΕἸ. 1174f., 1177,1181 u. 1. Τ. 522, 526, 548). Elektra bzw. Iphigenie befragen beide ahnungslos den „richtigen“ Orest über das Los des „falschen“, des

toten, den es gar nicht gibt. | 6. Da beide Geschwister jeweils einander unbekannt sind, muß sich die Erkennung in Form eines doppelten Anagnorismos vollziehen. In der euripideischen Tragödie wie im Sophoklesdrama erkennt zuerst Orest seine Schwester, bevor sich diese zur Wahrheit durchringt. Dabei wird in jedem der Stücke der Erweis von Orests Leben unmittelbar im Zusammenhang mit der Leidensschilderung eines der beiden Partner erbracht: In der Iphigenie lenkt die Heldin den Fremden innerhalb seines Berichts vom Schicksal des Atridenhauses auch auf sein eigenes Los (1. Τ. 598 ff.). Die Elektra vermag durch eine neuerliche Leidensschilderung (S. El. 1187) Orest zu bewegen, die Wahrheit über seine Person zu entdecken. 7.Die beiden Freudenkommoi nach der Erkennung weisen auffällige formale und motivische Entsprechungen auf !#, 8. Nachdem die überschwengliche Gefühlsäußerung z. T. schon während des lyrischen Duetts hinter der Sorge um die künftige Rettung zurückgetreten ist, wird die-Dringlichkeit der bevorstehenden Aufgabe in beiden Stücken noch weiter dadurch unterstrichen, daß jeweils der Gefährte des Orest — hier der Pädagoge, dort Pylades — die Geschwister energisch zu praktischen Entschlüssen drängt 140 Vgl. 5. El. 1182—86 und I. T. 499, 567. 1a Vgl. 5. ΕἸ. 1224 — 1.T. 827; 5. El. 1226 — I.T. 829; 5. El. 1226 — 1.T. 841. Dabei

werden in beiden Szenen in auffälliger Entsprechung dieselben Worte von denselben Personen (Orest bzw. El.-Iph.) gesprochen. Bemerkenswert analog erscheinen auch die Worte der Heldin, mit denen sie den vertrauten Frauen ihre Freude über das Aprosdoketon der Erkennung mitzuteilen sucht (5, El. 1227 ff. — 1. T. 842 f.). Ebenso ausgeprägt ist in beiden Anagnorisisszenen die Sorge der Schwester, sie könnte den Bruder, den sie eben erst wiedergefunden hat, erneut verlieren (S. El. 1277 f.—I. Τ. 843 f.).

106

_B. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

(EL. 1326-38, I. T. 902—8) 142, Im folgenden schließt sich ein zweiter Anagnorismos zwischen der Heldin und dem Gefährten Orests an (5. El. 1346 ff. — I. T. 915 ff.), der zum Abschluß der Anagnorisisszenengruppe mit der Zusammenführung der drei bisher getrennten und leidenden Verbündeten eine Atmosphäre menschlicher Verbundenheit schafft. Diese gegenüber allen anderen Anagnorisisdramen singuläre Parallelität der Gestaltung deutet mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß beide Dramen nicht unabhängig voneinander entstanden sein dürften. Die Richtung dieser Abhängigkeit läßt sich unschwer bestimmen: 1.Das gemeinsame Motiv vom scheinbaren Tod Orests innerhalb der Erkennungshandlung, durch dessen Gestaltung sich beide Stücke von allen übrigen Anagnorisisdramen unterscheiden, war Sophokles in den Grundzügen durch die kanonische Form bei Aischylos und vielleicht auch durch Stesichoros!43 vorgeben. Bei Euripides dagegen ist das gleiche Motiv vom Dichter frei erfunden und stellt eine sagengeschichtliche Neuerung dar. Dadurch tritt m. E. die Abhängigkeit der Iphigenie von der Elektra des Sophokles klar zutage. Euripides hat für sein Anagnorisisdrama, das ohnehin thematisch mit dem sophokleischen Werk verwandt war, den naheliegenden Grundgedanken der sophokleischen Erkennungshandlung entlehnt und einem neuen Stoffkreis dienstbar gemacht !#, 2. Das Motiv vom fiktiven Tod Orests bildet bei Sophokles ein auch für den Ablauf der Intrigenhandlung notwendiges Gestaltungselement. In der Iphigenie ist es dagegen für den faktischen Hergang des Geschehens entbehrlich !#*, Es hat vor allem

die Funktion,

das Getrenntsein

der Geschwister

zu verschärfen,

also den

gleichen Effekt zu erwirken, den auch Sophokles anstrebt, der dort aber von der Anlage des Stückes her notwendig gefordert ist. Man beachte auch, wie natürlich 142 Hinsichtlich ihres Ethos, insbesondere in der Zeichnung des treuen Helfers, stehen sich beide Szenen sehr nahe (vgl. den gutmütig polternden Ton, mit dem der Alte seine biedere Gesinnung und Sorge um die Geschwister offenbart). 143 Vgl. Preller-Robert, Die griech. Heldensage, Berlin 1926, Buch III, p. 1309. 14 Es dürfte zudem kaum mehr bestritten werden können, daß Euripides überhaupt als erster den Orest in die Stiftungslegende des Tauropolostempels von Halai einbezogen hat, indem er ihn zum Retter der Iphigenie machte, wovon die Sagenüberlieferung nichts weiß und worüber auch Euripides selbst in seiner Elektra schweigt (vgl. 1273 ff. und 1286 ff.). Ein literarisches Vorbild für die euripideische Sagenfassung kann also nicht nachgewiesen werden. Sophokles’ Chryses, für den auch aus Pacuvius nichts Sicheres zu gewinnen ist, kann diese Lücke nicht füllen. Zu Stoff und Mythos vgl.: Wilamowitz, Hermes 18, p. 249 ff.; Robert, Arch. Ztg. 33, p. 134 ff.; Kjellberg R.E. 9, 2588; Zuntz, Antike 9, p. 245. 145 Die Wahrscheinlichkeit dieser Anlehnung wird durch die Tatsache erhöht, daß Eur.

gerade in seiner Elektra das gleiche Motiv, dessen Verwendung ihm ja in diesem Fall durch die Tradition vorgegeben war, nicht benutzt und ihm in der Helena einen anderen Richtungssinn gibt, weil die Meldung vom Tode des Menelaos zu Beginn der Anagnorisis bereits durch den Spruch der Seherin überholt ist. Dabei hätte den Dichter nichts daran gehindert, auch hier das Motiv bis in die Erkennungshandlung hinein zu strecken. Eine solche Gestaltung hätte im Gegenteil nahe gelegen. 146 Es motiviert freilich den Auftritt Iphigenies und des Chores, aber beides hätte auch anders motiviert werden können.

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

107

die Idee der falschen Todesvorstellung bei Sophokles aus der Situation der Intrige motiviert ist gegenüber dem blassen, dramatisch entfernt liegenden Mittel des Traumbildes der Iphigenie. 3. Das Motiv des scheinbaren "Todes Orests wird in der Elektra sowohl dramatisch wie auch ethopoietisch viel intensiver genutzt als in der Iphigenie. Nur ın dem sophokleischen Drama scheint das Motiv gemäß seiner genuinen Bestimmung voll durchgeführt, „richtig“ gebraucht. Demgegenüber bietet die Verwendung in der Iphigenie den Eindruck des bloß noch Rudimentären. So steht die sophokleische Hauptperson dreimal unmittelbar hintereinander unter dem Eindruck der 'Todesnachricht, wobei jede der drei Szenen ihr eigenes Ethos hat: a) Die Meldung des Pädagogen vom Tod Orests δ) Elektra ist gezwungen den Beweis ihrer Schwester hinsichtlich der Ankunft Orests mit ihrem „Wissen“ vom Tod des Bruders zu widerlegen

c) Orest übergibt Elektra die Urne. Die Todesvorstellung wird also bei Sophokles im Gegensatz zu seinem Rivalen auch zu Beginn des eigentlichen Erkennungsvorgangs noch einmal in verschärfter Form erneuert 147. Die größere dramatische Spannung der sophokleischen Gestaltung beruht auf der Tatsache, daß die Schwester bis zum letzten Augenblick über die wahre Situation des Bruders im unklaren gelassen wird und die Erkennungsszene also durchgängig unter dem Eindruck der leitmotivisch in dreifacher Brechung gestalteten Todesmeldung steht. Die gesamte Szenenführung ist auf den einen Punkt hingeordnet, wo der Erweis von Orests Leben und seiner Anwesenheit in zwei Versen (1221f.) aufeinanderfolgen und somit der Kairoscharakter der Rettung auf einzigartige Weise herausgearbeitet wird. Euripides baut zwar ebenfalls auf der Beseitigung dieser doppelten Stufe der Agnoia auf, erweitert aber im Gegensatz zu Sophokles den Anagnorisisakt zu einer doppelpoligen Szene. In einem ersten Handlungsabschnitt gelingt es (467— 570), den Traum von Orests Tod als wahnhaft zu erweisen. Im Besitz dieses gesicherten Teilwissens gewinnt Iphigenie dann im zweiten Teil der Szene! (576-825) die Gewißheit über die wahre Herkunft des Fremden. Durch diese doppelgipflige Kompositionsform verliert natürlich das Todesmotiv an Bedeutung. Es ragt nur noch auf eine begrenzte Strecke in die Anagnorisis hinein und erfüllt die Erkennungshandlung nicht mehr so total wie bei Sophokles. Man darf also sagen: Nur in der Elektra ist das Motiv von konstitutiver Bedeutung und notwendig mit dem Leidensschicksal der beiden Geschwister verknüpft, nur dort ist es organisch in den Handlungsgang verwoben. Nicht in der Iphigenie, sondern

147 Daß diese Struktur einer stufenweisen Vertiefung von Irrtum und Leid für die Spättragik des Sophokles typologisch genannt werden kann, haben wir oben gezeigt. Damit besteht zumindest von diesem Aspekt her keine Veranlassung, die Elektra von der Iph. Taur. abhängen zu lassen. 148 Beide Teile sind durch die Kritik des Orest an der Chresmologie und die folgenden Verse des Chores deutlich voneinander abgesetzt (I. T. 570 £.).

108

8. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

im Sophoklesdrama wird es konsequent seiner in ihm angelegten dramatischen Bestimmung zugeführt!®, Die Gestaltung im Iphigeniedrama verrät dagegen eine Umbiegung des ursprünglichen Richtungssinnes. Das Motiv, das bei Sophokles den gesamten Szenenkomplex als Höhepunkt abschließt, bereitet bei Euripides nur noch vor!5%. Das Motiv, das seine Bestimmung voll erfüllt, geht der Reduktionsstufe des Rudiments voraus, das im eigentlichen Sinn den Namen „Motiv“ nicht mehr verdient. Der sekundäre Charakter der euripideischen Gestaltung wird noch dadurch bewiesen, daß diese Abstumpfung des Motivs zugleich eine Dehnung der Handlungsstruktur nach sich zieht. Bei Euripides liegt ein auf doppelter Peripetie gegründeter zweistufiger Handlungsaufbau vor, während in der Elektra die beiden Spannungspole (Orests Leben und seine Anwesenheit) in einem einzigen dramatischen Höhepunkt zusammengezogen sind. Macht man sich klar, daß derjenige Dichter, der zum ersten Mal eine Anagnorisishandlung unter das Motiv einer fiktiven Todesnachricht stellt, deren eigentliche Funktion in der äußersten Zuspitzung der Verhältnisse besteht, wohl auch mit diesem Gedanken ernst macht und nicht etwa auf halbem Wege stehen bleibt, so wird die Priorität der sophokleischen Elektra vor der Iphigenie auf Tauris handgreiflich. Die Inkongruenz von Funktion und Durchführung eines Motivs weist formgeschichtlich auf eine Spätstufe. 4. In beiden Dramen unterbricht nach dem Iyrischen Duett der Begleiter Orests die Freudenäußerungen

der Geschwister, um

zur Tat aufzurufen.

Bei Sophokles

gewinnt die Mahnung des Pädagogen dadurch an Wirksamkeit und fügt sich als notwendiges Glied in den Zusammenhang ein, daß Orest bereits vorher während des Kommos mehrfach vergeblich Elektras Freude im Angesicht der bevorstehenden gefahrvollen Aufgabe zu dämpfen versuchte. Die Adhortatio des Alten, zur Verstärkung in Vers 1364 noch einmal aufgenommen, hat auch dann sofort die gewünschte Wirkung: Elektra verrichtet ein Gebet um das Gelingen des Rachewerkes. In der taurischen Iphigenie hingegen erfolgt das Eingreifen des Pylades weniger passend und beinahe überflüssig gerade in dem Augenblick, als Iphigenie am Schluß des Kommos bereits von selbst die Aufmerksamkeit auf die kommende Rettungsaktion lenkt (895 ff.). Entscheidend dürfte aber die folgende Beobachtung 149 Diese ursprüngliche Bestimmung, ist, liegt eben in der Funktion,

die auch immer mit dem zeitlichen Prius identisch eine Szene als Höhepunkt

abzuschließen

(Leben

Anwesenheit des Totgeglaubten enthüllen sich im gleichen Moment) und kaum

und

darin,

vorher bereits die Wirkung zu unterbinden, wie es bei Euripides der Fall ist. Hält man beide Szenen nebeneinander, so zeigt sich dieser Unterschied ganz deutlich: Der Moment,

in dem Elektra offenbar wird, daß mungsmäßig den Kulminationspunkt seiner Bedeutung formal deutlich parallele Situation in I.TT. (567 £.) Zur Verdeutlichung von Iphigenies

Orest lebt (V. 1221), stellt spannungs- und stimder Erkennungshandlung dar und ist entsprechend markiert durch eine Reihe von Antilabai. Die erfährt dagegen keine detaillierte Ausgestaltung. Überraschung genügt dem Dichter ein einziger

Vers (569).

15 Es könnte dort ebenso fehlen, ohne daß dadurch die Erkennungshandlung in ihrem Ablauf entscheidend gestört würde. Iphigenie würde dann eben gleich zu Beginn des Zusammentreffens

den Versuch machen, einen der beiden Griechen zur Kontaktnahme

mit Orest nach Griechenland zu senden.

II. Die Datierung der sophokleischen Elektra

109

sein: Die Aufforderung des Pylades fruchtet gar nicht, sondern scheint im Gegenteil nur deshalb verwandt zu sein, um der Schwester Gelegenheit zu geben, sich mit der Vorgeschichte Orests vertraut zu machen, ehe erst weitere hundert Verse später der Intrigenplan entworfen wird (V. 1017). Das Eingreifen des Pylades151 läuft dramatisch leer, ja bewirkt paradoxerweise das Gegenteil von dem, was eigentlich intendiert war. Das Motiv hat hier seinen ursprünglichen Richtungssinn verloren, der im Sophoklesdrama klar gewahrt ist, und könnte ebensogut fehlen. Euripides biegt die genuine Funktion des Motivs mit spielerischer Freiheit um. Damit erweist es sich aber als entlehnt. Unsere Synkrisis der sophokleischen Elektra und der taurishen Iphigenie des Euripides hat den Beweis der Priorität des Elektradramas erbracht. Eine Auswertung dieses neuen terminus ante quem ist nun allerdings wegen der unsicheren Datierung der taurischen Iphigenie schwierig. Das Drama liegt spätestens 411. Daß es mit der Elektra des Euripides oder mit dessen Helena der gleichen Trilogie angehört hätte, erscheint nach den begründeten Argumenten von Pohlenz (Griech. Trag.?, Göttingen 1954, Bd. II, p. 163f.) kaum noch möglich. Damit fallen die Jahre 413 und 412 als Aufführungstermine aus, wenn man nicht den kaum annehmbaren Ausweg einer Lenäenaufführung benutzen will (so z.B. E. Preuss, De Eur. Hel. p. 53). Es verbleiben danach nur die Daten von 414152 u. 411. Entscheidende Bedeutung gewinnt nun das Zeitverhältnis zur Helena 53, Sollte, wie man heute allgemein annimmt, die taurische Iphigenie der Helena vorangehen, so käme nach den oben gemachten Überlegungen nur noch das Jahr 414 in Frage. Diese Datierung hätte dann allerdings weitreichende Konsequenzen: Datiert man die euripideische Elektra auf 413, die taurische Iphigenie auf 414, so wird bei gleichzeitiger Priorität der sophokleischen Elektra vor der Iphigenie das Zeitverhältnis der beiden Elektren zugunsten der Priorität des Sophokles entschieden154. Das 181 Dieser insistiert auch, anders als der soph. Pädagoge, nicht auf seiner Forderung. 162 Die taurische Iphigenie auf eine zeitliche Stufe mit den Troerinnen (415) zu stellen, scheint uns unmöglich, da die formalen und gedanklichen Differenzen eine Zusammenfassung beider Dramen in einer Trilogie nicht zulassen. 153 Ob die taur. Iph. vor oder nach der Helena liegt, ist nicht zu entscheiden. Zuletzt verfechten mit guten Gründen, die noch keinen Widerspruch gefunden haben, die Priorität der Iph. Strohm, p.85; Ludwig, p. 120 f. und Matthiessen, p. 7”—65. An der Priorität der Helena scheint zuletzt K. Alt, Hermes 1962, p. 10 A 3 festzuhalten. Delebecque,

Ρ. 321, faßt Iph., El. und Orest zu einer Trilogie zusammen (dagegen mit Recht Pohlenz, Griech. Trag. p. 120 f.). Daß beide Elektren der Iph. Taur. vorausgehen, behauptet Steiger, Phil. 67 (1908), p. 236. Jedenfalls scheint eine Datierung der Iph. Taur. auf 414 vor die eurip. Elektra trotz Pohlenz (Griech. Trag. II, 120 f.) durchaus möglich. Zur Literatur vgl. Schmid I, 3, p. 520 A 2—6. 15% Wenn K. Matthiessen, p.72, von der Unmöglichkeit spricht, sowohl an der Priorität der 1. Τ᾿ vor der Helena als auch an der Datierung der eurip. Elektra auf 413 festhalten zu wollen, so setzt er dabei die Priorität der eurip. Elektra vor der taur. Iph. als gesichert voraus. Eine solche Zuversicht scheint aber kaum angebracht, denn seinen schon von Pohlenz (II, 163) vorgebrachten Argumenten kommt sämtlich keine Beweisraft zu. 1. Daß Euripides in seiner Elektra die den Troerinnen und der Iph. Taur. zugrundeliegende Sagenversion (Teilung der Rachegöttinnen und Fahrt des Orest zu den Tauern)

10.

8. Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

gilt selbst noch für den Fall, daß man mit der Datierung der taurischen Iphigenie gegen gewichtige Gründe auf 413, ja sogar auf 412 (eine gleichzeitige Aufführung beider Elektren ist wohl indiskutabel) heruntergeht. Zusammenfassend darf man sagen: Bezüglich der Datierung der Elektra des Sophokles dürfen als sehr wahrscheinlicher terminus ante quem das Jahr 412 (Helena) bzw. die Jahre 414412 (Iph. Taur.) gelten. Das bedeutet, daß hinsichtlich des Elektrenproblems eine Priorität der euripideischen Elektra entweder ausgeschlossen ist oder nur noch unter Zuhilfenahme der höchst problematischen Datierung des gleichnamigen Sophoklesdramas auf die Lenäen von 412 aufrecht erhalten werden kann.

ignoriert, schließt eine Datierung der I. T. vor die eurip. El. nicht aus. Euripides muß im Elektradrama nicht notwendig Bezug auf die Sagenfassung der Iph. nehmen. Man vgl. die verschiedene Form und Behandlung der Helenasage in den Dramen Hel. Tro. und Orest. Vor allem aber beweist allein das Beispiel des eurip. Orestesdramas aus dem Jahre 408, das eine von der Elektra abweichende Sagenversion bei völliger Negierung der dortigen Fassung bietet, die Unmöglichkeit der obigen Argumentation (In der EI. erhält Orest den Auftrag, Argos sofort zu verlassen und sich in Athen vor dem Areopag reinigen zu lassen, im Orest dagegen liegt der Muttermôrder krank in Argos darnieder und wird dort festgehalten). Schließlich darf man in einer dramatischen Dichtung erwarten, daß das Geschehen einem deutlich markierten Abschluß zugeführt wird. Unter diesem Aspekt wäre es sogar befremdlich, wenn sich am Ende der eurip. Elektra der Blick auf eine neue, spannungsreiche Entwicklung aufgetan hätte, die das

weitere Schicksal Orests zum Inhalt gehabt hätte, 2. Daß das Aition des Areopags in der El. ausführlicher als in der Iph. Taur. berichtet wird (EL 1258—63, I. T. 945 f.), impliziert keinesfalls die Priorität der Elektra. Nach der durch die Eumeniden des Aischylos kanonisierten Sagenversion konnte Eur. jederzeit die Aitiologie als bekannt voraussetzen und sich mit knappen Andeutungen begnügen. 3. Nach

Matthiessen

ist es undenkbar,

daß

der

Dichter,

der

in seiner

Iph. Taur.

Pylades zu einer lebendigen dramatischen Figur gemacht hatte, ihn später in der Elektra wieder auf die Rolle eines κωφὸν πρόσωπον beschränkt haben sollte. Dagegen ist zu sagen: a) Die vollentwickelte Rolle eines Pylades hätte neben den bereits agierenden Personen (Orest, El., Landmann, Pädagoge) einen vierten Schauspieler notwendig gemacht. b) Mit der Verlegung des traditionellen Schauplatzes in ein ländliches Milieu bot sich dem Dichter die Möglichkeit, das Motiv der Freundschaft in einer neuen reizvollen Weise an der Figur des Landmanns zu entwickeln. Auf die Person des Pylades konnte er deshalb verzichten. c) Die Behauptung, Euripides habe bei der Abfassung der Elektra noch nicht die Möglichkeiten bemerkt, die die Figur des Pylades zur Belebung der Handlung bot, scheint mir sehr vage zu sein. Einleuchtender ist es, umgekehrt anzunehmen, Euripides habe kurz nach der Iph. Taur. den Gedanken der Freundschaft, der ja in den Spätdramen des Dichters eine zentrale Stellung einnimmt, in der Elektra in abgewandelter Form (Auturgos) wieder aufgenommen und aus diesem Grunde auf die bereits in der Iphigenie ausgeschöpfte Rolle des Pylades verzichter. Es wäre zumindest auffällig, wenn Euripides ohne Grund von vorneherein auf eine Ausgestaltung der Pyladesfigur verzichtet haben sollte. Die Entscheidung über das Zeitverhältnis von Eur. El. und I. T. bleibt offen. Uns scheint jedenfalls nichts gegen eine Priorität der I. T. zu sprechen. Da beide Dramen verschiedenen Kompositionstypen angehören, hilft ein Strukturvergleich wenig. Lediglich die erste Szenengruppe ist in beiden Dramen analog gebaut, wie Ludwig (Sapheneia, p- 160) richtig betont. Dabei bietet die I. T. das einfachere Aufbauschema.

11. Die Datierung der sophokleischen Elektra

111

Einen genaueren terminus post anzugeben, scheint schwierig!55. Am ehesten scheint die Ignorierung der sophokleischen Version des Lockenmotivs in der Parabase der zweiten Wolken des Aristophanes (ca. 419) ein Indiz abzugeben. Dieses Silentium ist um so auffälliger, als Sophokles gerade an dem Punkt, der für die Absicht des Komödiendichters ausschlaggebend war, nämlich hinsichtlich der Person, welche die Locken auffindet, gegenüber Aischylos, auf den sich Aristophanes noch stützt, entscheidend neuert. Daß schließlich die sophokleische Elektra beim Publikum nicht den Anklang gefunden habe, der Aristophanes zu einer Anspielung hätte veranlassen können, scheint kaum annehmbar156 (Vgl. U. v. Wilamowitz, Hermes

1883, p. 224 A 1). Damit kommt

als früheste Datierung der Elektra des

Sophokles das Jahr 418 in Betracht !57. Auch die auffällige formale wie gedankliche Nähe zum Philoktet und die morphologischen Unterschiede gegenüber dem Odipus Rex schließen einen größeren zeitlichen Abstand zwischen Elektra und Philoktet aus158, Setzen wir für den ersten Odipus als Aufführungszeit die Jahre 428—425 15%, für den Philoktet das gesicherte Datum von 409 an, so darf man ohne Bedenken die Elektra frühestens auf 418/417 datieren. Diese Datierung scheint uns sogar schon zu hoch gegriffen!®, Wenn künstlerische Uniformität auch zeitliches Nahverhältnis bedeutet, dann gilt dieser Grundsatz gerade für die Beziehung beider Sophoklesdramen!#!. Hinzu kommt als Stütze unserer Überlegungen: Die vielfältigen, engen Berührungen der sophokleischen Elektra mit den euripideischen Spätdramen ab 415 und der bereits massive Einfluß des um 420 aufkommenden Neudithyrambus,

der

dem

Elektradrama

einen

modernen

Anstrich

gibt,

lassen

einen späteren Ansatz als 418 ebenso notwendig erscheinen wie die direkten Anspielungen und Bezugnahmen der Komödien und der Euripidesdramen Iph. Taur. u. Helena, da durch die größere zeitliche Nähe diese gezielten Berührungen an Aktualität gewinnen und ihren rein ,schriftlihen“ Charakter verlieren 155 Die Vorschläge von Whitman (p. 54), Suys (Les études classiques, 10, 1941, p. 119 A 1) und Post, Sophocles, Strategy and Electra, Class. Weekly 46, 1953 Nr. 10, p. 150--153 (gegen Post wendet sich Jameson, Class. Phil. 51, 1956, p. 224) können sämtlich nicht überzeugen. Auf Einzelheiten können wir hier nicht eingehen. Mit der Annahme von Zeitanspielungen muß man gerade bei Sophokles grundsätzlich vorsichtig sein. 156 Die vielen Komikerparodien beweisen die Resonanz, die das Drama gefunden hat. 187 Die Bedenken von Matthiessen (p. 66A 1) gegen die Verwendung der zweiten Wolkenparabase als Datierungsmittel sind nicht durchschlagend. Newiger (Hermes 1961, p. 426 Α 2), der sonst auf das Verhältnis von Wolken und soph. El. nicht eingeht, können wir folgen, wenn er eine Beziehung von Nub. 534 ff. auf Soph. El. trotz schol. Junt. ad. Nub. 534 mit Recht ablehnt. 158 Vgl. Reinhardt, p. 174; Lesky, Trag. Dichtung d. Hell., p. 118; Whitman, p. 54. 159 Neuerdings setzt sich B. Knox, The date of the Oed. Tyr. of Sophokles, Am. Journal of Phil., 1956, p. 133—147 auf Grund der Parodie in den Rittern (424) für 425 ein. 160 y, Pesch (184) legt sogar einen Abstand von 15 Jahren zwischen O.R. und Elektra.

161 Ein Blick auf Tragödie u. Komödie bestätigt die Gültigkeit dieses Prinzips von morphologischer u. zeitlicher Nähe: Die Thymostragödien des Euripides (Med. 431, Hipp. 428) stehen sıch zeitlich ebenso nahe wie Stücke mit politisch-nationaler Tendenz (Herakliden 430—27, Hiketiden 424) und die Anagnorisisdramen (Ion, Hel., I. T., Alex., Ant., Hyps.,

alle zwischen 414 u. 408). Auch die Weiberkomödien des Aristoph. rücken chron. eng zusammen (Lysistr. u. Thesmoph. beide 411).

112

B.Die von der Prioritätsfrage unabhängige Datierung der beiden Elektren

würden1®. Damit gewinnt eine Datierung der soph. Elektra auf frühestens 415 an Wahrscheinlichkeit. Für diesen Ansatz spricht alles, dagegen nichts. Gegen eine frühe Datierung jedoch lassen sich gewichtige Einwände erheben. Dieser terminus post scheint uns recht bedeutend: Die ohne jede kritische Überprüfung aufgestellte Behauptung von Matthiessen, eine Datierung der Elektra des Sophokles auf 425-417 sei durchaus akzeptabel, halten wir für unhaltbar, zumal er zu diesem Frühansatz offensichtlich durch seine, wie wir gezeigt haben, verfehlte Frühdatierung der euripideischen Elektra gezwungen wird. Gibt man die Priorität der euripideischen Elektra vor dem Herakles zu (so Matthiessen) und konzediert man im Sinne von Zuntz einen Ansatz der Elektra des Euripides auf ca. 423—420,

dann erscheint eine Priorität der Sophoklestragödie kaum mehr möglich. Die Frage der Frühdatierung des Euripidesdramas berührt also das Elektrenproblem aufs engste 163,

Wir fassen abschließend die Ergebnisse unseres Datierungsversuches zusammen: Das Euripidesdrama ist an den Dionysien 413 aufgeführt. Für die Tragödie des Sophokles

wird

man

als oberste

Grenze

418,

besser

ca. 415,

als unterste

412

annehmen können!#. Daraus folgt, daß sich mit einer unabhängig voneinander vorgenommenen chronologischen Fixierung beider Stücke das Problem der relativen Chronologie nicht lösen läßt, wenn auch die Wahrscheinlichkeit einer Priorität des Euripides erheblich eingeschränkt werden muß. Für unsere weitere Betrachtung scheint aber wesentlich, daß beide Elektren unabhängig von ihrem Zeitverhältnis sehr nahe zusammenrücken. 162 Die hier vorgetragenen Argumente schließen natürlich eine Datierung der soph. El. in die Zeit um 428, also etwa in die Nähe des O.R. u. des Hipp. aus, wie sie von Masqueray (Sophocle, Paris 19405, p. 205) u. in seiner Nachfolge zuletzt von N. Catone (Komm. zu El. Soph., Florenz 1959, p. 10) vorgeschlagen wird. Die Parallelen zwischen dem Bericht vom Tode Orests (El. 680 ff.) u. dem des Hippolytos (Hipp. 1174 ff.) sind so allgemeiner Natur u. darüber hinaus manche Unterschiede so gravierend, daß eine direkte Beziehung oder gar eine zeitliche Nähe nicht zwingend nahegelegt wird, zumal als Quelle der Schilderung des Wagenrennens bei Soph. die Darstellung im 23. Gesang der Ilias vindiziert werden muß. 143 Deshalb wird man auch K. v. Fritz (Ant. u. moderne Trag., p.476 A 24) nicht folgen können, wenn er glaubt, die neuerliche Umdatierung der eurip. Elektra berühre die Frage des Verhältnisses zwischen beiden Elektren nicht. 104 Eine genauere Fixierung erschien uns nicht möglich. Zum Herakles lassen sich keine nennenswerten Berührungen feststellen, ganz abgesehen davon, daß sich wegen der nur ungefähren Datierung des Dramas (ca. 422—416) ein sicherer Fixpunkt nicht gewinnen läßt. Anders steht es in dieser Hinsicht mit den Troerinnen. Sie sind sicher auf 415 datiert und wären für die Lösung unserer Frage ein Anhaltspunkt. Könnte es nämlich gelingen, die Priorität der soph. El. vor den Troerinnen nachzuweisen, wäre damit implizite auch die gegenüber der eurip. El. gesichert. Umgekehrt wäre bei einem Vorausgehen der Troerinnen die Aufführungszeit der soph. El. auf 414—412 sehr genau festgelegt. Leider läßt sich aber, soweit ich sehe, kaum etwas Sicheres ausmachen. Der einzig mögliche Vergleichspunkt liegt in der auffälligen Parallelität der Prologform: Soph. El. u. Tro. weisen allein von allen Tragödien eine anapästische Monodie mit unmittelbar folgender systematischer kommatischer Parodos auf. Zur Annahme eines direkten Einflusses zwingt aber diese Gemeinsamkeit allein nicht. Man könnte höchstens auf eine nahe Abfassungszeit schließen. Jedenfalls wird man das Verhältnis beider Tragödien im Auge behalten müssen.

C.

Das Problem der Priorität

I. Methodische Vorüberlegungen Dieser letzte Gedanke führt zu methodischen Überlegungen bezüglich eines fruchtbaren Ansatzpunktes zur Lösung des Prioritätsproblems. Es bietet sich als Arbeitsgrundlage der Vergleich beider Elektren unter dem Aspekt einer Synkrisis dramatischer Kunstwerke an, welche die Betrachtung der Struktur, Handlungsführung und Motivik in das Zentrum rückt. Dieser methodische Ausgangspunkt hat den Vorteil, daß das Problem einerseits von einer viel breiteren Basis angegangen werden kann, als es bei der sprachlichen Detailbetrachtung möglich war, und daß zum zweiten die Gefahr beseitigt scheint, mit einer voreingenommenen Auffassung den Stücken eine unangemessene Schablone aufzupressen. Wir lesen nicht ein weltanschauliches Bekenntnis aus den beiden Tragödien heraus, sondern versuchen einfach die dramatische Wirkung, die beide Dichter erstrebten, zu begreifen.

Diese Betrachtungsweise erhält durch die oben erwiesene zeitliche Nähe beider Dramen eine zusätzliche Legitimation. Wenn ein so bekannter Stoff wie der Orestesmythos innerhalb der kurzen Zeitspanne von etwa drei Jahren von den beiden bedeutendsten Tragikern dramatisch gestaltet wird, so scheint es selbstverständlich, daß der spätere Bearbeiter sein Werk unter dem Eindruck der bereits vorliegenden Fassung konzipiert. Bedenkt man außerdem, daß Sophokles und Euripides, denen beide die kanonische aischyleische Bearbeitung vorgelegen hat, gleichwohl den Stoff über vierzig Jahre unberührt gelassen und dann beide innerhalb kürzester Zeitspanne ihr Interesse auf den Orestesmythos konzentriert haben, so darf man in der Annahme sicher gehen, daß der spätere Autor die Anregung von seinem Vorgänger empfangen hat. Das post hoc kann hier nur ein propter hoc gewesen sein. Diese Überlegung findet dadurch eine Stütze, daß auch sonst deutliche Beziehungen zwischen Sophokles und Euripides bezüglich der dramatischen Technik! und der Wahl der Stoffe? spürbar sind, selbst in solchen Dramen,

die einen ver-

schiedenen Stoff aufweisen und durch einen größeren zeitlichen Abstand getrennt sind®. Solche geistigen Impulse dürfen nicht unterschätzt werden, denn zur schöpferischen Größe gehört nicht nur künstlerische Eigenständigkeit, sondern auch das Geöffnetsein für fremden Einfluß. 1 Auf zahlreiche, von Soph. u. Eur. gemeinsam benutzte dramatische Strukturelemente macht M. Young, Elements of the euripidean dramatic technique in Sophocles, Trans. and Proc. of the Phil. Assoc, 1930, p. 40, aufmerksam.

2 So hat z. B. Euripides m. Aischylos nur vier Titel, mit Sophokles dagegen siebzehn gemein. 5 Einige Beispiele wollen wir herausgreifen: Wie stark der sophokleische Aias motivisch 8 Vögler,

Interpretationen

114

C. Das Problem der Priorität

Danach

wird

man

um

so mehr

Grund

haben,

gerade

im

Falle

der

beiden

Elektren einen direkten Einfluß anzunehmen. Diese Vermutung finder man glänzend bestätigt, wenn man die Choephoren des Aischylos mit den Elektren vergleicht. Es kann keinen Zweifel geben, daß das ältere Elektradrama dem jüngeren als Vorbild gedient hat. Das beweist die gemeinsame Verwendung verschiedener, gegenüber Aischylos neuer Motive: Sophokles wie Euripides lösen den Stoff aus dem trilogischen Verband, in den er bei Aischylos noch eingefügt war, heraus und dichten ein Einzeldrama. Beide entschließen sich zu der neuen thematischen Grundkonzeption, den Anteil Elektras an der Handlung zu steigern. Beide geben ihren Stücken als Titel den Namen der Hauptperson, und unter Einschränkung der Rolle Orests machen sie die Agamemnontochter, die in der „Urelektra* (= Choephoren) noch eine sekundäre Figur war, zur entscheidenden Handlungsträgerin. Diese Verschiebung des thematischen Grundrisses zieht eine Fülle von Parallelen nach sich, die dem Drama des Aischylos noch fremd sind: Beide Elektren lassen eine formal wie inhaltlich parallele Struktur des Drameneingangs erkennen, die sonst in der Technik der Tragödieneröffnung selten ist: Es folgen aufeinander eine Rhesis Orests, eine Klagemonodie Elektras und eine kommatische Parodos zwischen Heldin und Chor. Im Gegensatz zu Aischylos, wo die Erkennung als Brücke zur folgenden zentralen Rachehandlung sich auf kürzestem Raum abspielt, erfährt die Anagnorisis bei den Nachfolgern eine intensive dramatische Ausgestaltung. Den Agon zwischen Orest und seiner Mutter in den Choephoren ersetzen Sophokles wie Euripides durch ein Streitgespräch zwischen Elektra und Klytaimestra, das zudem ein gleiches Strukturprinzip aufweist#. Beide jüngeren Tragiker ersetzen die Gestalt der aischyleischen Trophos durch die Figur eines alten Dieners des Hauses, der eine wesentauf die späteren eurip. Dramen (Herakles, Bakchen, Hippolytos) gewirkt hat, zeigt M. Imhof, Bemerk. zu d. Prologen ... p. 52. Die vielfältigen Beziehungen zwischen den Trachinierinnen und mehreren eurip. Stücken liegen auf der Hand: Zu Alkestis (Motiv des Abschieds vom Lager des Gatten u. Bericht der Dienerin vom Ende der Herrin), Medea (das Motiv des vergifteten Gewandes), Hippolytos (Gestalt der Phaidra), Andromache u. Ion (Bigamieproblem) und natürlich Herakles. Der eurip. 1. Hippolytos forderte die soph. Phaidra heraus, die ihrerseits wieder den 2. Hippolytos beeinflußt hat. Der soph. Chryses wirkt in der taur. Iph. nach, der eurip. Kresphontes in der soph. El. Motivische Bezüge sind anzunehmen zwischen Kresphontes u. Soph. Aletes bzw. zwischen Soph. Antigone und Eur. Bakchen (Die Gestalt des Pentheus ist von der des Kreon beeinflußt). Euripides hat mit seinen Phönissen den O.C. des Soph. angeregt. Die sophokleischen Dramen Antigone, Oedipus u. Iphigenie haben in den gleichnamigen euripideischen Stücken ihre Spuren hinterlassen Die Tyro des Sophokles scheint dem Euripides das Motiv der Rettung der Mutter durch die Kinder geliefert zu haben. Umgekehrt dürfte der Hippolytos die soph. Niptra hinsichtlich der Gestaltung des Vater-Sohn Verhältnisses beeinflußt haben. Das Motiv der Tötung der Kinder durch die eigene Mutter in der Medea dürfte im soph. Tereus vorgebildet sein. Die Schlußszene der Hekabe dürfte der Blendungsszene im Oed. Rex nachgebildet sein. Es handelt sich jeweils um ein dreiteiliges axialsymmetrisches System mit einem epilogartigen, den streng dialektischen Agonteil abschließenden zweiten Neikos

zwischen

den

Partnern. Die größeren Seitenflügel (Klyt. Angriff-El. Replik) in Form längerer Referate umrahmen ein ın Dialogform gekleidetes kurzes Mittelglied (Elektras Bitte um die Möglichkeit einer Entgegnung).

