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German Pages [352] Year 2018
Lebenswissenschaften im Dialog
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Gottfried Heinemann Rainer Timme (Hg.)
Aristoteles und die heutige Biologie Vergleichende Studien
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG
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Aristoteles gilt als Begründer einer wissenschaftlichen Biologie. Das heutige Interesse an der aristotelischen Biologie ist kein bloß wissenschaftshistorisches. Es gründet vor allem auch darin, dass die aristotelische Biologie Stellungnahmen zu einer Reihe weiterhin kontrovers diskutierter wissenschaftstheoretischer und metaphysischer Fragen enthält. Dazu gehört die von Aristoteles behauptete Unverzichtbarkeit funktionaler Erklärungen in der Biologie, das Programm eines nichtreduktiven Physikalismus, der Status von Arten und Klassifikationen usf. Der Band dokumentiert den fruchtbaren Dialog zwischen der Aristoteles-Forschung und der aktuellen Philosophie der Biologie.
Die Herausgeber: apl. Prof. Dr. Gottfried Heinemann (geb. 1949) lehrt Philosophie an der Universität Kassel. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Naturbegriff und zur antiken Philosophie. Dr. Rainer Timme (geb. 1977) lehrt Philosophie an der Universität Kassel und promovierte zum Vergleich von Mensch und Tier bei Ernst Tugendhat und Aristoteles.
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Gottfried Heinemann / Rainer Timme (Hg.)
Aristoteles und die heutige Biologie
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Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 17
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Gottfried Heinemann Rainer Timme (Hg.)
Aristoteles und die heutige Biologie Vergleichende Studien
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48692-4 E-ISBN: 978-3-495-81344-7 https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Inhalt
Gottfried Heinemann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. Entwicklungslehre und Epigenetik Martin F. Meyer Aristoteles über die menschliche Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Kirsten Schmidt Vom genetischen Programm zum Entwicklungssystem. Warum das Genom kein Kuchenrezept ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
II. Organismus Jochen Althoff Die aristotelischen Wurzeln des Organismusbegriffs . . . . . . . . . . 83 Kristian Köchy Organismen, Gene, Populationen. Von Aristoteles zur aktuellen Biophilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
III. Was sind Lebewesen? – Biologie und Physik Marianne Schark Was sind Lebewesen? Ein aristotelischer Bestimmungsansatz . . . 125 Martin Norwig Physikalismus und Biologie. Alte und neue Fragen . . . . . . . . . . . 143
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Inhalt
IV. Klassifikationen: Artbegriff und Ontologie Niko Strobach Aristoteles und die Konstanz der Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Ludger Jansen Aristoteles’ Kategorienschrift. Formal-ontologische Ressourcen für die moderne Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
V. Teleologie Gottfried Heinemann „Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“ (Phys. 198b8-9). Innere und äußere Finalität bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Georg Toepfer Typen der Teleologie des Organischen bei Aristoteles . . . . . . . . . 279 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der erwähnten Schriften des Aristoteles . . . . . . . . . Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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303 327 331 343 349
Gottfried Heinemann
Einleitung
Aristoteles und die heutige Biologie ist das Thema einer Arbeits tagung, die im Februar 2009 im Rahmen des Studium Generale der Universität Kassel ausgerichtet wurde. Die Beiträge zu den fünf Kolloquien dieser Tagung, vergleichende Studien zu den Themen • Entwicklungslehre und Epigenetik • Organismus • Was sind Lebewesen? – Biologie und Physik • Klassifikationen: Artbegriff und Ontologie • Teleologie werden hier in aktualisierter und erweiterter Fassung vorgelegt. Die Arbeiten an der Herausgabe des Bandes begannen verspätet, und sie haben sich länger als gewollt hingezogen. Dass der Band nun im Jubiläums-Jahr 2016 erscheint, ist ein ungeplanter Nebeneffekt. Aristoteles (384–322 v. Chr.) gilt als Begründer einer wissen schaftlichen Biologie.1 Mehr als ein Viertel der unter seinem Namen überlieferten Textmenge fällt in dieses Fach.2 Abgesehen von we nigen Texten, die sich als allgemeine Einführung in die Biologie verstehen lassen,3 sind dies Beiträge zur Zoologie, einschließlich Humanbiologie und mit Berührungspunkten zur Medizin. Ver gleichbare Beiträge zur Botanik sind von Theophrast, dem wenig jüngeren Mitarbeiter und Nachfolger des Aristoteles, überliefert.4
1 Zur „Entstehung der biologischen Wissenschaft bei Aristoteles“ jetzt Meyer 2015 (zit. S. 11). 2 In der Bekkerschen Ausgabe mit insges. 1462 Seiten: S. 402-789 (s. u. S. 327-329). Vgl. die einleitende Übersicht im Beitrag von Meyer in diesem Band; detaillierte Inhaltsübersicht bei Kullmann (2011, 107 ff.). 3 Vor allem: De an. II 1-4 und PA I. Titelabkürzungen zu Aristoteles s. u. S. 327329. – Transkription des Griechischen wie bei Horn/Rapp 2002, 6 – aber mit tiefgestelltem iota subscriptum. 4 Theophrast, De causis plantarum, Historia plantarum etc. Vgl. Wehrli/Wöhrle/ Zhmud 2004, 524 ff. – Zu erwähnen bleibt die ps.-aristotelische Abhandlung De plantis, nach Herzhoff (2016, 174) eine im 4. Jh. n. Chr. angefertigte „resü
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Als ein Schwerpunkt der Aristoteles-Forschung findet die Biologie seit den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wach sende Aufmerksamkeit. An einflussreichen älteren Publikationen seien hier der Kommentar von Balme (1972) zu den ersten Büchern von De partibus animalium und De generatione animalium und die frühe Monographie von Kullmann (1974), dann die von Gotthelf (1985), von Gotthelf und Lennox (1987) sowie von Kullmann und Föllinger (1997) herausgegebenen Sammelbände genannt. Anstelle einer zusammenfassenden Darstellung der neueren Forschung muss hier der Hinweis auf die resümierende Würdigung von Gotthelf (2012a), den SEP-Artikel von Lennox (2014) sowie die Monographie von Meyer (2015) genügen. Für die Aristoteles-Forschung handelt es sich vor allem dar um, die aristotelische Biologie im Kontext von Erster Philosophie, Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie (bei manchen Frage stellungen auch im Kontext der praktischen Philosophie) zu re konstruieren. Für die Philosophie der Biologie stellt sich überdies auch die Frage nach dem Verhältnis zur heutigen Biologie. Die Kolloquien der hier dokumentierten Arbeitstagung verbinden beide Perspektiven: Ihre jeweiligen Themen werden einerseits aus Sicht der Aristoteles-Forschung erörtert, andererseits aus Sicht der heuti gen Philosophie der Biologie und mit Blick auf die heutige Biologie. Wo dies nicht in getrennten Beiträgen geschieht, finden in den je weiligen Beiträgen beide Perspektiven Berücksichtigung. Die Unterscheidung zwischen Biologie und Philosophie der Bio logie findet sich so bei Aristoteles nicht. Sie wird an Aristoteles her angetragen. Anknüpfungspunkte hat sie nicht nur in der aristoteli schen Unterscheidung zwischen Prinzipienforschung (philosophia) und prinzipiengeleiteter Forschung (sowie dem entsprechenden Wis sen: epistêmê), sondern vor allem auch dort, wo allgemeine – pro grammatische, heuristische, methodologische, ontologische etc. – Überlegungen von der Darstellung und Erklärung des jeweiligen biologischen Sachverhalts abgesetzt sind. Tatsächlich handelt es sich in vielen Punkten aber darum, die aristotelische Philosophie der Biologie anhand der aristotelischen Biologie zu rekonstruieren.5
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mierende Paraphrase der echten Pflanzenschrift des Aristoteles“. Zur Botanik bei Aristoteles auch Wöhrle 2010 und Falcon 2015. Demgemäß betont Kullmann (2014, 265 ff.), biologische Schriften wie PA seien nicht als Philosophie zu lesen, sondern als Biologie.
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Einleitung
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Was Aristoteles als Wissenschaftler – und die aristotelische Bio logie als methodologisch ausgewiesene Wissenschaft – auszeichnet, ist nach Gotthelf „the systematic and explanatory character of his work“, d. h. insbesondere • „the range of the data he collected, and the care with which he collected it; • the systematic way he organized that range of data; • the way he explained the data he collected and organized; and • the way he organized his explanations into a comprehensive body of scientific understanding, which was empirically based and revisable as new knowledge was discovered.“6 Das schließt gewisse Zumutungen – für heutige Leser – nicht aus. Ein Paradebeispiel für die aristotelische Methodologie ist die funktionale Erklärung des Elefantenrüssels unter Rekurs auf eine vermeintlich amphibische Lebensweise:7 Der Elefantenrüssel ist nach Aristoteles Schnorchel und Greifwerkzeug und wird in dieser Doppelfunktion bei der Nahrungssuche am Grund von Gewässern gebraucht. Für die wissenschaftstheoretische Rekonstruktion ist die Unrichtigkeit dieser (und weiterer) Zuschreibungen, die bei Aristoteles als erste Prinzipien fungieren, irrelevant.8 Anzumerken bleibt daher zweierlei: Erstens ist die von Aristo teles ausgearbeitete und praktizierte Methodologie nicht dieje nige der heutigen Biologie und Naturwissenschaft. Die Diffe renzen sind lehrreich; auf sie ist hier noch zurückzukommen. Zweitens ist aus heutiger Sicht bei Aristoteles, trotz erstaunli cher Beobachtungsleistungen,9 mit irritierenden Irrtümern und Unrichtigkeiten zu rechnen. Diese lassen sich nicht einfach aus klammern: Wenn es Hinsichten gibt, unter denen der Vergleich von aristotelischer und heutiger Biologie für die Philosophie der Biologie lohnt, dann sollten andere und näherliegende Hinsichten, unter denen das nicht zu erwarten ist, nicht unerwähnt bleiben.
6 Gotthelf 2012a, 371. 7 Vgl. Gotthelf 1997 (= Gotthelf 2012, 186 ff.). Vgl. auch Kullmann 2007, 471 f. Die Stelle bei Aristoteles ist PA II 16, 658b33-659a36. 8 Vgl. Gotthelf 1997, 87 (= Gotthelf 2012, 188). 9 Vgl. Gotthelf 2012a, 375 ff.; Kullmann 2014, 78 ff. (Forschungsreisen), 147 ff. (Sektionen) und passim.
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Das Thema dieses Bandes, Aristoteles und die heutige Biologie, überspannt fast die ganze Geschichte der Biologie.10 Es könnte, da in der Wissenschaftsgeschichte kein Anfang auch schon der Abschluss ist,11 im Sinne einer Fortschrittsgeschichte verstanden werden, als wäre unter dem obigen Titel nur danach gefragt, wie weit sich die heutige Biologie von Aristoteles abgesetzt hat. Zur Illustration die ses Abstands kann man sich vergegenwärtigen, was in der Bio logie erst nach Aristoteles entdeckt (oder entwickelt) worden ist – beispielsweise: Anatomie und Funktion des Nervensystems (3. Jh. v. Chr.: Herophilos); Blutkreislauf (17. Jh.: Harvey u. a.); zellulärer Aufbau organischer Gewebe (seit 17. Jh.); Chemie der Verbrennungsvorgänge, Stoffwechselfunktion der Atmung (18. Jh.: Lavoisier u. a.); Artenwandel durch „Zusammenspiel von ... Tra dition [d. i. Vererbung], Variation und Selektion“ (19. Jh.: Darwin); Genetik, Biochemie der Vererbungsvorgänge (20. Jh.).12 Das sind keine bloßen Fehlanzeigen. Die genannten Punkte verweisen auf wichtige Themen der aristotelischen Biologie – und das heißt zugleich: Sie verweisen auf Erklärungen und Theorien, die nicht mehr ernsthaft erwägenswert sind. Das Hirn ist kein Kühlungsorgan und das Herz kein Sitz organischer Wärme (was immer das sei); das Herz ist auch nicht der Sitz von Wahrnehmung und willentlicher Bewegung.13 Organische Gewebe sind nicht ho mogen.14 Arten sind nicht konstant und in Abstammungsinseln isoliert.15 Der Beitrag der Geschlechter zur Vererbung und Fort pflanzung ist nicht gemäß der Unterscheidung von Material und Form differenziert;16 und so fort.
10 Zur Vorgeschichte der aristotelischen Biologie vgl. die Beiträge von Herzhoff, van der Eijk und Görgemanns in Wöhrle 1999; Meyer 2015, 23-233. Zur Botanik bes. auch Meyer 2013. 11 Vgl. die groteske Fehleinschätzung Kants, wonach die Logik seit Aristoteles „kei nen Schritt vorwärts hat thun können und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint“ (KrV, Vorrede B, VIII). 12 Zu Herophilos vgl. von Staden 2000, 88 ff. (mit weiteren Literaturangaben). Zu den übrigen Punkten die einschlägigen Stellen bei Toepfer 2011: I, 322 f.; III, 764 ff.; I, 448; I, 485 (zit.; Einschub von mir); II, 15 ff. und 54 ff. 13 Vgl. in diesem Band die Beiträge von Meyer (Abschnitt C) und Althoff (Ab schnitte 5 und 6). 14 Vgl. in diesem Band die Beiträge von Meyer (Abschnitt B) und Althoff (Ab schnitt 5). 15 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Strobach. 16 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Meyer (Abschnitt B).
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Ergiebiger als das Auflisten von Irrtümern ist das Studium der Argumente, mit denen Aristoteles seine (aus heutiger Sicht) obsoleten Thesen verteidigt. Zum Beispiel der Einwand gegen die – von Aristoteles als Selektionstheorie gedeutete – Zoogonie des Empedokles,17 sie lasse den Normalfall einer störungsfreien Ausbildung und Vererbung der spezifischen Merkmale von Lebe wesen unberücksichtigt und ignoriere somit die Regularität na türlichen Geschehens:18 Dem von Aristoteles erkannten Defizit, an dem die bei Empedokles vermutete Selektionstheorie scheitert, entspricht bei Darwin ein Desiderat, das erst durch die biochemisch fundierte Genetik des 20. Jahrhunderts eingelöst wird: die in Origin of Species getroffene und empirisch belegte, aber nicht weiter er klärte Unterscheidung zwischen bloßer Monstrosität und erblicher Variation.19 Hiermit entfällt nicht nur die Konstanz der Arten; sondern die für die aristotelische Biologie charakteristische Weise der wis senschaftlichen Erklärung wird in einigen Grundzügen obsolet. Zwei erläuternde Punkte müssen an dieser Stelle genügen: (i) Funktionale Erklärungen beziehen sich bei Aristoteles auf ein spezi fisches Optimum, das durch die jeweilige ousia, d. h. dadurch, was es heißt, ein Lebewesen der jeweiligen Art zu sein, festgelegt ist.20 Im Darwinismus kommt kein solches Optimum in Betracht; funktionale Erklärungen beziehen sich auf dasjenige Minimum an Fitness, das sich unter den gegebenen Konkurrenz- und Umweltbedingungen für den faktischen Fortbestand einer Variante als hinreichend er wiesen hat.21 (ii) Aufgabe einer wissenschaftlichen Erklärung ist es nach Aristoteles, die Notwendigkeit eines Faktums aufzuzeigen. Kausal verknüpfte Ereignisketten leisten dies nicht, denn das zu erklärende Faktum wird so immer nur auf andere Fakten zurück geführt, deren Notwendigkeit zu zeigen bleibt.22 Der Darwinismus verzichtet auf diesen starken Erklärungsanspruch: Ein Rekurs auf den faktischen Fortbestand einer Variante – auf den faktischen und
17 Zu Empedokles: Primavesi 2011, 536 ff. (Nr. 151 ff.), dazu ebd., 404 ff. 18 Aristoteles, Phys. II 8, 199b13-18; PA I 1, 640a19-26. 19 Vgl. Darwin 1859, 44 f. u. ö. 20 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Heinemann (Abschnitt 3.1.1). 21 Vgl. Darwin 1859, 201 f. 22 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Heinemann (Abschnitt 2.2.1).
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teilweise auch zufälligen Verlauf des Evolutionsgeschehens – ist bei biologischen Erklärungen nicht zu vermeiden.23 Das Beispiel zeigt, dass die aristotelische Biologie anders funk tioniert als die heutige Biologie. Aristotelische und heutige Bio logie beruhen auf unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Vorentscheidungen. Die heutige Biologie wird oft geradezu als eine „historische Wissenschaft“ charakterisiert.24 Nach aristotelischen Maßstäben ist eine solche Auffassung von Biologie ganz abwegig. Zu beachten ist dabei allerdings: Die der zitierten Charakte risierung zugrundeliegende Unterscheidung zwischen „harten“ und „historischen“ Wissenschaften wird im Hinblick auf die universelle und ausnahmslose Geltung der einschlägigen Naturgesetze getrof fen.25 Wie diese Auffassung von Naturgesetzen für das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis,26 so ist für die aristotelische Wissenschaft der Rekurs auf spezifische Naturen als Erklärungsprinzipien kons titutiv. „Natur“ ist nach Aristoteles stets „die Natur von etwas und in dem, wovon sie die Natur ist“;27 das heißt, sie ist spezifische, nicht universelle Natur. Aristotelische und moderne Biologie treffen sich daher in der Anerkennung eines Moments von unhintergehbarer Faktizität. In der heutigen Biologie ist das, wie gesagt, der faktische Verlauf der Evolution. Bei Aristoteles ist es die Existenz der Arten, d. h. eben derjenigen biologischen Arten, die es tatsächlich gibt.28 Zu der Frage, warum diese und keine anderen Arten existieren, hat Aristoteles keine wissenschaftliche Erklärung, sondern allenfalls Plausibilitätsbetrachtungen wie die Annahme einer kontinuierlichen scala naturae, die evtl. im Sinne eines – synchronen (!) – Prinzips
23 Einen Schritt weiter geht die „evolutionary contingency thesis“ von Beatty, wonach es keine biologischen Gesetze gibt, sondern „all distinctively biological generalizations describe evolutionarily contingent states of nature“ (Beatty 1995, 46). 24 Lefèvre 1984, 18, zustimmend zitiert von Toepfer (2011, I 506); zur Vorgeschichte dieser Auffassung in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Toepfer 2011, I 502 ff. (mit Hinweis auf Schaxel, von Bertalanffy und Delbrück). Ebenso – unter Be rufung auf Beatty (1995) – die SEP-Artikel von Brigandt und Love (2015, Ab schnitt 3.2) und von Cat (2014, Abschnitte 3.1 und 3.3). 25 Vgl. Cat 2014, Abschnitt 3.1. 26 In diesem Sinne Kants These von einer im Naturbegriff unterstellten „Notwen digkeit der Gesetze“ (MAdN, Vorrede, A vi, Akad. Ausg. IV 469). 27 Aristoteles, Phys. II 1, 192b34. 28 Gotthelf 2012a, 393, Cooper 1982/2004, 114 ff.; vgl. in diesem Band den Beitrag von Heinemann (Abschnitt 3.1.2).
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der Fülle interpretiert werden kann.29 Wissenschaftlich erklärbar ist die Existenz einer Art überhaupt nur insofern, als ihr Bestand durch ihre spezifische Natur gewährleistet ist. Nach heutigen Maßstäben wird durch die Auszeichnung spezifischer Naturen als unhintergeh bare Erklärungsprinzipien ein bloßer Erklärungsverzicht angezeigt. Warum also Aristoteles? – Die Beiträge dieses Bandes sollten für sich sprechen. Die an dieser Stelle vorausgeschickten, allgemei neren Bemerkungen betreffen die der biologischen Theoriebildung zugrundeliegende Ontologie. Sie können unter zwei Stichwörtern zusammengefasst werden. a) Irreduzibilität kausaler Eigenschaften; Humesche und aristo telische Supervenienz. Kausale Zusammenhänge werden von der frühen griechischen Wissenschaft und Medizin auf kausale Eigen schaften der beteiligten Dinge zurückgeführt.30 Aristoteles folgt dieser Tradition und gilt als ihr prominentester Vertreter. Hume ist wohl der einflussreichste Autor, der mit ihr bricht. Die von Hume re präsentierte Gegenposition hat David Lewis – unter dem Schlagwort „Humesche Supervenienz“ – zu der These zusammengefasst, „that all there is to the world is a vast mosaic of local matters of particular fact, [...] For short, we have an arrangement of qualities. And that is all. There is no difference without a difference in the arrangement of qualities. All else supervenes on that.“31 In seiner Auseinandersetzung mit Lewis weist John Heil da rauf hin, dass demnach auch alle kausalen Zusammenhänge – die von Hume bestrittene und von Lewis unter Humeschen Prämissen rekonstruierte Notwendigkeit der Naturgesetze und der kausalen Verknüpfung – über dem Humeschen Mosaik supervenieren: Was modale Wahrheiten wahr macht, sind demnach nicht die möglichen Welten, die Lewis seiner Analyse der Kausalität anhand der Wahrheitsbedingungen kontrafaktischer Konditionale zugrunde legt,32 sondern „the actual arrangement of qualities and the simila rity or dissimilarity of this arragement to alternative arrangements“.33 Demgegenüber rechnet Heil mit Substanzen (statt Raum-Zeit-Stel 29 Aristoteles, HA VII (VIII) 1, 588b4 ff.; dazu Green/Depew 2004, 14 f.; vgl. zum Prinzip der Fülle bei Aristoteles aber Jansen 2015, 162 ff. 30 Vgl. Lloyd 1979, Vegetti 1999. 31 Lewis 1986b, ix f. (mit „local“ = „point-sized“, ebd.). Vgl. auch die Erläuterungen bei Psillos (2002, 129 ff.) sowie – zum Begriff der Supervenienz – in diesem Band den Beitrag von Norwig (Abschnitt 5). 32 Lewis 1986b, 164 f. u. ö. 33 Heil 2015, 44 (Hervorhebung dort).
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len) als Trägern von Vermögen (statt inerter Qualitäten), die durch ihre Manifestationen (statt nur geometrisch) verknüpft sind.34 Wie Lewis von „Humescher“, so spricht Heil im Hinblick darauf, was mo dale Wahrheiten wahr macht, von „Aristotelischer Supervenienz“: Durch diese Formel wird die These angezeigt, dass (statt des Hume schen Mosaiks) ein als „distribution of powerful qualities“ beschrie benes, sich durch deren (evtl. auch spontane) Manifestationen ent faltendes Universum „provides all the truthmakers you need for the truths that have truthmakers“.35 Soweit die konkurrierenden Positionen, wie Heil sie be schreibt. – Heils Kritik an Lewis und die Plausibilität seines eigenen Programms sind hier nicht zu erörtern. Ob sich ein ontologischer Minimalismus Humescher Prägung durchhalten lässt, kann da hingestellt bleiben. Es genügt der Hinweis auf die mit dem Namen Aristoteles verbundene,36 in der analytischen Metaphysik kontro vers diskutierte Alternative: Die Philosophie der Biologie muss auf keinen ontologischen Minimalismus festgelegt sein. Die von Heil vertretene Alternative kann einerseits im Kon text der analytischen Metaphysik, andererseits im Kontext der Aristoteles-Forschung ausgearbeitet werden.37 Das zugrundeliegen de Begriffspaar Vermögen (power)/Manifestation verweist dann auf das Begriffspaar Vermögen (dynamis)/Aktivität (energeia, d. h. wörtlicher: InFunktion-Sein)
34 Heil 2015, 52 ff. – Ich schreibe „Vermögen“ für engl. „power“; zur engl./dt. Terminologie vgl. Vetter/Schmid 2014, 56. 35 Heil 2015, 54 (Hervorhebung dort). – In einer Fußnote erklärt Heil, dass er den Terminus ‚Supervenienz‘ hier nur von Lewis übernimmt. Worauf es ihm ankommt, sei „truthmaking“, d. i. „a […] relation between a representation [...], and some way the universe is, the way that makes the representation true“ (ebd., Anm. 10). 36 Aristoteles und Hume sind bei Heil nur Namensgeber für die alternativen Posi tionen, die er erörtert; die von ihm vorgeschlagene Alternative „is Aristotelian in the way Lewis’s is Humean“ (Heil 2015, 42 Anm. 2). Ebenso in den meisten Beiträgen zum „Neuen Aristotelismus“ – so der Untertitel bei Groff/Greco 2013; vgl. Groff 2013, 1 f. – in der analytischen Metaphysik. 37 Repräsentative Publikationen sind einerseits, neben zahlreichen Monographien, u. a. Tahko 2012, Marmodoro 2013, Groff/Greco 2013, Vetter/Schmid 2014; an dererseits Marmodoro 2014 (bes. ch. 1) und Jansen 2015 (bes. Anhang A).
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bei Aristoteles. Aber es wird nicht durch dieses erklärt; eher ergibt sich aus der Entsprechung eine Anregung und Aufgabenstellung für die Aristoteles-Forschung. Die Plausibilität des Rückgriffs auf Aristoteles hängt auch keines wegs davon ab, ob nach Aristoteles, wie nach der „Aristotelischen“ Auffassung Heils,38 alle Eigenschaften „powerful qualities“ sind – d. h. ob Aristoteles alle Eigenschaften als „Vermögen“ (dynameis) beschreibt und von der entsprechenden „Aktivität“ (oder „In-Funk tion-Sein“: energeia) unterscheidet.39 Die Beispiele, die dies stützen könnten, liegen zentral genug. Tatsächlich beschreibt Aristoteles • Sinnesqualitäten als „Vermögen“ der wahrnehmbaren Dinge, die mit entsprechenden „Vermögen“ von Sinnesorganen inter agieren;40 und er charakterisiert • fundamentale Entitäten – Lebewesen und „einfache Körper“ (die sog. Elemente) – durch spezifische „Vermögen“, die insgesamt deren „Wesen“ (ousia) und „Natur“ (physis) ausmachen.41 Die Auskunft darüber, was es heißt, ein Gegenstand der jeweiligen Art zu sein – d. i. der logos tou ti ên einai, auf den nach Aristoteles jede wissenschaftliche Erklärung rekurriert – fällt demgemäß • bei den „einfachen Körpern“ (den sog. Elementen: Feuer, Was ser, Luft, Erde) mit deren Beschreibung als Kombinationen von Elementarqualitäten (warm, kalt, trocken, feucht)42 und • bei Lebewesen mit der Angabe ihrer spezifischen – nach Le bensfunktionen differenzierten und insgesamt das Lebendigsein
38 Vgl. Heil 2015, 53. 39 So Marmodoro 2014, 2. – Über (pan)dispositionalistische Positionen in der analytischen Metaphysik vgl. Marmodoro 2013, 1 f. sowie Choi/Fara 2016, Ab schnitt 3 (mit weiteren Literaturangaben). 40 Vgl. bes. Aristoteles, De an. III 2, 426a15-26; dazu Marmodoro 2014, 97 f. 41 Die aristotelische Unterscheidung zwischen dynamis als „Bewegungsursprung (archê kinêseôs) in einem anderen [aktive dynamis] oder qua anderes [passive dynamis]“ und physis als „Bewegungsursprung in demselben“ (Met. V 12, 1019a15 ff.) kann hier unberücksichtigt bleiben. Von dynamis ist hier in einem sehr weiten Sinn die Rede, der nicht nur jede archê kinêseôs (vgl. Met. IX 8, 1049b5-10, dazu Jansen 2015, 303 f.), sondern insbesondere auch die (teilweise gar nicht als Bewegungsursprung fungierenden) dynameis der Seele (De an. II 3, 414a29 und passim, dazu Corcilius 2015, 38 ff.) umfasst. 42 Aristoteles, GC II 3 f.; dazu Marmodoro 2014, 6 ff.
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des Leibes ausmachenden – Befähigung zu einer charakteristi schen Lebensweise (bios)43 zusammen. Eben dieses „Lebendigsein“ (zên) ist nach Aristoteles „für die Lebewesen das Sein“.44 b) Irreduzibilität komplexer Ganzheiten: Organismus und biologische Funktion. Lebewesen werden von Aristoteles einerseits als Träger komplexer, insgesamt ihr „Wesen“ und ihre „Natur“ ausma chender kausaler Eigenschaften und demgemäß • als komplexe Ganzheiten, und andererseits • als fundamentale Entitäten beschrieben. Für die Biologie ergibt sich somit ein ontologischer und wissenschaftstheoretischer Primat des Ganzen vor seinen Teilen: Wie die zeitlichen Teile auf das Ganze einer Entwicklung, so sind räumliche und funktionale Teile als notwendige Bedingungen auf das Ganze des lebendigen Leibes bezogen.45
43 In diesem Sinne die aristotelische Definition von Seele als definitionsgemäße Weise des Lebendigseins eines hierfür geeigneten natürlichen Körpers (De an. II 1, 412a19 ff.). Zum Rekurs auf eine spezifische Lebensweise (z. B. das durch einen „Equine Logos“ spezifizierte „equine life“) vgl. Kosman 1987, 375 ff.; zu der nach aristotelischem Wissenschaftsverständnis geforderten Integration der hierin übergriffenen Aktivitäten und Lebensfunktionen zu einer wohldefinierten Einheit dann Charles 2000 (ch. 12), Lennox 2010a, Lennox 2010b, Gelber 2015. 44 Aristoteles, De an. II 4, 415b13; vgl. in diesem Band den Beitrag von Schark (bes. Abschnitt III). – „Lebewesen“: zônta (einschl. Pflanzen), im Unterschied zu zôia, d. h. „Tiere“. Diese Übersetzung führt zu der Härte, dass der Mensch zu den Tieren zählt – einer vermeintlichen Härte, da eben dies nicht nur dem griechischen Sprachgebrauch, sondern seit Aristoteles auch der biologischen Systematik entspricht. Der Anstoß wird vermieden, wenn man – wie z. B. die Übersetzungen von Seidl (1995) zu De an. und von Kullmann (2007) zu PA – nicht „Tier“, sondern „Lebewesen“ für zôion schreibt. So unterscheidet Kullmann (2007, 133 f.) zwischen „lebenden (Wesen)“ (zônta) und „Lebewesen“ (zôia) – mit der neuen Härte, demgemäß von „Dingen ..., die zwar leben, aber keine Lebewesen sind“, sprechen zu müssen (2007, 97; Übersetzung zu PA IV 5, 681a13). Seidl verwendet an der oben zitierten Stelle „Lebewesen“ sowohl für zônta (415b13) als auch für zôia (415b17), obgleich die Pflanzen in zônta klarerweise eingeschlossen und von zôia ausdrücklich ausgeschlossen sind (vgl. 415b19-20). In diesem Band wird in der Regel „Lebewesen“ als Oberbegriff zu „Tier“ und „Pflanze“ sowie „Tier“ unter Einschluss des Menschen verwendet (anders evtl. bei Zitaten aus Übersetzungen); im Beitrag von Althoff sind ausdrücklich beide Versionen berücksichtigt. 45 Vgl. die detaillierte Analyse biologischer Erklärungen bei Gotthelf (1997).
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Die Ausführung dieses Programms ist hier nicht vorab zu erör tern. Es liegt – mit jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – den Beiträgen dieses Bandes zugrunde: Kolloquium 1: Entwicklungslehre und Epigenetik. Nach einer einleitenden Übersicht über die Themenbereiche und Fragestel lungen der aristotelischen Biologie, und dann insbesondere der Fortpflanzungs- und Entwicklungsbiologie, wird im Beitrag von Martin F. Meyer beispielhaft die aristotelische Darstellung und Erklärung der menschlichen Ontogenese analysiert. Entscheidend für den aristotelischen Erklärungsansatz ist nach Meyer eine teleolo gische Doppelstruktur: Einerseits ist die Entwicklung des Lebewesens durch die im väterlichen Samen vorgegebene Form auf die volle Ausbildung der Artmerkmale (das Erreichen der „Entelechie“) ausgerichtet; andererseits erklären sich diese Merkmale aus den Erfordernissen der spezifischen Lebensfunktionen und letztlich vor allem des Reproduktionsvermögens, durch das ein Individuum am dauernden Bestand der Art partizipiert. – Die Verbindung zu Aristoteles ergibt sich im Beitrag von Kirsten Schmidt zunächst durch die alte Kontroverse zwischen präformationistischen und epigenetischen Erklärungen der Ontogenese: Diese Kontroverse scheint mit der Entdeckung des sog. genetischen Codes erledigt zu sein. Denn durch ihn scheinen, wie durch die spezifische Form bei Aristoteles, die ontogenetisch auszubildenden Artmerkmale vor gegeben zu sein; die Ontogenese könnte demnach epigenetisch als vollständige Neubildung nach einem in der DNA kodierten „Programm“ oder „Kochrezept“ vorgestellt werden. Wegen der in der neueren Forschung herausgestellten, von Schmidt auf den Ebenen von Proteinsynthese, genetischem Code, Genexpression und Individualentwicklung belegten Kontextabhängigkeit der DNAFunktionen ist diese Vorstellung aber unhaltbar. Kolloquium 2: Organismus. In seinen ersten Abschnitten ist der Beitrag von Althoff eine wort- und begriffsgeschichtliche Studie, von den vor-aristotelischen Verwendungsfällen von organon für „Musikinstrument“ oder „Werkzeug“ und den ersten, spätantiken und mittelalterlichen Verwendungsfällen von organismos (bzw. lat. organismus) bis zum neuzeitlichen, auf Leibniz und Stahl zurückgehenden Verständnis von „Organismus“ als „System“, das sich von einem bloßen „Mechanismus“ durch die biologische Funktionalität unterscheidet. Eben dies entspricht nach Althoff der aristotelischen Auffassung vom Lebewesen als „lebendi gem Körper“, dessen Lebendigkeit, wie im anschließenden Hauptteil https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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des Beitrags ausführlich entwickelt, eben darin liegt, „Werkzeug“ (organon) der – nach Ernährung, Fortbewegung usf. differenzier ten – Seelenfunktionen zu sein. Insofern ist nach Althoff bereits bei Aristoteles ein Begriff von „Organismus“ als komplexe funk tionale Einheit zu unterstellen.46 – Köchy nimmt das Thema bei Kant auf, der mit Aristoteles darin übereinkommt, die fundamenta le Ebene biologischer Erklärungen beim Organismus aufzusuchen. Demgegenüber verlagert sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts das Gewicht einerseits vom Organismus auf seine „elementaren Strukturen“ und andererseits vom Individuum auf die Art; als „Einheit“ der Evolution gilt einerseits das Gen und andererseits die Population. Erst durch die neuere „Synthese“ von Evolutions- und Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) wird die Erklärung adaptiven Wandels auf den – mit Aristoteles als funktionale Einheit verstan denen – Organismus bezogen. Kolloquium 3: Was sind Lebewesen? – Biologie und Physik. Der Beitrag von Schark expliziert den aristotelischen Begriff des Lebewesens als ontologische Kategorie: Lebewesen sind dauernde Gegenstände (Kontinuanten), deren Persistenz als „organisier te“ und „im Materialfluss befindliche“ Körper auf deren eigene „Selbsterhaltungsfähigkeit durch Selbstregeneration“ (bei Aristo teles: die „Nährseele“, d. h. das allen Lebensfunktionen zugrunde liegende vegetative Vermögen) zurückführbar ist. Schark entwickelt diese Auffassung unter konsequenter Bezugnahme auf den heuti gen Stand der Biologie, dabei aber dicht am aristotelischen Text; die aristotelische Argumentation erweist sich insofern als unüberholt. – Während Schark geradezu beiläufig auf die Supervenienz biologischer Vermögen über der Beschaffenheit eines „lebensfähigen Körpers“ hinweisen kann, wird im Beitrag von Norwig die Supervenienz der (biologischen) Makroeigenschaften eines Systems über den (physika lischen) Mikroeigenschaften seiner elementaren Komponenten zur Schlüsselannahme für die Bestimmung des Verhältnisses von Biologie und Physik. Norwig versteht Supervenienz mit Kim als bloße (nichtsymmetrische) Kovariation, ohne Vorentscheidung über eine kausale oder ontologische Zurückführung supervenienter Eigenschaften auf die sie determinierenden Basiseigenschaften, und plädiert demge mäß für einen lediglich „methodologischen Reduktionismus in der Biologie“. Die in der Fachliteratur umstrittene Frage, ob Aristoteles 46 Zu der von Althoff diskutierten Gegenposition Toepfers vgl. auch dessen Beitrag in diesem Band.
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das Verhältnis von Seele und Leib als Supervenienz beschreibt, wird von Norwig nach ausführlicher Erörterung offengelassen. Kolloquium 4: Formale Modelle und Ontologien. Die Vergleich barkeit wissenschaftlicher Theorien unterschiedlicher Epochen er gibt sich nicht von selbst; sie muss eigens hergestellt werden. Im Beitrag von Strobach geschieht dies, exemplarisch für die Re lationen ‚Vorfahre‘ und ‚artgleich‘, durch Formalisierung einschlä giger Postulate im Prädikatenkalkül erster Stufe.47 Dabei zei gen sich Übereinstimmungen und Abweichungen; aristotelische und heutige Biologie sind im Hinblick auf ihre Annahmen über Abstammung und Artgleichheit durchaus nicht inkommensurabel, sondern inkompatibel. – Strobachs Formalisierung vermeidet den Anachronismus; in seinem Beitrag wird nur (was stets unvermeid bar ist) aus heutiger Perspektive gefragt. In Jansens „unzeitgemä ßer Rezension“ der aristotelischen Kategorienschrift als Beitrag zur angewandten Ontologie, unter besonderer Berücksichtigung bio medizinischer Datenverwaltung, wird der Anachronismus schein bar direkt gesucht. Die Kategorienschrift ist nach Jansen eine Studie über die Homonymität von „Sein“, d. h. über die unterschiedlichen, durch keinen gemeinsamen Oberbegriff gedeckten Bedeutungen, in denen etwas als „Seiendes“ charakterisiert sein kann. Hiermit, wie mit den leitenden Fragen zur Erörterung einzelner Kategorien, bleibt sie ein Anknüpfungspunkt nicht nur für grundsätzliche onto logische Überlegungen, sondern auch für die spezielleren Aufgaben der heutigen angewandten Ontologie. Kolloquium 5: Teleologie. Der Beitrag von Heinemann diskutiert das aristotelische „Wozu“ (hou heneka) in seinen zwei Bedeutungen: als „Wozu-von“ und „Wozu-für“. Diesen Bedeutungen entsprechen die biologischen Begriffe der Funktion bzw. der Passung. Dabei wird Passung, d. h. Angepasstsein an die Nutzung gegebener Ressourcen, von Aristoteles auf die spezifische Natur der jeweils nutznießen den Art zurückgeführt. Die Frage nach einer globalen Teleologie (oder nach einer globalen, die Passungsverhältnisse zwischen den Arten und zwischen Art und Umwelt garantierenden Natur) stellt sich nach Heinemanns Interpretation der einschlägigen Stellen für Aristoteles nicht. – Toepfers Unterscheidung von vier Typen der Teleologie berücksichtigt insbesondere auch die selektionstheo retische Fundierung biologischer Funktionszuschreibungen. Sein abschließender Beitrag diskutiert aber vor allem zwei Modelle: die 47 Von höherer Stufe ist freilich Strobachs Endlichkeitspostulat (8).
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hierarchische Ausrichtung des lebenden Körpers auf die Seele (und der Ontogenese auf das Erwachsenenstadium) bei Aristoteles und die wechselseitige Hervorbringung der Teile in dem von Kant be schriebenen Organisationsmodell der Teleologie. Der Begriff des Organismus ist nach Toepfer an das letztere Modell gebunden;48 demgemäß argumentiert Toepfer, dass dieser Begriff bei Aristoteles fehlt. *** Die Herausgeber danken Verlag und Autor*innen für ihre über Gebühr strapazierte Geduld, Herrn Andreas Harbusch, Frau Anna Klassen und Frau Susann Rüß für die Unterstützung bei Redaktion und Korrekturen sowie den Teilnehmer*innen des gemeinsamen Seminars im Sommersemester 2015 für die gründliche Diskussion der Beiträge.
48 Anders Althoff (s. o.). Vgl. dann auch die unterschiedlichen Gewichtungen der sympatheia in den Beiträgen von Althoff und Toepfer sowie der Selbsterhaltung in den Beiträgen von Schark und Toepfer. Die Diskussion könnte hier weiter gehen. Dabei steht mir als Herausgeber keine Einmischung zu – aber vielleicht doch der Hinweis, dass Scharks Argumentation durch ihre von Toepfer (und auch in meinem eigenen Beitrag) abgelehnte Interpretation von organikos (De an. II 1, 412a28) als „in Organe gegliedert“ zwar eingängiger wird, aber davon durchaus nicht abhängig ist.
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Martin F. Meyer
Aristoteles über die menschliche Ontogenese
Der folgende Beitrag handelt von Aristoteles’ Überlegungen zur somatisch-biologischen Entwicklung des Menschen. Diese Überlegungen bilden keine in sich geschlossene Theorie. Sie fallen vielmehr auf das Gebiet der von Aristoteles gelegentlich als ‚Genetik‘ (peri genêseôs) qualifizierten Forschung. Mit ‚Genetik‘ meint Aristoteles dem Sprachgebrauch seiner Zeit folgend weniger eine ‚Vererbungslehre‘ im modernen Sinne als Gedanken zu Geburt, Entwicklung und Reproduktion, die aber auch Fragen der Vererbung tangieren.1 Dieser Thematik kommt in der aristotelischen Biologie mit insg. acht Büchern eine herausragende Stellung zu. Dabei geht es in Historia animalium V-VII eher um faktische Feststellungen; in den fünf Büchern von De generatione animalium um die Erklärung dieser Sachverhalte. Zu Beginn von De generatione animalium sagt Aristoteles, nachdem er früher die anderen Teile der Tiere behandelt habe, und diese in Hinsicht auf Stoff-, Form- und Finalursache erklärt worden seien, konzentriere sich die folgende Untersuchung nun auf die früher nicht behandelten Geschlechtsorgane und die causa efficiens.2 Diese Bemerkungen informieren (i) über die Stellung von De generatione animalium im Gesamtkontext der aristotelischen Biologie und (ii) über das in diesen Büchern anvisierte wissenschaftliche Unternehmen: De generatione animalium schließt sich an schon vorliegende Explanationen an und soll diese vervollständigen. Dass bestimmte Körperteile „früher“ nicht behandelt wurden, ist ein Indiz dafür, dass diese Überlegungen von Anfang an einen sachlichen Zusammenhang bilden sollten: Entsprechende Fragen wurden in den früheren Werken bewusst ausgespart, um sie später, an passenderer Stelle, eingehend und gründlich zu behandeln. Wie an vielen anderen Stellen im Corpus zeigt sich auch hier, dass die aristoteli1 2
Vgl. Kullmann 1979. GA I 1, 715a1-18.
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sche Biologie einem systematischen Plan folgt. Um die Methodik und die Bedeutung der ontogenetischen Erklärungen zu verstehen, ist es sinnvoll, auf diese Programmatik zumindest ansatzweise etwas näher einzugehen. Ein Viertel aller im Corpus Aristotelicum tradierten Texte handelt von biologischen (v. a. von zoologischen) Themen. Aristoteles hat sich mit keiner Wissenschaft so ausgiebig beschäftigt wie mit der Biologie. Er begann mit diesen Forschungen kurz nach Platons Tod (347 v. Chr.), als er vermutlich aus politischen Gründen Athen verlassen musste. In den sog. ‚Reisejahren‘ entstanden v. a. auf Lesbos und in der Troas die Historia animalium und der Anatomische Atlas (ein voluminöses Skizzenwerk anatomischer Zeichnungen, das komplett verloren ist).3 Bei den 10 Büchern der Historia animalium handelt es sich um eine deskriptive Zoologie, in der Aristoteles seine Beobachtungen zur Tierwelt vorlegt. Die eigentliche Erklärung dieser Sachverhalte verteilt sich dann auf spätere Schriften. Diese Texte wurden (jedenfalls der Hauptsache nach) während des zweiten Athenaufenthaltes (335–323 v. Chr.) im Rahmen seines naturwissenschaftlichen Curriculums als Vorlesungen vorgetragen. Bereits in der Historia animalium wird deutlich, dass sich das biologische Interesse des Aristoteles auf vier große Forschungsfelder verteilt. Es sind dies: (1) Die vergleichende Anatomie als zoologische Grundlagenwissenschaft. In Historia animalium I-IV wird dargestellt, welche Tiere welche Körperteile haben, wo diese Teile lokalisiert sind und wie sich die Tiere anatomisch unterscheiden. Diese Erörterungen betreffen die materiale Zusammensetzung der Tiere. Sie sind im Sinne der sog. Vier-Ursachenlehre als Erklärungen zur causa materialis aufzufassen. In De partibus animalium II-IV erklärt Aristoteles, welche Funktionen diese Teile haben. Diese Erklärungen folgen funktionalen Mustern (‚Körperteil X hat den Zweck Y‘). Sie betreffen v. a. die causa finalis. Grundlegend für alle weiteren Überlegungen (insb. für den vorliegenden Beitrag) ist die der Sache nach auf Anaxagoras zurückgehende Unterscheidung von gleichartigen und ungleichartigen Körperteilen:4 3 Vgl. Stückelberger 1998, 287-307 (bes. 287-293). Auf den Anatomischen Atlas verweist Aristoteles in seinen biologischen Schriften an 26 Stellen. Nach dem Schriftenverzeichnis bei Diogenes Laertius (V 22-28) hatte der Atlas (Nr. 103) acht Bücher. 4 Siehe unten, Abschnitt A.
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Zu den Homoiomeren zählen Blut, Knochen, Haut, Fett oder Talg. Zu den Anhomoiomeren zählen Organe wie die Augen, die Ohren, Nase, Rüssel, Hände, Flügel, Flossen usw. (2) Die Sinnesphysiologie ist (da sich bei Aristoteles Tiere und Pflanzen durch das Kriterium der Aisthesis unterscheiden) eine zoologische Disziplin. Sie nimmt in der Historia animalium nur wenig Raum ein. Hierzu liegen v. a. in De anima II-III und einigen Schriften der sog. Parva naturalia wichtige Überlegungen vor. Für unseren Kontext spielen diese Ausführungen eine nur untergeordnete Rolle. (3) Die Genetik behandelt Fragen der Fortpflanzung und der Ontogenese. Der Umfang der entsprechenden Texte (Historia animalium V-VII und De generatione animalium I-V) belegt, dass hier der Schwerpunkt des aristotelischen Forschungsinteresses lag. Dazu gleich ausführlich. (4) Die Ethologie als Lehre von Verhalten, Charakter und Lebensweisen der Tiere. Hierzu sind außerhalb von Historia animalium VIII & IX keine weiteren Texte überliefert. In einem gewissen Sinne lässt sich die praktische Philosophie des Aristoteles als eine auf den Menschen zugeschnittene Verlängerung dieses Themas deuten. Aristoteles grenzt die praktische Philosophie klar von der Naturwissenschaft ab: Die Biologie handelt vom ‚Leben‘ (zên), die praktische Philosophie vom ‚gut-Leben‘ (eu zên). Die Frage des guten Lebens betrifft exklusiv den Menschen.5 Nur der Mensch ist glücksfähig und kann entscheiden, wie er leben will. Aristoteles hat diesen vier biologischen Disziplinen zwei allgemeine Abhandlungen vorgeschaltet. De partibus animalium I ist eine generelle Einführung in das Studium der Biologie. Die Schrift stellt die Eckpfeiler der naturwissenschaftlichen Bildung (paideia) vor, diskutiert die biologische Methode (etwa die Frage, ob jede Spezies einzeln behandelt werden soll) und verteidigt das Fach gegen zeitgenössische Vorurteile. Hier ist der Hinweis nötig, dass es vor Aristoteles keine eigenständige biologische Forschung gab und diese neue Wissenschaft (epistêmê) einer solchen apologetischen Rechtfertigung bedurfte. So gesehen lässt sich De partibus animalium I als eine Gründungsurkunde der Biologie lesen. Die zweite grundlegende Schrift ist De anima. In De anima I-II 5 untersucht Aristoteles, was ‚Leben‘ ist und wie sich die Phänomene der belebten Welt erklären 5
Dazu auch Lennox 1999.
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lassen. In seiner Biologie hat De anima den Status einer fundamentalen Prinzipienforschung. Aristoteles begreift die Seele (psychê) in De anima II als Prinzip und Ursache des Lebens. Wegweisend ist der Begriff der Lebensfunktionen (dynameis tês psychês): Da sich Leben daran zeigt, ob ein natürliches (materiell-körperliches) Ding Ernährung, Wachstum, Vergehen (Altern bzw. Verwelken), Wahrnehmung, Fortbewegung oder Geist hat6 (und sich die Lebewesen in diesen Hinsichten unterscheiden), richtet sich die biologische Explanation primär auf die Erklärung dieser Lebensfunktionen. Für unseren Kontext ist wichtig, dass Aristoteles diese Erklärungen (i) an der sog. ‚Entelechie‘ (entelecheia) orientiert (d. h. an dem adulten, voll ‚funktionsfähigen‘ Lebewesen) und er (ii) die genetische Funktion als „natürlichste“ Lebensfunktion bezeichnet. Lebewesen sind artspezifisch so organisiert, dass das ihnen immanente telos auf Fortpflanzung gerichtet ist: Es ist ihr natürliches Ziel, artgleiche Individuen zu erzeugen. In De anima II 4, 416b25 nennt Aristoteles das Reproduktionsvermögen die „primäre genetische Funktion“ (prôtê psychê gennêtikê). Reproduktion bedeutet Teilhabe an den ewigen Spezies. Die Artform bestimmt ein Lebewesen dazu, ein Wesen etwa der Spezies Panthera leo zu sein und alle für Panthera leo typischen Eigenschaften zu besitzen. Erst im adulten Zustand erreichen Lebewesen dieses telos. In Kullmanns Heidelberger Akademieabhandlung7 heißt es zutreffend, dass für Aristoteles der erwachsene Organismus das regelhafte Ziel einer jeden artgemäßen Entwicklung ist. Kullmann spricht von einer internen Finalität, auf die hin alle Lebewesen prinzipiell gerichtet sind. Angesichts dieser Grundannahme überrascht es nicht, dass Aristoteles den Prozessen, die zur ‚Entelechie‘ führen, viel Aufmerksamkeit widmet. Zugleich wird verständlich, warum Aristoteles in GA I 1 von der Identität von Form- und Finalursache spricht: Einerseits determiniert die Artform (das eidos) ein Lebewesen zu artspezifischer Fortpflanzung (Elefanten sind ca. 660 Tage gravid, Mäuse ca. 20 Tage; einige Vögel brüten einmal, manche mehrmals im Jahr etc.). Andererseits pflanzen sich Lebewesen, gerade weil sie leben, fort und erhalten dadurch ihre Art. Da alle Lebensfunktionen auf die (bis zur Zeugungsfähigkeit nötige) Selbsterhaltung und so mittelbar 6 7
Vgl. Matthews 1992, 185-194, der diesen Katalog mit einer modernen Liste (The World Book Encyclopedia) vergleicht, ihn auf seinen definitorischen Gehalt hin prüft und einem empirischen Test unterzieht. Kullmann 1979.
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auch auf diese „natürlichste“ Leistung zielen, erklärt Aristoteles diese Funktionen im Sinne der causa finalis. Es ist eine Sache der sprachlichen Konvention, ob man diese Position als ‚Essentialismus‘ bezeichnet.8 Für Aristoteles partizipieren die Individuen an den „ewigen“ Spezies. Die Spezies selbst aber existieren nicht. Spezies sind keine realen Wesen. Das eidos als Artform ist allen Individuen immanent: Es gibt kein Lebewesen ‚außerhalb‘ einer Art. Die Artformen sind wie genetische Baupläne zu verstehen: Sie bestimmen die Individuen natürlicherweise zu dem, was sie „wesentlich“ (d. h. ihrer Art nach) sind. Die aristotelische ‚Genetik‘ entwickelt sich in Auseinandersetzung mit älteren Theoriemodellen. Anaximander, Parmenides, Empedokles, Alkmaion, Anaxagoras und Demokrit haben Themen der Humangenese berührt. All dies ist nur fragmentarisch überliefert. Aristoteles selbst ist hier die wichtigste Quelle. Weit besser ist die Quellenlage für die frühen Texte im Corpus Hippocraticum.9 Die jüngere Forschung hat den großen Einfluss der Medizin auf die aristotelische Biologie nachgewiesen. Auch unser Beitrag zeigt, dass Aristoteles (dessen Vater ein berühmter Arzt war und dessen Mutter aus einer Ärztefamilie stammte) den Medizintheoretikern wichtige (insb. auch methodische) Einsichten verdankt. So bedeutsam die klassische Medizin für Aristoteles aber war (er selbst weist verschiedentlich auf diesen Punkt hin10), so ist doch eine entscheidende Differenz von Heilkunst und Biologie zu bemerken: Explanandum der aristotelischen Biologie sind die artspezifischen Dynameis. Individuelle Besonderheiten,11 die im Zentrum der Medizin stehen, diskutiert Aristoteles nur randständig. Das heißt nicht, dass in seiner ‚Genetik‘ individuelle Merkmale gar keine Rolle spielen.12 Im 8 Anders: Balme 1980. 9 Vgl. Oser-Grote 1998, 471 f.; Althoff 1999; van der Eijk 1999, 67-69; Oser-Grote 2004. 10 Vgl. De sensu 1, 436a18-b1 und De iuv. 21, 480b22-30. 11 V. a. ‚Fehlentwicklungen‘; vgl. Bien 1997. 12 Vgl. GA IV 3 und GA V: In der Vererbungslehre hebt Aristoteles hervor, dass hier die „erste Substanz“ (das Individuum) zu erklären sei. Gemäß GA IV 3, 767b29-32 hat das „eigentümlich-Individuelle“ auf die Ontogenese in gewisser Weise mehr Einfluss als artspezifische Faktoren: Koriskos ist zwar auch Mensch und Tier. Sein ihm eigentümliches (individuelles) Wesen bestimmt ihn „stär ker“ als die abstrakte Bestimmung ‚Mensch‘. Bei der Vererbung wirken sowohl artspezifische als auch individuelle Eigenschaften. Die individuellen Eigenschaf ten bestimmen (die ousia des) Koriskos in einem höheren Grade. Die ousia wird hier (anders als sonst meistens in der aristotelischen Biologie) in einem indivi
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Rahmen der vorliegenden Darstellung wird diese Thematik nicht näher beleuchtet. Der folgende Gedankengang teilt sich in drei Abschnitte: (A) Zunächst werden einige grundsätzliche Überlegungen des Aristoteles zur Ontogenese vorgestellt, die alle Lebewesen betreffen. (B) Im zweiten Abschnitt geht es um die Genese der sog. gleichartigen Teile (Homoiomeren) des Menschen. (C) Der dritte Abschnitt handelt von den Überlegungen zur Genese der sog. ungleichartigen Teile (Anhomoiomeren) des Menschen.
A Grundsätzliche (alle Lebewesen betreffende) Überlegungen Der Schwerpunkt der aristotelischen Biologie liegt auf jenem Gebiet, das hier in Anlehnung an Aristoteles’ eigene Ausdrucksweise vereinfacht als ‚Genetik‘ bezeichnet wird. Er untersucht hier Prozesse, Mechanismen, Funktionsmodi, räumlich-chorologische, klimatische und zeitlich-periodische Faktoren (Alter der Geschlechtsreife, Lebensalter, Paarungszeiten, Trächtigkeits- und Fertilitätsdauer) der animalischen (teils auch der pflanzlichen) Reproduktion und Ontogenese. Die Historia animalium enthält dazu reichhaltige Beobachtungen. Hervorzuheben sind Verweise auf die Sektionen von graviden Tieren bzw. auf Zeichnungen entsprechender Geschlechts-
duellen Sinne (als ‚individuelle Form‘) begriffen. Hier zeigt sich ein Grundsatz der aristotelischen Wissenschaftslehre: Erklärungen sollen so konkret wie mög lich sein. In der antiken Vererbungslehre sind besondere (individuelle) Eigen schaften wie etwa Augenfarbe oder Erbkrankheiten von höherem Interesse als das unproblematische Faktum, dass aus einem Menschen stets ein Mensch wird. Dies sollte indes nicht zu der Folgerung verleiten, dass das Individuum (bzw. individuelle Eigenschaften) ein generelles Explanandum der aristotelischen Biologie darstellen. Aufs Ganze gesehen sind solche Überlegungen bei Aristoteles selten. Sie zeigen, dass er stets vom Explanandum her denkt. Auch die individuelle Augenfarbe kann Explanandum sein. Das Paradigma des Auges verdeutlicht, (i) dass sich individuelle Merkmale stets im Rahmen eines speziestypischen Spektrums bewegen (so ist für Aristoteles die Unterschiedlichkeit der Augenfarben Proprium des Menschen; vgl. HA I 10, 492a1-2; GA V 1, 779a34) und (ii) dass Aristoteles fast alle konkreten Besonderheiten als menschliche Besonderheiten diskutiert, aber individuelle Merkmale etwa von Tieren fast nie thematisiert. Kurz: Diese Problematik begegnet bei Aristoteles (ganz anders als bei Darwin!) nur in Hinblick auf eine einzige (eben die menschliche) Spezies; ausführlich dazu: Liatsi 2000.
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organe im Anatomischen Atlas13 und detaillierte Beobachtungen an Vogeleiern, die ein methodisches Vorbild für die Genese von anderen Tieren abgeben.14 Im Altertum waren direkte Beobachtungen zu Befruchtung und Embryonalgenese schwierig. Sie führten zu nur lückenhaften Resultaten. Die Empirie orientierte sich an Fehlgeburten und Abtreibungen. Erklärungen zu nicht sichtbaren Vorgängen mussten über den Umweg von Analogien aus der Tier- oder Pflanzenwelt erschlossen werden. Musterbeispiele für solche Analogiebildungen liegen in den im Corpus Hippocraticum überlieferten medizinischen Abhandlungen De victu und De natura pueri vor. Von diesen Texten wird noch die Rede sein. Die Historia animalium liefert wie in den anderen Disziplinen auch in der ‚Genetik‘ die Faktenbasis für die späteren Aitiologien. HA V beginnt mit einer Aufzählung der Fortpflanzungsmodi: (i) sexuelle Paarung (nur bei Wesen mit Geschlechterdimorphismus); (ii) Fortpflanzung ohne Geschlechterdimorphismus; (iii) Spontane Entstehung (aus Schlamm, Fäulnis etc.). Diese Unterschiede werden anatomisch begründet. Die Erklärungen zu den Geschlechtsorganen sind in der Historia animalium noch ‚ausgespart‘. Sie kommen erst in De generatione animalium zur Sprache. In der HA V-VII nimmt Aristoteles den Weg vom Einfachen zum Komplexen. Er beginnt bei Schal- und Krustentieren, geht über zu Insekten, Weichtieren, Fischen, Reptilien, Vögeln, Säugetieren, um schließlich den Menschen zu behandeln: „denn von den Bipeden ist einzig der Mensch vivipar“.15 Beispiele für generatio spontanea (dem primitivsten Reproduktionstyp) sind niedrige Insekten wie Flöhe und Läuse, oder Würmer. HA V 1-8 thematisiert die Positionen der Tiere bei der Kopulation.16 HA V 8-14 handelt 13 Vgl. HA I 17, 497a32-33: Querverweis auf Zeichnungen der Gebärmutter; HA IV 1, 525a9: Querverweis auf eine Zeichnung der Sepien; HA VI 11, 566a14-15 Querverweis auf Zeichnung zu Samen- und Eiergängen der Fische. 14 Vgl. PA III 1: Eiweiß ist wärmer und reiner als Eigelb; Aristoteles begreift es (analog zum männlichen Samen) als archê tês kinêseôs. Eigelb (von dem das Junge die Nahrung empfängt) erklärt er analog zu den Katamenien; vgl. Althoff 1992b, 188. 15 HA V 1, 539a14-15. 16 Vgl. HA V 2-7: Er beginnt bei den Säugetieren (Wölfe, Bären, Kamele, Katzen, etc.), behandelt dann Schildkröten und Schlangen („tun es Bauch an Bauch“), die Fische („fahren mit den Bäuchen aneinander“), ähnlich die Cetacea; die Ce phalopoden (hängen mit den Mündern aneinander und schlingen die Fangarme
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von Paarungszeit, Geschlechtsreife und Fertilitätsdauer. Gemäß HA V 8 ist die Paarungszeit bei allen Tieren begrenzt (die meisten Tiere paaren sich im Frühling). Dem Menschen kommt eine Sonderstellung zu: „Der Mensch ist von allen Tieren am meisten zu jeder Zeit zur Zeugung bereit“ (542a26-27); Männer eher im Winter, Frauen eher im Sommer. Aristoteles informiert über die Lebensdauer vieler Arten, über Fischbrut, Paarungszeiten der Fische, Mollusken und Vögel. Er formuliert den Grundsatz, kein Jungtier sei von Geburt an zeugungsfähig. Mit HA V 15 beginnen Ausführungen zu Zeugung („Genese“) und Entwicklung. Nach den Schaltieren und einigen Weichtieren werden Insekten (inkl. Spinnen und Skorpionen), ovipare Tetrapoden (Schildkröten, Krokodile, Echsen) und Schlangen behandelt. Buch HA VI setzt die Untersuchung fort mit Ausführungen über die Fortpflanzung der Vögel, Fische (inkl. der Meeressäuger) und viviparen Tetrapoden (Säugetiere).17 Buch HA VII handelt von der Fortpflanzung und Entwicklung des Menschen. Seine Echtheit ist in der philologischen Forschung nicht abschließend geklärt.18 Die folgende Darstellung stützt sich daher v. a. auf die unstrittigen Passagen in De generatione animalium. De partibus animalium II-IV steht chronologisch und systematisch zwischen Historia animalium und De generatione animalium. In PA II-IV werden die anatomischen Befunde aus HA I-IV kausal erklärt. Die Explanation beginnt mit Vorannahmen zur „Synthesis“ aller Lebewesen.19 Diese anatomische Elementarlehre zeichnet den Weg der ontogenetischen Erklärung schon vor. (i) Die erste Synthesis bilden die vier „sogenannten Elemente“. Alle natürlichen Körper bestehen aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. Aristoteles ergänzt, es sei vielleicht besser, von der Synumeinander, vgl. Scharfenberg 2001, 63-68 bzw. 75-77), die Crustacea („wie die nach hinten harnenden Tetrapoden“) und die Insekten („nähern sich einander von hinten“). Das kleine Insekt steigt auf das große. Kopulation dauert bei Spin nen und Fliegen sehr lange. 17 Vgl. HA VI 18-37: Fortpflanzung der Säugetiere. Männchen sind in der Regel während der Paarungszeit aggressiver, Weibchen nach der Geburt. Während der Paarungszeit sind die Tiere öfter zusammen, bewegen ihre Schwänze häufiger, harnen öfter und geben mehr Laute von sich. Unterschiede gibt es zwischen wil den und kultivierten Spezies. Bei keinem Weibchen sind die „Reinigungen“ (im Verhältnis zur Größe) so heftig wie bei den Frauen. 18 Vgl. Aubert/Wimmer 1992, 7-11, Flashar 1983, 271 gegen die Echtheit von HA VII; Kullmann 2007, 192, Anmerkung 159 für die Echtheit von HA VII. 19 Vgl. PA II 1, 646a12-24; ausführlich: Kullmann 2007, 363-368.
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thesis aus den Elementarqualitäten zu handeln – d. h. nicht von allen Qualitäten (dynameis), sondern nur vom Warmen, Kalten, Flüssigen und Trockenen. Aus diesen Elementarqualitäten entstehen alle anderen Qualitäten (Schwere, Dichte, Glätte etc.). Carolin Oser-Grote notiert: „Durch diese Präzisierung will Aristoteles verdeutlichen, dass die Elementarkräfte zunächst die Elemente konstituieren.“20 (ii) Die gleichartigen Teile (Homoiomere) bezeichnet Aristoteles als „Systasis“.21 Beispiele sind Knochen, Fleisch, Blut, Fett, Talg, Knochenmark, Gehirnsubstanz, Haut, Sehnen, Haare, Nägel bzw. bei non-humanen Tieren Gräten, Knorpel, Schalen etc. Kullmann gebraucht für die gleichartigen Teile gelegentlich den (von Xavier Bichat im Jahre 1801 eingeführten) Terminus ‚Gewebe‘, mit dem „Gruppen von gleichartig differenzierten Zellen“ bezeichnet werden.22 (iii) Die dritte Synthesis bilden die ungleichartigen Teile (Anhomoiomere). Dies sind z. B. Hand, Nase, Herz, Ohren, Augen, Nase, Lippen – bei den Tieren Hörner, Rüssel etc. Nur die Anhomoiomeren haben strenggenommen den Status von echten ‚Organen‘.23 Direkt im Anschluss an dieses (noch von Galen rezipierte24) Schema finden sich einige signifikante Bemerkungen zum Verhältnis von Sein und Werden: „Nun verhalten sich aber Werden und Sein gegensätzlich zueinander. Das, was dem Werden nach später ist, ist der Natur nach früher, und das Erste (der Natur nach) ist, was der Entstehung nach zuletzt ist.“25 Aristoteles erläutert dies mit einer Analogie: „Denn das Haus ist nicht um der Ziegel und der Steine willen, sondern diese sind um des Hauses willen.“26 Die zentrale Rolle der causa finalis sei nicht nur „durch Induktion“ (ek tês epagôgês), sondern auch „dem Begriff nach“/„der Definition nach“ (kata logon) einsichtig: „Alles nämlich, was entsteht, macht seine Entstehung aus etwas und in etwas und von einem Prinzip zu einem Prinzip, und zwar 20 Oser-Grote 2004, 32. 21 Vgl. Kullmann 2007, 363: Aristoteles gebraucht den Ausdruck systasis, um dies als Subtypus von synthesis zu qualifizieren. 22 Kullmann 2007, 366. 23 Vgl. PA II 1, 646b12-647a6: Jedes Organ ist ungleichartig; vgl. Kullmann 2007, 363-365; Meyer 2008. 24 Vgl. Oser-Grote 2004, 33 (Anmerkung 25). 25 PA II 1, 646a24-26. 26 PA II 1, 646a26 f.
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von dem ersten bewegenden (Prinzip) zu einer bestimmten Gestalt und einem anderen derartigen Ziel. Ein Mensch nämlich erzeugt einen Menschen und eine Pflanze eine Pflanze aus dem jeweils zur Verfügung stehenden Material.“27 Es folgt ein weiterer ontogenetischer Grundsatz: „Der Zeit nach ist notwendigerweise das Material und der Entstehungsprozess früher, der Definition nach aber das Wesen [die ousia i. S. d. Artform] und die Gestalt (morphê) eines jeden.“28 Aristoteles resümiert: „Daher ist es notwendig, dass die Materie der Elemente [die elementaren dynameis: Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit] um der homogenen Teile willen ist, denn diese sind ihrer Entstehung nach später als jene, später als diese aber sind die inhomogenen Teile. Diese stellen nämlich das Ziel und das Ende dar, indem sie die Zusammensetzung des dritten Typus bilden, wie ja in vielen Fällen die Entstehungsprozesse (in einem dritten Stadium) zu Ende zu gehen pflegen.“29 Das Ziel biologischer Entwicklungsprozesse ist durch den artspezifischen Bauplan der ‚Eltern‘ vorgegeben. Die artspezifische Form (die ousia i. S. d. eidos) determiniert alle Nachkommen so, dass ihnen alle wesentlichen Merkmale und Eigenschaften der ‚Eltern‘ zukommen. Unter der im Altertum nie bestrittenen Voraussetzung der Artenkonstanz ist es verständlich, dass Aristoteles die Art als das eigentliche „Atom“ seiner Biologie bezeichnet. Gelegentlich spricht er sogar davon, dieses eidos (die Artform) sei ewig und/oder göttlich.30 Der teleonomische Prozess der Ontogenese zielt auf die Ausbildung der höheren Organe. (In der Botanik ist dies komplizierter, weil bei Pflanzen eine vergleichsweise geringere organische Differenzierung vorliegt.) Dem „Begriff nach“ (kata logon) sind diese Organe „früher“, da sie (als artspezifische Organe) quasi zur ‚Definition‘ des betreffenden Individuums gehören. Aristoteles meint hier, dass etwa der Rüssel als typisches Formmerkmal eines Elefanten begrifflich dem realen Rüssel eines Elefantenbabys vorausgeht, da der Rüssel zu den Wesensmerkmalen (zur Definition) von Elefanten gehört. Realchronologisch durchlaufen ‚genetische‘ Prozesse zwei Phasen: In der ersten Phase bilden sich (vermittels der lebens27 PA II 1, 646a32-35; vgl. hierzu Oehler 1963. 28 PA II 1, 646a35-b2; vgl. GA II 6, 742a19-20: Erläuterung des Satzes: τὸ δὲ πρότερον ἤδη πολλαχῶς ἐστιν („bereits das Früher ist mehrdeutig“). 29 PA II 1, 646b5-10. 30 Vgl. GA II 1, 731b24; vgl. dazu Balme 1972, 155-165; Lennox 1985/2001.
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notwendigen Elementarqualitäten wie Wärme und Feuchtigkeit) die Homoiomeren (d. h. die gleichartigen Teile – so namentlich zuerst Blut bzw. bei den sog. ‚blutlosen Tieren‘ blutanaloge Flüssigkeiten). In der zweiten Phase bilden sich dann die Anhomoiomeren. Gemäß PA II 1 sind die Homoiomeren prinzipiell multifunktional ausgerichtet. So dient beispielsweise die Haut verschiedenen Zwecken. Die Anhomoiomeren (die ausdifferenzierten Organe) verrichten in der Regel nur eine einzige (aktive) Funktion. Wie schon bemerkt: Die artspezifische und artbildende Form ist ein Explanans der aristotelischen Biologie. Voraussetzung für die Erklärung von Entwicklungsprozessen ist eine möglichst präzise Bestimmung der Artform. Nicht zufällig nimmt in der aristotelischen ‚Genetik‘ die Beschreibung einzelner Arten den größten Raum ein. In seiner ‚Genetik‘ decken sich causa formalis und causa finalis. Die Bestimmung der Artform wird bereits in den frühen Schriften geleistet und stützt sich auf die vergleichende Anatomie: Gemäß HA I 1 beruhen die Unterschiede zwischen den Tieren v. a. auf ihren anatomischen Differenzen (d. h. auf Vorhandensein, Anzahl und Lage der gleichartigen und ungleichartigen Körperteile). Auch dies verdeutlicht, weshalb es in De generatione animalium einleitend heißt, über Form- und Zielursache sei bereits gehandelt worden; im Folgenden gehe es nun um die causa efficiens (archê kinêseôs). De generatione animalium behandelt die Entwicklungsprozesse realchronologisch. Um Aristoteles’ Bild zu verwenden: Nachdem die früheren Schriften gleichsam die artspezifischen Baupläne expliziert haben, geht es nun darum, wie das Haus gebaut wird. Das Thema dieser Spätschrift ist die Aitiologie der in Historia animalium V-VII behandelten „Genesis“. De generatione animalium teilt sich in fünf Bücher und umfaßt 75 Bekker-Seiten. Wie gesehen, schließt sich die Untersuchung explizit an PA II-IV an: Thema ist die causa efficiens in ausdrücklicher Abhebung zur causa materialis (dem Thema der Anatomie). Nach einer Einführung zu den Arten der Teile beginnt Aristoteles (wie in HA V) mit den differenten Fortpflanzungsmodi, die er im Sinne einer ‚Scala naturae‘31 gemäß den ‚Produkten‘ der Fortpflanzung auflistet. Tiere, die ihnen ähnliche Junge gebären, nennt er vollkommen. Diese unterscheiden sich in Tiere, die ihre Jungen in sich entwickeln (vivipare Tetrapoden, Delphine, Wale), und Tiere, die ihre Jungen außerhalb ihres Leibes entwickeln (z. B. Knorpelfische). Auf den folgenden Stufen 31 Vgl. GA II 1, 733a33: ephexês.
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finden sich Tiere, die ihnen unähnliche Nachkommen zeugen: erst Erzeuger von vollkommenen Eiern (Vögel, Reptilien), dann Tiere, die unvollendete Eier legen (Fische; unter den Blutlosen Crustacea, Mollusken, einige Schaltiere). Noch eine Stufe tiefer stehen blutlose Tiere, die (wie die meisten Insekten) entweder entwicklungsfähige oder nicht entwicklungsfähige Würmer (Larven) hervorbringen. Ganz unten stehen Insekten wie etwa Flöhe, Läuse, Mücken und Stechfliegen, die nach Aristoteles aus Fäulnis oder im Schlamm entstehen: Für diesen Fortpflanzungsmodus hat sich der Terminus generatio spontanea etabliert.32 Ergänzt werden diese Überlegungen durch Beobachtungen zur Phytogenese. Auch bei Pflanzen gibt es differente Reproduktionsmodi. Manche Pflanzen entstehen durch Samen, andere „von selbst“ (spontan-automatisch). Auf dem Gebiet der ‚zoologischen Genetik‘ ergibt sich folgende Stufung:
Stufe
was es ist
causa materialis
(1)
Tiere, die innerhalb ihrer selbst ihnen ähnliche Junge hervorbringen: alle viviparen Tetrapoden
warm und feucht
(2)
Tiere, die außerhalb ihrer selbst ihnen ähnliche Junge hervorbringen: Knorpelfische und Vipern
weniger warm und feucht
(3)
Tiere, die ein ihnen unähnliches, vollendetes Ei hervorbringen: Vögel, ovipare Tetrapoden und (die meisten) Schlangen
warm und trocken
(4)
Tiere, die ein ihnen unähnliches, unvollendetes Ei hervorbringen: Fische, Ostrakoderma, Weichtiere
weniger warm und trocken
(5)
Tiere, die Larven hervorbringen: Insekten (etwa Heuschrecken, Spinnen, Grillen, Wespen)
kalt und trocken
(6)
Tiere, die „von selbst“ im Schlamm oder in Fäulnis entstehen (etwa Flöhe, Mücken, Stechfliegen und „ähnliche Gattungen“)
kalt und trocken
Die Skala zeigt, dass bei Aristoteles Ansätze zur ‚Klassifikation der Tiere‘ stets von dem jeweiligen Explanandum her (d. h. nicht absolut und statisch) zu begreifen sind. In den anderen biologischen Subdisziplinen ergeben sich daher andere ‚Klassifikationsmuster‘. 32 Vgl. HA IV 2 und HA V 1; weiterführend: Depew 2010; Flashar 2010.
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Kurz: Es gibt bei Aristoteles keine endgültige Systematik der Lebewesen. Seine Biologie zielt nicht auf die Etablierung einer festgefügten Taxonomie. Sie soll vielmehr erklären, warum ein Lebewesen artspezifisch so ist, wie es ist. Grundlage der Kausalerklärung ist die Anatomie. Da sich sexuelle und nicht-sexuelle Fortpflanzungsmodi unterscheiden und bei sexueller Paarung Geschlechterdimorphismus vorliegt, muss ermittelt werden, bei welchen Tieren Dimorphismus vorliegt. „Männlich“ sind gemäß GA I 2 solche Tiere, die in ein anderes Wesen zeugen. „Weiblich“ heißen Tiere, in die hinein gezeugt wird. Männchen und Weibchen unterscheiden sich also anatomisch. Bei einigen Tieren, etwa bei Bienen, ist die Geschlechtsbestimmung besonders schwierig.33 Aristoteles untersucht daher zuerst, welche Geschlechtsteile es bei welchen Tieren gibt und wo sie lokalisiert sind. (In dieser Hinsicht ähnelt diese Passage den Büchern HA I-IV. GA I repetiert die in HA V-VI vorgelegten Fakten zur Dauer der Fortpflanzungsvorgänge und zur Anzahl der Nachkommen.) Die der Fortpflanzung dienenden Teile werden in De generatione animalium in Homoiomere und Anhomoiomere geschieden. Homoiomere Geschlechtsteile sind bei den Männchen der „Same“; bei den Weibchen die sog. „Katamenien“ (Monatsblut). Die ungleichartigen Geschlechtsorgane wie Penis, Hoden, Samengänge, Gebärmutter (griech. hysterai meist im Plural)34 kommen zumeist „paarig“ bzw. „zweiteilig“ vor. Wir wenden uns zunächst den gleichartigen Geschlechtsteilen und ihrer Bedeutung für die Ontogenese zu.
B Die Entwicklung der gleichartigen Teile des Menschen Für alle sexuellen Fortpflanzungsvorgänge konstitutiv sind der männliche Same und die weiblichen Katamenien. Zuerst behandelt Aristoteles den Samen. Er unterscheidet (i) das eigentlich Leben tragende (schaumartige) sperma und (ii) die dieses sperma substantiell vermittelnde Samenflüssigkeit (gonê). Die eigentliche Keimsub
33 Vgl. Föllinger 1997. 34 Vgl. HA I 17, 497a32-33: Querverweis auf eine entsprechende Zeichnung im Anatomischen Atlas im Kontext der Ausführungen über die Gebärmutter.
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stanz ist das sperma.35 Auf weiblicher Seite ist für die Fortpflanzung ein besonderer Teil des Menstruationsblutes nötig, das Aristoteles als ‚Katamenien‘ (katamênia) bezeichnet.36 Er begreift sowohl den Samen als auch die Katamenien als körperliche ‚Ausscheidung‘ oder ‚Aussonderung‘ (perittôma). Der männliche Same ist Produkt einer letzten (das Blut verzehrenden) Kochung.37 Da Frauen von Natur aus etwas kälter sind als Männer, bringen sie diese Kochung nicht zustande. Sie sondern daher statt des Samens Blut aus.38 Aristoteles war nicht der erste Denker, der über diese Fragen nachgedacht hat. Der ‚Fortschritt‘ seiner Theorie besteht erstens in der Zurückweisung der vermutlich von Demokrit eingeführten39 und dann v. a. in der frühen Medizintheorie vertretenen sog. ‚Pangenesistheorie‘, der gemäß der Same überall im Körper entsteht. Eine solche Auffassung ist nachweislich belegt in den zum Corpus Hippocraticum gehörigen Abhandlungen De genitura, De aeribus, De morbo sacro und De morbis IV.40 Aristoteles’ Argumente gegen die Pangenesislehre hat Jochen Althoff in ihrem historischen Kontext und mit Blick auf die aristotelische Forschungsmethode detailliert dargestellt.41 Zweitens widerspricht Aristoteles früheren Lehren, wonach auch die Frauen eine Art von Sperma entwickeln.42 Auch solche Lehren finden sich im Corpus Hippocraticum.43 Drittens etabliert er 35 Vgl. Föllinger 2005, 237 f.; King 2005, 533 f. zu dem bei Aristoteles gelegentlich schwankenden Wortgebrauch: Der Ausdruck gonê bezeichnet in der frühen Li teratur eher die Nachkommenschaft (vgl. Il. 24.539; Od. 4. 755; Hesiod, Op. 733), während sperma (etym. von speirô ausbreiten, sähen) zunächst fast immer mit Pflanzen in Verbindung gebracht wird. Der metaphorische Gebrauch (speirô für die „Ausbreitung“ des Feuers) beginnt früh. Biologisch wichtig ist Anaxagoras, der (Frg. 4) die „Samen“ aller Dinge als ursprüngliche Bestandteile der Welt charakterisiert. 36 Vgl. GA I 20, 727a34-728a9: Ausdrücklich weist Aristoteles darauf hin, dass es sich bei der weiblichen Keimsubstanz nicht („wie manche meinen“) um jenes Sekret handelt, das im Falle besonderer Lustempfindung als eine Art weibliches Ejakulat entsteht. Nach Aristoteles‘ Beobachtungen entsteht dieses Sekret eher bei Frauen mit einem blasseren Hauttyp als bei dem dunkleren (und männliche ren) Frauentypus. 37 Vgl. GA I 18, 725a11 ff. 38 GA I 19, 726b30 ff. und I 20, 728a17. 39 Vgl. Lesky 1950. 40 Vgl. van der Eijk 1999, 68-69; Schubert/Leschhorn 2006, 443, die in De victu eine solche Lehre sehen: „Hier [in De victu] liegt die sog. Pangenesis-Theorie zugrunde, nach der sich der Same aus dem gesamten Körper rekrutiert.“ 41 Althoff 2006. 42 Vgl. GA II 4, 739b16 ff. 43 Vgl. van der Eijk 1999, 69.
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den (zwar nicht neuen, aber bei den Zeitgenossen keineswegs vorherrschenden) Gedanken, dass sowohl das Männliche als auch das Weibliche einen Beitrag zur Fortpflanzung leistet.44 Wie erklärt Aristoteles den Befruchtungsvorgang? Die Katamenien begreift er in GA I 20, 729a32 als eine passiv formbare „erste Materie“ (prôtê hylê), die vom männlichen Samen aktiv und gleichsam „wie von einem Werkzeug“ (730b20) geformt wird. Der männliche Same gibt aufgrund seiner höheren Wärme als Bewegungsprinzip dem weiblichen Blut die entscheidenden ‚Bewegungsimpulse‘.45 Nach Aristoteles entwickelt sich aus dem Samen alles in alle Körperteile der Nachkommen hinein. Der Same ist der eigentliche Träger des Lebens oder genauer gesagt des Lebensprinzips. Lebensprinzip ist gemäß De anima II die Seele (psychê). Das Leben geht also durch Befruchtung vom väterlichen Samen vermittels der Katamenien über in den Mutterleib. Als ‚materieller Träger‘ des Lebens fungiert die sog. „generative Wärme“.46 Durch diese (nicht mit der normalen Körperwärme zu verwechselnde) generative Wärme geht das ‚Leben‘ substantiell-materiell von dem Erzeuger über auf das neue Individuum. Aristoteles stützt sich in De generatione animalium auf Überlegungen aus der Schrift De respiratione. Hier heißt es: „Die Bildung des Keims eines Lebewesens ist Beginn der Teilhabe des Ernährungsvermögens an Wärme. Leben ist die Fortdauer der Teilhabe daran. Jugend ist das Wachstum des primären kühlenden Organs. Alter dessen Rückbildung. Blütezeit des Lebens ist der dazwischenliegende Zeitraum.“47 44 Ebd. Vgl. GA IV 1, 764b14; 765a6; GA IV 3, 769a18. Aristoteles’ Kritik zeigt, dass Anaxagoras und Diogenes von Apollonia die Auffassung vertraten, der Same stamme allein vom Mann, Empedokles, Alkmaion und Demokrit hingegen die Ansicht, der Same stamme von beiden Eltern. 45 Vgl. dazu Kullmann 1979. 46 Vgl. Althoff 1992b. Aristoteles unterscheidet zwei von der (anorganischen) „äußeren Wärme“ verschiedene Typen von in den Lebewesen selbst vorhande ner Wärme: (i) die bei der Nahrungsverdauung entstehende „organische Wär me“, und (ii) die für die Fortpflanzungsvorgänge notwendige im spermatischen Pneuma vorhandene (und dem Sternelement analoge) „generative Wärme“. Die zentrale Textstelle ist hier GA II 3, 736b33-737a1: „Im Samen aller Tiere ist das sogenannte Warme enthalten, das die Samen zeugungsfähig macht. Dies ist aber weder Feuer noch eine solche Wirkkraft, sondern das im Samen und dessen Schaumbestandteilen eingeschlossene Pneuma – oder vielmehr die im Pneuma enthaltene Natur, die dem Sternelement analog ist.“ (Übers. Althoff, ebd., 183 – „Sternelement“: tôn astrôn stoicheion, d. i. der sog. Äther, aus dem nach Aristo teles die Gestirne bestehen; dazu auch Jori 2009, 233 f.). 47 De iuv. 18, 479a.
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In De generatione animalium ist das Theorem, wonach das Leben vom Samen auf die Katamenien übertragen wird, vor dem Hintergrund der Annahme zu verstehen, dass sich nicht zwei Seelen zu einer einzigen Seele verbinden können: Der Same und die Katamenien tragen das ‚Leben‘ zwar in sich. Aristoteles betont aber, dass diese flüssigen Substanzen nur potentiell belebt sind. Im eigentlichen Sinne (energeiai) leben sie nicht, weil ‚Leben‘ stets die Eigenschaft eines kompletten Gesamtorganismus (einer ersten ousia) ist. Kurz: Weder Same noch Katamenien leben getrennt von den erzeugenden Individuen. Aus der Vereinigung dieser flüssigen Substanzen entsteht mit dem ‚Keimling‘ (kyêma) eine neue (ebenfalls noch nicht selbständig lebende) Entität. Die Vermischung von männlichen und weiblichen Homoiomeren vergleicht Aristoteles mit Vorgängen der Käsegewinnung. Auch hier kommt eine Analogie ins Spiel: Das Menstruationsblut gleicht der Milch. Der Same gleicht dem die Milchgerinnung stiftenden Lab (pyetia).48 Durch diese Verbindung entsteht mit dem (einem Ei ähnelnden) Keimling eine (dem Käse vergleichbare) etwas festere „erste Mischung“.49 Ausdrücklich sagt Aristoteles, aus einem einzigen Keimling könne nur ein einziges Individuum entstehen; Zwillinge wären demnach stets ‚zweieiig‘.50 Wie gesagt: Der keimende Embryo an sich ist noch kein selbständiges Lebewesen. Erst mit der Geburt kann im ontologischen Sinne von einem echten Individuum, von einer ersten ousia, gesprochen werden: „Denn die Geburt ist ein Übergang aus dem Nichtsein in das Sein, der Tod wiederum aus dem Sein ins Nichtsein.“51 Aus dem Keimling entwickelt sich alles andere und zwar vor allem (als erste sichtbare distinkte Einheit) das Herz als Zentralorgan und Sitz des Lebens. Ohne das Herz wäre die Genese der anderen Teile nicht möglich. Das Herz ist die archê sowohl der Homoiomeren als auch der Anhomoiomeren. Zunächst zu den Homoiomeren: Aus dem Keimling entwickeln sich zuerst Sehnen (neura) und 48 Vgl. HA III 20 & PA III 15, 676a6 über „das sogenannte Lab“; vgl. dazu Kullmann 2007, 608 f. 49 prôton migma, GA I 20, 728b34. 50 Vgl. GA I 20, 728b32-729a4 in Verbindung mit GA II 4, 739b33-740a1. Gemäß HA VII 5, 585a1 ff. sind beim Menschen die Zwillinge im Vergleich zu anderen Tieren am wenigsten lebensfähig. In HA VII 5 wird (im Kontext der Überfruch tungsproblematik) die wunderliche Geschichte einer Ehebrecherin berichtet, de ren Zwillinge von zwei Männern stammen. 51 GA II 5, 741b22-24.
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Adern (phlebes). Diese Teile verleihen dem Keim nun eine äußere Festigkeit. Eine dieser Adern ist der „sogenannte Nabelstrang“.52 Er entwickelt sich, sobald der Keim gebildet ist und sorgt für den Nahrungstransfer von der Gebärmutter zum Embryo: „Daher zeigt sich bei allen Bluttieren zuerst das Herz als etwas klar Umgrenztes, weil es der Anfangspunkt sowohl der gleichartigen wie auch der ungleichartigen Teile ist. Denn in der Phase, in der das Wesen [die Leibesfrucht] der Nahrung bedarf, ist es angemessen, diesen Teil das Zentrum des Tieres und des ‚Systems‘ [des Organismus] zu nennen. Denn das nun existierende Tier vergrößert sich, seine letzte Nahrung aber ist das Blut bzw. [bei den nicht blutführenden Tieren] das Analogon. Deshalb ist das Herz auch für diese Tiere der Anfangspunkt [und das Prinzip], wie ebenfalls aus [den Büchern] der Historia animalium und im Anatomischen Atlas zu sehen ist. Da es aber der Anlage nach bereits ein Tier ist – aber eben ein unvollkommenes – so muss es seine Nahrung notwendig von anderswoher nehmen. Daher gebraucht es die Gebärmutter und die Mutter, so wie die Pflanze die Erde, um Nahrung zu sich zu nehmen, bis es soweit vollendet ist, dass es (sich selbst) dem Orte nach (eigenständig) fortbewegen kann. Zu diesem Zweck hat die Natur zuerst den Ursprung von zwei Adern aus dem Herzen angelegt. Von diesen (Adern) aber führen feinere Adern zu der Gebärmutter und dies ist der sogenannte Nabelstrang. Der Nabelstrang ist nämlich eine Ader (bei einigen Tieren nur eine, bei anderen mehrere) und um diese ist eine Hülle aus Hautgewebe, denn die Fragilität der Adern bedarf des Schutzes und der Bedeckung. Diese Adern erstrecken sich wie Wurzeln an die Gebärmutter, und durch sie bekommt der Keim seine Nahrung. Aus diesem Grund bleibt das Junge in der Gebärmutter – und nicht, wie Demokrit behauptet, weil seine Teile nach Maßgabe nach den Teilen der Mutter geformt werden.“53 Der Nabelstrang entwickelt sich, sobald der Keimling gebildet ist. Wie die Wurzeln einer Pflanze dockt er in der Gebärmutter an, um von dort her den Keimling mit Nahrung zu versorgen.54 Der Pflanzenvergleich in GA II 4 und die Beobachtung an Eiern belegen, dass Aristoteles von den sichtbaren Vorgängen auf die dem Auge 52 ho kaloumenos omphalos, GA II 4, 739a29 f. 53 GA II 4, 740a17-37. 54 Vgl. Demokrit DK B 148: „Der Nabel bildet sich zuerst in der Gebärmutter als Ankerplatz gegen Brandung und Irrfahrt, Halteseil und Ranke für die entste hende und werdende Frucht.“
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verborgenen Mikroprozesse schlussfolgert.55 Diese Methode der Analogiebildung hatte schon bei den Vorsokratikern wichtige Einsichten hervorgebracht.56 So enthalten nach Empedokles die Bäume in „symmetrischer Mischung“ (symmetria tês kraseôs) männliche und weibliche Anteile in sich. Besonders hohe Bäume bringen sogar „Junge“ zur Welt (A 70). Empedokles nannte die Oliven „Eier des Olivenbaumes“ (B 79).57 Für Philolaos (B 13) war das „Schamglied“ (aidoion) ein gemeinsames Merkmal von Menschen, Tieren und Pflanzen, „denn alles blüht und wächst aus Samen heraus“ (panta gar apo spermatos kai thallonti kai blastonti). Aristoteles kannte diese Überlegungen. Bernhard Herzhoff bemerkt, Aristoteles sei von Empedokles’ Beobachtung des zwittrigen Wesens der Bäume so beeindruckt gewesen, dass er sie immer wieder zitiert habe.58 Auch im Corpus Hippocraticum spielen solche Analogien eine signifikante Rolle: Nur paradigmatisch sei hier der sog. ‚botanische Exkurs‘ der Schrift De natura pueri (Kap. 22-27 ed. Giorgianni) vorgestellt.59 Diese Schrift handelt von der Embryonalentwicklung. Im 16. (27.) Kapitel gibt der Anonymus ein Fazit: „Ich behaupte nämlich, daß alle die sich in der Erde befindlichen Gewächse von der aus der Erde gezogenen Feuchtigkeit leben, und dass, je nachdem wie die Erde in sich über Feuchtigkeit verfügt, sich dementsprechend auch die Gewächse verhalten. Auf diese Weise 55 Vgl. Kirk/Raven/Schofield 1994, 337 (Übers. Hülser): „Der bestechendste Zug von Empedokles’ Biologie ist der, dass er in offensichtlich unähnlichen Teilen sehr unterschiedlicher Arten von Lebewesen homologe Funktionen erkannte. Aristoteles hat diesen Zug nicht nur gerühmt, sondern auch systematisch unter sucht“; vgl. auch Hankinson 1998, 169. 56 Grundlegend: Lloyd 1966. 57 Vgl. GA I 23, 730b33-731a9; Theophrast CP 1.7.1. Aristoteles und Theophrast zogen aus Empedokles’ Überlegung den Schluss, dass Männliches und Weib liches bei den Pflanzen (anders als bei den Tieren) nicht getrennt, sondern ge mischt vorkommen; vgl. Wöhrle 1985, 12 f. bzw. 52-64: Für Aristoteles ist der „Pflanzensame gewissermaßen Sinnbild für die zusammengefügten Geschlech ter“. Dies bedeute nicht, dass Aristoteles die Pflanzen für „ungeschlechtlich“ hielt (53). Theophrast habe diese Frage nicht weiter vertieft, habe allerdings (Wöhrle nennt elf Stellen, allesamt aus HP) männliche und weibliche Pflanzen unterschieden. 58 Vgl. Herzhoff 1999, 37, Anm. 78. 59 De natura pueri stammt vermutlich von demselben Anonymus wie De genitura. Beide Texte hat Franco Giorgianni 2006 neu ediert und kommentiert. Sie sind auf die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert zu datieren (so auch Lesky 1950). Da sie sachlich und stilistisch zusammengehören, fasst Giorgianni sie als einheitliche Pragmatie auf. (Dies erklärt die doppelte Kapitelzählung oben.)
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lebt auch das Kind im Mutterleib von der Mutter, und je nachdem, wie die Mutter über Gesundheit verfügt, dementsprechend verhält es sich auch mit dem Kind. Wollte man allerdings über das zu diesem Thema Gesagte nachdenken, wird man herausfinden, daß der ganze Wachstumsvorgang der von der Erde lebenden Gewächse von Anfang bis Ende beinahe gleich dem des Menschen ist. Soviel sei von mir darüber gesagt.“60 Wie gesagt: Bedeutsam ist die Methode, von den offenkundigen Dingen auf die verborgenen Prozesse zu schließen; in diesem Falle von der Entwicklung des ersten Pflanzenwachstums auf die Primärstadien der menschlichen Embryonalgenese. In De natura pueri wichtig ist (i) der Rückschluss auf den Fortpflanzungsmechanismus: Die äußere Hülle des sperma wird von Feuchtigkeit aufgeweicht, damit der eigentliche Keimträger (das pneuma) sich entfalten kann. Der Anonymus schließt (ii) von der beobachtbaren primären Wurzelbildung auf die Bildung der ersten Adern beim menschlichen Fötus. Er schließt (iii) aus dem im Pflanzenreich verfaulenden Samen auf das Verschwinden des menschlichen Samens. Der Text gibt (iv) eine Antwort auf die noch von Aristoteles diskutierte Frage der sog. ‚Überfruchtung‘ (Superfoetation) im Falle der Zwillingsentstehung. Auch bei Aristoteles ist diese Analogie bedeutsam. In GA II 3 heißt es, alle Tiere führen im Anfangsstadium ein bloßes Pflanzenleben. In diesem Anfangsstadium dreht sich alles zunächst allein um die Ernährung. Insgesamt ist der Passus zur Embryonalgenese der Homoiomeren in De generatione animalium nur kurz. Hier dominieren ‚chemische‘ Überlegungen. Als Grundsatz gilt: „Die Bildung der gleichartigen Teile geschieht durch Abkühlung und Erwärmung, denn das Zusammentreten und Festwerden der einen geschieht durch Wärme, das der anderen durch Kälte.“61 Aristoteles verweist an dieser Stelle auf frühere Ausführungen. Gemeint ist vermutlich der in der Forschung sog. ‚chemische 60 De natura pueri 16; Übers.: Giorgianni 2006. Vgl. Giorgianni 2006, 14: „Im Rah men dieses Werkes versteht sich der botanische Exkurs daher als Verbindungs glied zwischen zwei normalerweise miteinander nicht vergleichbaren Welten, der der Menschen und der der restlichen Natur. Diese beiden Welten funktionie ren nach denselben Prinzipien, obgleich dies für den alltäglichen Menschenver stand befremdlich wirken mag.“ 61 GA II 6, 743b4-6. Vgl. GA II 6, 742b7-8: Querverweis auf frühere Ausführungen (gemäß Peck 1942, 219 auf Mete. IV 7-10). Vgl. auch GA II 4. Demnach bewirken Wärme und Kälte die Verfestigung von vorher flüssigem Material; vgl. Althoff 1992b, 188 f.
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Traktat‘ in Meteorologica IV.62 Ebenfalls gemäß GA II 4 bewirken Wärme und Kälte die Verfestigung von vorher flüssigem Material.63 Auch diese ‚chemische‘ Methode hat Vorbilder in der Vorsokratik. Ausführliche Darstellungen finden sich in den Texten des Corpus Hippocraticum. Ein längerer Passus aus De victu (ca. 400 v. Chr.) belegt, wie intensiv diese Fragen hier diskutiert wurden: „In der Bewegung wird es [das Feuchte] entzündet und zieht die Nahrung von dem, was in die Frau an Speisen und Atemluft hineingeht, an sich, und zwar zuerst überall in gleicher Weise, solange es noch locker ist. Von der Bewegung und dem Feuer aber wird es trocken und fest, und wenn es fest wird, wird es ringsum dichter. Dann hat das Feuer, das innen eingeschlossen ist, nicht mehr die Möglichkeit, ausreichend Nahrung an sich zu ziehen, und es kann die Luft nicht ausstoßen wegen der Dichtigkeit des Umgebenden. So zehrt es das innen vorhandene Feuchte auf. Was nun seiner Natur nach in dem festen Kern hart und trocken ist, wird von dem Feuer nicht für die Ernährung aufgebraucht, sondern es wird stark und konsistent durch Verschwinden des Feuchten, und diese Teile nennt man Knochen und Sehnen. Das Feuer baut den Körper aus der Mischung durch Bewegung des Feuchten der Natur gemäß aus folgenden Ursachen auf: Durch das Feste und Trockene kann es nicht lange hindurchgehen, weil es von ihm keine Nahrung bekommt, durch das Feuchte und Weiche aber kann es; denn das ist ihm Nahrung. Aber auch in diesem ist Trockenheit vorhanden, die vom Feuer nicht aufgezehrt wird. Das aber verfestigt sich ineinander. Das Feuer, das ganz innen eingesperrt ist, ist in größter Menge vorhanden und hat sich den größten Durchgang geschaffen. Denn die meiste Feuchtigkeit war an der Stelle vorhanden, die man den Bauch nennt. Von dort drang das Feuer nach außen, als es keine Nahrung (mehr) fand, und machte Durchgänge für die Atemluft und Zuweg und Ausgang für die Nahrung. Der feuchte Teil des Feuers aber, der im übrigen Körper abgeschlossen war, schuf sich an diesen Stellen drei Umgänge, die hohle Adern genannt werden. In den Teilen aber, die dazwischen liegen, konsolidiert sich der Rest des Wassers und wird fest. Das nennt man Fleisch.“64 Zurück zu Aristoteles. Gemäß GA II 6, 744b23 entsteht rings um das Herz (das er auch mit einem „Herd“ vergleicht) „aus dem reins62 Vgl. Flashar 1983. 63 Vgl. Althoff 1992b, 188 f. 64 De victu I 9; zit. nach Diller 1994, 294 f.
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ten (Ernährungs-)material das Fleisch“65. Das Fleisch vermittelt die taktilen Sinnesempfindungen. Der Tastsinn ist für Aristoteles der fundamentalste aller Sinne. Alle Tiere haben per definitionem haptische Empfindungen. Da sich Tiere von Pflanzen durch die Sinnesempfindung (aisthêsis) unterscheiden, findet bereits in diesem embryonalen Stadium ein Übergang von einer eher pflanzlichen zu einer eher tierischen Lebensform statt. Die anderen gleichartigen Teile (Knochen, Haut, Haare und Nägel) bilden sich um des Fleisches willen.66 Knochen, Haut und Nägel dienen vor allem dazu, das neu entstehende Sinnesvermögen zu schützen und der Leibesfrucht allmählich Stabilität zu verleihen. So entsteht beispielsweise die Haut (analog zu der ‚Hautschicht‘ auf einer erkaltenden Suppe) durch Abkühlung des Fleisches. Aristoteles hat auch die Funktion der ‚Plazenta‘ (in der modernen Biologie ein Merkmal aller Säugetiere) ansatzweise erkannt: Gemäß GA II 7, 746a sind alle Embryonen der Schwimm-, Flug- und Gangtiere von einer zarten Haut umgeben, die sie von der Gebärmutter und dem darin befindlichen Fruchtwasser trennt. Signifikant sind ferner die osteologischen Ausführungen: Die Knochen, die (wie in PA II 9 ausgeführt wird) genau wie die Adern nie einzeln für sich existieren, sondern stets ein ganzes System bilden, entstehen gemäß GA II 6 aus der ersten (noch dem sperma zugehörigen) Ausscheidung. Während die Adern ihren Bewegungsursprung im Herz haben, bilden sich die Knochen von der Wirbelsäule her. Mit ihr bleiben sie stets verbunden. Die Wirbelsäule garantiert67 die Längserstreckung der Tiere und ihre Geradheit. Auch in De generatione animalium wird betont, dass ihre primäre Funktion in der Vermittlung von Wachstum besteht. Die Nahrung hat hier eine Doppelfunktion: Sie dient (i) der ernährenden Versorgung und (ii) dem Wachstum.68 Das Knochenwachstum ist durch ein artspezifisches Maximum begrenzt: „Die Größe aller Tiere hat nämlich eine bestimmte Grenze, daher auch das Wachstum der Knochen; denn wenn diese immerfort wüchsen, so würden auch die Tiere immerfort wachsen.“69
65 Vgl. Althoff 1992a 76 f. 66 Ebenso: PA II 8, 653b30 ff. 67 Gemäß PA II 9. 68 GA II 6, 744b-745a; vgl. Althoff 1997b. 69 GA II 6, 745a6-7.
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Auch diese Überlegungen richten sich gegen Demokrit.70 Sie haben den Zoologen D‘Arcy Wentworth Thompson (den schottischen Übersetzer der Historia animalium) zu seinem berühmten Buch On Growth and Form71 angeregt. Zur Bildung der Knochen heißt es bei Aristoteles, die Schädeldecke bilde sich von allen Knochen zuletzt. Die Schädeldecke hat vor allem die Funktion, das Gehirn zu schützen.72 Den Knochen verwandt sind die Zähne. Auch sie zählt Aristoteles zu den Homoiomeren. Die Zähne bestehen aus demselben Material wie die Knochen. Der Mensch wird (von widernatürlichen Ausnahmen abgesehen) zahnlos geboren: „Bei den Zähnen aber verhält es sich mit der Natur nicht so wie mit den übrigen Knochen, diese entstehen nämlich alle bei der ersten Bildung […], die Zähne aber entstehen später; deshalb können sie nach dem Ausfallen auch erneut wachsen, da sie nur an den Knochen haften, nicht aber mit ihnen verwachsen sind. Sie entstehen aber aus der Nahrung, die auch den Knochen zuteil wird. Daher ist ihre Natur auch dieselbe, und zwar dann, wenn die Zahl der Knochen vollständig ist.“73 Gemäß HA VII 10, 587b13-16 wachsen die Zähne beim Menschen ab dem siebten Monat nach der Geburt; zuerst die Vorderund dann die Hinterzähne. Die Geschwindigkeit des Zahnwachstums hängt von dem Quantum der beim Säugling zugeführten Milch ab. Nach der Geburt wachsen die Zähne dann permanent weiter, weil sie sich andernfalls abschleifen würden. Dies ist auch der Grund für den von Aristoteles an verschiedenen Stellen erörterten Zahnwechsel (Diphyodontie) beim Menschen.74 Auch dies richtet sich gegen Demokrit.75 Zu den Ausführungen über die Genese der gleichartigen Teile sei abschließend auf das Urteil von Wolfgang Kullmann und Carolin Oser-Grote verwiesen. Demnach stellt Aristoteles’ Theorie gegenüber den vorsokratischen und den früheren medizintheoretischen Überlegungen insgesamt einen substantiellen Fortschritt dar.76 70 Vgl. Meyer 2009. 71 Thompson 1917. 72 Vgl. GA II 6. 73 GA II 6, 745b2-9. 74 Vgl. GA II 6, 745a. 75 Vgl. GA V 8, 788b10 ff.: Demokrit erklärte den Zahnwechsel der ‚Säugetiere‘ mit dem „zu frühen“ Wuchs der ersten Zähne. Diese vorzeitige Zahnentwicklung hat demnach ihre Ursache im Saugverhalten dieser Tiere; vgl. Meyer 2009. 76 Vgl. Kullmann 1982, 209-238; Oser-Grote 2004, 28-33.
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C Die Entwicklung der ungleichartigen Teile des Menschen Hinsichtlich der Genese der ungleichartigen Teile ist nach der in GA II 5 formulierten Maxime davon auszugehen, dass in jedem tierischen Organ bereits die Fähigkeit zur Wahrnehmung angelegt sein muss. Aristoteles begründet dies damit, dass sich die Organe der Tiere und die Teile der Pflanzen grundlegend voneinander unterscheiden. Mit der Organentstehung ist also das ‚pflanzliche Stadium‘ der Embryonalentwicklung abgeschlossen. Es beginnt hier (nach modernen Maßstäben ab dem 19. Tag nach der Befruchtung) eine zweite Phase der Ontogenese. Aristoteles hat diese zweite Phase allerdings terminologisch nicht näher bestimmt. Bereits in GA II 1 hieß es, nicht alles entstehe gleichzeitig. Diese Bemerkung richtete sich gegen Ansichten, wie sie etwa der Autor der Schrift De victu vertreten hatte.77 Für Aristoteles ist das Herz das zeitlich früheste Organ: „Zuerst aber bilden sich Anfang und Mittelpunkt. Dies ist bei den blutführenden Tieren das Herz – bei den andern Tieren etwas Analoges, wie ich schon oft gesagt habe.“78 Gegen Demokrit argumentiert Aristoteles, dass sich zunächst die inneren und erst dann die äußeren Organe bilden.79 Äußere Teile des Menschen sind gemäß HA I 7 Kopf, Hals, Arme, Beine und Thorax; Teile des Gesichts sind Stirn, Augenbrauen, Wimpern, Augen, Ohren (einzig beim Menschen unbeweglich80) und Nase. Innere Teile des Menschen sind gemäß HA I 16-17 Gehirn,81 Speiseröhre (inklusive Kehlkopfdeckel), Luftröhre, Herz, Lunge, Zwerchfell, Le77 Vgl. De victu I. 26 (zit. nach Diller 1994, 294): „Es bilden sich alle Glieder zu gleicher Zeit aus, und sie wachsen und keins früher als das andere und auch nicht später. Die aber, die ihrer Natur nach größer sind, werden früher als die kleineren sichtbar, ohne dass sie früher entstehen. Es werden aber nicht alle Körper in der gleichen Zeit ausgebildet, sondern der eine schneller, der andere langsamer, je nachdem ein jeder das Feuer und die Nahrung findet. Die einen haben in vierzig Tagen alles sichtbar, andere in zwei Monaten, andere in dreien, andere in vieren. Ebenso wird auch das eine schneller zur Geburt reif und ist in sieben Monaten vollständig, das andere langsamer und ist in neun Monaten vollständig. Sie tre ten ans Licht in der Mischung, die sie in aller Zukunft haben werden.“ 78 GA II 5, 741b15-18. 79 GA II 4 u. 6. 80 HA I 11, 492a22-23. 81 Vgl. HA I 16, 494b27-29: „Im Verhältnis zu seiner Größe hat der Mensch das größte und feuchteste Gehirn“; ähnlich: PA II 7, 653a27. Vgl. ferner GA II 6, 744a27-31: „Die Menschen haben das feuchteste und größte Gehirn von allen Tieren. Die Ursache dafür ist, dass sie auch die reinste Wärme im Herzen haben.
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ber, Milz, Harnblase, Harnröhre, Nieren, Gebärmutter. Aristoteles widerspricht der Forderung einiger Naturforscher nach einer genau bestimmten Abfolge der Organgenese.82 Er bringt das Argument vor, eine solche Abfolge lasse sich nicht genau angeben. Selbst aber, wenn viele Dinge wegen ihrer Winzigkeit nicht beobachtbar seien, so sei es doch offenkundig, dass etwa das eigentlich kleinere Herz noch vor der größeren Lunge entstehe.83 Das Herz, diese „Akropolis des Körpers“,84 ist das zentrale und primäre Organ, von dem her und um das herum sich alles andere entwickelt. „Weil nun aber der Anfang (das Prinzip) der Sinnesempfindung (aisthêsis) im Herzen liegt, so entsteht dies auch als erstes Organ des ganzen Tieres.“85 An anderer Stelle heißt es, auch die Leber (die ebenfalls zur Blutkochung beiträgt) müsse zeitlich noch vor der Lunge existieren. Es ergibt sich somit für die genannten inneren Organe die chronologische Abfolge Herz, Leber und Lunge. Die ernährenden Funktionen sind also gegenüber der Atmung (die für Aristoteles v. a. der Kühlung dient) zeitlich primär. Auch in diesem Kontext ist die funktionale Differenzierung der Movens der Ontogenese. Aristoteles sagt in GA II 6 verschiedentlich, die oberen Teile bildeten sich früher als die unteren. Zuerst entstehen die am Zwerchfell lokalisierten Teile. Dies ist besonders in Hinsicht auf die Genese des Gehirns wichtig: „Wegen der Wärme des Herzens aber bildet da, wo die [vom Herzen ausgehenden] Adern oben enden, die zu der Wärme des Herzens im Gegensatz stehende Kälte das Gehirn. Daher entwickelt sich die Gegend des Kopfes unmittelbar nach dem Herzen und übertrifft an Größe die anderen Teile, denn das Gehirn ist von Anfang an eine große flüssige Masse.“86 Vom Gehirn her (genauer: aus der Gehirnflüssigkeit) bildet sich das in seinem Inneren ebenfalls flüssige und kalte Auge. Die Genese der Augen sei besonders schwer zu beobachten. Sie vollende sich,
82 83 84 85 86
Wie günstig diese Temperatur ist, zeigt die Denkkraft; von allen Lebewesen ist nämlich der Mensch das intelligenteste“. GA II 6, 742a16-18. GA II 1, 734a23-25. PA III 7, 670a25 f. GA II 6, 743b26-28. GA II 6, 743b30-33. Vgl. Kullmann 2007, 416-433; Papachristou 2008, 9-22. Es ist nicht klar, ob Aristoteles das Gehirn zu den gleichartigen oder den ungleich artigen Teilen zählt. In der Historia animalium hat das Gehirn Organstatus, in De partibus animalium wird es eher im Sinne eines bloßen (in der Hauptsache nur der Kühlung dienenden) Gewebes begriffen.
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ebenso wie die Genese des Gehirns, erst spät. Die Augen wandern von ihrer ursprünglich dem Gehirn näheren Position hin zu ihrem späteren Ort im Gesicht.87 Da das Auge als einziges Sinnesorgan einen eigenen Körper hat,88 zeigt es sich bei allen gehenden, fliegenden und schwimmenden Tieren von Anfang an sehr groß: „Mit Notwendigkeit also hat der Ort des Auges anfangs eine größere Ausdehnung, schrumpft aber später zusammen, so wie es ja auch beim Gehirn der Fall ist: Anfangs ist es feucht und groß, wenn aber die Feuchtigkeit verdunstet und gargekocht wird, so wird es fester und körperlicher und schrumpft zusammen, sowohl das Gehirn als auch die Augen. Von Anfang an aber ist der Kopf wegen des Gehirns am größten und […] so erscheinen auch die Augen groß. Sie erhalten aber erst zuletzt ihre Vollendung, weil auch das Gehirn sich erst allmählich ausbildet, denn es verliert bei allen Tieren, die dies haben, am meisten aber beim Menschen erst spät seine Kälte und Feuchtigkeit.“89 Wie alle viviparen Tetrapoden wird auch der Mensch mit geschlossenen Augenlidern geboren. Wesentliche Funktion der Lider ist der Schutz der Augen. Die Lider des Menschen spalten sich erst bei der Geburt auf. Erst dann sind sie „zur Bewegung fähig“.90 Diese Beobachtung spielt u. a. auf die Differenz von Wachen und Schlafen an.91 Gemäß HA VII 10 schläft der Säugling am Anfang sehr viel. Er träumt aber erst mit zunehmender Wachheit. Erst nach der Geburt kann der Mensch sehen. Da die Natur nichts umsonst (und deshalb auch nichts zur falschen Zeit) macht, sondern sich überall „ökonomisch“92 verhält, wäre die Sehfähigkeit im Mutterleib völlig nutzlos. Gemäß GA V 1, 779a26-b6 findet einzig beim Menschen ein Wechsel der Augenfarbe statt. Gegen Empedokles entwickelt Aristoteles hier eine differenzierte Theorie zur Blauäugigkeit des menschlichen Säuglings. Das Ausbleiben des Farbwechsels (d. h.