I. Methodische Vorüberlegungen

115

liche Funktion bei der Intrigenhandlung übernimmt, die in den Choephoren Orest allein bestreitet. Auch die Täuschung Klytaimestras, für die Aischylos nur eine Person benötigt, nämlich Orest, vollzieht sich bei den Nachfolgern in zweifacher Brechung mit je zwei Personen als Trägern der Überlistungsaktion (bei Soph. Pädag.Orest, bei Eur. Diener-Elektra). Scheidet in den Choephoren Elektra nach dem Kommos am Grabe als handelnde Person aus, so übertragen ihr die beiden jüngeren Tragiker eine wesentliche Aufgabe im Vollzug der Intrige. Dabei ist die Analogie der Handlungsführung auffällig: Nach Beseitigung des ersten Gegners lockt Elektra jeweils das zweite Opfer ins Netz, während Orest im Hintergrund lauert. Ist in dem Mittelstück der aischyleischen Trilogie Elektra selbst noch Trägerin des Lockenmotivs, so übernimmt bei Sophokles und Euripides eine andere Person die Aufgabe des Ganges zum Grab. Und während bei Aischylos die Zeichen als Indiz für eine Ankunft Orests gelten, wird der Fund am Grab von den beiden Elektren der jüngeren Tragiker als Eikosbeweis zurückgewiesen. In beiden Elektradramen gibt die Heldin in einer längeren Rhesis bei auffälliger motivischer Entsprechung und an homologer Stelle innerhalb des Gesamtaufbaus (kurz nach der Parodos) eine autobiographische Leidensdarstellung (Soph. 254 fi. — Eur. 300 ff.), die jeweils ein Bild vom Treiben der Mörder im Palast des Agamemnon entwickelt. Den knappen Botenbericht der Orestie (Cho. 874—83) bauen Sophokles (673 ff.) und Euripides (774 ff.) zu einem Prunkstück „reportagestilartiger“ Erzählkunst aus. Auf Grund dieser zahlreichen frappierenden Entsprechungen ist eine zufällige Übereinstimmung ausgeschlossen®, zumal diese Parallelen sich nicht auf einen beiden Dramen gemeinsamen künstlerischen Archetypus zurückführen lassen. Sie weichen im Gegenteil von der Vorlage der Choephoren ab. Das ältere Elektradrama hat das jüngere aufs stärkste beeinflußt. Daraus folgt, daß begründete Aussicht besteht, auf dem Weg einer vergleichenden Analyse brauchbare Kriterien zur Klärung der relativen Chronologie beider Elektren zu gewinnen®. Die Priorität muß aus einem Vergleich der Handlungsführung und Gesamtstruktur beider Tragödien, aus der Gestaltung größerer Kompositionselemente und aus dem Richtungssinn sowie dem Stellenwert paralleler Motive entschieden werden. Als weitere Kriterien darf man die Zeichnung der Personen und das Verhältnis der jeweiligen Gestaltung zum Mythos hinzunehmen. Wir übersehen dabei nicht, daß der ohne äußeren Anhalt gewonnene Nachweis einer literarischen Anhänglichkeit höchst schwierig ist. Das Problem setzt bei der Bestimmung derjenigen methodischen Grundsätze ein, welche über die Richtung der Abhängigkeit, d.h. über Original und Nachbildung entscheiden. Wir möchten diese Axiome in fünf Kategorien einteilen, also sozusagen eine Typologie der Nachahmung entwerfen: 5 Vgl. T. v. Wilamowitz p. 229 u. U. v. Wilamowitz, Hermes 1883, p.221. Das hier erwiesene offenkundige Abhängigkeitsverhältnis schließt auch den Gedanken Leskys aus (Grieh. Lit. Gesch. p. 421), Soph. u. Eur. hätten trotz zeitlicher Nähe den Stoff unabhängig voneinander behandelt. 4 Zur Feststellung von Prioritäten durch Strukturvergleiche siehe W. Ludwig, Sapheneia, p- 804. 8"

116

C. Das Problem der Priorität

1. Wird in einem Drama eine künstlerische Form nur gemäß den dramatischen Erfordernissen einfach erfüllt, in einem anderen dagegen mit spielerischer Freiheit verwandelt und variiert, so ist die zweite Phase die zeitlich spätere. Dieser Vorgang äußert sich oft derart, daß an die Stelle einer naheliegenden Gestaltung eine unerwartete, abwegige’ und zugleich kompliziertere und raffiniertere Fassung des gleichen Motivs tritt. Die dabei wirksame Drastik schließt eine fehlerhafte Deutung des Tatbestandes im Sinne einer Verwechslung von „noch nicht“ und „nicht mehr“ aus®,

2. Die Entwertung und Verkümmerung eines ursprünglich handlungstragenden Motivs zu einem bloß episodischen Gestaltungselement, zu einem ornamentalen Topos, zu einer bekräftigenden Geste, deutet auf eine Kopie. Dabei gilt es vor allem zu entscheiden, welches von zwei parallelen Kompositionselementen naturgemäßer aus der Situation entspringt. Die situationsbedingte Verwendung eines Motivs stellt gegenüber einer nur formelhaften, ad hoc gebrauchten das Original dar. 3. Die „uneigentliche Verwendung“ eines Motivs durch Verpflanzung in einen „fremden“ Zusammenhang, für den es seinem ursprünglichen Richtungssinn nach nicht primär entworfen sein kann, weist auf Spätstufe. Die Umbiegung der genuinen Bestimmung des Motivs zieht nicht nur eine Rudimentbildung nach sich, sondern führt auch oft zu sachlich-logischen Unstimmigkeiten®, da die Entlehnung einen Zwang auferlegt, der es dem Imitator unmöglich macht, das fremde Gut mit seinen künstlerischen Vorstellungen voll zur Kongruenz zu bringen10. 4. Ist bei unverkennbarer Ähnlichkeit ein Motiv A durch den Mythos gegeben, B dagegen freie Erfindung, so darf die sagenfeste Form als die frühere gelten. 5. Steht bei unverkennbarer Parallelität zweier Motive A im Einklang mit den charakteristischen Gestaltungsprinzipien des einen Dichters, während B einen scharfen Bruch mit einer verbindlichen Typik verursacht, so genießt das Motiv A die Priorität. 7 Mit Recht betont Reinhardt, p. 308, die Bedeutung der „Ausschlachtung“ bei Prioritätsfragen. 8 Versucht man

die noch zu allgemeinen Urteile zu präzisieren, so bieten sich besonders

folgende Erscheinungen für die Bestimmung einer Nachahmung als typisch an: Schwinden der konkreten Begrifflichkeit zugunsten des Abstrakten, Wechsel vom Tatsächlichen zum bloß Gedachten, vom Besonderen zum Allgemeinen. Hinzu kommen Kontraktur des Vorbildes zum Zweck einer Pointierung und schließlich die Parodierung der Vorlage. ® Vgl. dazu Reinhardt, p. 68, der sich gegen das Argument des Sinnwidrigen als Instrument für die Entscheidung von Prioritäten wendet. Die Fälle, in denen wirklich die dichterische

Gestaltung der Realität des logisch wie psychologisch Erfahrbaren widerstreitet, sind selten. 10 Dieser methodische Grundsatz, daß falscher oder nicht durchgeführter Gebrauch eines Motivs auf „richtige“ Verwendung in einer Vorlage hindeutet, nimmt heute auch in der neoanalytischen Homerforschung eine zentrale Stellung ein (Vgl. Kullmann, Die Quellen der Ilias, Hermes Einzelschr. 14, 1960, p. 32 u. Schadewaldt, Hermes 1952, p. 66.). Aller-

dings stimmen wir Hölscher zu, wenn er Gnomon 1955, p. 394 auf die Notwendigkeit einer konsequenten Durchführung des einmal gewählten methodischen Ansatzes verweist u.vor

dem

Dilemma

warnt,

„ein

Motiv

auf

eine

Vorlage

zugleich in der Nachahmung völlig überzeugend findet“.

zurückzuführen,

das

man

I. Methodische Vorüberlegungen

Diese

Tafel

erhebt

nicht den

Anspruch

auf Vollständigkeit.

117

Die

einzelnen

Kategorien entziehen sich auch bis zu einem gewissen Grad nicht der Gefahr subjektiver Qualitätsurteile. Der Zwang zum Bewerten liegt nun eben im Wesen von Prioritätsentscheidungen. Aber trotz dieser Unschärferelation hoffen wir auf keinen Widerspruch zu stoßen, wenn wir behaupten, daß die von uns aufgestellten methodischen Grundsätze mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sekundäre Bearbeitung eines Stoffes deuten. Eine Umkehrung des chronologischen Verhältnisses widerspräche den fundamentalsten Gesetzen eines künstlerischen Gestaltungsprozesses. Schließlich ist es von nicht geringem Gewicht, wenn verschiedene methodische Aspekte zum gleichen Ergebnis führen und die Gegenprobe zugleich einen negativen Befund liefert. Bei unserer Untersuchung kommt uns noch der einmalige Glücsfall zu Hilfe, daß wir diejenige Tragödie besitzen, die beiden jüngeren Dichtern als Vorlage gedient hat. Wir können also drei Spielarten des Orestesstoffes vergleichen. Als Aischylos die Geschichte vom Muttermord Orests dramatisch gestaltete, schuf er gegenüber seinen Vorgängern, insbesondere der chorlyrischen Fassung des Stesichoros, durch die erweiterte Rolle der Elektra eine veränderte dramatische Situation, von

der Sophokles und Euripides ihren Ausgang nehmen. Beide halten die Rolle Elektras für ausbaufähig, lösen aber diese Aufgabe mit verschiedenen Mitteln. Wenn wir unter diesem Aspekt die beiden Elektradramen der jüngeren Tragiker ım Sinne von Stoesslii mehr unter dem Gesichtspunkt eines Nebeneinander denn eines Nacheinander betrachten, dann deshalb, weil wir glauben, die Variierung des vorgegebenen thematischen Grundrisses form- und werkgeschichtlich nutzen zu können. Kennt man nämlich mehrere Bearbeitungen des gleichen Stoffes, so kann vielleicht ein Vergleich der sekundären thematischen Variationen mit dem zeitlich vorausgehenden thematischen Archetypus (in unserem Falle die Choephoren), d.h. eine Betrachtung über die Form, in der die Nachfolger die in der Vorlage vorgefundenen Anregungen übernehmen bzw. weiterentwickeln, zur Klärung des chronologischen Verhältnisses der einzelnen Fassungen beitragen. Die Tragfähigkeit dieses methodischen Ansatzes können wir an Beispielen nicht erhaltener Tragödien überprüfen. Wir denken dabei vor allem an die Bearbeitungen der Stoffe des Philoktet, des Odipus, der Iphigenie und der Antigone. In allen diesen Fällen ist nämlich die zeitliche Reihenfolge der jeweiligen drei Dramen gesichert, und wir verfügen zudem über die Kenntnis der großen Linien der Handlungsführung und der motivischen Grundlagen. Den Stoff des Philoktet haben als erster Aischylosi? und nach ihm Euripides (431 gleichzeitig mit Medea) und zuletzt Sophokles gestaltet. Dank der 52. Rede

11 Ob allerdings die Methode Stoessls zur Rekonstruktion verlorener Tragödien geeignet scheint, ist eine andere Frage. Wir stehen ja auf sichererem Boden, weil wir bei unserer Hypothese nur von erhaltenen Dramen ausgehen. 12 Zur Datierung des Phil. des Aischylos vgl. J. A. Letters, The life and work of Soph., New York 1939, p. 263.

118

C. Das Problem der Priorität

des Dion von Prusa verfügen wir über eine einigermaßen vollständige Synkrisis der drei Stüdke13. Bei Aischylos standen sich Odysseus und der leidende Philoktet allein gegenüber!4. Der Chor war aus Bewohnern von Lemnos gebildet. Euripides behält den Chor der Lemnier bei, gibt aber dem Odysseus zur Unterstützung den Diomedes bei, Die entscheidende Neuerung gegenüber Aischylos besteht darin, daß Euripides den Stoff zum Träger nationalhellenischer Tendenzen macht: Philoktet wird von Griechen und Troern umworben. Wüßten wir nun nichts über den Zeitpunkt der Aufführung des sophokleischen Dramas, so müßten wir aus der Gestaltung gleich-

wohl schließen, daß es das letzte Glied in der Entwicklung darstellt. Sophokles baut nämlich einerseits auf beiden Vorlagen auf, indem er dem Aischylos den Konflikt zwischen Odysseus und Philoktet, dem Euripides gewisse realistische Aspekte der Leidensschilderung des Helden verdankt. So z.B. hat Sophokles den Anfall des Helden, bei dem dieser wie bei Aischylos den Bogen verliert, durch Rückgabe desselben mit dem Zentralgedanken des euripideischen Dramas verbunden, die Entscheidung ganz in die Hand des Philoktet zu verlegen. Andererseits überbietet er offensichtlich die beiden Vorgänger, indem er an entscheidenden Punkten neuert, die Aischylos und Euripides gemeinsam sind. 1. Der Kern seines Stückes besteht in einer eigenen Erfindung: Erst Sophokles macht die Insel Lemnos zu einer menschenleeren Wildnis und steigert das Ausgestoßensein des Helden. Damit stößt er nach Aischylos und Euripides in eine noch nicht erschlossene Dimension des Mythos vor: Er konzipiert den Stoff als Leidenshandlung. 2. Der Chor, welcher sich bei Aischylos und Euripides aus Inselbewohnern zusammensetzt, muß bei Sophokles von außen auf die Insel gebracht werden. Er rekrutiert sich aus der Schiffsbesatzung des Neoptolemos. Damit schafft sich der Dichter zugleich den von seinen Vorgängern noch nicht genutzten dramatischen Gewinn einer Doppelrolle des Chores. Dieser pendelt zwischen zwei gegensätzlichen Gefühlsstimmungen hin und her. Einerseits vermag er sich angesichts der Leidenssituation des Helden

dem

Mitleid nicht zu entziehen,

andererseits

fühlt er sich

als Glied des großen Täuschungsplans seinem Herrn verpflichtet. 3. Sophokles geht zwar gegen Aischylos mit der modernen Fassung des Euripides zusammen,

wenn

er nicht mehr

nur einen, sondern

zwei Gesandte

zu Philoktet

delegiert, er führt aber über Euripides insofern hinaus, als er eine dem Mythos fremde Person einführt: Neoptolemos begleitet jetzt Odysseus. Sophokles nutzt diese Verdopplung der Figur des Gesandten auch konsequent zur Entwicklung einer dem Euripides noch fremden Problematik. Durch die Einführung des Neoptolemos entsteht eine Konfliktsituation, da die beiden Gesandten auf Grund ihrer gegen13 Zur Rekonstruktion der beiden verlorenen Stücke vgl. 5. Kieffer, Philoctetes and Arete, C. Ph. 37, 1942, p. 38—50; siehe auch Decharme, Euripide, p. 353 ff.

4 Das neugefundene Bruchstück einer Hypothesis zum aischyleischen Drama (Ox. Pap. 20, 1952, nr. 2256 frg. 5) ist mit Vorsicht zu benutzen, da die Personenliste auf das sophokleische Drama zu beziehen ist, wie G.Kossyphopoulos, Hellenika 14, 1955, p.449 gezeigt hat. Anders Mette, Gnomon 1953, p. 439.

I. Methodische Vorüberlegungen

119

sätzlichen Physis den Erfolg der Intrige zu gefährden drohen. Sophokles hat also das Motiv des „Zweifrontenkrieges“, das Euripides vorher in der Auseinandersetzung zwischen Hellenen und Troern gestaltete, in veränderter Form aufgenommen. Die Reihenfolge Aischylos, Euripides, Sophokles schält sich demnach schon bei einer Analyse der motivischen wie thematischen Grundlagen der einzelnen Dramen als wahrscheinlich heraus. Nur so kann man von einer Teleologie der künstlerischen Gestaltung im Sinne einer zunehmenden dramatischen Ausbeutung des Stoffes sprechen. Sophokles bedeutet den Endpunkt, da er sowohl die Motive der Früheren zusammenfaßt als auch dem Stoff unentdeckte Seiten abzugewinnen versteht. Ahnlich liegen die Verhältnisse beim Iphigenienstoff. Fest steht, daß selbst, wenn die Datierung von 406 für Euripides unbekannt wäre, dieser Tragiker als der letzte Former des Mythos gelten müßte, da er in den überlieferten Stoff eine den Vorgängern noch fremdes Problem hineinprojiziert. Über die Opferung Iphigenie entscheidet nicht mehr wie bei Aischylos und Sophokles die patria potestas Agamemnons!5, sondern aus der erzwungenen Opferung der Heldin wird eine freiwillige Selbstaufopferung der Tochter. Indem Adhill anders als bei Aischylos und Sophokles auf seiner Ablehnung der Hinrichtung beharrt, kann Iphigenie diese ausweglose Situation durch den freien Entschluß, aus patriotischen Motiven zu sterben, lösen 15, Und schließlich kommt noch eine im Vergleich zu den älteren Tragikern veränderte Form der Intrige hinzu: Odysseus wird durch Agamemnon bzw. Menelaos ersetzt. Den Odipusstoff brachte als erster Aischylos im Jahre 467 in den beiden ersten Stücken der thebanischen Trilogie, Laios und Odipus, auf die Bühne. Ihm folgten Sophokles (428—25) und als letzter Euripides!” mit ihren Odipusdramen. Auf Grund der zuverlässigen Rekonstruktionen der beiden verlorenen Dramen durch Stoessl18 bzw. Robert1® läßt sich die Entwicklung der Sagengestaltung in ihren wesentlichen Zügen verfolgen. Dabei wird Euripides als letzter Bearbeiter kenntlich. 1. Sophokles gibt der Figur des Kreon, die Aischylos noch nicht in die Handlung einbezogen hat?°, die sekundäre Rolle eines passiven Gegenspielers des Odipus. Euripides entwickelt diesen sophokleischen Ansatz, indem er Kreon zu einer zentralen Person, zu einem aktiven Kontrahenten des Odipus umformt. Dadurch

gelingt es ihm, den Stoff mit neuen Akzenten zu versehen: Der Dichter gestaltet ein politisches Drama, in dem der Kampf zweier politischer Parteien den Schwerpunkt der Handlung bilder. 15 Wie man aus der Parodos des Agamemnon vermuten kann, hat Aischylos wesentlich ein Agamemnondrama geschaffen, in dessen Zentrum der Fürstenstreit gestanden haben muß. 16 Vgl. die Kritik des Aristoteles, Poetik 15, 1454 a 30 f. 17 Vgl. Robert, 50. Berl. Winkelmannsprogr. 1890, p. 76 ff., Bruhn, Ausg. Oed. Rex, p. 54 ff., Wilamowitz, S.-Ber. Akad. Berlin 1903, p. 589, Dieterich RE Euripides 11, Halbband,

Ρ. 1267. Der Gebrauch des troch. Tetram weist auf die späte Zeit des Euripides. 18 Fr. Stoessl, Die Trilogie des Aischylos, Baden bei Wien 1937. 19 Odipus, Berlin 1915, p. 252—331.

20 Diese These Roberts scheint uns wahrscheinlicher als die Version Stoessis (212 ff.), der am Ende des Laios eine dem soph. Oid. Rex analoge Auseinandersetzung Oid.-Kreon ansetzt.

120

C. Das Problem der Priorität

2. Aischylos bringt die Erkennung nicht auf der Bühne zur Darstellung, sondern läßt den Anagnorismos zwischen die Stücke Laios und Odipus fallen?t. Sophokles und Euripides führen dagegen beide den Erkennungsakt vor. Während sich aber Sophokles an die traditionelle Reihenfolge der beiden Entdeckungen hält — zuerst enthüllt sich der Königin ihr zweiter Gatte als ihr Sohn und dann als der Mörder des ersten Gatten, des eigenen Vaters —, kehrt Euripides als letzter erstens die Reihenfolge der beiden Anagnorismoi um und trennt sie zweitens zeitlich voneinander. Die Tendenz, das Motiv des Anagnorismus bis zum äußersten Effekt aus-

zubeuten, weist Euripides deutlich als letzten Bearbeiter aus. 3. Euripides scheint in seinem Werk die Rolle der Jokaste als Gattin des Odipus stärker betont zu haben als seine Vorgänger. 4, Die euripideische Tragödie weicht bedeutsam von den beiden Vorlagen ab, da Odipus sich nicht mehr selbst das Augenlicht raubt, sondern seine Blendung durch andere vollzogen wird. Außerdem liegt die Blendung zwischen den beiden Phasen des Anagnorismos und nicht erst am Ende der Katastrophe wie bei Aischylos und Sophokles. 5. Während bei Aischylos und Sophokles der Odipusknabe auf dem Kithairon ausgesetzt wird, greift Euripides zu einer neuen Version. Wie das Perseuskind wird Odipus ins Meer geworfen. 6. Euripides übernimmt von Sophokles das Motiv, daß der Tod des Pflegevaters den Anstoß zur Enthüllung der Wahrheit über Odipus gibt. Während aber bei Sophokles die Todesnachricht von dem Hirten nach 'Iheben gebracht wird, übernimmt bei Euripides in einer gesteigerten Form die Königinwitwe diese Funktion selbst. Motivische und thematische Kriterien weisen also den euripideishen Odipus deutlich als die späteste der drei Fassungen des Stoffes aus. Wir finden Sophokles in entscheidenden Zügen von Aischylos abhängig, die Euripides aufgibt und an deren Stelle er neue dichterische Möglichkeiten erschließt. Eine stufenweise Entfaltung der dramatischen Möglichkeiten läßt sich auch bei der Behandlung des Antigonestoffes ausmachen. Während es vor Sophokles eine Sagenversion gegeben hat, die eine Teilnahme beider Schwestern an der Bestattung des Polyneikes kannte und Aischylos sich wahrscheinlich dieser Fassung des Mythos in der Schlußszene der Septem anschloß22, schließen Sophokles und später Euripides unter seinem Einfluß2® Ismene als Mittäterin aus. Während nun Sophokles konsequent Antigone allein als Schuldige ins Zentrum rückt, verschiebt Euripides als

21 Anders, aber nicht überzeugend Stoessl, p. 212.

22 Vgl. dazu Robert, p. 378 u. Stoessl p. 112, der den Schluß der Sieben für echt hält. Dagegen Böhme, Gnomon 15, (1939) p. 352 ff. Jüngst spricht sich Lesky, Gesch. d. griech. Lit. p. 233 entschieden für die Unechtheit des Schlußteils aus. Bezüglich der Zugehörigkeit von Ant. u. Ism. zur aischyl. Fassung läßt Lesky aber die Möglichkeit einer Echtheit offen. In der letzten Zeit versuchen Ed. Fränkel, Aeschylea, Mus. Helv. 1961, p. 133 ff. u. W. Pötscher, Zum Schluß der Sieben gegen Theben, Eranos 1958, p. 14751 die beiden Schwestern

als genuine Personen der aischyleischen Sagengestaltung zu erweisen. 35 Daß die eurip. Antigone der soph. nachfolgt, gilt als sicher (Vgl. Schmidt, I, 3, p.591 A2.).

I. Methodische Vorüberlegungen

121

letzter Bearbeiter noch einmal die sophokleische motivische Grundlage wesentlich?4. Haimon beteiligt sich an der Tat seiner Braut. In welchem Ausmaß Euripides aber seine Vorgänger überbietet, zeigt am deutlichsten die Tatsache, daß Antigones Verurteilung zum Tod durch das Eingreifen eines Maschinengottes verhindert wird. Am Ende steht Antigones Hochzeit mit Haimon. Wir müssen uns auf diese vier Beispiele beschränken. Es dürfte danach die Tragfähigkeit unseres zweiten methodischen Ansatzes kaum bestritten werden können: Eine Synkrisis der sekundären Überformungen eines mythischen Stoffes mit dem künstlerischen Archetypus kann Hinweise für die relative Chronologie liefern. Als Grundsatz darf gelten: Die einzelnen Phasen einer Formung eines Stoffes wachsen organisch auseinander hervor und repräsentieren eine kontinuierliche Entwicklung. Je öfter ein Stoff dichterisch geformt wird, desto mehr versucht man ihm noch unausgeschöpfte dramatische Möglichkeiten abzuringen. Vor allem der Dramatiker, der als dritter einen Stoff zu gestalten unternimmt, ist a priori auf eine neue und originelle Behandlung der Fabel gewiesen. Das haben unsere Beispiele zur Genüge gezeigt. Sein Verhältnis zum Stoff wird notwendig durch seine zeitliche Stellung mitbestimmt, da er mit den von den Vorgängern vorgegebenen Voraussetzungen zu rechnen hat?5. Diese Gebundenheit des griechischen Tragikers (s.u.) erklärt sich aus der kanonischen Gültigkeit, die ein einmal gestalteter Stoff beim Publikum gewann. Die tragische Dichtung bewegte sich im Rahmen einer als lebendiger, befruchtender Agon verstandenen Kunstübung®#®. Wenn man bedenkt, daß die reiche Produktion der Bühne Athens bei dem beschränkten Stoff zur Variation und Steigerung älterer Motive anregen mußte und daß ferner der agonale Charakter der Tragödienaufführungen sowie die hochgeschraubten Erwartungen des kritischen Publikums (vgl. Aristoph. Frösche) diese Tendenz noch verstärkten, so scheint das Gewicht unserer Überlegungen noch verstärkt, zumal in unserem Fall die zeitliche Nähe der beiden Elektren den Wettstreit begünstigen mußte. Danach wird man sagen können; Als zeitlich spätestes Drama in einer Reihe von Bearbeitungen des gleichen Stoffes darf das24 Sichere Nachrichten über den Inhalt der eurip. Antigone liefert die aristophanische Hypothesis zur Antigone des Sophokles. 25 Wenn wir hier die Variation eines Themas auch als Ergebnis eines „Zwangs der Entwicklung“ ansehen, so bleibt der Primat der schöpferischen Genialität gleichwohl unangetastet. Gegen eine einseitige rationalistische Deutung, die aus dem Dichter das „von hinten bedrängte Glied in der Entwicklung“

macht, wendet

sich mit Recht M. Imhof, Dt. Lit.

Ztg. 1955, p. 512 in der Rez. v. Friedrich, Eur. u. Diph. Andererseits sollte man die Komponente der „Einwirkung von außen“ nicht völlig unterschätzen, wie es Strohm tut. Das hieße die Wirkung des lebendigen Stroms der Überlieferung leugnen, die doch auch als konstitutives Prinzip des dichterischen Schaffens wirkt. 2% Dieses agonale Moment darf aber keinesfalls als polemisierende Rivalität verstanden werden, ein Aspekt, der noch immer

z.B. das Euripidesbild bei Schmid

u. Pohlenz

be-

stimmt, sondern es entspringt aus dem natürlichen Gestaltungstrieb eines Künstlers, der vorgegebenen Formen eine neue Interpretation an die Seite zu stellen sucht. Man hat kein Recht, Soph. u. Euripides so einseitig abwertend zu beurteilen, als hätte der eine nicht vom anderen den Impuls zu eigenem Schaffen erhalten können, ohne zugleich durchgreifender Polemik Raum zu geben.

122

C. Das Problem der Priorität

jenige gelten, das sowohl gedanklich wie formal den Stempel des Unerwarteten und Drastischen wie auch den der Weiterentwicklung und Synthese sonst verstreuter Motive trägt. Eine Entwicklung im Sinne eines dramatischen Rückschritts gilt es auszuschalten. Wir fassen das Ergebnis unserer methodischen Überlegungen zusammen: Es soll in dieser Arbeit das Problem der relativen Chronologie beider Elektradramen von zwei Seiten angegangen werden. 1. Auf dem Weg eines direkten Vergleichs beider jüngerer Stücke, die sich wie Varianten zueinander verhalten und von denen das frühere das spätere nachweislich beeinflußt hat. 2. Auf dem Weg einer Synkrisis der beiden jüngeren Variationen mit der thematischen Urform der Choephoren, von der Sophokles wie Euripides sicher den Ausgang genommen haben. Mit der Untersuchung der zweiten Frage wollen wir beginnen.

II. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren Die

Aufgabe

dieses

Abschnitts

wird

sein zu untersuchen,

welche

der

beiden

Elektren sich unmittelbar aus der aischyleischen Vorlage ohne Ansatz eines Zwischengliedes ableiten läßt und welches Drama zu seinem Verständnis dieser vermittelnden Brücke bedarf. Im wesentlichen werden sich die folgenden Betrachtungen an einem Vergleich beider Elektrastücke hinsichtlich der Aufnahme und Verarbeitung aischyleischer Anregungen orientieren. Erst danach wird man entscheiden können, ob sich ein so offensichtlicher Grad von Aischylosnähe bzw. -ferne herausbildet, daß man daraus Schlüsse für das Zeitverhältnis der Elektradramen zu ziehen berechtigt ist. a) Das Verhältnis von Sophokles’ Elektra zu den Choephoren Auszugehen ist hier von der Tatsache, daß Sophokles die Elektragestalt, die von Aischylos noch nicht als Individualität mit eigengesetzlichem Aktionsradius gefaßt ist, sondern der Racheidee und damit der Oresteshandlung dient (Elektra ist die Repräsentantin der Agamemnonpartei am Hof der Mörder, lebendiges Symbol für das Weiterwirken der dämonischen Kraft Agamemnons, scheidet aber bezeichnenderweise nach dem Kommos am Grab aus der Handlung aus), in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Da der Dichter in der Heldin das Instrument zur Darstellung eines γενναῖον ἦϑος sieht, muß er die aischyleische Grundsituation einer passiven, isolierten Heldin wahren, die in der puren Reaktion auf eine bedrohende Umwelt die reiche Skala ihrer Individualität entfalten kann. Voraussetzung für diese Konzeption ist, die Erkennung zwischen den Geschwistern möglichst lange hinauszuschieben und damit durch die notwendige Restriktion der Rachehandlung die Voraussetzung zu schaffen, daß aus dem aischyleischen Orestesdrama ein Elektradrama entstehen kann. Damit sind die vom Drama des Aischylos abweichenden grundlegenden Neuerungen der sophokleischen Tragödie schon genannt.

II. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren

123

Alles weitere ergibt sich von selbst: Mit der Person Elektras tritt notwendig das Motiv der Anagnorisis in den Vordergrund, der Anteil Orests und damit auch die Durchführung der Intrige werden eingeschränkt. Aischylos und Sophokles haben also die beiden in der Grundstruktur des Stoffes angelegten dichterischen Möglichkeiten, jeder auf seine Weise, ausgeschöpft. Das aber bedeutet, daß der thematische Grundriß der sophokleischen Elektra ohne Bruch aus der aischyleischen Fassung abzuleiten ist. Dementsprechend sind auch trotz der veränderten Zielsetzung der Darstellung die motivischen Abweichungen von den Choephoren verhältnismäßig gering, die Übereinstimmungen ungemein deutlich. Die Änderungen beschränken sich im wesentlichen auf die Einführung der Botschaft des Pädagogen und der Figur der Chrysothemis. Aber gerade diese beiden Neuschöpfungen sind bei Sophokles Träger von Motiven, die ihrerseits aus Aischylos entlehnt sind (Der Pädagoge als Überbringer der Todesbotschaft, Chrysothemis als Trägerin des Traummotivs und der Lockenszene), so daß der Eindruck der Neuerung gemildert wird. Den geringfügigen Verschiebungen steht nun aber — was viel schwerer wiegt — die Übernahme aller entscheidenden aischyleischen Motive gegenüber. 1. Aischylos wie Sophokles lassen beide die Handlung im Palast des erschlagenen Atriden abrollen. Beide wahren die traditionelle Lokalität und damit die archaischheroische Atmosphäre. Palast und Grab des Toten bleiben als Ausdruck permanenter Anwesenheit und Macht des Erschlagenen die symbolisch-hintergründigen Stimmungsträger. Die Elektragestalt des Sophokles hat während des gesamten Dramas ihren Platz am Tor des Palastes. Die morphologisch jüngere Gestaltung des Sophokles wird nur dadurch kenntlich, daß das Grab Agamemnons nicht in der Orchestra liegt, sondern zu einem außerszenischen Ort geworden ist. Es ist nicht mehr in dem Maße zentraler „Mitspieler“ wie im Kommos

der Choephoren,

doch beruht seine Wirkung darauf, daß die wichtigsten Auf- und Abgänge der handelnden Personen auf den Grabhügel hin orientiert sind?7. 2. Deutliche Parallelen besteben auch in der Komposition der Drameneröffnung. Der Prolog bringt jeweils den Auftritt Orests mit seinen Begleitern. Sowohl bei Aischylos wie auch bei Sophokles werden durch symbolische Opfergaben (Lockenspende) am Grabe des Herrschers und durch Gebete (bei Aischylos an den chthonischen Hermes als Totengeleiter und an den toten Vater, bei Sophokles an die Heimatgötter des Stammlandes, vgl. V. 67) Notwendigkeit und Schwere der bevorstehenden Aufgabe unterstrichen. Nachdem so zu Beginn die Partei der Rache in ihrer aktiven Form exponiert ist, folgt jeweils unmittelbar darauf die Vorstellung derselben unter dem Aspekt der leidenden Daseinsform, verkörpert durch Elektra. Die feinen Entsprechungen springen ins Auge: Orest glaubt jeweils, seine Schwester

erkennen

zu

können,

bei

Aischylos

inmitten

des

Trauerzuges,

bei

Sophokles als Klagende im Inneren des Hauses. Doch jedesmal wird die sich abzeichnende Erkennung verhindert, um dramatischen Raum für den Auftritt der Heldin zu schaffen. Dieser Auftritt der Elektra gipfelt in beiden Szenen in #7 Vgl. auch 5. El. 84 (Aisch. Choeph. 476—80), 224 ff., 453 f., 138497, 1417 ff.

# Der Anfang der Choephoren ist in den Hss. nicht erhalten. Doch läßt sich alles Wichtige sicher erschließen.

124

C. Das Problem der Priorität

einem dem Anruf Orests entsprechenden Gebet an die Mächte der Unterwelt um Gelingen der Rache wie Heimkehr Orests (Aisch. Cho. 124 ff. — 5. El. 1106. 3, Wie bei seinem Vorgänger Aischylos vollzieht sich die Anagnorisishandlung bei Sophokles ausschließlich zwischen den getrennten Geschwistern, die aus eigener Spontaneität zur Erkennung durchbrechen, wobei die Initiative jeweils von Orest ausgeht, der seine Schwester zuerst erkennt. In den Erkennungshandlungen stehen im Mittelpunkt jeweils vermittelnde Medien (bei Aisch. Locke und Fußspuren, bei Sophokles die Urne), die ihre Wirkung aus einer tieferen Beziehung zu Orest gewinnen. Schließlich wird das Ende der Erkennungsszenen in beiden Dramen mit einer Mahnung zur Dämpfung der überschwänglichen Freude (vgl. Cho. 264—68 und 5. El. 1232 ff., 1288 ff., 1322, 1326—28) deutlich markiert.

4. Wie sehr es Sophokles um eine getreue Bewahrung einzelner Motive der aischyleischen Zeichenszene geht, beweisen die zahlreichen Anlehnungen an sein Vorbild?®. Wir wollen hier die wichtigsten Parallelen anführen: Bei Aischylos hatte Elektra die Freudenbotschaft, die ihr von Orest kommt, ungläubig zurücgewiesen: ἀλλ᾽ ἐν κακοῖσιν τοῖς ἐμοῖς γελᾶν ϑέλεις; (Cho. 222). In gewollter Entsprechung weist auch die sophokleische Heldin die Argumente der Schwester zurück: κἀπὶ τοῖς σαυτῆς κακοῖσι κἀπὶ τοῖς ἐμοῖς γελᾷς; (EI. 879 f.). Die Wahrnehmung der Locke beschreibt die aischyleische Elektra mit Worten, die stark an die entsprechende Darstellung der Chrysothemis anklingen (Cho. 168-8. El. 900 f.). Orest wird als möglicher Spender in Betracht gezogen. Der Wortlaut bei Aischylos: τοῦ φιλτάτου βροτῶν Ὀρέστου (193/4), bei Sophokles: φιλτάτου βροτῶν πάντων Ὀρέστου (903,4). In beiden Szenen wird die Vermutung geäußert, außer Orest könne kaum jemand als Spender in Betracht kommen. Dabei läßt sich die sophokleische Fassung (908) direkt aus der aischyleischen herleiten (Cho. 193/4). Aischylos wie Sophokles lassen die Finderin diese Vermutung begründen (Cho. 173--ΕΙ. 909; man beachte προσῆκε — προσήκει), wie sie auch ausdrücklich die Mutter als mögliche Spenderin ausschließen (Cho. 189f. — El. 913 f.). Die Reihe der engen Beziehungen ließe sich noch weiterführen. So darf man z.B. auf die gemeinsamen Motive der "Tränen als Ausdruck seelischer Erschütterung (Cho. 185 ἢ. — El. 906) und des urplötzlichen Getroffenseins beim Anblick der Locke Orests (Cho. 183 f. — El. 902 f.) verweisen. In beiden Stücken erhält Elektra außerdem Kenntnis von den Tekmerien zu einem Zeitpunkt, zu dem sie weder über ein sonstiges Indiz für eine Anwesenheit des Bruders verfügt, geschweige denn mit Orest zusammengetroffen ist. 5. Als weitere gewichtige Parallele muß die für beide Stücke konstitutive enge Verknüpfung von Oneirosmotiv und Choephorie gelten. Sophokles verschärft zwar den prodigienhaften Charakter des Traumes, indem er eine Anregung aus Herodots Mandanegestalt aufgreift?°. Von der aischyleischen Fassung bewahrt er aber noch die wichtige Vorstellung einer persönlichen Begegnung Klytaimestras mit der Traumfigur (EI. 417). 2 Vgl. Böhme, Aischylos und der Anagnorismos, Hermes 73 (1938), p. 207, dem wir hier im wesentlichen folgen. s0 Vgl. Herodot I, 108. Die Beziehungen gehen bis in die einzelnen Formulierungen.

11. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren

125

Beiden Tragikern dient das Traummotiv zur Motivierung der Entscheidung Elektras bzw. der Chrysothemis, am Grab des Vaters ein Opfer darzubringen. In beiden Stücken bildet diese Grabspende das notwendige Komplement zu dem vorausgegangenen Lockenopfer Orests, weil beide Geschwister vor ihrer Begegnung zunächst durch das Medium der gemeinsamen Choephorie und damit durch die Gestalt des Toten, der die Rache gebietet, innerlich verbunden werden. Die Hinter-

gründigkeit der Grabspende wird noch dadurch vertieft, daß die Wirkung des von Klytaimestra zur Besänftigung des Fluchgeistes des ermordeten Gatten veranstalteten Opfers jedesmal durch Elektra in das Gegenteil verkehrt wird. Die Mörderin unterliegt im Kampf beider Parteien, mit rituellen Mitteln den Geist des Toten zu beeinflussen. Die Vereinigung der Opferspenden der Geschwister am Grab des Vaters bezeichnet den vorweggenommenen Triumph der Racheidee. 6. In deutlicher Form greift Sophokles auch bei der Gestaltung der Intrigenhandlung auf die Fassung der Orestie zurück, Er behält das aischyleische Motiv der fiktiven Todesbotschaft als entscheidendes Mechanema zur Durchführung der Racheintrige bei. Orest kommt jeweils die Funktion zu, in der Rolle eines Boten Träger dieses ψευδὴς λόγος zu sein®!. Aber wie in den meisten Fällen erweist sich Sophokles auch hier nicht als bloßer Imitator, sondern er verwandelt die ihm vorgegebenen Bauelemente. Das Motiv der Todesbotschaft tritt in zweifacher Brechnung auf. Es wird durch die Einführung des Pädagogenberichtes verdoppelt, da es nicht mehr wie bei Aischylos als Mittel der Intrige, sondern in seiner Wirkung auf die Erkennungshandlung und die Person Elektras begriffen wird. In der Komposition der beiden Rachetaten dagegen geht Sophokles wieder mit Aischylos ganz eng

zusammen,

Beide

Opfer,

Aigisth

wie

Klytaimestra,

ereilt ihr Schicksal

am

gleichen Platz im Palast. Die symbolische Identität des Ortes wird gewahrt. Zu diesem Zweck müssen sich die Täter Eingang in den Palast verschaffen und muß Aüigisth in das Innere der Königsburg gelockt werden, wo er an Stelle der Bestätigung des Todes Orests seinen eigenen Untergang findet?2. Für die Beseitigung beider Gegner genügt also bei Aischylos wie bei Sophokles ein einziges, und zwar dasselbe Mechanema 85, Welche Schlüsse lassen sich nun aus dem Vergleich beider Tragôdien ziehen? Die sophokleische Elektra rückt ganz in die Nähe der aischyleischen Choephoren*. Der Einfluß fällt um so stärker ins Auge, als auch die grundsätzliche Differenz im thematischen Grundriß aus der Anlage der Aischylostragödie abgeleitet werden 31 An Einzelheiten seien noch genannt: Der gemeinsame Begriff des μάτην ϑνήσκων (Cho. 845 f. — El. 59 ff.) und die Erwähnung der Urne des Toten sowie manche Parallelen in dem fingierten Bericht vom Tode des Sohnes an die Mutter (Cho. 680-837 —

S. EL. 673f.).

#2 Vgl. die homologen Szenen Cho. 818 ff. u. 5. El. 1442 ff. 85 Deutliche Parallelen findet man außerdem: Soph. El. 1415f. — Agam. El. 1479 — Choeph. 886.