87 Vgl. HA I 15, 494b15-16: Die Augen haben beim Menschen (relativ zu seiner Größe) den geringsten Abstand. 88 GA II 6, 744a5. 89 GA II 6, 744a14-23. 90 Vgl. GA II 6, 744a35-b2. 91 Vgl. HA IV 10 (ähnlich PA II 13): Demnach schlafen alle viviparen Tetrapoden. Alle Tiere mit Augenlidern verschließen dabei ihre Lider. Ebenfalls alle blutführenden Wassertiere (Wale, Delphine, Fische) schlafen (meist aber nur sehr kurz), obwohl sie keine Lider haben. 92 oikonomos, GA II 6, 744b16.
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Blauäugigkeit) begreift er als Schwäche.93 In Hinsicht auf die Embryonalentwicklung konstatiert er, der Kopf sei wegen der großen Menge des Gehirns im Verhältnis zum Rest des Leibes sehr groß. Gemäß PA IV 10, 686b11 „sind alle Kinder Zwerge“ (nanoi eisi ta paidia panta). Mit dem Ausdruck nanoi („Zwerge“) ist weniger die geringe Größe als das noch nicht ausgereifte „Gleichmaß“ (symmetria) des kindlichen Leibes gemeint. Die vollendete symmetria begreift Aristoteles als Ziel und Proprium des Menschen.94 Wolfgang Kullmann diskutiert diese Proportionslehre ausführlich und besonders in Hinsicht auf die aufrechte Stellung des Menschen im Kosmos. Er bringt den entwicklungstheoretischen Aspekt auf die Formel: „Kinder, insbesondere Kleinkinder, verlieren erst allmählich die Tierhaftigkeit ihres Körperbaus.“95 Ähnlich wie der späte Platon96 weist ebenfalls Aristoteles auf das in der Kindheit besonders rasche Wachstum hin: Gemäß GA I 18, 725b23-25 wächst der Mensch in den ersten fünf Jahren bis zur Hälfte der Größe, die er in den übrigen Jahren gewinnt. Obwohl der Mensch von Geburt an ein geistfähiges Wesen ist, ist die intellektuelle Entwicklung des anfänglich noch eher tierähnlichen Individuums zum reifen Verstandeswesen an die organischen Voraussetzungen der Sprachentwicklung gekoppelt. Eine notwendige (nicht aber hinreichende) Bedingung für Sprache ist die Möglichkeit zur Hervorbringung von Stimme und Ton. Die Hervorbringung von Stimme und Ton hat auch bei anderen stimmfähigen Wesen (etwa den Vögeln) die Existenz von Lunge und Kehlkopf zur Voraussetzung.97 Die Sprache (dialektos) ist Merkmal alleine des Menschen. Sie beruht auf der anatomischen Fähigkeit, „die Stimme mittels der Zunge zu gliedern“.98 Aus diesem Grunde beginnt die Sprachentwicklung erst mit der Ausprägung bzw. der Beherrschung dieses Organs: „Die kleinen Kinder beherrschen anfangs ihre Zunge ebenso wenig wie die anderen Glieder; sie ist nämlich noch unausgebildet 93 Vgl. HA I 10, 492a1-7 (ähnlich GA V 1, 779a34): Nur beim Menschen kommen differente Augenfarben vor. Der Mensch ist mit Ausnahme des Pferds das ein zige Wesen mit blauen Augen. 94 Vgl. PA IV 10, 686a25: Alle nicht-menschlichen Tiere sind „zwergenhaft“. 95 Kullmann 2007, 692. 96 Platon, Nomoi VII 789a. 97 Vgl. HA IV 9, 535a28 ff. 98 HA IV 9, 535a31. – Vgl. Meyer 2011, 37-54 zu den anatomischen Voraussetzungen des Sprechens bei Aristoteles.
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und löst sich erst später, so dass sie [die Kinder] meistenteils nur lallen und stammeln.“99 Ebenfalls der Stimmbruch („das sogenannte Bocken“: ho kalousi tragizein) wird von Aristoteles thematisiert.100 Der Stimmbruch setzt bei den Jungen mit ungefähr 14 Jahren ein. In diesem Alter wachsen auch die ersten Barthaare.101 In diese Zeit fällt auch die den Übergang von Kindheit zur Pubertät markierende Geschlechtsreife. (Der Übergang der Jungen zur Pubertät wurde in Athen mit einem festlichen Ritual öffentlich begangen.102) Bei den Jungen beginnt die Pubertät mit etwa 14 Jahren. Bei den Mädchen beginnt die Geschlechtsreife, wenn sich die Brüste etwa zwei Finger heben. Die jungen Männer hält Aristoteles erst etwa ab dem 21. Lebensjahr für wirklich zeugungsfähig. In seiner Politik103 verteidigt er die traditionelle (auf Solon zurückgehende) Einteilung der Lebensphasen in Rhythmen von je sieben Jahren als „im Großen und Ganzen keine schlechte Auffassung“. Mit der Fähigkeit zur Fortpflanzung erreicht der Mensch sein biologisches telos. Da der vorliegende Beitrag die biologische Genese des Menschen bis zum adulten Stadium der Entelechie behandelt, werden hier gewisse ‚Verfallserscheinungen‘ (Ende der Zeugungsfähigkeit, Haarausfall, Grauwerden usw.), die Aristoteles insb. in GA V diskutiert, nicht berücksichtigt. Weil es den Ausführungen allein um die biologische Entwicklung ging, sei abschließend bemerkt, dass die geistig-intellektuelle und moralische Entwicklung des Menschen ein zentrales Thema der praktischen Philosophie des Aristoteles ist. Nach Platon soll man erst im Alter von dreißig Jahren mit dem dann 15-jährigen Studium der Dialektik beginnen. Aristoteles folgt seinem Lehrer in diesem Punkt. Zu Beginn der Nikomachischen Ethik heißt es, über die politikê technê könne man nur mit der notwendigen Urteilskraft des im Leben Erfahrenen sprechen. Zugleich kritisiert er Platon, nicht die Zahl der Jahre sei hier entscheidend, sondern die Fähigkeit, sich von seinen Affekten (gleichsam von sei99 HA IV 9, 536b5-8. 100 Vgl. HA VII 1, 581a21; GA V 7, 788a1. 101 Vgl. Platon, Symposion 181d-e: Der erste Bartwuchs markiert die Grenze zwi schen Kindern und Jugendlichen. Hiermit keimt auch der nous auf. Platons Ausführungen stehen im Kontext des (vom Gesetzgeber zu lösenden) Problems der sexuellen Schutzwürdigkeit der (männlichen) Kinder; vgl. Fischer 1997, 181-202. 102 Vgl. Zoepffel 1985, 372 f. 103 Pol. VII 17, 1336b41-1337a3.
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ner Biologie) zu emanzipieren.104 Deutlich kommt hier die Auffassung zur Geltung, dass einzig der Mensch seinen Körper aus freien Stücken beherrschen kann. Bekanntlich begreift Aristoteles den Körper als ein Instrument der Seele.105 So hat Aristoteles selbstverständlich auch in einem allgemeineren (nicht-biologischen) Sinne über Fragen der menschlichen Entwicklung nachgedacht. Zu diesen Überlegungen gehört namentlich die in seiner Politik vorgelegte Theorie der Paideia. Gute Bildung dient einer möglichst optimalen Entfaltung des Menschseins. Dies meint bei Aristoteles den Ausbau der natürlicherweise im Menschen angelegten intellektuellen, moralischen und ästhetischen Fähigkeiten. Die Paideia ist eine öffentliche und politische Angelegenheit. Die von der Polis zu garantierende Bildung zielt darauf, dass der Mensch ein gelingendes und insgesamt glückliches Leben führen kann, als moralisch integeres Individuum zur Partizipation am politischen Gemeinwesen befähigt wird und die Chance zu einer wissenschaftlich-intellektuellen und/oder musisch-ästhetischen Lebensgestaltung erhält.106
104 EN I 1, 1095a2 ff. 105 Vgl. die Beiträge von Althoff und Toepfer in diesem Band; zuvor u. a. Zeller 1879, 487 ff., Kosman 1987, 376 f. sowie die wichtigen Forschungen von Abra ham P. Bos (Bos 2003; 2006). 106 Vgl. maßgeblich: Schütrumpf 2005.
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Vom genetischen Programm zum Entwicklungssystem Warum das Genom kein Kuchenrezept ist1
Eines der ältesten philosophischen und biologischen Probleme ist die Frage, wie die Form eines Lebewesens entsteht. Warum entwickelt es sich so und nicht anders? Wie entstehen seine charakteristischen Eigenschaften und Verhaltensweisen? Oder anders gefragt: Warum schlüpft aus einem Hühnerei immer ein Huhn und nie eine Ente oder gar ein Elefant? Aus heutiger Sicht scheint es auf diese Fragen eine naheliegende Antwort zu geben: Weil Huhn, Ente und Elefant eine unterschiedliche genetische Ausstattung besitzen – und damit ein ganz spezifisches genetisches Programm, einen Plan für den Bau des jeweiligen Organismus. Aber ist diese Vorstellung tatsächlich zutreffend? Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die metaphorische Rede von einem Programm, das in der DNA gespeichert ist und alle notwendigen Instruktionen für die Individualentwicklung des Organismus – seine Ontogenese – enthält, nicht nur aus biophilosophischer Sicht problematisch ist, sondern auch dem aktuellen biologischen Erkenntnisstand nicht gerecht wird. Dazu werde ich im ersten Abschnitt zunächst zwei einflussreiche, aber letztlich erfolglose Erklärungsversuche für das Rätsel der Ontogenese – Präformationismus und Epigenesis – vorstellen und zeigen, warum die Existenz eines genetischen Programms auf den ersten Blick eine plausiblere Lösung verspricht. Im zweiten Abschnitt führe ich eine Reihe von empirischen Belegen aus der Biologie an, die in den letzten Jahren dazu beigetragen haben, dass die für das Konzept des genetischen Programms grundlegende Vorstellung von einer Sonderrolle der Gene im Entwicklungsprozess zunehmend in die Kritik geraten ist. Abschließend zeige ich im dritten Abschnitt am Beispiel des Entwick1 Der vorliegende Artikel entstand im Rahmen des DFG-geförderten Projektes „Was ist und was kann ein Gen nicht? Negativbestimmung des ontologischen Status des Gens als Grundlage einer nicht-essentialistischen Biologie“ (SCHM 2638/1-1).
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lungssystemansatzes von Susan Oyama, wie ein biophilosophisches Konzept aussehen könnte, das eine Neuformulierung des Problems der Individualentwicklung jenseits der Programmmetapher unternimmt.
1. Das Rätsel der Ontogenese 1.1 Präformationismus und Epigenesis Wie und warum entwickelt sich also aus einem Hühnerei ein Huhn, mit allen charakteristischen Eigenschaften eines Huhns? Biologen und Philosophen haben sich an diesem Problem über Jahrtausende förmlich die Zähne ausgebissen. Seit der Antike und bis ins 20. Jahrhundert waren dabei zwei konkurrierende Antworten vorherrschend: Präformationismus und Epigenesis.2 Vertreter des Präformationismus sind der Ansicht, dass die strukturierte Form eines Lebewesens immer schon vorhanden ist, auch in den frühesten Stadien seiner embryonalen Entwicklung und sogar schon vor der Befruchtung. Schon in Anaxagoras’ Schrift „Über die Natur“ findet sich mit der Begründung, dass nicht „Haar aus Nicht-Haar und Fleisch aus Nicht-Fleisch entstehen“ kann, eine frühe Formulierung des Präformationsgedankens, dass alle Körperteile eines Kindes – wegen ihrer Kleinheit zunächst unsichtbar – im väterlichen Samen enthalten sein müssen. Als Alternativmodell zum Präformationismus wurde bereits von Aristoteles das Konzept der Epigenesis vorgeschlagen, das bis ins 18. Jahrhundert der einzige ernstzunehmende Versuch einer Erklärung der Embryonalentwicklung blieb.3 Aristoteles argumentierte aufgrund empirischer Beobachtungen für eine schrittweise Entstehung von Organen während des Entwicklungsprozesses: „Entweder müssten sich […] alle Körperteile zugleich entfalten, z. B. Herz, Lunge, Leber, Auge usw., oder der Reihe nach […]. Daß die Teile sich nicht zugleich entwickeln, wird man unmittelbar gewahr, da es sich zeigt, daß manche Teile schon vorhanden sind, wenn es andere noch nicht sind. Daß man sie nicht etwa bloß ihrer Kleinheit wegen noch nicht sieht, ist einzusehen: die Lunge, die größer 2 Vgl. zum Folgenden Maienschein 2005; 2007. 3 Vgl. GA (Übersetzung: Gohlke 1959). Vgl. dazu auch Maienschein 2007.
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ist als das Herz, tritt in der Anfangsentwicklung erst später hervor als das Herz.“4 Die Form des Organismus ist nach epigenetischer Vorstellung also noch nicht in den Keimzellen vorhanden, sie entsteht erst während der Entwicklung des Embryos Schritt für Schritt neu. Aus einer zunächst formlosen und unstrukturierten Materie entwickeln sich allmählich Struktur und Organe des jeweiligen Lebewesens. Im Gegensatz zu den Präformationisten gehen Vertreter der Epigenese-Theorie davon aus, dass die Entwicklung von Form aus Nicht-Form die Existenz einer speziellen Lebenskraft voraussetzt, die sich von physikalischen Kräften unterscheidet. Bereits für Aristoteles war offensichtlich, dass es ein inneres immaterielles Formprinzip („Seele“) geben muss, das die Ursache der graduellen und scheinbar zielgerichteten Entwicklung des Embryos ist und diese steuert. Beim Menschen verortet Aristoteles dieses Prinzip im männlichen Samen: das Männliche steuert bei der Zeugung den Plan der Entwicklung bei, das Weibliche dagegen das stoffliche Substrat.5 Mit der Weiterentwicklung der vergleichenden Embryologie verlor der epigenetische Ansatz zunächst an Bedeutung. Als einflussreiche Alternativen zur Epigenesis wurden vor allem im 18. Jahrhundert moderne Varianten des Präformationismus entwickelt, bei denen der ganze Organismus, mit allen seinen Merkmalen und Eigenschaften, wie ein kleiner Homunkulus in den Keimzellen sitzt und nur noch heranwachsen muss. Frühe Präformationisten wie Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) vermuteten den Embryo meist in den Samenzellen, während Ovisten wie der Zoologe Charles Bonnet (1720–1793) ihn im mütterlichen Ei lokalisierten.6 4 GA 734a. 5 Vgl. GA 737a. 6 Wie Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille anmerken, muss der Präformationismus jedoch nicht notwendigerweise mit der Vorstellung einer Präexistenz des kompletten Organismus in den Keimzellen einhergehen: „Prä formation meinte im Gegensatz zur Epigenese nur, dass ein zur Entwicklung befähigter Keim keine undifferenzierte Masse ist, sondern bereits eine bestimm te Struktur besitzt, in der das künftige Lebewesen zwar nicht in verkleinertem Maßstab vollständig abgebildet, aber doch in bestimmter Weise vorgezeichnet sein muss. Dies verträgt sich durchaus mit der Vorstellung, dass der präformierte Keim im Körper der Eltern oder sogar erst bei der Empfängnis produziert wird.“ (Rheinberger/Müller-Wille 2009, 48) Allerdings stellt sich bei einer Präforma tionstheorie, die von einer nachträglichen Produktion des präformierten Keim ausgeht, die Frage, wie dieser denn produziert werden soll: aus einer undifferen
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Dabei mehrten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Beobachtungen und Experimente, die gegen den Präformationismus sprachen. So sind biologische Phänomene wie angeborene Missbildungen oder die Regeneration von Körperteilen und die Tatsache, dass die meisten Lebewesen ihre Eigenschaften sowohl vom Vater als auch von der Mutter erben, nur schwer mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass die Form jedes Organismus bereits in den Keimzellen angelegt sein soll. Ein weiterer Kritikpunkt gegenüber dem Präformationismus in seiner starken Form ist, dass er absurde Konsequenzen hätte. Denn jede jüngere Generation müsste bereits fertig in den Keimzellen der älteren enthalten sein, darin wieder eine noch jüngere, und immer so weiter, ohne dass mit der präformationistischen „Einschachtelungslehre“ das Rätsel der ursprünglichen Formentstehung gelöst würde – es sei denn, man führte diese, wie manche Präformationisten, auf einen einmaligen göttlichen Schöpfungsakt zurück. Ende des 18. Jahrhunderts löste daher die an empirischen Beobachtungen ausgerichtete Theorie der Epigenese, wie sie etwa von Caspar Friedrich Wolff (1734–1794) neu formuliert wurde, den Präformationismus als vorherrschende Erklärung der Ontogenese erneut ab. Eine wesentliche Motivation dafür war das Erstarken eines Naturverständnisses, das auch biologische Prozesse ohne den Verweis auf göttliches Eingreifen mit ähnlichen Modellen zu erklären sucht, wie rein physikalische Prozesse – durch die Wirkung natürlicher Kräfte, die empirisch untersucht werden können. Wie Aristoteles versuchten auch die modernen Epigenetiker des 18. Jahrhunderts, die Entstehung der organismischen Formen durch den Rückgriff auf besondere Lebenskräfte zu erklären. Aber sie verstanden die „Lebenskraft“, die ihrer Meinung nach hinter dem Entwicklungsprozess stand, durchaus in einem mechanistischen Sinn, analog zu anderen Naturkräften und zu Kräften, die in Organismen wirksam sind. So spricht etwa Johann Friedrich Blumenbach von einem „Bildungstrieb“, durch den aus dem „vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper“7 der Eltern ein neues Lebewesen geformt wird. Blumenbach beschreibt den Bildungstrieb
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zierten Masse? Dann hätten wir es eher mit einer epigenetischen Theorie zu tun. Oder aus einer bereits vorstrukturierten Form? Dann würden wir auf das gleiche Einschachtelungsproblem (s. unten) stoßen, wie bei der Präexistenz-Version der Präformationstheorie. Blumenbach 1791, 31.
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als einen lebenslang tätigen Trieb, der Organismen dazu befähigt, „ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, wo möglich wieder herzustellen. Ein Trieb, der folglich zu den Lebenskräften gehört, der aber ebenso deutlich von den übrigen Arten der Lebenskraft der organisirten Körper (der Contractilität, Irritabilität, Sensilität [sic!] etc.) als von den allgemeinen physischen Kräften der Körper überhaupt verschieden ist […].“8 Die kritische Frage ist aber: Woher kommt die besondere Kraft, die dafür sorgt, dass aus Materie komplexe Formen und Strukturen entstehen? Und was unterscheidet diese Lebenskraft von anderen Naturkräften? Vor allem die mit epigenetischen Ansätzen häufig verbundene vitalistische Vorstellung von einer überaus wirkmächtigen Kraft, die nur in Lebewesen vorkommt, ist aus Sicht der modernen Biologie höchst problematisch. Denn hier liegt ein deutlicher Widerspruch zum heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild, das neben den physikalischen Kräften keine zusätzlichen Naturkräfte vorsieht. Ein weiteres Problem epigenetischer Theorien ist die Erklärung von Entwicklungsdifferenzen, sowohl zwischen Organismen verschiedener Arten als auch bei der Differenzierung von unterschiedlichen Zell- und Gewebetypen in der Ontogenese eines Individuums: Hat jede Art und jede Zelle eine eigene Variante der Lebenskraft? Oder wirkt diese jeweils unterschiedlich? Und wenn ja, warum? 1.2 Das genetische Programm als Mittelweg zwischen Präformationismus und Epigenese Vor dem Erkenntnisstand der modernen Entwicklungsbiologie haben sowohl Präformationismus als auch Epigenese in ihrer ursprünglichen Form mit gravierenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber wie könnte eine alternative Erklärung der Entwicklung eines Lebewesens aussehen, die diese Probleme vermeidet? In der Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch Entdeckungen im neuen Forschungsbereich der Genetik eine Lösung ab, die einen Mittelweg zwischen Präformationismus und Epigenese darstellt und die bis heute großen Einfluss besitzt: Die spezifischen Merkmale eines Individuums können, so die genzentrierte Antwort auf das Ontogene8
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seproblem, auf seine genetische Ausstattung zurückgeführt werden, da jeder Organismus ein genetisches Programm trägt, eine in kleine Einzelschritte zerlegte Vorschrift, die in der DNA in Form von detaillierten Informationen über den Bau des Organismus gespeichert ist. Die Individualentwicklung besteht in der schrittweisen Abarbeitung dieses Programms, das als eine „Liste von Instruktionen [verstanden werden kann], die in einem speziellen Code geschrieben sind, decodiert werden können und deren Verwirklichung im Werden des Organismus […] die Lebewesen hervorbringt, die wir selbst sind und die mit uns die Biosphäre bevölkern.“9 Die Programmmetapher wurde 1961 (zusammen mit den verwandten Metaphern der „Blaupause“ und des „Bauplans“) von Francois Jacob und Jacques Monod zur Veranschaulichung ihres Operon-Modells der Genregulation mit den folgenden Worten in den genetischen Diskurs eingeführt: „[…] the genome is considered as a mosaic of independent molecular blue-prints for the building of individual cellular constituents. In the execution of these plans, however, co-ordination is evidently of absolute survival value. The discovery of regulator and operator genes, and of repressive regulation of the activity of structural genes, reveals that the genome contains not only a series of blueprints, but a co-ordinated program of protein synthesis and the means of controlling its execution.“10 Ursprünglich bezog sich der Begriff des Programms also im Kontext der Genetik nicht auf den Entwicklungsprozess und die Entstehung der phänotypischen Form des Organismus, sondern auf den Prozess der Proteinsynthese. Ausgangspunkt für die Metapher war die molekulare Ebene, auf der die genetische Information zur Synthese eines Proteins mit spezifischer Struktur genutzt wird. Ermöglicht wird die Speicherung der Information durch den Aufbau des fadenförmigen und doppelsträngigen DNA-Moleküls als lange Kette aus chemischen Nukleotid-„Bausteinen“. Mit einem stabilen „Rückgrat“ aus Phosphatgruppen und Zuckern sind in beliebiger Reihenfolge vier verschiedene stickstoffhaltige Basen (Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin) verbunden. Da die Anordnung der Basen variabel ist, ergibt sich daraus eine ganz spezifische Basensequenz. Entscheidend für den informationellen Charakter der DNA ist, 9 Rehmann-Sutter 2010, 33. 10 Jacob/Monod 1961, 354 (Hervorhebung von mir). Vgl. zur Entwicklung der Programmmetapher in der Genetik etwa Keller 2003.
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dass jeweils zwei der vier Basen (Adenin und Thymin, bzw. Guanin und Cytosin) komplementär zueinander sind, d. h. mit hoher Spezifität nur an die jeweils komplementäre Base und nicht an die beiden anderen binden. Die einzelnen DNA-Stränge können daher als Vorlage für die Synthese eines „Negativabdrucks“ der Basensequenz der DNA und zur Replikation der Erbinformation dienen. Im Verlauf der Proteinsynthese wird diese chemische Eigenschaft des DNA-Moleküls zudem dazu genutzt, die genetische Information von der Basensequenz in eine Aminosäuresequenz zu „übersetzen“. Zunächst wird dazu in einem als Transkription bezeichneten Prozess von der in einem DNA-Abschnitt gespeicherten Sequenzinformation eines Gens ein „Negativ“ in Form eines kürzeren Nukleinsäure-Moleküls (mRNA) synthetisiert. Die Basensequenz auf der mRNA dient dann in einem zweiten Schritt, der Translation, als Vorlage für die Synthese des Proteins. Dabei „codieren“ jeweils drei der auf der DNA hintereinander liegenden Basen (ein so genanntes Triplett) für eine bestimmte Aminosäure. Dieser „genetische Code“ ermöglicht eine weitgehend „wortgetreue Übersetzung“ der Nukleinsäuresequenz in die entsprechende Aminosäuresequenz. Und da Aminosäuren wiederum die Bausteine der Proteine sind, enthält ein bestimmter Abschnitt auf der DNA – ein Gen – die Information zur Synthese eines Proteins mit ganz spezifischer Struktur. Auf diese Weise sind Struktur und Funktion des Gens – seine Basensequenz und die Synthese des spezifischen Proteins – eindeutig miteinander verbunden.11 Proteine sind für das Zustandekommen der meisten Merkmale eines Organismus, für seine Entwicklung und für sämtliche biologische Prozesse von entscheidender Bedeutung, denn sie erfüllen einen Großteil der im Organismus anfallenden Aufgaben. So katalysieren sie z. B. chemische Reaktionen, verleihen der Zelle Struktur, transportieren Stoffe von Zelle zu Zelle und vieles mehr. Folgt man der Idee des genetischen Programms, dann enthält die spezifische Sequenz der Basenpaare in der DNA eines Organismus daher alle nötigen Anweisungen, die, Schritt für Schritt und in der richtigen
11 Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, wird dieses klassisch-molekulare Genkonzept, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf biologischer und gesellschaftlicher Ebene die Vorstellung von Genen und ihrer Funktion im Or ganismus dominierte, heute zunehmend kritisiert. Vor allem ist die Zuordnung der DNA-Struktur zu einer spezifischen Aminosäuresequenz viel variabler als nach der „Entzifferung“ des genetischen Codes ursprünglich angenommen wurde.
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Reihenfolge befolgt, zur Herstellung der jeweils benötigten Proteine und damit letztlich zum gewünschten Endresultat – dem „fertigen“ Organismus – führen. Stark vereinfacht könnte man sich die Entstehung eines Organismus wie das Backen eines Kuchens vorstellen, mit dem Genom (d. h. der Gesamtheit der DNA eines Organismus) als Kuchenrezept.12 Ausgangspunkt für die Organismus-„Produktion“ sind eine Reihe von „Backzutaten“: chemische Moleküle, z. B. Proteine, Lipide, Aminosäuren, Nukleinsäuren und Wasser. Diese werden nach dem entsprechenden Genrezept im richtigen Mengenverhältnis und in einer bestimmten Reihenfolge „gemischt“, d. h. sie interagieren in genetisch eindeutig festgelegter Weise miteinander. Gene bestimmen dabei auch, wo in dem undifferenzierten Embryo der Kopf und das Hinterende, die Flügel, die Beine usw. entstehen. Je nach Rezept entwickeln sich an diesen Stellen dann die entsprechenden Körperteile, die sich mit Hilfe der Proteine immer weiter differenzieren, es wachsen Federn, Schnabel oder Rüssel. So nimmt der Organismus unter den entsprechenden Umweltbedingungen (also zum Beispiel, wie im Falle eines echten Kuchens, bei der richtigen „Back“-Temperatur) eine immer individuellere Form an. Und wie es ein Rezept für Erdbeertorte und eines für Schwarzwälder Kirsch gibt, gibt es ein Genrezept für die Herstellung eines Huhns und eines für die Herstellung eines Elefanten. Die charakteristischen Unterschiede zwischen Individuen verschiedener Arten entstehen also letztlich durch Unterschiede in der Basensequenz ihres Genoms. Der wichtigste Aspekt, in dem sich die Rezeptmetapher von der Metapher des genetischen Programms unterscheidet, ist nicht die mit dem Rezept (im Vergleich zum Programm) vermeintlich verbundene geringere Komplexität oder Wissenschaftlichkeit. Denn es sind sowohl sehr komplexe und wissenschaftlich objektivierbare 12 Die Rezeptmetapher wird aufgrund ihrer intuitiven Verständlichkeit besonders in populärwissenschaftlichen Darstellungen der Embryonalentwicklung gerne verwendet. So betont z. B. Richard Dawkins den Unterschied zwischen der ebenfalls verbreiteten Vorstellung eines genetischen Bauplans und der seiner Mei nung nach zutreffenden eines genetischen Rezeptes: „Ein Bauarbeiter errichtet ein Haus, indem er Ziegelsteine an die vom Bauplan vorgegebenen Stellen setzt. Der Bäcker dagegen stellt nicht dadurch einen Kuchen her, dass er Teig und Heidelbeeren an bestimmte Positionen bringt, sondern indem er Zutaten nach einem vorgegebenen Verfahren verarbeitet, beispielsweise indem er sie siebt, rührt, schlägt und erhitzt. […] Bei uns auf der Erde werden Embryonen nach Rezepten hergestellt.“ (Dawkins 2008, 581 f.) Vgl. zur Diskussion um Vor- und Nachteile der Rezeptmetapher gegenüber der Bauplanmetapher Condit 2001.
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Rezeptanweisungen denkbar als auch sehr simple Programme. Entscheidend ist vielmehr, dass die Umsetzung eines Rezeptes – das Backen des Kuchens – implizit die Existenz eines Bäckers voraussetzt, der die einzelnen Schritte sukzessive durchführt. Das Konzept des genetischen Programms erscheint dagegen ein Stück weit weniger metaphorisch, da wir uns den Ablauf eines einmal geschriebenen Programms, in Analogie zur Software eines Computers, auch ohne das Eingreifen eines intentional Handelnden vorstellen können. In einem wesentlichen und für die weitere Argumentation zentralen Punkt sind die beiden Konzepte jedoch durchaus vergleichbar: Im alltäglichen Sprachgebrauch existieren sowohl Rezepte als auch Programme unabhängig vom Prozess ihrer aktuellen Umsetzung in Küche oder Computer, da sie bereits zuvor mit einer konkreten Zielsetzung entwickelt wurden. Der durch die Verwendung der Begriffe als genetische Metaphern vorgegebene Denkrahmen legt daher implizit nahe, dass es eine informationelle Entität hinter dem genetischen Material der DNA geben muss, die dessen Aktivitäten im Verlauf der Proteinsynthese lenkt und kontrolliert. Mit der Rede vom Genrezept oder vom genetischen Programm wird suggeriert, dass die Anweisung für die Entwicklung eines Organismus in Form einer ontologisch realen, dem Entwicklungsprozess zeitlich vorangehenden und ihn zugleich überdauernden Entität in seinen Genen lokalisiert ist. Es ist klar, dass der Prozess der Ontogenese sowohl durch die Rezept- als auch durch die Programmmetapher stark vereinfacht dargestellt wird. Aber für die biophilosophische Diskussion ist vor allem wichtig, dass die Idee eines genetischen Rezeptes oder Programms, das die Entwicklung steuert, im Allgemeinen zumindest als eine überzeugende Metapher zur anschaulichen Darstellung der komplexen Individualentwicklung angesehen wird, d. h. als ein sprachliches Bild, das den grundsätzlichen Ablauf eines biologischen Entwicklungsprozesses (bei allen Ungenauigkeiten im Detail) plausibel und anschaulich verdeutlicht. Die Vorstellung von Genen als Instruktionen für die Vielfalt organismischer Formen ist so weit verbreitet und so tief verankert, dass wir sie häufig nicht einmal mehr als metaphorisch erkennen.13 Ein Grund für die intuitive Plausibilität und große Hartnäckigkeit der Programmmetapher ist sicherlich, dass sie die willkommene Rettung vor den gleichermaßen unangenehmen Konsequenzen von 13 Vgl. dazu Oyama 2000, 59.
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Präformationismus und Epigenesis verspricht. Denn das Konzept des genetischen Programms erscheint einerseits als in einer wissenschaftlich akzeptablen Form epigenetisch: Gene fungieren als moderne Variante des aristotelischen Formprinzips, der Ursache der Entwicklung der organismischen Strukturen. Diese Interpretation der DNA war auch unter Biologen lange Zeit weit verbreitet. So schreibt der Genetiker Max Delbrück: „It is my contention that Aristotle’s principle of the ‚unmoved mover’ perfectly describes DNA: it acts, creates form and development, and is not changed in the process.“14 Die Vorstellung, dass die DNA der im Inneren des Organismus verborgene „unbewegte Beweger“ des körperlichen Kosmos ist, da Gene am Anfang aller wesentlichen biologischen Kausalketten stehen und den Entwicklungsprozess nicht nur lenken, sondern initiieren, wird von Nelkin und Lindee im Sinne eines säkularen Äquivalents zur Seele interpretiert: „The similarity between the powers of DNA and those of the Christian soul, we suggest, is more than linguistic or metaphorical. DNA has taken on the social and cultural functions of the soul. It is the essential entity – the location of the true self – in the narratives of biological determinism.“15 Das Besondere an Genen ist jedoch nicht nur, dass sie eine einzigartige Form von biologischer Kausalkraft zu besitzen scheinen, die anderen Biomolekülen nicht zukommt. Das Konzept des genetischen Entwicklungsprogramms ist ein Epigenese-Konzept ohne die Nachteile früherer epigenetischer Ansätze, weil Gene die Information zur Verfügung stellen, mit der die in allen belebten und unbelebten Körpern wirksamen Naturkräfte in einem Lebewesen auf spezifische Weise arbeiten können, um Schritt für Schritt aus unstrukturierter Materie zu organismischen Formen zu gelangen. Da die DNA als materielle Grundlage der Gene und der genetischen Information, und damit als ein materielles Formprinzip verstanden werden kann, ist die Annahme einer mysteriösen immateriellen Lebenskraft oder Seele, die dem wissenschaftlichen Weltbild widersprechen könnte, zur Erklärung dieses Prozesses nicht mehr erforderlich.16
14 Delbrück 1971, 54 f. 15 Nelkin/Lindee 2004, 41 f. 16 Allerdings könnte die Rede vom genetischen Programm in einer starken Lesart auch als wissenschaftliche Variante des Vitalismus interpretiert werden, da es die
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Andererseits beinhaltet der genetische Ansatz zur Erklärung des Entwicklungsprozesses aber auch präformationistische Aspekte. Jane Maienschein bezeichnet die Genetik des 20. Jahrhunderts aufgrund der Vorstellung eines auf den Chromosomen gespeicherten internen Programms, das alle Informationen für den Bau eines Organismus liefert, gar als „new preformation or more accurately predeterminism“.17 Zwar enthält das Genom kein konkretes „Miniaturabbild“ des Organismus. Aber, wie Christoph Rehmann-Sutter es ausdrückt: Begriffe wie „Plan, Bauanleitung und (Entwicklungs-) Programm […] implizieren, die Sequenz der DNA-Basenpaare sei ein verschlüsseltes Vorbild des Lebewesens und seines Wandels“.18 Bedeutsam für die Kritik an der Programmmetapher ist, dass mit dieser „Vorbildtheorie“ der DNA häufig auch die Idee verbunden ist, dass im „Prinzip DNA“ die „Antwort auf die Frage nach dem Sein der Lebewesen zu finden sei“.19 In der DNA eines Lebewesens läge demnach dessen Natur, das, was ein Lebewesen zu diesem Lebewesen macht. Sowohl der epigenetische Aspekt (DNA als „unbewegter Beweger“ oder „Seele“) als auch der präformationistische Aspekt (DNA als „Vorbild“) sind mit der Vorstellung verknüpft, dass Gene als kausale Essenz des Organismus angesehen werden können, d. h. als eine Substanz oder Kraft, die im Inneren des Organismus verborgen ist und seine wesentlichen phänotypischen Eigenschaften kausal determiniert.20 Der Besitz eines spezifischen, in der DNA gespeicher-
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immaterielle in der DNA gespeicherte Information ist, die die Entwicklung von Lebewesen im buchstäblichen Sinn steuert, vgl. dazu Vinci/Robert 2005, 203. Maienschein 2005, Sect. 7. Rehmann-Sutter 2005, 43 (Hervorhebung im Original). Ebd., 46. Im Gegensatz zu dieser kausalen Interpretation des Essenzbegriffs wird der von Aristoteles vertretene Essentialismus üblicherweise als ein taxonomisches bzw. typologisches Prinzip verstanden, das von unveränderlichen sortalen Essenzen im ontologischen Sinn ausgeht. Es gibt aber auch Interpretationen, nach denen Aristoteles die Annahme von Essenzen bzw. Naturen in der Biologie als explana torisches Prinzip verstanden hat, das im Sinne einer kausalen Essenz zur Erklä rung von Konstanz und Ähnlichkeit organismischer Merkmale herangezogen werden kann. So schreibt etwa D. M. Walsh: „According to Aristotelian essen tialism, the nature of an organism is constituted of a particular goal-directed disposition to produce an organism typical of its kind.“ (Walsh 2006, 425) Nach Walshs Interpretation ist der aristotelische Essentialismus eine nicht-typologi sche Form des kausalen Essentialismus, der nicht nur mit den Erkenntnissen der modernen Biologie vereinbar ist, sondern dem – vor allem in der Evolutionsund Entwicklungsbiologie – sogar eine wichtige explanatorische Rolle zukommt.
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ten Gensatzes und das ungestörte Ablaufen des damit verbundenen genetischen Programms wären demnach der Grund dafür, dass sich ein Lebewesen durch seine individuellen Eigenschaften von anderen unterscheidet und dass es zugleich essentielle Eigenschaften mit den Mitgliedern seiner Art teilt. Unzweifelhaft ist die Rede von einem genetischen Entwicklungsprogramm nicht nur höchst eingängig, sondern im Kontext der biologischen Forschung auch immer noch sehr nützlich. Wir können damit nicht nur die Vorgänge bei der Entwicklung eines Organismus beschreiben, ohne uns wie bei den ursprünglichen Präformations- und Epigenese-Theorien sofort in logische oder metaphysische Probleme zu verstricken – das Konzept des genetischen Programms besitzt darüber hinaus großen heuristischen Wert, wie die Erfolge der Molekular- und Entwicklungsbiologie in den letzten Jahrzehnten zeigen. Aber ist die Programmmetapher auch auf der ontologischen Ebene sinnvoll, d. h. beschreibt sie die biologischen Vorgänge wirklich zutreffend? Besitzt jedes Lebewesen eine genetische Essenz? Gibt es vielleicht sogar, wie Delbrücks Vergleich der DNA mit dem Prinzip des unbewegten Bewegers und weitere metaphorische, in der Biologie häufig verwendete Ausdrücke wie master control genes nahelegen, aktiv handelnde „homunculoid genes“,21 die bei der Entwicklung eines Organismus „die Fäden ziehen“? Zwar kann diese starke Form der Personifizierung der Gene als Puppenspieler ganz offensichtlich nicht wörtlich verstanden werden. Aber Gene spielen unbestritten eine so zentrale Rolle in den komplexen Interaktionen unterschiedlicher Kausalfaktoren im Verlauf der Ontogenese, dass die Zuschreibung eines im Vergleich mit anderen Biomolekülen herausgehobenen ontologischen Status auf den ersten Blick gerechtfertigt erscheint. Denn zwischen dem genetischen Material der DNA und dem am Ende des Expressionsprozesses stehenden Produkt besteht eine Beziehung, die in dieser Form in keinem anderen biologischen Prozess zu finden ist, da sie zur konstanten Entstehung strukturell hochspezifischer Moleküle führt. Nur im Verlauf eines genetischen Prozesses findet in der Zelle die zeitlich und räumlich strukturierte Abfolge von Ereignissen Da die Frage nach der korrekten Interpretation aristotelischer Essenzen in der Aristoteles-Forschung offenbar nicht abschließend geklärt ist, möchte ich auf diesen Punkt hier nicht näher eingehen. – Vgl. zu Walsh auch den Beitrag von Köchy. 21 Vgl. Oyama 2000, 13.
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statt, die in der Synthese eines spezifischen Proteins aus einzelnen Aminosäuren mündet. Vor diesem Hintergrund und angesichts der immensen Bedeutung der Proteinsynthese für den Entwicklungsprozess enthält die Metapher des genetischen Programms eine für die molekularbiologische Forschung überaus fruchtbare Analogie. Denn ähnlich wie zwischen transkribierter DNA- bzw. RNA-Sequenz und der entsprechenden Aminosäuresequenz eines Polypeptids eine Beziehung von einzigartiger Spezifität und Konstanz besteht, liefert ein Computerprogramm bei jeder Anwendung vergleichbare, nachvollziehbare und reproduzierbare Ergebnisse. Man könnte daher versucht sein zu argumentieren, dass mögliche Schwächen des Programmbegriffs bei seiner Übertragung auf die tatsächlichen biologischen Gegebenheiten als notwendige metaphorische Unschärfen einer vereinfachten Darstellung komplexer Sachverhalte in Kauf genommen werden müssen. Aber wie Susan Oyama zutreffend sagt, ist das Schlimme an der Erklärung biologischer Prozesse mit Vokabeln wie Rezept oder Programm nicht, dass damit nichts erklärt wird – sondern im Gegenteil: dass damit scheinbar alles erklärt wird.22 Indem die DNA im Rahmen der Programmmetapher nicht nur als ein wichtiger Kausalfaktor bei der Individualentwicklung präsentiert wird, sondern implizit oder explizit zugleich als Antwort auf die alte Frage nach dem Wesen eines Lebewesens, wird sie ontologisch stark überhöht. Durch die Verwendung der Programmmetapher als biologischer Fachausdruck besteht die Gefahr, dass auch die Identifikation von Genen mit der kausalen Essenz, dem Formprinzip des Organismus, das wie ein Homunkulus lenkend und regulierend hinter dem Entwicklungsprozess steht, nicht mehr als rein metaphorisch erkannt wird. Die Rede vom genetischen Rezept oder Programm ist im Hinblick auf die notwendige Diskrepanz zwischen der sprachlichen Ebene der metaphorischen Beschreibung und der ontologischen Ebene der biologischen Phänomene daher ungleich problematischer als dies bei anderen biologischen Metaphern der Fall ist. Dies gilt besonders für den unreflektierten Einsatz genetischer Metaphern an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Katrin Weigmann weist auf zwei Arten des Missbrauchs von Metaphern bei der Präsentation biologischer Forschung in der Öffentlichkeit hin: zum einen das Erwecken unbeabsichtigter Assoziationen und zum anderen die Verschleierung der wissenschaftlichen Konzepte, 22 Vgl. ebd., 73.
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die durch die Metaphern eigentlich illustriert und geklärt werden sollen.23 Beide Aspekte finden sich im genetischen Diskurs wieder. So legt die bei der Beschreibung von Genen weit verbreitete Kombination von Metaphern einerseits aus dem semantischen Umfeld der Sprache bzw. des Textes und der Datenverarbeitung („Programm“, „Code“, „Information“, „Computer“ etc.) und andererseits aus dem Bereich der Aktivität („Regulatorgene“, „Genaktivität“ etc.) Assoziationen zu intentional handelnden menschlichen Personen und damit eine Personifizierung des Gens nahe, die zu übersteigerten Vorstellungen über die Wirkmächtigkeit der Gene führen können. Ich werde mich im Folgenden aber vor allem auf das Problem der Verschleierung wissenschaftlicher Konzepte durch den Metapherngebrauch konzentrieren und zeigen, dass das Bild der Gene als aktive und autonome Entitäten, die in ihrer Gesamtheit (in Form des Genoms) alle wesentlichen Informationen für den zielgerichteten Ablauf des Entwicklungsprogramms enthalten, nicht dem aktuellen biologischen Forschungsstand entspricht.
2. Grenzen der Programmmetapher Kennzeichnend für die Rede vom genetischen Programm ist, dass Genen eine Sonderrolle im Entwicklungsprozess zugeschrieben wird. Nur Gene besitzen Information im Sinne semantischer Information: Sie tragen Informationen24 über den aktuellen oder zukünftigen Zustand des Organismus, darüber, wie das Lebewesen aussehen und sich verhalten sollte. Ihre Bedeutung für die Entwicklung wird daher als etwas eindeutig von der Rolle anderer Kausalfaktoren zu Unterscheidendes angesehen. Nicht-genetische Faktoren werden meist entweder als materielle Grundlage („Zutaten“) und notwendige Rahmenbedingungen 23 Vgl. Weigmann 2004. 24 Im Kontext der Biologie ist fast immer von genetischer Information (im Sin gular, im Sinne eines terminus technicus) die Rede. Ich verwende hier und an einigen anderen Stellen im Text (etwas unüblich) den Plural, entweder um die Assoziation zum Alltagsgebrauch des Informationsbegriffs zu verstärken bzw. um die besondere semantische Bedeutung der biologischen Information durch die Analogie mit der ursprünglichen Verwendung des Begriffs zu verdeutlichen, oder weil es tatsächlich um mehrere Arten oder „Einheiten“ biologischer Infor mation geht (z. B. Positionsinformationen).
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(„Backtemperatur“) angesehen, die vorhanden sein müssen, um die Entwicklung des Organismus nach dem vorgegebenen Rezept zu ermöglichen. Oder sie werden als Störfaktoren interpretiert, als Grund, warum ein Gen nicht die „beabsichtigte“ Wirkung hat, warum seine eigentliche „Bedeutung“ fehlrepräsentiert wird.25 Die Vorstellung von einer einzigartigen Rolle der Gene im Entwicklungsprozess, die den meisten Menschen so selbstverständlich erscheint, ist jedoch von wissenschaftlicher Seite in die Kritik geraten. Sowohl in der Biologie als auch in der Biophilosophie kann man heute von einem interaktionistischen Konsens sprechen: Es ist unstrittig, dass die Individualentwicklung auf dem Zusammenspiel genetischer und nicht-genetischer Komponenten beruht.26 Die ausschließliche Fokussierung auf genetische Faktoren reicht offenbar nicht aus, um die Entstehung der wesentlichen Merkmale eines Lebewesens, sein So-Sein angemessen beschreiben und verstehen zu können. Ein Hauptpunkt der Kritik am Genzentrismus ist, dass ein molekulares Gen, also ein spezifischer DNA-Abschnitt, nicht allein die Sequenz eines Proteins, geschweige denn ein komplexes Merkmal, determiniert. Für sich genommen, ohne die biochemische Umwelt in der Zelle, „bewirkt“ das DNA-Molekül gar nichts: „[…] without the highly structured cellular environment, […] DNA is inert, relatively unstructured, non-functional, and so ontologically meaningless.“27 Die bemerkenswert reaktionsträge DNA ist selbst nicht aktiv, erst recht nicht in so koordinierter und zielgerichteter Weise, wie es die Programmmetapher nahelegt. Diese Kritik kann nicht durch den Hinweis entkräftet werden, dass auch das Ablaufen eines Computerprogramms die Existenz eines Computers voraussetzt. Denn der zelluläre und organismische Kontext der molekularen Gene ist nicht nur notwendige Bedingung für die Realisierung des vermeintlichen „genetischen Programms“, sondern übt einen unmittelbaren Einfluss auf Verlauf und Ergebnis des Prozesses der Proteinsynthese und Ontogenese aus.28
25 „Abnormality can certainly have either genetic or nongenetic origins, people readily agree, while normality is believed to be a result of the homunculoid gene’s ability to organize matter into living beings.“ Oyama 2000, 17. 26 Vgl. zum interaktionistischen Konsens in der Entwicklungsbiologie Robert 2004. 27 Vinci/Robert 2005, 204. 28 Unter „Kontext“ verstehe ich im Folgenden die gesamte Umwelt eines Gens, d. h. sowohl außergenische Bereiche auf der DNA als auch nicht-genetische zel luläre und extrazelluläre Faktoren.
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Die zentrale Bedeutung des Kontextes für die Entwicklung der phänotypischen Merkmale eines Organismus zeigt sich unter anderem auf den folgenden Ebenen: 1. Kontextabhängigkeit der Proteinsynthese 2. Kontextabhängigkeit des genetischen Codes 3. Kontextabhängigkeit der Genexpression 4. Kontextabhängigkeit der Individualentwicklung Ich werde auf jeder dieser Ebenen ein Beispiel diskutieren, das besonders eindringlich auf die Schwierigkeiten einer genzentrierten Erklärung der Ontogenese mit Hilfe der Programmmetapher hinweist. Dabei wird deutlich, warum die Entwicklung eines Lebewesens durch ein in den Genen eindeutig festgeschriebenes Rezept oder Programm vielleicht metaphorisch umschrieben, aber nicht einmal annähernd wissenschaftlich erklärt werden kann. 2.1 Kontextabhängigkeit der Proteinsynthese: Alternatives Spleißen Die Kontextabhängigkeit des Gens zeigt sich bereits an der grundlegenden Frage, was ein Gen überhaupt ist. Bis vor wenigen Jahren schien die Antwort vergleichsweise eindeutig zu sein: Ein molekulares Gen ist ein fest umrissener Abschnitt auf der DNA, der für ein funktionales Produkt (z. B. für ein Protein) codiert. Seit den 1940erund mindestens bis in die 1980er-Jahre war dieses klassisch-molekulare Genkonzept in der Biologie vorherrschend und es wird auch heute noch von vielen Nicht-Biologen als das Genkonzept schlechthin angesehen.29 Kennzeichnend für das klassisch-molekulare Genkonzept ist die Annahme einer 1 : 1-Beziehung zwischen Struktur (DNA-Sequenz) und Funktion (Proteinprodukt). Jedem Basentriplett der DNA ist genau eine Aminosäure zugeordnet, d. h. die Sequenz der Basen legt die Sequenz der Aminosäuren im Protein eindeutig fest. In den letzten Jahren hat sich diese vergleichsweise simple Vorstellung von der Natur des Gens jedoch zunehmend als
29 Auch das klassisch-molekulare Genkonzept war jedoch unter Biologen nie un umstritten. Dazu etwa Falk 2000, 319: „Throughout its history the gene has been defined by biologists […] as either a concrete material entity of living beings, or as an empirical instrumental one. […] It is these conflicting notions that make the gene concept that popular; and it is these tensions that make it so problematic.“
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unhaltbar erwiesen, da immer mehr biologische Prozesse entdeckt wurden, die gegen das klassisch-molekulare Genkonzept sprechen und die aus der Sicht des genetischen Allgemeinwissens überraschen mögen.30 So weiß man seit den 1970er-Jahren, dass es in den Genen von komplexen Organismen kodierende DNA-Sequenzen (Exons) und nichtkodierende DNA-Sequenzen (Introns) gibt. Nur die Exons dienen als Vorlage für die Herstellung eines Proteins. Denn bevor die Basensequenz der mRNA während der Translation in die Aminosäure-Sequenz des Proteins „übersetzt“ wird, werden die Introns entfernt („gespleißt“) und die verbleibenden Exons zur reifen mRNA verbunden. Die ursprünglich von der DNA transkribierte prä-mRNA mit Exons und Introns ist also nur die Vorstufe der reifen mRNA. Das allein wäre noch keine allzu große Herausforderung für das molekulare Genkonzept. Überraschender war jedoch die Entdeckung des Prozesses des alternativen Spleißens: Von einem Gen auf der DNA-Ebene ausgehend können unterschiedliche Proteine synthetisiert werden, je nachdem, welche Abschnitte der RNA als Introns entfernt werden und welche nicht. Eine bestimmte DNASequenz kann also in Abhängigkeit von Ort und Entwicklungszeitpunkt durch alternatives Spleißen des primären prä-mRNATranskriptes zur Synthese unterschiedlicher funktioneller Produkte beitragen. Wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat, ist das alternative Spleißen besonders bei höher entwickelten Organismen eher die Regel als die Ausnahme. Die Schätzungen für den Anteil alternativ gespleißter Gene unter allen Genen des Menschen reichen von ca. 50 %31 bis zu ca. 70 %32. Im Hinblick auf das klassisch-molekulare Genkonzept ist besonders problematisch, dass es in alternativ gespleißten Genen keine eindeutige Entsprechung zwischen DNA-Sequenz und Protein mehr gibt. Denn die Regulation des alternativen Spleißens, und damit die „Entscheidung“ darüber, welche Proteinvariante aus einer gegebenen DNA-Sequenz entsteht, hängt nicht allein von dem zu
30 Für einen Überblick über aktuelle biologische Befunde, die das klassisch-moleku lare Genkonzept in Frage stellen, vgl. etwa Portin 2009. 31 Vgl. Stetefeld/Ruegg 2005. 32 Vgl. http://www.eurasnet.info/alternative-splicing/what-is-alternative-splicing/ AS (letzter Aufruf 10.7.12). Vgl. zum Phänomen des alternativen Spleißens aus biophilosophischer Sicht etwa Burian 2004; Downes 2004.
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spleißenden Gen selbst ab, sondern auch von externen Faktoren und damit vom Gesamtzustand der Zelle. So sind etwa Proteine, die an die RNA binden und dadurch den Spleißprozess positiv oder negativ beeinflussen, in vielen Fällen entweder Gewebe-spezifisch oder treten nur in bestimmten Phasen der Entwicklung eines Organismus auf. Die Frage, was ein Gen ist, kann also nicht nur durch den Blick auf eine bestimmte DNA-Sequenz entschieden werden. Erst der Kontext der gesamten Zelle legt fest, welche Bereiche der DNA im konkreten Expressionsprozess als Gen fungieren. 2.2 Kontextabhängigkeit des genetischen Codes: Kontextabhängige Umwidmung Die Bedeutung des zellulären Kontextes für die Kritik an der Sonderrolle der Gene zeigt sich auch auf der Ebene des genetischen Codes. Eine der wichtigsten Entdeckungen der Molekularbiologie in den 1960er-Jahren war der nahezu universelle Charakter des genetischen Codes. Die Zuordnung eines bestimmten Basentripletts zu einer Aminosäure oder einem Stoppcodon ist bei fast allen Lebewesen identisch. Diese erstaunliche Tatsache wird als ein wesentliches Argument für den gemeinsamen evolutionären Ursprung aller heute lebenden Organismen angesehen. Es gibt jedoch eine Reihe von Ausnahmen im Hinblick auf die Universalität des genetischen Codes. Bei der so genannten Umwidmung des genetischen Codes (codon reassignment) wird ein Codon einer anderen Aminosäure oder Funktion zugeordnet als nach dem kanonischen Code. Die meisten Umwidmungen treten in spezialisierten genomischen Nischen auf.33 Bereits seit den Untersuchungen von Frederick Sanger Ende der 1970er-Jahre ist bekannt, dass besonders in mitochondrialen Genomen häufig ein Nicht-Standardcode verwendet wird. Aber auch bei eukaryotischen Kerngenomen kommen Nicht-Standardcodes zum Einsatz. „Oft ist eine Modifikation auf eine kleine Gruppe von Organismen beschränkt und häufig beinhaltet sie eine Neuordnung der Stoppcodons […].“34 Eine besondere Herausforderung für das klassische molekulare Genkonzept ist die kontextabhängige Umwidmung des genetischen Codes (context-dependent codon reassignment). Dabei kann die 33 Vgl. Atkins/Baranov 2007. 34 Brown 2007, 24.
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DNA- bzw. RNA-Sequenz, die ein Basentriplett umgibt, die Bedeutung des entsprechenden Codons innerhalb eines Organismus verändern. Es sprechen also nicht, wie im einfachen Fall der Umwidmung, zwei Organismen bzw. Organismengruppen unterschiedliche genetische „Sprachen“. Vielmehr kann derselbe Organismus ein Code„wort“ – in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext – unterschiedlich „übersetzen“. Die kontextabhängige Umwidmung tritt nach bisherigem Forschungsstand vor allem dann auf, wenn das zu synthetisierende Protein die seltenen Aminosäuren Selenocystein oder Pyrrolysin enthält. Die Codons für diese Aminosäuren „haben eine zweifache Bedeutung, da sie in den betreffenden Organismen außerdem als Stoppcodons dienen […]. Ein selenocysteincodierendes […]UGA[…]Codon unterscheidet sich von dem, das tatsächlich die Termination bestimmt, durch die Anwesenheit einer Haarnadelschleife in der mRNA. […] Die Erkennung des Selenocysteincodons erfordert die Wechselwirkung zwischen der Haarnadelstruktur und einem speziellen Protein, das an der Translation dieser mRNAs beteiligt ist.“35 Wie Anton Turanov et al. an dem marinen Einzeller Euplotes crassus gezeigt haben, kann ein einziges Triplett nicht nur für eine Aminosäure und ein Stoppcodon stehen, sondern auch für zwei unterschiedliche Aminosäuren – und das sogar innerhalb eines einzigen Gens.36 Auch hier ist der Bedeutungsunterschied abhängig von der räumlichen Struktur der mRNA und damit vom Kontext. Befindet sich am Ende der prä-mRNA eine kurze räumliche Schleife, dann wird ein UGA-Triplett, das sich in der Nähe dieser Schleife befindet, in die Aminosäure Selenocystein translatiert, statt wie sonst üblich in Cystein. Wie im Fall des alternativen Spleißens ist es also auch bei der kontextabhängigen Umwidmung des genetischen Codes nicht allein die transkribierte DNA-Sequenz, die die Struktur eines zu synthetisierenden Proteins festlegt.
35 Ebd., 25. Vgl. dazu auch Atkins/Baranov 2007, 1004: „[…] the common percep tion has been that each triplet in the genetic code has an unambiguous mean ing, coding for one of the 20 common amino acids or for stop. However, two additional amino acids – selenocysteine and pyrrolysin – are now known to be directly encoded in a tiny number of genes. They are specified by what are stop codons in essentially all other genes, and interpreting these codons involves a dynamic competition with the termination function.“ 36 Vgl. Turanov/Lobanov/Fomenko et al. 2009.
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2.3 Kontextabhängigkeit der Genexpression: Epigenetische Regulationsmechanismen Die Kontextabhängigkeit biologischer Prozesse geht über die Bedeutung nicht-genetischer Faktoren für die Konstitution von Genen und genetischem Code weit hinaus. Dies zeigt sich etwa im Hinblick auf die zentrale Frage der Regulation der Genexpression. Jede Zelle eines Organismus enthält (bis auf wenige Ausnahmen) die gleiche DNA. Zur Entwicklung des Organismus – erst recht, wenn man diese als schrittweise nach einem vorgegebenen Programm ablaufend versteht – ist es aber entscheidend, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Gewebe nur jeweils ganz bestimmte Gene exprimiert (d. h. die in ihnen enthaltene Information zur Synthese eines Proteins abgelesen) werden. Entsprechend gibt es unterschiedliche Expressionsmuster: In einer Zelle sind, je nach Ort und Entwicklungszeitpunkt, manche Gene angeschaltet (sie werden exprimiert), andere sind abgeschaltet (sie werden nicht exprimiert). Schon die inhärente Raum-Zeitlichkeit dieser Expressionsmuster weist auf die starke Kontextabhängigkeit der Genexpression hin.37 Die entscheidende Frage ist aber: Wie wird die Genexpression reguliert? Wie entscheidet sich, wann und wo ein Gen abgelesen wird und wann nicht? Die klassische Antwort ist, dass die Regulation über Proteine mit spezifischer regulatorischer Funktion erfolgt. Da ihre Synthese letztlich wieder auf die Aktivität von Genen zurückzuführen ist, können die Regulationsproteine selbst als ein inhärenter Bestandteil des genetischen Entwicklungsprogramms angesehen werden. Aber neben Regulationsproteinen gibt es weitere Mechanismen zur Regulation der Genexpression, die unabhängig vom unmittelbaren Wirken der Gene sind. Solche im molekularbiologischen Sinn epigenetischen Regulationsmechanismen beruhen auf erblichen Veränderungen des Phänotyps (der beobachtbaren Merkmale des Organismus) ohne Veränderung des Genotyps, also der DNA-Sequenz.38 Die Wirkweise epigenetischer Regulationsme37 Vgl. Futuyma 2005, 476. 38 Die moderne Interpretation des Begriffs „Epigenetik“ in der Molekularbiologie kann also nicht mit der „Epigenesis“ im klassischen Sinn gleichgesetzt werden – auch wenn die Entdeckung epigenetischer Mechanismen heute dazu beiträgt, die durch die Betonung genetischer Faktoren im 20. Jahrhundert insgesamt eher präformationistisch geprägte Vorstellung von der Individualentwicklung wieder mehr in Richtung eines Epigenesis-Konzeptes zu verschieben, vgl. dazu Maien schein 2005. Der im Kontext der modernen Molekularbiologie verwendete Epi
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chanismen ist gegenwärtig Gegenstand intensiver Forschungsbemühungen in der Biologie.39 Viele epigenetische Mechanismen setzen bei der „Verpackung“ der Gene in der Zelle an. Wie man weiß, ist es für die Regulation der Genexpression von großer Bedeutung, ob bzw. in welchem Maß die an der Transkription beteiligten Proteine Zugang zum jeweiligen DNA-Abschnitt bekommen. Denn nicht alle Teile des Genoms sind für DNA-bindende und an der Expression beteiligte Proteine zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung und in allen Zellen und Geweben im gleichen Maße zugänglich. Chromosomale DNA liegt im Zellkern in Form von Chromatin vor, das heißt sie ist mit einer Vielzahl von Proteinen verknüpft, die vor der Transkription erst verschoben werden müssen. Die Regulierung der Aktivität der Gene über ihre Zugänglichkeit erfolgt daher im Wesentlichen über das Ausmaß der Chromatinverpackung: Je dichter diese in einem bestimmten Bereich der DNA ist, desto weniger aktiv sind die Gene innerhalb dieses Chromosomensegments. Ein epigenetischer Mechanismus, der hier angreift, ist die so genannte DNA-Methylierung. Dabei erfolgt die Veränderung der Genomaktivität aufgrund einer chemischen Veränderung des DNAMoleküls, dem Anhängen von Methylgruppen am Cytosin. Diese Methylierung ist verbunden mit dem vorübergehenden Abschalten der entsprechenden Regionen des Genoms, also mit einer Repression der Genaktivität in methylierten Bereichen der DNA. Aktive Gene befinden sich dagegen bevorzugt in nichtmethylierten Regionen. Da das Methylierungsmuster nach einer Zellteilung üblicherweise erhalten bleibt, wird die Information darüber, wie stark einzelne Gene exprimiert werden sollen, an die Tochterzellen weitergegeben. So entstehen Zelllinien mit einem konstanten Methylierungsmuster. Man spricht in diesem Fall von Erhaltungsmethylierung. Im Laufe der Ontogenese finden jedoch auch Veränderungen der Methylierungsmuster (de novo-Methylierungen) statt, bei denen es zu einem vorübergehenden oder gewebespezifischen An- oder genetik-Begriff kann auch von dem von Conrad Hal Waddington in den 1940erJahren entwickelten Konzept der Epigenetik als vermittelnder Ebene zwischen Entwicklungsbiologie (Epigenesis) und Genetik eindeutig unterschieden wer den, vgl. dazu etwa Haig 2004. Meist werden diese beiden Bedeutungsvarianten jedoch entweder nicht klar getrennt oder die molekulare Epigenetik wird als ein Spezialfall der Epigenetik Waddingtons angesehen. 39 Vgl. dazu etwa Felsenfeld/Groudine 2003; Costa 2010.
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Abschalten von Genen kommt. Im Hinblick auf die Kritik an der Vorstellung von einem im Organismus „vorinstallierten“ genetischen Entwicklungsprogramm ist dabei von besonderer Bedeutung, dass epigenetische Markierungen durch Umwelteinflüsse induziert und während der gesamten Ontogenese beibehalten werden können. Damit erhöhen sie die phänotypische Plastizität, also die Fähigkeit eines Organismus, auf einen Umweltreiz mit einer Veränderung seines Aussehens oder Verhaltens zu reagieren. Ein Beispiel ist die divergierende Entwicklung fertiler Bienenköniginnen und steriler Arbeitsbienen aus genetisch identischen Individuen der Honigbiene. Durch Unterschiede in der Ernährung der Larven kommt es nur bei den Arbeitsbienen zu einer Zunahme der Methylierungen, die unter anderem die Ausbildung von Ovarien hemmt.40 Interessant ist auch, dass der in spezifischer Weise modifizierte Zustand der DNA im Fall der so genannten transgenerationalen epigenetischen Vererbung an nachfolgende Generationen von Organismen weitergegeben wird.41 So wurde gezeigt, dass eine Umstellung der mütterlichen Ernährung während der Schwangerschaft bei Mäusen auch den Phänotyp der Nachkommen (z. B. Fellfarbe und Gewicht) beeinflussen kann.42 Durch epigenetische Markierungen wie die unterschiedlichen Methylierungsmuster der DNA trägt der sich entwickelnde Organismus also nicht nur zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung eine Vielzahl von nicht-genetischen Informationen über die Aktivität oder Inaktivität bestimmter Bereiche des Genoms – er kann diese Informationen sowohl bewahren als auch vererben. Das bedeutet: Nicht-genetische Information ist für die phänotypische Form, die der Organismus im Laufe seiner Ontogenese entwickelt, von ebenso großer Bedeutung wie die in der DNA gespeicherte Information. 2.4 Kontextabhängigkeit der Individualentwicklung: Positionelle Information Der außerhalb des DNA-Moleküls liegende Kontext hat aber nicht nur einen starken Einfluss auf die Regulation der Genexpression, also darauf, wann und wo ein bestimmtes Gen abgelesen wird. Das 40 Vgl. Kucharski/Maleszka/Foret/Maleszka 2008. 41 Vgl. Jablonka/Raz 2009. 42 Vgl. Waterland/Jirtle 2003.
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letzte Beispiel verdeutlicht die große Bedeutung nicht-genetischer kontextueller Faktoren nicht nur auf molekularer, sondern auch auf organismischer Ebene. Das „Startkapital“ der Zygote besteht keineswegs nur aus der DNA von Vater und Mutter, sondern darüber hinaus auch aus zahlreichen, bereits in der unbefruchteten Eizelle enthaltenen mütterlichen Proteinen und RNAs. Wichtig ist dies vor allem, weil für die Entwicklung des Embryos neben der genetischen Information auch so genannte positionelle Informationen vorhanden sein müssen, die die räumliche Anordnung der einzelnen Teile des Organismus markieren, z. B. das zukünftige Vorder- und Hinterende oder die rechte und linke Seite.43 Die Positionsinformationen werden durch chemische Konzentrationsgradienten von Proteinen gegeben, die zumeist nicht von Genen im Embryo neu synthetisiert werden, sondern von RNAs, die von der Mutter in den Embryo gelangen. In Browns Lehrbuch zur Genetik wird die Wirkung des an der Einrichtung der Körperachse beteiligten bicoid-Gens wie folgt beschrieben: „Das bicoid-Gen wird von den mütterlichen Nährzellen transkribiert, und die mRNA wird in das vordere Ende des befruchteten Eies gebracht. Diese Position ist durch die Orientierung der Eizelle in der Eikammer festgelegt. Die bicoid-mRNA bleibt im vorderen Bereich der Eizelle […]. Sie wird nicht sofort translatiert [sondern erst nach der Befruchtung der Eizelle]. […] Das Bicoid-Protein diffundiert durch [den Embryo] und bildet so einen Konzentrationsgradienten, mit dem höchsten Wert am vorderen und dem niedrigsten Wert am hinteren Ende […].“44 Bereits in der unbefruchteten Eizelle ist also die Orientierung des späteren Embryos festgelegt – bevor dieser überhaupt sein vollständiges genetisches Material erhalten hat. Bemerkenswert ist bei diesem Prozess zudem, dass die Körperachse nicht allein aufgrund der Wirkung mütterlicher und embryonaler Gene eingerichtet wird, sondern dass auch externe Faktoren wie die räumliche Orientierung der bicoid-mRNA und der Eizelle eine wesentliche Rolle spielen. Wieder bestimmt der Kontext die Entwicklung des Individuums entscheidend mit.
43 Vgl. etwa Brown 2007, 489 f. 44 Ebd., 490.
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3. Der Organismus als Entwicklungssystem Was folgt aus den dargestellten Befunden aus biophilosophischer Sicht? Vor allem zeigen sie: die DNA selbst kann kein „Formprinzip“ sein, das die Ontogenese initiiert und lenkt. Die Rede von einem genetischen Entwicklungsprogramm ist nicht nur irreführend, sondern schlicht falsch. Denn alle genannten Prozesse weisen auf die grundlegende Kontextabhängigkeit der Genexpression, der Proteinsynthese, der Individualentwicklung, sogar des genetischen Codes hin. Gene und alle Informationen, die sie tragen mögen, liegen nicht als gebrauchsfertiges Rezept in jeder Zelle bereit. Wie RehmannSutter ausführt, muss die „[…] Idee, dass das Genom eine Art von Instruktionenbuch sei, das die Zellen so anleite, dass sie sich zum reifen Organismus entwickeln, […] in einer nicht unwesentlichen Weise modifiziert werden. Die Instruktionen stehen nicht in Form von sequenzieller Information auf der DNA und warten darauf, abgerufen und umgesetzt zu werden. Es ist vielmehr so, dass die Instruktion, damit sie zu Stande kommt, gleichberechtigt neben der Sequenzinformation auch positionelle [und epigenetische] Information braucht. Erst gemeinsam bildet sich die für die Entwicklung relevante Information.“ 45 Außerdem ist, wie wir gesehen haben, der Zusammenhang zwischen der physikalischen Struktur eines Gens und seiner Funktion abhängig vom Kontext. Betrachtet man die materielle Grundlage der klassisch-molekularen Gene – das DNA-Molekül – isoliert von allen anderen Zellbestandteilen, dann besitzt diese keinerlei Bedeutung für die Entwicklung eines Organismus. Erst die Zelle mit all ihren Zellbestandteilen macht DNA-Sequenzen zu funktionellen Genen. Das bedeutet zugleich, dass Gene im ontologischen Sinn nicht mit der DNA gleichgesetzt werden können. Zu jedem Zeitpunkt in der Ontogenese bestimmen die aktuell vorliegenden genetischen, zellulären und extrazellulären Faktoren, was ein Gen ist, welche Information vorliegt, wann diese Information zur Herstellung eines Proteins herangezogen wird und wie die Entwicklung des Organismus verläuft. Eine Erklärung der Entstehung organismischer Formen kann sich daher nicht auf den Hinweis auf das Ablaufen eines genetischen Programms beschränken.
45 Rehmann-Sutter 2005, 15.
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Aber bedeutet diese Kritik an der Vorstellung eines genetischen Programms, dass man vollständig auf die Programmmetapher in der Biologie verzichten muss? Nicht unbedingt. Biophilosophen wie Evelyn Fox Keller sprechen sich dafür aus, die Metapher vom Entwicklungsprogramm zwar weiter zu verwenden, aber vor dem Hintergrund des interaktionistischen Konsenses den Blick wieder verstärkt auf den Organismus als Ganzes zu richten, statt sich auf die molekulare Genebene zu beschränken.46 Für Keller besteht das Entwicklungsprogramm, in dessen Verlauf informationelle genetische Daten über die Formen und Eigenschaften des Organismus umgesetzt werden, aus der Interaktion zahlreicher untereinander vernetzter genetischer und nicht-genetischer Kausalfaktoren. Ein solches Entwicklungsprogramm im weiten Sinn kann nicht allein aus DNA bestehen, es liegt vielmehr im gesamten Organismus: Gene bilden nicht das Programm, sie sind Teil des Datensatzes, der das Programm speist. Allerdings weist Susan Oyama zu Recht darauf hin, dass das Programmkonzept eigentlich nicht mehr gebraucht würde, wenn biologische Sachverhalte wie von Keller als Merkmale des gesamten Systems Organismus beschrieben werden.47 Denn die Vielzahl von Prozessen, die in diesem System ablaufen, „bestimmen“ den Verlauf der Entwicklung ganz von allein, ohne dass man eine zusätzliche Entität, einen Plan oder ein Programm, hinter diesen Prozessen annehmen müsste. Der Begriff „Programm“ passt allenfalls dann auf biologische Prozesse, wenn er nicht als ein Satz von Instruktionen bzw. Rezepten verstanden wird, die die Prozesse anleiten oder „dirigieren“, sondern wenn er mit dem Prozess selbst gleichgesetzt wird.48 Prozess und Plan sind aber in diesem Fall identisch und es wäre eine völlig unnötige Mystifizierung des Entwicklungsprozesses, weiter von einem Entwicklungsprogramm zu reden. Dazu kommt: Auch wenn sich Biologen und Biophilosophen zum interaktionistischen Konsens bekennen und die Programmmetapher konsequent auf nicht-genetische Faktoren ausweiten, besteht immer noch die Gefahr, dass der Begriff „Programm“ so fest mit den Genen verbunden ist, dass diesen weiterhin (vielleicht unbewusst) eine besondere instruierende Rolle bei der Entwicklung zugesprochen wird, die über die tatsächlich stattfindenden moleku46 Vgl. Keller 2006, 290-312. 47 Vgl. Oyama 2000, 62. 48 Vgl. ebd., 73 f.
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laren Interaktionen hinausgeht. Der Interaktionismus wäre dann allenfalls ein Lippenbekenntnis,49 von dem die hartnäckige Vorstellung von einer genetischen Essenz des Organismus weitgehend unberührt bliebe. Um dieser Gefahr zu entgehen, schlägt Susan Oyama in ihrem einflussreichen Buch „The Ontogeny of Information“ (1985) als radikalere Lösung vor, auf den Begriff des Programms ganz zu verzichten und die Individualentwicklung innerhalb eines neuen terminologischen und konzeptionellen Rahmens zu beschreiben. Kernthese ihrer Entwicklungssystemtheorie (Developmental Systems Theory, kurz DST) ist, dass die Dichotomie zwischen Organismus und Umwelt aufgegeben werden muss. Denn es entwickeln sich nicht die Organismen an sich, sondern Organismus-Umwelt-Systeme: Der sich entwickelnde Organismus in seinem spezifischen Kontext kann als Entwicklungssystem angesehen werden.50 Die DST untersucht daher alle Entwicklungsressourcen, d. h. die unterschiedlichen Faktoren, die für die Entwicklung eines Organismus bedeutsam sind, ohne dabei bestimmte Faktoren (z. B. Gene) als besondere Art von Kausalfaktoren herauszuheben, die innerhalb fester Rahmenbedingungen zwangsläufig zur Entwicklung einer vorherbestimmten Form führen müssen. Kennzeichnend für die DST ist darüber hinaus eine starke Betonung des Prozesscharakters biologischer Phänomene. So werden Gene nach Oyama eher erschaffen als vererbt, da durch den Entwicklungsprozess der informationelle Gehalt der Gene erst kon struiert wird51 – und nicht etwa anders herum, wie die Programmmetapher nahelegt. Entsprechend ist auch Information nichts, was man in der Zelle vorfindet und was entweder realisiert wird oder nicht. Information (zur Herstellung eines Proteins und erst recht für einen komplexen Phänotyp) entsteht erst im aktuellen Prozess in der Zelle: Es gibt eine Ontogenese, eine Individualentwicklung der Information, wie es eine Ontogenese des Organismus gibt. Und ebenso existiert keine von Anfang an vorgegebene (bzw. in den Genen verschlüsselt enthaltene) Form als Endziel der Entwicklung. Form ist nichts, was der Entwicklung organismischer Strukturen im Sinne eines Ziels oder Plans vorangestellt ist. Sie ist historisch kontingent und wird erst im Entwicklungsprozess, durch die Ver49 Vgl. dazu Robert 2004. 50 Vgl. Stotz 2005, 125. 51 Vgl. Stotz 2006.
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änderungen im Entwicklungssystem, konstruiert.52 Daher ist es falsch, Form (ob im ursprünglichen aristotelischen Sinn oder in der modernen Version des Genom-„Rezeptes“) als eine Entität anzusehen, die zum Entwicklungsprozess in einer Beziehung von Schöpfer und Schöpfung steht. Entwicklung kann vielmehr als „Abfolge von Zyklen der Interaktion“53 zwischen den unterschiedlichen Entwicklungsressourcen verstanden werden. Oyamas Theorie ist damit eine „radikale Absage an alle präformationistischen Ideen von Entwicklung“:54 „The developmental system […] does not have a final form, encoded before its starting point and realized at maturity. It has, if one focuses finely enough, as many forms as time has segments.“55 Vor dem Hintergrund des aktuellen biologischen Kenntnisstandes erscheint ein solcher Perspektivwechsel plausibel, da die Entwicklung eines Lebewesens, seiner charakteristischen Form und Eigenschaften, viel plastischer und flexibler verläuft, als Präformationismus oder genetischer Prädeterminismus es erlauben würden. Zugleich sind moderne Ansätze wie die Entwicklungssystemtheorie auch eine Absage an die vitalistische Vorstellung einer spezifischen Lebenskraft. Die Ontogenese ist ein gradueller Prozess, der aufgrund wiederkehrender, aber nicht statisch festgelegter Interaktionsmuster zwischen genetischen und nicht-genetischen Komponenten mit einiger Regelmäßigkeit verläuft und dabei denselben Kausalkräften unterliegt wie alle anderen natürlichen Prozesse. Diese Vorstellung erfordert weder eine Entscheidung für eine der beiden Alternativen Präformationismus oder Epigenesis, noch stellt sie im eigentlichen Sinn einen Mittelweg zwischen diesen Extremen dar. Sie ist vielmehr ein Versuch, sich ein Stück weit von der Jahrtausende alten Debatte zu emanzipieren, um die alte Frage, wie die Form eines Lebewesens entsteht, aus Sicht der modernen Biologie neu stellen zu können.
52 53 54 55
Vgl. Moss 1992, 345; Oyama 2000, 26 f. und 156 f. Stotz 2005, 125. Ebd., 126. Oyama 2000, 27.
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Die aristotelischen Wurzeln des Organismusbegriffs
Der moderne Ausdruck „Organismus“ existiert nach Ausweis der gängigen Wörterbücher erst seit dem 18. Jh., als er aus dem gleichbedeutenden französischen „organisme“ ins Deutsche entlehnt wurde.1 Das Substantiv hängt mit dem französischen „organiser“ zusammen, das „einrichten, anordnen, gestalten, ,organisieren‘“ bedeutet und seinerseits eine Ableitung vom Substantiv „organe“ darstellt: „Organ, Werkzeug“. Daher hat „organiser“ auch die Bedeutung „mit Organen versehen, zu einem lebensfähigen Ganzen zusammenfügen“, ein Vorgang, der genau genommen nur bei der Entstehung von Lebewesen stattfindet, denn bei Artefakten sprechen wir in der Regel nicht von Organen, auch nicht von einem „Organismus“, sondern höchstens von einem „Mechanismus“.2 „Organ“ wiederum ist ebenfalls erst seit dem 18. Jh. im Deutschen geläufig, wenngleich die original griechische bzw. lateinische Form ὄργανον/organon bzw. organum bereits zwei bis drei Jahrhunderte früher in der Gelehrtensprache auftaucht und natürlich seit der An1 Vgl. Duden: Herkunftswörterbuch, 575 f.; Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 673 s. v. „Organ“. Dort findet sich auch ein Hinweis auf Ehlich 1989, der 149-155 überblickshaft auf die Entwicklung des Wortfeldes aus der Wurzel org- eingeht und 150 f. zu Recht auf die seminale Rolle des Aristoteles verweist. Vgl. auch Ballauff, Art. „Organismus“ HWPh, Bd. 6, 1330-1336, der zwar die Antike nur sehr knapp behandelt, aber die spätere Entwicklung kundig referiert. Durchgängig ist nun zu vergleichen der wichtige Artikel „Organismus“ von Toepfer, Histori sches Wörterbuch der Biologie, Bd. 2, 777 ff. 2 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang bei Leibniz, der in einem Brief an Arnauld sogar in einer ersten Version schreibt: „la machine ou l’organisme c’est à dire l’ordre leur est comme essentiel [...]“ und in einer zweiten Version: „la machine ou l’organisation c’est à dire l’ordre, leur est essentiel [...]“ (Her vorhebungen von mir), also die Begriffe „Organisation“ und „Organismus“ synonym verwendet. Vgl. Cheung 2006, 325 f. Das ordnende, organisierende Prinzip ist dabei Gott, der gewissermaßen die Stellung der aristotelischen Seele einnimmt, obwohl Aristoteles keinen Schöpfergott kennt.
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tike verbreitet ist. Die Bedeutung ist von Anfang an immer dieselbe: „Werkzeug, Organ“.
1. Wortgeschichte im Griechischen In der griechischen Literatur ist der Ausdruck „Organismus“ (ὀργανισμός/organismos) allem Anschein nach nur einmal belegt: in einer Notiz aus dem Codex Marcianus Graecus 299, die sich auf den Alchemisten Zosimos von Panopolis bezieht, der vielleicht am Ende des 3. Jh.s nach Chr. gelebt hat. Dort ist von „einem orga nismos, der das Kupfer heraufzieht“ die Rede.3 Das Wort bezeichnet hier also wohl einen Destillationsapparat und ist eine Variante des viel häufigeren Wortes organon, das normalerweise „Instru ment, Apparat“ bedeutet. Das Suffix -ismos ist dabei eigentlich eine Abstraktbildung zu einem Verbum auf -izô, also in diesem Fall ὀργανίζω/organizô;4 allerdings findet sich dieses griechische Verbum nur einmal im byzantinischen Lexikon Suda (10. Jh.) als Synonym für „Flöte spielen“.5 Es leitet sich von der Spezialbedeutung für organon = „Musikinstrument, Orgel“ ab, und es ist fraglich, ob es der Bildung organismos zugrunde liegt, die ja zumindest bei Zosimos nichts mit einem Musikinstrument zu tun zu haben scheint. Vermutlich steht der Charakter eines Abstraktums im Vordergrund 3 Marcianus Graecus 299, M, f. 116v. in: Berthelot 1888, Bd. 2, 252. Vgl. auch Cheung 2006, 321 mit Anm. 9. Der Text lautet: πῶς οὖν, ὦ ἀγαθοί, Ζώσιμός φησιν ὅτι οὐδαμοῦ ἕστηκεν ὁ νοῦς τῶν γραφῶν, εἰ μὴ ἐν τῷ ὀργανισμῷ τῷ ἀνασπῶντι τὸν χαλκόν ... 4 Vgl. Kühner 1892, 272 f.; Röttger 1937, 19: -mos (z. B. in προπηλακισμός/ propêlakismos, „schimpfliche Behandlung“) [...] bezeichnet hier „ein[en] Brauch, eine allgemein gültige Satzung“, im Gegensatz zum Suffix -sis als „Ausdruck einer gegenwärtig vorgestellten Handlung“. Weitere Beispiele sind Wörter wie Μηδισμός/Mêdismos („Neigung zum Persertum“: Herodot 4, 165; 8, 92; Thukydides 1, 95 etc.), συλλογισμός/syllogismos („Überlegung, syllogisti scher Schluss“: Platon, Theaetet 186 D 3; Kratylos 412 A 5; Aristoteles, APr I 1, 24b18-20), ὀστρακισμός/ostrakismos („Verbannungsentschluss durch Abstimmung mittels beschrifteter Tonscherben“: Aristoteles Athenaion politeia Kap. 22, § 3; Pol. III 13, 1284a17). – Übersetzungen hier und im Folgenden von mir, wenn nicht anders angegeben. 5 Suda, η 644: ηὔλησα: ὠργάνισα. Allerdings gibt es im Lateinischen das tran skribierte Wort organizo in derselben Bedeutung (Vetus Latina, Itala III. reg. 1, 40 [cod. 93]), vgl. Löschhorn 1973, 217 f. Das deutet darauf hin, dass das griechi sche Wort häufiger gewesen sein muss.
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der Bildung, ohne dass unbedingt ein Verbum auf -izô vorliegen muss. Die zweite mittelalterliche Verwendung für das lateinische Lehnwort organismus findet sich bei Gerhoh von Reichersberg (ca. 1092– 1169), der es nach Meinung von Cheung in der Bedeutung „unharmonische Stimmenvielfalt“ benutzt (vocis inconcinni organismi).6 Wahrscheinlicher scheint mir hier eine Deutung als „nicht zusammenstimmende Stimmapparate“ oder sogar „Zungen“. Diese Bedeutung ist jedenfalls seit Quintilian für das einfache organum häufiger belegt7 und hätte den Vorteil, dass sie sich zwanglos aus der normalen Bedeutung des Substantivs organum („Instrument, Organ“) ableiten ließe, was mit der Deutung von Cheung nur schwer möglich ist. Dunkel bleibt auch hier der Sinn der Erweiterung des einfachen Wortes organum durch das Suffix -ismus. Aristoteles kennt das Wort organismos nicht, aber das Substantiv organon und das dazugehörige Adjektiv ὀργανικός/organikos, und er benutzt die beiden letzten Wörter recht häufig.8 Auch bei Platon findet sich das Substantiv oft. Meist hat es dort die Bedeu6 Vgl. Cheung 2006, 321; Gerhoh von Reichersberg, De edificio dei, in: Libelli de lite imperatorum et pontificum, Bd. 3, 172 f.: „fuit ... ecclesia illa talibus clericis exposita, qui non canerent quasi ex uno ore, sed quasi ex ore diverso ac multum dissono; tum propter vocis inconcinnos organismos, theatralibus quibusdam modulis variatos ... „Jene Kirche war so beschaffenen Klerikern preisgegeben, dass sie gewissermaßen nicht aus einem Munde sangen, sondern aus verschie denen und sehr dissonanten Mündern; einmal wegen der nicht zusammenstim menden Disharmonien der Stimme (?), die mit einigen theatralischen Modula tionen variiert wurde, [...]“ (die dt. Übers. folgt Cheungs englischer [2006, 321], Fragezeichen von mir). 7 Vgl. Quintilian 11, 3, 40: vox ... toto, ut aiunt, organo instructa („mit dem gan zen Rüstzeug ausgestattet“; 11, 3, 169: est his diversa vox et paene extra orga num, cui Graeci nomen amaritudinis dederunt ... („Hiervon verschieden und fast kaum noch ein Sprechwerkzeug ist die Stimme, die die Griechen ‚Bitter keit‘ genannt haben, [...]“. Von solchen Gebrauchsweisen leitet sich das deut sche „Organ“ für die Stimme ab („er hat ein lautes Organ“). Gemeint sind aber wahrscheinlich die Körperstrukturen („Organe“ im modernen Sinn), die für die stimmliche Qualität maßgeblich sind. Im Griechischen scheint dieser Gebrauch erst bei dem Musikwissenschaftler Aristides Quintilianus (3. Jh. nach Chr.?) be legt zu sein (3, 20 Jahn), den manche Gelehrte wohl fälschlich als Quintilians Sohn identifizieren wollten. 8 Simon Byl zählt im Index von Bonitz (521b20-522a18) 102 Vorkommen von organon, wovon 41 die Bedeutung „Organ“ und 61 die Bedeutung „Werkzeug“ hätten: Byl 1971, 128 f. Für das Adjektiv werden von Bonitz ca. 25 Belege ange führt, wobei man bedenken muss, dass der Index nicht vollständig sein will. Die meisten dieser Belege sind von der Bedeutung „Organ“ abgeleitet; ta organika merê/moria wird geradezu als Synonym für ta organa verwendet. S. 132 sagt
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tung „Sinnesorgan“, selten allgemeiner „Körperorgan“.9 Im Corpus Hippocraticum dagegen, dessen meiste Schriften aus den letzten 3 Jahrzehnten des 5. Jh.s v. Chr. stammen, findet sich das Wort so gut wie nie in dieser Bedeutung, obwohl man es sachlich dort erwarten sollte. Wenn die hippokratischen Ärzte von Gliedern oder Organen sprechen, nennen sie sie „Teile“ (meros, melos10) oder „Orte“ (to pos, chôrion). S. Byl hat in seinem Aufsatz „Note sur la polysémie d’organon et les origines du finalisme“ von 1971 versucht, eine Stelle aus der hippokratischen Schrift De victu (περὶ διαίτης I, 22; 140,11-16 Joly = VI, 494,15-21 Littré) in Anlehnung an Joly als den frühesten Beleg für den Gebrauch des Wortes organon im Sinne von „Körperorgan“ zu deuten.11 Dort ist in einem schwer verständlichen Vergleich davon die Rede, dass der Mensch und die anderen Lebewesen „dasselbe erfahren“ wie ein Töpfer, der auf der Drehscheibe Tongefäße herstellt: „In derselben Umdrehung erarbeiten sie alles, aus demselben (Material), niemals einander ähnliche (Produkte), mit denselben Werkzeugen/Organen (organoisin), indem sie aus Flüssigem Festes und aus Festem Flüssiges machen.“12 Der Vergleich stammt aus einer Reihe weiterer obskurer Handwerksvergleiche und könnte zwar in Byls Sinn gedeutet werden, wenn er sich auf die Verdauung und Nahrungsumwandlung bei Lebewesen bezöge. Ich würde
Byl, dass nach seinem Kenntnisstand Aristoteles der erste Schriftsteller sei, der das Adjektiv organikos gebrauche. 9 Byl 1971, 127 ff. hat im Lexicon Platonicum von Ast (vol. 2, 467 f.) 45 Stellen gezählt, z. B. Politeia VI, 508 B 3 f.; Phaidros 250 B 4. „Körperorgan“ bedeutet das Wort im Timaios 33 C 4, wo von den Organen der Nahrungsaufnahme und den Ausscheidungsorganen die Rede ist. 10 Byl 1971, 127. Z. B. De locis in homine VI, 278, 6 Littré (vielleicht 2. Hälfte des 5. Jh.s v. Chr.), wo man allerdings zweifeln kann, ob von einem „Glied/Organ“ des Körpers die Rede ist oder vielmehr von irgendeinem Stück, das aus dem Körper herausgerissen wird. Ganz deutlich wird dort übrigens eine wechselseitige Be einflussung der einzelnen Teile des Körpers beschrieben (eine Beziehung, die für den modernen Organismusbegriff zentral ist). Vgl. auch den ganzen Titel dieser Schrift, die auf Griechisch περὶ τόπων τῶν κατὰ ἀνθρώπων („Über Orte im Menschen“) heißt. Dazu Craik 1998. 11 Byl 1971, 124-127. Joly datiert die Schrift auf das Ende des 5. oder den Anfang des 4. Jh.s v. Chr.: Joly/Byl 2003, 47. 12 Hippokrates, De victu, 140, 14-16 Joly = VI, 494, 11-14 L.: ἄνθρωποι ταὐτὰ πάσχουσιν καὶ τἆλλα ζῷα· ἐν τῇ αὐτῇ περιφορῇ πάντα ἐργάζονται, ἐκ τῶν αὐτῶν οὐδὲν ὅμοια τοῖσιν αὐτοῖσιν ὀργάνοισιν, ἐξ ὑγρῶν ξηρὰ ποιέοντες καὶ ἐκ τῶν ξηρῶν ὑγρά.
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jedoch zur Vorsicht raten, da die genauen Vergleichspunkte (und überhaupt das Verständnis dieser Stelle) sehr unklar sind. Der wahrscheinlich früheste Beleg des Wortes organon stammt vom Chorlyriker Pindar (gestorben nach 446 v. Chr.), der es in der Bedeutung „Musikinstrument“ verwendet13 – diese Verwendung führt zur deutschen „Orgel“ und zum „Organisten“. In Sophokles’ Trachinierinnen, Vers 905 (Sophokles starb 406 v. Chr., die Trachi nierinnen sind nicht genau datierbar) haben wir vielleicht den frühesten Beleg des Wortes in der Bedeutung „Gerät, Werkzeug“.14 Als einziger Konkurrent kommt der sog. Vorsokratiker Demokrit von Abdera (gest. wohl in den ersten Jahrzehnten des 4. Jh.s v. Chr.) in Frage, von dem in fr. 68 B 159 Diels/Kranz (aus Plutarch) ein schönes Bild überliefert ist: Wenn der Körper die Seele verklagen würde wegen der vielen Übel, die er durch ihre Impulse (wie Lust, Trunksucht etc.) erlitten habe, so würde Demokrit als Richter die Seele verurteilen: „... er würde sie anklagen, so wie man bei einem Werkzeug oder Gerät, das sich in schlechtem Zustand befinde, die Schuld dem rücksichtslosen Besitzer beimesse.“15 Für Demokrit ist also die Seele die Instanz, die den Körper in gewisser Weise wie ein Werkzeug benutzt und für den Zustand dieses Werkzeuges verantwortlich ist. Das ist eine Vorstellung, die, wie wir sehen werden, bereits sehr der Auffassung des Aristoteles ähnelt. Leider können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich tatsächlich um originalen Wortlaut Demokrits handelt oder ob vielleicht Plutarch hier platonische und aristotelische Vorstellungen von sich aus mit hereinbringt.
13 Pindar fr. 107 [b] Mähler = Simonides fr. 31 Bergk, aus Plutarch, Quaestio nes convivales IX 15, 2 (748 C). Die Zuschreibung des anonymen Fragments an Simonides geht auf Bergk zurück; andere haben es dem Bakchylides zuge schrieben, Snell dem Pindar (fr. 107 [b]), was sich durchgesetzt hat (vgl. Babbit et al. 1961, 297, Anm. b). Der Zusatz, in dem das Wort organon steht (τὸ δ᾿ ὄργανον Μολοσσόν), findet sich nicht in den Plutarch-Handschriften, sondern nur bei Athenaios 5, 181b (= 2, 400 Olson). 14 Sophokles, Trach. 905 f.: ..., κλαῖε δ᾿ ὀργάνων ὅτου / ψαύσειεν οἷς ἐχρῆτο δειλαία πάρος. „[...] (Deianeira) weinte, wenn sie ein Gerät berührte, dessen sich die Ärmste sonst bedient, [...]“ (übers. v. W. Willige, München/Zürich 1985, 165). Byl 1971, 122, formuliert: „Il nous semble que c’est par la tragédie que ce mot reçut droit de cité dans la langue greque. C’est là du moins qu’il apparaît pour la première fois.“ 15 Demokrit, DK 68 B 159 (Übers. Gemelli Marciano 2010, 449): ..., ὥσπερ ὀργάνου τινὸς ἢ σκεύους κακῶς ἔχοντος τὸν χρώμενον ἀφειδῶς αἰτιασάμενος. – Auch Metzger hält diese Stelle für den „erste(n) feste(n) Anhaltspunkt für die Entstehung des Organonbegriffs“ (Metzger 1968, 3.).
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2. Aristoteles’ Organismus-Begriff Bei den antiken und mittelalterlichen Belegen steht also die einfache Grundform organon in der Bedeutung „Werkzeug“, seit Aristoteles besonders „Organ eines Lebewesens“ im Vordergrund, auch wenn das Wort in wenigen Einzelfällen um das Suffix -is mos erweitert ist. Für die weitere Entwicklung ist dabei besonders eine Stelle aus der aristotelischen Schrift De anima (II 4, 415b1820) wichtig, wo Aristoteles die Seele als „eine Ursache und einen Anfang des lebendigen Körpers“ bezeichnet.16 (Ganz nebenbei verwendet er hier seine gebräuchlichste Bezeichnung für das, was wir heute „Organismus“ nennen, nämlich „lebendiger Körper“ oder „Lebewesen/Tier“ [zôion].) Er führt dann genauer aus, was er in diesem Zusammenhang genau unter „Ursache“ und „Anfang“ versteht, und beschreibt die Seele als eine Ursache im Sinne des von ihm besonders favorisierten Finalgrundes.17 Diesen Gedanken begründet der Satz 415b18-20: πάντα γὰρ τὰ φυσικὰ σώματα τῆς ψυχῆς ὄργανα, καὶ καθάπερ τὰ τῶν ζῴων, οὕτω καὶ τὰ τῶν φυτῶν, ὡς ἕνεκα τῆς ψυχῆς ὄντα.
„Alle natürlichen Körper sind nämlich Organe (organa) der Seele, und wie die (sc. Körper) der Tiere, so sind auch die (sc. Körper) der Pflanzen (sc. Organe der Seele), weil sie um der Seele willen existieren.“ Hier werden also die „Körper“ von Tieren und Pflanzen als „Instrumente, Werkzeuge“ der Seele beschrieben. Die Seele ist der Finalgrund, auf den hin alle Aktivitäten des Körpers ausgerichtet sind. Das bedeutet konkret, dass alle Tätigkeiten der körperlichen Strukturen die einzelnen Seelenfunktionen verwirklichen: Die Seelenfunktion der Ernährung wird etwa durch die Organe der Nahrungsverdauung ausgeübt, die der Fortbewegung durch die Fortbewegungsorgane, die der Wahrnehmung durch die Wahrnehmungsorgane etc. Eine vergleichbare Aussage findet sich in De partibus animali um I 1, 642a9-13:
16 Aristoteles, De an. II 4, 415b8: ἔστι δ᾿ ἡ ψυχὴ τοῦ ζῶντος σώματος αἰτία καὶ ἀρχή. „Die Seele ist Ursache und Anfang des lebendigen Körpers.“ 17 Ebd., 415b15: φανερὸν δ᾿ ὡς καὶ οὗ ἕνεκεν ἡ ψυχὴ αἰτία. „Es ist deutlich, dass die Seele auch eine Ursache „worum-willen“ ist.“ Dieser schwer übersetzbare Jargon ist eine typische Formulierung für den Finalgrund.
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ὥσπερ γὰρ ἐπεὶ δεῖ σχίζειν τῷ πελέκει, ἀνάγκη σκληρὸν εἶναι, εἰ δὲ σκληρόν, χαλκοῦν ἢ σιδηροῦν, οὕτω καὶ ἐπεὶ τὸ σῶμα ὄργανον (ἕνεκά τινος γὰρ ἕκαστον τῶν μορίων, ὁμοίως δὲ καὶ τὸ ὅλον), ἀνάγκη ἄρα τοιονδὶ εἶναι καὶ ἐκ τοιωνδί, εἰ ἐκεῖνο ἔσται.
„Wie nämlich, wenn man etwas mit einem Beil spalten muss, dieses (sc. das Beil) notwendigerweise hart sein muss, wenn es aber hart (sein muss), es aus Bronze oder Eisen bestehen muss, so ist es auch notwendig, weil der Körper ein Organ ist (um eines Zieles willen nämlich existiert jedes der Teile, in gleicher Weise aber das Ganze), dass er so und so beschaffen ist und aus diesem oder jenem Material besteht, wenn jenes (Ziel) erreicht werden soll.“ Nicht also allein jedes einzelne Organ hat ein Ziel, eine Funktion, die es ausübt, sondern auch der ganze Körper, der als eine Zusammensetzung seiner einzelnen Organe verstanden werden kann, hat eine Funktion, und für das Ganze gelten dieselben Bedingungen wie für die einzelnen Organe: Die Form und materielle Ausgestaltung sind von der auszuübenden Funktion her bestimmt. An dieser Stelle zeigt sich ganz deutlich, wieso Aristoteles den Ausdruck organon von seiner ursprünglichen Bedeutung als „Werkzeug, Apparat, Instrument“ auf den Bereich des Lebendigen übertragen konnte: Wie ein Beil als Werkzeug getreu dem Prinzip „form follows function“ gestaltet ist,18 so gilt dies auch für die Organe der Lebewesen. Ihre materielle und formale Beschaffenheit ergibt sich aus der Funktion, die sie ausüben sollen. Dies ist überhaupt die Kernaussage der berühmten aristotelischen Teleologie.19 18 Tatsächlich gibt es einen deutschen und einen englischen Wikipedia-Artikel „form follows function“ (aufgerufen am 30.03.2015), nach denen der Archi tekt Louis Sullivan eine der frühesten Quellen für diese Formulierung sein soll: „Whether it be the sweeping eagle in his flight, or the open apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the branching oak, the winding stream at its base, the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is the law. Where function does not change form does not change.“ (L. Sullivan, The tall office building artistically considered, Lippincott’s Monthly Magazine, Philadelphia März 1896, 111). – Ich konnte den Originalbeleg und die Wahrheit dieser Behauptung nicht verifizieren. 19 Vgl. Kullmann 1998, 255 ff. – Ein wichtiges christliches Rezeptionszeugnis die ses Gedankens findet sich bei Nemesius von Emesa (um 400 nach Chr.), De na tura hominis (ed. Moreno Morani, Leipzig 1987, S. 2, 9-13): „Und auch sonst herrscht Übereinstimmung, dass die Seele für alle Menschen wichtiger ist als der Körper. Von dieser (sc. der Seele) nämlich wird der Körper wie ein Werkzeug (organon) bewegt. Dies verdeutlicht der Tod: Wenn nämlich die Seele (sc. vom Körper) getrennt worden ist, bleibt der Körper ganz und gar unbeweglich und wirkungslos, wie die Werkzeuge unbeweglich bleiben, wenn der Handwerker
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3. Der Organismus-Begriff im 18. Jahrhundert Eine zentrale Rolle bei der neuzeitlichen Verbreitung des Begriffs „Organismus“ spielt der Mediziner Georg Ernst Stahl (1659–1734). Er handelt etwa in einer kleinen Untersuchung von 1714 „Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus“.20 Dabei geht es ihm um den Nachweis, dass ein Organismus nicht nach denselben Prinzipien funktioniert wie ein Mechanismus und es deshalb nicht ausreicht, physiologische Vorgänge ausschließlich nach rein physikalischen, chemischen oder mechanischen Grundsätzen zu erklären. Diese mechanistische Erklärung war vor allem durch Descartes (1596–1650) propagiert worden. Stahl widerlegt solche mechanistischen Theorien u. a. mit folgenden Worten: „Man muß dem Wesen nach und auf vernünftiger Grundlage die Art, Beschaffenheit und den Unterschied kennen zwischen Organismus und Mechanismus. Wir müssen auf der Grundlage antiker Überlieferung die organischen Akte betrachten, und wir werden finden, daß sie die modernen mechanischen Spekulationen weit übertrifft. [...] Betrachten wir den Organismus in der Medizin, so erkennen wir unschwer die Leitkraft im lebenden Körper21 als die wesentliche Ursache, als die wirkende Kraft und das Vermögen, das etwas tut oder unterläßt. Diese wirkende Kraft ist anpassungsfähig und mächtig. Sie hängt nicht absolut von der stofflichen Konstitution der Teile ab.“22 Diese Passage lässt zweierlei deutlich erkennen: Zum einen beruft sich Stahl ausdrücklich auf eine nicht näher bezeichnete „antike Überlieferung“. Zum anderen spielt eine von ihm angenommene zentrale Kraft im lebendigen Organismus die Hauptrolle. Ihre Präsenz unterscheidet einen Organismus von einem Mechanismus. Dieses vitale Prinzip, das an anderen Stellen stoisierend als ein mo
von ihnen getrennt worden ist.“ Die Vorstellung der Trennung von Seele und Körper im Tode ist wohl primär platonisches Erbe. 20 Es handelt sich um einen Auszug aus einem umfangreicheren Buch: G. E. Stahl, Dissertatio inauguralis medica de medicina medicinae curiosae, Halle 1714. Ich habe sie nach der Übersetzung von B. J. Gottlieb benutzt: Stahl 1961, 48-53 (umfasst nur die Paragraphen XX-XXIV). 21 Vgl. die Anmerkung des Herausgebers Gottlieb (Anm. 74): „‚Director in corpore vivo‘. Über die Skala der bei Stahl gebräuchlichen vitalistischen Begriffe, wie Activitas vitalis, Agens vitale, Energia vitalis, Facultas vitalis, Robur vitale u. a. vgl. Gottlieb 1943, 469 f. 22 Stahl 1961, 49.
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tus tonicus vitalis bezeichnet wird, ist ein inhärentes Bewegungsprinzip des Lebewesens, das alle physiologischen Prozesse initiiert und steuert.23 Für Stahl gilt weiterhin: Dieses Prinzip „hängt nicht absolut von der stofflichen Konstitution der Teile ab“, sondern bestimmt umgekehrt die stoffliche Zusammensetzung und die Form der einzelnen Körperteile. Es hat also die Priorität über die mechanisch-materiellen Strukturen des Körpers. Diese Überlegungen entsprechen weitgehend denen, die Aristoteles über das Verhältnis von Seele und Körper vorträgt und die ich oben referiert habe. Auch Aristoteles sah in der Physik den wesentlichen Unterschied zwischen natürlichen und artifiziellen Dingen in dem inhärenten Bewegungsprinzip, das die natürlichen Dinge besitzen, die künstlich geschaffenen dagegen nicht.24 Das Stahlsche Bewegungsprinzip ist daher weitgehend identisch mit der aristotelischen Seele.25 Aus dieser Perspektive ist es naheliegend, den Körper insgesamt als einen „Organismus“ zu bezeichnen, als ein „Instrument, Werkzeug“ der Seele (aristotelisch gesprochen) oder des vitalen Bewegungsprinzips (in Stahlscher Diktion). Damit ist auch deutlich geworden, dass Stahl mit der „antiken Überlieferung“ in erster Linie Aristoteles meint. Dass er sich direkt mit Aristoteles befasst hat, bezeugen auch Schriftentitel wie Aristotelis error circa definitionem naturae correctus von 1701.26 Auch eine Auseinandersetzung Stahls mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) über die Organismusvorstellung ist bekannt.27 Die Details dieses Disputs sind schwer nachzuzeichnen, jedenfalls schreibt Leibniz in diesem Zusammenhang: 23 Kleanthes von Assos (ca. 310–230 v. Chr.), ein Schüler des Schulgründers Zenon von Kition, hat die stoische tonos-Lehre ausgearbeitet. Gemeint ist damit eine Spannung, die zwischen zwei polaren Gegensätzen besteht und überall in der Natur anzutreffen ist. Laut Stoicorum Veterum Fragmenta I, 497, Z. 22-28 ist etwa im Samen eine komprimierte Form des entstehenden Individuums enthal ten, die sich im Prozess der Entwicklung ausfaltet, quasi „entspannt“. Auch die Dominanz eines leitenden Seelenprinzips klingt ähnlich wie die stoische Lehre vom hegemonikon, vom logos als dem leitenden Seelenteil. Zur Rolle der Stoa vgl. auch das Ende dieses Aufsatzes. 24 Aristoteles, Phys. II 1, 192b13 ff. 25 Völlig zu Recht formuliert Gottlieb (Stahl 1961), 18: „Die Lehre Stahls wird auch in dieser Beziehung in die unmittelbare Nähe Harveys gerückt und der philosophische, nämlich aristotelische Zusammenhang der Fundamente beider erkennbar.“ 26 Ediert und übersetzt von S. Kratzsch (2000). 27 Vgl. Hartmann 2000, 97 ff., bes. 110 ff.
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Organismum nihil aliud esse formaliter, quam mechanismum, etsi exquisitiorem et diviniorem, quia omnia in natura fieri debent mechanice. „Ein Organismus sei in formaler Hinsicht nichts anderes als ein Mechanismus, wenngleich ein erlesenerer und göttlicherer, weil alle Vorgänge in der Natur in mechanischer Weise geschehen müssen.“28 Auch Leibniz verwendet also den Ausdruck organismus für den menschlichen und tierischen Körper und unterscheidet ihn von einer bloßen Maschine durch ihren höheren und göttlicheren Organisationsgrad. Ein Beispiel einer artifiziellen Maschine ist die Uhr, die in demselben Kontext von beiden Gelehrten angeführt wird. Während aber die Uhr nur ein Werkzeug des sie herstellenden Menschen ist (instrumentum oder organon), fehlen ihr die wesentlichen Eigenschaften des Lebendigen. Wenn solche hinzutreten, ist eine solche Maschine kein einfaches Werkzeug (organon) mehr, sondern ein höher organisierter Tierkörper oder ein Organismus.29 Wenn man diese Debatte zugrunde legt, bezeichnet der Begriff or ganismus eine strukturell raffiniertere Komposition als derjenige des organons. An der Wurzel liegt aber auch hier die Vorstellung, dass die Seele den Körper als Werkzeug zur Ausübung ihrer Funktionen benutzt und benötigt.
4. Der Organismusbegriff im modernen Verständnis Was soll nun die etwa 300 Jahre alte Neuprägung „Organismus“ in der Moderne inhaltlich bedeuten? Ein Konversationslexikon definiert: „Organismus, das Lebewesen als räumlich abgegrenztes Einzelwesen, im Gegensatz zum anorganischen Körper. Der Organismus ist ein materielles System, das in ständigem Stoffaustausch mit seiner Umgebung steht und laufend die materiellen Bestandteile verändert und ersetzt (sich im Fließgleichgewicht erhält). Der Organismus kann als System höherer Ordnung untergeordnete Sys28 „G. G. Leibnitii Animadversiones circa assertiones aliquas Theoriae Medicae verae clar. Stahlii cum eiusdem Leibnitii ad Stahlianas observationes respon sibus“, in: L. Dutens, G. G. Leibnitii Opera Omnia, Bd. 2, Geneva 1768, zitiert nach Hartmann 2000, 113. 29 Vgl. Hartmann 2000, 112.
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teme in sich zusammenschließen (z. B. der vielzellige Organismus ein System von Zellen) oder selbst Glied einer höheren organischen Einheit sein (Vergesellschaftung von Einzelwesen, wie Tierstöcke oder -staaten). Der Begriff Organismus ist aus der Tier- und Pflanzensoziologie in die Soziologie des Menschen eingedrungen (organische Sozialstrukturen; soziale Organismen, z. B. die Familie; organologische Gesellschafts- und Staatstheorien, ...). [...]“30 Hier finden wir also erstens den Gegensatz zum anorganischen Körper, der offenbar mit dem Gegensatz von „belebt“ und „unbelebt“ identisch ist. Auf die Problematik dieser Unterscheidung wird in unserem Lexikonartikel nicht eingegangen. Vermutlich gehört die Eigenschaft des Lebendigen substantiell zum Organismus, den man auch als „lebendigen Körper“ bezeichnen könnte. Zweitens wird der Organismus als ein materielles System beschrieben, das mit seiner Umwelt auf dem Wege des Stoffaustausches verbunden ist. Es ist, nebenbei bemerkt, auffällig, wie sich der Lexikonartikel bemüht, allein im materiell-stofflichen Bereich zu bleiben. Das hängt natürlich mit dem Unbehagen moderner Naturwissenschaftler an seelischen Phänomenen zusammen und ist wohl auch eine späte Nachwirkung des cartesianischen Leib-Seele-Dualismus (der von seinen Ursprüngen her platonisch und pythagoreisch ist). Ein Organismus ist drittens ein System mittlerer Stellung, insofern er kleinere Untersysteme in sich vereinigen kann und seinerseits ein Untersystem einer größeren übergeordneten Einheit darstellen kann. Es freut den Gräzisten, dass hier das eine griechischstämmige Fremdwort „Organismus“ durch ein zweites allgemeineres, nämlich „System“, erklärt wird.31 σύστημα/systêma ist eine beim späten Platon auftretende Substantivbildung zum Verbum συνιστάναι/ synhistanai „zusammenstellen“, also eine „Zusammenstellung“ 30 dtv-Lexikon, Bd. 16, 156. Ausführlicher, aber in den Grundzügen ähnlich ist die Definition von Toepfer (2011, Bd. 2, 777). Dort kommt vor allem noch die wech selseitige Abhängigkeit der einzelnen Teile und Prozesse des Organismus hinzu: „Ein Organismus ist ein materielles System aus wechselseitig voneinander ab hängigen Teilen und Prozessen. [...] Die funktionale Einheit des Systems besteht in seiner Organisation, d. h. in einem Gefüge aus Prozessen, die seine materi ellen Teile erzeugen und erhalten und die damit (als Prozesse eines jeweiligen Typs) wechselseitig voneinander abhängen.“ 31 An der Wurzel liegen aber wohl die systemtheoretischen Vorstellungen von Ludwig von Bertalanffy (1901-72), die dieser vor allem in der Schrift „General System Theory“ (von Bertalanffy 1949) niederlegte. Bertalanffy hat auch den Begriff des „Fließgleichgewichts“ eingeführt. Vgl. Ballauff Art. „Organismus“ HWPh, Bd. 6, 1335.
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oder „Komposition“, mithin ein aus mehreren Teilen bestehendes Ganzes.32 Offenbar will der Autor des Artikels sagen, dass die übergeordnete Kategorie des Organismus „System“ genannt werden kann, wobei die spezifische Differenz dann die Eigenschaft des Belebtseins wäre.33 Auch die vielfältigen Übertragungen der Organismusvorstellung auf andere Bereiche, besonders etwa auf die Erde oder die Sprache, beginnen in der Antike und sind in der Neuzeit eher noch ausgeweitet worden.34 Sie müssen hier wegen der Beschränkung auf den biologischen Organismusbegriff außer Acht bleiben.