1343 ff., Soph.

34. Als erster hat, soweit ich sehe, O. Navarre (Revue des études anciennes, 1909, p. 101—128)

das Verhältnis von Sophokles’ El. zu den Choephoren untersucht. Störend wirkt dabei aber die Tendenz des Verfassers, in der soph. Umformung zugleich immer eine Perfektionierung des unfertigen Aischylos zu sehen.

126

C. Das Problem der Priorität

kann. Damit ist erwiesen, daß die sophokleische Elektra als direkte Variation der durch die Choephoren repräsentierten dramatischen Überlieferung gelten darf, ohne daß zum Verständnis die euripideische Tragödie notwendig vorausgesetzt werden müßte. Unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zu Aischylos steht jedenfalls der Annahme einer Priorität der sophokleischen Elektra nichts im Wege. b) Der Verhältnis von Euripides’ Elektra zu Aischylos’ Choephoren und Sophokles’ Elektra Es gilt im folgenden zu untersuchen, ob im euripideischen Drama die motivische Nähe zu den Choephoren ebenso deutlich wird wie im Falle der‘sophokleischen Tragödie. Der Übersichtlichkeit wegen wollen wir die einzelnen Gestaltungselemente in derselben Reihenfolge wie oben durchmustern. 1a) Euripides weicht zunächst hinsichtlich der äußeren Szenerie entschieden von den beiden übrigen Tragikern ab: An die Stelle des königlichen Palastes (5. o.) bei Aischylos und Sophokles tritt überraschenderweise ein ländliches Milieu, das bisweilen beinahe idyllish-bukolische Züge annimmt. Diese auch für euripideische Verhältnisse unerhörte Änderung des überkommenen Mythos im Sinne einer bewußten Entheroisierung bildet die Grundlage für die sonstigen tiefgreifenden motivischen und thematischen Neuerungen. Die innere Bindung des Geschehens an die Umgebung des Grabes wie des Palastes ist aufgegeben®®. Euripides löst das gesamte Inventar des Mythos (Erkennung, Planung, Intrige) aus seinem ureigensten Boden. Indem er damit die Handlung völlig veränderten Bedingungen unterwirft, gibt er ihr zugleich einen neuen geistigen Inhalt. Das Drama entfernt sich schrittweise vom mythischen Ausgangspunkt und erreicht eine Grenze, ja überschreitet diese Grenze in ein Reich ganz neuer, von den beiden übrigen Tragikern nicht ergriffener Möglichkeiten hinein. Im Vergleich zu Aischylos und Sophokles, deren Gestaltung als archaisch-konservativ bezeichnet werden muß, stellt sich die Bearbeitung des Euripides als modern-progressiv dar. Indem alles Geschehen von der heroischen in die Welt des Bürgerlich-Alltäglichen herabstilisiert wird, zeigen sich am Horizont bereits erste Spuren einer späteren Zeit, die dann endgültig das Milieu des kleinen Mannes, den Alltag des Durchschnittsmenschen zur Grundlage der dramatischen Dichtung machen wird. Die Elektra des Euripides setzt sich bezüglich des äußeren Rahmens der Handlung so entschieden von der Konzeption der beiden übrigen Dramatiker ab, daß man sich kaum

vorstellen kann, daß das Drama

des

35 Man beachte z. B. im Prolog die dem klassischen Mythos nicht „angemessene“ Gestalt des Auturgos,

Ausdruck

neuer

sozialer

Vorstellungen,

oder

die

Person

Elektras,

die

uns

begegnet, wie sie mitten in der Nacht (54 ff.) Wasser trägt. Eine beinahe ländliche Biotik tritt uns in den beiden Opferszenen Eur. El. 744 ff. u. 1132 ff. entgegen. Auch die stark bukolische Zeichnung des alten Pädagogen Agamemnons (er ist zugleich Hirte!) muß auffallen. Zu nennen sind hier die detaillierte Auswahl der für die Bewirtung der Gäste (Orest u. Pylades) herbeigeschafften Nahrungsmittel (492 ff.) und die liebenswürdige Anmut des Überbringers (487 ff.). Selbst das sonst streng an die unmittelbare Umgebung des Palastes gebundene Grab des Königs wird in das ländliche Milieu verlegt. Träger des Grabgangmotivs ist bezeichnenderweise der alte Pädagoge.

11. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren

127

Sophokles dem euripideischen nachgefolgt sein könnte. Uns scheint eine geradlinige Entwicklung entschieden wahrscheinlicher. Aus der lokalen Veränderung ergeben sich nun konsequent alle weiteren Neuerungen. Wieweit Euripides von Aischylos und Sophokles im einzelnen abweicht, soll der folgende Überblick zeigen®®: 2a) Die bei Aischylos und Sophokles deutliche Entsprechung in der Struktur des Eingangs geht verloren. Es finden sich nicht mehr zu Beginn der Rächer Orest und die um dieser Racheidee willen leidende Elektra als Vertreter von Spiel und Gegenspiel zusammen, verbunden durch das jeweilige Gebet um ein Gelingen der Rache, sondern bei Euripides beginnt das Stück mit dem überraschenden Auftritt der „unmythischen“ Figur des Auturgos, der sich schließlich als Gatte Elektras enthüllt. Zu dem Gatten gesellt sich die verheiratete Elektra. Deutlicher hätte der Dichter den Abstand zu Aischylos und Sophokles gleich zu Beginn des Werkes nicht markieren können. 3a) Orest hat bei seiner ersten Begegnung mit Elektra im Gegensatz zur Darstellung des Aischylos und Sophokles keine Ahnung von der Anwesenheit der Schwester. Er hält sie für eine Sklavin. Die Anagnorisishandlung selbst vollzieht sich nicht mehr ausschließlich zwischen Orest und Elektra, sondern wird zu einem

großen Teil von dem alten Pädagogen Agamemnons getragen, der die Erkennungszeichen zu überbringen hat und auch den eigentlichen Anagnorismus herbeiführt. Die ursprüngliche Rolle Orests als eigentlich aktiver Person innerhalb der Wiedererkennungshandlung wird bei Euripides in ihr Gegenteil verkehrt: Orest drängt nicht mehr zur Erkennung hin, sondern muß sich vom Pädagogen, nicht von Elektra erkennen lassen. Vergeblich sucht man auch einen den aischyleischen Zeichen bzw. der sophokleischen Urne analogen, zwischen den Geschwistern vermittelnden Symbolträger der Erkennungshandlung. 4a) Hinsichtlich der Auffindung der Erkennungszeichen fehlen alle Besonderheiten, welche für die engen Beziehungen zwischen Aischylos’ und Sophokles’ Darstellung

charakteristisch

sind.

Entscheidend

aber

dürfte

sein,

daß

Elektra,

wiederum im Gegensatz zur Gestaltung der beiden übrigen Tragiker mit Orest bereits zusammengetroffen ist, bevor die Zeichen überbracht werden. 5a) Traummotiv und Choephorie, zwei für den äußeren Handlungsablauf wie für den geistigen Hintergrund des Rachegeschehens konstitutive Gestaltungselemente (s. 0.) werden von Euripides aufgegeben. 6a) Eigene Wege geht Euripides auch bei der Gestaltung der Intrige. Das Motiv der fiktiven Todesbotschaft gibt er ebenso preis wie die symbolische Identität des Racheortes. Aigisth stirbt während eines Nymphenopfers auf dem Feld, Kiytaimestra in einer Hütte. Die Täter dringen nicht mehr in den Palast ein, sondern sind umgekehrt gezwungen, die Opfer herauszulocken®”. Aigisth wird nicht mehr isoliert 3 Auf manche Einzelheiten hat schon Steiger, p. 586 aufmerksam gemacht, wobei er aller-

dings auch hier seine Vorstellung vom eurip. Drama als einer polemischen Tendenzschrift nicht unterdrücken kann. 37 Die Motiventwicklung läßt sich an diesem Beispiel gut ablesen: In allen drei Stücken hält sich Aigisth zum Zeitpunkt der Intrige außerhalb des Palastes auf, bei Aischylos

128

C. Das Problem der Priorität

von jedem Schutz, sondern inmitten seiner Leibwache umgebracht. Zur Vollendung der Racheintrige werden nun zwei verschiedene Mechanemata erforderlich. Ist nun der Befund aus dem Vergleich der drei Bearbeitungen des Orestesstoffes so eindeutig, daß sich daraus Schlüsse für die Chronologie ziehen lassen? Sophokles hat einen Aspekt der bei Aischylos vorgegebenen Grundsituation „einseitig“ mit entschiedener Konsequenz sichtbar gemacht und damit auf dem Boden des vorgängigen Orestesdramas ein Elektradrama geschaffen. Das sophokleische Stück läßt sich also eher aus der Vorlage der Choephoren ableiten als das euripideische. Danach rücken Aischylos und Sophokles eng zusammen, Euripides dagegen setzt sich von diesen Fassungen des Stoffes deutlich ab. Entscheidend ist nun dabei, daß Euripides auffälligerweise durchweg an den Punkten neuert, die beiden übrigen Tragikern gemeinsam sind. Dabei fällt jeweils die Abweichung gegenüber Sophokles am deutlichsten ins Auge, da dieser den von Aischylos übernommenen Motiven größeres Gewicht verleiht. Es liegt danach nahe, das Verhältnis zwischen Euripides und den beiden übrigen Dichtern im Sinne einer bewußten Abstimmung der spätesten Bearbeitung auf frühere Fassungen zu interpretieren. Euripides ist mit den beiden übrigen Bearbeitungen dadurch verbunden, daß er in allem das von ihnen Ausgeschlossene, das Komplementäre bringt. Hätte Euripides von der sophokleischen Konzeption keine Kenntnis, so müßte diese reinliche Trennung der Gestaltungs- und Motivformen aus einem glücklichen Zufall erklärt werden. Die beinahe spielerische Freiheit, mit der bei Euripides die Motive verwandelt und aufgegeben werden, insbesondere die Entwertung des heroischen Schemas, lassen die euripideische Elektra formgeschichtlich als das jüngste Drama erscheinen. Dasjenige Drama, das die traditionellen Bestandteile äußerlich wie innerlich völlig transformiert, gehört auch entwicklungsgeschichtlich einer späteren Stufe an als der Gestaltungstypus, der sich auf eine gemäßigte Modifizierung des Alten beschränkt, d.h. Altes und Neues miteinander zu verbinden sucht. Legen wir die Reihenfolge Aischylos-Sophokles-Euripides als die wahrscheinliche zugrunde, so ergibt sich keinerlei Schwierigkeit für das Verständnis der arbeitstechnischen Voraussetzungen der drei Tragiker. Sophokles greift die aischyleischen Motive auf und stellt sie in leicht modifizierter Form in einen veränderten Problemzusammenhang. Euripides dagegen als dritter Bearbeiter des Mythos bedient sich nicht mehr der von seinen beiden Vorgängern nach allen Seiten hin ausgeschöpften Strukturelemente, sondern sucht völlig neue Wege zur Bemeisterung des Stoffes, scheut sich aber nicht die erst von Sophokles selbst eingeführten, einer Variierung noch fähigen Kompositionselemente aufzunehmen. Kehrt man dagegen das Zeitverhältnis zwischen Sophokles und Euripides um, so dürfte es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein, den Gestaltungsprozeß auch nur einigermaßen plausibel zu erklären. Erstens ermangelt es jeder befriedigenden Erklärung, daß Euripides, nur die dichterische Fassung der Choephoren vor Augen, auf gewisse, für seine Konzeption und Sophokles, um durch List an den Tatort des Mythos zitiert zu werden. Bei Euripides dagegen ist der Aufenthaltsort zugleich der Tatort. Das Motiv der Abwesenheit vom Palast trägt hier deutlich das Signum des Rudimentären, verrät den Charakter einer Abstumpfung und Weiterbildung zugleich.

II. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren

129

durchaus akzeptable aischyleische Motive so bewußt verzichtet haben sollte. Zweitens erscheint es höchst unwahrscheinlich, daß Sophokles einerseits häufig euripideische Motive aufgenommen haben sollte, zagleich aber von dessen entscheidenden Neubildungen völlig unbeeinflußt geblieben wäre und statt dessen wie gebannt auf die künstlerische Struktur der Choephoren geblickt hätte. Ein solcher Rückgriff scheint uns bei der Verwendung eines einzigen, isolierten Motivs durchaus möglich. Bei der Eindeutigkeit und Häufigkeit der verschiedenen Beziehungen dagegen käme eine derartig unkontinuierlich-sprunghafte Entwicklung einem dramatischen Rückschritt gleich. Wir sehen keinen Grund, nicht an einer Entwicklungslinie festzuhalten, welche das Verhalten des einzelnen Dichters am verständlichsten macht und zugleich am geradlinigsten ist. Dabei findet unsere Erklärung der zeitlichen Folge der Orestesdramen eine nicht geringe Stütze durch die weiter oben aus einer Analyse ähnlicher literarischer Bedingungen einer dreifachen Stoffbearbeitung gewonnenen Entwicklungstendenzen. So hat denn der Versuch, das Elektraproblem einmal von der breiteren Basis einer Betrachtung der Gesamtentwicklung der Orestessage anzugehen, zu einem klärenden Ergebnis geführt: Die sophokleische Elektra geht der euripideischen voraus. Ein Vergleich der verschiedenen Personen in den jeweiligen Stücken vermag die von uns aufgestellte Entwicklungshypothese zu stützen. a) Elektra: Auszugehen haben wir von der Elektragestalt der Choephoren. Das aischyleische Drama als ein Orestes-Rachedrama stellt die Person Orests und das Problem des Muttermords in das Zentrum der Handlung und unterscheidet sich damit grundlegend von der den beiden späteren Dramen zugrundeliegenden Auffassung, bei der Elektra die Bühne beherrscht. Alle Szenen und Personen, letztlich auch die Gestalt Orests, sind dort funktional auf die Ethopoiie der Agamemnontochter hinorientiert. In den Choephoren treffen wir die genau umgekehrten Voraussetzungen an. Dort ist ihre Figur wesentlich Funktion und deshalb in ihrem individuellen Aktionsradius eingeschränkt. Natürlich agiert sie, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern im Dienst für andere. Ihre Gestalt scheint ganz in den Rahmen

des

Rachegeschehens

hineingebunden,

welches

sie sich

nicht

unterwirft

wie beispielsweise die sophokleische Heldin, sondern von dem sie „einseitig“ nur bestimmt wird. Bezeichnend scheint uns, daß Elektra sowohl in ihrer Auftrittsszene

wie im Kommos erst zusammen mit dem Chor bzw. mit Orest einen Faktor bilder, der die Aufgabe hat, die Notwendigkeit der Rachepflicht zu verdeutlichen (in der Auftrittsszene bildet sie zunächst ein anonymes Glied im Zug der Frauen; man vergleiche etwa damit die eigenständige Stellung der sophokleischen Elektra gegenüber dem Chor). In der Figur der aischyleischen Elektra verdichtet sich der Fall des Hauses des Agamemnon.

Sie ist es, die mit mädchenhafter

Scheu,

aber ebenso

mit der

Unbeugsamkeit ihres Rachewillens den ursprünglichen Sinn des Opfers der Mutter in das Gegenteil verkehrt und durch den Richtungssinn ihres eigenen Opfers einen geheimnisvollen inneren Zusammenhang des Erscheinens Orests und ihrer eigenen Choephorie andeutet. Im Kommos zwischen Elektra, Orest und dem Chor versucht sich die Partei der Rache durch Gebete an den Geist des toten Vaters dessen 9 Vôgler,

Interpretationen

130

C. Das Problem der Priorität

Beistandes zu versichern. Da zu einer streng stilisierten rituellen Totenklage alle Verwandten des Hauses hinzugehören, vertieft auch Aischylos den Eindruck der Szene durch den Hinweis auf die tiefe Schicksalsgemeinschaft der letzten Überlebenden des Atridenhauses. Auch innerhalb der Anagnorisisszene, die bei Aischylos keine dramatische Streckung erfährt, räumt der Dichter Elektra bei weitem nicht diejenige Rolle ein, die in homologen Szenen dem weiblichen Partner in der Regel zugestanden wird. Kaum haben Orest und seine Schwester im Prolog die im Rahmen der Exposition notwendige Orientierung gegeben, als die Agamemnontochter schon, ohne eine ausführlichere vorbereitende Charakterisierung erfahren zu haben, in freudiger Erregung die Semeia im Sinne einer Rückkehr des Bruders interpretiert. Nach dieser knappen „Einstimmung“ tritt Orest sofort hervor, der seine Schwester bereits erkannt hat. Ein flüchtiger Zweifel, ein kurzer Beweis und schließlich einige wenige überstrômende Worte Elektras, darin erschöpft sich der Vorgang der Anagnorisis, der in wenig mehr als zwanzig Versen vollzogen ist. Der Dichter schließt diese Szene auch nicht mit einem Freudenkommos ab, sondern mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der bevorstehenden Rache sowie auf die damit verbundenen Aufgaben und Gefahren. Dieser Eindruck wird durch die unmittelbar auf die Erkennung folgende und diese überschattende Rede Orests verstärkt, in der dieser die ihm von Apoll unter Androhung schwerster Strafen auferlegte Rachepflicht als unumgänglich hinstellt. Der Rachegedanke beherrscht den Teil des Dramas, in dem Elektra agiert, völlig. Gleichwohl kann man aus der Zeichnung der Gestalt einige individuelle, wenn auch nur angedeutete Züge herausarbeiten. Elektra geht auf in der Rolle der loyalen Vertreterin der rächenden Partei am Hofe des Vaters. Sie darf als Symbol einer ständig wachgehaltenen Rachepflicht gelten. Tag für Tag muß sie erleben, wie der Mörder buhlt. Unter diesem Eindruck wird die ohnehin schon innige Liebe zum getöteten Vater noch gesteigert. Die aischyleische Elektra bezieht die Motive zum Haß und zur Rache nicht primär aus ihrer elenden Lage, die einem Sklavendasein gleihkommt (vgl. Cho. 13237), sondern schöpft sie aus einem reinen, ungebrochenen Rechtsgefühl3%8 und aus der Pietät gegenüber dem Toten. Die Sehnsucht nach dem in der Ferne weilenden Bruder und die Freude über seine Heimkehr werden ebenso angedeutet wie das unsichere Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung in der Zeichenszene. Dieses Bild der aischyleischen Elektrafigur war für Sophokles und Euripides der Ausgangspunkt für ihren Entwurf einer neuen Elektragestalt. Es liegt nahe anzunehmen, daß derjenige Dichter, welcher zuerst seine Handlung ganz auf Elektra als dramatische Mitte ausrichtete, diesen Schritt unter Rückgriff auf die durch die Choephoren vorgegebenen Möglichkeiten getan hat. Wie im Falle der Verwendung einzelner Motive, so ist es auch hier Sophokles, der ganz auf dem Boden der aischyleischen Tradition steht. Die Elektrafigur des Sophokles ist nichts #8 Vgl. die Szene nach der Parodos, wo El. ihre Empfindung über das Widersprüchliche des Auftrages ihrer Mutter zum Ausdruck bringt. Sie vermag sich nicht zu ducken wie ein Hund, sondern vergleicht sich mit einem wilden, freien Wolf (235 ff.).

11. Das Verhaltnis der beiden Elektren zu den Choephoren

131

anderes als die ethopoietische Entfaltung der aischyleischen Elektra. Es fehlt bei Sophokles kaum ein wesentlicher Zug im Bild der Heldin, der sich nicht wenigstens in seinen gröbsten Konturen unmittelbar aus Aischylos ableiten ließe. Sophokles arbeitet nur mit größeren Dimensionen. Die Umrisse der Zentralfigur sind erweitert und damit deutlicher geworden. Im einzelnen stößt man allenthalben auf aischyleische Spuren: Elektra, inmitten der vergifteten, befleckenden Atmosphäre des Palastes??! Gegenüber der Elektra der Choephoren hat die sophokleische Heldin an Härte, Entschiedenheit und Unbedingtheit gewonnen. Sie agiert als der nimmer ruhende Stachel, der das Gewissen der Vertrauten (Chrys.-Chor) und die Angst der Mörder wach hält. Ihr Alleinsein und damit ihre Exzeptionalität wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß selbst ihre Schwester und die. Frauen des Chores äußerlich mit den

neuen Machthabern Frieden geschlossen haben. Das Motiv der Heldin, das sie bis zur äußersten Entfaltung der Arete treibt, entspringt wie bei Aischylos weniger dem Skandalon der äußeren Lage (Elektra verzichtet gleichgültig auf die ihr angebotenen Vergünstigungen), sondern leitet sich aus der Liebe zum Toten und aus dem Wunsch nach Wiederherstellung einer höheren Rechtsordnung ab (EI. 264 ff.). Aus dieser Wurzel wird auch verständlich, daß die Rolle der klagenden aischyleischen Agamemnontochter (dort in der Form des Goos stilisiert) auch als wesentlicher Zug der sophokleischen Elektra deutlich wird. Aischyleische Vorstellung lebt auch in dieser Gestalt fort, wenn sie gegebenenfalls auch allein, ohne Hilfe zur Vergeltungstat bereit ist (5. El. 86ff.). Wie sehr Sophokles unmittelbar vom aischyleischen Urbild beeinflußt ist, zeigt auch die Zeichenszene. In der Darstellung der zwischen Hoffnung und Enttäuschung hin und her geworfenen Elektra liegt keimhaft der Anstoß zur parallelen Szene und sogar zur Grundidee der sophokleischen Tragödie, welche doch das ständige Getäuschtwerden der Heldin bis zur befreienden Erkennung zum Inhalt hat. Auch bezüglich der Beteiligung Elektras am Rachegeschehen geht Sophokles grundsätzlich mit seinem Vorgänger zusammen. Verläßt dort Elektra nach dem Kommos die Bühne, ohne wieder in das Geschehen einzugreifen, geschweige denn an der Vergeltungstat teilzunehmen, so geht Sophokles zwar einen Schritt über Aischylos hinaus, indem er Elektra zur lebendigen Vergegenwärtigung der Tat auf der Bühne beläßt, aber er wagt nicht die kühne Neuerung, die Agamemnontochter persönlich zur Mitvolistreckerin der Tat zu machen, obwohl seine Gestaltung nahe an diesen Punkt heranführt. Es muß auffällig erscheinen, daß Sophokles den Typus einer Heldin geschaffen hat, die zwar im Zentrum der Vorgänge steht, aber selbst nicht handelnd eingreift. Der Dichter raubt ihr sogar durch die Einführung der Chrysothemisgestalt die Funktion einer Trägerin des Lockenmotivs und der Choephorie, die sie bei Aischylos noch ausübt. Der Plan zur Ermordung Aigisths bleibt eben doch nur Plan, der das Geschehen nur in Form der Verschärfung der innerdramatischen Problematik und damit der Vorbereitung des Eingreifens Orests als quasi deus ex machina beeinflußt. Elektra Vgl. V.254 ff., wo El. einen Augenzeugenbericht der Freveltaten der Mörder gibt. 9

132

C. Das Problem der Priorität

weiß sogar nicht einmal, wie die Handlung läuft. Alles äußere Geschehen ist auf sie bezogen, ohne daß es von ihr im Sinne einer faktischen Einflußnahme reflektiert wird. Indem Sophokles die Handlung sich aber auf zwei Ebenen, Wahrheit und Irrtum,

vollziehen

läßt, nimmt

Elektra

im äußeren

Geschehen

eine passive,

im

inneren dagegen eine im höchsten Grade aktive Haltung ein. Mit einer Heldin, die nicht eine faktische, sondern nur eine dynamische Leistung vollbringt, die „nur“ eine Aktivität des Entschlusses entwickelt, rückt Sophokles ganz in die Nähe der Choephoren. Eine bewußte unmittelbare Nachfolge steht außer Frage. Sophokles entwickelt sein Elektrabild aus der nur angedeuteten Skizze des Aischylos. Euripides geht nun auch hier eigene Wege. Seine Elektrafigur erscheint uns deshalb deutlich auf die Entwürfe der beiden anderen Tragiker abgestimmt, weil gerade die ethopoietischen Züge, die für die aischyleische bzw. sophokleische Elektragestalt bestimmend sind, aufgegeben bzw. zielstrebig verändert werden. Dabei fällt wiederum der Abstand zu Sophokles am stärksten ins Auge, da dieser die Umrisse der aischyleischen Gestalt vergrößert und mit Euripides gegen Aischylos die Grundkonzeption gemein hat, Elektra ins Zentrum des Geschehens zu rücken. Dabei stützt sich Sophokles ganz auf den ausbaufähigen Ansatz des Aischylos,

Euripides hingegen bedient sich der mythologischen Tradition zuwiderlaufender, gewagter Gestaltungsprinzipien. Elektra lebt nicht mehr am Hof des Vaters, wird nicht mehr dauernd mit dem

Miasma der Herrschaft der Mörder konfrontiert. Aus dem Palast verstoßen, führt sie als Frau eines armen Landmanns in unerträglichen Verhältnissen das Dasein einer Magd. Bestand die Größe der sophokleischen Heldin gerade in dem stolzen Verzicht auf allen Luxus einer Prinzessin, wie er ihrer Schwester als Gegenleistung für eine ideologische Selbstaufgabe garantiert wurde, so überbietet Euripides diese sophokleische Ausgangssituation und entwertet sie zugleich — eine Verknüpfung von Kriterien, die als ein sicheres Zeichen von Posteriorität gelten muß —, indem Elektra nun überhaupt nicht mehr die Möglichkeit hat, den Bios eines gewollten Verzichts zu verwirklichen. Diesen veränderten äußeren Bedingungen entsprechend verlagert Euripides die Motivation für Elektras Handeln. Die euripideische Heldin wird überwiegend von rein subjektiven Ressentiments geleitet. Ihr Rachewille wirkt egozentrischer, engherziger als der fammende Protest der sophokleischen Elektra. Die euripideische Agamemnontochter rächt sich für ihre äußere Dystychia#. Elektra weist bei jeder Gelegenheit auf dieses Faktum hin*!. Die materielle Not ist das Unglück der Heldin schlechthin und nicht mehr nur die äußere Hülle eines 40 Das kommt deutlich in der Agonszene bei Eur. zum Ausdruck, die sich anders als bei Soph. an der sozialen Zurücksetzung der Elektra gegenüber der Mutter, die im Pomp einer Königin erscheint, entzündet. 41 Ihre ersten Worte bei ihrem Auftritt als Wasserträgerin, bei den Begegnungen mit dem Chor und den vermeintlichen Fremden gelten ihrer Armut und der Niedrigkeit ihres Daseins. Die Schilderung der Zustände im Palast hebt mit Bildern der eigenen Not an (300 ff.). Der Eindruck von Elektras Klagen liegt in der Plastizität des Bildes, das der Zuschauer vor sich sieht: Die ehemalige Prinzessin im zerlumpten Gewand, mit geschorenem

Haar,

verheiratet

mit

einem

verarmten

Bauern,

sich

das

Gesicht

zer-

11. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren

133

tieferen seelischen Leides wie bei Sophokles. Nicht mehr der ergreifend natürliche, aus der Liebe zum toten Vater erwachsende Schmerz der aischyleischen und sophokleischen Elektren, sondern die äußere Situation mit ihrem drastisch-realistischen Bildeffekt soll wirken. Kann man sich danach noch der Priorität des Sophokles

verschließen,

wenn

man

hinzunimmt,

daß

Euripides offensichtlich manches,

das bei Sophokles die Isolation der Heldin nur in der Form des Symbols oder der gedanklichen Reflexion unterstreicht, in handfeste Realität umgesetzt hat#?, wie z.B. die Drohung einer Vertreibung aus dem Palast oder den Gedanken einer nicht standesgemäßen Ehe Elektras 43) Zeigt die bisherige Synkrisis deutlich die Distanz zwischen Euripides und den beiden übrigen Tragikern, so kommt diese Tatsache am entschiedensten in der besonderen Stellung der euripideischen Heldin zum Rachegeschehen zum Ausdruck. War die aischyleische Elektra während der Intrigenaktion überhaupt von der Bühne verbannt, hatte Sophokles den Aktionsradius Elektras auf eine Aktivität des Entschlusses beschränkt, so läßt Euripides die Stufe der bloßen Passivität hinter sich und gibt Elektra einen entscheidenden Anteil an der äußeren Handlung. Während bei Sophokles die letzte Steigerung und Entfaltung der motivischen Eigenkraft nur bis zum Plan einer Tötung Aigisths forciert wird, nimmt Euripides die von Sophokles erreichte letzte Stufe einer höchsten passiven Leidenschaft zum Ausgangspunkt seines Dramas. Wozu sich die sophokleische Heldin erst zum Schluß durchringt, das ist für die euripideische Heldin bereits zu Beginn der Handlung eine Selbstverständlichkeit (vgl. Eur. El. 279: Der Wunsch, die Rache an der Mutter selbst zu vollziehen). Von dieser Hochspannung der Racheleidenschaft aus kann es nur noch eine mögliche Steigerung geben, die Tat: Elektra bleibt trotz der Anwesenheit des Bruders die eigentliche Triebfeder des Geschehens. Elektra droht, bei einem Fehlschlagen der Intrige an Aigisth sich eigenhändig umzubringen (Eur. ΕἸ. 757). Sie hat entscheidenden Anteil an der Planfassung. Sie lockt

ihre Mutter in die Hütte und schlägt bei deren Ermordung eigenhändig zu. Während Pathos sich bei Sophokles als reines Leiden schlechthin erfüllt, als „passive Reaktion“ auf die Umwelt, erzeugt es bei Euripides aus höchster Leidenschaft Handeln*.

Euripides hat das bei Aischylos und vor allem Sophokles bewußt nur potentiell Angelegte auf die Stufe der Aktualität gehoben. Wertet man diese Beziehung als chronologisches Kriterium, dann darf gelten: Dasjenige Drama, das eine dramatische Bewegung in Form einer sich entladenden Aktivität nicht kennt, sondern kratzend! In keinem der uns erhaltenen Stücke hat Euripides die Veräußerlichung des Schmerzes so weit getrieben wie in der Elektra. 42 Vgl. dazu Diller, Ant. und Abendland, 6, p. 166.

43 Als Vorstufe für das Motiv der unstandesgemäßen Ehe bei Eur. (34 ff., 267) kann Soph. EL. 961 gelten. Anregung für die Umsiedlung aufs Land (Eur. ΕἸ. 94.) wird die angedrohte Gefangenschaft (5. El. 382) gewesen sein. “ Wenn es auch eine Weiterentwicklung über Soph. hinaus bedeutet, daß Eur. die Regungen der Seele im Handeln konkretisiert, so hat doch andererseits das eurip. Drama durch die grelle Steigerung verschiedenster Stimmungs- und Erlebniskomplexe der Heldin nicht mehr die durch die Beschränkung auf das reine Pathos Elektras gewonnene Geschlossenheit der Sophoklestragödie wahren können.

134

C. Das Problem der Priorität

diese Bewegung

mit den Mitteln der bloßen Emotion

bzw. Reflexion auffängt,

bezeichnet eine frühere Stilstufe als ein anderes, das ein Ausreifen

der Emotion

zur Tat zum Inhalt hat, zumal wenn dieser Fortschritt nur mit den Mitteln eines Bruchs mit dem Mythos erreicht werden kann. Überblicken

wir die Ergebnisse,

so scheint uns evident,

daß, von

der aischy-

leischen Konzeption her gesehen, der euripideische Grundriß nicht die erste Form gewesen sein kann, in der Elektra als Hauptperson agierte. Die konsequente Weiterbildung der aischyleischen Elektrafigur leistet Sophokles, der sich in den Grundzügen eng an sein Vorbild anschließt und nur die Perspektive verändert. Nur nach dem erst durch Sophokles entwickelten klassischen Bild der Agamemnontochter kann die revolutionäre Konzeption des Euripides gedacht werden. Erst dann kommt die ganz auf den Kontrast zu Sophokles eingestellte Eigenständigkeit des euripideischen Elektrabildes zum Tragen. Der Versuch des Euripides, den Muttermord

als Tat

auch

der Elektra

aus örtlichen,

sozialen

und

menschlichen

Voraussetzungen verständlich zu machen, scheint uns die letzte, weil fortgeschrittenste Stufe in der Reihe der möglichen Problemstellungen des Stoffes zu repräsentieren: Von der aischyleischen Götternähe (vgl. die Stellung Apolls) führt der Weg über die idealistisch-heroische Konzeption des Menschen zur realistischen Deutung des Individuums. Eine Umkehrung des Verhältnisses scheint uns kaum möglich. Sonst muß man sich fragen, ob es für Sophokles überhaupt noch möglich gewesen wäre, seinen Entwurf einer Elektragestalt nach der „modernen“ Konzeption des Euripides für die Bühne fruchtbar zu machen. Die Vorstellung scheint schwierig, Sophokles habe die euripideische Zentralfigur ihres profilierten Charakters, insbesondere ihrer Rolle als Mittäterin an der Rachehandlung beraubt und unter Rückgriff auf Aischylos eine neue Elektrafigur geschaffen, diese Konzeption aber gleichzeitig wieder ganz nahe an die euripideische Vorlage herangeführt. Zur Erhärtung unserer Überlegungen seien noch zwei wesentliche Argumente angeführt: 1. Es spricht alles dafür, daß derjenige Tragiker, welcher durch die Anregung der aischyleischen Vorlage als erster die Person Elektras in das Zentrum der Handlung zu rücken beabsichtigte, diesen Schritt auch in konsequenter, zwingender Weise durchgeführt, d.h. Elektra auch wirklich zur überragenden Einzelpersönlichkeit erhoben hat. Dieser Forderung genügt eindeutig nur die Anlage des sophokleischen Dramas,

in dem

alle Personen, auch Orest, nur eine auf den

Brennpunkt Elektra hin bezogene Funktion ausüben. Bei Euripides dagegen spielt Orest eine ungleich stärkere, zum Teil gleichwertige Rolle. Er ist im Gegensatz zu den Bedingungen im Stück des Sophokles von Anfang an mitagierende Persons, und zwar während der lang gedehnten Anagnorisis, im Gespräch mit dem Bauern, wo Elektra völlig in den Hintergrund tritt, in der Planungsszene, bei der Tötung Aigisths und Kiytaimestras, im Augenblick der Verzweiflung nach der Tat und schließlich während des Dioskurenauftritts. Euripides hat bereits den eigentlichen dramatischen Zielpunkt, den es auf Grund der aischyleischen Voraussetzungen 45 Der Orest des Sophokles wirkt nur hinterszenisch.

II. Das Verhältnis der beiden Elektren zu den Choephoren

135

anzustreben galt und den Sophokles konkretisierte, überschritten und kann deshalb nur nach der Sophoklestragödie angesetzt werden, wenn man nicht die unbefriedigende Erklärung zu Hilfe nehmen will, ein Dramatiker bleibe bei einem dichterischen Entwurf ohne sichtlichen Grund auf halbem Wege stehen. 2. Wie sollte Euripides bei seinem Grundgedanken einer Untersuchung des Problems der Rechtfertigung bzw. Notwendigkeit des Muttermords überhaupt auf den Gedanken einer Konzentrierung des Geschehens auf die Elektragestalt gekommen sein, wenn ihm lediglich die Choephoren des Aischylos vorgelegen hätten? Eine Beschränkung auf die nach der mythischen Tradition für das moralische Hauptproblem allein entscheidende Figur Orests hätte genügt. b) Klytaimestra. Der beherrschende Eindruck der aischyleischen Klytaimestra scheint uns der einer titanischen Gestalt, einer Frau von dämonischer Größe. Sie ist, obwohl zugleich fehlbare Gemahlin, ja Verbrecherin, vornehmlich gestaltet als

Reinigerin Mächte®®,

des Hauses. ihr Tun

Ihre Stellung ist die einer Priesterin der unterirdischen

zugleich ritueller Dienst für diese Mächte,

denen

sie anheim-

gegeben ıst. Dieses in einer Sphäre der religiösen Dämonie wurzelnde Klytaimestrabild des Orestiedichters#? bleibt nun auch für Sophokles, wenn auch in abgeschwächter Form, grundsätzlich verbindlich. Wie im aischyleischen Drama stellt Kiytaimestra ihre Tat unter den Gedanken des Wirkens einer Dikedienerin* und deutet sie als notwendiges Ereignis eines gerechten Weltenablaufs®. Steht Sophokles wie so oft auch hier ganz im Banne der Auffassung des Aischylos, so entfernt sich Euripides wieder von den beiden Tragikern. Die Königin schiebt nun das Argument des Iphigenieopfers und damit zugleich ihre Stellung als Dienerin Dikes und Reinigerin des Hauses beiseite5. An die Stelle der ursprünglichen Motivation tritt bei Euripides als entscheidender Antrieb zum Mord das Verhältnis Agamemnons zu Kassandra, einer Kebse®!, und das unmittelbar nach Agamemnons Abfahrt, also noch vor der Schlachtung der Tochter ruchbar werdende Verhältnis zu Aigisth, ihre sittliche Verworfenheit5?. Diese euripideische Klytaimestra scheint in bewußtem Gegensatz zu den beiden übrigen Tragikern gestaltet zu sein. Sie erfährt eine realistischere Interpretation im Sinne eines “ Vgl. A. Ag. 151 ff., 910, 1432, 1581; vgl. dazu Thomson, J. Η. 5.55 (1935), p. 28. 47 Es darf natürlich das Bild der skrupellosen Verbrecherin, der von Aigisth verführten Ehebrecherin,

nicht

übersehen

werden,

das

ebenfalls

konstitutiv

für

die

Gestalt

der

Königin ist. “# Vgl.S. EL 526 ff. und 538. 49 Die Parallelen zu Aischylos, schon in der Führung der Gedanken unüberhörbar, reichen bis in den Wortlaut: Neben dem Zentralbegriff Dike bewahrt Sophokles eine so charakteristishe Wendung wie καὶ τάδ᾽ οὐκ ἀρνήσομαι (Ag. 1380) in seinem τῶνδ᾽ ἄρνησις οὐκ ἕνεστί μοι. (EI.527). Wie stark der aischyleische Dikegedanke die Motivierung der Königin bestimmt, beweist der ausdrückliche Versuch Elektras, das Iphigenieopfer zu rechtfertigen (5. ΕἸ. 563 ff.), ebenso wie deren dauernde Zurückweisung der von Klyt. gebrauchten Argumentation (561 ff. und 584 ff.). % Vgl. Eur. EL. 1030 f. δι Vgl. Eur. El. 1018—34. 52 Bezeichnenderweise wird Klyt. an die Seite ihrer Schwester Helena gestellt (Eur. El. 1064). Nach des Feldherrn Abfahrt hat sie weibliche Verführungskünste und Koketterie an den Tag gelegt.