5. Aristoteles’ Bezeichnungen für und Vorstellungen vom Organismus Aristoteles verwendet in seiner Biologie das Wort systêma erstaunlich selten. Aufschlussreich ist De generatione animalium II 4, 740a19 ff. Dort konstatiert Aristoteles, dass bei allen Blut besitzenden Lebewesen das Herz als erstes entstehe (der berühmte „springende Punkt“, das punctum saliens), denn dies sei der „Anfang des Lebewesens und des Zusammentretens“ (archê ... tou zôiou kai systêmatos). Hier wird also der Ausdruck systêma mit dem des „Lebewesens“ (ζῷον/zôion) gleichgesetzt, und zôion ist in der Tat die häufigste aristotelische Entsprechung für das, was wir heute als „Organismus“ bezeichnen.35 Aristoteles spricht im Zusammenhang 32 Platon, Nomoi III, 686 B 7: für ein Staatsgefüge; Ps.-Platon, Epinomis 991 E 2: ἀριθμοῦ τε σύστημα καὶ ἁρμονίας σύστασιν. Ziemlich genau gleichzeitig ist der Gebrauch des Wortes in den hippokratischen Epidemien VII, 83,2, aber in der Spezialbedeutung „Urinsediment“. Vgl. LSJ s. v. (S. 1735): „The word first occurs in Hp. and Pl., but is chiefly used in later prose.“ 33 Auch diese Methode des Definierens ist von Aristoteles exakt beschrieben wor den, vgl. etwa Met. VII 12, 1037b29 ff. und den Artikel „horismos/Definition“ von C. Pietsch in: Höffe, Aristoteles-Lexikon, 260-62. 34 Vgl. etwa Althoff 1997a, 95-110. Auch diese Erweiterung beginnt bei Aristote les, der etwa in der Politik (I 4, 1253b27 ff.) menschliches Personal als organa empsycha („beseelte Werkzeuge“) bezeichnen kann. Allerdings ist die Polis da mit für Aristoteles noch nicht ein Organismus; man kann ihre einzelnen Teile nur von ihrer Funktion her wie Organe beschreiben, vgl. Kullmann 1998, 327 und bes. Schütrumpf 1991, 237-239. Besonders die Stoa hat diese Vorstellungen übernommen und verbreitet. 35 Jedenfalls im Bereich der Tiere; Pflanzen, die nach moderner Auffassung eben falls Organismen sind, nennt Aristoteles nicht ζῷα/zôia, sondern ζῷντα/zôinta
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mit der Zeugung oft davon, dass eine Wirkkraft (meist die Wärme) ein flüssiges Material „zusammenstelle“ (synhistanai), es fest werden und eine Form annehmen lasse.36 Dies ist der fundamentale Prozess bei der Embryonalgenese und damit bei der Entstehung eines Organismus. Es empfiehlt sich, die Grundbedeutung „zusammenstellen, fest werden“, die hinter dem Substantiv systêma liegt, immer im Blick zu behalten. Aristoteles benutzt sehr viel häufiger als das Substantiv sys têma das vom selben Verbum synhistanai stammende σύστασις/ systasis oder das von συντιθέναι/syntithenai „zusammenstellen, komponieren“ abgeleitete σύνθεσις/synthesis. So heißt es etwa in De partibus animalium (II 1, 646a13 ff., Übers. Kullmann, Hervorhebungen von mir37): τριῶν δ᾿ οὐσῶν τῶν συνθέσεων πρώτην μὲν ἄν τις θείη τὴν ἐκ τῶν καλουμένων ὑπό τινων στοιχείων, οἷον γῆς ἀέρος ὕδατος πυρός. ἔτι δὲ βέλτιον ἴσως ἐκ τῶν δυνάμεων λέγειν, καὶ τούτων οὐκ ἐξ ἁπασῶν, ἀλλ᾿ ὥσπερ ἐν ἑτέροις εἴρηται καὶ πρότερον. ὑγρὸν γὰρ καὶ ξηρὸν καὶ θερμὸν καὶ ψυχρὸν ὕλη τῶν συνθέτων σωμάτων ἐστίν, ... δευτέρα δὲ σύστασις ἐκ τῶν πρώτων ἡ τῶν ὁμοιομερῶν φύσις ἐν τοῖς ζῴοις ἐστίν, οἷον ὀστοῦ καὶ σαρκὸς καὶ τῶν ἄλλων τῶν τοιούτων. τρίτη δὲ καὶ τελευταία κατ᾿ ἀριθμὸν ἡ τῶν ἀνομοιομερῶν, οἷον προσώπου καὶ χειρὸς καὶ τῶν τοιούτων μορίων.
„Aus den drei Arten von Zusammensetzungen (synthesis), die es gibt, muß man als erste diejenige ansetzen, die aus den von einigen so genannten Elementen besteht, nämlich aus Erde, Luft, Wasser und Feuer. Vielleicht ist es aber noch besser, von einer Zusammensetzung (systasis) aus den (elementaren) Kräften zu sprechen, und zwar nicht aus allen Kräften, sondern aus denen, von denen an anderer Stelle schon früher die Rede gewesen ist. Denn „feucht“ und „trocken“ und „warm“ und „kalt“ sind das Material der zu-
„lebende Wesen“. Der Übergang zwischen beiden Bereichen ist fließend, vgl. PA IV 5, 681a12 ff. 36 Z. B. GA II 4, 739b21: ὅταν δὲ συστῇ ἡ ἐν ταῖς ὑστέραις ἀπόκρισις τοῦ θήλεος ὑπὸ τῆς τοῦ ἄρρενος γονῆς, ... („wenn die Ausscheidung in der Gebärmutter des Weibchens zusammentritt/fest wird durch Wirkung des vom Männchen stam menden Samens“); 739b25: (θερμότης ζωτική), ἣ τὸ ὅμοιον εἰς ἓν ἄγει καὶ συνίστησι, ... („[die lebensspendende Wärme], die das Ähnliche in eins zusammenführt/fest werden lässt“); 739b34: ὅταν δὲ συστῇ τὸ κύημα ... („wenn der Keim zusammentritt/fest wird“) usw. Diese Beziehung liegt auch dem hippokratischen „Urinsediment“ zugrunde, vgl. Anm. 32. 37 Kullmann 2007, 32.
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sammengesetzten Körper. [...] Eine zweite aus den ersten (zusammengesetzten Körpern) bestehende Zusammensetzung ist die (natürliche) Substanz (physis) der homogenen Teile in den Lebewesen, zum Beispiel des Knochens, des Fleisches und anderer derartiger (Gewebe). Die dritte und der Zahl nach letzte Zusammensetzung ist die der inhomogenen Teile, zum Beispiel des Gesichts, der Hand und derartiger Teile.“ Hier beschreibt Aristoteles also eine Stufenfolge von Zusammensetzungen (systaseis, syntheseis), die auf der untersten Ebene schwer verständlich ist. Was soll nämlich aus den Elementen bzw. Elementarqualitäten zusammengesetzt sein? Die homogenen Teile? Aber die werden bereits als „zweite Zusammensetzung“ bezeichnet. Die Elemente aus den Elementarqualitäten? Auch dies bereitet Schwierigkeiten, die ich hier nicht im Einzelnen erläutern kann. Möglicherweise muss man noch irgendwelche zusammengesetzten Substanzen annehmen, die aus Elementen bestehen und ihrerseits die homogenen Teile konstituieren, vielleicht anorganische chemische Verbindungen.38 Etwas besser sind die nächsten Zusammensetzungen zu verstehen. Die „homogenen Teile“ entsprechen in etwa unseren „Ge weben“,39 wie die Beispiele zeigen. Aus diesen Geweben setzen sich in der dritten Stufe die sog. „inhomogenen Teile“ zusammen, die wir größtenteils als „Organe“ bezeichnen würden (zumindest die Hand, die hier als Beispiel genannt ist). Bis hierher haben wir eine Beschreibung der stufenweisen Zusammensetzung eines lebendigen Körpers von den Elementen bis zu den einzelnen Organen. Immer sind es einfachere Systeme, die sich zu höher organisierten und komplexeren Systemen zusammenschließen, um schließlich den lebendigen Körper zu bilden. Moderne Biologen vermissen hier natürlich die Zelle bzw. die Zellgruppierung als ein wichtiges Untersystem, aber Aristoteles hatte davon (wie das ganze Altertum) keine Kenntnis.40
38 Vgl. insgesamt den Kommentar von Kullmann 2007, 362 ff. 39 Auch dieser Terminus scheint erst am Ende des 18. Jh.s in der französischen Version „tissu“ aufzutauchen, vgl. Kullmann 1982, 209. Vgl. Toepfer 2011, Bd. 2, 91 ff. 40 Erste Entdeckung von Zellen im Korkgewebe durch R. Hooke 1665, Malpighi und Grew beschreiben 1675 und 1682 den Aufbau von Pflanzen aus Zellen. Technische Voraussetzung ist die Erfindung des Mikroskops um 1590. Vgl. Toepfer 2011, Bd. 3, 764 ff.
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Was ebenfalls fehlt, ist die uns eigentlich interessierende letzte Stufe der Zusammensetzung, nämlich die Konstitution des Organismus aus den Organen und Organgruppen.41 Diese ist wohl von Aristoteles hier ausgelassen, weil sie sich von selbst versteht, vielleicht auch, weil er der Dreizahl eine gewisse Vollkommenheit beimaß.42 Aber es wird deutlich, dass Aristoteles durchaus einen Organismus als ein System (oder besser: eine systasis, eine Komposition) aus verschiedenen Untersystemen versteht und beschreibt. Dabei scheint, ganz wie in der zitierten modernen Definition, der Akzent auf der materiellen, anfangs wohl gar chemischen Zusammenstellung zu liegen.43 Auch anorganische Zusammensetzungen werden mit dem von derselben Wurzel stammenden Ausdruck ta physei sy nestôta, „die von Natur aus zusammengetretenen Dinge“, bezeichnet.44 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Aristoteles mit dem Ausdruck systasis vor allem die chemische bzw. mechanische Zusammensetzung des Organismus bezeichnet,45 besonders auch in der allerersten Phase der Embryonalgenese, wo speziell noch die erste Ausformung fester Bestandteile aus einem flüssigen Ausgangsstoff gemeint ist.46 41 Am nächsten an die Bedeutung „Organismus“ kommt der Ausdruck systasis vielleicht in GA IV 1, 766a24 f. Dort geht es um die Ausbildung des weiblichen Geschlechts, wenn sich das im männlichen Samen enthaltene Zeugungsprinzip nicht durchsetzt: ἑνὸς δὲ μορίου ἐπικαίρου μεταβάλλοντος ὅλη ἡ σύστασις τοῦ ζῴου πολὺ τῷ εἴδει διαφέρει. („Wenn sich ein relevanter Teil verändert, unterscheidet sich die gesamte Zusammensetzung des Lebewesens ihrer Form nach sehr.“) – Dies ist übrigens auch eine wichtige Stelle, die eine organische Wechselwirkung innerhalb des Organismus belegt. 42 Vgl. De caelo I 1, 268a9 ff. (primär zu den drei Dimensionen); Mete. III 4, 374b33 ff. (der Regenbogen hat nur drei Farben); PA III 4, 666b21 ff. (das Herz der größeren Tiere und des Menschen hat drei Kammern); vgl. Zierlein 2005, 43 ff. 43 Dass der scheinbare Anachronismus „chemische Zusammensetzung“ für Aristo teles durchaus seine Berechtigung hat, zeigt seine Schrift Meteorologica, Buch IV, die nur zufällig unter die drei Bücher gelangt ist, die sich wirklich mit meteorologischen Problemen (im weiteren antiken Sinn) befassen; inhaltlich hat sie damit nichts zu tun. I. Düring hat sie zu Recht als „Aristotle’s Chemical Treatise“ bezeichnet (so der Titel seines Kommentars, Düring 1944). 44 So Mete. IV 1, 379a6. 45 So besonders PA III 7, 670a19, wo die mechanische Befestigung der Blutgefäße und inneren Organe des Abdomens erläutert wird und Aristoteles dann re sümiert: ταῦτα δὴ συμβαίνει διὰ τούτων τῇ συστάσει τῶν ζῴων, „dieses nun ergibt sich aus diesen Gründen für die Zusammenstellung der Lebewesen“. 46 Z. B. GA II 6, 744b28: ἡ μὲν οὖν τῶν ὀστῶν φύσις ἐν τῇ πρώτῃ συστάσει γίνεται τῶν μορίων ἐκ τῆς σπερματικῆς περιττώσεως, ... „Die Natur der
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Bei Aristoteles findet sich dagegen kein Definitionsversuch wie in unserem modernen Lexikon. Er beschreibt also nicht den Organismus als einen Spezialfall eines materiellen Systems, der hauptsächlich durch Stoffaustausch mit der Umwelt gekennzeichnet ist. Dennoch ist seine Vorstellung vom Lebewesen gar nicht so weit davon entfernt. Das entscheidende Merkmal, das organische Systeme von anorganischen Systemen unterscheidet, ist für Aristoteles die Eigenschaft des Lebens.47 Eine Leiche, so sagt er etwa mehrfach, ist von ihrer rein materiellen Beschaffenheit her dasselbe wie der lebendige Körper. Aber ihr fehlt die Eigenschaft des Belebtseins, und insofern ist sie ganz etwas anderes als ein Organismus. Dasselbe gilt für einzelne Organe, die artifiziell nachgebaut oder vom restlichen Organismus getrennt worden sind, etwa eine steinerne oder eine abgeschlagene Hand.48 Dieses Belebtsein nennt Aristoteles oft „Beseeltsein“, und folgerichtig befasst er sich vor allem in seiner Schrift De anima mit der Frage, welche Eigenschaften denn überhaupt das Belebtsein ausmachen und somit einen lebendigen Körper wesentlich bestimmen.49 Zentral ist dabei das Vorliegen bestimmter Funktionen, dyna meis oder erga, die der beseelte, lebendige Organismus ausüben kann. Dieses Denken in Funktionen ist, wie schon bemerkt, die eigentliche fundamentale Erkenntnis des Aristoteles vor allem in der Biologie. Und plötzlich erschließt sich ganz leicht, was den lebendigen, funktionierenden Organismus von einem toten, künstlich nachgebildeten unterscheidet: Es sind die Vitalfunktionen, die Knochen entsteht in der ersten Zusammenstellung / im ersten Festwerden der Teile aus dem samenartigen Überschuss, [...].“ 47 Vgl. De an. II 2, 413a20 ff.: λέγομεν οὖν, ..., διωρίσθαι τὸ ἔμψυχον τοῦ ἀψύχου τῷ ζῆν. „Wir sagen nun, [...] dass das Beseelte vom Unbeseelten durch das Leben unterschieden ist.“ 48 Vgl. GA I 19, 726b22 ff.: οὐδὲ γὰρ ἡ χεὶρ οὐδ’ ἄλλο τῶν μορίων οὐδὲν ἄνευ ψυχῆς ἢ ἄλλης τινὸς δυνάμεώς ἐστι χεὶρ οὐδὲ μόριον οὐθέν, ἀλλὰ μόνον ὁμώνυμον. „Nicht nämlich ist die Hand oder irgendeines von den an deren Teilen ohne Seele oder eine andere Kraft Hand, noch irgendein anderes Teil, sondern nur homonym (= der Bezeichnung nach).“ GA II 1, 734b25 ff.: οὐ γάρ ἐστι πρόσωπον μὴ ἔχον ψυχήν, οὐδὲ σάρξ, ἀλλὰ φθαρέντα ὁμωνύμως λεχθήσεται τὸ μὲν εἶναι πρόσωπον τὸ δὲ σάρξ, ὥσπερ κἂν εἰ ἐγίγνετο λίθινα ἢ ξύλινα. „Nicht nämlich ist (sc. ein Gesicht) ein Gesicht, wenn es keine Seele hat, und nicht ist (sc. Fleisch) Fleisch, (sc. wenn es keine Seele hat), sondern wenn diese Dinge zugrunde gegangen sind (also keine Seele mehr besitzen), wird nurmehr homonym gesagt, dass das eine ein Gesicht, das andere Fleisch ist, wie wenn es aus Stein oder aus Holz bestünde.“ 49 Vgl. dazu Föllinger 2010.
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den Unterschied machen. Die basale Funktion allen Lebens ist für Aristoteles die Fähigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen und diese zu verdauen.50 Weder ein toter Körper noch eine Statue aus Metall, Holz oder Marmor kann dies tun. Es gibt natürlich noch andere grundlegende Funktionen, wie die Wahrnehmung, die Selbstbewegung usw., die aber nicht allen Lebewesen zukommen.51 Die Fundamentalfunktion der Nahrungsaufnahme und -verdauung hängt nach Aristoteles’ Meinung eng mit der Zeugungsund Fortpflanzungsfähigkeit zusammen. Diese Überzeugung rührt vor allem daher, dass für Aristoteles der männliche Same und das weibliche Menstruationsblut Verdauungsprodukte der Nahrung sind, wie er sich auch das Blut generell als ein Verdauungsprodukt der Nahrung vorstellt.52 Die durch die Wurzeln oder den Mund aufgenommene Nahrung wird durch die im Körper oder (bei den Pflanzen) im Boden vorhandene Wärme Zug um Zug verkocht und von den unverwertbaren Rückständen getrennt. Der Körper operiert dabei wie ein kleines Chemielabor.53 Die flüssigen und festen Rückstände werden bei den Tieren wieder ausgeschieden, die noch im Körper verbliebenen verwertbaren Nahrungsteile werden bei den höheren Tieren zum Herzen transportiert und dort weiter zu Blut verkocht.
50 Vgl. De an. II 4, 415a23-25: ἡ γὰρ θρεπτικὴ ψυχὴ καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει, καὶ πρώτη καὶ κοινοτάτη δύναμίς ἐστι ψυχῆς, καθ᾿ ἣν ὑπάρχει τὸ ζῆν ἅπασιν. ἧς ἐστὶν ἔργα γεννῆσαι καὶ τροφῇ χρῆσθαι ... „Die ernährende Seele besitzen auch die anderen (sc. Lebewesen; im Gegensatz zur wahrnehmen den und denkenden Seele, die nur Tiere und der Mensch besitzen), und sie (sc. die Ernährung) ist die erste und allgemeinste Fähigkeit der Seele, gemäß welcher alle Leben besitzen. Deren Aufgaben/Werke sind es, Nachkommen zu produzieren und die Nahrung zu verarbeiten [...].“ 51 Vgl. De an. II 3, 414a32 ff.: „Den Pflanzen kommt nur die Ernährungsfunktion zu, anderen (sc. den Tieren) aber diese und die Wahrnehmung. Wenn ihnen aber die Wahrnehmung zukommt, dann auch das Strebevermögen [...]“ (414b16 ff.:) „Einigen kommt aber darüber hinaus auch die Fähigkeit zur Ortsbewegung zu, wieder anderen Überlegung und Verstand, wie z. B. den Menschen, und wenn es ein anderes so beschaffenes Lebewesen gibt oder ein ehrwürdigeres.“ Dies ist die berühmte scala naturae des Aristoteles. 52 Vgl. Althoff 1997b. 53 Die aristotelische Chemie ist allerdings sehr rudimentär und vor allem im 4. Buch der Meteorologica entwickelt (vgl. Anm. 43). Der Standardausdruck für die Nahrungsumwandlung ist πέσσειν/pessein „verkochen“ bzw. πέψις/pepsis „Verkochung/Verdauung“, vgl. PA II 3, 650a3 ff. Dabei wirkt die im Organismus enthaltene Wärme auf die flüssige und feste Nahrung.
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Dieses Blut wiederum wird durch die Adern im ganzen Körper verteilt, ernährt alle Gewebe und Organe und erhält sie so durch stetige Erneuerung funktionsfähig. Einen Blutkreislauf kannte Aristoteles allerdings nicht; er wurde erst von William Harvey (1578– 1657) entdeckt.54 Das von Aristoteles gebrauchte Bild ist das einer Bewässerungsanlage, die sich von einem zentralen Reservoir (dem Herzen) ausgehend zunächst in größeren und dann immer kleineren Kanälen verzweigt, bis schließlich die kleinsten Kanäle so verschlammen, dass sie am Ende kein Wasser mehr aufweisen, sondern nur noch Feststoffe.55 Das Blut ist dort zu Fleisch umgewandelt worden. Damit ist zugleich eine Analogie für das Blut gegeben, das also eine Zusammensetzung aus flüssigen und festen Stoffen (konkret denkt Aristoteles an Serum und Fibrin) ist.56 Die Verteilung von festen und flüssigen Bestandteilen korrespondiert übrigens mit dem Charakter der betroffenen Tierarten: Wenn das Blut flüssiger ist, ist es leichter beweglich, und die so ausgestatteten Tiere haben eine bessere Wahrnehmungsfähigkeit und höhere Intelligenz. Wenn das Blut zu wässrig ist, neigt es aber bei erschreckenden Wahrnehmungen zum Gefrieren; solche Tiere sind dann besonders furchtsam. Umgekehrt sind solche mit einem hohen Feststoffanteil von feurigem Temperament („zornig und ekstatisch“ [thymôdeis kai eksta tikoi] sagt Aristoteles in PA II 4, 651a2 f.), denn die festen Bestandteile erwärmen sich mehr und bleiben länger heiß. Es gibt also eine explizite Beziehung, eine organische Wechselwirkung, zwischen dem Temperament ganzer Tierarten und der Qualität ihres Blutes. Auch Aristoteles nimmt also einen ständigen Materialaustausch des Organismus mit der Umwelt an, einen Stoffwechsel57 avant la lettre. Allerdings ist diese Vorstellung gegenüber modernen Anschauungen stark eingeschränkt: Die Atmung etwa zählt für Aristoteles nicht direkt zu den Stoffwechselfunktionen, denn was Gase sind und dass in der Lunge ein Gasaustausch stattfindet, war ihm 54 Publiziert in dem 1628 erschienenen Werk Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus. 55 Vgl. PA III 5, 668a13-b1. 56 Vgl. PA II 4, 650b14-651a19. Dort 651a5-7 auch ein direkter Vergleich des Blutes mit schlammigem Wasser („Lehm“). 57 Der Terminus μεταβολή/metabolê („Umwandlung“), der in vielen modernen Sprachen den Stoffwechsel bezeichnet, findet sich bei Aristoteles nur in dieser allgemeinen Bedeutung, aber bezeichnenderweise auch an der eben zitierten Stelle aus PA II 3, 650a4, wo er synonym zu pepsis („Verkochung“) gebraucht wird.
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nicht bekannt. Die Atmung ist für ihn eine Kühlfunktion, die der Körper benötigt, um sich nicht an der ständigen Nahrungszufuhr zu überhitzen, so wie ein Feuer immer stärker auflodert, wenn man ihm ständig neues Brennmaterial zuführt.58 Insofern aber die Atmung die thermische Selbstzerstörung des Körpers verhindert, ist sie natürlich eine ebenso wichtige Vitalfunktion des lebendigen Organismus, deren Ausfall zum Tode führt.59 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf die Funktion des Gehirns, wie sie Aristoteles versteht.60 Dieses Organ hält er nämlich ebenfalls für ein Kühlsystem des Organismus. Daher grenzt es unmittelbar an das warme Rückenmark an: „Immer nämlich ersinnt die Natur für das Übermaß einer Sache als Hilfe das Hinzutreten des Gegenteils, damit das eine das Übermaß des anderen ausgleiche.“61 Dies ist eine spezielle Anwendung der aristotelischen Lehre vom mittleren Maß, wie sie für die einzelnen Organismen gilt. Da eine gewisse Wärme für alle körperlichen Prozesse unabdingbar ist, gibt es das Herz als den Sitz dieser Wärme.62 Zugleich muss es als ein kühlendes Gegengewicht das Gehirn geben, damit die Wärme ein mittleres Maß einhält.63 Durch die Anordnung und die ‚chemische‘ Zusammensetzung64 der einzelnen Organe
58 Vgl. Parva naturalia 470b6 ff., wo manche Herausgeber eine eigene Schrift mit dem Titel „Über die Atmung“ (περὶ ἀναπνοῆς) beginnen lassen. In den Handschriften ist dies das 7. Kapitel der Schrift De iuventute et senectute. Dazu Althoff 1992a, 153 ff. 59 In De an. II 4, 416a9-18 erläutert Aristoteles, dass nicht die Körperwärme („Feuer“ sagt er dort) allein die Ursache für Ernährung und Größenwachstum ist: Das Feuer wächst nämlich immer weiter, je mehr „Nahrung“ (= Brennstoff) man ihm gibt. Dies gilt aber nicht für die „natürlichen Zusammensetzungen“ (ta physei synhistamena), die nur bis zu einem bestimmten Maß wachsen. Ur sache für diese Begrenzung sei die Seele, die das Feuer/die Körperwärme nur „ir gendwie als eine Mitursache“ (synaition pôs) verwende (to ergazomenon nennt Aristoteles 416a13 das Feuer; er könnte es leicht auch als organon bezeichnen, was gleichfalls vom Verbum ergazesthai abgeleitet ist). Ganz ähnlich PA II 7, 652b6-16. 60 Vgl. PA II 7, 652a24 ff. 61 Übers. Kullmann 2007; PA II 7, 652a31-33: ἀεὶ γὰρ ἡ φύσις μηχανᾶται πρὸς τὴν ἑκάστου ὑπερβολὴν βοήθειαν τὴν τοῦ ἐναντίου παρεδρίαν, ἵνα ἀνισάζῃ τὴν θατέρου ὑπερβολὴν θάτερον. 62 PA III 4, 666a2 f.: Das Herz bewahrt den „Anfang der Wärme“; III 7, 670a25 ff.: das Herz ist „wie der Herd oder die Akropolis des Körpers“ etc. Daher entsteht es auch als erstes Organ nach der Zeugung: GA II 4, 740a19 ff. 63 Vgl. PA II 7, 652b17-23. Dort auch b17 f. τὸ μέτριον καὶ τὸ μέσον. 64 Das Gehirn besteht aus kaltem Wasser und Erde: PA II 7, 653a20 ff.
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wird also ein Wärmegleichgewicht innerhalb des einzelnen Körpers hergestellt und aufrechterhalten. Man hat dieses Prinzip auch das „Kompensationsprinzip“ des Aristoteles genannt, das hier in einer speziellen Form auftritt.65 Meist führt es Aristoteles als eine Art Materialerhaltungssatz an, der darauf hinausläuft, dass Material, das an einer Stelle des Körpers zur Bildung bestimmter Organe verwendet wurde, an einer anderen Stelle desselben Körpers fehlt.66 Hier haben wir ein aktiv als Kompensation wirkendes eigenes Organ (das Gehirn) als Gegenstück des Herzens. Sowohl die aktive Wirkkraft der organischen Wärme als auch das (überwiegend erdhaft gedachte) Material werden also innerhalb eines Organismus in einem Gleichgewichtszustand erhalten. Dies ist eine klare Beschreibung einer wechselseitigen Balance innerhalb eines Organismus. Wie nun die Nahrungsverdauung Blut produziert und dieses die Körperorgane und ihre Funktionen aufrechterhält, so führt eine weitere Verkochung des Blutes im männlichen Organismus zur Bildung von Samen, im weiblichen zur Bildung von Menstruationsblut. Der männliche Organismus ist dabei als etwas wärmer vorgestellt als der weibliche, so dass er das Blut etwas weiter, eben zu Samen, verkochen kann. Das Menstruationsblut ist etwas weniger verkocht als der Same, die beiden Flüssigkeiten sind aber sehr ähnlich. Das kann etwa erklären, wie mütterliche Merkmale weitervererbt werden.67 Die Körperwärme, die die Verdauung bewirkt, kann die von außen hinzukommende Nahrung so verarbeiten, dass sie letztlich den Körperorganen als chemisch ähnliche Substanz zur Nahrung dienen kann. Ebenso ist diese Wärme als eine chemisch assimilierende Kraft auch im männlichen Samen wirksam. Sie wirkt auf das Material des weiblichen Menstruationsblutes ein und bewirkt dort das Zusammentreten, die schon erwähnte systasis, der ers65 Vgl. Kullmann 2007, 417 f. (zu 652a31 f.). 66 So z. B. PA III 2, 663a31-33: Tiere mit gespaltenen Hufen haben in der Regel zwei Hörner, solche mit soliden Hufen dagegen nur eines, denn das Material von Huf und Horn ist ähnlich. Überschuss am Kopf (zwei Hörner) führt zu Defiziten an den Hufen (gespaltene Hufe) und umgekehrt (ein Horn, solide Hufe). Vgl. insgesamt Kullmann 2007, 509-14 (zu 664a1 f.); dort 510 ff. auch die wichtigsten Belege für dieses Kompensationsprinzip. 67 Zur Natur des Samens vgl. GA I 17 und 18, 721a30 ff., zur Natur der Menses I 19, 726a28 ff. Die Vererbungstheorie findet sich ebd., Buch IV. Vgl. Althoff 2006, 35 ff.
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ten Strukturen, also fester Teile aus einem flüssigen Material. Das Menstruationsblut kann also in ähnlicher Weise Material für eine Embryonalgenese sein wie das normale Blut Material für die Ernährung der ausgewachsenen Körperteile ist. Der Prozess der Embryonalgenese ist grundsätzlich ähnlich wie der der Nahrungsverdauung, nur gewissermaßen eine Stufe höher angesiedelt: Während die Verdauungswärme es nur schafft, Nahrung durch Verkochung so zu assimilieren, dass sie die einzelnen Körperteile funktionsfähig erhalten kann, kann die Zeugungswärme die einzelnen Körperteile überhaupt erst entstehen und sich ausbilden lassen. Die Bindeglieder zwischen beiden Prozessen sind einerseits das ähnliche Ausgangsmaterial: Bei der Ernährung eines bereits existierenden Lebewesens ist es das Blut, bei der Embryonalgenese das Menstruationsblut der Mutter. Zum anderen ist es die organische Wärme, die sowohl Nahrungsverkochung als auch Embryonalgenese bewirkt. Dazu passt, dass der Organismus nach der ersten Entstehung durch Nahrungsaufnahme kontinuierlich wächst, bis er sein erwachsenes Maß erreicht hat. Die Zeugungswärme funktioniert dann nur noch als normale Verdauungswärme, beide Funktionen gehen also in einander über.68 Die funktionale Betrachtung der Organismen bleibt das zentrale Element der aristotelischen Biologie. Denn es leuchtet unmittelbar ein, dass die oben skizzierten Funktionen der Ernährung und der Zeugung ihrerseits Organe, oder wir können auch allgemeiner sagen: materielle Strukturen und Systeme voraussetzen, mittels derer sie ausgeübt werden können. Und an dieser Stelle wird erneut klar, warum der Ausdruck organon, Organ, bei Aristoteles so häufig ist. Etymologisch ist ὄργανον/organon eine Ablautbildung zum Verbum ἐργάζεσθαι/ergazesthai, „arbeiten, ein Werk vollenden“, zu dem auch das Substantiv ἔργον/ergon gehört, das zunächst „Werk“ bedeutet (und mit dem deutschen Wort stammverwandt ist, griech. ἔργον hatte ursprünglich ein anlautendes Digamma: Ϝέργον). Dann habe ich aber schon gesagt, dass ergon bei Aristoteles synonym mit δύναμις/dynamis „Fähigkeit“ verwendet wird und meist „Funktion“ bedeutet. Hinter diesem Bedeutungswandel verbirgt sich die von Aristoteles vielfach verwendete Techne-Analogie: Für einen Architekten oder Zimmermann ist das Haus, das er baut, das „Werk/Produkt“, das am Ende seiner Arbeit vollendet ist, wenn alles gut geht. Dieses Werk hat eine bestimmte Funktion, den 68 Vgl. Althoff 1997b.
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Schutz vor der Witterung etc., die wiederum die Gestalt des Hauses bestimmt. Insofern ist das Werk formal und in seiner materiellen Ausprägung stark von seiner Funktion bestimmt und in gewisser Weise mit seiner Funktion identisch, oder genauer: Es ist die materielle Ausprägung dieser Funktion. Von solchen Überlegungen her kann Aristoteles das Wort ergon ganz regelmäßig mit der Bedeutung „Funktion“ versehen. Und weil diese Funktion das Ziel (telos) des Herstellungsprozesses ist, das die einzelnen Herstellungsschritte und Materialien bestimmt, befinden wir uns hier an der Wurzel des „teleologischen“ Denkens des Aristoteles. Statt „teleologisches Denken“ könnte man ohne Abstriche auch „funktionales Denken“ sagen, und die funktionale Orientierung bestimmt sowohl technische als auch natürliche Herstellungs- bzw. Entstehungsprozesse.69 Aus derselben Techne-Analogie stammt das Wort organon. Es bezeichnet zunächst das Werkzeug, das Instrument, das der Handwerker gebraucht, um sein Endprodukt herzustellen. Für die Herstellung eines Hauses gibt es nicht ein einziges Werkzeug, sondern sehr viele verschiedene: Hammer, Säge, Beil, Hobel, Richtlote, Winkel etc. Jedes dieser Werkzeuge hat einen spezifischen Einsatzbereich, oft bezogen auf ein bestimmtes Material, aber die Summe der Anwendungen dieser Werkzeuge an dem jeweiligen Material ergibt das fertige Haus. Insofern arbeiten alle Werkzeuge einem einheitlichen Ziel zu, arbeiten daran mit, die finale Funktion des Hauses, eben den Schutz vor der Witterung, herzustellen. Auch die einzelnen Organe und Organsysteme eines Organismus sind für Aristoteles jeweils durch ihre spezifischen Funktionen gekennzeichnet. Bleiben wir bei den oben skizzierten Vorgängen der Zeugung und Ernährung, so folgen daraus alle möglichen Organe und Organsysteme. Bevor die Zeugung beginnen kann, braucht es erst einmal ein erwachsenes Individuum, einen zeugungsfähigen Organismus. Bei geschlechtlicher Zeugung (die den höheren Tierarten vorbehalten ist) braucht es sogar einen weiblichen und einen männlichen Organismus, also zwei Organismen. Diese Organismen benötigen aber ihrerseits bestimmte Zeugungsorgane, Genitalien, die innerhalb einer Spezies zueinander passen müssen, sonst ist keine Zeugung möglich. Schon diese Passung deutet auf eine höhere
69 Daher liegt S. Byl mit dem Titel („Note sur la polysémie d’organon et les origines du finalisme“) und dem generellen Ergebnis seines Aufsatzes vollkommen rich tig (Byl 1971).
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Organisation, die dafür sorgt, dass weibliche und männliche Exemplare einer Spezies sich sexuell fortpflanzen können. Da der Same beim Mann wichtigstes Verkochungsprodukt des Blutes ist, muss er irgendwo im Körper hergestellt werden, und dafür gibt es spezielle Organe. Da er aus Blut hergestellt wird, muss es ein Herz und Blutadern geben, die das Blut aus der Nahrung herstellen und im Körper verteilen können. Da die Nahrung von außen in den Körper hineinkommt, braucht er mindestens eine Öffnung nach außen, durch die dies geschehen kann. Die Nahrung wird (bei höheren Tieren) grob zerkleinert und ins Körperinnere geleitet. Dafür braucht man einen Kauapparat und eine Speiseröhre. In Magen und Darm beginnt die sukzessive Verkochung, Adern leiten vom Darm die vorgekochte Nahrung zum Herzen; unverdaulicher Überschuss wird ausgeschieden, was wiederum Dickdarm, After, Nieren und Blase, Harnleiter usw. voraussetzt. Hier bedingt ein Organ oder Organsystem das andere, und alles ist funktional aufeinander bezogen. Der Organismus als ganzer mit seinen fundamentalen Funktionen Zeugung und Ernährung setzt also gleichsam eine Kaskade von Untersystemen, von Organen und Organsystemen, voraus, die alle letztlich dem Zweck dienen, diese Fundamentalfunktionen zu bewerkstelligen. Und innerhalb der einzelnen Organe kann man diese funktionale Betrachtung weiterführen, und genau das tut Aristoteles in seiner Schrift De partibus animalium (Über die Teile der Tiere). Der Kauapparat etwa muss der aufgenommenen Nahrung und somit dem Habitat angepasst sein. Fische, die nur Algen aus dem Wasser filtern, brauchen einen anderen Apparat, andere Organe, als Raubfische oder Raubtiere. Tiere, die nach außen hin weich sind, brauchen ein Skelett zur inneren Stützung dieser weichen Masse, im Gegensatz etwa zu Muscheln o. ä., deren äußere Schale als Stützkorsett dient. Und so notiert Aristoteles eine Fülle intelligenter Beobachtungen, die sich alle um die Funktion drehen, die ein Organ ausübt und die auch seine materielle Struktur bestimmt. Das Erklärungsmuster ist nun wiederum ähnlich wie bei Artefakten, wie ich oben anhand von De partibus animalium I 1, 642a10 ff. und seiner Parallele in De anima II 1, 412a27 ff. gezeigt habe. Von der Bezeichnung des individuellen Körpers als „Organon“ zur Bezeichnung als „Organismus“ ist es nur noch ein sehr kleiner Schritt. Diese funktionale Betrachtungsweise ließe sich noch vielfältig weiter verfolgen. Sie wirft auch eine Reihe von Problemen auf, deren schwierigstes vielleicht eine Frage ist, die sich von der Technehttps://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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Analogie her aufdrängt: Wer soll der Schöpfer, der Handwerker („Demiurg“) sein, der den Organismen ihre Funktionen zuteilt und alles in ihnen auf diese Funktionen hin ‚organisiert‘? Aristoteles lehnt die Vorstellung eines Demiurgen ab und hilft sich dadurch, dass er von der Ewigkeit der Arten ausgeht, die eben schon immer in der Gestalt und mit den Funktionen existierten, die sie auch heute noch haben. Damit wird die Genese von Individuen der einzelnen Arten ein automatisch ablaufendes Programm, das niemand je angestoßen hat oder unterbrechen wird. Leibniz und Stahl sahen den christlichen Schöpfergott und die von ihm eingesetzte rationale Instanz in dieser Funktion. Beide Positionen haben ihre Vor- und Nachteile.
6. Resümee Selbst angesichts dieser Probleme und des unendlich angewachsenen Beobachtungsmaterials argumentiert auch heute in der Biologie niemand grundlegend anders als Aristoteles, wenn es um die Erklärung von Organen, Organsystemen und dem Organismus als ganzen geht. Man fragt immer funktional: Welche Aufgabe, welche Funktion hat das Organ, welche Aufgabe erfüllt das Organsystem (also die Hand, das Gesicht etc.), und welche fundamentalen Funktionen besitzt der Organismus? In diesem Begründungsschema wird die Abhängigkeit auch der modernen Biologie von der funktionalen Betrachtungsweise des Aristoteles deutlich. Und geradezu in epigrammatischer Kürze belegt der moderne Ausdruck „Organismus“ genau diese biologische Argumentationsstruktur, weil er sprachlich und konzeptionell an den aristotelischen Begriff organon mit seinen funktionalen Implikationen anknüpft. Wenn also Toepfer in seinem wertvollen Artikel urteilt, Aristoteles habe sich „durch diese Konzeption (sc. die der Seele) [...] aber die Möglichkeit verstellt, den Zusammenhang zwischen körperlicher Organisation und Seele näher zu untersuchen“,70 möchte ich aufgrund meiner obigen Darlegungen eher das Gegenteil behaupten: Aristoteles war sich sehr weitgehend über das Verhältnis von körperlichen Strukturen und Seele im Klaren und hat einen entscheidenden Schritt in Richtung des neuzeitlichen Verständnisses 70 Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 2, 778.
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getan. Dieses neuzeitliche Verständnis hätte ohne die aristotelische Zoologie gar nicht entwickelt werden können. Die aristotelischen Konzepte wirkten selbst dann weiter, als man die Bezeichnung „Seele“ weitgehend aus der Biologie verbannt hatte. Wenn die Stoa und Galen später ihre Konzepte der Sympathie und Symphonie entwickeln,71 so werden dort mit Sicherheit aristotelische Gedanken rezipiert und weiterentwickelt – dies kann hier aber im Einzelnen nicht mehr gezeigt werden.72 Aristoteles benutzt zwar nicht das Substantiv sympatheia, aber das Adjektiv sympa thês, zugegebenermaßen selten, aber ganz wie später die Stoa. Ein Beispiel bietet PA II 7, 653b5-8, wo es um die Rolle des Gehirns als Kompensationsorgan zum Herzen geht. Dort heißt es: „Denn die Wärme im Herzen, und das heißt der Ausgangspunkt, ist besonders empfindlich (sympathestaton) und bewirkt eine schnelle Wahrnehmung, wenn irgendetwas von dem Blut in der Umgebung des Gehirns sich ändert oder etwas erleidet.“73 Das Zentralorgan je71 Toepfer hält dies für die entscheidenden Impulse zur Entwicklung eines Orga nismusverständnisses: „Erst unter dem Einfluss stoischer Lehren von der Wech selseitigkeit der Teile in einem Ganzen entwickeln sich in der Antike erste Ansätze für ein Verständnis von Organismen als Einheiten von wechselseitig voneinander abhängigen Teilen.“ (Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 2, 779) Der prominenteste Vertreter einer stoischen Sympathielehre ist Posei donios von Apameia (ca. 135-51 v. Chr.), vgl. P. Steinmetz in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 4/2, 686-690. Eine vereinzelte Notiz bei Sextus Empiricus IX 127 (= Empedokles fr. 31 B 136 Diels/Kranz) schreibt eine ganz ähnliche Lehre bereits dem Pythagoras, dem Empedokles und „der restlichen italischen Schule“ zu. 72 Wenn Galen in De usu partium 1, 18 (3, 18, 8-11 Kühn) sagt: „Die Teile des Körpers stehen zueinander in Sympathie (ἐστὶ συμπαθῆ), d. h. sie stehen übereinstimmend alle im Dienst eines Zweckes/einer Funktion (εἰς ὑπηρεσίαν ἑνὸς ἔργου)“ (so mit missverständlicher Quellenangabe zitiert auch von Toepfer, Bd. 2, 779 und Anm. 22), so ist das zunächst einmal eine galenische Para phrase von Hippokrates, De alimento 23. Diese seltsame aphoristische Schrift ist post-hippokratisch und weist stoische Einflüsse auf und kann daher frühestens hellenistisch sein. Gerade dieser Aphorismus spricht dafür. Die besonders durch Poseidonios verbreitete Sympathielehre geht auf Analogien zwischen Erde und Organismen zurück, die Aristoteles in seinen Meteorologica zieht. Vgl. Althoff 1997a und Taub 2010. Wichtig vor allem die Beiträge von Ph. J. van der Eijk, z. B. van der Eijk 2010. 73 PA II 7, 653b5-8: τὸ γὰρ ἐν τῇ καρδία θερμὸν καὶ ἡ ἀρχὴ συμπαθέστατόν ἐστι καὶ ταχεῖαν ποιεῖται τὴν αἴσθησιν μεταβάλλοντός τι καὶ πάσχοντος τοῦ περὶ τὸν ἐγκέφαλον αἵματος. (Übers. Kullmann 2007, 46). Vgl. auch PA IV 10, 690b3 ff.: „Es ist aber besser, daß die Fußspitze gespalten, als daß sie ungespalten ist, denn alles wäre in Mitleidenschaft gezogen, wenn ein einziger Teil litte; wenn aber die Spaltung in Zehen stattgefunden hat, tritt dies nicht
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des höheren Organismus, nämlich das Herz, ist als Sitz der Wahrnehmungsseele und Ausgangspunkt aller willentlichen Bewegungen besonders „sympathetisch“: Es reagiert sofort auf jede noch so kleine Veränderung im komplementären Gehirn und verändert dadurch den Zustand des ganzen Organismus. In einem ganz zentralen Kontext erscheint also hier dieselbe Vorstellung von wechselseitiger Abhängigkeit der einzelnen Organe, wie sie später die Stoa auch in kosmischer Dimension voraussetzt. Aristoteles hat also hier Konzepte entwickelt, die später von der stoischen Naturphilosophie aufgegriffen und fortgeführt worden sind.74 Auch bei Stahl hatten wir gesehen, dass zum Teil stoisierende Interpretationen in seinen Organismusbegriff eingeflossen sind. Aber wir erkennen jetzt, dass auch die Stoa ihrerseits auf aristotelischen Fundamenten ruht. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die Bedeutung des aristotelischen Erbes bei der Entwicklung des modernen Organismusbegriffs sehr viel weiter reicht als bisher angenommen.
in gleicher Weise auf.“ (Übers. Kullmann 2007, 113 f.) ἐσχίσθαι δὲ βέλτιον ἢ ἄσχιστον εἶναι τὸ ἔσχατον· ἅπαν γὰρ ἂν συμπαθὲς ἦν ἑνὸς μορίου πονήσαντος, ἐσχισμένῳ δ᾿ εἰς δακτύλους τοῦτ᾿ οὐ συμβαίνει ὁμοίως. 74 In ähnlicher Weise habe ich dies für die wichtige stoische Pneumalehre gezeigt, die wohl auch auf eine Analogie des Kosmos mit einem Lebewesen zurückgeht: Althoff 1992a.
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Kristian Köchy
Organismen, Gene, Populationen Von Aristoteles zur aktuellen Biophilosophie
1. Organismen als das „für uns Erste“ Versteht man die Reflexionen des Aristoteles als den Beginn einer philosophischen und fachwissenschaftlichen Erforschung biologi scher Phänomene,1 dann ist dieser Beginn insbesondere durch das „für uns Erste“ bestimmt: die sinnliche Mannigfaltigkeit je kon kreter Einzelbildungen – dieser Mensch, dieses Pferd.2 Die einzel nen Lebewesen als Gegenstand unserer Erfahrung3 bilden demnach die Basis für die Konstatierung und Beschreibung des Faktischen: „dass“ es etwas gibt (tò hóti) und „was“ es ist. Diese Bestandsauf nahme des Organischen führt von der Empirie weg und zur The orie hin. Lebewesen können etwa nach ihrem Aufbau und ihren Funktionen, nach ihrer Genese und ihren Gesetzen, nach ihren Innenbedingungen und ihren Außenbeziehungen untersucht wer den, um dann in erklärender Absicht zu erfassen, „warum“ sie so sind (dihóti), wie sie sind, welchen Prinzipien sie also genügen.4 Die biowissenschaftliche Forschung ist damit – anstatt auf die Untersu chung von Besonderheiten des konkreten Einzelfalls oder auf die 1
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Rádl 1913, Bd. 1, 7: „Aristoteles ist der erste Gelehrte, bei dem einzelne Gebiete der Biologie, Zoologie, Botanik, allgemeine Biologie, Embryologie, Teratologie, Physiologie als selbständige Forschungszweige hervortreten.“ Ballauff 1954, 35: „Aristoteles kann als der eigentliche Begründer der Biologie des Abendlandes bezeichnet werden, und zwar in doppeltem Sinne: einmal durch seine ontologi sche Begründung der Biologie, zum anderen durch die Eröffnung einer breiten Erforschung der pflanzlichen und tierischen Lebensbereiche.“ Lennox 2001b, xix: „Aristotle approached the creation of zoology with the tools of subtle and systematic philosophies of nature and of science that were then carefully tailored to the investigation of animals. He thus also deserves to be considered the first, and one of the greatest, philosophers of biology.“ Vgl. auch die Literatur in Köchy 2010, 189-208. Cat. 5, 2a. Met. I 1, 981a1 ff. Met. I 1, 981a25 ff.
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grundsätzliche Erörterung von Allgemeinheiten auf höchster Ab straktionsstufe – auf ein mittleres Niveau der Gattungsmerkmale von Lebewesen ausgerichtet.5 Zu den wesentlichen Merkmalen, die alle individuellen Lebewesen gemeinsam haben, gehört dann nach Aristoteles deren Zweckmäßigkeit: Lebewesen sind stets organi sierte Ganzheiten. Sie sind modern gesprochen Organismen: „Da jedes Werkzeug einem bestimmten Zweck dient und da ebenso jedes Körperorgan einem bestimmten Zweck dient und der Zweck dem es dient, eine bestimmte Aktivität ist, ist klar, daß auch der ganze Körper um einer vollständigen Aktivität willen besteht.“6 Selbst die niedersten Tiere weisen diese Zweckmäßigkeit auf und sind aus die sem Grund bewunderungswürdig.7 Auch wenn man den entsprechenden Bestimmungen des Stan dardwerks Geschichtliche Grundbegriffe von Brunner, Conze und Koselleck insoweit zustimmen kann, als im 18. Jahrhundert ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel im Organismuskonzept statt gefunden hat,8 so findet sich dennoch ein zu Aristoteles durchaus analoger Schwerpunkt auf den Organismus in Kants Reflexionen zur teleologischen Urteilskraft. In den Dichotomien, die Kant zur Fokussierung des Gegenstandsbereichs seiner philosophischen Ana lyse auf den Naturzweck vornimmt, untergliedert er explizit die materiale Zweckmäßigkeit in erstens die relative Zweckmäßigkeit von Beziehungen in der Umwelt von Lebewesen, die die Dimension der Natur und des Menschen in ihr umgreifen, und zweitens die innere Zweckmäßigkeit bestimmter Naturbildungen, die wir orga nisierte Naturprodukte oder Lebewesen nennen.9 Während alle Au ßenbeziehungen zwischen Lebewesen und deren Umwelt – wobei auch Relationen zwischen Lebewesen zur Umwelt gezählt werden – auf eine bloße Zuträglichkeit für anderes hinauslaufen und somit nicht die Typik wahrer Naturzweckmäßigkeit besitzen, sind Orga nismen als Naturwesen stets durch eine innere Zweckbeziehung ausgezeichnet. Nur im Fall von Organismen hat der Forscher des halb ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung zu beurteilen, das er nur dadurch als gesetzlich einsehen kann, dass er „die Idee der Wir PA I 1, 639a15 ff. und 4, 644a12 ff. PA I 5, 645b15-18. Vgl. jedoch die Überlegungen von Kullmann zu „Organ“ (organon) als Bezeichnung für äußere Organe (im Sinne von Extremitäten) und „Bestandteilen“ (moria) als innere Organe (Kullmann 2007, 134). 7 PA I 4, 645a5 ff. 8 Dohrn-van Rossum 1978, 557. 9 Kant, KU § 63 (Weischedel 1983, Bd. 8, 477 ff.). 5 6
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kung der Kausalität ihrer Ursache, als die dieser selbst zum Grun de liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren“10 unterlegt. Nur Naturzwecke sind organisierte und sich selbst organisierende Wesen, bei denen „ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht“11 werden kann. Nur in Organis men sind die Teile sich wechselseitig hervorbringende Organe. Nur hier ist eine Relation der Glieder zu unterstellen, die dem kausalen nexus effectivus grundsätzlich zuwiderläuft und die im Sinne des nexus finalis „sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich“12 führt, wie Kant sich ausdrückt. Nur Organismen zeigen deshalb in den Dimensionen der Gattung (als Fortpflanzung), des Individuums (als Wachstum) und der Teile (als Regeneration) die Fähigkeit zur Selbsterzeugung und Selbstorganisation: „Ein Baum zeugt erstlich einen andern Baum nach einem bekannten Naturgesetze. Der Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben Gattung; und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach […]. Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum. […] Drittens erzeugt ein Teil dieses Ge schöpfs auch sich selbst so: daß die Erhaltung des einen von der Erhaltung der andern wechselsweise abhängt.“13 Wie diese von Kant vorgenommene Ausdehnung der individu ellen Organisiertheit in die beiden Richtungen der einzelnen Teile von Organismen einerseits und der Fortpflanzungsgemeinschaft der Gattung andererseits andeutet, verliert sich die Fokussierung auf die organische Binnenbestimmung spätestens im 19. Jahrhun dert durch zwei entgegengesetzte Trends. Obwohl die Organismen auch heute noch als elementare Einheiten des Lebendigen gelten können und die integrative Funktion eines Organismus- oder Sys tembegriffs gerade für die moderne Biologie mehr denn je relevant ist,14 haben diese beiden Trends den ontologischen und methodo logischen Status des Organismus unter evolutionären Vorzeichen problematisch werden lassen. Organismen verschwinden oder ver schwimmen und werden von harten Ausgangsfakten der Wahrneh mung zu theoretischen Konstrukten von geringer Relevanz, weil sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit quasi wie bei einer Ver 10 Ebd., § 63, 477 (A 275). 11 Ebd., § 65, 485 (A 288). 12 Ebd., § 65, 484 (A 285). Vgl. Köchy 2004, 94. 13 Kant, KU § 64, 482 f. (A 283 f.). 14 Laubichler 2005, 109-124.
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schiebung der Brennweite entweder in die Tiefe elementarer inner organismischer Bildungen verlagert oder aber in die Weite transor ganismischer Beziehungen. Die erste Richtung zielt so auf die elementaren Glieder von Lebewesen und verändert den Organismus zu nicht mehr als zur Summe seiner Teile. In der zweiten Richtung verschwindet der einzelne Organismus in der übergeordneten Gesamtheit der Population, der Art oder der Gattung.
2. Organismen als bloße „Überlebensmaschinen“ für Gene Die Richtung auf das Elementare hin – und somit letztlich auf die Glieder komplexer Organismen – deutet sich schon in den die Dis ziplin konstituierenden Überlegungen der romantischen Biologie an. Lorenz Oken15 beispielsweise setzt an den Beginn seiner Theo rie vom Organismus organismische Elementarsysteme, Infusorien oder gar organischen Schleim.16 Sein Ansatz wurde einerseits bei Schelling zum zentralen philosophischen Argument für die Auto nomie des Organischen,17 andererseits ist die Betonung der elemen taren Systemstrukturen etwa bei Virchow18 der zentrale Punkt eines neuen biologietheoretischen Programms, das letztlich auf ein mechanisches oder physikalisches Organismusverständnis hinaus läuft. Zunächst bleibt jedoch die systemische Ausrichtung erhalten: Zellen gelten fortan als Elementarorganismen,19 als „Organismen 15 Oken 1805, 96; Oken 1809, Bd. 2, 15, § 840: „Alles Organische ist aus Schleim hervorgegangen […].“ und 27, § 928. 16 Vgl. Köchy 1997, 115 ff. 17 Vgl. beispielsweise Schelling 1804, 324 (VI 394 ff.). 18 Virchow 1858, 7: „Erst wenn man diesen Standpunkt festhält, wenn man von der Zelle Alles ablöst, was durch eine spätere Entwicklung hinzugekommen ist, so gewinnt man ein einfaches, gleichartiges, äusserst monotones Gebilde, welches sich mit ausserordentlicher Constanz in den lebendigen Organismen wiederholt. Aber gerade diese Constanz ist das beste Kriterium dafür, dass wir in ihm das eigentlich Elementare haben, welches alles Lebendige charakterisirt […]“. Zum Problem biologischer Individualität vgl. auch Köchy 2000, 106-141. 19 Du Bois-Reymond 1870, 382: „Jeder Organismus ist uns nun wirklich ein Aggregat mehr oder minder zahlreicher kleiner Einzelwesen […]. Wir nennen diese Wesen nach Hrn. Brücke’s Vorschlag Elementarorganismen […]“. Schlei den 1838, 46: „Jede nur etwas höher ausgebildete Pflanze ist aber ein Aggregat von völlig individualisierten in sich abgeschlossenen Einzelwesen, eben den Zel len selbst.“ Haeckel 1877, Bd. 5, 153: „Zunächst hat uns die fortgeschrittene mikroskopische Untersuchung gelehrt, daß die anatomischen Elementarteile der
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erster Ordnung“ oder gar als organische Atome. Während jedoch Atome lediglich gedachte Einheiten sind – so Virchow in seinem Aufsatz Atome und Individuen20 –, handelt es sich bei Zellen um reale Einheiten. Jeder Organismus wird zu einer „Summe vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens in sich trägt“.21 Damit wird die systemische Struktur auf das Niveau ein fachster Biosysteme verlagert. Zugleich jedoch gelten die gesetz lichen Bedingungen in diesen elementaren Biosystemen seit der Zellentheorie von Schwann und Schleiden – ausgedrückt hier durch Analogisierung mit Kristall und Kristallbildung – als identisch mit denen in anorganischen Formationen und Konglomeraten. Eben diese Kristallanalogie bildet dann – etwa deutlich werdend in Erwin Schrödingers zentraler Metapher von Genen als aperiodischen Kris tallen22 – die konzeptionelle Brücke zum modernen Genbegriff. Hier löst sich zunächst der Systemgedanke gänzlich auf. Schrödinger hatte seine Überlegung in enger Orientierung an Max Delbrücks molekulargenetischem Forschungsprogramm entwickelt.23 Fortan zielt die Suche nach den Atomen der Biologie auf die Vererbungs moleküle – eine Tendenz, die sich bereits im 19. Jahrhundert durch die Postulierung von organischen Molekülen, Elementarstrukturen des Protoplasmas24 oder so genannter Plastidule (Ernst Haeckel)25 ankündigte. Damit ist die erste Säule der modernen Konzeption vom Lebewesen bestimmt. In aristotelischen Termini gesprochen, fixiert man das „von Natur aus Erste“ des biologischen Phänomenbereichs auf der Ebene elementarer Strukturen von Lebewesen. Die Untersu
20
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Organismen, die Zellen, allgemein ein individuelles Seelenleben besitzen. […] sie sind die wahren ‚Individuen erster Ordnung‘, die ‚Elementarorganismen‘ nach Brücke.“ Lange 1876, Bd. 2, 249 ff.; Vgl. auch Rádl 1909, Bd. 2, 63-72 (Zel lentheorie); Geus 2000, 342 ff.; Canguilhem 2009. Virchow 1859, 50 f.: „Das Lebendige wirkt, wie Aristoteles sagte, nach einem Zweck, und dieser Zweck ist, wie Kant genauer ausführte, ein innerer; das Le bendige ist sich selbst Zweck. […] Raum und Zeit haben nur für das Lebendige Werth und Sinn, denn nur das Lebendige trägt in sich die Aufgabe der Selbst erhaltung und Selbstentwickelung […]. So trägt das Individuum in sich seinen Zweck und sein Maaß; so erweist es sich, im Gegensatze zu der blos gedachten Einheit des Atoms, als eine wirkliche Einheit.“ Vgl. auch Köchy 2011, 149. Virchow 1858, 12. Schrödinger 1951, 12. Fischer 1988, 81 f. Fechner 1873, 4. Haeckel 1877, 154.