136

C. Das Problem der Priorität

skandalösen, von menschlichen Trieben beherrschten Weibes. In dieser veränderten Motivierung aus dem Boden einer gemeinen Erotik liegt eine Thematik beschlossen, die nach unserer Meinung die späteste Stufe der dichterischen Behandlungen des Orestesmythos repräsentiert: Die Tat im Atridenhaus, einst als Glied einer Kette innerhalb eines dämonisch wirkenden Geschlechterfluchs verstanden, der in religiösen Problemschichten wurzelte, ist jetzt zu einer bürgerlichen Skandalgeschichte geworden. Diese gewagte Konzeption scheint uns nur nach den beiden anderen Bearbeitungen möglich, und zwar als Ausdruck des bewußten künstlerischen Willens, den Mythos in den Bereich gänzlich neuer dramatischer Möglichkeiten hinein zu überschreiten. Der ohnehin schon spürbare Abstand wird dadurch unterstrichen, daß Euripides als einziger seine Agamemnongattin sich von ihrer früheren Gesinnung und Tat distanzieren läßt und ihr damit trotz ihres verbrecherischen Charakters manchen menschlich sympathischen Zug zu verleihen weiß. So bekennt Klytaimestra aus einem Gefühl der Resignation®®: καὶ γὰρ οὐχ οὕτως ἄγαν χαίρω τι, τέκνον, τοῖς δεδραμένοις ἐμοί. Das darf als unerhörter Schritt gelten, wenn man die unerbittlichkonsequente Haltung der Klytaimestragestalten der beiden übrigen Dichter dagegenhält, wobei insbesondere die sophokleischen Verse ἐγὼ μὲν οὖν οὐκ εἰμὶ τοῖς πεπραγμένοις δύσϑυμος den Unterschied deutlich werden lassenSt. Klytaimestra erscheint als gebrochene, alte Frau, die ihre einstige dämonische Größe kaum mehr ahnen läßt. Danach kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß die Klytaimestrafigur des Euripides den spätesten der drei Entwürfe darstellt. Er ist morphologisch der jüngste. Wir haben also auch von dieser Seite her eine Bestätigung der Priorität des sophokleischen Elektradramas erhalten.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra a) Die

Struktur

des Eingangs

Bei allen bisherigen Versuchen, das Zeitverhältnis der beiden Elektren zu lösen, nahm eine Synkrisis der beiden Elektradramen parallelen Struktur des Eingangs eine zentrale Stellung ein. Man war sich darüber einig, daß bei der Ähnlichkeit der Anlage der Gedanke an einen Zufall ausgeschlossen war®5. Bekanntlich haben beide Stücke drei formal analoge Szenen in der gleichen Reihenfolge gemeinsam: 1. eine exponierende Prologrede Orests im Beisein eines Begleiters (bei Eur. in Anwesenheit eines κωφὸν πρόσωπον)

5 Vgl. Eur. El. 1105 f. δε Das Bild wird noch durch einige Züge

vervollständigt: vgl. Eur. El. 27 f., 1056 fl,

1102 f., 1107 ff. 55 Vgl. U. v. Wilamowitz, p. 221; T. v. Wilamowitz, p. 228 und Schadewaldt, Monolog und

Selbstgespräch, p. 160.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

137

2. eine Klagemonodie Elektras 3. eine kommatische Parodos zwischen Elektra und Chor®®.

Diese Parallelität erstreckt sich auch auf den Inhalt der Einzelteile: In den Prologreden macht sich Orest jeweils mit der Ortlichkeit vertraut, versichert sich der Treue seines Begleiters, exponiert den Befehl Apolls und schmiedet einen Plan. Die Monodie, in beiden Stücken an den toten Vater gerichtet, demonstriert die Isolation der Heldin und den Wunsch nach Heimkehr des Bruders. In der Parodos versucht der Chor die trauernde Heldin zu trösten, indem er auf die Sinnlosigkeit der monotonen Klage hinweist. Schließlich verleiht Elektra jeweils bei ihrem ersten Auftritt durch einen Anruf an die Gestirne ihrer Verlassenheit Ausdruck. Eine Synkrisis des Eingangs dürfte daher eine besonders tragbare Grundlage für eine Lösung des Prioritätsstreites liefern. Zunächst dürfte ein Vergleich des Eingangs des jeweiligen Dramas mit der Prologform innerhalb des Gesamtwerkes des betreffenden Dichters angebracht sein, da sich aus dem Grad der Übereinstimmung bzw. Diskrepanz bereits Rückschlüsse auf Eigenständigkeit bzw. Verwendung fremder Gestaltungselemente ziehen lassen dürften. Vor allem das Gesamtwerk des Euripides bietet auf Grund der relativ großen Zahl von erhaltenen Stücken gute Vergleichsmöglichkeiten. Was die Zahl der Szenen anbelangt, so fällt der Eingang der euripideischen Elektra auffälligerweise aus dem Rahmen der sonst üblichen Prologtechnik. Euripides baut seine Prologe in der Regel aus zwei (Alk. Herakliden, Hek., Her., Ion, I. T., Hel. Phoen.) bzw. drei Szenen (Med. Hipp. Andr. Tro. Or.)57. Lediglich das Elektradrama weist vier Teilstücke auf: Prolog des Auturgos, Gespräch Aut.Elektra, Prolog Orests und Monodie Elektras. Diese Vierzahl steht darüber hinaus innerhalb der gesamten griechischen Tragödie einzig das. Wie ist dieser Tatbestand zu erklären? Untersucht man den Prolog der Elektra auf seine formale und inhaltliche Geschlossenheit, so fällt zunächst der scharfe Einschnitt auf, der die dialogisch erweiterte Prologrede von der dialogisch verkleideten des Orest trennt. Die Szene setzt ohne Verbindung als „zweiter Prolog“ frisch ein (man beachte die Verwendung typischer Prologmotive). Wir erkennen demnach zwei in sich geschlossene Prologformen, die aneinander gekoppelt scheinen®®. Auf eine Rhesis und Dialog folgt als zweiter Prologszenenkomplex Rhesis und Arie. Diese Verknüpfung, die bei Euripides sonst nicht greifbar ist, erklärt erst die einmalige Struktur des Eingangs. 58 Monodie mit anschließender kommatischer Parodos findet sich nur in Soph. El. und bei Eur. in Tro., Ion und El. Auch unter diesem Aspekt scheint die Annahme einer direkten Beziehung unumgänglich. Eine Gesangsnummer vor einer rein chorischen Parodos begegnet sonst nur noch in Andromache und Hekabe. 57 Der

Versuch

Detscheffs,

De

trag.

Graec.

conformatione

scaenica

ac dramatica,

1904,

p- 132 ff., die Szenenzahl des Prologs nach dem Auftritt bzw. Abgang eines Schauspielers zu bestimmen, ist einseitig. Nestle, Die Struktur des Eingangs, p. 85, har dazu bereits das Norwendige gesagt. 58 Aisch. und Soph. bauen ihre Prologe meist aus einer bzw. drei Szenen. Der Prolog der soph. El. ist hinsichtlich seiner Szenenzahl (2) zu den Troerinnen zu stellen. 5% Ahnlich äußert sich jüngst M. Imhof, Bemerkungen zu den Prologen d. soph. und eurip. Tragödien, Winterthur 1957, p. 84.

138

C. Das Problem der Priorität

Da nun die erste Prologform (argumentierende Prologrede und Dialog) typisch für die euripideische Technik ist, die zweite (Prologrede und Arie) dagegen inhaltlich wie formal genau dem Aufbau des Eingangs im Sophoklesdrama entspricht (vgl. auch besonders die durchaus sophokleische Art der Anrede und Selbstvorstellung in der Rede des euripideischen Orest 82-111), scheint uns dieser auffällige Bruch mit einer sonst verbindlichen Typik nur auf dem Hintergrund der Gestaltung des sophokleischen Dramas verständlich. Der Grad der Abweichungen von der sonst für Euripides verbindlichen Prologtechnik wird besonders offenbar bei einer Untersuchung von Stellung und Form der einzelnen Prologteile. 1. In keinem Drama außer Elektra folgen innerhalb des Prologs (d.h. in den Szenen bis zur Parodos) drei iambische Sprechpartien hintereinander (vgl. z.B. Her. I. Τ᾿). 2. Ist eine Person innerhalb des Prologs sowohl Träger eines Dialogs wie einer Monodie, so ist diese Person an der Parodos nicht beteiligt (vgl. Andr.). Oder umgekehrt: Folgen Monodie und kommatische Parodos aufeinander, so tritt diejenige Person, welche diese beiden Iyrischen Szenen übernimmt, nie in einer dritten Szene des Prologs auf (vgl. Tro). Die einzige Ausnahme bildet die Elektratragödie. 3. Wenn die prologsprechende Person nicht mit derjenigen, die die Monodie singt, identisch ist, so bildet regelmäßig die Monodie die Auftrittsszene dieser Person. Die Ausnahme bildet auch in diesem Falle die Elektra (vgl. z. B. Ion). 4. Geht innerhalb eines Prologs der Monodie eine Szene voraus, in der die für diese Arie zuständige Person beteiligt ist, so pflegen beide Szenen direkt aufeinander zu folgen (vgl. Androm. 55-116). Dieses Formgesetz durchbricht allein der Elektraeingang, in dem sich zwischen Dialogszene und Monodie die Auftrittsrhesis Orests schiebt. 5.Daß eine Person innerhalb eines Prologs einschließlich der Parodos in drei Szenen auftritt, kommt neben Andromache nur noch in der Elektra vor.

6. Der Prolog des Elektradramas zeichnet sich durch eine besonders lebhafte szenische Bewegung aus: Nacheinander treten zwei Personen auf (Aut. El.), verlassen dann die Bühne und machen zwei anderen Akteuren Platz (Or. Pyl.), die dann ihrerseits abtreten, um wieder den Auftritt Elektras zu ermöglichen. Eine derartige Vielzahl von Auftritten und Abgängen ist bei Euripides einmalig. Alle diese Brüche mit der gerade für Euripides streng verbindlichen Typik der Prologtechnik lassen sich allein durch die Annahme einer direkten Beziehung auf das vorausgegangene sophokleische Drama befriedigend erklären. Ganz offensichtlich wird der Einfluß der sophokleischen Elektratragödie in der Gestaltung der Auftrittsrede Orests und der kommatischen Parodos: 1. Es fällt auf, daß der Dialog des Orest mit Pylades fiktiver Art ist, d. h. im

Unterschied zu allen anderen dialogischen Prologteilen bei Euripides keine Stichomythie enthält“. Diese singuläre Form weist deutlich auf das Vorbild der 4 7.B. Alk. Med. Herakliden Andr. Her. Tro. Hel. Or.

“1 Auch die Taur. Iph. (67) bietet eine kurze Stichomythie.

IN. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

139

Eingangsreden Orests und des Pädagogen ım Prolog der sophokleischen Elektra, speziell auf die große Rhesis Orestst?. 2. Der Aufbau des zwischen Chor und Schauspieler gleichgeteilten, die Parodos ersetzenden Kommos in der Elektra des Euripides hat keine Parallele. Während sonst entweder das ganze System von Strophe und Gegenstrophe stichokommatisch angeordnet ist (Herakliden, Orest) oder jeweils ein Schauspieler die Strophe und sein Partner die Antistrophe übernimmt (Helena) oder beide Formen vermischt auftreten®, zeigt die Elektra eine neue kommatische Struktur: Durchlaufend hat der Chor die erste Hälfte von Strophe und Antistrophe, während Elektra jeweils die zweite Hälfte gehört. Diese singuläre Form findet unserer Meinung nach ihre Erklärung im Vorbild der sophokleischen Elektra, die ebenfalls einen systematischen Kommos mit genau gleicher Gliederung aufweist. Wenn eine Kopie vorliegt, muß sich die Richtung der Abhängigkeit auch durch eine Analyse des künstlerischen Aufbaus ermitteln lassen. Die Kopie wird wahrscheinlich das Formgesetz der Geschlossenheit des Prologs nicht mehr in dem Maße wahren können wie das Original. Die formale und gedankliche, handlungsund stimmungsmäßige Einheit, die Konsequenz der künstlerischen Struktur dürfen deshalb als Aspekte in unserer Betrachtung ebensowenig fehlen wie die Angemessenheit von Form und Gehalt und die Leistung des Prologs für den Gesamtaufbau der Tragödie. Wir gehen davon aus, daß sich die Nachahmung auf die Szenengruppe Prolog Orests — Monodie Elektras — kommatische Parodos erstreckt. Nimmt man aber hinzu, daß der Prolog in der Elektra des Euripides durch Vorschaltung zweier Szenen (Prolog des Auturgos und Dialog Gatte-Elektra) erweitert ist, so spitzt sich die Frage der Priorität auf das Problem der Erweiterung oder Komprimierung der ursprünglichen Prologform zu. Die Entscheidung dürfte nicht schwerfallen. Die analoge Dreiszenengruppe trägt im euripideischen Drama den Prolog nicht mehr ganz, d. h. sie ist nicht mehr mit dem Eingang identisch. Sie steht architektonisch eine Stufe tiefer als im Gefüge des sophokleischen Stückes. Dieser Verlust an Autarkie hat auch eine Minderung der Funktion der einzelnen Glieder des Triptychons bei Euripides zur Folge: Bei Sophokles bildet die Prologrhesis Orests die Eröffnungsszene des Dramas, die Monodie

bringt

den ersten Auftritt Elektras,

und

die Parodos

gestaltet in der

ersten Begegnung der Heldin mit einem Gegenüber, dem Chor, den ersten Versuch eines Durchbruchs durch die äußere Isolation und damit zugleich den Beginn einer Reihe von Auseinandersetzungen der Heldin mit der Umwelt, die tief in das Drama hineinführen. Bei Euripides dagegen geht diese wichtige Expositionsleistung durch die Koppelung mit den beiden vorausgehenden Prologteilen verloren. Die ® Vgl. W. Nestle, Die Struktur des Eingangs, p. 33 45 Im Ion gehört das erste System ebenso ganz Systems. Die Antistrophe dagegen ist zwischen In den Troerinnen ist im ersten System jeweils strophe stichokommatisch gehalten. Die zweite System wird unter beide Halbchöre verteilt. Partie in der I. T. (123—235) kann nicht zum keinen systematischen Aufbau aufweist.

f. dem Chor wie die Strophe des zweiten Chor und Ion stichokommatisch geteilt. die erste Hälfte von Strophe und AntiHälfte gehört der Hekabe. Das zweite Die zwischen Chor und Iph. geteilte Vergleich herangezogen werden, da sie

140

C. Das Problem der Priorität

Prologrede Orests eröffnet nicht mehr das Drama, der Arie Elektras geht der Auftritt der Heldin in der dialogischen Szene mit dem Gatten voraus. Schließlich stellt das Zusammentreffen Elektras mit dem Chor nicht mehr die erste Begegnung der Agamemnontochter mit ihrer Umgebung dar. Die Auflösung der Isolation ist schon in dem Gespräch mit dem Auturgos vorweggenommen. Bei Euripides haben die mit dem sophokleischen Prolog parallelen Szenen offensichtlich ihren natürlichen Ort und ursprünglichen Stellenwert verloren. Diese Verschiebung weist den Euripides deutlich als den Nachahmer aus. In die gleiche Richtung weist eine Betrachtung der inneren Konsequenz des Prologaufbaus. Der sophokleische Prolog leistet mit seinen drei Szenen die traditionelle Exposition der äußeren (Orest) und inneren Handlung (Elektra) und den Auftritt des Chores. Exposition der Vorgeschichte, der Handlung und der Stimmung sind auf diese drei Szenen zusammengedrängt. Euripides dagegen erreicht das gleiche Ziel nur mit vermehrtem Aufwand. Er verdoppelt offensichtlich die Form der Exposition in der Elektra des Sophokles. Einem aus zwei Abschnitten bestehenden iambischen Teil (Prolog und Dialog) folgt ein ebenfalls zweigliedriger lyrischer (Monodie und Parodos). Daß die sophokleische Komposition als Vorbild gedient hat, zeigt außerdem die isolierte Stellung der zweiten Prologrede Orests, die nicht mehr wie bei Sophokles mit Monodie und Parodos eine homogene Szenengruppe bildet, sondern zäsurartig zwischen Prologformen steht, die sich gemäß einer Steigerung von Faktum (iambisch) zu Stimmung (lyrisch) ergänzen. Die frühere Stufe bezeichnet die Gestaltung bei Sophokles, da bei der auffälligen Parallelität einer bestimmten Szenenfolge die Priorität wohl kaum dort liegen dürfte, wo die enge innere Bindung dieser Szenengruppe nicht gewahrt ist. Euripides baut zwei argumentative Prologreden in seine Drameneröffnung ein. Er exponiert die Elektrafigur in drei Szenen (Dialog, Monodie und Parodos). Sophokles dagegen liefert mit einer Szene den Umfang an Information, zu dem Euripides zwei oder mehr Szenen benötigt. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Verdopplung der Exposition bei Euripides Vorbild für die konzentrierte Form des Eingangs bei Sophokles gewesen sein sollte. Was ist das Frühere? Diejenige Szenengruppe, die in sich geschlossen ist, oder die, welche durch Verknüpfung mit anderen Szenen und Personen sowie durch Verdopplung ihrer Funktionen an Homogenität, Durchsichtigkeit und Autarkie einbüßt? Wir haben es mit einem Auseinanderspiegeln eines ursprünglich geschlossenen Blocks (Prol. Mon. Parod.) zu tun. Sophokles dürfte der Gebende sein, da nur in seinem Elektradrama die parallele Szenenfolge diejenige künstlerische Physiognomie aufweist, die man von einem Dichter erwarten muß, der diesen Szenenkomplex als Prolog eines Dramas geschaffen hat. “ Auch

die

Tatsache,

daß

Euripides

sein

Drama

nicht

mit

der

durch

Aischylos

und

Sophokles kanonisierten Exposition von Spiel und Gegenspiel (Or.-El.), sondern mit einer Szene eröffnet, deren Träger eine dem Mythos fremde Gestalt ist, weist ihn gegenüber Sophokles als später aus, da er eine Atmosphäre des Ländlich-Unheroischen exponiert, deren provozierender Charakter erst auf dem Hintergrund der durchaus heroisch gefärbten Prologrhesis in der ΕἸ. d. Soph. (vgl. die Beschreibung von Argos und die Charakterisierung der Prologpersonen Or. und Päd.) deutlich wird.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

141

Wir betrachten nun die beiden Dramen gemeinsame Szenengruppe (Prol. Mon. Parod.) unter dem Aspekt der äußeren und inneren Einheit und fragen nach dem jeweiligen funktionalen Wert der Partie für das Gesamtdrama. Unter dem Gesichtspunkt des Handlungsablaufs vollzieht sich die äußere Verknüpfung der Szenen bei Sophokles nahtlos. Die beiden Prologsprecher hören Klagerufe Elektras aus dem Inneren des Palastes, die als notwendiger Ausdruck der Leidenssituation der Heldin zugleich die passende Vorbereitung für den folgenden Auftritt Elektras darstellen: An der zunächst unsichtbaren, nur durch die Stimme und deren Wirkung auf die Mitspieler agierenden Elektra erlebt der Zuschauer deren Leidensekstase eindrucksvoller, als wenn sie sofort aufgetreten wäre. Nachdem so der Auftritt der Intrigenpartei mit dem der leidenden Heldin eng verknüpft worden ist, kann sich die Monodie der Heldin fugenlos anschließen. Darauf folgt ohne Bruch der Aufzug der Frauen in der Parodos, die die Königstochter, deren Klagen sie vernommen haben, trösten wollen. Nicht so fließend und organisch erscheinen die Übergänge zwischen den homologen Szenenteilen bei Euripides. Daß die Auftrittsrhesis Orests durch eine scharfe Zäsur von den vorausgegangenen Szenen getrennt bleibt, haben wir schon bemerkt. Auffällig wirkt die Verbindung zur folgenden Monodie, Als Orest Elektra, die er für eine Sklavin hält, vom Brunnen zurückkehren sieht, begibt er sich mit seinem

Begleiter in ein Versteck, um der unerkannten Schwester Raum für ihre Arie zu schaffen. Das, was Orest bei Sophokles nur geahnt hatte, was dort nur Vorstellung sein durfte, ist nun in ein plastisches Bild, ın einen szenischen Vorgang umgesetzt. Das scheint uns bühnentechnisch fortgeschrittener und damit entwicklungsgeschichtlich später als die Gestaltung bei Sophokles zu sein. Zugleich verbirgt sich hinter diesem scheinbar so reibungslosen Übergang aber ein so auffälliger Mangel an dramatischem Realismus, daß man geradezu davon sprechen kann, diese Verknüpfung von Rhesis und Monodie sei „unter der Hand erschlichen“.

Wir

glauben,

auf

dem

Hintergrund

des

Zeitverhältnisses

beider

Elektradramen eine Erklärung für dieses Faktum geben zu können®. Vergegenwärtigen wir uns die äußere Situation: Orest kündigt im Prolog an, er wolle vor Beginn des Racheunternehmens Kontakt mit seiner Schwester aufnehmen (V. 98). Zu diesem Zweck will er den ersten Fremden, der ihm begegnet, nach dem Aufenthaltsort seiner Schwester fragen (V. 103 f.). Diese Gelegenheit bietet sich sofort, da er eine Sklavin (vgl. V. 104) — es handelt sich um Elektra — näherkommen sieht. Der Zuschauer muß erwarten, daß Orest entsprechend seinem Plan die Fremde direkt befragen wird (vgl. V. 105 ἱστορήσομεν). Statt dessen aber verbirgt er sich überraschenderweise ohne Grund mit seinem Begleiter in einem Hinterhalt, in der Hoffnung, auf diese Weise seine Informationen erhalten zu können. Wenn aber die Imperative in den Versen 125, 140 und 150 an Elektra selbst in der Form eines @ Bisher hat, soweit ich sehe, nur Denniston in seinem Kommentar p. 64 auf diese Schwierig-

keit aufmerksam gemacht. “ Das Motiv für das unerklärliche Handeln Orests aus einer ängstlichen Vorsicht und einem unselbständigen Charakters des Helden abzuleiten, scheint uns abwegig, da der Text eine solche psychologisierende

Interpretation nicht trägt. Mit dem

„Seelenkunde“ arbeitet z. B. noch Friedrich, Eur. und Diph. p. 83.

Instrument

der

142

C. Das Problem der Priorität

Selbstgespräches gerichtet sind und die Agamemnontochter also keine Begleiter um sich hat, wofür auch die Äußerung Orests (V. 107 bzw. 110) zu sprechen scheint, kann Orest niemals erwarten, daß sich die vermeintliche Sklavin aus eigenem Antrieb in irgendeiner Form äußert, die zudem für ihn zweckdienlich wäre. Sollten die Imperative dagegen die Anwesenheit einer Dienerin implizieren (dagegen spricht manches”), so kann Orest ebenfalls kaum gerade mit einem Selbstgespräch oder mit einer anderen Art der Selbstäußerung der Fremden rechnen, was aber die Verse 107-111 vorauszusetzen scheinen. Vor allem rechtfertigt nichts die Form einer monodischen Arie. Wie ist dieser Widerspruch zwischen der angekündigten und der tatsächlichen

Handlung

zu erklären,

der um

so krasser

wirkt

als die

„falsche“

Durchführung unmittelbar auf die in eine andere Richtung zielende Vorbereitung folgt? Die ganze Szene steht einmal sichtlich unter dem Eindruck der Gestaltung in den Choephoren. Dort zieht sich Orest mit seiner Begleitung auch in ein sicheres Versteck zurück, um

seine Vermutung,

die Schwester befinde sich im Zug

der trauernden

Frauen, zur Gewißheit werden zu lassen. Dort ist dieses Rückzugsmotiv gerechtfertigt. Euripides scheint den äußeren Grundriß von Aischylos übernommen zu haben, ohne aber dieses übernommene Motiv fugenlos seiner Struktur anpassen zu können, da Orest keinen Grund hat, einer sofortigen Begegnung mit der Sklavin aus dem Wege zu gehen. Im Gegenteil! Warum hat aber dann Euripides bei Aischylos diese unpassende Anleihe gemacht? Die Erklärung liegt auf der Hand. Entsprechend den Voraussetzungen der äußeren Handlung müßte es nach dem Auftritt Orests sofort zu einem Dialog zwischen beiden Geschwistern kommen, und die Anagnorisishandlung könnte beginnen. Aber eben diese Richtung des Geschehnisablaufes will der Dichter offensichtlich vermeiden. Er stoppt unter Mißachtung der äußeren Wahrscheinlichkeit den Handlungszug, um Elektra Gelegenheit zum Vortrag einer Monodie zu geben, an die sich die Parodos anschließen kann, d.h. um eben diejenige Szenenfolge in seine Drameneröffnung einzubauen, die sich bei Sophokles mit innerer Konsequenz aus der dramatischen Situation ergibt. Legt man

den methodischen

Grundsatz

an, an Stellen,

an denen

das Sachliche

einer

strengen Logik nicht ohne Widerspruch entspricht, die widerspruchslose Version zu rekonstruieren, so wird der Einfluß der sophokleischen Gestaltung offensichtlich. Die Monodie im Prolog der euripideischen Elektra steht nicht in einer notwendigen Verbindung mit der vorausgehenden Szene und dürfte nach der Anlage der Handlung keinen Prologteil bilden. Der strukturelle Ort der Monodie ist zwar in beiden Dramen der gleiche, aber nur in der Tragödie des Sophokles steht die Arie an ihrem natürlichen Platz. Die dramatische Kontinuität im Prolog der euripideischen Elektra ist erst vom #7 Der Scholiast (zu V.140) deutet die Imperative als Selbstgespräch. Er meint, die Heldin spräche naiv (ἀφελῶς) zu sich selbst. Elisei, p. 156, glaubt, die Anwesenheit einer zweiten Person dürfe nicht ausgeschlossen werden. Schadewaldt, Monolog p. 215 f. (vgl. Wilamowitz G. V.p.558) faßt alle Imperative als Selbstanreden auf, außer dem in

V.140,

der

die

Anwesenheit

läßt die ganze Frage offen.

einer

Dienerin

notwendig

mache.

Denniston,

p. 64,

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

143

Beginn der Monodie an gewahrt. Während die äußere Verbindung zwischen Monodie und Parodos keine Schwierigkeiten bereitet (der Auftritt des Chores scheint durch das Motiv der Einladung zum Herafest gut begründet), erweist sich aber dieBindung der sophokleischen Parodos an die folgenden Szenen als wesentlich fester denn im Falle der entsprechenden euripideischen Partie. Die Funktion des ratgebenden und tröstenden Chors wird bei Sophokles während des ganzen Dramas durchgehalten®. Bei Euripides dagegen ist die Funktion des Chores nach Überbringung der Einladung erschöpft. Diese Motivierung wirkt nicht in das Drama hinein, so daß auch der Dialog zwischen beiden Geschwistern keine äußere Bindung an die vorausgehende Parodos aufweist, da der Chorauftritt nicht mehr wie bei Sophokles den äußeren Anstoß für die folgende Szene gibt. Zusammenfassend kann man sagen, daß unter dem Gesichtspunkt der äußeren Verknüpfung die in beiden Elektradramen parallelen Szenen nur bei Sophokles ein Maß an Geschlossenheit repräsentieren, das man von dem Dichter erwarten muß, der diesen Szenenkomplex zuerst als Exposition für einen größeren Organismus entworfen hat. Dieses Ergebnis finden wir bei einer Betrachtung der inneren Einheit der beiden Prologe bestätigt. Der Prolog der sophokleischen Elektra stellt durch die kunstvolle gedankliche und formale Abstimmung jedes einzelnen Gliedes auf den angrenzenden Kompositionsteil einen Kosmos für sich dar. Der Dichter bringt nacheinander

Orest, Elektra und

den Chor

in die Handlung.

Diese Reihenfolge

läßt schon erkennen, daß die Gliederung des Prologs der inneren Gliederung des Handlungsgefüges in dreifacher Hinsicht entspricht: 1. Orest und Elektra als Vertreter der äußeren bzw. inneren Handlung, die in dem Spannungsverhältnis von Spiel und Gegenspiel stehen, werden vom Chor abgelöst, der eine vermittelnde Instanz bildet. 2. Auf Orest als Vertreter der äußeren Intrigenpartei folgen die Vertreter des Rachegedankens am Hofe des Ermordeten. 3. Schließlich wird der Auftritt der die Isolation verkörpernden Elektra sinnfällig von der Exposition der beiden isolierenden Handlungsträger eingerahmt: Vom Auftritt Orests, der durch eine Täuschung seine Schwester in die Vereinsamung treibt und von dem des Chores, der anfangs Elektra zur Aufgabe ihrer Protesthaltung zu veranlassen sucht. Der sophokleische Prolog zeigt also einen mehrfach gegliederten Aufbau. Jede der drei Szenen steht in einer besonderen gedanklichen Spannung zu den beiden übrigen. Diese Beziehungen werden durch eine ethopoietische Abstimmung der einzelnen Prologteile aufeinander noch verstärkt, da Sophokles alle Exposition leistenden Szenen bewußt dem individuellen Ethos des Trägers der betreffenden Szene unterwirft. Orest erscheint im Prolog als der siegessichere Triumphator, dessen einziges Ziel es ist, durch die Säuberung des Hauses den ihm gebührenden Platz des Stammesfürsten einzunehmen (V. 69-72). Er will den Feinden wie ein glänzender Stern erscheinen®. 48. Aus der Auseinandersetzung mit den Leidensschilderung der Heldin, die nachträglich begründend rechtfertigen “Ὁ Diese Atmosphäre wird durch die strichen. Man beachte vor allem den

Frauen erwächst so auch ganz natürlich die folgende ihre konsequente Haltung während der Parodos soll. Eingangsrede des Pädagogen wirkungsvoll unterzuversichtlich-protreptischen Grundton seiner Worte

144

C. Das Problem der Priorität

Für einen Gedanken an die leidende Schwester bleibt da kein Raum. Nach dieser Atmosphäre einer ungetrübten Zuversicht leitet Sophokles mit den Mitteln des Kontrasts den plötzlichen Umschlag ein. Aus dem Inneren des Hauses ertönen Elektras Klagen, eine angemessene Ausdrucksform

für den Auftritt einer Person,

deren Funktion in der Demonstration eines Leidensbios besteht. In der Monodie erscheint dann Elektra auf der Bühne, um das Unmaß ihrer Leiden in vierfachem Anruf an die unbelebte Natur, an den toten Vater, die Götter der Unterwelt und den fernen Bruder zu verkünden, wobei diese Anrufungen Stufen bedeuten, auf

denen das Pathos emporsteigt. Der Stimmungswert dieser Monodie wird erst auf dem Hintergrund der vorausgehenden Rhesis Orests deutlich. Der Gedanke des Rachetriumphs wird von dem des Leidensethos abgelöst und ergänzt. Damit entwickelt sich diese Prologform zum sinnfälligen Spiegelbild der inneren Struktur des gesamten Dramas. Der Rächer, der seine Schwester um des Gelingens der Rache willen in die äußerste Vereinsamung stößt, wird unmittelbar mit der Leidenssituation seines „Opfers“ konfrontiert. Der aktive Beweger der Handlung, der Erreger des Pathos, steht dem passiven Träger des Geschehens gegenüber. Zwei Daseinsformen, die in Wirklichkeit demselben Ziel dienen, müssen tragischerweise

noch auf eine gewisse Strecke hin unverbunden nebeneinander stehen, ja sogar gegeneinander wirken, um den letzten Triumph zu sichern. Deshalb muß auch die in dem kurzen Intermezzo zwischen der Rhesis Orests und der Monodie Elektras sich anbahnende Erkennung verhindert werden — eben dadurch weist sich das Drama gerade als Anagnorisisstü aus —, da Orest seiner im Prolog dargelegten geistigen Struktur nach noch keinen Zugang zu der Schwester, d.h. zum Bios des Leidens haben kann, während umgekehrt die Schwester in einem besonderen Nahverhältnis zu dem Ferngeglaubten steht. Elektra muß erst die äußerste Schwelle ihrer Passion durchschritten haben, bevor der Bruder gerade durch das Medium des Leids, das bei Orest in der Form des Mitleids wirksam wird, zur Erkennung der Schwester durchdringen kann. Was hier im Prolog noch nicht möglich erscheint, wird später unter dem Einfluß des Geschehens auf die Personen Wirklichkeit. Das im Prolog Trennende weist schon auf die Form der späteren Vereinigung hin: Die Urne, zunächst Instrument der Intrige und Ausdruck des Leids, wird später zum Symbol der Erkennung und Einheit. So ist der sophokleische Prolog die angemessene Einleitung dieser Tragödie, deren Problematik aus dem Gegenspiel von äußerer und innerer Handlung und aus dem Widerstreit von Doxa und Aletheia erwächst. Der Prolog bildet die stimmungsmäßige und gedankliche Antizipation des Gesamtwerkes. Wie in einem Präludium werden alle wesentlichen Grundmotive vorweggenommen. Die Exposition des inneren Handlungsstrangs selbst wird durch Monodie und Parodos geleistet. Die Kohärenz beider Szenen, die sich nach dem Prinzip der Steigerung gegenseitig bedingen, ist nicht zu verkennen. Nach der in der Form der und im einzelnen besonders die Schilderung der Heimat Orests im Sinne eines zu erringenden Kampfpreises (1 ff.) sowie die Beschreibung der äußeren Natur, die unter Verwendung der Lichtsymbolik den adäquaten Hintergrund zur äußeren Situation abgibt.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

145

sachlichen Prologrede gegebenen Exposition der äußeren Handlung folgt die der inneren Handlung in lyrischer Form entsprechend dem Wechsel von Faktum zu Stimmung (Mon. u. Parod.). Der formalen Polarität entspricht eine gedankliche. Da der eigentliche Inhalt der Elektra in der Darstellung des Pathos der Heldin liegt, darf man die anapästishe Monodie als dramatisch notwendig ansehen Elektras einsames Auftreten veranschaulicht die Isolation ihres Daseins. Die verzweifelten Anrufe an die Natur, den toten Vater, die Unterirdischen und den fernen

Bruder finden keine Resonanz, da das gemeinsame Charakteristikum des jeweiligen dialogischen Gegenüber in der Abwesenheit bzw. Machtlosigkeit besteht. Diese äußere wie innere Vereinsamung stufenweise zu steigern, dienen die folgenden Szenen, in denen Elektra dem Chor, der Schwester, der Mutter und endlich dem

Pädagogen gegenübertritt. Das bedeutet, daß die Monodie als angemessener Ausdruck der äußeren und inneren Lage der Heldin leitmotivisch in das Drama hineinwirkt,

in dem

die einzelnen

Konturen

des in der Monodie

entworfenen

Bildes

schärfer gezogen werden. Nachdem Elektra ihre Isolation in der Monodie enthüllt hat, wird sie in der nächsten Szene zum ersten Mal aus ihrem monologischen Dasein herausgerissen und zur Auseinandersetzung mit der Umwelt gezwungen. Das Gespräch mit dem Chor, der Elektras Lebensziel in Frage stellt, bringt nach der bewußten Demonstration des Leidens in der Monodie die unbedingte Bejahung dieses Leidensbios zum Ausdruck und entwickelt damit einen zweiten wesentlichen Zug des Elektrabildes. Die Heldin steht und besteht in einer Welt, die die göttliche Ordnung nicht mehr sichtbar verwirklicht. Das Prinzip der Steigerung, das den Weg von der Monodie zur Parodos bestimmt und zugleich das organische Herauswachsen des Aufzugsliedes aus der monodischen Klage offenbart, beruht auf dem Umschlag von einer monologisch-passiven zu einer dialogisch-aktiven Lebenshaltung”®, d.h. auf dem unbedingten Willen zur Selbstbehauptung und zur Wahrung der Arete. Die Zweifel an Orests Heimkehr, die auf den in der Monodie ausgesprochenen Wunsch nach dessen Kommen zurückgreifen, weisen schon auf die spätere Erhebung Elektras voraus. Die Parodos ist nicht Unterbrechung sondern vielmehr Überleitung des einen inneren Handlungsstranges in das Drama hinein. Wie der Prolog tektonisch ein Spiegelbild der Handlungsstruktur abgibt (s. ο.), so entwickelt er auch in nuce ein breites lückenlosese Elektrabild, dessen Konturen

nur noch verstärkt werden.

Inhaltlich darf demnach der Prolog der sophokleischen Elektra als eine verdichtete Vorwegnahme der für das Geschehen wesentlichen Grundmotive gelten. Wie steht es nun im Drama des Euripides mit der inneren Geschlossenheit des Prologs? Auf Grund der auffälligen Ähnlichkeit im Großen (analoge Reihenfolge, Form und Anlage der drei Szenen wie bei Sophokles) treten natürlich die Unterschiede in den Einzelheiten der Formgebung um so bedeutsamer hervor, so daß die Aussicht auf eine Bestimmung der Richtung der Abhängigkeit gegeben scheint. Man darf gleich feststellen, daß die Homogenität des sophokleischen Szenenkomplexes von Euripides auch nicht annähernd erreicht wird. Die notwendige

70 Dieser Wechsel ist nicht im Sinne einer Entwicklung, sondern zweier komplementärer Aspekte zu verstehen. 10 Vögler, Interpretationen

als ein Nebeneinander

146

C. Das Problem der Priorität

Folge von der Rhesis Orests zur Monodie Elektras einerseits sowie von Monodie zu Parodos andererseits sucht man vergebens. Da Euripides den Expositionsstoff nicht dem individuellen Ethos der Personen unterwirft, fehlt die für die sophokleische Anlage so charakteristische Entsprechung von formaler und gedanklicher Polarität. Die Rhesis Orests liefert sachlich das nötige Expositionsmaterial für das Verständnis der äußeren Handlung. Der Monodie Elektras liegt ebenfalls kein individuelles Ethos zugrunde. Sie bezeichnet deshalb auch keinen innerlich notwendigen Ausdruckswert mehr wie bei Sophokles, da sie sich der Form des Konventionellen unterordnet?! und in die überindividuelle Sphäre des Lyrischen übergeht. Die in der Form des rituellen Goos stilisierte euripideische Monodie bezeichnet mehr das Pathos, als daß sie aus dem Pathos hervorgetrieben würde. Diese Erstarrung des lebendigen Ausdruckswertes läßt die Monodie mehr als stereotypes Bühnenrequisit, als stimmungsvolle, Iyrische Klage erscheinen, ganz im Gegensatz zur sophokleischen Fassung, wo die Arie Elektras einen notwendigen, festgelegten Stellenwert einnimmt. Das unpersönliche Nebeneinander von Rhesis und Monodie gibt diesem Prologteil den Anstrich des Zufälligen, ja sogar des Schablonenhaften. Der Mangel an individuellem Ausdruckswert in der Monodie beraubt die Szene auch einer inneren Bindung an die folgende kommatische Parodos. Die Einladung des Chores zum Herafest wächst nicht notwendig aus einer in der Monodie exponierten, einmaligen Situation heraus, sondern das kommatische Aufzugslied entwickelt lediglich das bereits im Eingangsprolog und auch in dem folgenden Dialog Orests mit Elektra ausgesponnene Motiv der Dürftigkeit der sozialen Stellung72, Die drei Szenen (Rhesis-Monodie-Parodos) bilden also im Gegensatz zur Darstellung bei Sophokles kein geschlossenes Wirkungsganzes, das von dem Gesetz einer gedanklichen und stimmungsmäßigen Entwicklung beherrscht wird, sondern stellen nur eine formale Variation des gleichen Themas dar. Ebensowenig kann man von einer Spiegelung der Gesamtstruktur im Prologaufbau sprechen. Der Mangel an Symmetrie und Ausgewogenheit ist nicht zu übersehen. Diese Inkohärenz des euripideischen Aufbauschemas gilt aber nur für den ,sophokleischen“ Prologteil (Rhesis-Mon.-Parod.). Nimmt man dagegen die beiden vorgeschalteten Szenen hinzu, so bietet der Gesamtprolog der euripideischen Elektra einen durchaus sinnvollen Aufbau. Die Schilderung des Schicksals Elektras im Prolog des Bauern wird in der folgenden Dialogszene in anschauliche Handlung umgesetzt. Nach dieser Verdinglichung muß dann das Klagelied der Heldin (V. 112ff.) wiederum stärker wirken als die bloße Aussage (59 ff.). Dazwischen schiebt sich der Auftritt Orests,

τι Der Zwang des Typus hat einen Verlust an dramatischem Eigenwert zur Folge. Das haben Schadewaldt, Monolog und Selbstgespr. p. 159 f. und W. Nestle, Die Struktur des Eingangs, p. 62, gut gezeigt. Man kann vielleicht den Unterschied zwischen Soph. und Eur. auf die kurze Formel bringen: Bei Soph. durchdringen sich Ethos und Pathos. Bei Eur. macht sich der nackte Affekt, das Pathos, selbständig und gerinnt zur arabeskenhaften Geste. τ Die Dürftigkeit des Lebens wird nacheinander in der Prologrede (34-39), im Dialog (54—76) und in der Parodos (118—21, 175—89 und 198—212) entwickelt.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

147

der zumindest eine starke Spannung in den Prologaufbau bringt. Die verschiedenen Aspekte der Exposition entfalten sich zu ganzen Szenen: Vorgeschichte in der Rede des Bauern, Handlung im Dialog und in der Rhesis Orests, Pathos in der Monodie. Diese Struktur könnte man beinahe chiastisch nennen. Ziehen wir nun aus diesem Befund die Konsequenzen, so ergibt sich, daß das szenische Triptychon Prolog Orests-MonodieElektras-kommatische Parodos bei Euripides gleichsam nicht lebensfähig ist und keine Autarkie besitzt, sondern seinen Stellenwert im Prolog erst durch Verknüpfung mit weiteren Szenen gewinnen kann. Der umstrittene Kompositionsabschnitt bedarf demnach zur Entfaltung seiner vollen Wirkung notwendig eines Komplements. Danach dürfte wohl über die Richtung der Abhängigkeit kaum mehr ein Zweifel bestehen, wenn man bedenkt, daß nur im Drama des Sophokles der beiden Elektren gemeinsame Szenenkomplex unter den Gesichtspunkten der Funktion, der Form und der Stimmung einen dramatischen Eigenwert besitzt und einen Kosmos bildet, in dem jeder Teil durch den anderen bestimmt ist bzw. sein Gesetz vom Ganzen her empfängt und in dem jedes Glied seinen strukturellen Ort notwendig einnimmt. Nur Sophokles kann ursprünglich diese Dreiszenengruppe in der vorliegenden Reihenfolge und formalen Abstimmung als Prolog konzipiert haben. Es ist schwer vorstellbar, daß zunächst Euripides den bei ihm willkürlichen und

zufälligen Aufbau erfunden und Sophokles erst hinterher auf dem Weg einer Kopie in seinem Drama eine Motivierung gefunden hätte, aus der sich die parallele Anlage geradezu mit Notwendigkeit ergibt. Eine Bestätigung unseres Ansatzes liefert auch eine vergleichende Analyse der analogen Einzelszenen in beiden Prologen, insbesondere wenn man den Aspekt des obersten Formideals der Entsprechung von Form und Inhalt anlegt. 1. Die Rhesis Orests

In beiden Dramen nimmt Orest zu Beginn seiner Prologrede in Form einer rühmenden Anrede Bezug auf seine treuen Begleiter (Päd. bzw. Pylades). Die Prologrede trägt also jeweils dialogischen Charakter. Während es sich aber bei Sophokles um eine echte Hinwendung zum Gefährten handelt, da dieser bereits unmittelbar vor Orest in einer kurzen Rede einen Proptreptikos zur Rache gegeben hat und das Lob

von seiten des Helden

deshalb

gerechtfertigt scheint, fehlt bei

Euripides diese Resonanz, so daß man nur noch von einer fiktiven dialogischen Einkleidung sprechen kann. Die Anrede an Pylades wird zu einer leeren, nackten Apostrophe, da Pylades im Gegensatz zum sophokleischen Pädagogen, der während des Geschehens eine lebendige Dramenfigur darstellt, in die leblose Rolle eines κωφὸν πρόσωπον gedrängt wird. 2. Die Monodie

Daß die Monodie nur in der sophokleischen Tragödie einen natürlichen und notwendigen dramatischen Stellenwert einnimmt, haben wir bereits betont. Sie ist sowohl äußerlich gut motiviert, da Elektra durch Aigisths Abwesenheit (310 ff.) 10*

148

C. Das Problem der Priorität

Gelegenheit hat, ihren Klagen freien Lauf zu lassen, wie auch der augenblicklichen inneren Situation der Heldin angemessen, da es die Agamemnontochter nach einer einsamen Nacht drängt, dem erwachenden Tag ihr gestautes Leid anzuvertrauen. Die Stilisierung ins Rituelle bei Euripides dagegen beraubt die Szene eines Impulses, der sie notwendig aus sich hervortreten lassen könnte. Die Monodie ım Eingang des euripideischen Dramas, nicht mehr das Wesen ihres Trägers aussprechend und deshalb zum stereotypen Kunstmittel erstarrt, muß deshalb später als der parallele Prologteil des Sophokles angesetzt werden. Wenn die Monodie als Ausdruck monologischen Pathos, d. h. im Sinne eines ohne Gegenüber sich äußernden Pathos zu verstehen ist, und wenn der ursprüngliche Richtungssinn der monodischen Form nicht nur in der isolierenden Einsamkeit als Zustand, sondern auch im Alleinsein als Tatsache liegt”®, dann scheint uns die Wahl der monodischen Aussageform nur in der sophokleischen Szene gerechtfertigt. Nur dort hält Elektra allein am Hofe des ermordeten Vaters inmitten der Mörder den Rachegedanken wach. Der Dichter bringt diese „monodische“ Grundsituation immer

wieder zum Ausdruck, besonders durch die Kette der Anrufungen an die unbelebte Natur, den toten Vater und den fernen Bruder sowie durch den Hinweis auf ıhre

Ausnahmestellung als Klagende (V. 100). Die euripideische Elektra dagegen steht gerade nicht allein in einer isolierenden Umwelt. Sie wohnt mit ihrem Gemahl zusammen. Dementsprechend beherrscht auch der Gedanke der Isolierung den Inhalt der Monodie nur auf eine sehr kurze Strecke hin (130—39). Nur der sophokleischen Gestaltung liegt der für die monodische Ausdrucksform im Drama genuine Gedanke des Alleinseins zugrunde. Euripides benutzt eine Form zur Einkleidung eines Gehaltes, der den ursprünglichen Richtungssinn dieser Form bereits nicht mehr zur Geltung bringt und abbiegt. Diese Abstumpfung des Grundgedankens einer Formidee findet seine Bestätigung, wenn man die äußere Handlungssituation heranzieht. Während die monodisch-isolierende Funktion der sophokleischen Monodie ihren sichtbaren Ausdruck in dem vorausgehenden kurzen dialogischen Verbindungsstück (V. 77-85) findet, das eine mögliche Erkennung verhindert und damit die Isolation der Heldin aufs neue bestätigt, dient die parallele Szene bei Euripides paradoxerweise gerade der Aufhebung der Einsamkeit, da sie die Erkennung Elektras durch Orest bewerkstelligt. Die Form erleidet eine Selbstentfremdung und erfährt eine ironische Brechung. Danach liegt die Posteriorität der euripideischen Gestaltung auf der Hand. Schließlich darf man noch nach dem Funktionswert der beiden Monodien für die jeweilige Gesamthandlung fragen. Während das Ihema der Monodie bei Sophokles, die Demonstration des leidvollen Alleinseins Elektras, in den Begegnungen mit dem Chor, der Schwester, der Mutter und dem Pädagogen in stetiger Steigerung im Verlauf des Geschehens leitmotivisch durchgespielt wird, durchwirkt der Inhalt der Monodie des Euripidesdramas, die Trauer um den toten Vater, das Drama nicht in diesem Maße. Der Rachewille der Agamemnontochter ist im Gegenteil nicht 18 In diesem Zusammenhang stimmen wir W.Nestle, p.76, zu, wenn er die Polemik Schadewaldts (p.14) gegen Leo wegen dessen Zusammennehmen von Monodie und Monolog für übertrieben hält.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

149

primär aus der Pietät gegenüber dem Toten, sondern vielmehr aus dem Gefühl der unwürdigen sozialen Lage motiviert. Auch hinsichtlich der Funktionsleistung der Monodie liegt die Annahme einer Priorität des Sophokles nahe. 3. Die Parodos

Beide Dichter kleiden die Parodos des Chores in die Form eines Wechselgesangs zwischen Chor und Elektra. Diese kommatische Komposition dient dazu, jeweils den Widerstreit zwischen dem Versuch wohlmeinender Einflußnahme von seiten des Chores und beharrlicher Festigkeit Elektras zu offenbaren. Aber auch hier ist es wie so oft nur der äußere Bau, den Euripides mit Sophokles teilt. Man wird nicht bestreiten können, daß sich in viel höherem Maße in der sophokleischen Parodos der Dialog zu einem echten Kampf und Ringen um die Berechtigung einer bestimmten Lebensform, um die menschliche Selbstbehauptung Elektras auswächst. Der formalen Polarität entspricht eine gedankliche. Die kommatische Parodos bei Euripides dagegen kann im Grunde nicht als Kommos gelten. Es handelt sich mehr um einen lyrischen Dialog, der das Motiv der dürftigen Lage Elektras ausspinnt, so daß die Parodos nicht bis zu einem wirklichen Aufeinanderstoßen von zwei gegensätzlichen Logoi vordringen kann. Von einem dialogischen Affekt ist kaum etwas zu spüren, da sich die argivischen Mädchen nicht wie die Frauen bei Sophokles zu einem der Heldin gleichwertigen Partner zu entfalten vermögen. Ihr Anliegen leitet sich nicht aus innerer Spontaneität ab wie bei Sophokles

(vgl. V.137 ff., 213 ff., 233ff. und

251ff.), sondern

hat seinen Grund

in einem fremden Auftrag. Außerdem hat Sophokles die kommatische Form ganz bewußt auf die vorausgehende Monodie zukomponiert. Der Monodie als isolierender Einzelgesang folgt die kommatische Parodos, die als „Zusammengesang“ die äußere Isolation aufhebt, aber in dieser Überwindung die innere Vereinsamung durch die Betonung der verschiedenen Lebensformen des Chors und der Heldin noch verschärft. Wir halten die Gestaltung der Parodos bei Euripides gegenüber der sophokleischen Parallelszene für später. 4. Die Anrufe an die Natur (S. El. 86 ff. und Eur. El. 54 ff.) Im sophokleischen wie euripideischen Drama wendet sich die Heldin bei ihrem Auftritt zu Beginn ihrer Rede mit einem Anruf an die Natur, speziell an die Gestirne. Diese Parallelität schließt eine zufällige Übereinstimmung aus. Wenn die ursprüngliche Voraussetzung für den Anruf eines leidenden Menschen an die naturhafte Umgebung die Fülle der menschlihen Empfindsamkeit ist, da erst durch das Pathos die Umwelt zum adäquaten Gegenbild des Menschen werden kann, dann darf als natürlicher struktureller Ort für einen solchen Anruf diejenige Aussageform gelten, deren Funktion Pathosexposition ist, nämlich die Monodie. Genau dort hat nun auch die Anrufung der sophokleischen Elektra ihren Platz, während sie bei Euripides zu Beginn einer sachlichen, logisch gegliederten Dialogrede steht. Diese Verschiebung eines Motivs aus seinem ihm ursprünglich angemessenen Ort scheint uns ein Zeichen des Späteren zu sein.

150

C. Das Problem der Priorität

Hinzu kommt, daß allein im sophokleischen Anruf der Gegenstand der Anrufung zum Korrelat des individuellen Pathos wird. Es ist unverkennbar, daß die sophokleische Heldin mit den realen Dingen ihrer Umwelt doch stets nur das eigene Leid meint. Elektra vertraut nach einer trostlosen Nacht ihr Leid dem aufstrahlenden Licht des Morgens an. Ihm gilt ihr erster Gruß. Damit wird diese Hinwendung zum Licht unmittelbarer Ausdruck des inneren Erlebens der Agamemnontochter. Ihre Isolation gegenüber den lebenden Bewohnern des Palastes spiegelt sich beinahe notwendig in der Tatsache, daß die unbelebte Natur zum einzigen dialogischen Gegenüber werden kann. Dabei erhält der Gegenstand der Epiklese, φάος, das Epitheton ἁγνόν, wodurc sich die innere Wesensverwandtschaft zwischen den beiden „Dialogpartnern“ enthüllt, auf deren Hintergrund sich die Unreinheit der äußeren Umwelt symbolisch abhebt, in die Elektra hineingestellt ist, um dieses ἀγνόν zu wahren. Leitmotivisch ordnet sich die Epiklese auch in den Motivzug des Wechsels von Licht und Dunkel ein, der dem Elektradrama sein Gepräge gibt. Insofern fügt sich der Anruf fest in ein weitverzweigtes Bezugssystem: Die Freude am Licht klingt in der Elektramonodie bei Sophokles immer wieder durch. Licht und Dunkel repräsentieren zwei voneinander geschiedene Daseinsschichten. Das Dunkel steht für den Tod, das Licht wird zum Symbol des Lebens. Solange ihr noch vergönnt ist, das Licht der Gestirne zu schauen, will Elektra

ihre Klagen

hinausschreien, um

des toten Vaters willen,

„der unter

der Erde, des Lichtes beraubt, ein Nichts ist.“ Mit dem Auftritt der Schwester legt sich über das Schicksal Elektras die drohende Gefahr, daß die Agamemnontochter in ein Verließ gesperrt wird, wo der Sonne Strahl nie hindringt (380 ff.), d. h., wo der Tod den Rachewillen erstarren läßt. Als mit der fingierten Nachricht vom Tode Orests auch die letzte Hoffnung geschwunden scheint, beklagt der Chor, daß sich Helios und Zeus mit seinem Blitz verborgen hätten. Nachdem der Chor nochmals die unbedingte Leidenswahl Elektras durch den Hinweis auf deren Bereitschaft, selbst auf den Anblick des Lichtes zu verzichten, demonstriert hat (1079 £.),

erscheint plötzlich der Retter Orest, begrüßt als φίλτατον φῶς (1224 und 1354). Damit schließt sich der Kreis des leitmotivischen Wechsels von Licht und Dunkel”*. Wie das Licht zum Symbol des Lebens, so wird es auch zum Symbol für den, der als Retter des Lebens erscheint. Mit dem Erscheinen Orests erfährt ein thematisches Grundmotiv seinen Abschluß, das zuerst in dem Anruf am Anfang der Monodie Elektras deutlich exponiert worden war, nachdem Sophokles es bereits sowohl in der Prologrede Orests wie auch in der Eingangsrhesis des Pädagogen angeschlagen hatte, der den heraufbrechenden Tag begrüßt (17 ff.), ein Bild, das deutlich auf den folgenden Anruf Elektras in der Monodie zukomponiert ist, wo ja derselbe Tag in ganz anderer Weise ein Stück des Daseins der Heldin wird. Die Funktion der Epiklese bei Sophokles liegt nicht zuletzt in der Markierung dieses Tages als eines besonderen Schicksals- und Krisistages für die Agamemnontochter, der das Geschehen des Unglückstages der Ermordung Agamemnons revi-

54 Eine brauchbare Materialsammlung zur Lichtsymbolik in d. ant. Lit. gibt R. Bultmann, Zur Gesch. d. Lichtsymbolik im Altertum. Phil. 97 (1948), p. 1 ff.

111. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

[151

dieren wird’. Daneben ist die Epiklese der sophokleischen Heldin auch eng mit den übrigen Anrufungen innerhalb der Monodie an den toten Vater (V.95), an die Mächte der Unterwelt (110) und an den fernen Bruder (116) zu einer Einheit des Gebetes verbunden, das seinerseits wieder eng an das Gebet Orests (V.67 ff.) geknüpft ist?®. Ausdrucks- und Funktionswert des Elektraanrufs im sophokleischen Drama sind unbestritten. Bei Euripides dagegen fehlt sowohl diese feste leitmotivartige Verankerung der Anrufung Elektras, wie auch der Anruf bei der sehr lockeren relativischen Verbindung (ἐν f} V.55) nicht über den enggespannten Rahmen des Anfangs in die folgende Selbstäußerung Elektras hineinwirkt. Der Affekt kommt zwar auf, wird aber nicht aufgenommen und verlöscht dann wieder. Vor allem aber wird im euripideischen Drama der Gegenstand der Anrufung nicht zu unauswechselbarem Korrelat des Ich. Elektra ruft die Macht und deren Gestirne an, aber diese Nacht ist nicht mit ihrer augenblicklichen Situation, d.h. mit ihrer Arbeit wesenhaft verbunden, wie das Morgenlicht für die Grundsituation der sophokleischen Heldin die angemessene Sphäre war. Der Gehalt der Szene hätte an Transparenz nichts eingebüßt, wenn sich der Sprecher eines anderen Gegenstandes als Objekt der Apostrophe bedient hätte. Die Natur wird damit gerade nicht zum dialogischen Gegenüber des Helden. Der Anruf gerinnt zur erstarrten Form und ist nur ornamentaler Topos und kräftige Initiale. Dieser Verlust an Aussagekraft kennzeichnet Euripides als den Nachahmer. Es wäre absurd anzunehmen, Sophokles habe ein Motiv, das aus seiner Dichtung notwendig herauswächst, erst aus der Vorlage des Euripides schöpfen müssen. Schließlich scheint uns auch der Inhalt der jeweiligen Anrufung für eine Priorität des Sophokles zu sprechen, da gegenüber der natürlichen Epiklese Elektras an das Licht des Tages die Begrüßung in der Szene des Euripides, die gerade nicht dem Licht des Morgens, sondern den Gestirnen der Nacht gilt, entlegener wirkt und eine Verschiebung eines ursprünglichen Bildgehaltes bezeichnet. Diese verschobene Tendenz scheint uns ein Zeichen der Posteriorität. b) Die Leidensdarstellung der Elektra (S. El. 256 ff. — Eur. 300 ff.) Sowohl Sophokles wie Euripides lassen Elektra kurz nach Parodos in einer autobiographischen Leidensdarstellung ihr Schicksal in gesammelter Form (Dialogpartie) exponieren. Die Parallelen hinsichtlich der Thematik (Schilderung des frevelhaften Treibens der Mörder im Palast in sehr verwandten Bildern), der Form (direkte Zitate der Mörder und die ironisch gemeinte Bezeidinung Aigisths als κλεινός: Soph. El. 300 — Eur. El. 327) und der strukturellen Stellung (beide Szenen das letzte Glied einer Szenenreihe, die das Leid der Hauptperson exponiert sind und durch den Auftritt einer neuen Person abgeschlossen wird) lassen die Annahme einer bewußten Bezugnahme notwendig erscheinen. 75 Elektra verflucht diesen Mordtag selbst (V. 201 ff.). 16 Das spätere Gebet Klytaimestras stellt sich ebenfalls in diese Reihe.

152

C. Das Problem der Priorität

Zunächst fällt die unterschiedliche äußere Motivierung beider Szenen ir. Auge. Kommt man von der eigentlichen Funktion beider Partien her, eine Selbstdarstellung des Pathos Elektras zu vermitteln, dann dürfte wohl diejenige Motix erung die ursprünglichere sein, welche die Rhesis aus dem Erleben der Redenden spontan hervortreibt. Sophokles macht sich diese Art von direkter Motivation zu eigen: Seine Elektra hat in der vorausgegangenen kommatischen Parodos das Unmaß ihrer Leidens- und Protesthaltung gegen die beschwichtigenden Erma: nungen des Chores?” als ein Eintreten für die ungeschriebenen Gesetze von Aid 5, Yike und Eusebeia verteidigen müssen (5. El. 248 ff.) und sucht nun anschließen ' liese kompromißlose Haltung auch aus der Ausnahmesituation ihrer äußeren ” zu legitimieren?®. Die Rhesis wächst natürlich aus der Parodos hervor. D. zen wirkt die Begründung der euripideischen Szene recht äußerlich. Elektras Shui.ı.ung entlädt sich nicht spontan aus dem Inneren ihres Gefühls, sondern muß erst durch die Aufforderungen Orests (292 f.) bzw. des Chores (297 f.) herausgelockt werden?®, Was ist die frühere Stufe? Dort, wo sich der Affekt spontan entlädt, oder da, wo es eines anderen bedarf, um diesen Affekt zu bergen, und wo er erzwungen

wird? Das, was bei Sophokles noch echte Selbstäußerung war, wird bei Euripides zum bloßen informativen Bericht (vgl. Eur. ΕἸ. 300 ff. und 332 ff.). Zusammen mit dieser Abstumpfung geht zugleich eine Tendenz zur Überbietung der sophokleischen Verhältnisse. Indem die euripideische Elektra dem unbekannten Bruder

ihre Leiden

darstellt, macht

der Dichter die in der sopho-

kleischen Szene nur schwach angedeutete tragische Ironie zur Grundlage seiner Gestaltung. Die Amphibolie dringt ungleich stärker in die Darstellung ein. Es darf gelten, daß die ungebrochene Verwendung eines Motivs morphologisch früher ist als die schillernd-doppeldeutige, die dasselbe Motiv ins Ironische bricht. Auch die formale Einpassung der Elektrarede wirkt im sophokleischen Drama natürlicher. Elektra äußert sich von ihrem Auftritt an nacheinander in drei verschiedenen Ausdrucksformen, die jeweils eine verschiedene Haltung des Menschen zu dem gleichen Geschehen repräsentieren: Monodie, dialogische Parodos und Rhesis. Diese bewußte Abstimmung der drei Szenen aufeinander nach dem Prinzip einer zunehmenden logischen Bändigung der Gedanken liegt auf der Hand: Der dumpfen Leidensstimmung der Monodie folgt das explosive Gefühl in der Parodos,

1 Der Begriff des μέτριον läuft durch die gesamte Parodos durch: vgl. bes. 5. E. 140, 216 ff., 221, 223 ff., 230 ff., 236.

7 Vgl. bes. S. El. 253—55 und 307—10.

7% Diese Verknüpfung der Rhesis mit der vorausgehenden Stichomythie scheint uns sogar ungeschickt. Orest schließt seine Aufforderung an die Schwester, von ihrem freudlosen Dasein zu erzählen, an die Frage an, ob Agamemnon ein Grab zuteil geworden sei, an eine Bemerkung

also, die durchaus überflüssig ist, da sich Orest bei seinen Spenden

für den Toten von der Existenz des Grabes überzeugt hat. Außerdem wünschen Orest wie auch der Chor von Elektra Informationen über ihr Schicksal und das Leben der Mörder. Das aber, was die Agamemnontochter im folgenden über ihr Los zu berichten weiß, war dem Chor bereits auf jeden Fall in allen Einzelheiten geläufig und dem Bruder in den Grundzügen ebenfalls bekannt (vgl. nämlich Eur. El. 98 f.). Was Elektra über

das

Treiben

der

Usurpatoren

berichtet,

konnte

Elektra sich selbst nur auf Informationen anderer stützt.

der

Chor

ebenfalls

wissen,

da

111. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

153

das aber’in der Resonanz des Gegenüber eine feste Beschränkung findet. Und endlich schließt sich die intellektuelle Bändigung des Gefühls in der Rhesis an, wo die Hein logisch geordnet die Argumente bringt, die ıhr in der augenblicklichen Situatidh Zwingend erscheinen. Der formalen Polarität der drei Szenen, die sich gegenseitig bedingen und erläutern, entspricht eine Dynamik der Gedankenführung. Von der verzweifelten Darstellung des untragbaren Leids (Monodie) führt der Weg über dieibewußte Bekräftigung der Leidenswahl (Parodos) zum Eingeständnis des d !:dPHie Gewalt der Situation geforderten Unmaßes (Rhesis; vgl. bes. 307-9). Die x "biographische Leidensschilderung Elektras nimmt also formal wie inhaltlich einer türlichen Platz am Ende dieser Szenengruppe ein. Der Affekt und das

Path“ :”haben der Agamemnontochter nicht den klaren Blick für den logischen ZusaniMbnhang von Umwelt und geistiger Haltung versperrt. Im euripideischen Drama fügt sich dagegen die Parallelszene nicht als notwendiges Glied in einen größeren Szenenkomplex ein. Erstens ist Elektra bereits vorher zweimal in Szenen mit iambischem Sprechversmaß aufgetreten, so daß mit der Rhesis nicht mehr eine gegenüber der formalen Einkleidung der vorausgegangenen Szenen neue und wesensverschiedene Ausdrucksform eingeführt wird. Zweitens folgt die Rhesis nicht mehr direkt auf Monodie und Parodos, so daß die Rede als gedankliches Komplement zum spontanen lyrishen Leidensausdruck nicht mehr deutlich wird. Die Leidensdarstellung ist in der euripideischen Anlage offensichtlich nicht auf einen größeren Raum hinkomponiert wie bei Sophokles. Anderersetis darf die Rhesis zwar formal als geschlossen, aber inhaltlich als nach vorne geöffnet gelten, da Elektra ihr Schicksal bereits vorher im Dialog mit Orest darstellt. Der Dichter hätte demnach den Stoff der Elektrarede innerhalb der Stichomythie gut unterbringen können, so daß dann der Bauer unmittelbar nach der Stichomythie hätte auftreten können®, Diese Eigenständigkeit, die sich gegen eine Verzahnung mit der dramatischen Umgebung sträubt, dürfte auf dem Hintergrund der sophokleischen Darstellung eine plausible Erklärung finden: Euripides will die sophokleische Gestaltung nachvollziehen. Auch unter dem Aspekt des Funktionswertes der Elektrarede für die folgende Handlung scheint uns die sophokleische Fassung früher zu sein: Bevor die direkte Auseinandersetzung der Heldin mit der feindlichen Atmosphäre des Palastes in den Begegnungen mit der Schwester, der Mutter und Aigisth szenisch vorgeführt wird, exponiert Sophokles dieses Milieu zunächst aus der Perspektive der Zentralfigur. Was Elektra an den neuen Machthabern tadelt, findet später seine plastische Bestätigung. Auf die Beschreibung folgt die dramatische Situation, die Umsetzung ins Optische®!. Man darf zusammenfassend sagen, daß die detaillierte Beschreibung

80 Vgl. Ludwig, Sapheneia, p. 63. δι So z.B. offenbart Klytaimestra die von Elektra getadelte Schmähsucht (288 ff.) im Agon. Die spätere Drohung der Einkerkerung der Agamemnontochter (378 ff.) bestätigt die Darstellung Elektras (264 ff. und 298) ebenso, wie das Sühneopfer Klytaimestras (634 ff.) und deren Erleichterung über den scheinbaren Tod Orests (737 ff.) die Sorge der Mörderin um eine mögliche Rückkehr des Rächers (293 ff... Das von Elektra angedeutete Gefühl der Belastung, unter einem Dach mit den Mördern wohnen zu

154

C. Das Problem der Priorität

der Atmosphäre des Palastes ihr Profil erst von der anschließenden szenischen Handlung her bezieht, die ja im Palast spielt. Hier fassen wir nun den Unterschied zur euripideischen Fassung ganz deutlich: Euripides gibt zwar ebenfalls eine Beschreibung der Verhältnisse im Palast, ohne daß allerdings dieser Palast als szenischer Ort beibehalten wird. Die Rhesis kann sich also nicht mehr auf dem ihr ursprünglich gemäßen szenischen Hintergrund entfalten. Es bleibt bei Euripides ein bloßer Bericht. Es liegt offenbar eine Motivabstumpfung und -entwurzelung vor, ein sicheres Zeichen von Posteriorität. In eine ähnliche Richtung führt auch der Gedanke, daß die euripideische Heldin,

die ja nicht mehr im Palast lebt, die dortigen Vorgänge nur vom Hörensagen kennt (V. 327). Hinter ihrer Aussage steht nicht das unmittelbare, persönliche Erleben, das die Plastizität der einzelnen Bilder eigentlich voraussetzt und das gerade Sophokles in der Parallelszene zur Geltung bringt. Immer wieder weist dort Elektra darauf hin, daß sie das unwürdige Treiben selbst miterleben muß

(vgl. die häufigen Verben des Sehens 8. EL. 285, 260, 267, 268, 271, 282). Ihr

Bericht darf mit Recht autobiographisch genannt werden. Von der sophokleischen Bearbeitung her gesehen wirkt die euripideische Darstellung perspektivisch verlängert. Der Gegenstand der Aussage erfährt eine doppelte Brechung. An die Stelle des Faktums ist die Spiegelung getreten, die eine Einbuße des ursprünglichen Lebens bedeutet. Die Elektra des Euripides hat nicht dasjenige Nahverhältnis zu einem Geschehen, das man nach dem Grad des Außergewöhnlichen des Berichteten und der Anschaulichkeit der Schilderung erwarten sollte. Es fehlt die Form des Erlebnisberichtes. Das heißt aber, daß die von Euripides gewählte formale Einkleidung nicht die dem Inhalt ursprünglich gemäße gewesen sein dürfte. Wir können danach nicht umhin, dem Sophokles die Priorität zuzusprechen. Was den Inhalt und die Wahl der Bilder im einzelnen anbelangt, so darf man bei Euripides eine Tendenz zur Drastik und packenden Realistik, konstatieren, die uns bewußt auf die Darstellung des Sophokles bezogen scheint. Während dieser die Hybris Aigisths durch das naheliegende Bild des Usurpators verdeutlicht, der in Agamemnons Kleidern auf dessen Thron sitzt und das Ehebett des ermordeten Feldherrn schändet, greift Euripides, bei dem sich diese Szene ebenfalls finder (Eur. El. 314 ff. und 920 ff.) zusätzlich zu zwei Bildern, die gegenüber der sophokleischen Skizze soviel entlegener und provozierender wirken, daß das Bedürfnis, gerade das Einfache zu übertrumpfen, die Abhängigkeit verrät. Aigisth demonstriert nämlich die illegale Usurpation der Macht dadurch, daß er im Streitwagen des ermordeten Feldherrn einherfährt und dessen Szepter, das dieser im troischen Feldzug als Zeichen seiner Würde trug, in blutbefleckten Händen schwingt. Auch der Frevel der Befleckung des Andenkens Agamemnons, der bei Sophokles in

müssen

(263 f.), muß

man

mit ihrem

späteren

Wunsch,

den

Palast

zu verlassen, zu-

sammennehmen. Die frevlerische Haltung Klytaimestras, die den Todestag des ermordeten Gatten als Festtag begeht (277 ff.), manifestiert sich später in ihrer Freude über den Tod Orests (766). Schließlich ist die Charakterskizze, welche Elektra von Aigisth entwirft (266 ff. bzw. 299 ff.), das notwendige Komplement zu dem Auftritt des Buhlen in der Schlußszene des Dramas.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elekira

155

Form der Festfeier der Mörder am Todestag des Ermordeten zum Ausdruck kommt, erfährt bei Euripides eine bis zum Paradoxen gesteigerte Ausgestaltung: Aigisth sitzt betrunken auf dem Grabhügel des toten Agamemnon und bewirft dessen

Grabmahl

ist

deutlich,

zu

mit

als

Steinen!

daß

ein

Die

Tendenz,

Zweifel

über

den

die

Sophokles

Richtung

der

zu

überbieten,

Abhängigkeit

bestehen könnte: In beiden Szenen beruht der Frevel, der jeweils die Form eines

Sakrilegs annimmt, auf einer ausgelassenen Stimmung. Bei Sophokles ist dieses Verhalten noch von der Situation der Mörder her motiviert. Bei Euripides dagegen wird es bewußt beinahe zu einer Karikatur. Euripides hat das sophokleische ἐγγελῶσα (V. 277) in ein drastisches Bild umgesetzt. Umgekehrt kann man sich nach der auf optischen Effekt abzielenden Darstellung des Euripides die dagegen blaß wirkende bloße Vokabel des Sophokles kaum noch vorstellen. Auch die Realistik und Drastik in den einzelnen Bildern sowie die Verknüpfung dieser Bilder mit übrigen Teilen der Rhesis scheinen uns bei Sophokles ursprünglicher, da sie dort von der Funktion der Rede notwendig gefordert werden. Elektra muß, um das Unmaß ihres Hasses und ihres Protestwillens rechtfertigen zu können, das Unmaß der Leiden und Frevel, denen sie Tag und Tag ausgesetzt ist, ins Feld führen. Die euripideische Elektra beginnt die Schilderung der Zustände im Palast zunächst ähnlich wie die des Sophokles (5. El. 257 f.) mit einer detaillierten Beschreibung ihrer Not. Der Übergang zu der folgenden Schilderung der Frevel Aigisths und Klytaimestras kann aber nicht wie bei Sophokles reibungslos durch die Klammer der persönlichen Erlebnisse Elektras (262--65), sondern nur äußerlich durch die Ankündigung der Heldin zu Beginn (300 f.), sie wolle neben ihrem eigenen Schicksal auch die Leiden des Vaters darlegen, hergestellt werden. Diese Zäsur geht tief und hat Konsequenzen. Da bei Euripides das persönliche Leid der Agamemnontochter nicht mit den Schmähungen des Vaters von seiten Aigisths identisch ist, sondern Elektra nur noch den Stachel des unversöhnlichen Gegensatzes zur Mutter fühlt, zerfällt die bei Sophokles einheitliche Rhesis in zwei gesonderte Abschnitte, von denen jeder durch die Exposition eines Kontrastpaares ausgefüllt wird®?: Zunächst wird der Gegensatz Elektra-Klytaimestra (304—18) und anschließend der zwischen Agamemnon und Aigisth entwickelt (318—31)5. Elektra berichtet zwar in krassen Bildern vom Frevel Aigisths, ohne davon aber eigentlich getroffen zu sein. Sie erlebt dessen Treiben nicht mehr, sie beschreibt es nur noch.

Gerade die breit ausgesponnenen Bilder der Hybris Aigisths sind im Gegensatz zur sophokleischen Fassung nicht als Verursachung des Leids gefaßt und nicht an ein Erlebnis der Sprecherin gekettet. Da nun aber beide parallele Szenen als auto-

82 Deshalb ist zwar inhaltlich von der Partie 302—13 her gesehen für die Verse 314—17 ein Übergang geschaffen, aber eben nicht für den folgenden Teil. 8 Im Unterschied zur soph. Szene, in der die πατρῷα πήματα (258) als einzige Leidensursache der Heldin den Inhalt der ganzen Rhesis ausmachen (vgl. 5. El. 263, 268, 272, 279, 283, 289), umfassen die τύχαι... πατρός in der Schilderung der eurip. El. (V. 301) nur den zweiten Teil der Szene. Vgl. dazu auch F. Stoessl, Die El. d. Eur., Rh. Mus. 99 (1956), p. 56 f.

156

C. Das Problem der Priorität

biographische Leidensdarstellungen konzipiert sind, sitzen die Aigisthpartien bei Sophokles viel besser als bei Euripides, wo sie entwertet scheinen. Ein einheitlicher Wirkungs- und Erlebniszusammenhang scheint in der Euripidesszene auseinandergesprengt und zugleich eine ursprüngliche Motivrichtung abgebogen. Diese Tatsache, entwicklungsgeschichtlich genutzt, spricht ebenso für die Priorität des Sophokles, wie der Aspekt, daß die noch über das sophokleische Maß hinausgehende Zuspitzung der einzelnen Bilder des Treibens Aigisths nicht mehr wie bei Sophokles durch die entscheidende Reaktion Elektras auf die zum Kompromiß neigende Haltung des Chores erzwungen wird, sondern nur noch als wirkungsvolle Information für die beiden vermeintlichen Fremden verstanden werden soll. Eine letzte Parallele liefert das von Sophokles wie Euripides zur Charakterisierung der Feinde Elektras benutzte Darstellungsmittel, die Agamemnontochter in ihrer Rhesis Äußerungen der Mörder wörtlich zitieren zu lassen (5. El. 28992 bzw. 295 ff. und Eur. El. 329 ff.). Euripides scheint uns auch hier der Nachahmer zu sein: 1. In der sophokleischen Fassung wird Klytaimestra zitiert, die später im Agon und nach dem Bericht des Pädagogen das aus der Sicht Elektras entworfene Bild durch ihre Äußerungen bestätigt. Bei Euripides dagegen zitiert Elektra Aigisth, der in der folgenden Handlung nicht mehr auftritt. Das Motiv steht isoliert und ist seiner Funktion beraubt. 2. Bei Sophokles, wo Klytaimestra zweimal zitiert wird, sind beide Äußerungen eng aufeinander abgestimmt. Sie verdeutlichen die Wut der Mörderin über die starre Protesthaltung der Tochter wie auch ihre schwelende Angst vor einer möglichen Rache. Diese beiden Aspekte stellen Leitgedanken dar, die im weiteren Verlauf des Geschehens durchgeführt werden. Bei Euripides fehlt eine solche Querverbindung. Die Worte Aigisths stehen allein. Die sophokleische Darstellung dürfte deshalb die frühere sein, weil das Motiv des Zitates dort bewußter und konsequenter verwendet wird. 3. Im sophokleischen Drama zitiert die Agamemnontochter beleidigende Außerungen, welche die Mutter ihr gegenüber gemacht hat. Die Abhängigkeit des Euripides wird in der bewußten Verzerrung des Motivs und der Verwendung des Paradoxen handgreiflich: Elektra berichtet ebenfalls den Wortlaut einer frevelhaften Bemerkung, die Aigisth dem Grab Agamemnons zugefügt hat (330). Das Grab, der Tote, werden zum dialogischen Gegenüber. 4. Die ursprüngliche Zielsetzung eines wörtlichen Zitats als einer authentischen Form eines Berichts setzt voraus, daß der Zitierende die Worte des Zitierten persönlich erfahren hat. Diesem Anspruch genügt nur die sophokleische Verwendung des Motivs. Die euripideische Darstellung, in der Elektra nicht mehr in der Umgebung der Mörder weilt und sich ausdrücklich auf eine Zwischenquelle beruft“, steht im Widerspruch zur Ausgangssituation des Geschehens. Diese Verrückung des Motivs aus seiner ursprünglichen Lage weist auf sekundäre Verwendung.

84 λέγουσιν (327) bezieht sich auf den gesamten Bericht. εἰς (V. 329) hat hier die Bedeutung „gegen“ (vgl. Medea 453).