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chung von Organismen findet ihr Prinzip in der Beschaffenheit und Funktion von Molekülkonstellationen. So repräsentiert etwa nach der so genannten Vorbildtheorie der DNA26 die Desoxyribonukle insäure das Wesen von Organismen – es liegt ein essentialistisches Genkonzept vor. Mit der DNA glaubt man die Materialisierung des Organisationsprinzips von Lebewesen gefunden zu haben. In den Worten des Genetikers François Jacob:27 Im Organismus „wird ein von der Vererbung vorgeschriebenes Programm verwirklicht.“ Mit dieser Programmtheorie tritt – so ebenfalls Jacob – an die Stelle des klassischen Konzepts der anima die „Übersetzung einer Botschaft“. Bei einem solchen auf die Vererbung und die Gene konzentrier ten Blick auf die Welt der Lebewesen büßen die Phänotypen ihren Status als Ausgangspunkt biologischer Reflexion ein. So schreibt Jacob: „Der Organismus ist immer nur ein Übergang, eine Etappe zwischen dem, was war, und dem, was sein wird. Die Reproduktion stellt gleichzeitig seinen Ursprung und sein Ende dar, Ursache und Ziel.“28 Im extremen Fall werden bei dieser Sichtweise Organismen zu bloßen „Überlebensmaschinen“ degradiert, die von molekularen „Replikatoren“ mittels entsprechender „Programme“ hergestellt und gesteuert werden.29 Einzige Funktion der Organismen ist es dann, die evolutionäre Fitness eines bestimmten Settings von „ego istischen Genen“30 zu sichern – so zumindest die spekulative These von Richard Dawkins, die unter molekulargenetischen Darwinisten auch heute noch zahlreiche Anhänger hat. Für die Vorstellung von Genen als Atomen der Biologie spricht nach dieser Auffassung auch deren Unvergänglichkeit: Einzelwesen sind keine stabilen Gebilde, sie sind vergänglich, Gene hingegen sind unvergänglich.31 26 Rehmann-Sutter 2005, 43 ff. 27 Jacob 2002, 10. 28 Ebd. 29 Dawkins 1978, 23: „Die Replikatoren fingen an, nicht mehr einfach nur zu exis tieren, sondern für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für den Fortbe stand ihrer Existenz. Die Replikatoren, die überlebten, waren jene, die Überle bensmaschinen bauten, um darin zu leben.“ 30 Gene werden somit zur grundlegenden „Einheit der natürlichen Auslese“ und sind damit „als die grundlegende Einheit des Eigennutzes anzusehen“ (ebd., 39 f.). Ein Gen ist eine Einheit, die „in hohem Maße dem Ideal des unteilbaren Partikels nahekommt“ (Hervorhebung im Original). Die Gene „steuern das Verhalten ihrer Überlebensmaschinen […] mittelbar wie der Programmierer des Com puters“ (ebd., 63). 31 Ebd., 41.
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3. Organismen als Glieder von Populationen Der zweite Ansatz übersteigt die Organismen in Richtung auf die Fortpflanzungsgemeinschaft der Gattung oder der Population. Phi losophisch kündigt sich diese Transzendierung organischer Indivi duen in Richtung auf den Gattungsprozess bereits in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften an.32 Die Gattung gilt hier als „konkrete Substanz“ der Einzelheit des Subjekts. Zugleich bedeutet Gattung jedoch Negation der unmittelbaren Einzelheit und insofern den Untergang des „nur Lebendige[n]“. Die verschiedenen Prozesse der Gattung sind somit durch je verschiedene „Weisen des Todes des Lebendigen“ ausgezeichnet.33 So ist etwa im Horizont der Arten zunächst die Interaktion der tierischen Lebewesen – und auf diese fokussiert Hegel seine Überlegungen – durch feindliches Ver halten bestimmt. Das andere Tier wird zur „unorganischen Natur“ herabgesetzt und insofern ist der „gewaltsame Tod“ das natürliche Schicksal der Individuen.34 Als affirmative Beziehung erscheint die Interaktion der Individuen hingegen im Kontext des Geschlechtsund Fortpflanzungsverhältnisses.35 Jedoch läuft auch dieser Prozess der Fortpflanzung – dadurch als „schlechte Unendlichkeit“ gekenn zeichnet – auf den Untergang der Individuen hinaus, die in der Be gattung ihre Bestimmung erfüllt haben.36 Letztlich zeigt sich somit – ebenso wie in der ersten Perspektive auf die elementaren Strukturen – auch unter dem Gesichtspunkt der Gattung die „endliche Existenz“37 der organismischen Indivi duen. Beide Aspekte der Endlichkeit – diejenige des Kampfes ums Überleben in der Konkurrenz der Lebewesen und diejenige der Fort pflanzung – hat fachwissenschaftlich vor allem Darwins Deszen denzlehre fixiert. Auch hier findet sich die Doppelnatur der Auslese als Resultat eines Existenzkampfes der Individuen bei begrenzten Ressourcen einerseits sowie als Veränderung der Arten über die Ge nerationenkette hinweg unter dem Einfluss geschlechtlicher Zucht wahl andererseits. Auch von Darwin aus betrachtet erweist sich die
32 Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, § 357 ff., Bd. 9, 498 ff. 33 Ebd., § 367, 498. 34 Ebd., § 368, 500. 35 Ebd., § 369, 516 ff. 36 Ebd., § 370, 519. 37 Ebd., § 375, 535.
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Fortpflanzungsgemeinschaft als das Bleibende.38 Im Zusammenhang damit kommt es zur Ablösung des typologischen Denkens durch ein Populationsdenken.39 Damit ist in zweierlei Hinsicht eine Kritik am (häufig fälschlicherweise mit Aristoteles verbundenen) Essentialis mus formuliert: Einerseits spricht nach dem taxonomischen AntiEssentialismus die Tatsache des evolutionären Artenwandels gegen die Vorstellung von ewigen wesenhaften Arten und andererseits hat sich nach dem explanatorischen Anti-Essentialismus durch den Populationsgedanken der Status des Explanans grundlegend verän dert: Statt in wesenhaften Merkmalen individueller Entitäten einer bestimmten Art, sollen Erklärungen nun in der statistischen Struk tur von Populationen gesucht werden.40 Wie Ernst Mayr deutlich macht,41 muss dieser philosophische Disput um den Status von Arten am biologischen Gegenstands bereich orientiert bleiben. Für Mayr sind biologische Arten keine gedanklichen Konstruktionen, sondern sie existieren real in der Na tur.42 Allerdings ist der typologische Artbegriff, bei dem vorrangig morphologische Kriterien für die Suche nach einer Spezies-Essenz ins Spiel gebracht wurden, spätestens seit Darwins Deszendenzleh re obsolet. Nicht nur phänetische Variationen oder das Auftreten von Zwillingsarten (mit morphologisch gleichen Eigenschaften) er weisen die praktische Unfruchtbarkeit des alten Artkonzepts, son dern vor allem die evolutionäre Dynamik lässt die Vorstellung von wesenhafter Unveränderbarkeit als unzulänglich erscheinen.43 Das biologische Artkonzept läuft deshalb auf Betonung von Reprodukti on und somit auf den Populationsbegriff hinaus: Spezies sind Grup pen von sich miteinander fortpflanzenden Populationen, die repro duktiv von anderen solchen Gruppen isoliert sind.44 Auch wenn bei diesem Ansatz noch eine Reihe von theoretischen und praktischen Schwierigkeiten bestehen bleiben, so sprechen doch Prognosekraft und Anwendbarkeit nach Mayr für den biologischen Artbegriff. Unterscheidet man zudem im evolutionären Kontext die Spezies als Taxon (Speziesabgrenzung als biologischer Vorgang, der zu Arten 38 Sober 1980, 370: „Darwin […] focused on the population as the unit of orga nization.“ 39 Wuketits 1995, 22 und 62 ff. 40 Walsh 2006, 430 ff. 41 Mayr 1991, 199 ff. 42 Ebd., 204 f. 43 Ebd., 240 ff. 44 Ebd., 206.
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als klar unterscheidbaren Objekten führt, die der Taxonom dann erkennt und beschreibt) und Spezies als Kategorie (Speziesbegriff oder Speziesdefinition als ein Status, der vom Taxonomen dem Spe zies-Taxon zugeschrieben wird),45 dann lässt sich auch die Nomina lismus-Debatte in diesem Punkt entscheiden. Statt jedoch Spezies als formale Klassen aufzufassen, läuft der Ansatz dann darauf hin aus, Spezies als reale Reproduktionsgemeinschaften zu bestimmen. Man kann unter logischen Gesichtspunkten (mit Ghiselin) Spezies dann – da sie keine Klassen sind – als „Individuen“ bezeichnen.46 Speziesnamen wären in diesem Fall Eigennamen. Eine solche Be nennung hat jedoch nicht nur einige inhaltliche Schwierigkeiten,47 sondern sie gerät vor allem in Widerspruch mit den klassischen Zuschreibungen von „Einzigartigkeit“ und „Unteilbarkeit“ für In dividuen.48 Aus diesem Grunde ist die Bezeichnung „Individuum“ für die biologische Art kontraintuitiv. Einiges spricht deshalb dafür, den Begriff „Population“ oder „Biopopulation“ anstatt des Begriffs „Individuum“ zur Bezeichnung von Spezies zu verwenden.49 Im Nachgang von populationsgenetischen50 und populationsbio logischen51 Ansätzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden somit Populationen zu einer wichtigen – in manchen Ansätzen sogar zu der wichtigsten – Einheit der Evolution. Evolution wird dann zum Wandel der genetischen Zusammensetzung von Populationen. Für die Synthetische Theorie, die Darwins Selektionstheorie, Mendels klassische Genetik und die Ansätze der Populationsgenetik kom biniert, ist die Populationsbiologie die wegweisende Disziplin. Wie Wolfgang Wieser resümiert,52 sind mit dieser Entwicklung zentra le Änderungen im Status von Organismen verbunden: Während, so Wieser, der klassische Darwinismus auf dem Individuum (dem Organismus) als der Einheit der Selektion basierte und davon aus 45 46 47 48 49 50
Ebd., 227. Ebd., 237. Ebd., 239. Ebd., 245; vgl. auch Köchy 2000. Mayr 1991, 249. 1908 legen Hardy und Weinberg mit dem Hardy-Weinberg-Gesetz, nach dem die Proportionen der Genfrequenz über die Generationen hinweg konstant blei ben, ihr Theorem einer idealen Population vor, das zur Grundlage der Populati onsgenetik wird. Vor dem Hintergrund dieser idealen Population ohne Evolution (ohne Änderung der Genfrequenzen) werden die realen Gleichgewichtsstörun gen als Evolutionsereignisse darstellbar. 51 Vgl. Kingsland 1985. 52 Wieser 1994, 15-48.
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ging, dass Individuen untereinander variieren, sich vermehren und Träger der vererbten Eigenschaften sind, wird im Zuge von Gene tik und Populationsbiologie die Rolle der Individuen innerhalb der Evolution immer stärker in Frage gestellt. Entweder fasst man die Gene als Einheiten der Evolution auf oder aber die Population. In der Population verschwinden die individuellen Organismen dann hinter der Vorstellung von Mendelschen Vererbungslinien als den grundlegenden Elementen des Populationsensembles.
4. Der Organismus im Zentrum von „Evo-Devo“ Allerdings ist die Fokussierung auf die Population, wie wir schon sehen konnten, in ihren Konsequenzen für die Bedeutung der In dividuen nicht einheitlich. So ist etwa nach den Überlegungen von Ernst Mayr mit dem Populationsdenken nicht nur eine klar antiessentialistische Tendenz verbunden, sondern gerade dieses belegt vielmehr die gesteigerte Bedeutung der Einzigartigkeit individueller Lebewesen. Mayr resümiert in diesem Sinne: „Diese Einzigartigkeit biologischer Individuen bedeutet, daß wir mit einer ganz anderen Einstellung an Gruppen biologischer Entitäten herangehen müssen, als wenn wir es mit Gruppen identischer inorganischer [sic] Entitä ten zu tun haben. Dies ist die Grundbedeutung des Populationsden kens.“ 53 Die anti-essentialistische Haltung verbindet auch der Evo lutionsbiologe Stephen Jay Gould mit einer Individualisierungsfor derung: Die tiefste Bedeutung der Darwinschen Revolution bestehe gerade darin, so Gould, platonische Denkgewohnheiten abzulegen und „in der natürlichen Realität eine Ansammlung von Individuen in Populationen zu sehen.“54 Unter dem Gesichtspunkt der Variati on55 wird die Aufmerksamkeit der Evolutionsbiologie somit auf die Mannigfaltigkeit je individueller Lebewesen zurückgelenkt.56 Eine ähnliche Rückwendung auf die Systembedingungen indi vidueller Lebewesen lässt sich interessanterweise auch für das ele mentaristische Ende der Skala konstatieren. Gerade nach Umset 53 54 55 56
Mayr 2002b, 38 f. Gould 2002, 19. Ebd., 62 f. Vgl. auch Scott/Sakar 2000; Laubichler/Wagner 2000; Wagner/Laubichler 2002; Wagner 2002.
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zung der auf das Genom ausgerichteten aktuellen Forschungspro gramme ist ein grundsätzlicher Wandel im Verständnis vom Gen und vom Genom feststellbar,57 der unter dem Stichwort „Epigene tik“ zusammenzufassen wäre. Während den Sequenzierungsansät zen noch ein betont lineares, elementaristisches und strukturelles Verständnis des Vererbungsgeschehens zugrunde lag, hat sich mit der Umsetzung der Genomforschung das Gewicht auf ein zykli sches, systemisches und funktionelles Konzept verlagert. Man hat eingesehen, dass ein adäquates Verständnis der Funktion von Genen erst jenseits der Auflistung der bloßen linearen Abfolge von Basen einsetzt.58 Richtet man folglich die Aufmerksamkeit auf die ontoge netischen Realisierungsbedingungen von vererbten Merkmalen,59 dann wird die Bedeutung „epigenetischer“ Faktoren erkennbar, es werden die Wechselbeziehungen zwischen Genom und Proteom (den durch das Genom bestimmten Eiweißstoffen) oder zwischen Genom und Umwelt und damit die systemischen Bedingungen der Vererbung deutlich. Einsichten in die Mechanismen der Genex pression (diejenige Genregulationsaktivität, die ohne Änderung des DNA-Codes stattfindet), das RNA-Editing60 (die Veränderung der RNA-Transkripte vor dem Prozess der Translation), die Existenz von „silenced genes“ oder die Mechanismen zur Inaktivierung von Sup pressorgenen führten zu einer berechtigten Kritik am essentialisti schen Genkonzept. Die Vorstellung von Genen als Wesensstruktu ren von Lebewesen oder gar als den molekularen „Puppenspielern“, die die Fäden des Lebensgeschehens der organismischen „Überle bensmaschinen“ in der Hand halten,61 verloren an Überzeugungs kraft. Nicht nur der kontextuelle Rahmen der Ontogenese verwies auf die Systemeigenschaften von Organismen, sondern selbst die molekulare Organisation der Vererbung erwies sich als weder li near noch statisch. Überlappende Gene oder bewegliche genetische Einheiten (Transposons) verwiesen eher auf ein flexibles Netzwerk von komplex geregelten Mechanismen. Wie die philosophischen Arbeiten von Keller,62 Rehmann-Sutter63 und anderen deutlich ma chen, ist damit die Rolle des Organismus für das Verständnis der 57 58 59 60 61 62 63
Köchy 2003. Morange 2003, 17-23. Siehe auch den Beitrag von Schmidt in diesem Band. Gottlieb 1992; Oyama/Griffiths/Gray 2001. Newman/Müller 2000; Burian 2004; Robert 2004. Pennisi 2001. Keller 2005; Keller 2006. Rehmann-Sutter 2005.
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Ontogenese unverzichtbar. Und selbst wenn man wie Eric Davidson und Douglas Erwin am Genparadigma festhalten möchte, so muss man sich doch sowohl für die Erklärung der Regelung der Indivi dualentwicklung als auch für die Deutung der Stammesgeschichte vom simplen Modell eines linearen Kausalgeschehens (pathways) zugunsten eines alternativen Modells von komplexen, mehrstufi gen und rückgekoppelten genetischen regulatorischen Netzwerken verabschieden (networks).64 Solche Netzwerke sind es dann, denen die Eigenschaften der Flexibilität (Plastizität), der Redundanz und der Robustheit (Stabilität) zugeschrieben werden65 und die zu gleich – gerade weil sie gegen Perturbationen von außen abgepuffert sind – die Generierung von adaptiven Neubildungen ermöglichen.66 Mit Blick auf die Eröffnungssequenz meiner Ausführungen kann deshalb die Konsequenz der modernen Biologie für den Status des Organismus auch ganz anderes ausfallen: Dieses sei abschlie ßend an den Überlegungen von Denis Walsh zum Evolutionären Essentialismus angedeutet.67 Wie Walsh in Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Verständnis von biologischen Arten und den aktuellen Positionen zum taxonomischen und explanatorischen Anti-Essentialismus zeigt, kann mit Blick auf die neuesten Befunde aus Entwicklungs- und Evolutionsbiologie ein Essentialismus auf der organismischen Ebene legitimiert werden, der in weiten Teilen mit den Grundannahmen von Aristoteles’ Organismusverständnis übereinstimmt. Zentraler Punkt des aristotelischen Ansatzes ist demnach die Vorstellung einer zielgerichteten Kapazität, die der Struktur von Organismen immanent ist. Ein solcher auf das Indi viduum bezogener Essentialismus ist weder durch die Feststellung von Wandel bedroht noch durch die Notwendigkeit, zur Klassifi kation auf plurale und heterogene Merkmalscluster zurückgreifen zu müssen. Vielmehr ermöglicht Aristoteles’ organismischer Essen tialismus sowohl eine Dynamik der betroffenen Systeme als auch deren plurale Taxonomie. Walsh verweist darauf, dass dieser Ansatz gerade in der aktuellen Theorienlandschaft und angesichts aktueller Fragestellungen höchst bedeutsam ist. Demnach sei das Ziel moderner Evolutionsbiologie die Erklä rung der Angepasstheit (adaptedness) und der Vielfalt (diversity) 64 65 66 67
Davidson 2006; Davidson/Erwin 2006. Salazar-Ciudad/Solé/Newman 2001. Greenspan 2002, 385. Walsh 2006.
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von Organismen. So habe die evolutionäre Entwicklungsbiologie gezeigt, dass die klassischen Erklärungsansätze es nicht nachvoll ziehbar machen, wie die Mechanismen der natürlichen Selektion von Genen in Populationen zu einer Abnahme oder Zunahme der Adaption von Organismen führen. Man müsse für dieses Verständ nis vielmehr die Rolle der individuellen Naturen (individual natures; essences) im Evolutionsgeschehen berücksichtigen.68 Wenn man deshalb mit Blick auf die aktuellen Synthesen von Entwick lungs- und Evolutionsbiologie (Evo-Devo) sich der Frage der Adap tion zuwendet, dann wird man eine Verlagerung der Aufmerksam keit in Richtung auf Organismen feststellen. Die für die adaptiven Änderungen der Populationsstruktur verantwortlich gemachten Bedingungen werden dementsprechend in drei wesentlichen As pekten auffallend verlagert:69 1) Hatte man im Kontext der Erklärung des adaptiven Populati onswandels auf der Ebene von Genen gefordert, dass für einen solchen Wandel Varianten von Linien oder Genen (variant traits or genes) existieren müssen, deren durchschnittlicher Effekt auf die Fitness der Population positiv ist, so müsste man nun neu formulieren: Adaptiver Wandel von Populationen erfordert, dass vorteilhafte neue Varianten in ausreichender Häufigkeit inner halb individueller Organismen entstehen („Beneficial novel vari ants must arise sufficiently often within individual organisms“). 2) Hatte man für den adaptiven Wandel nach dem alten Ansatz ge fordert, dass schädliche Effekte von Mutationen im Durchschnitt nur schwache Einflüsse haben, so muss man nun neu formulie ren: Der schädliche Effekt von Mutationen auf das organismi sche Überleben und die Reproduktion muss im Allgemeinen nur schwach sein („The deleterious effects of mutation on organis mal survival and reproduction must generally be weak“). 3) Hatte man schließlich gefordert, dass der Effekt der Gene auf die Fitness mehr oder weniger in verschiedenen Kontexten kon stant sein müsse und der durchschnittliche Effekt eines Gens in einer Population sich nicht allzu drastisch bei einer Änderung der genetischen Zusammensetzung (genetic constitution) der Po pulation ändert, so muss man nun formulieren: Der Effekt von Varianten auf die Fitness muss mehr oder weniger konstant sein 68 Ebd., 426. 69 Ebd., 435.
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zwischen Individuen mit ähnlichen Genomen. („The fitness ef fects of variants must be reasonable constant across individuals with similar genomes“). Walsh, der diese behaupteten Änderungen anhand von Befunden aus der Analyse genetischer Netzwerke, phänotypischer Plasti zität, adaptiver Evolution oder der Epigenetik begründet, kommt wie angedeutet zu dem Schluss, dass ein aristotelisches Konzept der Natur von Organismen für die philosophische Reflexion die ser neuen empirischen und biologietheoretischen Situation durch aus hilfreich sein könnte. Gerade die Tatsache, dass phänotypische Plastizität einen Mechanismus für die adaptive Evolution offeriert, der die Kapazität hat, einen lebensfähigen stabilen homöostatischen Endzustand zu entwickeln und beizubehalten, welcher dann ty pisch für Organismen dieser Art ist und durch Implementierung von kompensatorischen Änderungen in Verhalten, Struktur und Physiologie erreicht wird, macht es möglich, hier von einem zielge richteten Phänomen (goal-directed phenomenon) zu sprechen. Es ist diese Verbindung von Plastizität und Persistenz, die nach Walsh auch dem aristotelischen Versuch zugrunde liegt, die Natur der Or ganismen zu bestimmen, indem man eine interaktive Einheit pos tuliert von erstens einer organismischen Form – als zielgerichteter Disposition, einen lebensfähigen Organismus einer bestimmten Art hervorzubringen – und zweitens einer materialen Natur – als den kausalen Eigenschaften eines entwicklungsfähigen Systems. Wenn deshalb die Befunde und Spekulationen der aktuellen Debatte über den Zusammenhang von organismischer und stammesgeschichtli cher Entwicklung zutreffen, dann ist der anti-individualistische und anti-essentialistische Konsens der Biophilosophie falsch. In diesem Fall spielt der Rekurs auf die individuellen Organismen und deren Form (Zielgerichtetheit) gerade heute eine fundamentale explanati ve Rolle in der Biologie: „The explanation of adaptive evolution is a 21st century job that calls for classical Aristotelian concepts“.70
70 Ebd., 445.
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III. Was sind Lebewesen? – Biologie und Physik
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Marianne Schark
Was sind Lebewesen? Ein aristotelischer Bestimmungsansatz
Was sind Lebewesen? Was muss gegeben sein, damit wir etwas als ein Lebewesen klassifizieren? Im Folgenden wird eine Konzeption von Lebewesen vorgestellt, die sich für die Antwort auf diese Fra ge an Aristoteles’ Kategorisierung von Lebewesen als „erste Sub stanzen“ anlehnt. Dazu wird in einem ersten einleitenden Abschnitt der Lebewesenbegriff als kategorialer Begriff von den biologischen Bezeichungen für Lebewesen abgehoben (i). Daraufhin muss expli ziert werden, was Lebewesen als eine Kategorie von Kontinuanten sui generis auszeichnet (ii). Was macht etwas zu einem Lebewesen im Gegensatz zu einem leblosen Ding? Lässt sich angeben, worin das Wesen von Lebewesen besteht? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage macht es schließlich erforderlich, auf Leben als der besonderen Persistenzweise von Lebewesen zu sprechen zu kom men. Im dritten und letzten Abschnitt wird daher herausgearbeitet, was das Spezifische der Persistenz von Lebewesen ist (iii).
I. Lebewesen als ontologische Kategorie Es wäre falsch, den Lebewesenbegriff einfach für einen biologi schen Begriff zu halten; es handelt sich bei ihm vielmehr um ei nen Grundbegriff der Ontologie. Es wäre darum ebenso falsch, seine Definition ausschließlich der Biologie zu überlassen. Die Biologie ist zwar die Wissenschaft von den Lebewesen, aber nicht die Wissenschaft davon, was ein Lebewesen ist. Sie setzt vielmehr voraus, dass es Lebewesen sind, die sie studiert. Zur Bezeichnung der durch den Lebewesenbegriff isolierten Entitäten verwendet die Biologie die Ausdrücke „Organismus“ oder „lebendes System“. Im Unterschied zum Begriff des Lebewesens handelt es sich hierbei um theoretische Begriffe, mit denen Lebewesen im Lichte einer bestimmten Konzeption oder Theorie bezeichnet werden. Mit ihnen https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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verknüpft sich jeweils ein bestimmtes Modell dessen, was für Wesen Lebewesen sind. Der Begriff des Lebewesens kann jedoch nicht allein biologisch bestimmt werden, denn Lebewesen sind keine theoretischen Entitä ten. Auf die Annahme der Existenz solcher theoretischer Entitäten sind wir typischerweise nur unter der Bedingung verpflichtet, dass wir bestimmte naturwissenschaftliche Theorien für wahr halten, und welche Eigenschaften diese haben, wird im Rahmen dieser Theo rien bestimmt. Lebewesen dagegen sind uns vorwissenschaftlich vertraut. Wir bringen deshalb ein lebensweltliches Vorverständnis des Lebendigen mit, das insbesondere auch von der Erfahrung unse rer selbst als lebende Wesen bestimmt ist. Mit dem lebensweltlichen Begriff von Lebewesen verbindet sich insbesondere die Konnotati on von ihrer eigenständigen Aktivität. Die generelle Aufgabe lautet nun, einen Begriff von Lebewesen zu erläutern, der sowohl das le bensweltliche Verständnis als auch die wissenschaftlichen Konzep tionen von Lebewesen integrieren kann. Für die Vermittelbarkeit der vorwissenschaftlichen mit den biologischen Konzeptionen von Lebewesen ist entscheidend, dass man die biologischen Begriffe des Organismus oder des lebenden Systems nicht als Synonyme für den Lebewesenbegriff versteht, sondern lediglich als mit diesem ex tensionsgleiche Begriffe. Sie sind aber intensionsverschieden. Die Modelle, mit denen die biologischen Begriffe verknüpft sind, be schreiben nie das Ganze, sondern stets lediglich Aspekte von Lebe wesen. Auf diese Weise aufgefasst, können auch sie zur Definition eines Lebewesenbegriffs mit herangezogen werden. Als eine Konzeption von Lebewesen, die geeignet ist, die ver schiedenen Aspekte und Verständnisse von Lebendigkeit zu inte grieren, soll im Folgenden die aristotelische Lebewesenkonzeption aufgenommen werden. Dieser zufolge handelt es sich bei Lebewe sen um eine Kategorie sui generis von Kontinuanten.1 Der Begriff des Kontinuanten ist an Aristoteles’ Begriff der Substanz in dessen erster Bedeutung angelehnt, wonach damit ein physisches Indivi duum bezeichnet wird. Wie die von Aristoteles „Substanzen“ ge nannten physischen Einzeldinge sind Kontinuanten veränderliche, in Raum und Zeit persistierende Individuen. Ein Kontinuant ist ein
1
Alternative ontologische Konzeptionen sind die Auffassung, dass Lebewesen eine Art von Prozessen sind, sowie die cartesianische Auffassung, dass Lebewesen eine Art von Körpern sind.
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Einzelding, das zu einem bestimmten Zeitpunkt anfängt zu existie ren, eine Weile fortbesteht, und schließlich aufhört zu existieren. Was zeichnet Lebewesen als eine eigene Kategorie von Kontinu anten aus? Um diese Frage zu beantworten, muss sowohl bestimmt werden, was es heißt, ein des Lebens fähiges Wesen zu sein, als auch, was es für ein solches Wesen heißt zu persistieren. Das heißt, wir müssen sowohl die Frage nach der Natur von Lebewesen stellen als auch die Frage nach der Natur der Persistenz von Lebewesen.
II. Zur Natur von Lebewesen Ich beginne mit der ersten der beiden Fragen, d. h. der Frage, was die Natur von Lebewesen ist. Von der Natur eines Typs von Entität kann in zweierlei Sinn die Rede sein: (1.) Im ersten Sinn wird darunter das Wesen (aristotelisch: ou sia) verstanden, das durch die Angabe der Eigenschaften expliziert werden kann, die die Zugehörigkeit einer Entität zu dieser Art defi nieren. Unsere Begriffe von Typen von Entitäten sind Begriffe von Substanzen mit je charakteristischen Dispositionen, die bei Ein treten geeigneter Umstände in je charakteristischer Weise agieren oder reagieren. In diesem Sinne spricht Aristoteles vorrangig von der Natur oder dem Wesen eines Typs von Entität. (2.) Von der Natur eines physischen Gegenstandes wird aber auch noch in einem anderen Sinne gesprochen. In diesem Sinne meint „Natur“, was Locke als das „wirkliche Wesen“ („real es sence“) der von Natur aus vorkommenden „körperlichen Substan zen“ bezeichnet und der nominalen Essenz gegenübergestellt hat; das heißt, die „real internal, but generally (in substances) unknown, constitution of things“.2 Realistisch interpretiert, ist hier mit der „unbekannten inneren Verfasstheit“ der natürlichen Dinge und Wesen das Substrat der bekannten, charakteristischen Disposi tionen dieser Dinge gemeint, die intrinsische körperliche Struktur, deren Beschaffenheit noch nicht bekannt ist, aber nichts prinzipiell 2
Locke 1690, III 3, § 15. Insbesondere sein angedeuteter Vergleich der realen Essenz eines Menschen mit den „Federn und Rädern und anderen Vorrichtungen in der berühmten Uhr in Straßburg“ (ebd., §§ 3, 9) lässt diese realistische Interpretation richtig erscheinen.
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Unerkennbares.3 Die Frage nach der Natur der Dinge ist in diesem Sinne die Frage, welches der spezifische Aufbau der Dinge ist, der die okkurente Basis ihrer Dispositionen bildet. (1.) Beginnen wir mit der Frage nach dem Wesen von Lebewesen im aristotelischen Sinne. Was bedeutet es, ein Lebewesen zu sein? Gibt es notwendige und hinreichende Bedingungen dafür? Aristoteles’ Explikation des Lebewesenbegriffs findet sich im zweiten Buch sei ner Schrift „Über die Seele“. Er unterscheidet dort lebende Wesen als beseelte von den leblosen Dingen als unbeseelten Substanzen. Die Rolle des Wesens von Lebewesen nimmt die Seele ein, die Rolle der Materie der organisierte Körper, und so ist ein Lebewesen all gemein als ein Wesen definiert, das einen organisierten Körper hat und beseelt ist. Was es bedeutet, beseelt zu sein, analysiert Aristo teles wiederum, indem er die Vermögen aufführt, durch die sich Lebewesen im Unterschied zu leblosen Dingen auszeichnen. Diese Vermögen lassen sich in drei Gruppen einteilen: (a) Die erste Gruppe machen die Vermögen aus, die er unter dem Begriff der Nährseele (hê threptikê psychê)4 zusammenfasst: Die ses ist erstens das Ernährungsvermögen (to threptikon). Darunter ist nicht bloß die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme zu verstehen, sondern generell die Fähigkeit, sich durch Verstoffwechslung von Nährstoffen und ständige Reproduktion der Körperbestandteile als Individuum zu erhalten.5 Bei allen Wesen, die dieses Vermögen be sitzen, beobachtet man zudem das Phänomen von Wachstum (auxê sis) und Verfall (phthisis). Mit diesen Ausdrücken bezeichnet Aristo teles das Phänomen, dass der Lebenslauf eines lebenden Wesens sich typischerweise in eine Phase des Heranwachsens und Reifens bis zu einem Stadium der Vollausgereiftheit und eine anschließen de Phase der Alterung und schließlicher Abnahme der Fähigkeiten
3 Während sich praktisch alle Eigenschaften der Dinge bzw. Wesen bei näherem Hinsehen letztlich als dispositionale Eigenschaften erweisen, die diesen nur auf grund einer bestimmten Relation zu bestimmten Umgebungsbedingungen oder zu anderen Dingen zukommen – selbst solche Eigenschaften wie das Gewicht gehören dazu –, so stellt die innere Struktur eines Dings eine Ausnahme dar: Die-und-die Struktur zu haben, kommt ihm nicht im Verhältnis zu irgendetwas außerhalb seiner zu, sondern dies ist eine genuin intrinsische Eigenschaft. Eine weitere Ausnahme von der Regel ist die Gestalt (im Sinne von „Figur“ oder schêma). 4 De an. II 4, 415a23. 5 Vgl. ebd., 416b13-20.
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gliedert. Als zweites Vermögen führt er schließlich die Fortpflan zungsfähigkeit (gennêsis) an. Alle Wesen, die diese beiden Vermö gen besitzen, werden „lebendig“ genannt. Pflanzen, die nur diese Vermögen besitzen, zählen darum zu den lebenden Wesen. (b) Die zweite Gruppe machen die Vermögen aus, durch die Tie re (zôia) ausgezeichnet sind. Dieses sind erstens das Vermögen zur Sinneswahrnehmung oder Empfindung (aisthêsis) und zweitens das Vermögen zur eigenständigen Fortbewegung (kinêsis kai stasis kata topon). Ausschlaggebend fürs Tiersein ist allerdings das erste, da wir auch sessil lebende Wesen Tiere nennen, wenn sie Wahrneh mung haben. Bezüglich der Sinneswahrnehmung hebt Aristoteles den Tastsinn (haphê) hervor als den einzigen, der allen Tieren ge meinsam ist.6 Darüber hinaus geht nach ihm die Wahrnehmungsfähigkeit mit der Fähigkeit einher, Schmerz (lypê) und Lust (hêdonê) zu empfin den. Und einem Lebewesen, das diese Fähigkeit besitzt, kann man auch die Fähigkeit zuschreiben, nach etwas zu streben (to orekti kon), so dass Wahrnehmungsfähigkeit auch diese Fähigkeit impli ziert. Denn einem Wesen, das Schmerz und Lust empfinden könne, komme Begierde zu, und diese sei ein Streben nach dem Lustvollen. Als Merkmale, die für alle und nur für Tiere charakteristisch sind, fasst Aristoteles schließlich so den Tastsinn und die Fähigkeit, nach etwas zu streben, zusammen. (c) Die dritte Gruppe enthält endlich das Denkvermögen (theo rêtikê dynamis, dianoêtikon) und das Vermögen zum Handeln ge mäß vernünftiger Einsicht.7 Diese kommen unter den sterblichen Wesen nur Menschen zu. Insgesamt sind diese Vermögen demzufolge hierarchisch geord net: Ein Wesen, das ein Vermögen aus der dritten Gruppe besitzt, besitzt auch die (oder zumindest einige) aus der zweiten und ersten Gruppe, aber nicht umgekehrt.8 Ebenso besitzt ein Wesen, das ein Vermögen aus der zweiten Gruppe besitzt, auch die aus der ers Tiere haben eine aisthêsis tês trophês (De an. II 3, 414b6-7). Nur Tiere, die sich fortbewegen können, haben die Fernsinne. 7 Siehe De an. II 2, 413b25; De an. II 3, 414b19. Vgl. auch EN I 6. 8 Eine Ausnahme bildet das göttliche Wesen, das Aristoteles in Metaphysik XII als Lebewesen bezeichnet, da es Vernunftfähigkeit besitzt und manifestiert. Dies ist der einzige Fall eines Wesens, das als ein Lebewesen bezeichnet wird, ohne dass dadurch impliziert ist, dass dieses Wesen sich durch Nahrungsverarbeitung erhält. Aristoteles hebt dementsprechend in De Anima hervor, dass es hier um die sterblichen Wesen geht (s. ebd., II 3, 415a9). 6
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ten, während das Umgekehrte nicht gilt. Manche Wesen, welche die Vermögen der ersten Gruppe besitzen, besitzen nur diese und keine anderen.9 Was bedeutet diese Ordnung der Vermögen nun für unsere Fra ge, was es heißt, ein Lebewesen oder lebendig zu sein? Muss man Aristoteles hier so verstehen, dass dies auf eine disjunktive Erläu terung des Lebewesenbegriffs hinausläuft? Bedeutet „lebendig zu sein“ in einem Fall, Nahrung prozessieren, wachsen und sich fort pflanzen zu können, im andern Fall, Sinneswahrnehmung zu ha ben und sich fortbewegen zu können, und im dritten Fall, zu ver nünftiger Überlegung fähig zu sein und vernunftgemäß handeln zu können? Es gibt Stellen, an denen sich Aristoteles so ausdrückt10, doch der Tenor des zweiten Buchs von De Anima ist ein anderer. So schließt Aristoteles an die Feststellung in De Anima, dass Leben „in vielerlei Bedeutung“ ausgesagt werde, unmittelbar an: „wir sagen, dass etwas lebt, wenn nur eines von diesen (in etwas) vorliegt:“ – worauf die Aufzählung der die drei Gruppen bestimmenden Ver mögen folgt.11 Dies lässt sich so verstehen, dass Aristoteles an dieser Stelle lediglich Vermögen aufzählt, deren Vorhandensein bei einem Wesen hinreichend dafür ist, sie als ein Lebewesen zu bezeichnen, aber keineswegs solche, die jeweils auch notwendig dafür sind. Als notwendige Eigenschaften kommen vielmehr nur die Fä higkeiten der ersten Gruppe in Betracht, das heißt (i.) die Fähig keit, Nahrung oder Nährstoffe aufzunehmen und sich durch ihre Verarbeitung selbst zu erhalten und zu wachsen, und (ii.) die Fort pflanzungsfähigkeit. Alle anderen aufgelisteten Fähigkeiten sollen ja nach Aristoteles’ eigener Auskunft lediglich charakteristisch für Tiere oder sogar nur für eine einzelne Tierart sein. Das heißt, die se dienen lediglich zur Abgrenzung verschiedener Lebensformen voneinander.12 Nach dieser Interpretation vertritt Aristoteles in De Anima die Auffassung, dass ein Lebewesen zu sein bedeutet, ein Wesen zu sein, das sich selbst ernähren und sich fortpflanzen kann, was immer es darüber hinaus auch noch können mag.
9 Vgl. De an. II 4, 415a22-25. 10 Siehe EN I 6 oder De an. II 2, 413a22. 11 De an. II 2, 413a22-25. 12 Matthews bezeichnet die unter (b) und (c) genannten Vermögen daher als „lifepresupposing functions“, d. h. als „functions such that nothing has them without being alive“ (Matthews 1992, 189).
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Allerdings muss auch diese Definition noch weiter eingeschränkt werden. Denn es ist offensichtlich, dass der Besitz der Fortpflan zungsfähigkeit nicht notwendig dafür ist, als ein Lebewesen oder als lebendig zu zählen. Etlichen Wesen, die wir gleichwohl Lebewe sen nennen, fehlt diese Fähigkeit, weil sie beispielsweise zu jung, zu alt oder krank oder verstümmelt sind, oder weil sie von Natur aus steril sind, wie etwa die Arbeiterinnen eines Bienenstocks oder le bensfähige Nachkommen von Eltern verschiedener Arten. Einigen dieser Gegenbeispiele lässt sich mit dem Hinweis begegnen, dass es Lebewesenarten (als konkrete Gruppen von Individuen verstan den) auszeichnet, dadurch zu persistieren, dass ihre erwachsenen, gesunden Mitglieder artgleiche Individuen produzieren,13 und dass der Besitz der Fortpflanzungsfähigkeit lediglich notwendig dafür ist, ein solches gesundes, erwachsenes Mitglied einer Lebewesenart zu sein. Der Schwierigkeit aber, dass bei manchen Arten „Arbeitstei lung“ hinsichtlich der Fortpflanzung herrscht, oder dass Individuen mancher Arten miteinander zwar lebensfähige, jedoch nur sterile Nachkommen produzieren können, entgeht man damit nicht. Um ein Lebewesen zu sein, scheint es überdies nicht einmal not wendig zu sein, eigenständig Nahrung aufnehmen zu können, wie ein weiteres Gegenbeispiel zeigt, das von Fred Feldman stammt:14 Die erwachsenen Mitglieder der Mottenart Cecropia haben keiner lei Verdauungssystem, dennoch würden wir sagen, dass sie Lebe wesen bzw. lebendig sind. Allerdings kann man gegen dieses Bei spiel einwenden, dass selbst diesen Motten die Fähigkeit, sich durch Nährstoffaufnahme und -verarbeitung als Individuum zu erhalten, nicht völlig fehlt. Wenn sie auch keine neue Nahrung aus der Um welt aufnehmen können, so können sie sich immerhin durch die Verstoffwechslung von Depots, die in der Larvenzeit angelegt wur den, für kurze Dauer selbst erhalten.15 Insofern ist nicht eindeutig, dass dies wirklich ein Gegenbeispiel ist, das die Annahme entkräftet, 13 Hierfür ist erforderlich, dass die Mitglieder die Artform irgendwie weitergeben, d. h. dass sie in sich Teile enthalten, deren Weitergabe gewährleistet, dass sich artgleiche Individuen entwickeln. Diese müssen nicht unbedingt die chemische Struktur der DNS-Moleküle besitzen, es müssen lediglich Teile sein, die diese Funktion der DNS-Moleküle ebenso erfüllen können. 14 Feldman 1992, 30. 15 Analoges gilt für komatöse Patienten, die ebenfalls nicht in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, sondern künstlich ernährt und beatmet werden müssen. Die Fähigkeit, die ihnen zugeführten Stoffe zu verarbeiten, besitzen auch sie (bzw. ihr Körper) nach wie vor.
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dass das von Aristoteles „Ernährungsfähigkeit“ genannte Vermö gen das essentielle Vermögen von Lebewesen ist. Darüber hinaus gilt, dass der Besitz einer dieser beiden oder gar beider Fähigkeiten hinreichend fürs Lebewesensein ist: Was immer die Fähigkeit zur Selbsterhaltung durch Nährstoffaufnahme und -verstoffwechslung oder die Fortpflanzungsfähigkeit besitzt, ist ein Lebewesen. Bezüglich der anderen Fähigkeiten ist auch dies nicht immer so klar. Es ist z. B. fraglich, ob dies auf die Selbstbewegungs fähigkeit zutrifft. Denn es fällt nicht leicht zu sehen, worin sich ab gesehen vom unterschiedlichen materiellen Substrat die angebliche Selbstbewegungsfähigkeit beispielsweise eines Insekts prinzipiell von der eines Roboters unterscheiden soll, und dennoch nennen wir Roboter nicht lebendig. Ein Wesen muss mehr als diese eine Fähig keit besitzen, um als lebendig zu gelten. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass allein die Fähigkeit, sich selbst durch Nahrungsaufnahme und -verarbeitung und Re generation von Körperbestandteilen als Individuum zu erhalten, kurz die Selbsterhaltungsfähigkeit durch Selbstregeneration, sowohl hinreichend als auch notwendig fürs Lebewesensein ist. Diese kann eingeschränkt sein, ganz fehlen darf sie jedoch nicht. Dies ist nicht bloß im Sinne der Feststellung zu verstehen, dass es sich de facto so verhält, dass alle und nur Lebewesen diese Fähigkeit besitzen. Vielmehr ist dies die Fähigkeit, welche die Zugehörigkeit einer En tität zur Kategorie der Lebewesen definiert. Das heißt, die Aussage „Es gibt keine leblosen Dinge, die sich selbst durch Regeneration erhalten können“ ist als eine zu verstehen, die einen begrifflichen Zusammenhang ausdrückt: Jedes Wesen, das dieses Vermögen be sitzt, würde aufgrund dessen als ein Lebewesen zählen, auch wenn es keiner uns bekannten Lebewesenform gliche, und unabhängig davon, ob es künstlicher oder natürlicher Herkunft ist. Und umge kehrt muss ein Wesen zumindest dieses Vermögen haben, wenn es als Lebewesen zählen soll.16 (2.) Aristoteles hat zudem gesehen, dass solche Vermögen nur We sen haben können, die einen auf besondere Weise beschaffenen Körper haben. So verbindet er mit der Bestimmung der für Lebe wesen spezifischen Vermögen eine explizite Kritik an seinen natur philosophischen Vorgängern, welche die Lebewesen zwar auch als 16 Mit diesem Fazit plädiere ich für einen fähigkeitsbasierten Lebewesenbegriff, der die Frage der Herkunft zu einer nachgeordneten macht.
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„beseelt“ von den leblosen Dingen unterschieden, aber sich keine Gedanken darüber gemacht hätten, welche Art von Körpern denn überhaupt zur Aufnahme einer Seele geeignet seien.17 Den Körper eines Lebewesens bezeichnet er als „sôma organikon“, d. h. als einen in Organe gegliederten Körper. Aristoteles’ Bestimmung, dass „die Seele weder ohne Körper ist, noch (selbst) ein Körper; sondern etwas vom Körper (ti sômatôs)“18, und dass sie der „Vollendung eines organischen Körpers“19 entspricht, der des Lebens fähig ist, lässt sich so deuten, dass er hier, modern gesprochen, die These vertritt, dass die Vermögen von Lebewesen über der Beschaffenheit ihrer Körper supervenieren. Es kann danach nicht sein, dass ein Wesen einen Körper hätte, der genauso beschaffen wäre wie der organische Körper eines ausgewachsenen Lebewesens, und diesem Wesen die Vermögen fehlten, die das Lebewesen auszeichnen. Vielmehr hätte jedes Wesen, das einen so beschaffenen Körper hätte, auch diese Vermögen. In diesem Sinne determinierte der Besitz eines vollen deten, organischen Körpers den Besitz dieser Vermögen, und um gekehrt implizierte der Besitz dieser Vermögen den Besitz eines solchen Körpers. Dies deckt sich genau mit dem realistischen Verständnis von Vermögenszuschreibungen, das in der Wissenschaftstheorie etwa von Armstrong, Mackie oder Harré vertreten wird: Danach be deutet die Aussage, dass eine Substanz vom Typ S das Vermögen hat, x zu tun, zunächst, dass sie x tun würde, wenn die geeigneten Umstände oder der entsprechende Stimulus einträten, und zwar „aufgrund ihrer intrinsischen Natur“, wie Harré hervorhebt.20 Mit dieser intrinsischen Natur meint Harré die Beschaffenheit der Sub stanz, vermöge der sie die Dispositionen hat, die sie hat. In einer Vermögenszuschreibung wird die okkurente Basis des zugeschrie benen Vermögens zwar nicht spezifiziert – oft ist sie gar nicht bekannt. Aber, so fasst Mackie die Bedeutung von Vermögenszu schreibungen zusammen: „dispositional statements normally mean [...] that there is some occurrent ground or basis for the disposition, something that in a complete scientific account would explain the
17 Vgl. De an. I 3, 407b15-26; II 2, 414a22-25. 18 Ebd., II 2, 414a19-21. 19 Ebd., II 1, 412a27 f. 20 Harré 1970, 215: „X has the power to A = if X is subject to stimuli or conditions of an appropriate kind, then X will do A, in virtue of its intrinsic nature“.
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behaviour that fulfils the conditional“.21 Wo dies zutrifft, da geht mit der nominalen Essenz eines Wesens auch eine reale einher. Trifft diese Analyse der Bedeutung von Vermögenszuschreibungen auch auf die für Lebewesen spezifischen Vermögen zu, so ist der Besitz eines auf bestimmte Weise strukturierten Körpers ebenfalls als es sentiell für das Lebewesensein anzusehen, insofern dieser nämlich die okkurente Basis dieser Vermögen darstellt. Welches genau des sen Beschaffenheit ist, bleibt Aufgabe der Biologie herauszufinden; doch diese Beschaffenheit stellt genau die Natur von Lebewesen im Lockeschen Sinne von „Natur“ dar. Auf die besondere Beschaffenheit der Körper von Lebewesen will ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Nur auf einen grund sätzlichen Punkt möchte ich verweisen, auf die Unterscheidbarkeit von organischen und anorganischen Bestandteilen in ihnen. Diese Unterscheidung geht auf Locke zurück.22 In erster Näherung sind organische Teile diejenigen Teile, die im anatomischen Bauplan eines Typs von Lebewesen beschrieben werden. Doch beschreiben solche Pläne die Struktur eines Lebewesenkörpers noch zu grob. Der Plan müsste eigentlich einen solchen Auflösungsgrad besitzen, dass in ihm auch die Zellen, die die Gewebe und Organe bilden, und die Makromoleküle, die diese Zellen bilden, in ihm dargestellt werden. Dann hätte man alle organischen Teile darin aufgeführt. Grund sätzlich sind organische Teile dadurch gekennzeichnet, dass sie als isolierbare konkrete Einzeldinge von Natur aus nicht anders denn als Teile oder Produkte der Lebewesen vorkommen, die sie jeweils enthalten.23 Ein solch detaillierter Bauplan lieferte eine genaue Be schreibung dessen, was Aristoteles in De Partibus Animalium als „tên [...] tou schêmatos morphên“24 eines Lebewesens bezeichnet und von der „Form“ (morphê, eidos) im Sinne des Wesens (ousia) dieses Lebewesens unterscheidet – d. h. die Beschreibung der kör perlichen Gestalt eines Typs von Lebewesen.
21 Mackie 1977, 102. 22 Vgl. Locke 1690, II 27, § 3 und 4. Dort unterscheidet er zwischen „particles“ und organischen Teilen wie „the wood, bark, and leaves etc., of an oak“, zu denen die Materieteilchen angeordnet sind. 23 Die Einschränkung „in nature“ bzw. „von Natur aus“ ist notwendig, da man mittlerweile organische Makromoleküle in vitro herstellen, aus einem Organis mus entnommene Zellen in vitro weiterhalten und vermehren, und einzelne Organe in vitro kurze Zeit funktionsfähig erhalten kann. 24 PA I 1, 640b34.
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(3.) Nach dieser Analyse der Vermögenszuschreibungen stellt sich ein Anschlussproblem: Es scheint, als wäre der Begriff der Seele nun überflüssig für die Erklärung, aufgrund von was die Lebewe sen die Vermögen besitzen, die sie besitzen. Zumindest gilt dies für diejenigen Vermögen, die nach Aristoteles’ eigener Auskunft nicht vom Körper abtrennbar sind. Entsprechend überflüssig erscheint die Annahme der Beseeltheit dann auch für die Charakterisierung von Lebewesen. Alternativ könnte man die Seele als die Form von Le bewesen auch mit der zu entdeckenden Struktur des Körpers iden tifizieren, wie Martha Nussbaum dies tut, wenn sie bezogen auf die Seele als das eidos von Lebewesen sagt: „Form is not a constituent of the animal over and above its material constituents, it is the arran gement of the constituents themselves.“25 In beiden Fällen scheinen die Vermögen jedoch den Charakter von aktiven Vermögen zu ver lieren, den sie bei Aristoteles selbst noch zu besitzen scheinen. Viel mehr scheinen sie nunmehr genauso als passive Vermögen begrif fen zu werden wie die Dispositionen lebloser Dinge, die auf externe Auslöser hin mit der Manifestation ihrer Dispositionen reagieren. Heraus kommt dadurch ein mechanistischer Begriff von Lebewe sen, aus dem die Konnotation von Aktivität, die wir gewöhnlich mit ihm verbinden, getilgt ist. Es erübrigt sich dann letzten Endes auch eine begriffliche Differenzierung zwischen Lebewesen und organi schem Körper. Der biologische Begriff des „lebenden Systems“ legt davon ein Zeugnis ab. Mit anderen Worten: Während die Kennzeichnung von Lebe wesen durch die genannten Vermögen wohl unstrittig ist, ist die Natur dieser Vermögen allerdings strittig: Umstritten ist, ob diese als aktive Vermögen oder bloß als Dispositionen zu verstehen sind. Wie diese Frage beantwortet wird, hängt davon ab, wie „Aktivität“ und „Passivität“ jeweils definiert ist. Es gibt verschiedene Möglich keiten, diese Unterscheidung zu machen: (i) Eine besteht darin, ein aktives Vermögen schlicht als das Vermögen einer Substanz zu begreifen, eine Veränderung (an sich selbst oder einer anderen Substanz) zu bewirken.26 Die Manifesta tion dieses Vermögens muss aber nicht selbst-initiiert sein, sondern kann auf externen Stimulus hin erfolgen. Ein passives Vermö gen wäre die entsprechende Disposition, aufgrund seiner Natur
25 Nussbaum 1978, 73. 26 Vgl. Alvarez/Hyman 1998, 245.
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auf einen bestimmten Auslöser hin eine bestimmte Veränderung durchzumachen. Dies wäre aber ein recht billiger Begriff von aktivem Vermögen. In diesem Sinne kann man selbst einem Magneten das aktive Ver mögen zuschreiben, Eisenspäne anzuziehen. Zudem scheint diese Unterscheidung sich allzu oberflächlich an der sprachlichen Dar stellung von Veränderungen zu orientieren, indem sich die Aktivi tät und Passivität eines Vermögens lediglich daran bemisst, welche Substanz wir jeweils als die Agierende und als die etwas Erleidende beschreiben. Warum sollte aber z. B. das Vermögen von Wasser, Zu cker aufzulösen, als aktives beschrieben werden, und nur die Was serlöslichkeit von Zucker als passives? Determiniert die Natur von Wasser nicht in demselben Sinne wie die Natur von Zucker dies tut, dass sich die Wasserstoffbrücken zwischen den Molekülen dieser Substanzen reorganisieren, wenn sie miteinander in Kontakt kom men? Wo ist da die Aktivität der einen Substanz und die Passivität der anderen? (ii) Nach einem anderen Unterscheidungsvorschlag ist ein ak tives Vermögen eine Fähigkeit, von sich aus eine Veränderung anzustoßen oder eine Tätigkeit anzufangen, während ein passives Vermögen lediglich eine Disposition ist, als Wirkung einer äuße ren Ursache ein bestimmtes Verhalten zu manifestieren. Diese Un terscheidung impliziert, dass im ersten Fall das Wesen selbst unter geeigneten Umständen noch eine Wahl hat, ob es das betreffende Vermögen wirklich manifestiert oder nicht, während sich im andern Fall das Vermögen der Substanz unweigerlich manifestiert, wenn die geeigneten Manifestationsbedingungen eintreten. Gemäß die ser Definition stellen sowohl die Lösungsfähigkeit des Wassers, die Anziehungskraft des Magneten als auch die Löslichkeit des Zuckers bloße Dispositionen dar. Von welcher Art sind nun die Vermögen von Lebewesen? Sind sie passiver oder aktiver Natur? Eine begriffliche Differenzierung zwischen Lebewesen und organischem Körper ist nur dann sinnvoll, wenn man in dem Besitz des letzteren lediglich die Bedingung sieht, die es einem Wesen möglich macht, die Vermögen zu manifestie ren, die Lebewesen charakterisieren, ohne deren Manifestation zu determinieren, sobald geeignete Umstände eintreten. In diesem Fall wird der organische Körper bloß als „capable of supporting the functions whose exercise constitutes living for a living being“27 auf 27 Furth 1988, 154. Erste Hervorhebung von mir.