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

157

c) Die Anagnorisisszene Die Ausweitung der in den Choephoren erst keimhaft entwickelten Anagnorisisszene ist ein gemeinsames Anliegen der beiden jüngeren Bearbeiter des Orestesstoffs. Dieser entscheidende Schritt von einem Rache-Orestesdrama zu einem Anagnorisis-Elektradrama scheint uns von solcher Tragweite, daß man sich kaum vorstellen kann, Sophokles und Euripides hätten unabhängig voneinander diese gewichtige Verschiebung vorgenommen, Damit dürfte ein Ansatz zur Lösung des Prioritätsproblems gegeben sein. 1. Die Stellung der Anagnorisis im Dramenganzen Wir stellen zunächst einige apriorische Überlegungen an: Derjenige von den beiden jüngeren Tragikern dürfte zuerst den umwälzenden Gedanken, das Anagnorisismotiv zu einem zentralen Kompositionselement zu erweitern, konzipiert haben,

der diese Grundidee auch konsequent durchgeführt hat. Dieser Forderung genügt nur die Bearbeitung innerhalb des sophokleischen Stückes, die die Erkennung an das Ende der Handlung rückt und zum Höhepunkt des Geschehens steigert. In einem strengen Sinne kann man nur bei Sophokles davon sprechen, daß der Stoff unter den dramaturgischen Aspekt eines Anagnorisisgeschehens gestellt ist. Euripides hingegen schließt seine Erkennungshandlung schon in der Mitte des Dramas ab. Die Anagnorisishandlung steht als ein Handlungsabschnitt gleichwertig neben der folgenden Intrigenhandlung und ist nicht mehr wie bei Sophokles mit der Mechanemaaktion zu einem Geschehniszug ineinander gewoben®5. Das Anagnorisismotiv klingt nicht voll aus, sondern wird von dem anschließenden Intrigemotiv überlagert. Die konsequente Entwicklung eines Motivs entsprechend seinen kompositionellen Möglichkeiten dürfte form- und entwicklungsgeschichtlich früher sein als eine Gestaltung, die bereits eine Schrumpfung bedeutet, Die Strekung des Anagnorisismotivs ist der Grundidee des sophokleischen Dramas gemäß und liegt ihr deshalb als notwendiger szenischer Grundriß zugrunde: Die Sophoklestragödie darf ihrem Handlungsablauf nach nämlich als eine einzige gedehnte Erkennung gelten. Erst durch diese Dehnstufe, d. h. auf dem Hintergrund einer Trennung der beiden Geschwister, kann sich die Idee der Tragik auf den verschiedenen Stufen von Isolation, Ethosentfaltung, Gefährdung des Götterwillens und schließlichen Lösung im Einklang mit dem göttlichen Wirken durch das Erscheinen eines Deus ex machina entfalten. Bei Euripides leistet die Erkennungshandlung zunächst nur die Verbindung zum folgenden Rachegeschehen. Ihre Funktion liegt also in der Vorbereitung. Die Ausweitung des Motivs kann demnach, selbst wenn man dessen eigentliche Funktion einer Darstellung des Verhaftetseins des Menschen in der Macht der Tyche in Rechnung stellt, nicht in dem Maße als konstitutiv für den gedanklichen Überbau der Tragödie angesehen 85 Aristoteles stellt in seiner Poetik (11, 1452) diejenigen Formen der Anagnorisis am höchstens, die zugleich mit der Peripetie des Dramas zusammenfallen (Iph. Taur., Kresph., Alex., Soph. El. im Gegensatz zu Choeph. und Eur. EI.).

158

C. Das Problem der Priorität

werden wie im Falle der sophokleischen Dichtung®®. Dieser Gedanke spricht entschieden für die Priorität des Sophokles. Es wäre nämlich seltsam, wenn eine Szenenform

dort zuerst entwickelt

würde,

wo

sie, eine Episode

einleitend,

nur

eine Nebenhandlung zum guten Ende führt und somit nicht mehr als einen konventionellen Abschluß bedeutet, und wenn erst später der gleiche Handlungstypus als Höhepunkt einer Dramenhandlung Antwort auf alle im Verlauf des Geschehens aufgeworfenen Fragen gegeben hätte. Der Untersuchung der Stellung der beiden Anagnorisisszenen im Dramengefüge muß eine Synkrisis der Szenen selbst folgen®”, Vergleicht man die verschiedenen euripideischen Anagnorisishandlungen, so sondert sich die Elektratragödie unter zwei wesentlichen Gesichtspunkten von allen anderen Stücken des gleichen Genos ab. Erstens verzichtet Euripides auffälligerweise auf die fingierte Todesbotschaft®$, die er sonst in vielen Erkennungsdramen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit verwendet

(Kresph.,

I. T., Hel., Alex., Ant. u. 4.)89, Dieses Silentium wiegt

um

so

schwerer und fordert deshalb um so dringender eine Erklärung, als Euripides im Falle des Orestesstoffes dieses Motiv in den Choephoren bereits vorgefunden hatte (951 ff.) und es sich normalerweise nicht hätte entgehen lassen. Außerdem läßt der Dichter die Erkennung des einen Partners sehr früh stattfinden (Orest erkennt bereits während der Monodie Elektra) und trennt diese einseitige Anagnorisis strukturell weit von der komplementären Erkennung. Ein vergleichbares szenisches Hyperbaton begegnet in den Anagnorisisdramen, deren Aufbau wir übersehen können (Kresph., I. T., Hel., Ion), nicht. In diesen Stücken

schließt sich immer an die erste Erkennung die zweite sofort bruchlos an, da der der Agnoia entronnene Partner unmittelbar nachher sein Gegenüber zur Wahrheit führt. Wir konstatieren, daß das Anagnorisisschema in der Elektra einen Bruch mit einer sonst für Euripides äußerst verbindlichen Typik bedeutet. Was ergeben sich daraus für Folgerungen? 1. Da sich für eine Gestaltung, die den Ausbau des Anagnorisismotivs innerhalb des Orestesmythos anstrebt, das aischyleische Motiv der fingierten Todesnachricht in der von Sophokles verwendeten Form, die die Erkennungshandlung unter dem Gesetz der Intrige ablaufen läßt und damit Elektra selbst der Täuschung unterwirft, geradezu anbietet, wäre es paradox, wenn Euripides dem Sophokles vorausgegangen sein sollte, da uns entwicklungsgeschichtlich die Ausweitung des Anagnorisismotivs mit der des Motivs der fiktiven Todesbotschaft zusammenzugehen scheint. Diese Entwicklungsstufe bezeichnet das sophokleische Werk. 8 So hätte El. ihre Leidensdarstellung in der Stichomythie (292 ff.) und in der folgenden Rhesis (300 f.) auch nach dem Vollzug der Erkennung geben können. 87 Manche guten Beobachtungen zum Anagnorisisszenentypus bringt A. Gmür, Das Wiedererkennungsmotiv in den Dramen des Euripides, Diss. Freiburg 1920. Gleichwohl bleibt eine neue Behandlung der Frage ein dringendes Desiderat. 88 Vgl. dazu die Ausführungen bei T.v. Wilamowitz, Die dramat. Technik des Soph. 8 Auch alle Dramen, in denen das Motiv der Kindesaussetzung eine Rolle spielt, gehören hierher, da die Eltern immer

Anagnorisishandlung

den Tod

des Ausgesetzten

also von diesem Gedanken

(Ion, V. 18 und 345—55).

für wahrscheinlich halten, die

mitbestimmt

wird.

So z.B.

im Ion

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

159

2. Die Eigenständigkeit der euripideischen Gestaltung zeigt den dramatischen Richtungssinn an, unter den Euripides seine Erkennungshandlung gestellt hat: Die Erkennung, die den Beginn der Racheaktion bringen kann, soll hinausgeschoben werden, obwohl sie ohne Schwierigkeiten möglich wäre. Indem Orest seine Schwester sofort erkennt und diese selbst nicht durch eine falsche Todesmeldung in die Irre geführt wird, sind die besten Voraussetzungen für eine baldige Erkennung gegeben. Eben diese Ausgangssituation scheint uns ein gewichtiges Indiz gegen eine Priorität des Euripides abzugeben, da kaum dasjenige Drama die Anagnorisishandlung nach Aischylos als erstes weiterentwickelt haben kann, dessen dramatische Voraussetzungen geradezu im Widerspruch zu einer Streckung der Erkennungshandlung stehen. 3. Der Anagnorisisszenentypus kennt zwei typische Ausgangssituationen für den Ablauf der Erkennungshandlung. Entweder sind die Voraussetzungen für eine schnelle gegenseitige Erkennung gegeben. Dann wird diese Erkennung ohne Schwierigkeiten und ohne Verzug vollzogen. Für diesen Typus darf die Gestaltung der Choephoren als Beispiel gelten. Oder es stellen sich von Beginn an Komplikationen ein, die eine Erkennung zunächst nicht erlauben und ihren Vollzug hinausschieben. Für diese Grundform darf man die Durchführung der Anagnorisishandlung in der Elektra des Sophokles als Muster anführen: Dort ist Orest weder zu Beginn (im Zwischendialog V.77ff.) noch bei seiner späteren Begegnung mit Elektra in der Lage, die Schwester, welche er auch nach ihrer äußeren Erscheinung für eine Sklavin halten muß, zu erkennen. Andererseits wird es Elektra verwehrt,

an eine Anwesenheit des Bruders zu glauben, weil sie in den Trug der falschen Todesnachricht hineingerissen werden muß. Als Orest dann allerdings zur Wahrheit durchgebrochen ist, schließt sich die Erkennung von seiten Elektras unmittelbar an. Die beiden Erkennungsvorgänge rücken zu einer großen Anagnorisisaktion zusammen. Die sophokleische Fassung bildet also hinsichtlich der dramatischen Voraussetzungen (späte Erkennung Elektras durch Orest, Einfluß der fiktiven Todesbotschaft, enges Aufeinanderfolgen beider Erkennungen) den direkten Gegenpol zur euripideischen Gestaltung, welche alle für Sophokles verbindlichen motivischen Grundlagen negiert. Wir ziehen daraus den naheliegenden Schluß, daß der bei Euripides auffällige Bruch mit einer sonst verbindlichen Typik auf dem Hintergrund der sophokleischen Elektratragödie gesehen werden muß. Euripides setzt den Sophokles voraus, da er seine Erkennungsszene ganz bewußt im Gegensatz zu diesem anlegt. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man den oben dargelegten Aspekt der zwei ursprünglichen Möglichkeiten der Durchführung einer Erkennungshandlung aufgreift. Danach kann die Bearbeitung des Euripides nur als das letzte Glied einer Entwicklung begriffen werden, die von Aischylos über Sophokles schließlich zu einer Gestaltung führt, die im gewollten Gegensatz zu den beiden genannten Tragikern, von denen jeder eine naheliegende dramatische Möglichkeit ausbeutet, das Abgelegene und Paradoxe betont, das erst auf dem Hintergrund insbesondere der Bearbeitung des Sophokles deutlich wird. Die Bedingungen für eine mögliche gegenseitige Erkennung sind die allerbesten: Orest vermag Elektra sofort zu erkennen, die Schwester weiß, daß Orest lebt und hört sogar von einer

160

C. Das Problem der Priorität

möglichen Ankunft des Bruders. Und doch findet die Anagnorisis gegen alle Erwartung nicht statt®. Ein Motivzug wird überraschenderweise nicht so durchgeführt, wie man es nach der Anlage erwarten müßte. Diese Umbiegung eines ursprünglichen Richtungssinnes weist die euripideische Anagnorisisszene als später aus, da Euripides die Dehnung der Erkennungshandlung, weiche Sophokles bei konsequenter Durchführung der szenischen Ausgangssituation erreicht, nur unter der Voraussetzung der Verschiebung eines Motivzugs aus seiner Normallage sicher stellen kann. Hinzu kommt, daß kein Grund vorliegt, warum Orest zögert, sich zu erkennen

zu geben. Da die Handlung außerhalb der Stadt spielt, war es für Orest ungefährlich, sich zu offenbaren. Die psychologischen Erklärungen, mit denen man immer allzu schnell bei der Hand ist, sollte man an dieser Stelle nicht bemühen. Von einem „vorsichtig tastenden, innerlich unsicheren Menschen“ Orest kann keine

Rede sein®!. Der Solidarität der Schwester und des Chores konnte der Held schon nach der Monodie, spätestens aber nach der Stichomythie gewiß sein. Auch eine durchschlagende Motivierung für dieses paradoxe Verhalten, die ihren Grund in der Person Elektras haben könnte, läßt sich nicht finden®?. Die mangelhafte Motivierung des Verhaltens des euripideischen Helden wird noch deutlicher, wenn man die Handlungsweise des sophokleischen Orest in der parallelen Situation zum Vergleich heranzieht: Auch der Orest des Sophokles bedient sich zu Beginn seiner Begegnung mit der Schwester des Trugs, indem er sich als Überbringer der Urne des angeblich toten Agamemnonsohnes ausgibt. Im Unterschied zur euripideischen Fassung motiviert aber hier die äußere Situation diese Verstellung nicht nur, da Orest seine Schwester noch nicht erkannt hat, sondern sie macht den Trug sogar notwendig, weil der Rächer sich mit dem Mechanema den Zugang zum Palast verschaffen kann. Die Dehnung der Erkennungsszene ist durch die Situation natürlich motiviert. Der entsprechende Vorgang in der Euripidestragödie scheint gegen alle Wahrscheinlichkeit unter der Hand

erschlichen, was um so erstaunlicher anmutet, als Euripides

% Bei Sophokles dagegen entspricht die Verzögerung der Erkennung den Erwartungen des Publikums. 91 So z.B. Friedrich, Eur. und Diph. p. 83, der eine Motivierung für die Paradoxie in der „Seelenkunde“ zu finden glaubt. Daß die psychologisierende Betrachtungsweise nicht das Richtige trifft, beweist m. E. gerade die Tatsache, daß Orest auch noch kurz vor der Erkennung zu einem Zeitpunkt, wo von ängstlicher Vorsicht Orests gewiß keine Rede mehr sein kann, aus seiner Reserve nicht herausgeht. Auch die energisch-sichere Haltung Orests zu Beginn der Rachehandlung widerspricht Friedrich. #2 Die Agamemnontochter betont zwar gleich zu Anfang, sie vermöge den Bruder nicht wiederzuerkennen, da die Trennung zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, als beide Geschwister noch sehr jung gewesen seien, aber dieses Argument darf man nur als ein ad hoc gebildetes Hilfsmotiv verstehen, das die geplante Verhinderung der durchaus möglichen Erkennung dem Zuschauer in möglichst provozierender Form ankündigen soll. Man darf nicht vergessen, daß später das Tekmerion, welches die Erkennung sichert, die Narbe (V.573), für Elektra sofort Evidenzcharakter besitzt (vgl. 577 f.). Die Narbe hätte zweifellos dieselbe Beweiskraft gehabt, wenn sie der Dichter unmittelbar nach der Monodie wirksam ins Spiel gebracht hätte. Orest selbst kalkuliert ein, daß er bei einer

Begegnung mit einem Fremden erkannt werden könnte (V. 97).

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

[161

diejenigen Motivierungen, auf die sich Sophokles stützt, nicht nutzt. Die Entscheidung zugunsten der Priorität des Sophokles drängt sich geradezu auf. Unsere Hypothese findet eine Bestätigung dadurch, daß das für Motivübernahmen immer charakteristishe Symptom einer gewollten Überbietung des Vorgängers bei Euripides deutlich zu greifen ist. Seine Gestaltung bezeichnet einen deutlichen Schritt über Sophokles hinaus, weil er im Gegensatz zu Sophokles, der den Erkennungsvorgang selbst nicht dehnt, sondern nur an das Ende des Werkes hinausschiebt (1098 ff.) und dann ziemlich rasch in 120 Versen abrollen läßt, diesen Szenenkomplex der Begegnung der Geschwister zu einem 360 Verse umfassenden Handilungszug zerdehnt. Die äußere, prickelnde Spannung, die damit gegenüber der sophokleischen Bearbeitung an Wirkung erheblich gewinnt, intensiviert Euripides noch dadurch, daß Orest von Beginn seines Zusammentreffens mit der Schwester an diese kennt, während Sophokles die Spannungskurve seiner ohnehin schon viel knapperen Szene durch die Unkenntnis Orests gedämpft hat. Der sophokleische Orest gewinnt erst im Vers 1174 Klarheit über die Person®®, die er für eine Sklavin hält. Auf einem szenischen Raum von ungefähr fünfzig Versen spielt sich bei Sophokles der gleiche Vorgang ab, den Euripides über die gesamte erste Dramenhälfte hin streckt. Euripides benutzt eine Situation als Einsatzpunkt eines Handlungszuges, die bei Sophokles erst sehr viel später erreicht wird, und nimmt damit durch eine entwickeltere dramatische Situation weite Strecken der sophokleischen Handlung vorweg, um sich Raum für eine neuartige Anagnorisis zu schaffen. Wie sehr Euripides die äußere Spannung zum bestimmenden Merkmal seiner Anagnorisisszene gemacht und bis zu einem beinahe an die Verhältnisse der späteren Komödie grenzenden Raffinement getrieben hat, kann eine Interpretation beider Szenen zeigen. Die sophokleische Erkennungshandlung entbehrt im Gegensatz zu der des Euripides des Moments der Überraschung. Elektra trifft die Überbringung der Urne nicht unerwartet, während Orest sich zunächst kaum über die Anteilnahme der ıhm fremden Sklavin wundert. Die äußere Spannung, die zweifellos in der Szene mitschwingt, wird immer durch eine parallel laufende innere aufgefangen, die auf der im vorausgehenden Geschehen entwickelten Leidenssituation Elektras aufbaut, welche beim Auftritt Orests mit seiner Urne den Höhepunkt erreicht. Sophokles wie Euripides komponieren ihre Erkennungsszenen auf der Grundlage eines zwischen Aletheia und Doxa pendelnden Geschehens. Aber nur bei Sophokles wird dieser Doppelaspekt zu einem Spiegelbild des persönlichen Schicksals der Personen. Die Polarität von Doxa und Aletheia wird zum Ausdruck der tragischen Ironie, die in dem Zusammenfallen des bevorstehenden Sieges des Bruders mit dem tiefsten Leid der Schwester begründet liegt. Elektra muß leiden, weil die Sache der Rache dem Siege zustrebt. Euripides dagegen löst dieses Spiel auf zwei Ebenen von dem individuellen Erlebnishintergrund (vgl. bes. die Haltung Orests) und läßt es in Richtung auf ein effektvolles Bühnenspiel selbständig werden. Auch die nicht selten eingestreuten doppeldeutigen Wendungen (5. El. 1105, 1113ἢν, 1115f., 1126) gren95 Das hat T.v. Wilamowitz, p. 205, gegen Bruhn und Jebb richtig gezeigt, welche die Erkennung schon in den Vers 1105 verlegen. Dagegen spricht entschieden die Versgruppe 1123—24. 11 Vögler,

Interpretationen

162

C. Das Problem der Priorität

zen in der sophokleischen Szene nie ans Grotesk-Komische, da die Amphibolie nur dem Zuschauer bewußt wird, während beide Partner im Trug verhaftet sind. Dem Ethos der Personen untergeordnet, symbolisiert die Amphibolie das Leid der Geschwister. Über den Ausdruckswert der Rede Elektras an die Urne braucht man kaum ein Wort zu verlieren. Der tiefe Sinn der Szene liegt natürlich in der Darstellung der persönlichsten Hinwendung an den Lebenden über das Medium des Toten. Die Urne ist hintergründiges Symbol für die Einheit der Geschwister im Augenblick der schmerzlichsten Trennung. Sie schafft dann auch sinnfällig den ersten Schritt zur Verbindung: Orest erkennt während der Totenklage Elektras seine Schwester. Die folgende Strecke bis zur endgültigen Anagnorisis, die Elektra noch im Dunkel des Wahns durchleiden muß, hat der Dichter trefflich motiviert. Orest,

im Prolog strahlender Triumphator, muß das Gefühl der ersten Erschütterung über das Erlebnis des ungeahnten Leidens der Schwester, welches er selbst mitverursacht hat, erst überwinden und ausklingen lassen, bevor er sich zu erkennen geben kann.

Die Funktion der Verse 1174—1199 beruht darın, dem Bruder den notwendigen geistigen Zugang zur Situation der Schwester zu bereiten. Den strukturellen Stellenwert der Erkennung als der Auflösung einer lang gestauten Spannung unterstreicht der abschließende Freudenkommos. Diese knappe Skizze sollte das typische Merkmal der sophokleischen Anagnorisis verdeutlichen, nämlich die Bindung der äußeren, szenischen Spannung an die aus der seelischen Lage der Anagnorisispartner erwachsende innere Spannung. Dem steht bei Euripides eine unverkennbare Tendenz zur Veräußerlichung und Verselbständigung des szenischen Effekts, eine Forcierung der äußeren Spannung gegenüber. Die Erkennungshandlung wird einer ordnenden Ratio unterworfen, welche Szene für Szene auf die Wirkung des Plötzlichen und Unerwarteten ausrichtet. Der Dichter treibt nicht nur mit seinen Personen, sondern auch mit dem

unwissenden Zuschauer sein aufregendes Spiel. Diese Form einer Erkennungshandlung kann man form- und entwicklungsgeschichtlich sowie bühnentechnisch nur als einen Schritt über Sophokles hinaus bezeichnen. Verfolgen wir nun den Verlauf der euripideischen Erkennungsszene in ihren einzelnen Phasen, um unsere Deutung durch die Einzelinterpretation zu erhärten. Die Anagnorisishandlung steht von Beginn an unter der paradoxen Situation einer stufenweisen

Erschwerung

und Verhinderung

der Erkennung,

obwohl,

wie

schon oben betont wurde, die sachlichen Voraussetzungen im Widerspruch zu dieser retardierenden Entwicklung stehen®®. Die zahlreichen Amphibolien werden deshalb in der euripideischen Bearbeitung zu Stufen, auf denen der äußere Spannungseffekt emporsteigt, da ja der eine Partner, Orest, aus der Illusion der Doxa herausgetreten ist und mit seinem Gegenüber ein wirkungsvolles Bühnenspiel treibt. Man kann die künstlerische Differenz zwischen den beiden Darstellungen am ehesten so fixieren: Bei Sophokles hofft man darauf, daß beide Geschwister % Orest ist sich von Anfang an über die Anwesenheit seiner Schwester im klaren, und diese wiederum weiß, daß der Bruder lebt und Boten geschickt hat, und hört von den

Spenden und Zeichen, die der alte Pädagoge ansieht.

als Beweis

für die Anwesenheit Orests

Ill. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

163

endlich von ihrem Irrtum befreit werden. Bei Euripides richtet sich das strapazierte Interesse des mitgetäuschten Publikums einmal auf den erlösenden Moment, wo die lang konservierte und schrittweise intensivierte Spannung aufgehoben wird, und zum anderen auf die Beschaffenheit desjenigen Kriteriums, das nach mehreren Fehlschlägen die Erkennung doch noch zu sichern vermag. Während die eine Szene vom tragischen Ernst erfüllt ist, dringt in die andere die zeitweise bis an die Schwelle der Komik geführte Paradoxie. Zunächst wird die Hoffnung des Zuschauers auf eine baldige Erkennung genährt,

da Orest,

wohl

bewußt

im

Gegensatz

zur sophokleischen

Situation,

der

Schwester sofort mitteilt, daß der Bruder lebt (229f.). Die damit ins Spiel gebrachte Spannung wird in der folgenden stichomythischen Partie forciert (vgl. 233, 237, 244f., 260f.), bis sie mit der plötzlichen Frage Orests, was wohl der Bruder bei seiner Rückkehr nach Argos tun werde, einen Höhepunkt erreicht (274—82). Orest scheint auf die Anagnorisis zuzusteuern, aber die Erwartung des Publikums wird

getäuscht,

da Elektra unvermittelt

betont,

nicht sie, sondern

nur der alte

Pädagoge sei in der Lage, den Bruder wiederzuerkennen (283 ff.). Damit erreicht die erste Stufe der Szene ihren Abschluß. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers richtet sich von nun an sowohl auf das Verhalten Orests wie auch auf den in Aussicht gestellten Auftritt des Alten. Nachdem die paradoxe Situation während der folgenden Leidensdarstellung (300 ff.) weitergeführt worden ist, setzt mit dem Auftritt des Bauern die zweite Stufe der Handlung ein (341 ff.), in der die Spannungskurve erneut ansteigt, da damit gerechnet werden muß, daß Orest nun aus seiner Passivität heraustritt. Über mehrere Verse wird diese Spannung in der Schwebe gehalten (349--55), ohne daß die Handlung gefördert würde. Erst nach einer Reflexion über das Verhältnis von Armut und Menschenbildung, während der die Erkennungshandlung zwar lahmgelegt ist, die Spannung als szenischer Hintergrund aber weiterwirkt, bingt Euripides das Anagnorisismotiv wieder ins Spiel. Orest spielt zunächst erneut in doppeldeutigen Wendungen auf seine Anwesenheit an (391f. u. 397 ff.). Dann erst leitet Elektra mit dem Hinweis auf das baldige Erscheinen des Pädagogen zum dritten Abschnitt des Anagnorisisgeschehens über. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt. Der Zuschauer, der glaubt, die Erkennung stehe unmittelbar bevor, erlebt aber eine neue Überraschung. Der kauzige Alte, der ın höchster Erregung auftritt (487 ff.), gleichwohl aber erst in behaglicher Breite seine Gaben präsentiert (493-500), weiß zum Erstaunen der Akteure

und

des Zuschauers

bereits mehr,

als man

annehmen

konnte.

Aus

einer Überraschung für den Alten ist eine für die Zuhörer geworden. Der Pädagoge hat nämlich bereits selbst auf Grund der Grabfunde auf die Anwesenheit des Rächers geschlossen. Der Dichter ist bestrebt, auch hier das Publikum durch den detaillierten Bericht über die Geschehnisse am Grab zunächst einmal in Spannung zu halten (V. 508-517), bevor er diese in der folgenden Szene vorantreibt. Es entspinnt sich ein Agon zwischen dem Alten, der Elektra von der Richtigkeit seiner Annahme zu überzeugen sucht, und der Agamemnontochter, die sich hartnäckig gegen die Argumentation des Pädagogen wehrt. Entgegen aller Erwartung dringt Elektra auch diesesmal nicht zur Wahrheit durch. Die Erkennungshandlung scheint sich hoffnungslos zu verfahren. Da kommt es endlich zur direkten Be11*

164

C. Das Problem der Priorität

gegnung zwischen Orest und dem Pädagogen (547f. u.552). Hier erfährt die Retardierung die äußerste Zuspitzung. Die Szene läuft in einem beinahe zeitlupenartigen Tempo® ab: Orest verhält sich weiterhin passiv. Auch der Alte gibt sein Wissen um das wahre Sein des Fremden erst sehr spät kund (V. 569), während Elektra auch dann noch in ihrer verhärteten Haltung verharrt und noch ein besonderes Kriterium fordert, als die unzweideutigen Äußerungen des Alten den wahren Tatbestand schon längst haben sichtbar werden lassen (570—78). Der Zuschauer wird regelrecht auf die Folter gespannt. Diese beinahe dem Sekundenstil nahekommende Dehnung, die einseitige Betonung des äußeren Spannungseffektes und die dadurch bedingte Versetzung aller Motive ins fast Untragisch-Komische, sowie die gegenüber Sophokles offensichtliche Komplizierung des Aufbauschemas durch den Einbau von unerwarteten Hindernissen und durch die Vermehrung der Träger der Erkennungsszene (Bauer und Pädagoge) lassen die Anagnorisishandiung des Euripides formgeschichtlich als später erscheinen. Ein einfaches Aufbauschema (Sophokles) scheint erweitert und spielerisch variiert. Gehen wir von den Choephoren aus, so zeigt sich, daß die ureigenste Funktion des Anagnorisismotivs in der Gestaltung eines persönlichen Nahverhältnises zwischen beiden Geschwistern liegt. Dieser ursprüngliche Richtungssinn wird in den beiden jüngeren Elektradramen durch deren Grundriß noch verstärkt, da dort jeweils die Anagnorisishandlung im Gegensatz der Choephoren zu einer entscheidenden Handlung ausgebaut wird. Die sophokleischen Erkennungsszene erfüllt danach konsequent den Grundgedanken, der dem Handlungstypus als Bestimmung innewohnt.

Elektra,

die während

des Geschehens

trotz der Abwesenheit

Orests

und

gerade wegen der fiktiven Todesmeldung in ein inniges Nahverhältnis zum Bruder tritt, zieht schließlich durch die Enthüllung ihres Leids den Bruder zu sich herüber.

Im Augenblick der Erkennung brechen beide Partner in der Gewißheit des überstandenen Leids zueinander durch. Für eine dritte Person bleibt da kein Raum®®. Die Agamemnonkinder haben aus eigener Kraft nicht nur die äußere Trennung überwunden, sondern auch ihre innere Gemeinsamkeit wiedergewonnen. Obwohl in der euripideischen Szene die Voraussetzungen für eine Zweipersonenhandlung noch günstiger sind, da Elektra und Orest sich von Anfang an direkt gegenüberstehen, biegt der Dichter die erwartete Richtung des Geschehens ab, ja verkehrt sie sogar ins Gegenteil. Den Geschwistern gelingt es nicht, die Spannung einer gegenseitigen menschlichen Bindung zu schaffen. Sie bewegen sich nicht aufeinander zu wie bei Sophokles. Im Gegenteil! Es treten Schritt für Schritt Komplikationen auf, die den Raum der Entfremdung immer mehr weiten, bis schließlich die Initiative innerhalb der Erkennungshandlung auf andere Personen übergeht. Der Bauer muß den alten Pädagogen ins Spiel bringen, der endlich die dramatische Handlung an sich reißt und sich zwischen die Agamemnon86 Perrotta

verkennt

die

Situation,

wenn

er meint,

die

Erkennung

dem Auftritt des Pädagogen „rapidamente“ (p. 382). 96 Bezeichnenderweise empfindet Elektra die spätere Aufforderung Rachewerk zu beginnen, als eine menschliche Härte.

vollziehe

sich nad

des Pädagogen,

das

II. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

165

kinder als Träger des Anagnorisismotivs schiebt, so daß Orest völlig an die Peripherie gedrängt wird. Zur Erkennung trägt letzterer überhaupt nichts bei, wie auch die Schwester, bis zum Schluß in der Blindheit verharrend, erst von dem Alten auf den Bruder „gestoßen“ werden muß. Von einem persönlichen Verhältnis von Bruder zu Schwester kann keine Rede sein. Die Erkennung der Geschwister entspringt nicht einem spontanen Erwachen, sondern beruht auf einem nüchternen Identifizierungsvorgang. Die Agamemnonkinder erkennen sich im Grunde nicht, sondern werden zur Erkennung „gezwungen“, Diese Komplikation des Erkennungsvorgangs — bei Euripides bedarf es eines ungleich größeren Aufwandes,

um

das

Handlungsziel

zu

erreichen



und

die Umkehrung

einer

bei

Sophokles in der Form der Zweipersonenerkennung noch gewahrten genuinen Motivrichtung scheint uns ein gewichtiges Indiz für die Posteriorität des Euripides zu sein. Oder soll man das Unwahrscheinliche für möglich halten, daß derjenige Dichter den Stoff zuerst zu einer Anagnorisishandlung umstrukturiert hat, welcher diesen Szenentypus zugleich in einer untypischen, „entarteten“ Form darbietet? Sichtbares Symptom der Tendenz, die sophokleischen Voraussetzungen zu verlagern und zugleich zu überbieten, scheint uns der im Vergleich zur sophokleischen Gestaltung unverkennbare Verlust an struktureller Ausgewogenheit der Anagrosisisszene. Während bei Sophokles Durchführung und Abschluß der Szene miteinander im Einklang stehen, d.h. die Ausweitung der Spannung im Augenblick der Erkennung und im folgenden Kommos ihre adäquate Lösung findet, die den Krisischarakter der Erkennung sinnfällig unterstreicht, wird das von Euripides aufgebaute Spannungsgebäude nicht durch einen entsprechenden Abschluß im Gleichgewicht gehalten. Es fehlt nicht nur der seelische Unterbau im Augenblick der Erkennung, sondern auch der Kommos®®. Das Anagnorisismotiv, das auf so außergewöhnliche Dimensionen hin angelegt worden war, klingt nicht aus, weil es nicht in die Schicht des Erlebens umgesetzt wird. Diese Disproportion®, die Tatsache, daß die Vorbereitung das Vorzubereitende an Gewicht übertrifft, werten

wir morphologisch als Zeichen einer Spätstufe, die wohl kaum der sophokleischen Komposition vorausgehen dürfte, ja geradezu dieser zur Erklärung bedarf, wenn man

hinzunimmt,

daß das Elektradrama hinsichtlich seiner nicht ausbalancierten

Struktur innerhalb der stellung einnimmt 1%,

übrigen

euripideischen

Anagnorisisstücke

eine

Sonder-

8? Erkennungshandlungen, in denen neben den beiden Hauptakteuren auch eine dritte Person eine Rolle spielt, gibt es bei Euripides zwar auch sonst; aber in diesen Fällen beschränkt sich der Aktionsradius dieser Person darauf, eine die Erkennung beschleunigende Information zu liefern. Der eigentliche Erkennungsvorgang bleibt immer beiden getrennten Partnern vorbehalten (vgl. u. a. Helena, I. T. und Hypsipyle). #8 Daß für die fehlenden Worte die szenische Wirkung der schweigenden Haltung Orests und El. während des Chorliedes ein Ersatz geboten habe (so T. v. Wilamowitz, p. 257), kann ich nicht zugeben. # Auf dieses Strukturproblem hat, soweit ich sehe, bisher nur W. Wuhrmann,

Untersuchungen zu den beiden Elektren und zum eurip. Orest, Winterthur

Strukturelle

1940, hin-

gewiesen.

100 Sowohl in Hel. wie auch in 1. T. und Ion ist durch den Kommos die Homogenität der Anagnorisishandlung gewahrt.

166

C. Das Problem der Priorität

Beide Dichter markieren den Augenblik, wo die Erkennungshandlung ihr Ziel erreicht, formal in einer genau entsprechenden Weise, die nicht zufällig sein kann: Eine Reihe von Dialogversen, die in beiden Szenen regelmäßig nach der dritten Senkung durch Personenwechsel zwischen Orest und Elektra in der Form unterbrochen werden, daß Elektra jeweils die erste Hälfte des betreffenden Verses übernimmt, sind in einen Block von ungebrochenen iambischen Trimetern eingeschoben (5. El. 1220-26 u. Eur. El. 579--81)1%1, Für eine Abhängigkeit des Euripides sprechen folgende Tatsachen: 1. Diese Kennzeichnung des Moments der Erkennung mit den formalen Mitteln der Antilabe findet sich in keinem der übrigen euripideischen Anagnorisisdramen (Ion, Hel. I. T.). Die typische Anagnorisistopik (Freude über das Wiederfinden des Partners, Betonung des unverhofften Glücks), die in der Elektra in den Anti-

labai aufgeführt wird, hat sonst ihren traditionellen Ort immer in den Freudenkommoi. Da dieser Bruch mit einer sonst verbindlichen Typik aber zugleich die Kehrseite einer auffälligen formalen Gemeinsamkeit mit der sophokleischen Parallelszene darstellt, hat man,

gibt man

die Priorität des Sophokles

zu,

eine

plausible Erklärung für das Verhalten des Dramatikers. 2.Die Regelmäßigkeit des Einschnitts bei mehreren, zwischen ungebrochenen Trimetern stehenden iambischen Antilabai, wie sie in der Elektra begegnet, ist bei Euripides singulär. Vergleichbar wären nur die Verse in der aulischen Iphigenie (1464-66). Dort aber gehen, nur durch drei Zeilen getrennt, in den Versen 1460f. zwei gebrochene Trimeter voraus, deren Einschnitt an einer anderen Stelle (nach der dritten Hebung) liegt!%. Hinzu kommt noch, daß Euripides in den der Elektra zeitlich vergleichbaren Dramen die Antilabe im Dialogvers überhaupt äußerst sparsam gebraucht (Tro. dreimal, Hel. einmal, I. T. zweimal, Ion viermal). In der Elektra stellen die besagten Antilabai die einzigen im Drama dar!%®. Bei Sophokles dagegen kann man neben der Elektra noch den Aias (591-94 u.981-—83) und mehrmals den ©. C. heranziehen. 3.Die Antilabai bei Sophokles scheinen die Funktion, den Augenblick der Erkennung als Kairos herauszuheben, konsequenter zu erfüllen. Zudem sind sie besser in den Zusammenhang eingefaßt. Der Dichter hat die gebrochenen Verse nämlich in die Reihe der Trimeter nach vorne und hinten fest gebunden. Der durch die Versbrechung eingeleitete Tempowechsel im Gespräch der beiden Geschwister löst den ruhigeren Ton der einfachen stichomythischen Partie ab. Das Außergewöhnliche der Situation wird durch die metrische Variation der Dialogform gut bezeichnet. Bei Euripides dagegen kommt diese Steigerung nicht zum Ausdruck, weil den Antilabai zwischen den Geschwistern eine Stichomythie zwischen Elektra und dem Pädagogen vorausgeht. Die letzte Äußerung Orests vor seinen ersten Worten in den gebrochenen Versen ist von diesen etwa durch zwanzig 101 Dazu kommt noch der sprachliche Anklang Soph. El. 1222 — Eur. El. 581. 1% Drei Antilabai mit regelmäßigem Einschnitt nach der dritten Senkung, die unmittelbar auf unregelmäßig getrennte Trimeter folgen, finden sich Phoen. 1273—78, Bakch. 966—70. Der umgekehrte Fall in Phoen. 980—85. 168 Eur, El. 693 ist umstritten.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

167

Verse getrennt, so daß der stichomythische Teil (bis V. 578) nicht mehr eine vorbereitende Stufe zu den Antilabai darstellt. 4. Das Prinzip der Versbrechung ist in der sophokleischen Erkennungsszene auf eine größere Strecke hin angelegt, so daß es sich im Unterschied zur Gestaltung im Euripidesdrama zum Ausdruck einer seelischen Bewegung der Geschwister zu erheben vermag. Sophokles komponiert zweimal drei durch Antilabe gekennzeichnete Trimeter aufeinander zu, die durch einen ungebrochenen Dialogvers (1223) voneinander abgesetzt sind. Es handelt sich um eine symmetrische Anlage. Nachdem Orest seiner Schwester im letzten Teil der vorausgehenden Dialogpartie eröffnet hat, daß der Bruder lebt, bringt die erste Gruppe der Antilabaiverse, deren Brechung die bis zum äußersten angespannte Erregung der Partner und besonders das ungläubige Erstaunen Elektras bezeichnet, die Nachricht, daß der vermeintliche Fremde niemand anderes als Orest selbst ist. Der folgende ungebrochene Trimeter liefert das unbezweifelbare, jenseits allen Hoffens und Zweifelns liegende Kriterium, worauf die zweite Gruppe der gebrochenen Verse den spontanen Ausschlag der Freude verdeutlicht. Diese ausgefeilte Entsprechung, die in der homologen Stelle der euripideischen Szene, wo die bei Sophokles voneinander getrennten, verschiedenen Gefühlsäußerungen in nur drei gebrochenen Trimetern in gedrängter Form miteinander verwoben werden!®, fehlt, verleiht der Versbrechung im sophokleischen Drama so sehr den Charakter einer bewußten Schöpfung, daß sich danach der Schluß, Sophokles habe dieses Formprinzip als erster entwickelt, von selbst ergibt. Wenn in zwei Szenen, deren Abhängigkeit voneinander feststeht, eine gemeinsame formale Technik in der einen mit deutlicher Betonung der übergreifenden Funktion aus einer vorausgehenden Versreihe wieder aufgenommen wird, während dasselbe Formprinzip in der zweiten Szene ohne irgendeine weiterreichende Beziehung isoliert steht, so darf man diese Szene

für eine Nachahmung der ersten halten. 5.In die gleiche Richtung weist die Tatsache, daß nur bei Sophokles die von der Antilabetechnik bestimmte Versreihe formal geschlossen ist. Mit der ersten Hälfte des ersten gebrochenen Verses wechselt die Person ($. El. 1219/20) ebenso wie nach dem letzten Halbvers der Versreihe (V. 1226/27). Dagegen sind die Antilabai bei Euripides nach beiden Seiten formal geöffnet: Die ungebrochenen Trimeter Elektras (577 1.) führen kontinuierlich in den von der Antilabetechnik bestimmten Verskomplex hinein, wie dieser wiederum ohne Wechsel der Person und ohne syntaktischen Einschnitt fugenlos von den folgenden ungebrochenen Dialogversen Orests fortgesetzt wird (582 ff.)1%, Bei Euripides kommt also die Strenge und Eigenstellung der Antilabetechnik nicht in dem Maße zur Geltung, d.h. wird nicht so konsequent durchgeführt wie bei Sophokles1®%, Das bestätigt unseren chronologischen Ansatz. 1% Vgl. z.B. die Außerungen Elektras in den Versen 580 und 581. 105 Wir legen hier die Verteilung der Verse 582—84 nach Denniston zugrunde. Parmentier, der nach 581 den Ausfall eines Verses annimmt, der Elektra gehört haben müsse, gibt 582 Orest und 583—84 Elektra. 1% Die Strenge der Form der Versbrechung scheint uns im sophokleischen Drama auch insofern besser gewahrt, als die jeweils zusammengehörenden Halbverse audı sprachlich

168

C. Das Problem der Priorität

d) Die Zeichenszene Eine Interpretation der euripideischen Zeichenszene wirft notwendig die oft behandelten Fragen der Echtheit und des Verhältnisses zur parallelen Szene in Aischylos’ Choephoren auf. Wir wollen diesen Problemkreis, dessen Behandlung eine umfangreiche Literatur zutage gefördert hat, nur insoweit streifen, als es für unsere Absichten notwendig erscheint. Im Hinblick auf die Frage der Echtheit der euripideischen Partie halten wir auch nach den Ausführungen von E. Fraenkel151 eine Interpolation nicht für gerechtfertigt "δ, wie inhaltlich genau aufeinander abgestimmt sind. Bei Euripides indessen gehen diese sprachlichen wie inhaltlichen Beziehungen auch über den Rahmen des von der Technik der Versbrechung markierten Abschnittes hinaus: So z.B. in den Versen 578 und 579. 107 The Footprints in the Choephoroe, Aeschylus Agamemnon, Bd. III, Append. D, p. 821-26. Dort auch ein kurzer Überblick über die Forschungsgeschichte. Nach dem Vorgang von A.Mau, Zu Euripides’ Elektra, Comment. philol. in hon. Th. Mommseni, 1877, p.291ff.;

C.H.Keene,

The

Electra

of Eurip.,

1893,

p.146 f.; T.G. Tucker,

Komm.