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gefasst. Dann kann nicht von ihm prädiziert werden, dass er diese ausführt, sondern nur vom Lebewesen. Das heißt: Nur jemand, der die charakterisierenden Vermögen von Lebewesen (oder wenigstens einige davon wie z. B. das Vermögen zur Fortbewegung) als Fähig keiten zu von ihnen aus initiierten Aktivitäten begreift, hat Grund, Lebewesen nicht bloß als besonders kompliziert aufgebaute Körper zu verstehen, sondern als Wesen, die einen solchen Körper haben. In diesem Fall können die Vermögen nämlich nur den Lebewesen zugeschrieben werden, nicht ihren Körpern. Denn es ist eine be griffliche Wahrheit über Körper, dass ein Körper nicht von sich aus aktiv wird; was umgekehrt zur Folge hat, dass wir etwas, von dem wir meinen, dass es von sich aus aktiv wird, niemals bloß als einen Körper ansehen können. Hier wäre der Rückgriff auf eine Seele als Erklärungsgrund für den Besitz eines Vermögen angebracht und nicht verzichtbar. Aristoteles scheint bezüglich dieser Frage davon auszugehen, dass es bei Lebewesen zwar den Anschein von Aktivität gibt, dem er Rechnung trägt, indem er Lebendigkeit und Beseeltheit gleichsetzt, dass dieser Anschein jedoch andererseits auch als solcher entlarvt werden kann. Denn wo er kann, bemüht er sich um mechanistische Erklärungen der Lebensphänomene; so z. B. bei seiner Erläuterung, inwiefern die Selbstbewegung von Tieren einerseits Selbstbewe gung ist, andererseits aber doch außeninduzierte28, oder in seiner Er klärung, wie die „Wesensform“ über den Samen vom Elternteil auf den Nachkommen übertragen wird. Dagegen ist der Anschein, dass er Lebewesen aktive Vermögen – „a capacity for certain self-initiated activities“29 – zubillige, möglicherweise nur eine Folge seiner durch gehend aktiomorphen Redeweise. Denn es ist zu bezweifeln, dass ir gendein Wesen, das nicht Denkvermögen und Willen besitzt, wirklich ein aktives Vermögen in diesem gehaltvolleren Sinne haben kann.30
28 Vgl. Phys. VIII 2, 252b-253a; 4, 254b und 255a sowie 6, 259b. 29 Furth 1988, 151. 30 Immerhin scheint eine gewisse Parallele zwischen Handlungen, die Menschen ausführen, und gewissen „Tätigkeiten“ (praxeis) von Tieren wie Atmen, Su chen oder Aufnehmen von Nahrung darin zu bestehen, dass dies ebenfalls Dinge sind, die sie tun, die ihnen weder widerfahren noch bloße, an, mit oder in ihnen sich vollziehende Prozesse darstellen. Wo immer der Organismusbegriff als Gegenbegriff zum Mechanismusbegriff verwendet wird, geschieht dies im Namen dieses Moments des (Selbst-)Tätigen, Aktiven, das in jedem Tun liegt, durch welches sich Lebewesen von mechanischen Konstruktionen, Maschinen und anderen leblosen Dingen abheben.
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III. Zur Natur der Persistenz von Lebewesen Wie muss nun, ausgehend von der bisherigen Analyse der Natur von Lebewesen, ihre Persistenz bestimmt werden? Von Aristote les stammt das Diktum „Zu sein heißt für Lebewesen: zu leben.“31 Geläufig ist die lateinische Übersetzung: vivere viventibus est esse. Diese bekannte aristotelische Formel besagt zweierlei: Zum einen ist Leben danach eine charakteristische Form von Persistenz, eine Weise zu sein: diejenige, die die darum „Lebewesen“ genannten Kontinuanten auszeichnet. Auf der anderen Seite kann man diese Formel so interpretieren, dass sie nicht nur besagt, dass für Lebewe sen Persistieren Leben bedeutet, sondern auch umgekehrt: dass für sie zu leben nichts anderes bedeutet als zu persistieren. Mit der aristotelischen Feststellung, dass für Lebewesen zu sein zu leben heißt, ist zwar die differentia specifica der Lebewesen be nannt, doch ist mit dieser Auskunft noch kein großer Analysefort schritt verbunden. Vielmehr muss jetzt expliziert werden, was es heißt zu leben. Aristoteles’ Ausführungen über den Begriff der Seele als dem Wesen der Lebewesen lassen sich so zusammenfassen, dass er den Begriff der Seele als Inbegriff der charakteristischen Vermögen von Lebewesen fasst. Sein Begriff des Lebewesens ist der eines des Le bens fähigen Wesens, welches bestimmte, es als ein solches Wesen kennzeichnende Vermögen besitzt. Zugleich definiert er Leben als eine Aktivität (energeia). Dies ist in zweierlei Sinn verstehbar: (i) Zum einen bedeutet danach zu leben tätig zu sein, das heißt genauer, mindestens eines der für Lebewesen charakteristischen Vermögen zu manifestieren, wie das zu vernunftgeleitetem Han deln, zu Sinneswahrnehmung und Fortbewegung, zur Nährstoff aufnahme und -verwertung oder zur Reproduktion. Das Leben eines Wesens besteht danach in dem Vollzug solcher Tätigkeiten. Würde man jedoch die Persistenz von Lebewesen strikt an die aktuelle Manifestation solcher Vermögen binden, so könnte man strenggenommen nur sagen, dass ein Lebewesen persistiert, solange es in einer dieser Hinsichten aktiv ist, d. h. solange es irgendeines der Vermögen auch aktuell manifestiert. Manchmal ruhen Lebewe sen aber, und dennoch sagen wir, dass sie während dieser Phasen am Leben sind. Dies macht es notwendig, von der aktuellen Manifesta tion der Lebensfähigkeit auf den (aktuellen) Besitz zurückzugehen. 31 Vgl. De an. II 4, 415b13: to de zên tois zôsi to einai estin.
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(ii) Man kann daher die aristotelische Bestimmung des Lebens als einer energeia auch als abstrakte Klassifikation des Lebens als „Aktivität“ im Sinne eines andauernden Zustands der Aktualisiert heit der Lebensfähigkeit eines Wesens verstehen. Ein Wesen wäre danach am Leben, wenn und solange es das Vermögen zu leben aktuell besitzt. Hierin besteht der zweite Sinn, in dem vom Leben eines Wesens als einer energeia die Rede sein kann: Solange ein We sen im Zustand aktueller Lebensfähigkeit verbleibt, ist es am Leben und persistiert, ob es die Tätigkeiten, in denen das Leben besteht, nun gerade ausführt oder nicht. Man muss sich, getreu der obigen Unterscheidung von Vermö gen und okkurenter Basis eines Vermögens, auch fragen, worüber dieser Zustand superveniert. Dies lenkt den Blick wieder auf die Körper von Lebewesen. Worin besteht es, in einem lebensfähigen Zustand zu verbleiben? Insofern die besondere Organisation des Lebewesenkörpers die okkurente Basis der Vermögen eines Lebewe sens bildet, die unter dem Inbegriff der Lebensfähigkeit zusammen gefasst werden, liegt es nahe zu sagen: Die Persistenz eines Lebewe sens besteht in der Persistenz eines Körpers von einer bestimmten Organisation. Die Persistenz von Lebewesen würde dabei ganz in Analogie zur Persistenz lebloser, strukturierter Dinge begriffen. Auf diesen Versuch, die Persistenz von Lebewesen zu bestim men, ist jedoch als erstes zu entgegnen, dass sich auf diese Weise bestenfalls die Persistenz von adulten Lebewesen fassen ließe, die anatomisch stabil bleiben. Denn die organisierten Körper, die der aktuellen Fähigkeit eines Wesens zugrunde liegen, die Tätigkeiten auszuführen, in denen das Leben besteht, existieren im Falle viel zelliger Lebewesen typischerweise erst am Ende eines Differenzie rungs- und Wachstumsprozesses, im Verlaufe dessen sich aus einer Zelle ein solcher Körper entwickelt. Die Bindung der Persistenz von Lebewesen an die Persistenz von organischen Körpern von je artty pischer anatomischer Organisation hätte zur Folge, dass die Keime von Lebewesen nicht als Lebewesen betrachtet werden könnten. Denn nach dieser Bestimmung begänne erst dann ein Lebewesen zu existieren, wenn ein Wesen mit einem Körper zu existieren beginnt, der die Beschreibung des arttypischen Körperbauplans erfüllt – also erst gegen Ende der Keimesentwicklung.32 32 Das Problem, welcher Zeitpunkt im Kontinuum des Fortpflanzungsgeschehens vielzelliger Lebewesen als der Beginn des Lebens eines neuen Individuums der nächsten Generation zu beurteilen ist, wird dadurch generiert, dass die Kei
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Aristoteles geht jedoch einen anderen Weg: Er fasst auch die Keime von Lebewesen als des Lebens fähige Körper auf.33 In die sem Fall ist jedoch von der Lebensfähigkeit des Körpers in einem anderen Sinn die Rede als im Falle des organisierten Körpers eines adulten Lebewesens.34 Hier meint sie: Ein Keim ist befähigt dazu, die Lebensfähigkeit in vollendeter Form auszubilden, obwohl er sie aktuell noch nicht oder nur in ganz und gar unvollkommener Form besitzt. Er besitzt aktuell nur die Anlage. Diese Unterscheidung von unvollkommenen und vollkomme nen Gestalten und Vermögen ist geeignet, die Spannung zu über winden, die sich dadurch ergibt, dass für unsere Begriffe von Lebe wesen die jeweiligen adulten Formen, die vollständig ausgereiften Lebewesen mit ihrer Gestalt und ihren Vermögen, paradigmatisch sind, während den Keimen dieser Wesen diese Vermögen und diese Gestalt gerade fehlen. Dies ist es, was uns zögern lässt, sie als Lebe wesen und genuine Artmitglieder zu betrachten. Indem man sie in des als unvollkommen ausgebildete Lebewesen begreift, führt man eine Graduierung ein, die die Dichotomie von „ist ein Lebewesen“ oder „ist kein Lebewesen“ überbrückt. Sie erlaubt es, auch die em bryonalen Formen unter den Begriff der jeweiligen Lebewesenart zu subsumieren, obwohl sie ihrer aktuellen Gestalt und ihren aktu ellen Vermögen nach eigentlich nicht darunter fallen können, da sie die Merkmale des Artbegriffs häufig nicht erfüllen. Begreift man aber Keime als Lebewesen, wenn auch unvollkom men entwickelte, so heißt dies für die Bestimmung des Anfangs der Persistenz eines Lebewesens: Dafür, dass ein Lebewesen zu existie ren beginnt, genügt es, dass ein Wesen zu existieren beginnt, dem man die Disposition zuschreiben kann, sich zu einem der Manifes tion der charakteristischen Vermögen von Lebewesen aktuell fä higen Wesen zu entwickeln.35 Die Sortale, mit denen wir auf Em
mesentwicklung gerade der Prozess ist, in welchem sich eine (auf dem Wege ungeschlechtlicher oder geschlechtlicher Fortpflanzung entstandene) einzelne Zelle zu einem ausgewachsenen, adulten Lebewesen der jeweiligen Art ausdif ferenziert; während für unsere Begriffe von Lebewesen die jeweiligen adulten Formen, die vollständig ausgereiften Lebewesen mit ihrer Gestalt und ihren Ver mögen, paradigmatisch sind. 33 Siehe De an. II 1, 412b26 f. 34 Vgl. Mourelatos 1993, 385-388. 35 Heute, da wir den Mechanismus der Vererbung kennen und wissen, dass allen Mitgliedern einer Art ein spezifisches Genom gemeinsam ist, ist die okkurente Basis, auf deren Grundlage einem Wesen diese Disposition zugeschrieben wird,
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bryonalstadien Bezug nehmen, wären damit als Phasensortale zu interpretieren: Sie bezeichneten danach ein und dasselbe Exemplar einer bestimmten Lebewesenart in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung und nicht etwa Vorstufen davon. Über die ontologischen Probleme hinaus, vor die die ontogene tische Entwicklung von vielzelligen Lebewesen uns stellt, gibt es einen ganz grundsätzlichen Kritikpunkt daran, die Persistenz von Lebewesen in Analogie zur Persistenz lebloser Dinge als das Fort bestehen einer bestimmten Materie-Konfiguration zu definieren. Diese Analogie verdeckt nämlich gerade das wesentliche Merkmal, durch das sich die Persistenz der organisierten Körper von Lebe wesen von der aller leblosen Dinge unterscheidet: dass sie nämlich „objects in flux“36 sind, im Materiefluss befindliche Körper. Die or ganisierten Körper von Lebewesen warten mit der Besonderheit auf, dass ihre organischen, anatomisch beschreibbaren Teile, die in jener Analogie den Komponenten zusammengesetzter Dinge gleichge setzt werden, nur scheinbar dieselbe Art von materieller Stabilität aufweisen wie diese, während die Ähnlichkeit der Kontinuität der aus diesen organischen Teilen bestehenden organisierten Körper mit der Kontinuität zusammengesetzter Dinge kein Schein ist. Erst die Kombination beider Momente macht das Besondere der Persis tenz der organischen Körper aus.37 Einerseits besteht die Persistenz des organisierten Körpers eines Lebewesens in der Fortdauer seiner bestimmten körperlichen (anatomisch beschreibbaren) Organisati on, während diese Organisation ihrerseits jedoch durch einen kon tinuierlichen Fluss von Molekülen hindurch persistiert. Kontinuität der Organisation des Körpers gerade durch ständigen Wechsel des Stoffs – das ist die Form von Persistenz, durch die Lebewesen sich von allen leblosen Dingen unterscheiden. Mit dem Vermögen, sich durch Regeneration der Bestandteile, aus denen die kontinuierlich fortexistierenden Körperteile bestehen, im Dasein zu erhalten, ist die grundlegende Eigenschaft genannt, die es erlaubt, Lebewesen als eine eigene Kategorie des Seienden von leblosen Entitäten abzugrenzen. Darüber hinaus lässt sich aus
dass es aus speziellen Zellen hervorgegangen ist und einen vollständigen Chro mosomensatz des betreffenden artspezifischen Genoms enthält. 36 Simons 1987, 124. 37 Siehe ebd., 354: „In a highly complex case like that of an organism [...] the in dividual is neither something purely inert [...], nor a pure disturbance [...], but combines features of both.“
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gehend von diesem Vermögen auch ein einfacher Sinn von Aktivi tät entwickeln: Von der Warte der Thermodynamik aus betrachtet, besteht der „Witz“ der Regeneration der Körperbestandteile dar in, dass der Körper dadurch in einem Zustand fernab des thermo dynamischen Gleichgewichts verbleiben kann. Dies bedeutet, dass Lebewesen Energie speichern können, so dass sie beispielsweise eigene mechanische Kraft entwickeln können, die keine Funktion auf sie einwirkender physikalischer Kräfte ist. Das Verhalten leb loser Naturgegenstände ist dagegen stets lediglich eine Funktion auf sie einwirkender Kräfte. Für ein Lebewesen ist dagegen cha rakteristisch, „that it reacts to external stimuli rather than being passively compelled by them.”38 In dieser „Unverhältnismäßigkeit“ von Umwelt-Reiz und daraufhin gezeigtem Verhalten eines Lebe wesens, das hochgradig von bestimmten inneren Bedingungen ab hängig ist, steckt ein Moment von Aktivität, das allen Lebewesen eignet. Die Fokussierung auf das Vermögen zur Selbsterhaltung durch Selbst-Regeneration als der Essenz von Lebewesen ist dem Ziel ge schuldet zu benennen, was alle Lebewesenformen vom einfachen Bakterium bis zum Menschen gemeinsam haben:39 den physischen Aspekt ihrer Persistenz. In dieser Bestimmung musste von den gewal tigen Unterschieden in der Weise, wie Lebewesen dieses Vermögen im einzelnen realisieren, abstrahiert werden. Die weiteren, schon von Aristoteles ansatzweise als „Tierseele“ und „Vernunftseele“ systematisierten Vermögen dienen dazu, verschiedene Lebensfor men anhand der für sie spezifischen Vermögen(skonstellationen) voneinander zu unterscheiden. In diesem Sinne gibt es letztlich für jede Lebewesenart eine für sie spezifische Art und Weise zu leben.
38 Lewontin 2000, 93. 39 Die hier vorgetragene, stoffwechsel- und organismusorientierte Lebewesendefi nition schließt Viren von den Lebewesen aus.
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Physikalismus und Biologie Alte und neue Fragen
Ich möchte im Folgenden anhand der Diskussion von ein paar wenigen, sowohl „alten“ als auch „neuen“ philosophischen bzw. philosophisch relevanten Fragen zum Verhältnis von Physikalismus und Biowissenschaften nicht nur daran erinnern, dass die physikalistische Weltauffassung − diesbezüglich wird man vielleicht schon gleich zu Beginn meiner Überlegungen zu widersprechen geneigt sein − eine zentrale metaphysische Hintergrundannahme auch in den modernen Biowissenschaften darstellt, sondern darüber hinaus die Auffassung verteidigen, dass der Physikalismus gegenwärtig speziell in diesem Bereich als eine durchaus erfolgreiche Forschungsheuristik avanciert. Ich nenne diese Behauptung die These von der fruchtbaren „Physikalisierung“ der Biologie. Meine Überlegungen sollen insgesamt vor allem als Einwand bzw. Widerspruch gegen philosophische Beiträge verstanden werden, mit denen in jüngster Zeit der, wie ich finde, die wahrhafte Sachlage verkennende Versuch unternommen wurde, eine „post-physikalistische“ Ära einzuläuten.1 Es geht mir darum, die Aufmerksamkeit speziell auf die Tatsache zu lenken, dass die gegenwärtigen Erkenntnisfortschritte innerhalb ausgewählter Forschungszweige der Biologie, wie etwa der Molekulargenetik, vor allem aber der Nano- und der Neurobiologie, hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass diese Spezialdisziplinen eine mehr oder weniger latente physikalistische Grundorientierung aufweisen − und dies nicht allein im Bereich der Methoden.2 Ich schließe mich dabei insgesamt der häufig in der Kritik stehenden Überzeugung an, dass die traditionelle Dichotomie von Biologie resp. Lebenswissenschaften auf der einen und Physik auf der anderen Seite schon in naher Zukunft immer deutlicher an Berechtigung verlieren wird, behaupte allerdings zugleich, dass da1 Knaup/Müller/Spät 2011. 2 Dazu unten Abschnitte 6.2 und 6.3. Zum Physikalismus in den Neurowissenschaften auch die Beiträge in Köchy/Stederoth 2006.
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mit der Status der Biologie als einer autonomen Wissenschaft vom Organischen nicht zwangsläufig infrage gestellt werden müsste. Die ersten drei der nachfolgenden sieben Fragen thematisieren die Kerninhalte der philosophischen Debatte, die speziell ab den 1930er Jahren über den Physikalismus und die vermeintliche Sonderstellung der Biologie geführt wird. In den Fragen 4 und 5 erörtere ich allgemein die Charakteristika des nichtreduktionistischen Emergenz- sowie des Supervenienzphysikalismus als prominenten Beispielen von Physikalismuskonzepten neueren Datums. Im Rahmen der sechsten Frage werde ich auf den heuristischen Wert der gegenwärtig insbesondere in den Nanobiowissenschaften sowie der kognitiven Neurobiologie konkret anzutreffenden minimal-physikalistischen Grundeinstellung eingehen. In der siebten Frage greife ich abschließend jüngere philosophische Beiträge zu der Frage nach einer möglichen Beziehung zwischen dem modernen physikalistischen Supervenienzmodell und der Leib-Seele-Theorie der aristotelischen Metaphysik auf.
1. Wie definiert die wissenschaftliche Weltauffassung die Beziehung zwischen Physik und Biologie? Das Verhältnis von moderner Biologie und Physik wird insbesondere seit den wissenschaftstheoretischen Debatten des Wiener Kreises in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr kontrovers diskutiert. Die Vertreter dieser unter dem Namen „logischer Positivismus“ bekannten anti-metaphysischen, gleichwohl aber philosophischen Strömung − allen voran der Philosoph Rudolf Carnap − vertraten die von Anbeginn sehr umstrittene Auffassung, die Objektsätze aller Wissenschaften müssten einheitlich in der intersubjektiven Sprache der Physik abzufassen sein, um überhaupt als „wissenschaftlich“ gelten zu können.3 Otto Neurath, ursprünglich Ökonom, bezeichnet in diesem Kontext den Standpunkt, als Aussagensystem einer den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften aufhebenden Einheitswissenschaft könne nur das räumlich-zeitliche System der Physik infrage kommen, als „Physikalismus“.4 Sowohl er als auch Carnap räumen allerdings ein, dass es für den Physika3 4
Siehe Carnap 1931, 448. Vgl. Neurath 1931, 397 f.
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lismus im Grunde nicht darauf ankomme, welche die tatsächliche Sprachform der Physik sei.5 In einem weiten Sinne soll es sich, wie Carnap ausdrücklich betont, bei der physikalischen Sprache der Einheitswissenschaft um „diejenige Sprachform, die die Physik in irgendeinem Entwicklungsstadium jeweils anwenden wird“6, handeln. Der Physiker und Philosoph Moritz Schlick, ebenfalls ein bedeutender Vertreter der sogenannten „wissenschaftlichen Weltauffassung“, beschreibt vor diesem Hintergrund die maßgebliche Problemlage, die dem bis heute noch nicht eingelösten Anspruch des Wiener Kreises mit Blick auf das einheitswissenschaftliche Programm zugrunde liegt, folgendermaßen: „Die Naturwissenschaften pflegen in die organischen (Biologie) und anorganischen Naturwissenschaften geteilt zu werden. Letztere lassen sich alle auf eine einzige reduzieren, auf die Physik. [...] Übrig geblieben als noch nicht aufeinander reduziert sind die Idealwissenschaften (Mathematik und Logik), Physik, Biologie und Psychologie.“7 Eine Wissenschaft auf eine andere zu reduzieren soll hier, grob gesprochen, bedeuten, dass die Theorien der zu reduzierenden Wissenschaft W1 aus den Theorien derjenigen Wissenschaft W2 logisch ableitbar sein müssen, auf die W1 letzten Endes reduziert werden soll.8 Schlick bemängelt demzufolge, dass es in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht gelungen ist, einen derartigen logischen Zusammenhang zwischen allen Arten von Einzelwissenschaften herzustellen, sondern nur unter denen, welche den nicht lebendigen Teil der Natur zum Gegenstand haben − etwa wie im Fall der Reduktion oder, besser gesagt, der „Mikro-Reduktion“9 weiter Teile der Chemie auf die Physik10 sowie auch − physikintern − der phänomenologischen auf die statistische Thermodynamik. Er 5 6 7 8
Vgl. ebd., 398. Carnap 1931, 442. Vgl. Schlick 1986, 57. Zum klassischen Reduktionskonzept siehe Nagel 1949. Eine ausführlichere Dar stellung erfolgt in Nagel 1961. 9 Im Rahmen einer „Mikro-Reduktion“ sollen theoretisch höherstufige Merkmale mit Hilfe von Merkmalen niederer Stufe erklärt werden. Dazu ist es in erster Linie erforderlich, Gesetzmäßigkeiten, die auf der makroskopischen Ebene gel ten, auf Gesetze der Mikroebene zu reduzieren. 10 Bezüglich der Frage der Reduktion von Chemie auf Physik erklärt Primas einer seits, dass chemische Phänomene zwar erst mit Hilfe der Quantenmechanik zu verstehen sind, äußert aber andererseits Zweifel an der vollständigen Reduzier barkeit der Chemie auf die Physik (s. Primas 1985).
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ist jedoch felsenfest davon überzeugt, dass darüber hinaus auch die disziplinäre Abgrenzung zwischen einerseits den Wissenschaften vom Organischen und andererseits der Physik aus einem einfachen Grund früher oder später durchbrochen werden kann: „Man kann nicht sagen, daß die Biologie und die Physik völlig unverbunden nebeneinanderstehen, denn die Biologie handelt von lebenden Wesen, diese bestehen aus Körpern, diese wieder unterstehen den Gesetzen der Physik; [...].“11 Die Hoffnung, die Biologie könnte irgendwann einmal in diesem Sinne auf die Einheitswissenschaft Physik „reduzierbar“ sein, erscheint angesichts der rasanten Erkenntnisfortschritte etwa im Bereich der Nanobiowissenschaften nun heutzutage durchaus berechtigter als noch vor rund 80 Jahren. Gleichwohl gilt das Vorhaben einer vollständigen Reduktion biologischer Aussagen auf physikalische Erklärungen sowohl unter Philosophen als auch Biologen noch immer nicht als sonderlich aussichtsreich. Es werden von beiden Seiten dementsprechend eine ganze Reihe von Gründen für die vermeintliche Nichtreduzierbarkeit der Biologie angeführt.
2. Kann die Biologie eine Sonderstellung gegenüber der Physik beanspruchen? Die Möglichkeit einer vollständigen Integration der Biologie in die Physik qua epistemologischer Reduktion − so wie in den 1930er Jahren im Umfeld des Wiener Kreises angedacht – wird bis heute von nicht wenigen Philosophen und Biologen angezweifelt. Die Kritiker des Reduktionsansatzes gehen prinzipiell davon aus, dass erstens biologische Vorgänge gegenüber physikalischen Prozessen vollständig autonom sind und dass zweitens Aussagen über „Organisches“ (Lebewesen, Ökosysteme usw.) nicht auf Beschreibungen oder Erklärungen der „anorganischen“ Naturwissenschaften − um bei der Terminologie Schlicks zu bleiben − reduziert werden können, ohne damit einen Kategorienfehler zu begehen. Drittens würde im Rahmen einer rein physikalischen Beschreibung des Lebendigen auf alle bislang nichtphysikalischen Inhalte resp. Begriffe verzichtet werden müssen, auch auf die Gefahr hin, dadurch wesentliche
11 Vgl. Schlick 1986, 58.
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Merkmale und Eigentümlichkeiten biologischer Prozesse ganz aus dem Blick zu verlieren. So verortet etwa der Biologe Ernst Mayr die Biologie seit ihrem ersten Auftreten als Wissenschaft im 19. Jahrhundert zwar im Bereich der Naturwissenschaften, zählt sie aber dennoch nicht mit zu den exakten resp. mathematischen Wissenschaften. Die Autonomie der Biologie gründet seiner Ansicht nach vor allem darin, dass Lebewesen einer doppelten Kausalität unterliegen: „Für sie gelten einerseits die Gesetze der Physik, doch erschließen sich gerade ihre Eigentümlichkeiten wie Evolution und Anpassung erst durch historische Analyse. Hierdurch verbindet die Biologie in einzigartiger Weise Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, so daß ihr eine Schlüsselstellung für die Philosophie zukommt.“12 Die Sonderstellung der Biologie im Kanon der übrigen Naturwissenschaften wird von Mayr demzufolge auf eine Eigentümlichkeit zurückgeführt, die sich nicht in der Aufstellung eines besonderen Typs von ausschließlich im Bereich des Organischen geltenden empirischen Gesetzen manifestiert, sondern im Gebrauch besonderer, für die lebenswissenschaftliche Forschungsarbeit unerlässlicher Konzepte, wie Populationsdenken, Evolution, Diversität, Kontinuität, Homöostase usw.13 Der Verweis auf die Besonderheiten auf grundbegrifflicher Ebene scheint ausgezeichnet dazu geeignet, quasi a priori für die Beibehaltung des Prinzips der Autonomie des Biologischen − und mithin der Biologie − zu argumentieren. Der Biologe und Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits spricht in diesem Zusammenhang explizit von einer „Zentralstellung der Biologie unter den Wissenschaften“14. Seiner Ansicht nach 12 Mayr 2002a, 23. 13 Vgl. ebd. Mayr unterscheidet genauer zwischen einer „funktionalen“ und einer „historischen“ Biologie. Während die funktionale Biologie die physiologischen Prozesse lebendiger Organismen zum Gegenstand hat, beschäftige sich die Evolutionsbiologie als historische Wissenschaft „mit weitgehend einzigartigen Phänomenen wie etwa dem Aussterben der Dinosaurier, dem Ursprung der Menschen, der Entstehung evolutionärer Neuheiten, der Erklärung evolutio närer Tendenzen und der Geschwindigkeit von Evolution sowie der Erklärung organischer Vielfalt. Im Mittelpunkt steht dabei der Versuch, Antworten auf Warum-Fragen zu geben. Experimente sind gewöhnlich nicht geeignet, um Fra gen nach der Evolution zu beantworten. [...] Für diesen Teil der Biologie, die Evolutionsbiologie, ist die wichtigste heuristische Vorgehensweise die Methode der historischen Rekonstruktion.“ (Mayr 2002a, 27 u. 29) 14 Wuketits 1983, 17.
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fungiert die Biologie gewissermaßen als Knotenpunkt zwischen einerseits Natur- und andererseits Geisteswissenschaften, weil sie nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch den (forschenden) Menschen in ihr Theoriengebäude integriert.15 Darüber hinaus werden Wuketits zufolge oftmals weitere Argumente angeführt, warum der Umsetzung einer Reduktion der Biologie auf die Physik klare Grenzen gesetzt seien. Häufig werde als Grund angegeben, dass die Gegenstände und Gegenstandsfelder der Biowissenschaften einen hohen Komplexitätsgrad aufweisen und im Unterschied zu den unbelebten und in aller Regel weniger komplexen Objekten der physikalischen Wissenschaften einer höheren Integrationsebene zuzurechnen sind. Ein nicht minder beliebtes Anschlussargument laute, es sei aufgrund fließender Übergänge schwer, wenn nicht sogar unmöglich, eine scharfe Trennlinie zwischen den heterogenen biologischen Objektfeldern zu ziehen. Als epistemologische Konsequenz dieser primär ontologischen Unschärfe könnten biologische Begriffe, Phänomene und Prozesse nicht im Sinne einer exakten Definition nach dem Vorbild der Physik bestimmt werden.16 Für den Philosophen Arno Ros steht bei der Frage der Reduzierbarkeit der Biologie demgegenüber eine ganz andere Schwierigkeit im Vordergrund. Er verweist darauf, dass Biologen die Verhaltensweisen von Lebewesen üblicherweise entweder a) behavioristisch, also als Reaktion auf einen einwirkenden Reiz, oder b) teleonomisch, d. h. auf die Erfüllung bestimmter Zwecke hin ausgerichtet, erklären. Im Bereich der physikalischen Wissenschaften seien aber, so betont Ros, weder die behavioristische noch die teleonomische Erklärungsweise zulässig.17 Dass die Biologie ihre unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten begründbare Sonderstellung unter den Wissenschaften bis in die Gegenwart hinein erfolgreich behaupten und sich bisherigen physikalistisch motivierten Reduktionsversuchen erfolgreich widersetzen konnte, dürfte jedoch letztlich darauf zurückzuführen sein, dass wir, wie auch der Phänomenologe und Wissenschaftstheoretiker Alwin Diemer anmerkt,18 spätestens seit der für die neuzeitlichen Wissenschaften einschlägigen mechanistischen Wende nicht mehr über einen einheitlichen Naturbegriff verfügen, der gleichermaßen 15 16 17 18
Vgl. ebd., 25. Vgl. ebd., 13 ff. Ros 2008, 170. Vgl. Diemer 1964, 564 f.
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die Phänomene des Lebendigen und die des Nichtlebendigen umfassen kann. Mit anderen Worten: Es existiert keine gemeinsame, sozusagen in ontologischer Hinsicht indifferente Naturvorstellung, die sowohl für den Biologen oder den Vitalisten auf der einen als auch den Physikalisten auf der anderen Seite in gewissem Sinne „verbindlich“ wäre, sondern es gibt seit Langem zwei miteinander konkurrierende Konzepte der Natur bzw. des Natürlichen. Aus dieser naturphilosophischen Perspektive heraus betrachtet wird unmittelbar deutlich, warum die beiden in aller Regel einander gegenübergestellten wissenschaftlichen Zugänge zur „Natur“ − nämlich die biologische und die physikalische Perspektive − sowie die damit einhergehenden unterschiedlichen Erklärungsweisen der natürlichen Tatsachen bislang als miteinander logisch unvereinbar gelten müssen. Speziell vor diesem Hintergrund kann abermals der Anspruch der Biowissenschaften auf eine autarke Form des Erklärens in Bezug auf den lebendigen Teil der Natur gerechtfertigt werden. Die zuletzt beschriebene Situation, in der sich die Biologie aktuell noch immer befindet, würde sich allerdings grundlegend verändern, wenn es, wie der Physikalismus fordert, in naher oder vielleicht auch erst in fernerer Zukunft gelänge, eine Einheitswissenschaft und infolgedessen schließlich doch einen einheitlichen Naturbegriff zu konstituieren.
3. Was will der Physikalismus? Die sozusagen „alte“ Fragestellung nach der Reduktion der Biologie auf die Physik zielt, so hat sich in der Beantwortung der zweiten Frage gezeigt, im Grunde darauf ab, einen fundamental-einheitlichen Naturbegriff im Sinne des physikalischen Naturverständnisses für die beiden bislang noch immer inhaltlich voneinander separierten Wissenschaftsbereiche zu etablieren. Die Vertreter der physikalistischen Weltauffassung gehen bis heute unisono davon aus, die Autonomie und der damit einhergehende Erklärungsanspruch der Lebenswissenschaften müssten spätestens dann ernsthaft in Zweifel gezogen werden, wenn das Nebeneinander der miteinander unvereinbaren Naturauffassungen einerseits der Biologie und andererseits der mechanistischen Physik aufgehoben werden könnte. Eine solche Aufhebung würde sich, auch darin besteht in der einschlägigen Debatte weitestgehend Konsens, insbesondere inhttps://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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folge des Nachweises erreichen lassen, dass auch die den Biologen bekannten Gesetze lediglich logische Konsequenzen von physikalischen Naturgesetzen sind − also qua epistemologischer Reduktion. Ein auf diesem Gebiet heutzutage führender Experte, der Philosoph Jaegwon Kim, definiert deshalb den Physikalismus folgendermaßen: „The core of contemporary physicalism is the idea that all things that exist in this world are bits of matter and structures aggregated out of bits of matter, all behaving in accordance with laws of physics, and that any phenomenon of the world can be physically explained if it can be explained at all.“19 Ursprünglich bestimmen auch Neurath und Schlick den Physikalismus im Wesentlichen mit Blick auf die Voraussetzung, dass für eine Beschreibung aller in der Erfahrung anzutreffenden Phänomene − gleich ob physikalischer, biologischer oder auch psychologischer Natur − die Begriffe und Gesetze einer vollständigen Theorie der anorganischen Welt hinreichen. Diese Auffassung deckt sich mit dem Inhalt des Postulats der explanatorischen Vollständigkeit der Physik. Schlick geht allerdings, wie auch alle späteren Physikalisten, darüber hinaus von der Geltung eines zweiten Grundsatzes aus, nämlich des Prinzips von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt.20 Die Grundidee dieses Prinzips lautet, dass sich alle beobachtbaren physischen Veränderungen an einem beliebigen körperhaften − mithin auch biologischen − Objekt Ω als besondere (Kraft-)Wirkungen K beschreiben lassen müssen, die von anderen physischen Gegenständen auf das betreffende Objekt Ω ausgeübt werden. Der Ausdruck „kausale Geschlossenheit“ steht demzufolge für die Aussage: Jede physikalisch bestimmbare Wirkung auf einen beliebigen Körper hat eine bestimmbare physikalische Ursache. „Explanatorische Vollständigkeit“ bedeutet demgegenüber, dass die Wechselwirkungen zwischen physischen Objekten ausnahmslos allgemeingültigen physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. „Physikalismus“ ist insofern zum einen der Name für die metaphysische These, dass alles Seiende seinem Wesen nach physikalisch ist und es in Wirklichkeit nur „eine Natur“ gibt, nämlich diejenige, die von der Physik beschrieben wird. Nach diesem Verständnis kommt allein der Physik, wie der Philosoph Tim Crane es ausdrückt,21 eine ontologische Autorität zu. Im Rahmen eines 19 Kim 2005, 149 f. 20 Siehe Schlick 1918, 258. 21 Siehe Crane 1994, 480.
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solchen ontologischen Physikalismus gelten vor allem biologische, aber darüber hinaus auch psychologische, moralische sowie soziale Vorkommnisse ihrem Wesen nach als physikalische Phänomene, die allenfalls aus der Sicht des menschlichen Beobachters nichtphysikalisch anmuten können. Zum anderen bezeichnet der Ausdruck „Physikalismus“ eine erkenntnistheoretische Position, der zufolge ein Pluralismus von wissenschaftlichen Theorien und Disziplinen speziell im Bereich der Naturwissenschaften aufgrund des Prinzips der explanatorischen Vollständigkeit der Physik vollkommen unnötig ist. Vom Standpunkt des epistemologischen Physikalismus aus ist deshalb vor allem das lex parsimoniae, auch bekannt als „Ockhams Rasiermesser“, argumentativ gegen die Annahme einer Autonomie der biologischen Erklärungen in Bezug auf einen vermeintlich ontologisch ausgezeichneten Bereich von „Naturdingen“, nämlich den Bereich des Lebendigen resp. Organischen, in Anschlag zu bringen. Strenge Befürworter einer autonomen Biologie hegen, wie nicht anders zu erwarten, durchgängig Zweifel sowohl an der Möglichkeit der epistemologischen als auch einer ontologischen Reduzierbarkeit des Organischen. Gleichwohl werden auch sie ehrlicherweise eingestehen müssen, dass die Physik, angefangen etwa bei der molekularen Biologie bzw. Genetik in den 1940er Jahren,22 über Jahrzehnte kontinuierlich Einfluss auf die biologischen Wissenschaften ausgeübt hat, wenngleich auch in erster Linie nur auf technischer und methodologischer Ebene. Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings die Akzeptanz auch des ontologischen Physikalismus − oder mit anderen Worten: die (Selbst-)Verpflichtung auf den physikalischen Naturbegriff − in bestimmten Zweigen der modernen Lebenswissenschaften als eine unter heuristischen Gesichtspunkten durchaus wertvolle Vorannahme. Denn nur dank der atomistischen Voraussetzung, dass die Vielfalt und Komplexität des Organischen auf eine anorganische Grundlage von möglichst großer Einfachheit zurückgeführt werden kann, ist überhaupt daran zu denken, dass die moderne Biologie den an sie gerichteten neuarti-
22 Selbst Spaemann kommt in seiner jüngsten Kritik des, wie er es nennt, „szientistischen Materialismus“ oder „szientistischen Monismus“ (Spaemann 2011, 10) nicht umhin, zwischen den Zeilen einzuräumen, dass die großen theoretischen Durchbrüche und technisch-praktischen Erfolge vor allem im Bereich der Ge netik, aber auch der Neurowissenschaften hauptsächlich der physikalistischen Grundhaltung der beteiligten Wissenschaftler zu verdanken sind.
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gen Herausforderungen hinsichtlich der zukünftigen molekularen Erforschung des Lebendigen begegnen kann, vor die sie vor allem angesichts revolutionärer Untersuchungstechniken im Bereich der Rastersondenmikroskopie gestellt wird.23 Obwohl das metaphysische Prinzip von der kausalen Geschlossenheit von den allermeisten Biowissenschaftlern längst uneingeschränkt akzeptiert wird, wenden einige der noch verbleibenden Kritiker der Anwendung des Reduktionismus auf die Wissenschaften vom Organischen hauptsächlich ein, dass das in sich geschlossene Weltbild der Physik allein aufgrund der willkürlichen Ausgrenzung von komplexen und eher regellos erscheinenden Vorkommnissen möglich geworden sei.24 Solchen „holistisch“ orientierten Physikalismus-Gegnern erscheint es zutiefst fragwürdig, dass ein derart „reduziertes“ Naturverständnis hinreichend sein soll, um von wissenschaftlicher Seite ausnahmslos allen Eigenheiten des Lebendigen, wie etwa der natürlichen Selektion und der genetischen Drift, speziell in explanatorischer Hinsicht gerecht werden zu können.25 Gewiss wird es auch unter den heutigen Anhängern des Physikalismus einige Traditionalisten oder Dogmatiker geben, die derlei − man möchte fast sagen: gebetsmühlenartig − vorgebrachte Einsprüche gegen die Reduktion der Biologie schlechthin abtun. Andere hingegen nehmen vor allem den zuletzt genannten Kritikpunkt durchaus ernst und vertreten einen gegenüber der klassischen Form sozusagen „gemäßigten“ Physikalismus, der sich nicht länger dem einheitswissenschaftlichen Gebot der Reduktion verpflichtet fühlt, sondern, wie von dem Physiker Helmut Schwegler und dem Philosophen und Hirnforscher Gerhard Roth vorgeschlagen,26 lediglich die explizite Forderung erhebt, „Wissenschaft ‚more physico‘ zu betreiben“27.
23 Das erste Raster-Tunnel-Mikroskop (RTM), das einen sozusagen „ersten Blick“ in die Welt der kleinsten Bausteine des Lebendigen ermöglichte, wurde im Jahre 1986 von H. Rohrer und G. Binnig erbaut. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre gelang es W. Heckl, aufsehenerregende RTM-Darstellungen der vier DNA-Ba sen zu erstellen. 24 Vgl. Köchy 1997, 62. 25 Vgl. Weber 2005, 73 f. 26 Siehe Roth/Schwegler 1995. 27 Schwegler 2001, 79.
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4. Was ist ein nichtreduktionistischer Physikalismus? Der Philosoph Achim Stephan betont, dass eine physikalische Erklärung biologischer Phänomene im strengen Sinne nur dann vorläge, wenn bio-systemische Eigenschaften ausschließlich auf physikalische Eigenschaften sowie auf spezifische Anordnungen der einzelnen Systemkomponenten zurückgeführt werden könnten.28 Zunehmende Kritik29 an dem Ende der 1940er Jahre entwickelten Grundkonzept der explanatorischen Reduktion hat inzwischen sogar unter den gegenwärtigen Verfechtern der physikalistischen Weltanschauung gewisse Zweifel an der Erfüllbarkeit dieser starken Reduktionsforderung in ihrer ursprünglichen Formulierung hervorgerufen. Sie haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, einen neuen Typ von Physikalismus zu konzipieren, der nicht zwangsläufig auf einen an und für sich unplausiblen Eliminativismus hinauslaufen muss.30 Im deutschsprachigen Raum unternehmen, wie schon gesagt, vor allem Roth und Schwegler den Versuch, eine der Grundannahmen des klassischen Physikalismus, nämlich die der explanatorischen Vollständigkeit der Physik, weitestgehend fallen zu lassen, stellen stattdessen die Orientierung an den methodischen Standards der Physik in den Vordergrund und definieren auf diese Weise den Standpunkt eines „nichtreduktionistischen“ Physikalismus. Bei der Fundierung dieser Physikalismusvariante stützen sie sich im Wesentlichen auf die Tatsache, dass nicht einmal die vom Wiener Kreis als Vorbild der Einheitswissenschaft gehandelte Physik über eine fundamentale Theorie verfügt, aus der alle ihre Bereichstheorien abgeleitet werden könnten. Insofern müsse, so das Hauptargument von Roth, sogar die Physik selbst − zumindest in epistemologischer Hinsicht − als nichtreduktionistisch aufgefasst werden.31
28 Vgl. Stephan 2005, 95 f. 29 Kim beispielsweise bemängelt in anderem Zusammenhang am klassischen Re duktionsansatz: „True, Nagel reduction gives us a simplified set of laws, through a derivational absorption of the laws of the reduced theory by the reducer. However, the simplicity so purchased may be largely illusory: the price paid is the addition of the bridge laws as new basic laws of the base theory, and moreover these laws, by bringing with them new descriptive terms, will expand both the language and ontology of the base theory.“ (Kim 1998, 97) 30 Vgl. Crane 1994, 479. 31 Siehe Roth 1994, 271 ff.
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Im Rahmen eines solchen „gemäßigten“ Physikalismus erübrigt es sich einerseits, die Wiener Tradition fortsetzend, prinzipiell Einsprüche gegen die Eigenständigkeit biologischer Theorien erheben zu müssen. Andererseits bleibt es ohne logische Einschränkung möglich, an dem metaphysischen Prinzip eines einheitlichen Wirkungszusammenhangs in der gesamten Natur festzuhalten. Der entscheidende Vorteil der nichtreduktionistischen Form gegenüber der von Carnap und Neurath beschriebenen klassischen Konzeption besteht also letztlich darin, dass die Annahme, biologische Theorien könnten niemals vollständig durch physikalische Theorien ersetzt werden, den Physikalisten dennoch keineswegs zu der Folgerung nötigt, biologische Phänomene könnten „in Wirklichkeit“ etwas vollkommen anderes sein als physikalische Phänomene. Um den von physikalistischer Seite postulierten universalen Wirkungszusammenhang genauer zu charakterisieren, machen einige wenige Vertreter des in epistemologischer Hinsicht abgewandelten Physikalismus von dem bereits im 19. Jahrhundert entwickelten Emergenzbegriff Gebrauch.32 Laut Kim kann der Emergentismus sogar als die erste systematische Formulierung eines nichtreduktionistischen Physikalismus gelten.33 Einer der Pioniere dieser Stoßrichtung, der Philosoph Charlie Dunbar Broad, versucht im Rahmen der von ihm gegenüber der mechanistischen Auffassung vom Organischen favorisierten Theorie des „Emergent Vitalism“34 dafür zu argumentieren, dass biologische Phänomene zwar aus physikalischen und chemischen Phänomenen emergieren, aber keinesfalls auf letztere reduzierbar sind. Tiefergehende Zweifel vor allem an der Kohärenz dieses ontologischen Emergenzkonzepts von Broad äußert demgegenüber wiederum Kim.35 Im Zentrum der Emergenzvorstellung steht die bekannte, in Anlehnung an Aristoteles häufig salopp formulierte These, ein Ganzes sei mehr als die Summe seiner Teile.36 Übertragen auf die „alte“ Frage nach dem Verhältnis von biologischen und physikalischen Vorkommnissen ermöglicht dieses Konzept dem gemäßigten Physi32 Siehe zu Emergenztheorien im 20. Jahrhundert und zu den Spielarten der Emer genz ausführlicher Stephan 2005. 33 Vgl. Kim 1994, 577. 34 Broad 1925, insb. 69 u. 93. 35 Siehe Kim 2009. 36 Genau heißt es in Met. VII 17, 1041b11-12: „Dasjenige, was so zusammenge setzt (sýnholon) ist, daß das Ganze eins ist, nicht wie ein Haufen, […] ist noch etwas anderes außer den Elementen.“ (Übers. Bonitz 1994)
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kalisten, die Existenz von autonomen und nicht-reduzierbaren oder „emergenten“ Zuständen oder Eigenschaften anzunehmen. Diese Merkmale sollen nur in komplexen biologischen Systemen insgesamt auftreten und nicht auf der Ebene der die organischen Systeme konstituierenden physikalischen Elemente beobachtbar sein. Ein solcher Emergenzphysikalismus erweist sich insofern einerseits vollends verträglich mit der Auffassung, für gewisse Systemzustände eines lebendigen Organismus sollten originär biologische Gesetzmäßigkeiten, aber nicht unbedingt physikalisch-exakte gelten müssen. Andererseits erhebt sich allerdings bei genauerer Betrachtung schnell der Verdacht, dass die Hypothese von der Existenz emergenter biologischer Phänomene, deren Entstehung aus den bekannten potentiellen physikalischen Ursachen mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht kausal erklärt oder, was laut dem Philosophen Sir Karl Raimund Popper im Prinzip dasselbe ist,37 nicht vorhergesagt werden kann, mehr oder weniger stillschweigend eine zumindest dualistische Ontologie resp. Metaphysik voraussetzt. Trifft dies zu, dann steht diese metaphysische Prämisse im Widerspruch zum physikalistischen Grundprinzip von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt, sodass die emergenztheoretische Spielart des nichtreduktionistischen Physikalismus streng genommen gar nicht als ein Physikalismus gelten darf.38 Ein „echter“ Physikalismus ist, woran auch der Philosoph Uwe Meixner nachdrücklich erinnert,39 vor allem ein ontologischer Monismus. Als eine demgegenüber speziell in dieser Hinsicht bessere Alternative präsentiert sich heutzutage vor allem der Supervenienz-Physikalismus.
5. Was will der Supervenienz-Physikalismus? Der Emergenzphysikalismus scheitert im Grunde an der logischen Paradoxie, einen ontologischen Pluralismus voraussetzen zu müssen, damit er die universale Geltung des physikalistischen Monismus begründen kann. Um einerseits dem zuvor skizzierten Widerspruch zu entgehen und um andererseits zugleich in explanatori37 Vgl. Popper 2005, 36 ff. 38 Gleiches würde, wie Crane zeigt, für die Verbindung von Physikalismus und Epi phänomenalismus gelten (vgl. Crane 1994, 483). 39 Vgl. Meixner 2011, 38.
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scher Hinsicht der Tatsache gerecht zu werden, dass die Zustände und Eigenschaften eines biologischen Systems insgesamt erfahrungsgemäß in bestimmter Abhängigkeit von den Zuständen, den Eigenschaften und der Anordnung seiner anorganischen Grundbausteine zu stehen scheinen, haben andere nichtreduktionistische Physikalisten nach einer geeigneten Alternativkonzeption gesucht. Die wohl meisten unter ihnen tendieren inzwischen dazu, den bislang nicht hinreichend erklärbaren Wirkungszusammenhang von Organischem und Nichtorganischem mit Hilfe der ursprünglich im Bereich der Moraltheorie resp. Metaethik eingeführten Idee der Supervenienz zu charakterisieren, die nach und nach schließlich auch im Rahmen der Behandlung von anderen grundlegenden Fragestellungen der Philosophie, wie etwa dem Leib-Seele-Problem, zur Anwendung gekommen ist. Als Grundthese des Supervenienzphysikalismus gilt gemeinhin die Aussage, dass alle in der Wirklichkeit gegebenen Vorkommnisse, Ereignisse, Zustände usw. auf dem Physikalischen supervenieren. Streng genommen darf Supervenienz allerdings, wie von Kim hervorgehoben wird, nur als eine zwischen zwei Eigenschaftsklassen bestehende Relation gedeutet werden. Vor diesem Hintergrund definiert er die Beziehung der Supervenienz auf zweifache Weise: „(I) Let A and B be sets of properties. A (strongly) supervenes on B iff, necessarily, for any F in A, if anything has F, there is a G in B such that the thing has G, and necessarily everything with G has F. (II) A (strongly) supervenes on B iff any two things (in the same or different possible worlds) indiscernible in B-properties are indiscernible in A-properties − that is, indiscernibility in respect of B-properties entails indiscernibility in A-properties.“40 Vereinfacht gesagt „superveniert“ eine Eigenschaftsklasse A über einer subvenienten Eigenschaftsklasse B dann, wenn es einen Unterschied in A nicht ohne einen Unterschied in der Supervenienzbasis B geben kann. Über die Natur dieser Abhängigkeit wird dabei nichts Näheres ausgesagt. Kim zufolge sind es im Wesentlichen drei Aspekte, die mit diesem Supervenienzkonzept unmittelbar verknüpft sind: 1. Kovariation der Eigenschaften: wenn sich Dinge nicht in ihren basalen Eigenschaften unterscheiden, dann unterscheiden sie sich auch nicht hinsichtlich ihrer supervenienten Merkmale; 40 Ebd., 272 f. (iff = if and only if).
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2. Dependenz: superveniente Eigenschaften sind abhängig von subvenienten Merkmalen bzw. durch diese determiniert; 3. Nichtreduzierbarkeit: die Beziehungen der Kovariation und Dependenz können auch dann vorliegen, wenn superveniente nicht auf subveniente Merkmale zurückführbar sind.41 Bei dieser allgemeinen Definition von Supervenienz spielt unverkennbar der Begriff der Veränderung eine zentrale Rolle, impliziert doch jegliches Auftreten von Unterschieden bezüglich A und B einen Prozess der klasseninternen (Ab-)Wandlung bzw. der Abfolge von diskretisierbaren Zuständen. Dass es sich beim Supervenienzkonzept insofern auch nur um ein Erfahrungskonzept und nicht etwa um ein Wissen a priori handeln kann, wird von Kim an anderer Stelle hervorgehoben.42 Unter Rückgriff auf die beiden vorgenannten Definitionen einer sogenannten „starken“ oder nomologischen Supervenienzrelation bietet sich nun dem gemäßigten Physikalisten die in explanatorischer Hinsicht durchaus nicht uninteressante Option, das Verhältnis von biologischen zu physikalischen Eigenschaften wie folgt zu deuten: „Für jedes biologische Merkmal β gilt: Wann immer ein Organismus O die Eigenschaft β aufweist, existiert eine physikalische Eigenschaft φ derart, dass O synchron auch φ aufweist.“ Die umstrittene monistische Redeweise, dass biologische Merkmale in Wirklichkeit physikalische Merkmale sind (im Sinne von „Identität“),43 wird so zu der These revidiert, dass physikalische Merkmale für biologische Eigenschaften konstitutiv sind. Die abstrakte Grundidee der Supervenienz wird in der Literatur oft am Beispiel einer aus einer großen Anzahl sehr kleiner heller oder dunkler Bildpunkte bestehenden Pixelmatrix illustriert. Je nach Beschaffenheit der einzelnen Pixel kann sich, aus hinreichender Distanz betrachtet, im Gesamteindruck ein Muster mit intrinsischen Gestalt-Merkmalen formieren.44 Dieser Fall soll zeigen, dass die Eigenschaften des jeweils entstandenen Bildmusters allein auf 41 Vgl. Kim 1994, 576. 42 Vgl. Kim 2011, 166. 43 Kim kritisiert an dieser allgemeinen Form der Identifikation: „The thought is that such property identities are necessary for the required microreduction to go through. Taking this identity approach, however, would force a reconstrual of the notions of microproperty and macroproperty; how could one and the same property be both a microproperty and a macroproperty?“ (Kim 1991, 260). 44 Die Frage, ob solche „Muster“ objektiv vorhanden sind oder sprichwörtlich nur „im Auge des Betrachters“ existieren, will ich an dieser Stelle nicht diskutieren.
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die Merkmale der Bildpunkte zurückzuführen sind. Doch dies ist, wie der Philosoph David Kellog Lewis erklärt, überhaupt nur aus einem Grund denkbar: „The picture reduces to the pixels. And that is because the picture supervenes on the pixels: there could be no difference in the picture and its properties without some difference in the arrangement of light and dark pixels. Further, the supervenience is asymmetric: not just any difference in the pixels would matter to the gestalt properties of the picture.“ 45 Aufgrund der Eigenschaften und der spezifischen Anordnung der Bildpunkte zueinander ergibt sich also in der subjektiven Wahrnehmung des Betrachtenden üblicherweise ein supervenierendes Muster, das aufgrund der Punktematrix „realisiert“ zu sein scheint. Diesen Effekt macht man sich im Alltag beispielsweise auch bei einem speziellen Sehtest zunutze, den der Augenarzt oder Optiker durchführt und bei dem üblicherweise Bilder des folgenden Typs verwendet werden:
Abb. 1: Mittig sollten einige Punkte die Wahrnehmung des Musters der Zahl 25 erzeugen.