Choeph., Cambridge 1901, p. 64—73 und Radermacher, Rh. Mus. 58 (1903), p. 546 ff. hat jüngst neben Fraenkel, der auch die aischyleischen Verse Choeph. 205—11 tilgt, Böhme seine schon früher vertretene Athetierung (Hermes 73 (1938), p. 295) aufrecht-

erhalten (s. Bühnenbearbeitungen aisch. Trag., Basel 1959, p. 14). Für die Echtheit der eurip. Partie treten neben Pohlenz (Die griech. Trag. I, p.328), der auch auf die Wirksamkeit

des Fußspurmotivs

in den Choeph.

hinweist,

F. Solmsen,

Hermes

1934,

p. 395 und Kitto, Greek Tragedy, p. 342 f., neuerdings ein: M. Untersteiner, Riv. d. Fil. 1951, p. 70; Schiassi, Note critici ed esegetiche all’ Elettra di Euripide, Riv. di Fil. 1956, p. 250; Stoessl, Rh. Mus. 1956, p. 47 ff.; Freymuth, Gnomon 1959, p. 395 f.; H. J. Newiger, Hermes 1961, p. 427 ff.; J. W. Fitton, Hermes 1961, p. 440 A 1 und H. Lloyd- Jones,

The Class. Quart. 55 (1961), p. 171, der ausführlich auf Fraenkels Argumente eingeht. 1% Bedenken

schafft

schon

die

Tatsache,

daß

die

Vertreter

der

Athetese

bezüglich

der

Schnittstellen erheblich voneinander differieren: Mau tilgt Eur. El. 518—44, Radermacher und F. W. Schmidt (Stud. zu d. griech. Dramat.) streichen 532—44 und Tucker athetiert 520—23 und 52544. Auf die Einwände Fraenkels gegen den mangelnden dramatischen Realismus der verschiedenen Argumente des alten Pädagogen ist Lloyd-Jones bereits eingegangen. Uns scheinen im übrigen folgende Gründe eindeutig gegen die Annahme einer Interpolation zu sprechen: 1. Der Plural συμβόλοισι (Eur. El. V. 577) bezieht sich, wie schon U. v. Wilamowitz m. E. richtig gesehen

hat, nicht nur

auf die Narbe,

sondern

auch

auf die von

dem

Alten vorher ins Feld geführten und von Elektra abgelehnten Indizien. Fraenkels Polemik gegen Wilamowitz scheint uns nicht berechtigt. Gerade die Singularformen χαρακτῆρα (572) und τεκμήριον, die auf die Narbe gehen, machen eine besondere Erklärung des Plurals in 577 notwendig. I. T. 822, Med. 613 und besonders Ion 1386 bzw. Helena 291 beweisen ausnahmslos, daß die Pluralbildung immer eine Vielzahl von

Zeichen bezeichnet. Der Vers Eur. El. 577 scheint uns die Echtheit der Partie 518—44 zu beweisen. 2. Unter dem Aspekt des Verhältnisses der umstrittenen Szene zu den angrenzenden Nebenteilen und zur Handlung im Ganzen bilden die Verse 518—44 ein notwendiges Glied im Dramengefüge. Wir haben oben gezeigt, daß die Forcierung und zugleich Konservierung der äußeren Spannung als das die eurip. Anagnorisisszene beherrschende Gestaltungsprinzip zu gelten hat. Dieses retardierende Moment bringt die angefochtene Szene mit der Darstellung des Ringens um den Evidenzcharakter der Semeia aufs beste zum Ausdruck. Der Zuschauer schwebt in der Spannung, ob die Agamemnontochter nicht

doch von dem Alten überzeugt werden könnte. Ein kritischer Augenblick wird gedehnt,

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

169

Die vieldiskutierte Frage des Verhältnisses der euripideischen Zeichenszene zu Aischylos’ Choephoren, die in Verkennung der Dimension dieser „Auseinandersetzung“ zum Schaden beider Dramen zu sehr in prinzipiellem Sinne überwertet wurde, berührt zunächst unsere Frage nach dem Verhältnis der Zeichenszenen der beiden jüngeren Tragiker nicht direkt. Daß Euripides die Choephorenszene vor Augen hatte, wird man nicht bestreiten wollen, doch verläßt man den sicheren Boden der Textaussage, wenn man die Funktion der euripideischen Partie

auf die Tendenz einer kleinlichen Polemik gegen Aischylos reduziert!®. Eine derartig einseitige Auffassung geht allzu vorschnell über die realen Verhältnisse der dramatischen Situation in der euripideischen Tragödie hinweg. Elektra kritisiert den Alten und nicht Euripides den Aischylos. Letzteres dürfte man nur dann behaupten können, wenn Elektra schließlich Recht behalten würde. Das ist aber nicht

der Fall, sondern

der Alte sieht sich am

Ende voll bestätigt, so naiv auch

sein syllogistisches Verfahren und so hart die Kritik Elektras Der Gehalt der euripideishen Szene wird nicht durch ihre die Choephoren ausgeschöpft. Schiebt man das Verhältnis zu gründer in den Vordergrund, so muß man sowohl die Funktion

auch sein mögen. Ausrichtung auf Aischylos unbeder euripideischen

um die Klimax immer wieder hinauszuschieben, so daß die Verse geradezu zur passenden Vorbereitung der Erkennung als des Spannungshöhepunktes werden. Die verdächtigte Partie scheint uns jedenfalls für den Ablauf der Handlungskurve unentbehrlich zu sein. Von einem Bruch mit der dramatischen Kontinuität, wie Fraenkel auf Grund einer überzogenen Deutung der Verse 283—87 formuliert, kann überhaupt keine Rede sein. Außerdem dürften die Verse 518—44 unter dem Aspekt des Tychewirkens, das in allen

Anagnorisisdramen seine Macht sichtbar entfaltet, gegen eine Athetese gefeit sein: Das selbstsichere Pochen Elektras auf ihre Ratio, ihr Kalkulieren, das sich dann schließlich

doch als unzulänglich erweist, bezeichnet das Verstricktsein der menschlichen Existenz in die Gewalt der Doxa. 3. Streicht man die Verse 518—44, so hängen die von dem Pädagogen detailliert aufgeführten Kriterien in der Luft, die ja später von Orest und dem Alten nicht mehr erwähnt werden. Ein Motiv, dessen Anlage und Vorbereitung auf Durchführung drängen, würde

dramatisch nicht genutzt, nicht in Aktion umgesetzt. Außerdem

hätte

dann der in höchster Erregung aufgetretene Alte nach der langen Aufzählung der einzelnen Zeichen überhaupt nicht ausdrücklich von seinem Fund auf die Anwesenheit Orests geschlossen (das geschieht in V.518f.). Dem Motiv wäre die Spitze abgebrochen! Das blasse οὐ γὰρ

᾿Αργείων

γέ τις kann

nicht als Ersatz

Athetese das beinahe schroffe Verlangen

des Presbys,

motiviert,

das

sondern

nur

dann,

wenn

man

gelten. Ebenso

erfolglose

die Fremden Bemühen

wäre

bei einer

zu sehen, nicht des

Alten

in der

Auseinandersetzung mit Elektra voraussetzt. Nimmt man den Komplex 518—44 heraus, so ergeben sich keine glatten Schnittflächen, sondern es entstehen neue Schwierigkeiten, was Fraenkel auch zugeben muß. Man wäre dann

gezwungen,

die rätselhaften

Verse

545 f. dem

Pädagogen

zuzuweisen.

Das aber

würde bedeuten, daß Elektra zu dem überraschenden Fund des Alten überhaupt keine Stellung genommen und dieser nachher seine zuversichtliche Begeisterung sehr schnell aufgegeben hätte, die noch in den Versen 516 f. spürbar war. Schließlich müßte man noch hinter Vers 546 eine Lücke annehmen. 10° So auch Reinhardt, Aischylos als Regisseur u. Theologe, Bern 1945, p. 111. Macht man mit dem Gedanken der Invektive ernst, so ergeben sich nämlich erhebliche Schwierigkeiten, weil man dann mit Mißverständnissen des jüngeren Kritikers rechnen muß (vgl. Denniston, p. 113) und die Kritik an Aischylos nicht immer durchschlagend wäre.

170

C. Das Problem der Priorität

Szene im Dramenganzen verkennen wie auch die Erhellung des Verhältnisses der sophokleischen und euripideischen Zeichenszene über Gebühr vernachlässigen 119, Dieses Versäumnis wiegt um so schwerer, als sich der Schritt, den beide jüngeren Tragiker gemeinsam über Aischylos hinaus tun, als so bedeutend erweist, daß eine direkte Abhängigkeit vorliegen muß und ein Vergleich lohnenswert scheint. Welche Motive verbinden nun Sophokles und Euripides? Die Zeichen findet nicht mehr die Agamemnontochter selbst wie in den Choephoren, sondern eine ihr vertraute Person, die daraus auf die Anwesenheit Orests schließt und Elektra diese

Nachricht überbringt. Ebenfalls im Gegensatz zu Aischylos sperrt sich Elektra gegen den Beweischarakter der Indizien, welche die Erkennung nicht zu sichern vermögen. Wo liegen nun Vorlage und Kopie? Der Ansatzpunkt zur Lösung dieser Frage muß dort gesucht werden, wo die motivischen Analogien die Abhängigkeit verbürgen: 1. Die Einschaltung einer neuen Person als Träger des Motivs und 2. Die Entwertung der Kriterien. 1. Man darf voraussetzen, daß wohl derjenige Tragiker als erster die kanonische Form der Choephoren durch die Einführung einer zweiten Person als Träger der

Erkennungszeichen

durchbrochen

hat,

der

sich

davon

eine

Vertiefung

der

tragischen Grundsituation versprechen konnte und in dessen Werk diese neu geschaffene Person in einer notwendigen inneren Beziehung zum Vorgang der Auffindung bzw. der Überbringung der Zeichen stand. Welcher von beiden Trägern des Motivs hat kraft seiner Person eine größere Affinität zu der gleichen Aufgabe? Dasjenige Drama, welches diese Bedingungen erfüllt, genießt die Priorität. Die Antwort scheint uns auf der Hand zu liegen. Chrysothemis geht der Figur des alten Pädagogen voraus. Chrysothemis als eine Blutsverwandte Elektras, als die ihr nächststehende von allen Bewohnern des Palastes, als die Schwester ihres Bruders Orest, als die Tochter Agamemnons ist viel entschiedener prädestiniert, die Locken

Orests am Grabe des toten Vaters aufzufinden und der eigenen Schwester die Freudennachricht zu überbringen, also zwischen ihren beiden Geschwistern (Or. u. El.) zu vermitteln als der Alte, der seiner Herkunft nach kein solches Nahverhältnis zu den Mitakteuren, zum szenischen Ort und zur Situation haben kann. Richter sich die berühmte Schwester nach dem Unbekannten? Der Alte ist ohne Schicksal, ist nicht selbst kraft seiner Person Träger von Bedeutung wie Chrysothemis, sondern die Bedeutung kommt ihm erst durch die Koppelung an seine neue Aufgabe zu. Der umgekehrte zeitliche Vorgang wäre absurd, denn es würde ein literarisches Motiv dank einem Nebensächlichen zu sich selbst kommen!11. Außer110 Einen ersten bemerkenswerten Versuch in dieser Richtung hat Friedrich, Eur. u. Diph. p- 78£., unternommen, der allerdings bei seiner Interpretation den Ton zu sehr auf die

Psychologie legt. 111 Der sekundäre Charakter der Figur des Alten erhellt schon daraus, daß Eur. diese Person

um ihrer neuen Funktion als Träger des Zeichenmotivs willen nicht mehr in der vom traditionellen Mythos überkommenen Form beibehalten kann: Der Pädagoge, der, wie die Sagengeschichte beweist und die Darstellungen des Aisch. u. Soph. bestätigen, sonst immer

mit Orest bei dessen Flucht die Heimat

verläßt, bleibt in der euripideischen

Fassung auch nach dem Mord an Agam. zurück. Steht aber von zwei parallelen Motiven das eine im Einklang mit der Tradition und bedeutet das andere einen Bruch mit dieser Überlieferung, darf letzteres als das zeitlich spätere gelten.

IH. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

171

dem sitzt die Person der Chrysothemis und damit die gesamte Szene bei Sophokles ungleich fester im Dramengefüge und entwickelt einen größeren Aktionsradius als die Figur des Alten und die euripideische Parallelszene. Die sophokleische Partie ist ähnlich wie die in den Choephoren fest motiviert. Der Gang zum Grab geht auf den Traum Klytaimestras zurück, die ihre Tochter mit einer Grabspende zur Bannung des Prodigiums zum Grab ihres Gatten schickt. Dieser apotreptische Richtungssinn des Spendenmotivs wird aber durch das Eingreifen Elektras in sein Gegenteil verkehrt. Die Gaben werden nun auf ihr Geheiß zur Belebung des Rachegedankens zum Grab Agamemnons gebracht, wo sie sich mit denen des Orest symbolisch zu einem nie versiegenden Kraftstrom vereinigen. Klytaimestra hat im Kampf um die Einflußnahme auf den Geist des Ermordeten eine Niederlage erlitten, die zum Vorzeichen für den schließlichen Ausgang des Geschehens wird. Dagegen erweist sich die euripideische Gestaltung deutlich als Rudiment und damit als später. Der Gang des Pädagogen zum Grab ist dort weder an das Traum- noch an das Spendenmotiv gebunden, sondern der Alte, dessen Aufgabe eigentlich darin besteht, die zur Bewirtung der Gäste notwendigen Speisen zu beschaffen, kommt zufällig am Grab Agamemnons vorbei. Das Motiv ist in keiner Weise vorbereitet, ist entwurzelt!!2,

Dieselbe Entwicklung zur Reduktionsstufe wird in der euripideischen Bearbeitung offenbar, wenn man die verschiedene Bedeutung des Grabhügels in den drei Dramen nebeneinander hält. Bei Aischylos ist das Grab Agamemnons nicht nur zentraler szenischer Ort, sondern steigert sich zum symbolischen Handlungsträger, da der Geist des Ermordeten am Geschehen mitwirkt (vgl. seine Funktion ım Beschwörungskommos). Bei Sophokles liegt der Grabhügel nicht mehr in der Orchestra, aber er bleibt wichtigster außerszenischer Ort, auf den sich das Denken aller Personen (Or. El. Chrys. Klyt.) immer wieder richtet und der zu einem Knotenpunkt wichtiger Auf- und Abgänge der Akteure wird: Orest geht nach dem Prolog zum Grab, der Pädagoge kommt von dorther; Chrysothemis geht zum Grabhügel und kehrt wieder zurück, wobei sowohl Klytaimestra wie auch Elektra als Auftraggeber ,mitbeteiligt“ sind. Euripides schließlich verlegt das Grab des Feldherrn auf das Land. Dadurch verliert es auch noch seine Funktion als außerszenischer Ort. Es entspinnt sich kein Kampf der beiden Parteien mehr um den Geist des Toten, für dessen lebendige Kraft das Grab ursprünglich äußerlich sichtbares Zeichen war. Orest bringt zwar noch Opferspenden dar, die aber ebenso wie der Grabhügel selbst nicht mehr im Dienst der Racheidee stehen, sondern nur noch die faktische Voraussetzung für die spätere Zeichenszene schaffen. Das bedeutet: In der Bearbeitung des Euripides könnten die Erkennungszeichen im Unterschied zur sophokleischen Konzeption an jedem anderen beliebigen Ort aufge112 Selbst der Gedanke, eine andere Person als El. das Grab aufsuchen zu lassen, liegt bei

Soph. ungleich näher als in nicht verlassen und kommt Betracht. Der euripideischen zum Grab in eigener Person

der eurip. Konzeption. Die soph. Heldin darf den Palast als Trägerin der von Klyt. geschickten Spenden nicht in Elektra dagegen hätte nidıts im Wege gestanden, den Gang zu unternehmen.

172

C. Das Problem der Priorität

funden werden, ohne daß sich daraus Konsequenzen für den Ablauf der Szene zwischen Elektra und dem Pädagogen ergeben würden. Der Grabhügel erstarrt zu einem leblosen Bühnenrequisit, das einfach zum Inventar der Handlung hinzugehört. Diese Rudimentbildung spricht für die Priorität des Sophokles. Dazu kommt im sophokleischen Drama auch noch eine entschiedenere strukturelle Verankerung der Zeichenszene. Die zweite Chrysothemisszene ist nämlich untrennbar mit der ersten verknüpft und empfängt erst von dieser Profil und Sinngehalt. Chrysothemis, die in der ersten Szene als Vertreterin des unwahren Bios und eines in der Doxa befangenen Lebens dem wahren Sein Elektras scharfe Konturen gibt, übernimmt in der zweiten Szene die Rolle Elektras, natürlich in einer ironisch verschobenen Perspektive. Die beiden Schwestern tauschen den geistigen Standort. Chrysothemis befindet sich plötzlich im Besitz der Wahrheit, während Elektra durch die fingierte Meldung vom Tode Orests in das Dunkel des Irrtums hineingestoßen ist. Und es geschieht das Paradoxe, das die tragische Ironie auf das Geschehen herabzieht. Die Wahrheit vermag den Schein nicht zu durchbrechen. Elektra, wiewohl diesmal mit dem Irrtum verbündet, erweist sich auch jetzt gegenüber ihrer Schwester als die stärkere. Die Eigenkraft ihres Ethos setzt sich erneut durch. Chrysothemis dagegen, einmal im Besitz der Wahrheit, gelingt nicht, was Elektra in der ersten Szene gelungen war, die Schwester umzustimmen und auf ihre Seite zu ziehen. Beide Chrysothemisszenen sind in der Weise aufeinander zukomponiert, daß die zweite zur Palinodie der ersten wird. Im Gegensatz zur euripideischen Darstellung, wo die Zeichenszene wie für sich geschaffen steht, bildet sie bei Sophokles einen notwendigen, weit über sich hinausweisenden Pfeiler innerhalb des Dramas. Diese weitreichende Funktion spricht für die Priorität des Sophokles. 2.Beide Elektren weisen die Vermutungen zurück, welche die Besucher des Agamemnongrabes an ihre Beobachtungen knüpfen, so daß Orests Gang zum Grab und seine Spenden jeweils aller Folgen für die Erkennung beraubt werden. Wie ist nun das Vorurteil Elektras in beiden Dramen motiviert? Bei Sophokles erwächst die Weigerung aus einem unwiderlegbaren Faktum, das durch den dramatischen Zusammenhang gegeben ist: Die falsche Nachricht vom Tod Orests läßt Chrysothemis nicht zum Zuge kommen. Elektra muß deren Argumentation verwerfen. Bei Euripides dagegen gibt es keinen sachlichen Grund, die Vermutung des Alten zu verwerfen. Die Ablehnung der einzelnen Indizien fließt jetzt vielmehr aus einer tragischen Grundstruktur des Menschen, aus seiner Befangenheit in der Doxa. Seine Unfähigkeit, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen des Lebens mit all ihrer Paradoxie auch bei noch so kritischer Prüfung zu umfassen, versperrt ihm den Weg zur Wahrheit. Gerade dieses allzu kluge Kalkulieren wird auch Elektra zum Verhängnis!!$, Sicher haftet den einzelnen Semeia und 113 Wir halten die Erklärung Friedrichs, p. 81 f., die Weigerung der eur. El. entspringe aus dem einmaligen, individuellen Charakter der Heldin, aus ihrer Instinktlosigkeit und Unempfindlichkeit, für unangebracht. Eine solche Deutung, die zudem im Text keine Stütze finder (das Verhalten der El. während der Intrige und vor allem nach der Tat entzieht einer solchen Interpretation m. E. den Boden) reduziert eine allgemeingültige, besonders für eurip. Menschen typische Grundbefindlichkeit auf eine Unfähigkeit eines

111. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra den

Kombinationen

des Alten

manche

Schwäche

an!!,

173

aber es bleibt doch ein

höchst auffälliges Zusammentreffen von komplementären Faktoren, die zumindest der Erklärung bedurft und wenigstens die vage Vermutung hätten nahelegen können, daß Orest vielleicht doch gekommen sein könnte. Gegen diesen Schritt sperrt sich die Agamemnontochter, da ihr Einsichtsvermögen an der Macht der Tyche zerbricht. Das Verhältnis hinsichtlich der Motivierung der Weigerung in beiden Dramen läßt sich demnach mit dem Unterschied von Faktum und Stimmung,

von realer Situation und menschlicher Haltung, von erklärbarer Konstellation und logisch unauflösbarer tragischer Macht umschreiben. Daß danach der Euripidestragödie als dem fortgeschritteneren Stück, das die sublimere Lösung des Problems bietet und das dieses Problem in Richtung auf die Erhellung eines allgemein

menschlichen

Phänomens

ausweitet,

die Posteriorität zukommt,

dürfte

ebenso naheliegen, wie man sich umgekehrt kaum vorstellen kann, daß Sophokles das Motiv nach dessen bewußter Verlagerung in den Bereich der gedanklichen Reflexion durch Euripides auf den Boden der vordergründigen Faktizität gestellt haben würde. Welche Folgen hat nun jeweils die ablehnende Haltung Elektras für den weiteren Fortgang der Handlung? Am Ende beider Szenen steht der Sieg des Irrtums über die Wahrheit, steht die Niederlage der Person, welche die Agamemnontochter nicht zu überzeugen vermocht hat. Dieser genuine Richtungssinn des Motivs, nämlich eine zeitweilige tragisch-ironische Umkehrung von Irrtum und Wahrheit, wird nur in der sophokleischen Fassung konsequent durchgeführt, wo Elektra ihre Schwester mit in den Abgrund des Irrtums reißt (vgl. 5. El. 924 ff.). Erst dieses gemeinsame Verharren im Trug schafft die Voraussetzung für die folgende Szene, in der die Heldin vergeblich versucht, ihre Schwester nach dem nun sicher scheinenden Tod des Bruders zur Mithilfe an der Racheaktion zu bewegen, um sich dann nach dem Scheitern dieser Gemeinsamkeit, die sich tragischerweise nur im Irrtum manifestieren konnte, aus tiefster Isolierung zu ihrem großen Entschluß zu erheben. Der alte Erzieher bei Euripides dagegen vermag zwar seine Herrin nicht zu überzeugen, läßt sich aber seinerseits ebenfalls nicht von seiner Argumentation abbringen (vgl. Eur. El. 547 ff.). Der Irrtum feiert nicht den totalen Triumph wie bei Sophokles. Das Motiv wird nicht konsequent ausgebeutet und zu Ende geführt. Es leistet dramatisch nichts mehr, weil seine Wirkung nicht auf andere Personen und Situationen übergreift. Seine ursprüngliche Funktion wird sogar ins Gegenteil zurückgebogen, da der Alte sofort nach seinem erfolglosen Disput mit Elektra, unbeirrt an seiner Meinung festhaltend, die Erkennung selbst vollzieht und dadurch die Richtigkeit seines Schlusses zu bestätigen weiß. Nicht der Alte, sondern Elektra wird widerlegt. Die euripideische Fassung, in der also das Motiv der Ablehnung der Zeichen seiner Bestimmung

Einzelcharakters. Im übrigen bringt die scharfsinnige Abhandlung

Friedrichs, der wir

uns in vielen Punkten anschließen können, viel Neues.

114 Friedrich, Eur. u. Diph., zeigt gut, wie sich der Alte in seinem Eifer mit seinem dritten Argument sogar eine regelrechte Blöße gibt.

174

C. Das Problem der Priorität

-zweckentfremdet* wird, kann der konsequent durchgeführten Bearbeitung nicht vorangegangen sein. Dieses Ergebnis wird durch die gegenüber der sophokleischen Darstellung dramaturgisch raffiniertere Durchführung bei Euripides gestützt. Während der Leser der Sophoklestragödie seit der Entsendung der Chrysothemis zum Grab weiß, daß sie mit der Freudenbotschaft zurückkehren wird, und die negative Reaktion Elektras auf den durch die Nachricht vom Tode Orests überholten Bericht der Schwester voraussehen kann, verschiebt Euripides so bewußt gerade diese beiden Voraussetzungen, daß die Annahme, er habe die sophokleische Fassung vor Augen gehabt, zwingend erscheint. Der Zuschauer erfährt zwar schon unmittelbar nach dem Auftritt Orests von der Funktion des Pädagogen als Schlüsselfigur der Erkennungshandlung, aber er kann nicht ahnen, daß dieser zum Träger des Zeichenmotivs

ausersehen

ist. Als er dann

schließlich

auftritt, schiebt er trotz

höchster

Erregung im Unterschied zu Chrysothemis die Bekanntgabe seines Fundes längere Zeit hinaus (vgl. Eur. El. 487-502). Die Eröffnung des Geheimnisses trifft den Zuschauer völlig unvorbereitet. Dieses Spiel mit der Spannung und dem Überraschungseffekt beherrscht auch den folgenden Teil der Szene. Ein sachlicher Grund, der die Argumentation des Alten von vorneherein zu Fall bringen muß, ist im Unterschied zu Sophokles nicht gegeben. Elektra weiß, daß Orest lebt und Boten geschickt hat, daß ein Unbekannter am Grab des Vaters geopfert hat. Vor allem aber steht Orest selbst schon unerkannt vor ihr. Deshalb besteht von Beginn an jeden Augenblick die Möglichkeit, daß die Agamemnontochter zur Wahrheit vorstoßen könnte. Diese dauernde Spannung wird durch den dreimaligen Versuch des Pädagogen, seine Vermutung als wahr zu erweisen, gesteigert. Kam es Sophokles darauf an, die tragische Ironie des Schicksals Elektras zu demonstrieren, so spielt Euripides, indem er der Szene einen anderen Stellenwert im Drama anweist, mit dem Effekt der Überraschung. Die Tendenz zur Veräußerlichung und Überbietung zugleich sowie die Wirkung des Komischen lassen Euripides als den späteren Bearbeiter erscheinen. Dafür spricht auch, daß die Anlage der euripideischen Szene als logische Auseinandersetzung zwischen Elektra und dem Alten nichts anderes als die Ausweitung einer flüchtigen Andeutung in der parallelen Fassung des Sophokles darstellt. Dort kommt es zu keinem echten Ringen zwischen Elektra und ihrer Schwester, die sich lediglich mit einem schwachen Hinweis gegen die Macht des Irrtums zu stemmen sucht (S. El. 930 f.). Erst bei Euripides kann sich das Ringen um die Wahrheit des eigenen Standpunkts in voller Breite entfalten. Euripides geht damit über Sophokles hinaus, indem er eine dort noch nicht ausgeschöpfte dramatische Möglichkeit zum Aufbauprinzip einer ganzen Szene macht. Auch in einer anderen Hinsicht stellt die Fassung des Euripides einen unverkennbaren Fortschritt gegenüber des Sophokles Darstellung dar. Während bei Sophokles die ablehnende Haltung Elektras auf der Nachricht des Pädagogen beruht und nicht auf einer Kritik an den vorgelegten Indizien selbst fuft115,

115 Chrys. stützt sich deshalb auch bei ihrem Versuch eines Widerspruchs nur auf das die

II. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

175

entzieht Euripides seiner Heldin diese unanfechtbare Position. Die Ablehnung der Argumente des Alten muß nun durch eine ungleich schwierigere Kritik an der Beweiskraft der einzelnen Zeichen begründet werden. Die Situation be: Euripides wirkt offener und entwickelt dadurch mehr Spannung, weil das logische Duell an die Stelle der ethosbestimmten tragischen Ironie tritt. Der Dichter treibt die Situation gegenüber Sophokles entschieden weiter und operiert gewagter. Seine Fassung stellt die kompliziertere und zugleich sublimere Lösung der gleichen künstlerischen Aufgabe dar. e) Die

Intrigenhandlung

Da in beiden Elektradramen die gleiche Aufgabe, nämlich zwei Racheaktionen gegen dieselben Personen durchzuführen, zu bewältigen ist, scheint die Variierung dieses gemeinsamen Grundrisses für die Bestimmung der relativen Chronologie genutzt werden zu können. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die euripideische Anlage wirkt gegenüber der sophokleischen in jeder Beziehung reicher strukturiert. Die Kompositionselemente sind stärker voneinander gesondert und der Intrigenapparat ist reicher ausgestaltet. Die einzelnen Motive erscheinen entfalteter und nach dem Prinzip der Variatio aufeinander abgestimmt. Diesen Befund glauben wir im Sinne der Posteriorität auslegen zu dürfen. Bei Sophokles vollzieht sich die auf knappsten Raum beschränkte Rachehandlung an einem Ort, im Palast Agamemnons. Sie wird von denselben Personen (Or. u. El.) mit Hilfe eines einzigen Mechanema, der fiktiven Nachricht vom Tod Orests, erfolgreih zu Ende geführt. Aigisth erliegt am gleichen Ort derselben "Täuschung wie vorher Klytaimestra. Die beiden Schuldigen fallen an der gleichen Stelle. Euripides erweitert dieses höchst einfache sophokleische Intrigenschema, indem er eine echte Verdoppelung der Rachehandlungen vornimmt. Das Drama bietet zwei völlig voneinander verschiedene Tisisaktionen, die sowohl räumlich geschieden sind (Aigisth wird zuerst auf einem Landgut, Klytaimestra anschließend in der Hütte Elektras umgebracht), und sich auch hinsichtlich der jeweiligen Träger der betreffenden Mechanemahandlung voneinander unterscheiden. Bei dem Anschlag gegen Aigisth wirken Orest und Pylades, bei dem gegen Klytaimestra der Pädagoge, Elektra und Orest mit!!®. Und schließlich wird das Aufbauschema auch noch durch die Anwendung verschiedener Mechanemata in zwei gesonderte Teilhandlungen zerlegt: Der Anschlag gegen Aigisth gründet sich auf eine von dem Alten, der an der Planung der Intrige maßgebenden Anteil hat, berichtete günstige Gelegenheit (Eur. El. 621 ff.). Bei der Überlistung der Mutter dagegen wird eine durch die Okonomie des Dramas bereits vorgegebene Situation, die Ehe Elektras mit dem Bauern, zur Ausgangsbasis der Intrige. Elektra täuscht die Geburt eines Kindes vor, um die Mutter herbeizulocken. Eine Lage, die vorher als untragbar empfunden wurde, erweist sich, jetzt vorgetäuscht, als glücklich helfender Zufall. Beweiskraft

der

Zeichen

selbst

nicht

berührende

Argument,

daß

außer

Orest

jemand als Spender der Locke in Frage kommen kann (vgl. 930 f.). 118 Strohm, p. 78 ff. zeigt gut, wie Euripides sich hier der Ensemblebildung bedient.

kaum

176

C. Das Problem der Priorität

Die Überlistung der Mutter selbst, die bei Sophokles noch allein Aufgabe des Pädagogen gewesen war, vollzieht sich bei Euripides ebenfalls in zweifacher Brechung. Der Alte macht der Königin die angebliche Mutterschaft Elektras glaubhaft, während Elektra die Mutter dann bei ihrer Ankunft endgültig ins Netz lockt. Und während Sophokles das Werkstück der Planung auf ein Mindestmaß reduziert, entwickelt Euripides ein kunstvoll aufgebautes, von drei Personen geführtes Intrigengespräch, in dem nacheinander, sauber getrennt, zuerst der Plan zum Mord an Aigisth von Orest und dem Pädagogen (Eur. El. 619—39) und anschließend der zur Tötung Klytaimestras von Elektra und dem Pädagogen entworfen wird. Diese Tendenz zur Komplizierung und Erweiterung der Intrigenform, zur Verdoppelung und zugleich Variierung fast jedes Kompositionselementes der sophokleishen Anlage macht eine Spätdatierung der Euripidestragödie hinter das Sophoklesdrama wahrscheinlich. Das souverän sichere Schalten mit den überkommenen Formelementen scheint uns formgeschichtlich eine spätere Stufe zu bezeichnen als die bloße einfache Erfüllung dieser Formelemente, wie sie in dem sophokleischen Drama vorliegt. Euripides baut die Intrigenhandlung zu einem reich gegliederten Szenarium aus. Er komponiert weitgedehnte Handlungsphasen, die durch dauernden Personenwechsel (Planungsszene mit El. Or. Päd. — Botenbericht — Auftritt Orests — Auftritt Kiyt.) von lebhafter Aktion begleitet sind, obwohl der für eine solche Szenenreihe nötige dramatische Raum im Gegensatz zu den sophokleischen Verhältnissen, wo die Intrige schon im Prolog ihren Anfang nimmt,

fehlt, da die Mechanemaaktion

erst mit der zweiten Hälfte des Dramas

anläuft!!? und nach den Rachetaten noch Platz für den weitgespannten Epilog bleiben muß. Wir treffen, überspitzt formuliert, den breit angelegten Handlungszug gerade dort, wo wir ihn nach den strukturellen Voraussetzungen eigentlich nicht erwarten. Diese Tatsache könnte auf dem Hintergrund der sophokleischen Gestaltung eine Erklärung finden. Daß die Ausgestaltung des ursprünglich (vgl. Aisch. Choeph.) einfachen Grundrisses der Intrigenhandlung durch Euripides sich an der sophokleischen Gestaltung orientiert hat, scheint auch daraus zu erhellen, daß er alle entscheidenden Werk-

stücke der Fassung des Sophokles offensichtlich ergänzt. Bei Sophokles wird innerhalb der Darstellung des Anschlags gegen Klytaimestra nur die Ermordung vorgeführt. Den Vorgang der vorausgehenden Überlistung, den der Dichter ausspart, läßt Euripides vor den Augen der Zuschauer abrollen. Stellt Sophokles bei der Intrigenaktion gegen Aigisth umgekehrt nur die Überlistung des Buhlen, aber nicht sein Ende dar, so ergänzt auch hier das euripideische Drama die Lücke. Der Tod des Aigisth wird in einem ausführlichen Botenbericht geschildert. Bietet das sophokleische Elektradrama das Motiv der Abrechnung mit einem Opfer unmittelbar vor oder nach dessen Ermordung nur am Beispiel Aigisths, so vervollständigt Euripides diesen Aspekt, indem er Elektra nicht nur mit dem Buhlen, sondern auch mit der Mutter im Angesicht des sicheren Todes Gericht halten läßt. 117 Daß die Wiedererkennungshandlung der ersten Dramenhälfte mit der Tisisaktion schon vor der Planfassung ineinandergearbeitet sei, betont Strohm, p. 79 f. zu stark.

Ill. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

177

Und schließlich erweitert Euripides die Rollen Orests und des Pädagogen, da wir beide

Personen

bei beiden

Rachetaten

in Aktion

sehen,

während

ıhre Funktion

innerhalb des Sophoklesdramas auf eine der Aufgaben beschränkt bleibt 118, Trotz dieser gegenüber Sophokles reicheren Szenerie strebt Euripides danach, die einzelnen Werkstücke in einen wohl berechneten Zusammenhang zu bringen und durch ein weit verzweigtes Geflecht von gedanklichen wie motivischen Beziehungen eng zu verbindenti®. Das dabei angewandte Prinzip der steigernden Variatio scheint uns viel eher nach als vor der schmucklosen Intrigenanlage des sophokleischen Stückes verständlich, da die Mechanemahandlung des Euripidesdramas deutlich das Ende eines Weges bezeichnet, dessen frühere Stationen die Dramen des Aischylos und Sophokles bilden. Versuchen wir kurz die Tektonik der euripideischen Intrige nachzuzeichnen. Die Handlung ist symmetrisch-chiastisch komponiert. Auf den Bericht vom Tode Aigisths, zu dem als Kontrast die folgende Begrüßung Orests als Triumphator hinzugehört, folgt die Abrechnung Elektras mit dem Buhlen, die ihrerseits wieder dem vorangegangenen Enkomion auf den Bruder respondiert. Es schließen sich in rückläufiger Bewegung die Abrechnung mit Klytaimestra und endlich deren Ermordung an. Die Darstellungen der Morde rahmen die beiden ψόγοι, zwei große Gerichtsszenen, ein. In der Mitte des viergliedrigen Systems steht als Achse die Überredung des zweifelnden Orest durch seine Schwester,

die damit hintereinander

ebenfalls

in vierfacher

Funktion

auf-

tritt: Sie feiert den Rächer, klagt das erste Opfer an, kritisiert und ermahnt den Bruder und rechnet mit dem zweiten Opfer ab. Euripides baut also als einziger der drei Tragiker die beiden Mordtaten zu zwei weitgeschwungenen, in sich geschlossenen Akten aus, die beide jeweils einen eigenen Handlungsverlauf mit sichtbarem Höhepunkt erkennen lassen. Daß der Dichter außerdem den Muttermord an den Schluß der Rachehandlung hinter die Tötung Aigisths rückt, ermöglicht eine Steigerung der Handlungsentwicklung bis zum Dramenende hin!?°. In dieser Szenenreihe wirkt eine fein berechnete Nuancierung und Abstimmung der einzelnen Werkteile, die weit über die szenische Variierung bei Sophokles hinausreicht. In dessen Drama fallen die beiden Opfer am gleichen Ort, bei Euripides findet Aigisth sein Ende außerhalb des szenischen Ortes, Klytaimestra am Schauplatz der Handlung. Der Zuschauer erlebt den ersten Mord in Form eines Botenberichtes, den zweiten als hinterszenishe Rachetat. Bei Sophokles (wie auch bei Aischylos) mußte ein Opfer (Aigisth) von außen ,hereingeholt“ werden, In der euripideischen Fassung müssen die Verbündeten nicht nur Klytaimestra von 118 Bei Soph. treten der Päd. u. Or. während des Anschlags gegen Aigisth nicht in Aktion. 19 Mit Recht wendet sich Strohm, p. 80 A 3, gegen die These W. Wuhrmanns, Strukturelle Unters. zu den beiden Elektren ..., Zürich 1940, vom Zerfall der Teile in der eurip. El. 120

Zum folgenden vgl. auch Strohm, p. 87, dem wir wertvolle Anregungen verdanken. Diese Aufteilung des Intrigenkomplexes erlaubt zugleich eine strenge Sonderung des juristischen Fragenkomplexes. Während der Tod Aigisths keine Problematik aufwirft und mit einem Triumph endet, tritt mit dem Erscheinen der Mutter die bis dahin verdeckte Konfliktsituation deutlich hervor. Die Bedeutung der Szene, in der Orest zum

ersten Mal schwankt, als strukturelle Aktscheide zwischen beiden Rachehandlungen wird damit vollends klar. 12 Vögler, Interpretationen

178

C. Das Problem der Priorität

außen heranlocken, sondern sich selbst zur Durchführung der ersten Racheaktion nach außen begeben. Euripides setzt also dramaturgisch viel mehr in Bewegung als Sophokles. Bei Sophokles wird nur eines der Opfer zum Ort der Handlung gebracht, bei Euripides beide, und zwar das eine als Toter, das andere lebend. Die sophokleische Heldin rechnet mit ihrer Mutter und Aigisth als Lebenden ab, die euripideische Elektra dagegen mit Aigisth als Toten, während sie die Mutter noch vor deren Ermordung richtet. Bei Sophokles vollzieht sich die Durchführung der Rache gegen beide Mörder in jeweils einer Szene: Klytaimestra wird erschlagen, Aigisch wird in das Netz der Intrige gelockt. Euripides schildert die Aktion gegen Aigisth in drei Szenen (Darstellung der Tötung, Begrüßung des Rächers, Abrechnung mit dem Toten) und dehnt den Anschlag auf die Mutter zu zwei Handlungsabschnitten (Überlistung und hinterszenische Ermordung). Die Mechanemahandlung : der Euripidestragödie steht dramentechnisch jenseits der parallelen Anlage des Sophokles. Da von den sophokleischen Strukturelementen in der euripideischen Komposition keines fehlt, sich aber jedes bei Sophokles vereinzelte Werkstück in verdoppelter oder mehrfach gebrochener Form findet und zudem noch reicher und variierter ausgestaltet ist, scheint uns die Anlage des euripideischen Elektradramas die spätere zu sein. Unser zeitlicher Ansatz läßt sich noch durch verschiedene Einzelargumente erhärten: 1. Sophokles wie Euripides bedienen sich der Person des Pädagogen, um Klytaimestra in die Falle zu locken. Während aber in der sophokleischen Konzeption außer Orest, der jedoch nach dem Gesamtaufbau des Dramas nicht in Frage kam, da er erst nach der Überbringung der fingierten Todesnachricht auftreten durfte, niemand für diese Funktion zur Verfügung stand, hätte Euripides ebensogut den Gatten Elektras mit der Überbringung der Nachricht von der Mutterschaft Elektras beauftragen können. 2. Es dürfte der tatsächlichen Entwicklung eher entsprechen, wenn man annimmt,

daß Euripides nach Sophokles Todes

Orests

durch

zwei

das eine traditionelle Mechanema

verschiedene,

neuartige

Formen

der

des fingierten

Überlistung,

die

in ihrer drastischen Realistik weit über das sophokleische Motiv hinausgehen !?1, ersetzt hat. 3.In der sophokleischen Intrigenhandlung bildet das Motiv der Abwesenheit Aigisths auf dem Land eine notwendige Hilfskonstruktion, um den Mördern

den

Eingang zum Palast zu verschaffen und die erforderliche Abfolge der Rachetaten — Kiytaimestra soll vor Aigisth fallen — zu ermöglichen. In der euripideischen Handlung fallen diese beiden sachlichen Voraussetzungen, die das Motiv notwendig machen, weg. Die Mörder sind nicht mehr gezwungen, in den Palast einzudringen, und Aigisth wird vor der Königin getötet. Da nun die Handlung des euripideischen Dramas ohnehin auf dem Land, und zwar in der Behausung Elektras spielt, hätte es nahegelegen, Aigisth an diesen Ort zu locken, der eine sichere Durchführung 121 Bei Aischylos wird Aigisth von außen geholt, um vor der Mutter getôtet zu werden. Euripides verfährt also eklektisch: Mit Aischylos hat er die Reihenfolge der Mordtaten, mit Sophokles das Motiv des Landaufenthaltes gemein.

Ill. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

179

der Tat garantiert hätte. Aber der Dichter verschmäht diese naheliegende Lösung. Er benutzt trotz der gegenüber Sophokles verschobenen Voraussetzungen dessen Motiv des Landaufenthaltes Aigisths und steigert es zugleich dadurch, daß der Buhle von diesem Aufenthalt nicht mehr wie bei Sophokles zurückkehrt, sondern während eines Opfers auf einem Landgut den Tod finder 2. 4. Sophokles ist darauf bedacht, wie Aischylos die symbolische Identität der Mordstätte zu wahren. Aigisth fällt an der gleichen Stelle wie Klytaimestra. Euripides gibt diese Identität des Ortes auf, obgleich sie für ıhn ebenfalls nahegelegen hätte (5. o.). Euripides will jedoch nicht ganz auf den sophokleischen Gedanken der Einheit des Tatortes verzichten, obwohl die dramatische Voraussetzung der verschiedenen Mordstätten die Erfüllung des ursprünglichen Richtungssinnes des Motivs, die Demonstration der gemeinsamen Schuld und gemeinsamen Sühne der Opfer, bereits nicht mehr erlauben. Aigisth soll mit Klytaimestra aber gleichwohl im Tode vereint sein. Deshalb wird seine Leiche nachträglich an den Ort gebracht, wo kurz darauf Klytaimestra fallen wird. Euripides versucht also eine Analogie zu Sophokles zu wahren, die ihren Sinn im Grunde schon eingebüßt hat. Das ist das Zeichen des Späteren 122, ἢ Der Agon Beide jüngeren Tragiker ersetzen das aischyleische Streitgespräch zwischen Orest und seiner Mutter durch einen Agon zwischen Elektra und Kiytaimestra. Da sowohl der Aufbau der Szenen!? wie auch ihr struktureller Stellenwert im Dramengefüge!* und dazu die sprachliche Form manche parallelen Züge aufweisen, glauben wir auch hier, die außerordentliche Bedeutung des Kompositionselementes eingerechnet, die eine unabhängige Bearbeitung ganz unwahrscheinlich erscheinen läßt, die Variierung des gemeinsamen Grundrisses entwicklungsgeschichtlich nutzen

zu können,

wenn

auch

neuerdings

Stimmen

laut

werden,

die eine

Synkrisis für die Lösung der relativen Chronologie als nicht ergiebig ansehen wollen!®, Wir sind dagegen der Meinung, daß die Grundvoraussetzung für eine solche Auswertung gegeben ist: Der spätere Bearbeiter konnte wohl kaum die vorgegebene Gestaltung dieser wichtigen Szene völlig ignorieren, sondern dürfte irgendwie unter dem Eindruck des Vorgängers gestanden haben. 122 Ebenso scheinen uns die amphibolischen Bemerkungen der eurip. El. (1120 u. 1142—46) gegenüber ihrer Mutter hinsichtlich des in der Hütte liegenden Leichnams Aigisths eine rudimentäre Form eines bei Sophokles voll ausgebildeten Motivs zu sein. Dort erlebt nämlich der Zuschauer den Augenblick, in dem Aigisth die Leiche Klytaimestras bemerkt, auf der Bühne mit (vgl. 5. El. 1458 ff.). Die Verlagerung des Faktischen in den Raum der gedanklich-ironischen Spiegelung ist Symptom eines Nachahmers. 123 Auf die Apologie der Mutter folgt jeweils, von der Bitte Elektras um die Möglichkeit einer Entgegnung unterbrochen, der Angriff der Tochter, dem sich am Ende ein zweiter Neikos anschließt. 124 Die Agonszene bringt jeweils den ersten Auftritt Klytaimestras innerhalb des Dramas. 125 So Strohm, p. 98, der den Elektraagon d. Eur. mit Recht in die Reihe der übrigen eurip. Streitgespräche einzuordnen u. aus typischen eurip. Formgesetzen zu deuten sucht.

180

C. Das Problem der Priorität

1.Man wird demjenigen Dichter die Priorität zuerkennen, dessen Drama am ehesten die dramatischen Voraussetzungen für einen Agon zwischen Elektra und ihrer Mutter bietet. Dieser Forderung genügt offenbar nur das sophokleische Drama, dessen szenischer Ort (Palast Agamemnons) die zum Streitgespräch provozierende Nähe zwischen Mutter und Tochter notwendig mit sich bringt. Bei Euripides dagegen sind beide Partner räumlich voneinander getrennt, so daß es erst eines zusätzlichen Hilfsmotivs bedarf, um die beiden Agonisten zusammenzuführen. Es wäre seltsam, wenn ein Motiv dort zuerst entwickelt worden wäre, wo es nicht seinen natürlichen Ort hat, und erst nachher in einem Zusammenhang begegnete, aus dem es sich mit Selbstverständlichkeit ergibt. 2. Euripides verdoppelt das Agonmotiv, indem er Elektra vor der Abrechnung mit der Mutter zum Träger eines agonähnlichen ψόγος gegen den toten Aigisth macht. Eine solche gewagte Verdoppelung eines Motivs zu zwei hinsichtlich äußerer Situation und innerer Form nicht ganz analogen Szenen steht nie am Anfang einer Entwicklung, sondern setzt eine gewisse kanonische Festigkeit der eigentlichen Agonszene zwischen Mutter und Tochter voraus. Das bedeutet, daß Euripides im Blick auf Sophokles dichter. 3. Euripides’ Agonszene stellt die Konzentration von drei verschiedenen, über das ganze Drama hin verstreuten sophokleischen Szenen dar: a) Elektra führt mit der Mutter ein Streitgespräch (vgl. den soph. Agon). b) Elektra lockt ein Opfer in das Netz der Intrige (vgl. die Schlußszene der soph. Elektra, wo die Heldin Aigisth ins Haus lockt). c) Klytaimestra wird durch eine Trugmeldung getäuscht (vgl. die Pädagogenszene bei Sophokles, in der die Königin düpiert wird). Das Vereinte ist aber später als das Zerstreute. Häufung und Konzentration sind Zeichen des Späteren. 4. Die Agonszene markiert in beiden Elektradramen jeweils den ersten Auftrıtt Klytaimestras, der wohl ursprünglich als Eingang einer Szenenreihe gedacht war, wie es ja in der sophokleischen Darstellung auch der Fall ist. Euripides überbietet Sophokles aber deutlich dadurch, daß er das Motiv ın einer unerhörten Weise zuspitzt. Die Auftrittsszene Klytaimestras, d. h. die Agonszene, führt zugleich zur Ermordung der Königin. Die Auftrittsszene findet keine Fortsetzung in der Handlung. Diese Zuspitzung und zugleich Isolierung eines Motivs spricht für die Posteriorität des Euripides. 5. Im folgenden betrachten wir die beiden Streitgespräche unter dem Aspekt des strukturellen Stellenwertes. Dabei gehen wir von zwei Fragen aus, deren Beantwortung vielleicht eine Bestimmung der Richtung der Abhängigkeit garantiert. In welchem der beiden Stücke erscheint der Agon am natürlichen, seiner Funktion ursprünglich gemäßen dramatischen Ort? Wo steht der Agon im Einklang oder bzw. ım Widerspruch zu der dramatischen Situation und zu den „psychologischen“ Voraussetzungen der beteiligten Personen? Im Drama des Sophokles liegt eine Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter von Beginn an in der Luft. Die Atmosphäre einer permanenten Gegnerschaft, die schon vor dem eigentlichen Agon in dem Ringen um die Verwendung

II. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

181

der Opferspenden eine erste konkrete Gestalt angenommen hat, wird noch dadurch verschärft, daß die neuen Machthaber Elektra mit der Einkerkerung drohen und Klytaimestra durch ein unheilverkündendes 'Traumbild aufs höchste gereizt ist. Sind im sophokleischen Drama von der äußeren Situation wie der seelischen Disposition der Agonpartner her die besten Voraussetzungen für das Entstehen eines Streitgespräches gegeben, so gilt das für Euripides nicht in demselben Maße. Elektras Aufgabe, die Mutter in Sicherheit zu wiegen, um sie ohne Schwierigkeiten in die Falle locken zu können, läßt einen so plötzlichen, haßerfüllten, die Intrige gefährdenden Ausbruch bei der Ankunft der Königin, der dann zum Agon führt, nicht erwarten und sogar nicht einmal zu1%, Umgekehrt hat sich die Mutter zeitlich und seelisch bereits von ihrer Tat distanziert. Der Dichter, der im Gegensatz zu Sophokles deutlich bestrebt ist, der Königin einige menschlich warme Züge zu verleihen, bringt eine resignierende alte Frau auf die Bühne, die das Geschehen, das zum Gegenstand des Agons wird, bereits geistig hinter sich gelassen hat, während es bei Sophokles gerade im höchsten Grade aktuell ist und Klytaimestra die Mordtat immer wieder neu genießt (5. El. 277 ff.). Als sichtbarer Ausdruck der „agonfeindlichen“ Ausgangssituation im euripideishen Drama darf das Motiv gelten, das die Königin überhaupt zum Besuch ihrer Tochter bewogen hat. Die liebende Mutter ist mit der früheren Mörderin nicht mehr identisch. Klytaimestra muß zum Agon gleichsam gezwungen werden, der nicht mehr spontan aus der Situation herausbricht wie bei Sophokles. Um den Agon zu retten, bedarf es deshalb eines zusätzlichen Hilfsmotivs in Form einer zufällig hingeworfenen Bemerkung Elektras (Eur. El. 1008 ff.). Dürfen wir soweit gehen zu sagen, daß das Streitgespräch in der Elektra des Sophokles im Einklang mit der dramatischen Situation steht, das des euripideischen Stückes dagegen im Widerspruch dazu? Jedenfalls legt unsere Analyse entschieden die Priorität der sophokleischen Gestaltung nahe. Betrachten wir nun die Stellung beider Agonszenen in der Handlung. Bei Sophokles ist das Streitgespräch mitten in eine noch aufsteigende, unentschiedene Handlung hineingestellt. Die Heldin wie auch ihre Mutter wissen weder um die Anwesenheit Orests noch sind sie der Täuschung des Pädagogen verfallen. Elektra handelt in dem Bewußtsein, als im Augenblick allein verantwortlicher Träger der Racheidee diesem Gedanken mit den ihr allein zur Verfügung stehenden Mitteln des Wortes

zum

Durchbruch

zu verhelfen.

Es herrscht also ein Schwebezustand,

der zur Entscheidung drängt. Diese Entscheidung bringt der Agon. Elektra erringt mit Rechtsgründen einen totalen Triumph über ihre Feindin, der Konsequenzen hat. Die Mutter erneuert nachher die Drohung Aigisths (V. 626), Elektra dagegen wendet sich mit ihren Gedanken zu Orest (V. 601) und bereitet damit den Pädagogenauftritt vor, der nach dem überwältigenden Sieg Elektras ihre scheinbare Vernichtung bringt. Vergleichen wir die entsprechende Situation in der Euripidestragödie. Dort bleibt das Streitgespräch ohne Konsequenzen. Es herrscht kein Schwebezustand 126 Zumal,

wenn

man

bedenkt,

daß

Orest

bei der Ankunft

einbüßt u. damit die Aktion in Frage zu stellen droht.

der Mutter

seine Sicherheit

182

C. Das Problem der Priorität

mehr, der die lösende Wirkung

eines Agons

herausforderte, sondern

Gegenteil schon zu Beginn der Szene alles entschieden. Elektra weiß

es ist im

um

die

Anwesenheit Orests und um das sichere Gelingen der Rache, deren erster Abschnitt bereits erfolgreich vollzogen ist. Der Agamemnontochter fehlen diejenige Verzweiflung und Isoliertheit, die im Sophoklesdrama den Agon als eine verständliche und notwendige Reaktion der Heldin erscheinen ließen. Während bei Sophokles Elektra nach der Begegnung mit der Schwester ihrer Mutter mit dem Gefühl der absoluten Überlegenheit entgegentritt, hat sie bei Euripides auch schon faktisch gesiegt. Der Agon entscheidet nichts mehr. Er ist durch die Ereignisse bereits überholt. Euripides schiebt das Streitgespräch in den Handlungszug der Intrige, wo es zunächst einmal die dramatische Linie unterbricht, weil es des Agons nicht bedarf, um das Opfer in die Hütte zu locken. Der Agon kommt im Unterschied zur Szene bei Sophokles sichtlich unerwartet, da er von einer dramatischen Situation ausgeht, die ein Streitgespräch nicht fordert. Wo steht nun eine Szene ursprünglich? Dort, wo sie in der Luft liegt, oder dort, wo sie ganz überraschend hereinbricht? Auf Grund des veränderten strukturellen Stellenwertes erfahren nun alle bei Sophokles nur der Klärung der Rechtslage dienenden Motive eine außergewöhnliche Zuspitzung, ein deutliches Symptom für die Posteriorität des Euripides. Der Dichter zieht aus der Verschiebung des kompositionellen Ortes dramatischen Gewinn. In seinen Agon dringt die Amphibolie ein, die der sophokleischen Partie fremd ist. Elektra führt eine längere Auseinandersetzung mit der Mutter, obwohl sie weiß, daß Kiytaimestra in wenigen Augenblicken neben der Leiche Aigisths hingemordet werden wird. Alle ihre Äußerungen gewinnen einen grausamen, manchmal sadistischen Doppelsinn. Jeder Vorwurf, den Elektra ihrer Gegnerin entgegenschleudert, wirkt nicht mehr eindeutig, sondern zwielichtig gebrochen 127, Die Tochter rechnet nicht nur mit der Mutter ab, wie es bei Sophokles der Fall ist, sondern treibt noch ein kaltes Spiel mit ihrem Opfer. Der euripideische Agon bezeichnet nicht mehr den verzweifelten Versuch der Agamemnontochter, sich zu behaupten, sondern markiert schon den ersten Abschnitt der Mordtat selbst. Diese Doppeldeutigkeit der Situation, die auf der Ahnungslosigkeit des Opfers beruht, kontrastiert ironisch mit dem Verhältnis der äußeren und deshalb nur scheinbaren Machtfülle: Klytaimestra tritt Elektra, die ein Sklavendasein führt,

in dem glänzenden Pomp einer Königin gegenüber. Dieser Gegensatz von äußerer und innerer Situation wird von Euripides in großartiger Weise ausgebeutet. Wenn man als Axiom ansetzen darf, daß das ungebrochene, unverhüllte 127 Wie entschieden die Szene des Soph. in dieser Hinsicht überboten ist, mögen zwei Beispiele zeigen: Während die soph. El. ihre Bitte um strafloses Gehör (554 f.) notwendig stellen muß, um überhaupt der Apologie der Mutter mit ihrem eigenen Angriff begegnen zu können, stellt die gleiche Bitte im Munde der eur. EL. (1055 f.) ein heuchlerisches Mittel dar, um das Opfer in Sicherheit zu wiegen. Die gleiche grausame Doppeldeutigkeit liegt in der immer wiederholten Anrede μήτηρ, die El.an ihre Feindin richtet. Und schließlich erfährt die Drohung der soph. Agamemnontochter (582 f.) bei Eur. (1093 ff.) einen tiefgründigen Hintersinn. Was bei Soph. nur Ausdruck einer offenen Feindschaft war, wird nun zu einer unheilschwangeren Prophezeiung.

III. Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

183

und eindeutige Motiv gegenüber einem ironisch gebrochenen, verhüllten und schillernd mehrdeutigen die Priorität genießt, so wird man sich die sophokleische Agonszene zeitlich vor der euripideischen denken können. Euripides führt mit seiner Gestaltung dramentechnisch über Sophokles hinaus. 6. Besonders deutlich wird diese Tendenz in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Elektra und Klytaimestra, wo Euripides offensichtlich eklektisch verfährt. Während im Agon der Choephoren die Auseinandersetzung zwischen Orest und der Königin ganz unter dem Eindruck des problematischen Gegensatzes zwischen dem mordenden Sohn und der zum Opfer bestimmten Mutter steht, in der Elektra des Sophokles dagegen diese Perspektive ganz bewußt ausgeklammert wird und dort Elektra als harte Rächerin einer Verbrecherin gegenübertritt, verknüpft Euripides in seinem Agon diese beiden Aspekte zu einer einzigen Situation, die durch den Kontrasteffekt weit über die Darstellungen des Aischylos und des Sophokles hinausweist: Die euripideische Agamemnontochter tritt ohne jedes Mitgefühl als hinterhältige Môrderin einer zwar schuldigen, aber auch resignierenden und verstehenden Mutter entgegen. Wie so oft scheint der Dichter auch hier bemüht, gerade durch die Verschmelzung und die dadurch bedingte Verschiebung früherer dramatischer Möglichkeiten neuartige und provozierende Wirkungen zu erzielen. 7.Es gilt nun die dialektisch-argumentative Seite der beiden Streitgespräche für die Frage der relativen Chronologie auszuwerten. Selbst wenn man den verschiedenen Charakter beider Szenen in Rechnung stellt — bei Sophokles kämpfen zwei Prinzipien miteinander,

wobei das Gute dem

Bösen

den Schleier wegreißt,

damit es seine Wahrheit erweise; bei Euripides führen zwei gleichwertige Logoi einen unauflösbaren Kampf —, wirkt der euripideische Agon dialektisch entwickelter, da er eine größere, die sophokleische Skala der Beweise in auffälliger Weise ergänzende Argumentationsbasis aufweist und im einzelnen die logische Struktur mancher Argumente deutlich über Sophokles hinausführt. a) Der verschieden logische Aufbau der beiden Agone läßt eine Priorität des Euripides kaum zu. Bei Sophokles darf sich Klytaimestra nur auf die Opferung der Iphigenie berufen, um die Schuld Agamemnons und die Berechtigung ihrer Rache nachzuweisen. Elektra widerlegt diese Argumentation und überführt schließlich ihre Mutter mit dem Hinweis auf ihr ehebrecherisches Verhältnis zu Aigisth. In der euripideischen Fassung macht dagegen die Königin hinsichtlich der Tötung der Tochter ihrer Gegnerin erhebliche Zugeständnisse (1024-26), um schließlich sogar zu bekennen, nicht diese Opferung sei das eigentliche Motiv ihrer Tat gewesen, sondern vielmehr die Kassandraepisode, also der Ehebruch Agamemnons (Eur. El. 1032-34). Ihre eigene Untreue sei nur die Folge des Treubruchs des Gatten gewesen (1035 ff.). Die Argumentationsbasis ist also gegenüber Sophokles erheblich verbreitert und verlagert zugleih. Nun kann aber wohl Sophokles nicht auf Euripides gefolgt sein, wenn sich seine Klytaimestra bei ihrer Apologie, zudem in unzulänglicher Form, ausschließlich auf ein Argument stützt, das von der euripideischen Parallelfigur schon vorher als zur Rechtfertigung des Gattenmordes

nicht ausreichend

sophokleische

Elektra

abgewertet

ihre Mutter

worden

wäre,

zur Kapitulation

und

wenn

auf Grund

andererseits

die

einer Beweis-

184

C. Das Problem der Priorität

führung zwingen kann, gegen die bereits die Klytaimestra des Euripides im Voraus schwerwiegende Gegenargumente ins Feld geführt hätte. Eine derartige Schwächung der logischen Stringenz des sophokleischen Beweismaterials, welche der Ansatz einer Priorität des Euripides involvieren würde, erscheint unwahrscheinlich. Umgekehrt ergeben sich keine Schwierigkeiten. Die euripideische Klytaimestra gibt die Position, aus der sie bei Sophokles von der Tochter verdrängt worden war, freiwillig auf und setzt an diese Stelle nun eine wirkungsvolle Argumentation gegen den zweiten Vorwurf der sophokleischen Heldin, dem sie dort noch machtlos ausgeliefert war. Euripides geht also offensichtlich von der Fassung des Sophokles aus und baut sie aus. Eine gedankliche Entwicklung von der logischen Struktur des sophokleischen zu der des euripideischen Agons wird man nicht bestreiten können. b) Diese Annahme findet in der Tatsache eine Stütze, daß viele sophokleische Einzelargumente bei Euripides in entwickelterer und drastisch zugespitzter Form begegnen. Vor allem die Apologie der euripideischen Klytaimesträ scheint in manchen Punkten geradezu als eine verbesserte Doublette der analogen sophokleischen Partie und als eine Replik auf die Anklagerede der Elektra bei Sophokles entworfen zu sein. 1. Die Klytaimestra des Sophokles betrachtet Iphigenie nicht als Kind Agamemnons,

sondern

als ihr eigenes,

da sie allein die Schmerzen

der Geburt

auf

sich genommen habe. Deshalb habe der Feldherr keine Verfügungsgewalt über Iphigenie beanspruchen können (5. El. 530--36). Euripides bringt den gleichen Gedanken in einer grotesk übersteigerten Form, die den natürlichen Schluß der sophokleischen Königin überbietet: Tyndareos habe mit seiner Tochter Klytaimestra dem Agamemnon ebensowenig das Recht zu deren Tötung überlassen, wie Klytaimestra selbst mit der Geburt ihrer Tochter dem Gatten nicht die Erlaubnis gegeben habe, Iphigenie zu morden. 2. Die sophokleische Königin stützt sich auf das Argument, nicht ihr eigenes Kind, sondern das des Menelaos, dessentwegen die Aktion gegen Troia unternommen worden sei, habe billigerweise geopfert werden müssen. An die Stelle dieses naheliegenden Gedankens tritt bei Euripides ein Schluß, dessen Paradoxie wohl nach der plausiblen sophokleischen Argumentation zu denken ist. Klytaimestra meint nämlich, Agamemnon habe ebensowenig ihre Tochter für seinen Bruder Menelaos opfern dürfen, wie sie selbst im Falle eines Raubes des Menelaos, des Gatten ihrer Schwester, den Sohn Orest ım Interesse ihrer Schwester Helena

hätte töten dürfen (Eur. El. 1041-45). 3. Während die Argumentation der Mutter bei Sophokles aber in diesem Punkt durch den Hinweis der Tochter widerlegt wird, Agamemnon habe durch eine Beleidigung der Artemis eine persönliche Schuld auf sich geladen, die eine Opferung gerade der Iphigenie notwendig gemacht habe, geht die euripideische Klytaimestra einen Schritt weiter, indem sie sich einer Beweisführung bedient, die auch vor dem Angriff der sophokleischen Elektra hätte bestehen können, also gleichzeitig als nachträgliche Antwort auf die sophokleische Argumentation aufgefaßt werden darf. Klytaimestra verurteilt nämlich nicht mehr, daß ausgerechnet ihre Tochter

III, Das Verhältnis zwischen der sophokleischen und euripideischen Elektra

185

beim Zug gegen Troia geopfert wurde!2®, sondern greift vielmehr die Tatsache an, daß Iphigenie für ein sinnloses, um einer Ehebrecherin willen gestartetes Unternehmen ihr Leben habe lassen müssen. Die euripideische Klytaimestra lehnt die Aktion als solche von vorneherein ab. Euripides führt ein von Sophokles nicht voll ausgebildetes Argument konsequent weiter. 4. Die sophokleische Agamemnontochter wertet die Beziehung der Mutter zu Aigisth als Beweis für die Tatsache, daß nicht die Rache für Iphigenie das treibende Motiv ihrer Tat gewesen sei. Euripides kompliziert und verschärft auch hier wieder die Situation, indem seine Klytaimestra diese Verbindung zu Aigisth als notwendig für das Gelingen ihres Intrigenplanes hinstellt (Eur. El. 1046-48). 5. Elektra wirft im Agon des Sophokles ihrer Mutter vor, sie habe selbst für den Fall, daß Agamemnon Iphigenie zu Unrecht getötet hätte, kein Recht gehabt, Mord mit Mord zu vergelten (5. El. 577ff.). Auf diese Behauptung scheint uns eine Äußerung der euripideischen Klytaimestra eine direkte Antwort zu sein: Was hätte Agamemnon getan, wenn ich Orest geopfert hätte? Er hätte mich wahrscheinlich ebenfalls getötet (Eur. ΕἸ. 1041-45). 6. Die Elektra des Sophokles sieht in der illegitimen Beziehung der Mutter zu Aigisth den Beweis dafür, daß das wahre Motiv ihres Handelns nicht die Rache für Iphigenie gewesen sein könne. Euripides entwickelt das sophokleische Argument zu einer unwiderlegbaren Tatsache: Nachdem seine Klytaimestra ihre Verbindung mit dem neuen Machthaber als eine unumgängliche Koalition zur Realisierung des Rachegedankens um Iphigenies willen hingestellt hatte, läßt Euripides seine Elektra scharf entgegen: Klytaimestra habe wahrscheinlich bereits lange vor der Opferung der Tochter unerlaubte Beziehungen zu Aigisth unterhalten (Eur. El.

1069 ff. u. 1081).

7.Die Elektra des Sophokles wirft ihrer Gegnerin vor, die Mißhandlung der eigenen Kinder (Or. u. El.) habe mit der Vergeltung für den Iphigeniemord nichts zu tun und entlarve das vorgetäuschte Tatmotiv der Mutterliebe für Iphigenie als Lüge. Euripides setzt diesen natürlichen Gedankengang unter drastischer Zuspitzung in ein grotesk verzerrendes Bild um. Die Elektra des Euripides führt aus: Wenn das Gefühl der Mutterliebe Klytaimestra zum Mord an ihrem früheren Gatten Agamemnon getrieben habe, dann müsse bei konsequenter Durchführung dieses Gedankens die Mutter auch zustimmen, daß der jetzige zweite Gatte Aigisth, welcher Orest in die Verbannung getrieben und sie, Elektra, selbst schon zu ihren Lebzeiten gleichsam zum "Tode verurteilt habe, entweder selbst in die Verbannung gehe oder sogar durch den Tod seine Schuld büße. Faßt man diese auffälligen Parallelen zwischen beiden Streitgesprächen und besonders die kaum zu leugnende Variation und logische Weiterentwicklung sophokleischer Beweisgänge bei Euripides zusammen, so findet die Annahme, Euripides habe den Agon des sophokleischen Elektradramas vor Augen gehabt, eine nicht

128 Sie räumt sogar ein, daß die Tötung ihrer Tochter für das Leben einer großen Zahl von Menschen zu verzeihen gewesen sei (Eur. El. 1024—26).

186

C. Das Problem der Priorität

zu unterschätzende Stütze. Erst Euripides holt das Letzte an dialektischer Schärfe aus dem Streitgespräch heraus!®®, g) Die

Gesamtstruktur

beider

Dramen

Zum Abschluß unserer Interpretation dürfen wir es wagen, eine Synkrisis der Gesamtposition beider Elektradramen für die Lösung des Problems der relativen Chronologie fruchtbar zu machen. Wir gehen davon aus, daß Aischylos bzw. Sophokles jeweils eines der beiden Grundmotive der Orestessage, Intrigenhandlung bzw. Anagnorisis, „einseitig“ betont in den Mittelpunkt ihres Dramas rücken. Aischylos verfaßt ein Orestesdrama mit dem Problem der Rache im Zentrum, Sophokles eine Elektratragödie, deren dramatischer Höhepunkt die Erkennungsszene bildet. Wenn nun Euripides, obwohl er wie Sophokles ein Elektradrama schreibt, sowohl diese beiden Hauptaspekte vereinigt als auch jedes dieser beiden Kompositionselemente im Vergleich zu den beiden übrigen Tragikern unter Bruch mit dem Mythos erheblich umgestaltet (Erkennung durch eine dritte Person und Mitwirkung Elektras an der Ermordung der Mutter) und damit wie kein anderer der beiden übrigen Dichter in die stofflichen und strukturellen Voraussetzungen eingreift, so darf man wohl annehmen, daß das euripideische Werk als das komplizierteste und motivisch vielschichtigste die späteste der drei dramatischen Phasen des Mythos darstellt. Der Umweg von den Choephoren über Euripides’ Elektra zuSophokles’ Elektra wäre merkwürdig, da bei einersolchen „Entwicklung“ eine einheitliche, voll entfaltete Handlung unter Rückgriff auf Aischylos aus einer verkürzten, mit einer zweiten zusammengesetzten herauspräpariert worden wäre, die selbst wieder nur als geistreiche Variation der voll ausgebauten zu verstehen ist. Wenn die geradlinigste Entwicklung zugleich die plausibelste darstellt, sollte man nicht zur Erklärung das Entlegene bemühen.

1% Schließlich wirkt der euripideische Agon gegenüber der soph. Parallelszene, in der es im Grunde

zu

keinem

scharfen

logischen

Duell

kommt,

da

Elektra

ihre

Gegnerin

mit

geringem Aufwand leicht zu widerlegen vermag, reifer und fortgeschrittener, weil er die logische Position beider Partner ausbaut und damit die agonale Dialektik erst richtig zur Geltung bringt. Über mehrere Argumentationsstufen prallen zwei Logoi scharf aufeinander. Wie ausgeglichen die Positionen der Gegner sind und wie sehr der Kampf hin und her wogt, mag eine knappe, parallelisierende Darlegung der von beiden Seiten vorgebrachten wichtigsten Argumente zeigen. Dabei stößt der euripideische Agon in Bezirke vor, die Sophokles noch verschlossen waren:

1. Klyt.: Die Opferung der Iphigenie war sinnlos und ist zu verurteilen. 2. EL: Die Tötung des Kindes war gar nicht das eigentliche Tatmotiv. 3. Klyt.: Gibt dies zu und beruft sich auf die Untreue Agamemnons. 4. El.: Klyt. hat selbst vor Agamemnon die Treue gebrochen. 5.Klyt.: Die Frauen haben hinsichtlich ihres Liebeslebens das gleiche Recht wie die Männer.

D. Schlußbemerkung Die verschiedenen methodischen Voraussetzungen,

von

denen

aus der Versuch

unternommen wurde, dem umstrittenen Problem der relativen Chronologie beider Elektradramen beizukommen, haben zum gleichen Ergebnis geführt. Hatte zunächst die aus inneren Datierungskriterien gewonnene zeitliche Einordnung der beiden Stücke in das jeweilige Gesamtwerk des betreffenden Dichters unabhängig von dem Zeitverhältnis beider Tragödien deren enge zeitliche Nähe erwiesen und war dieses Ergebnis durch einen Vergleich des sophokleischen Dramas mit benachbarten euripideischen Stücken dahingehend präzisiert worden, daß die Wahrscheinlichkeit für eine Priorität des Euripides erheblich eingeschränkt werden mußte, so wurde im folgenden Hauptteil der Untersuchung die Priorität der Sophoklestragödie unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten zu erhärten versucht, die ihrerseits wieder eine Mehrzahl von Argumenten in sich faßten. Von der für beide jüngeren Tragiker als „thematische Quelle“ verbindlichen Fassung der Choephoren ausgehend, konnten wir zeigen, daß die natürliche Reihenfolge der drei dramatischen Phasen des Mythos unter dem Aspekt einer den allgemein gültigen Vorstellungen von einem künstlerischen Arbeitsprozeß entsprechenden konsequenten Entwicklung von Aischylos über Sophokles zu Euripides führen muß. Schließlich bestätigte eine Synkrisis der gegenüber Aischylos neuartigen motivischen und strukturellen Parallelen in beiden Elektren dieses Ergebnis aufs wünschenswerteste. Wie so Vieles in der Philologie entziehen sich auch Prioritätsfragen natürlich nicht dem Einfluß subjektiver Entscheidung. Der Zwang zum Bewerten liegt im Wesen derartiger Probleme, so daß an die Stelle einer mathematisch schlüssigen Argumentation, so unbefriedigend das auch sein mag, eine Aneinanderreihung von Wahrscheinlichkeitsbeweisen

treten muß.

Dessen sind wir uns bewußt, wenn

wir trotzdem behaupten, daß unsere Addition der vielen, von den verschiedensten Seiten zusammengetragenen Argumente, die sich zu einer einheitlichen Aussage zusammenfügen, über einen bloß approximativen Wert in die Nähe eines exakten Ergebnisses hinführt. Eine Umkehrung des von uns vertretenen Zeitverhältnisses ergibt für das Verständnis der einzelnen Dramen nicht geringe, ja oft unlösbare Schwierigkeiten. Das Paradoxe müßte an die Stelle des allzu Wahrscheinlichen treten, um

eine solche These

„stützen“

zu können.

Wir

stellen zum

Schluß nur

die Frage, warum, die Priorität des Euripides einmal vorausgesetzt, im sophokleischen Drama nicht in einem einzigen Fall ein Reflex der vielen drastischen Neuerungen des „Vorgängers“ zu greifen ist. Die Elektra des Sophokles geht dem gleichnamigen Euripidesdrama voraus. Da wir für das Aufführungsdatum der euripideischen Elektra die Dionysien des Jahres 413 als beinahe sicheren Termin annehmen dürfen, kann man unter Ein-

188

D. Schlußbemerkung

beziehung der früher angeführten Datierungshilfen (vgl. oben p. 86-112) die Elektratragödie des Sophokles ohne größere Bedenken auf etwa 416 bis 414 datieren, da man den zeitlichen Abstand zwischen beiden Elektren verständlicher-

weise möglichst knapp bemessen wird.

VERZEICHNIS

DER

BENUTZTEN

LITERATUR

ADams, 8. M.: Sophocles, the Playwright, Toronto 1957 D’Acosrinı, V.: La scena di riconoscimento nell Ifigenia in Tauride di Euripide., Riv. d.

Studi class. I (1952/53) 28—34

—: Sul rapporto cronologico fra l’Elettra sofoclea e l’Elettra euripidea, Riv. d. Studi class.

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Die Arbeit von J. M. Linrortn: Electra’s day in the tragedy of Sophocles, Berkeley and Los Angeles 1963, war mir leider nicht mehr zugänglich.

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2. The Choephori with critical notes, commentary, translation and a recension of the scholia by T. G. Tucker, Cambr. Univ. Press 1901 3. Aischylos’ Choephoroi met inleiding, critische noten, en commentaar uitgegeven door P. GROENEBOOM, Groningen 1949

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Zitiert

wird,

wenn

nicht

anders

vermerkt,

Murray (Aisch. und Eur.) und Pearson (Soph.).

nach

den

jeweiligen

Oxfordausgaben

von