Die erste und bereits erwähnte Implikation dieses anschaulichen Modells der Supervenienz besteht, wie leicht einzusehen ist, darin, dass eine signifikante Veränderung auf der objektiven Ebene der Bildpunkte, etwa mittels Variation der Größe, Helligkeit und/oder Anordnung einzelner Elemente der dargestellten Matrix, in aller Regel mit einer veränderten subjektiven Wahrnehmung des supervenierenden Musters einhergehen wird (Merkmal der unidirektionalen oder nicht-symmetrischen Kovariation). Demzufolge ist die wahrgenommene Änderung in der Musterbildung insbesondere von konkreten Veränderungen abhängig, die sich auf der Ebene der Bildpunkte ereignen (Merkmal der Dependenz). 45 Lewis 1994, 413 f.
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Eine zweite Implikation betrifft die Frage der Möglichkeit unterschiedlicher Beschreibungsarten für ein und dasselbe Vorkommnis. Wie speziell bei dem hier diskutierten Beispiel einer Pixelmatrix deutlich wird, lässt sich einerseits die Matrix der Bildpunkte anhand der jeweils individuellen Merkmale und der spezifischen Anordnung ihrer Elemente zueinander objektiv charakterisieren. Unabhängig davon ist es aber auch möglich, das supervenierende Muster als solches, d. h. als eine rein subjektiv wahrnehmbare Bildstruktur, zu beschreiben – und zwar gänzlich unabhängig davon, wodurch bzw. worin auch immer sie „realisiert“ ist (Merkmal der Nichtreduzierbarkeit). Supervenienzphysikalisten sind typischerweise der Überzeugung, dass biologische sowie darüber hinaus auch psychologische und soziale Gegebenheiten gleichsam als Erscheinungen interpretierbar resp. erklärbar sein können, die auf physikalischen Elementarereignissen, ‑eigenschaften oder ‑zuständen supervenieren. Aus ihrer Sicht liegen die beiden Hauptvorteile ihres Ansatzes speziell gegenüber einem Emergenzphysikalismus klar auf der Hand: Erstens kann der Supervenienzphysikalismus in vollkommener Übereinstimmung mit dem Prinzip von der kausalen Geschlossenheit eine nomologische Beziehung zwischen biologischen und physikalischen Phänomenen postulieren, wonach sich ein lebendiges Objekt nicht in physikalischer Hinsicht verändern kann, ohne sich zugleich auch in biologischer Hinsicht zu verändern. Zweitens erfordert, wie auch der Philosoph Donald Davidson in anderem Zusammenhang erläutert,46 die generelle Hypothese einer asymmetrischen Dependenzbeziehung im Sinne der Supervenienzrelation weder zwingend einen explanatorischen Reduktionismus, noch schließt sie dessen Möglichkeit prinzipiell aus. Die besondere konzeptionelle Stärke des modernen Supervenienzphysikalismus besteht insofern darin, dass er sich vollständig neutral gegenüber der Reduktionsforderung des ursprünglichen Physikalismus Carnapscher und Neurathscher Prägung verhalten kann, welche, wie ich oben erwähnt habe, von den meisten Verfechtern einer autonomen Biologie zu Recht als naiv und überzogen erachtet wird. Was in der aktuellen philosophischen Physikalismusdebatte leider allzu häufig vernachlässigt wird, ist darüber hinaus die Tatsache, dass die Einnahme eines supervenienzphysikalistischen Standpunkts speziell für die biowissenschaftliche Grundlagenforschung durchaus nicht zu unterschätzende Vorteile bereithält. 46 Siehe Davidson 1970, 88.
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6. Welchen Nutzen hat der Supervenienzphysikalismus für aktuelle Fragen der Lebenswissenschaften? 6.1. Für Kim handelt es sich bei dem Konzept der Supervenienz um ein außerordentlich nützliches Werkzeug für die Formulierung genereller Aussagen darüber, wie Makroeigenschaften von beliebigen Systemen durch die Mikroeigenschaften ihrer Systemelemente determiniert sind,47 ohne in diesen Aussagen zugleich die wahre Natur dieser Beziehung bestimmen zu müssen. In diesem Sinne erklärt er: „The important thing to remember is that supervenience is not a type of dependence on a par with causal dependence, mereological dependence, dependence grounded in definability, and the like. It is not a metaphysically deep, explanatory relation; it is a ‚phenomenological‘ relation about patterns of property covariance.“48 So gesehen kann der Physikalismus mit Hilfe des Supervenienzgedankens gleich in zweifacher Hinsicht als nichtreduktionistische These vertreten werden: Einerseits ist weder die Annahme erforderlich, dass alle Theorien und Gesetze anderer Wissenschaften logisch aus denen der Physik deduziert werden müssen, wie es die nicht unproblematische Reduktionsbedingung des klassischen Physikalismus verlangt. Andererseits besteht keinerlei Notwendigkeit, die beobachtete und als Supervenienzrelation interpretierte Abhängigkeit zwischen vollkommen heterogenen Phänomenbereichen mit einer kausalen Beziehung gleichzusetzen. Indem der Supervenienzphysikalismus die voraussetzungsgemäß lediglich in einer Richtung bestehende Dependenzbeziehung zwischen phänomenal unterschiedlichen Eigenschaften, Vorkommnissen usw. als eine systematische Kovariation betrachtet, verzichtet er insbesondere darauf, das „alte“ metaphysische Rätsel lösen zu wollen, warum überhaupt Lebendiges aus dem Nichtlebendigen entstehen kann. Ein erster Gewinn der Anwendung dieses gewissermaßen „minimalen“ Physikalismus auf die konkrete Frage des Verhältnisses von Physik und Biologie besteht vor allem darin, dass einerseits die bestehende Begriffs- und Theorienvielfalt beider Forschungsfelder im Prinzip erhalten bleiben kann, so dass insofern der Status der Biologie als eigenständiger Wissenschaft nicht länger aus „prinzipiellen“ Erwägungen infrage zu stellen wäre. Andererseits ist der Vertreter des Supervenienzphysikalismus aufgrund seiner Akzep47 Kim 1997, 293. 48 Ebd., 276 (Hervorhebung im Original).
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tanz des Theorienpluralismus nicht zugleich zwangsläufig auf die Anerkennung eines ontologischen Pluralismus festgelegt. Letzteres wäre, worauf ich bereits hingewiesen habe, mit dem zugrundegelegten physikalischen Naturverständnis absolut unverträglich. Der zweite Vorteil besteht darin, dass infolge eines derart gemäßigten Physikalismus nicht die mit Einführung des einheitswissenschaftlichen Programms heraufbeschworene Gefahr einer letztlich metaphysischen Totalisierung des Denk- und vor allem des Erkenntnispotentials entweder der Physik (in Form des „Materialismus“) oder auch der Biologie (in Gestalt des „Vitalismus“) besteht, die im allerungünstigsten Fall dazu führt, die Erkenntnisfortschritte beider Disziplinen in erheblichem Maße zu behindern. Ein dritter und nicht minder zu bewertender Nutzen des Supervenienzphysikalismus ergibt sich daraus, dass er eine plausible Rechtfertigung des mittlerweile kaum mehr ernsthaft hinterfragten methodologischen Reduktionismus in der Biologie bereitstellen kann, dessen Leitvorstellung darin besteht, eine bottom-up-Erklärung für die Ausbildung und die Ausprägung typischer Funktionen komplexer Organismen (oder ganz allgemein: biologischer Systeme) aufzustellen. Die für diesen Ansatz einschlägige methodologische Norm, mit der Untersuchung von Lebensprozessen auf möglichst niedriger Komplexitätsstufe zu beginnen und von dort aus zur Erklärung der Besonderheiten des Komplexeren zu höheren Organisationsebenen fortzuschreiten, impliziert, wie leicht zu erkennen ist, notwendig die Vorstellung einer unidirektionalen Dependenzbeziehung zwischen basalen physikalisch-chemischen Zuständen einerseits und den im Regelfall als höherstufig eingeordneten biologischen Phänomenen andererseits. Dank der Supervenienztheorie muss nun der Physikalist oder der physikalistisch eingestellte Biologe die beobachtbaren Zusammenhänge zwischen dem Organischen und dem Anorganischen nicht zwingend als eine zwischen heterogenen Phänomenen bestehende Kausalrelation interpretieren, wodurch schwerwiegende Probleme vor allem auf begrifflicher Ebene provoziert sind.49 Er hat stattdessen die Möglichkeit, solche prinzipiellen Schwierigkeiten zu umgehen, indem er eine nichtreduktionistische Erklärung bevorzugt.
49 Hier verweise ich insbesondere auf die klassische Kritik am Kausalitätskonzept seitens David Hume (siehe Hume 1748, 101-118).
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6.2. Es gibt aber noch einen weiteren methodologischen Gesichtspunkt, der für die, wie ich sie eingangs genannt habe, These der fruchtbaren „Physikalisierung“ der Biologie spricht. In allen Zweigen der biologischen Grundlagenforschung, nicht nur in denen, die darum bemüht sind, bottom-up-Erklärungen des Organischen zu formulieren, kommen seit Jahrzehnten faktisch eine Reihe chemischer, aber natürlich auch vielfältige physikalische Mess- und Analysemethoden tagtäglich zum Einsatz. Insbesondere den fachgerechten Umgang mit Rastersondenmikroskopen, mit denen sich die qualitativen und quantitativen Merkmale der sozusagen „kleinsten Bausteine des Lebens“ immer detaillierter beobachten und dementsprechend auch mit ansteigender Präzision beschreiben lassen, erlernen heutige Biologiestudenten bereits in den Grundpraktika. Bemerkenswert daran ist, dass diese Technologie ursprünglich als das Untersuchungsinstrument in der Oberflächenphysik des Festkörpers galt. Eine Nutzung jenseits dieses Fachgebiets wurde lange Zeit nicht in Erwägung gezogen, weil die klassische Rasterkraftmikroskopie nur eine Analytik „trockener“ Proben erlaubt, aber keine Untersuchung „nasser“ Proben, d. h. von Dispersionen und Emulsionen.50 Bis heute stellen Nanostrukturanalysen lebender Systeme in ihrer naturgemäßen Beschaffenheit eine große Herausforderung an die Nanotechnologie dar.51 Es gibt aber bereits eine Reihe vielversprechender Verfahrensansätze, wie etwa die Environmental Scanning Electron Microscopy (ESEM),52 mit denen mittlerweile auch nanoskalige in-vivo Untersuchungen beispielsweise an nicht vakuumstabilen pflanzlichen Objekten durchgeführt werden können.53 Bekanntlich wird in der Wissenschaftstheorie seit geraumer Zeit darüber gestritten, ob ein mutmaßlich „reiner“ Methodentransfer von einer Wissenschaft in eine andere nicht zwangsläufig auch Auswirkungen auf der theoretischen Ebene haben muss. Diese Frage ist eigentlich recht einfach zu beantworten: Hinter jedem Messverfahren oder -instrument steht immer eine den Gebrauch legitimierende, aber auch regulierende Theorie. Die Physikgeschichte hält eine Fülle von Fallbeispielen bereit, an denen sich die Geltung
50 Vgl. Fraunhofer Verbund Nanotechnologie 2008, Abschnitt „Nanomesstechnik“ (abrufbar unter http://www.nano.fraunhofer.de/de/nanotech.html, letzter Auf ruf: 29.08.12; 13:49 h). 51 Vgl. Pitt 2004, 161 f. 52 Siehe ausführlicher Stokes 2003; Danilatos 1993. 53 Siehe Danilatos 1981.
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dieses Grundprinzips nachweisen lässt. Ich will hier nur kurz auf die Theorie der Elektrodynamik des Physikers André Marie Ampère54 verweisen, ohne die Wissenschaftler nicht über das sogenannte „Ampèremeter“ verfügen würden, ein Instrument, mit dem die elektrische Stromstärke I innerhalb eines Elektronen leitenden Mediums gemessen werden kann. Es führt kein Weg daran vorbei, dass jeder Wissenschaftler (gleich ob Physiker, Chemiker oder Biologe), der ein solches Stromstärkemessgerät in seinem spezifischen Forschungskontext benutzt, notwendig die Richtigkeit der Ampèreschen Theorie unterstellen und sie als allgemeingültig, sowohl für den jeweils eigenen als auch darüber hinaus für jeden anderen Wissenschaftszweig verbindlich geltend, anerkennen muss. Allgemeiner gesprochen, impliziert jeglicher Methodentransfer zwischen verschiedenen Forschungsrichtungen zwangsläufig immer zugleich einen Theorientransfer. Auch im Fall der zunehmend im Bereich der experimentellen Lebenswissenschaften eingesetzten physikalischen Hightech-Un tersuchungsgeräte gibt es gleich eine Vielzahl grundlegender physikalischer Theorien, die streng genommen von jedem, der mit Hilfe dieser Analysetechniken die Geheimnisse des Lebendigen lüften will, bewusst oder unbewusst eine strikte Anerkennung erfordern. Wenn der Biologe in seinem Forschungsfeld ein physikalisches Messinstrument gebraucht, dann setzt dessen Anwendung insbesondere ein Wissen darüber voraus, welche physikalische (!) Frage sich mit Hilfe dieses Instruments innerhalb des biologischen Forschungsrahmens klären lässt. Darüber hinaus muss er über eine Erklärung verfügen, inwiefern die Klärung der betreffenden physikalischen Frage für eine Aussage über die Systemmerkmale des betrachteten biologischen Forschungsgegenstands einschlägig ist − womit wieder ein „altes“ Problem aufgeworfen ist. Die alles in allem unvermeidbare theoretische Konsequenz aus einem solchen Technik- und Methodentransfer ist, dass sich dabei einerseits das Denken des Biologen sowohl inhaltlich als auch der Form nach dem des Physikers angleichen muss, so dass die Fragen und Begriffe des Biologen ihrer Natur nach den grundlegenden Fragen und der Terminologie des Physikers immer ähnlicher werden. Andererseits kommt der Biologe im Grunde genommen nicht umhin, seine Theorien letztlich auf originär physikalischen Beobachtungen zu gründen. Speziell der bereitwillige Transfer von physikalischen 54 Ampère 1827.
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Konzepten und Modellen in die nanobiologische Grundlagenforschung hinein, der von biophilosophischer Seite zur Zeit insbesondere von Kristian Köchy reflektiert wird,55 demonstriert, dass sich vor allem die moderne Biologie sowohl auf methodologischer als auch theoretisch-begrifflicher Ebene keineswegs einem physikalistischen Denken verschließt, sondern die Grundideen des Physikalismus und seiner Spielarten vielmehr als eine erfolgreiche Forschungsheuristik zu nutzen versteht. Die Erweiterung des Instrumentariums der Biologie durch ursprünglich nur für physikalische Belange entwickelte Apparaturen ermöglicht heutzutage nicht nur eindrucksvolle dreidimensionale Bilddarstellungen der mikroskopischen Bausteine des Lebens, sondern erlaubt mittlerweile sogar eine Reihe gezielter, in aller Regel mechanischer Manipulationen auf nanoskaligem resp. atomarem Niveau.56 Die Nanobiotechnologen hoffen, anhand sehr genauer Beobachtungen der durch solche Einflussnahmen am jeweiligen Objekt hervorgerufenen Veränderungen neue Erkenntnisse vor allem über systematische Kovariationen zwischen der physikalischen Mikro- und der biologischen Makroebene gewinnen zu können. Interessanterweise sind bislang einige Fälle kontrollierter Manipulationen auf mikroskopischer Ebene beschrieben worden, die mit unvorhersagbaren und, wenn man so sagen darf, „überraschenden“ qualitativen Veränderungen am makroskopischen Objekt einhergingen.57 Ich gebe zu, dass es naheliegend erscheinen kann, Fälle, bei denen sich solche Veränderungen anscheinend eher regellos ereignen oder bei denen sich an den manipulierten Systemen mitunter auch „neuartige“ phänomenale Qualitäten zeigen, aus einer emergentistischen Sichtweise heraus zu erklären. Angesichts der oben aufgeführten Nachteile, die eine solche Erklärungsweise für den physikalistischen Standpunkt insgesamt mit sich bringen würde, bietet es sich, denke ich, jedoch eher an, selbst solche auf den ersten Blick kurios anmutenden nanowissenschaftlichen Befunde unter Rückgriff auf das Supervenienzmodell begreiflich zu machen.
55 Siehe Köchy 2008. 56 Vgl. Schiemann 2008, 67 f. Scharfe Kritik speziell an den Zielen der Nano technologie und der „nanotechnologischen Metaphysik“ findet man in Schum mer 2009. 57 Vgl. Schmidt 2008, 56 ff.
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6.3. Die Nanobiotechnologien sind nicht das einzige Arbeitsfeld innerhalb der biologischen Wissenschaften, in dem bislang die explanatorisch fruchtbare Verknüpfung von methodologischem Reduktionismus und Supervenienzkonzept stattgefunden hat. Eine weitere Spezialdisziplin, bei der sich der Einfluss des nichtreduktionistischen Physikalismus auf die Bearbeitung lebenswissenschaftlicher Frageund Problemstellungen bemerkbar macht, ist die Kognitive Neurobiologie bzw. Cognitive Neuroscience. Hierbei handelt es sich, kurz gesagt, um eine in den späten 1970er Jahren von den beiden Psychologen George Armitage Miller und Michael Gazzaniga ins Leben gerufene und innerhalb der westlichen Wissenschaftslandschaft inzwischen fest etablierte Forschungsrichtung an der Schnittstelle von biologischer Hirnforschung und Kognitionspsychologie.58 Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit experimentalwissenschaftlichen Fragestellungen zum Geist-Gehirn-Problem − dem gewissermaßen „naturalistischen Spezialfall“ des philosophischen Leib-Seele-Problems. Das Ziel dieser kognitiven Hirnforschung ist es, wissenschaftliche Erklärungen resp. Theorien für den beobachtbaren Zusammenhang von einerseits mentalen Zuständen oder Vorkommnissen und andererseits elementaren physiologischen bzw. physikalischen Hirnprozessen aufzustellen. Die mittlerweile in großem Umfang vorliegenden Kenntnisse über vielfältige Arten psycho-physischer Korrelationen basieren dabei teils auf elektroenzephalographisch erhobenen Messdaten von charakteristischen elektrischen Potentialdifferenzen auf der Ebene von einzelnen Nervenzellen bis hin zum Cortex insgesamt, teils stützen sie sich auf Befunde, die mittels neuartiger bildgebender Verfahren, beispielsweise mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), gewonnen sind. Dass es der physikalischen Forschung und vor allem dem von Haus aus physikalistisch motivierten Methodentransfer zu verdanken ist, dass sich Neurowissenschaftler überhaupt dieser modernen Untersuchungstechniken bedienen können, versteht sich von selbst. Mit dem Supervenienzphysikalismus steht auch in diesem biowissenschaftlichen Forschungsfeld ein durchaus vielversprechender Ansatz zur Schaffung eines weitergesteckten Erklärungsrahmens für die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung zur Verfügung, der zusätzlich den Vorteil bietet, mit einschlägigen Lösungen des „al58 Siehe zum Ursprung der Idee des allmählichen Aufbaus einer eigenständigen „cognitive neuroscience“ ausführlicher die Darstellung des Begründers dieser Disziplin in Gazzaniga 2000.
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ten“ Leib-Seele-Problems der Metaphysik verträglich zu sein. Dazu trägt wiederum einerseits die erkennbar umsichtig formulierte, minimal-ontologische Grundannahme bei, dass zwei oder mehrere kovariierende Vorkommnisse ihrem Wesen nach auch dann rein physikalischer Natur sind, wenn sie, wie im Fall von kognitiven und neuronalen Prozessen, mit Blick auf ihre konstitutiven Merkmale rein äußerlich unvereinbare qualitative Unterschiede aufzuweisen scheinen. Andererseits ermöglicht, davon ist insbesondere Roth überzeugt,59 die Annahme der epistemologischen Nichtreduzierbarkeit dem Supervenienzphysikalisten die These zu akzeptieren, dass für mentale Phänomene, die auf physikalischen Hirnzuständen supervenieren, durchaus eigene Gesetzmäßigkeiten gelten können. Es müsste dabei lediglich die folgende Bedingung erfüllt sein: Diese Gesetzmäßigkeiten dürfen niemals den grundlegenden Gesetzen der Physik widersprechen. Sogar einer der in der gegenwärtigen Debatte entschiedensten Widersacher Roths, der Philosoph Ansgar Beckermann, formulierte jüngst die Auffassung, dass „der inzwischen viel gescholtene Begriff der Supervenienz tatsächlich der zentrale Begriff ist, wenn es um das Verständnis des Verhältnisses von Geist und Körper geht. Auch hier hat also ein eher technischer Begriff einen enormen Fortschritt im Verständnis der Sache ermöglicht.“60 Beide Stellungnahmen machen deutlich, dass eine Kombination von einerseits physikalistischer Grundeinstellung und andererseits dem in der philosophy of mind mittlerweile umfänglich diskutierten Supervenienzansatz speziell im Umgang sowohl mit dem „alten“ (d. h. dem metaphysisch-ontologischen) wie auch dem „neuen“ (d. h. dem wissenschaftstheoretischen) psycho-physischen Problem unter theoretisch-explanatorischem Gesichtspunkt einen nicht zu unterschätzenden Nutzen bedeutet. 6.4. Ich habe hier die Neurobiologie und die Nanobiotechnologie als Fallbeispiele für das erfolgreiche Zusammenspiel von Biologie und Physik sowohl auf empirischer als auch auf metaempirischer Ebene nicht in der Absicht angeführt, die „alte“ physikalistische These zu stützen, es werde auf lange Sicht möglich sein, alles Leben bzw. für lebendige Organismen charakteristische Prozessualitäten ausschließlich unter Rückgriff auf physikalisch-chemische 59 Vgl. Roth 1994, 274. 60 Beckermann 2003, 7.
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Theorien zu erklären. Diese klassische Forderung nach einer vollständigen Zurückführung der Biologie auf die Physik ist, wie die kritische Reduktionismusdebatte der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, nicht nur argumentativ unhaltbar, sondern auch der Sachlage völlig unangemessen. Worauf ich allerdings letztlich aufmerksam machen wollte, ist, dass sich gegenwärtig speziell im Fall der nanobiowissenschaftlichen Grundlagenforschung abzeichnet, wie die Einnahme eines gemäßigten atomistisch-physikalistischen Standpunktes zu äußerst fruchtbaren Einsichten über spezifische nomologische Dependenzen zwischen dem organischen und dem anorganischen Teil der Natur führt. Ein Gegner des Physikalismus könnte an dieser Stelle selbstverständlich einwenden, ein aus einem nichtreduktionistischen Forschungsprogramm heraus erworbenes Wissen über biologischphysikalische Kovariationen sei niemals hinreichend, um die beobachteten Zusammenhänge beider Ebenen im strengen Sinne kausal erklären zu können. Letzteres sei jedoch der Auftrag, den die beteiligten Wissenschaften zu erfüllen hätten. Einem solchen Einspruch, der törichterweise die, wie ich denke, besondere Stärke des Supervenienzphysikalismus als dessen fatale Schwäche herauszustellen versucht, ließe sich insbesondere mit dem Hinweis begegnen, dass die Frage bezüglich des Verhältnisses von Biologie und Physik aus heutiger Perspektive vor allem im Hinblick auf die außergewöhnlichen methodologischen und konzeptionellen Chancen erörtert werden sollte, welche den sowohl unter physikalischen als auch physikalistischen Einflüssen stehenden Zweigen der biologischen Wissenschaften beschieden sind. Im Überblick bestehen die Hauptchancen gegenwärtig a) in einem für das Verständnis der Sache höchst effizienten Transfer von physikalischen Methoden, Instrumenten und Modellen in das biologische Forschungsprogramm, b) in der die Möglichkeit einer formalen Abbildbarkeit von in der Biologie formulierten Aussagen auf die Gesetze der Physik, ohne die Autonomie der biologischen Beschreibungsebene vollständig aufgeben zu müssen, und c) in der Aussicht, über einen einheitlichen Naturbegriff verfügen zu können, der gleichermaßen die biologischen, die psychologischen und die physikalischen Phänomene einschließt. Angesichts dieses aufgrund jüngster technischer Fortschritte wieder neu zu entdeckenden heuristischen Potenzials, von dem nicht https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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zuletzt insbesondere die Biowissenschaften profitieren können, erscheint es mir geboten, die in der Reduktionismusdebatte häufig anzutreffende pauschale Abwertung aufzugeben, „der“ Physikalismus sei bloß ein anachronistisches, metaphysisch-totalitäres Wunschdenken unter teils Physikern, teils Philosophen. Ich habe einige Gründe angedeutet, dass der Physikalismus in seiner modernen nichtreduktionistischen Gestalt gegenwärtig vor allem den Nanobiowissenschaften sowie der Hirnforschung vollkommen neuartige Einblicke in die natürlichen Grundlagen des Lebens sowie des bewussten Erlebens ermöglicht. Es ist, soweit ich sehe, kaum zu leugnen, dass die Wissenschaft seit jeher vor allem aufgrund der physikalistischen Weltanschauung zur Suche nach immer tiefergehenden Einsichten in das Wesen der in substantieller Hinsicht einen Natur motiviert wird, wie auch der Physiker Max Planck in seinen philosophischen Schriften stets unterstellt hat.61 Wenn der fiktive Anti-Physikalist, der hier zuvor schon einmal zu Wort gekommen ist, nun in einem zweiten Anlauf abermals entgegnen wollte, der Physikalismus könne dennoch niemals die ganze Wahrheit offenbaren, so würde dieser Einwand gewiss eine längere und tiefgehende philosophische Erörterung der Frage „Was ist Wahrheit?“ erfordern. Ich denke aber, es würde − nicht zuletzt, um die mittlerweile etablierte, in vielerlei Hinsicht fruchtbare inter- und transdisziplinäre Problemdiskussion nicht zu gefährden − vorläufig genügen, diesem möglichen prinzipiellen Einspruch pragmatisch mit einem an Kim angelehnten Statement zu begegnen: Der Supervenienzphysikalismus kommt der Wahrheit nahe genug! 62 6.5. Ich will meine bisherige Beantwortung der sechsten Frage abrunden, indem ich kurz eine weitere interessante Grundüberlegung von Kim aufgreife. Er beschreibt darin eine physikalistische Strategie, die zu einer etwas inhaltsvolleren Theorie des psycho-physischen Zusammenhangs führen soll. Seiner Ansicht nach besteht die Möglichkeit, innerhalb der philosophy of mind die Idee der Supervenienz dazu zu nutzen, diesen bislang mysteriösen Zusammenhang als Spezialfall einer mereologischen Supervenienz zu deuten.63 Das Konzept der mereologischen Supervenienz drückt die allgemeine Abhängigkeit der Eigenschaften eines Ganzen von den Eigen61 Vgl. Planck 1949, 49. 62 Vgl. Kim 2005, 6. 63 Vgl. Kim 1994, 582.
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schaften und Beziehungen seiner einzelnen Bestandteile aus. Kim behauptet nun weiter, dass mittels der Hypothese einer zwischen Gehirn- und Bewusstseinszuständen bestehenden mereologischen Dependenz in Verbindung mit dem Konzept des Mikrodeterminismus, d. i. die Annahme, dass mikrophysikalisch identische Welten sich in phänomenaler Hinsicht niemals unterscheiden können, eine spezielle Form von Abhängigkeit beschrieben wäre, die ohne Zweifel sui generis metaphysischer Natur und ontologisch höchst bedeutsam wäre.64 Kims ursprünglich auf die Geist-Gehirn-Debatte bezogene Überlegungen könnten m. E. über diesen Kontext hinaus hilfreich sein, um auf analoge Weise eine gleichermaßen respektable Theorie auch für die wissenschaftlich beobachtbare systematische Kovariation von einerseits biologischen und andererseits physikalisch-chemischen Eigenschaften zu formulieren. Eine diesbezügliche physikalistische Erklärung würde etwa folgendermaßen lauten können: Bei dem Zusammenhang zwischen biologischen und physikalischen Eigenschaften handelt es sich um den Spezialfall einer mereologischen Supervenienz, d. h. es existiert eine direkte Abhängigkeit der Makroeigenschaften eines biologisch-organischen Systems von den Mikroeigenschaften und Beziehungen seiner einzelnen Bestandteile in dem Sinne, dass subveniente physikalische und darauf supervenierende biologische Eigenschaften systematisch kovariieren. Näher als mit dieser Erklärung kann und muss der nichtreduktionistische Physikalismus der „Wahrheit“ über die Beziehung zwischen physikalischen und biologischen Phänomenen im Grunde gar nicht kommen. Diese Art der Erklärung dürfte in der Tat ausreichen, um biologisch-physikalische Zusammenhänge speziell für Wissenschaftler nicht nur begreiflich resp. begreiflicher zu machen, sondern ihnen darüber hinaus verlässliche Prognosen sowie gezielte Manipulationen dieser Verhältnisse zu ermöglichen. Hier ist nicht die Gelegenheit, diesen Gedankengang weiter auszuführen, sondern ich will stattdessen thematisch einen Sprung wagen und abschließend die Frage diskutieren, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass bereits Aristoteles in seinen Erörterungen zum Verhältnis von Leib und Seele von der Idee der Supervenienz oder zumindest von einer damit vergleichbaren Vorstellung Gebrauch macht.
64 Siehe ausführlicher Kim 1991, 261 f.
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7. Findet man bereits bei Aristoteles die Idee der Supervenienz? Aristoteles bestimmt bekanntlich gleich zu Beginn seiner Schrift mit dem Titel Peri psychês die Seele [psychê] als „gleichsam Prinzip [archê] der Lebewesen“.65 „Die Seele“, so heißt es dort an späterer Stelle noch genauer, „ist Ursache und Prinzip des lebenden Körpers“,66 und dies in gleich dreifacher Hinsicht: Erstens wird die Seele als doppelter Zweck der beseelten Körper begriffen. Das soll bedeuten, dass sie einerseits deren „Worum-willen“, andererseits auch das „Wofür“ repräsentiert bzw. bewirkt. Zweitens ist sie − rein dem Begriffe nach67 − das Wesen der beseelten Körper. Als solches fungiert die Seele im Falle der Lebewesen als die Ursache von deren Sein bzw. als der Grund des Lebens überhaupt. Aristoteles drückt dies beispielsweise folgendermaßen aus: „Nicht der Körper, der die Seele verloren hat, sondern der sie besitzende ist der in Möglichkeit seiende Körper, so daß er leben kann.“68 Drittens schließlich gilt sie ihm als die Ursache von Körperbewegung resp. als das erste Prinzip, aus dem heraus die Erzeugung der Ortsbewegung bei Tieren und Menschen erklärbar wird.69 Für Aristoteles steht fest, dass die Seele allein ursächlich für die Ausführung von Bewegung ist: „Daher ist die Seele nicht das Bewegende und das Bewegte, sondern nur das Bewegende.“70 Auch den Unterschied zwischen den lebendigen und den nicht-lebendigen Naturdingen charakterisiert er speziell mit Blick auf die Bewegungsfähigkeit: „Das Beseelte [empsychos] aber unterscheidet sich, wie es scheint, vom Unbeseelten [apsychos] am meisten in zweifacher Hinsicht, durch Bewegung [kinêsis] und Wahrnehmung [aisthêsis].“71 Mit der Wahrnehmungsfähigkeit führt Aristoteles an dieser Stelle ein weiteres Merkmal an, aufgrund dessen Lebewesen gegenüber der unlebendigen Natur ausgezeichnet sein sollen.72 Über diese bei65 De an. I 1, 402a7; Übers. Seidl 1995, 3 (Hinzufügung von mir). 66 De an. II 4, 415b8 ff.; Seidl 1995, 81. 67 Vgl. De an. II 1, 412b10 f.; Seidl 1995, 63. 68 De an. II 1, 412b25 f.; Seidl 1995, 65. 69 Vgl. De an. II 4, 415b21 f.; Seidl 1995, 81. 70 De an. I 4, 409a17 f.; Seidl 1995, 43. 71 De an. I 2, 403b25 ff.; Seidl 1995, 13 (Hinzufügung von mir). 72 In dieser Unterscheidung von Lebendigem und den nicht-lebendigen Naturdin gen manifestiert sich die insbesondere für die weitere Entwicklung der Natur philosophie bedeutsame Abkehr vom vormals in der Metaphysik dominanten Panpsychismus oder Panvitalismus. Siehe hierzu ausführlicher das erste Kapitel in Jonas 1997, insb. 25-27.
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den Besonderheiten hinaus benennt er schließlich noch ein drittes Kennzeichen der Psyche: „Für jetzt sei soviel gesagt, daß die Seele [...] durch diese Vermögen bestimmt wird: Nähr-, Wahrnehmungs-, Denkvermögen und Bewegung.“73 Indem er die Ernährungs- und die Bewegungsfähigkeit zusammen genommen als Grundmerkmal alles Lebendigen betrachtet, definiert er wenig später entsprechend: „Seele ist nun aber dieses (Prinzip), wodurch wir primär leben, wahrnehmen und denken [dianoein].“74 Der Ausdruck „Seele“ bezeichnet bei Aristoteles demnach ein allgemeines Lebensprinzip, das nicht nur elementare Lebensfunktionen mit einschließt, nämlich den Stoffwechsel und die Fähigkeit, sich von selbst bewegen zu können, sondern speziell im Falle der menschlichen Seele auch mentale Dispositionen. Dabei handelt es sich vor allem um Anlagen, die der Fähigkeit zu diskursivem Denken bzw. zur Erlangung von theoretischem Wissen [epistêmê] zugrunde liegen. Ein Lebewesen zu sein, bedeutet nach aristotelischer Auffassung, eine Seele zu haben und − je nach Art des Lebewesens − dadurch über spezifische Seelenvermögen verfügen zu können. Im Unterschied dazu gelten bei ihm Körper, welche die drei genannten Merkmale des Seelischen nicht aufweisen, als unbelebt.75 Für Aristoteles besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass die Seele auf das Körperliche wirken kann. Ohne diese Voraussetzung wäre er im Rahmen seiner Seelenlehre nicht in der Lage zu erklären, wie der seinem Wesen nach träge bzw. passive Körper „von selbst“, d. h. ohne zuvor von einem anderen, ebenfalls in Bewegung gesetzten Körper angestoßen zu sein, eine einfache Ortsbewegung vollführt. Es steht für ihn außer Frage, dass die Bewegung eines an sich untätigen Körpers im Raum in kausaler Hinsicht allein auf ein aktives Prinzip zurückgeführt werden muss.76 In diesem Sinne spricht Aristoteles in Bezug auf das psycho-physische Verhältnis 73 De an. II 2, 413b11 ff.; Seidl 1995, 69. 74 De an. II 2, 414a12 f.; Seidl 1995, 71 (Hinzufügung von mir). 75 Abgesehen vom Seelenteil nous, dem überindividuellen Intellekt, unterliegen laut Aristoteles vor allem die beiden niederen Seelenvermögen als Form des Leibes denselben Gesetzen des Verfalls wie die körperlichen Dinge: als solche sind sie veränderlich und vergänglich (vgl. Scherer 1979, 121). Zum Problem der Unsterblichkeit des nous in der aristotelischen Konzeption s. etwa Steiner 1992, 103 ff. 76 Ähnliche Überlegungen in Bezug auf die Ursache von Ideen körperlicher Dinge legt später George Berkeley seiner umstrittenen Lehre vom Immaterialismus zugrunde (siehe Berkeley, Treatise, §§ 25 ff.).
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metaphorisch einerseits ganz allgemein vom natürlichen Köper als dem Werkzeug [organon] der aktiven Seele.77 Andererseits greift er bei seiner Beschreibung der engen Beziehung zwischen Seele und Körper, wie sie in der Natur nur bei Lebewesen angetroffen wird, speziell auf das in seiner Metaphysik diskutierte HylemorphismusKonzept zurück.78 Diese Konzeption stützt sich bekanntlich auf die Annahme, dass alle Dinge durch das Zusammenwirken zweier grundlegender, voneinander unterscheidbarer Seinsprinzipien, nämlich „Stoff“ [hylê] und „Form“ [eidos], konstituiert sind.79 Mit „Stoff“ ist in der aristotelischen Metaphysik allerdings nicht allein das mit Händen greifbare Material gemeint, aus dem ein konkreter Gegenstand gefertigt ist, sondern der Begriff hylê umfasst in einem substanziellen Sinne alle Aspekte des Vermögens oder der bloßen Ermöglichung einer sinnlich wahrnehmbaren Sache.80 Im Unterschied dazu handelt es sich laut Aristoteles bei der Form um „die der Wirklichkeit nach [...] bestehende Wesenheit der sinnlichen Dinge“.81 Form und Wirklichkeit [energeia] einerseits, Stoff und Möglichkeit [dynamis] andererseits, machen demzufolge zwei Aspekte der Wesenheit eines sinnlichen Gegenstandes aus.82 Entscheidend daran ist nun, dass Aristoteles das Verhältnis zwischen den für ein reales Objekt konstitutiven Merkmalen des Stoffes und der Form als das einer untrennbaren Einheit bestimmt. Er negiert insofern die Auffassung, dass die beiden Wesensmerkmale realiter gesondert bzw. unabhängig voneinander auftreten könnten. Aristoteles nutzt, wie ich schon angedeutet habe, diese Grundidee des Hylemorphismus dazu, erfahrbare psycho-physische Zusammenhänge begreiflich zu machen, indem er den organischen Körper mit dem Stoff und die Seele mit der Form gleichsetzt. In jedem einzelnen Lebewesen manifestiert sich, so das Kernstück seiner Lehre, eine substanzielle Einheit von Körper und Seele. Auf
77 Vgl. De an. II 4, 415b18 f.; Seidl 1995, 81. 78 Siehe Met. VII 7-8 (1032a12-1034a8) und VII 17-VIII 2 (1041a5-1043a29); Übers. Bonitz 1994. 79 Vgl. von Uslar 2005, Kap. 3. 80 Stoff als eine sinnliche Wesenheit bestimmt Aristoteles als „dasjenige, was, ohne der Wirklichkeit nach ein bestimmtes Etwas zu sein, doch der Möglichkeit nach ein bestimmtes Etwas ist“ (Met. VIII 1, 1042a28-30; Bonitz 1994, 219). 81 Met. VIII 2, 1042b12 f.; Bonitz 1994, 220. 82 In Met. VIII 2, 1043a28 führt Aristoteles noch eine dritte, sinnliche Wesenheit an, nämlich diejenige, die aus der Vereinigung der beiden anderen (also hylê und eidos) hervorgeht.
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den ersten Blick scheint er insofern in erster Linie den dualistischen Leib-Seele-Konzeptionen seiner Vorgänger und Zeitgenossen eine klare Absage zu erteilen. Doch wie so oft trügt auch hier der erste Anschein. Um dies zu verdeutlichen, will ich die Physik von Aristoteles in meine gegenwärtige Darstellung seiner Hauptgedanken mit einbeziehen. In seinen Physikvorlesungen benennt er im Zusammenhang mit der berühmten Bestimmung von „Naturbeschaffenheit“ eine weitere Besonderheit der Beziehung von substanziellem Stoff und ebensolcher Form: „Das ist die eine Weise, in der man von ‚Naturbeschaffenheit‘ spricht, nämlich: Der erste, einem jeden zugrundeliegende Stoff der Dinge, die Anfang von Wandel und Veränderung in sich selbst haben. Auf eine andere Weise ist es die Gestalt, die in den Begriff gefaßte Form. [...] Die Gestaltung, die Form, welche sich (von dem Ding) nicht abtrennen läßt, außer nur in Gedanken.“83 Speziell an dieser Stelle erklärt Aristoteles, dass mit Blick auf reale Dinge eine Trennung der grundlegenden Aspekte „Stoff“ und „Form“ zwar auf rein gedanklicher resp. begrifflicher Ebene möglich ist, in der Wirklichkeit des Seienden aber niemals eine sozusagen „reine“ Form unabhängig vom Stoff existieren kann. Mit anderen Worten beschreibt er in diesem Kontext eine unidirektionale Dependenzrelation, die zwischen den Form- und Stoffmerkmalen der Dinge bestehen soll. Der ideengeschichtlich bedeutsame Transfer dieses von Aristoteles entwickelten Hylemorphismus-Ansatzes in eine Seelenlehre zeigt sich wiederum insbesondere in dessen Abhandlung Über die Seele. Bei dem Versuch, den Seelebegriff durch eine möglichst scharfe Abgrenzung vom Begriff des natürlichen Körpers zu bestimmen, vergleicht er die Psyche explizit mit der „Form“ des lebenden Körpers: „Die Materie ist Potenz/Möglichkeit, die Form aber ist Vollendung (Entelechie) [...]. Wesen (Substanzen) scheinen am meisten die Körper zu sein, und von diesen die natürlichen; denn sie sind für das übrige Prinzipien. Von den natürlichen Körpern haben die einen Leben, die anderen haben es nicht. Leben nennen wir sowohl Ernährung, als auch Wachstum und Schwinden. Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, ein Wesen (Substanz), und zwar im Sinne eines zusammengesetzten Wesens. Da er aber 83 Phys. II 1, 193a28-b5; Übers. Zekl 1987/8, 55 (Hervorhebungen im Original).
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ein sogearteter Körper ist – denn er besitzt Leben –, dürfte der Körper nicht Seele sein; denn der Körper gehört nicht zu dem, was von einem Zugrundeliegenden , sondern ist vielmehr Zugrundeliegendes und Materie . Notwendig also muß die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat.“84 Aristoteles beschreibt hierin das Verhältnis von Körper und Seele in Analogie zur Beziehung der Abhängigkeit, die seiner Ansicht nach zwischen „Stoff“ und „Form“ im substanziellen Sinne besteht. Allerdings gilt es streng zu beachten, dass − wie er in der Physik bemerkt85 − nur im Denken der noch unbelebte bzw. passive Körper einer (potentiellen) Lebensform erst im Zusammenschluss mit der aktiven Seele zum lebendigen Körper bzw. Organismus „geformt“86 und auf diese Weise als ein solcher verwirklicht wird. In der Realität der lebendigen und der potentiell-lebendigen Dinge soll es demgegenüber keine reine, vom Körper unabhängig existierende Seelensubstanz geben. So gesehen, stützt Aristoteles seine Leib-Seele-Theorie teils auf einen (erkenntnistheoretischen) Dualismus, teils auf einen (ontologischen) Monismus und sie beinhaltet somit letzten Endes einen metaphysisch schwerwiegenden immanenten Widerspruch. Vor diesem Hintergrund lautet die speziell in der neueren Forschungsliteratur diskutierte Frage, ob Aristoteles unter eben diesen grundproblematischen Rahmenbedingungen über die bloße Analogsetzung hinausgehend eine Möglichkeit gesehen hat, eine metaphysische Erklärung für die seiner Ansicht nach bestehende psycho-physische Dependenz zu geben. Folgt man diesbezüglich der Interpretation des Philosophen Thomas-Michael Liske, die sich im Wesentlichen auch auf die bereits von mir genannten Textpassagen aus Peri psychês stützt,87 so vertritt Aristoteles hinsichtlich des von ihm postulierten Verhältnisses von Körper und Seele weder eine eindeutig monistische Auffassung, wonach Seelisches (d. i. Leben, Wahrnehmen, Den84 De an. II 1, 412a9-21; Seidl 1995, 61. 85 Phys. II 1, 193a28-b5; ich hatte die Stelle bereits genannt (siehe Anm. 83). 86 Um deutlich zu machen, dass der Begriff der Seele als Form bei Aristoteles nicht zur Beschreibung der äußeren Gestalt [morphé], sondern in der Erklärung von Körperprozessen wie Verdauung und Fortpflanzung Anwendung findet, stellt Brüntrup einen Zusammenhang zwischen dem aristotelischen Formbegriff in Bezug auf den Organismus und dem heute gebräuchlichen Konzept der funk tionalen Organisation her (vgl. Brüntrup 2008, 11). 87 De an. II 1, 412a9-21; ebd., 2, 414a12 f.
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ken) vollständig von körperlichen Ursachen abhängt, noch eine klar dualistische Konzeption.88 Zur Begründung dieser Einschätzung führt Liske an, einerseits impliziere das aristotelische Verständnis von Verwirklichung, dass es sich bei der Leib-Seele-Einheit nicht um eine strikte psycho-physische Identität handeln kann, weil in diesem Fall der organische Körper und die charakteristische Tätigkeitsweise von Lebewesen, deren Prinzip die Seele ist, jeweils voneinander hinreichende und notwendige Bedingung zugleich sein müssten. Andererseits könne man sehen, dass Aristoteles − sofern das Seelisch-Mentale auf eine bestimmte, zu dieser Tätigkeit geeignete hylê bzw. Materie verwiesen ist, die es im Sinne dieser Tätigkeit formend verwirklichen kann − auch die dualistische Annahme von einer gänzlichen ontologischen Eigen- oder Selbständigkeit des Mentalen vermeidet. Der von Aristoteles unterstellte Hylemorphismus von Seele und Körper könne daher weder als Monismus noch als Dualismus noch als Funktionalismus gelten, sondern eher als eine „Zwischenposition“89, welche notwendige, aber nicht hinreichende physische Bedingungen für das Mentale fordert. Liske erläutert: „Die Seele qua energeia ist eine Wirksamkeit. Eine Wirksamkeit kann autark sein, sie kann aber auch eine Verwirklichung sein und ist damit, weil Verwirklichung wesentlich ein Relativbegriff ist, an einen Träger gebunden, dessen Verwirklichung sie ist.“90 Dieser Erklärungsansatz trete speziell an den Stellen hervor, an denen Aristoteles die Seele einerseits als Wesen im Sinne der Form eines natürlichen Körpers und andererseits als Verwirklichung oder Vollendung bestimmt.91 Wie Liske zeigen kann, ist laut Aristoteles Körperliches zwar keine hinreichende Bedingung, die Lebenstätigkeiten im Allgemeinen und unter ihnen insbesondere die mentalen Fähigkeiten hervorzubringen, aber als ein organisierter Leib ist der Körper zumindest die conditio sine qua non. Mit anderen Worten steht bei Aristoteles die Seele als Verwirklichung ihrem Begriffe nach zwar in Abhängigkeit von einer körperlich-materiellen Basis, aber in diesem Fall handelt es sich um eine sehr spezielle Form von Dependenz: Nach gewöhnlicher metaphysischer Redeweise bedarf es für die einschlägigen Tätigkeiten der Seele eines geeigneten stofflichen „Trägers“. 88 89 90 91
Liske 2003. Ebd., 23. Ebd., 39 (Hervorhebung im Original). De an. II 1, 412a27 f.
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Für den Philosophen Ralph Rhenius ist Aristoteles’ Charakterisierung von Lebewesen als Komposita dieser zwei Essenzen im Grunde nur dann verständlich, wenn man die Rede, dass lebendige Körper sozusagen „Seele haben“92 als Beschreibung eines supervenienten Phänomens versteht.93 Rhenius vertritt in diesem Zusammenhang die gut begründete These, dass insbesondere der aristotelische Gedanke einer nicht vollständig ursächlichen Abhängigkeit der Seelenfunktionen von der geeigneten Organisation und Struktur der Materie haargenau demjenigen entspricht, was in der einschlägigen Supervenienzkonzeption durch die Annahme einer Kovariation von solchen Vorkommnissen, Zuständen oder Eigenschaften beschrieben ist, die unterschiedlichen Phänomenbereichen zugerechnet werden. Rhenius und Liske geben demnach beide mit Blick auf die Frage, ob es ggf. Hinweise dafür gibt, dass bereits Aristoteles in seinen Erörterungen zum Verhältnis von Leib und Seele von der Idee der Supervenienz Gebrauch macht, eine alles in allem positive Antwort. Allerdings äußert Liske in diesem Kontext den Vorbehalt, dass daraus nicht ohne Weiteres abgeleitet werden dürfe, Aristoteles habe die Beziehung von Leib und Seele generell „physikalistisch“ gedeutet.94 Vor dem Hintergrund meiner vorausgegangenen Unterscheidung der beiden „neueren“ Hauptspielarten des Physikalismus erscheint mir diese Einschätzung von Liske jedoch auf der mittlerweile „veralteten“ Verwendung des Begriffs „Physikalismus“ zu beruhen. Richtig ist die Beobachtung, dass Aristoteles in seiner Leib-Seele-Lehre den für einen reduktiven Physikalismus typischen „Identitäts- und Konstitutionsmaterialismus“95, wie Liske es ausdrückt, vermeidet. Falsch wäre es hingegen, die gleichwohl physikalistische Natur seiner insofern „nichtreduktionistischen“ Erklärung der psychophysischen Dependenz aufgrund eines verengten Physikalismusverständnisses zu verkennen oder schlechterdings zu leugnen. Denn immerhin lassen sich in der aristotelischen Theorie mindestens zwei markante ontologische Prämissen identifizieren, mit denen, wie ich zuvor erläutert habe, auch der Supervenienzphysikalismus wesentlich operiert: Erstens die Nichtreduzierbar92 De an. II 1, 412b25 f.; Seidl 1995, 65; ich hatte die Stelle bereits genannt (siehe Anm. 68). 93 Vgl. Rhenius 2005, 173. 94 Liske 2003, 47. 95 Ebd., 41.
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keit der Seele auf das Körperliche und zweitens die Voraussetzung einer psychophysischen Dependenz. Doch diese Befundlage genügt freilich noch nicht, um die Ausgangshypothese ausreichend zu stützen, Aristoteles müsse im Grunde die Idee der Supervenienz vor Augen gehabt haben, als er die psychophysische Einheit zu erklären versuchte. Ich will zum Abschluss kurz auf eine Textstelle im aristotelischen Organon hinweisen, mit welcher sich die infrage stehende Hypothese möglicherweise noch ein klein wenig mehr erhärten lässt. Wenn Rhenius und Liske Recht haben und Aristoteles die psychophysische Beziehung tatsächlich als eine Art Supervenienzrelation begriffen hat, dann sollte man erwarten können, dass er über die beiden Grundmerkmale Nichtreduzierbarkeit und Dependenz hinaus im Rahmen seiner Erklärung drittens auch die Möglichkeit einer psychophysischen Kovariation ausdrücklich in Betracht gezogen hat. Eine, wie ich finde, diesbezüglich ausgesprochen aufschlussreiche Aussage findet sich tatsächlich gegen Ende von Aristoteles’ Analytika Protera. Dort heißt es explizit: „Das Schliessen aus körperlichen Zeichen auf Seelenzustände ist möglich, wenn man zugiebt [sic!], dass der Körper und die Seele sich gleichzeitig verändern, so weit es sich um natürliche Zustände handelt; [...] denn es ist eingeräumt, dass Körper und Seele mit einander eine Veränderung erleiden.“96 Die zuletzt zitierte Rede davon, dass im Sinne einer systematischen Kovariation Körper und Seele aufgrund physischer Einflüsse von Natur aus synchron Modifikationen erfahren, liefert, wenn ich Aristoteles an dieser Stelle richtig verstehe, neben den von Liske und Rhenius angegebenen Textpassagen aus Peri psychês einen weiteren Anhaltspunkt dafür, dass das Supervenienzkonzept − oder zumindest eine Vorläuferkonzeption − bereits Grundlage der aristotelischen Theorie über die Zusammenhänge zwischen einerseits lebendiger resp. psychischer und andererseits physischer Natur gewesen sein könnte. Mit Hilfe der hier angeführten Textstellen ließe sich vielleicht insoweit die Behauptung rechtfertigen, Aristoteles könnte − zumindest nach heutigem Verständnis − ein früher nichtreduktionistischer Supervenienzphysikalist gewesen sein. Das abschließende Urteil über die Beantwortung dieser Frage werde ich allerdings den wirklichen Aristoteles-Experten überlassen müssen.97 96 APr II 27, 70b7-16, hier zitiert nach von Kirchmann 1877, 149. 97 Hier verweise ich speziell auf die Studie von Heinemann 2009.
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IV. Klassifikationen: Artbegriff und Ontologie
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Niko Strobach
Aristoteles und die Konstanz der Arten1
1. Das Vorhaben: ein historisch-interkultureller Vergleich mit formalen Mitteln In diesem Beitrag möchte ich die aristotelische und die moderne Biologie mit einfachen formalen Methoden vergleichen. Der formale Blick auf die Biologie bringt viel, um konzeptionelle Voraussetzungen der heutigen Biologie zu ordnen. Diese Herangehensweise steht zurzeit nicht gerade im Zentrum der Philosophie der Biologie. Am ehesten schließt sie an Arbeiten von Joseph Henry Woodger aus den 1930er Jahren an.2 Ich habe diesen Ansatz in einigen rein systematischen Veröffentlichungen verfolgt.3 Ich bin optimistisch, dass er das vielfältige methodische Repertoire der Philosophie der Biologie bereichern kann. Die Grundidee des vorliegenden Beitrags ist, dass dieser Ansatz einen historisch-interkulturellen Vergleich mit strukturellem Blick erlaubt. Ich erlaube mir, diese Idee zu verfolgen, ohne die Literatur zur Frage des Verhältnisses von Aristoteles zur modernen Biologie zu diskutieren. Zweifellos gäbe es da viel zu diskutieren.4 Doch es wird sich herausstellen, dass eine formale Herangehensweise ihre ganz eigenen Fragen aufwirft. Es wäre verwirrend, die Art, wie sie das Feld strukturiert, sofort wieder an eine Diskussion mit historisch-philologischer Methodik anschließen zu wollen. Das heißt 1 Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags am 6.2.2009 in Kassel. Mein Dank gilt Gottfried Heinemann für die Einladung und allen Teilnehmern an der Diskussion sowie besonders Ludger Jansen und Gottfried Heinemann für wertvolle Literaturhinweise und beharrlichen Widerstand. Ich danke Rainer Timme für aufmerksame Nachfragen, die den Text (hoffentlich) verständlicher gemacht haben. Alle Fehler sind meine. 2 Woodger 1937. 3 Strobach 2010; 2011; 2014; Pleitz/Strobach 2014. 4 Lesenswert sind (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit): Sedley 2007, Depew 1997, Charles 1997, Dörrie 1962; Torrey/Felin 1937, Edelstein 1943/4.
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nicht etwa, dass das unmöglich wäre. Es geht um dieselben Inhalte. Nur färbt der formale Ansatz den Untersuchungsgegenstand gewissermaßen anders ein, so dass manches hervortritt, was sonst nicht hervortreten würde, und manches nicht in den Blick kommt, was sonst prominent ist. Der gewählte Ansatz wirft Fragen der folgenden Form auf: Könnten sich Aristoteles und ein moderner Biologe auf dieses oder jenes Postulat für formale Eigenschaften der Relationen „ist biologischer Vorfahre von“ oder „ist artgleich mit“ einigen? Wo nicht, welche Alternativen würde der eine oder der andere befürworten? Wo doch, würden sie dasselbe Postulat aus denselben Gründen befürworten oder aus verschiedenen? Solche Fragen sind der üblichen Textinterpretation fremd. Das spricht natürlich nicht gegen sie. Alles, was ich zeigen möchte, ist: Mit der formalen Herangehensweise hat man eine Perspektive zur Verfügung, die einen manches Interessante am Verhältnis von aristotelischer und moderner Biologie zueinander sehen lässt, das sonst unauffällig geblieben wäre. Es fällt auf, dass die heutige Evolutionsbiologie zum Teil ordnungstheoretisch bestens fassbare Begriffe wie „concestor“ („most recent common ancestor“) benutzt.5 Dabei ist auch vieles unklar, selbst, ob man über die Vorfahrenschaft von Arten oder aber von einzelnen Lebewesen spricht. Es lassen sich aber Brücken schlagen zwischen beiden Arten der Vorfahrenschaft.6 Im vorliegenden Beitrag soll der Redebereich (die Menge der Dinge, über die quantifiziert wird) aus Lebewesen bestehen. Die Vorfahren-Relation ist also zu verstehen im Sinne der individuellen biologischen Vorfahrenschaft. Die Relation „ist biologischer Vorfahre von“ soll, wegen englisch „ancestor“, im Folgenden mit „A“ notiert werden. Eine weitere Relation drängt sich auf: „… gehört zur selben Art wie …“. Sie soll, wegen englisch „conspecific“, im Folgenden mit „CS“ notiert werden. Welche Lebewesen einschlägig sind (evtl. erst solche ab einer gewissen Komplexität), hängt davon ab, was man fordert. Das Modell bestimmt seinen Anwendungsbereich. Das alles ist schrittweise kontrollierbar und in seinen Konsequenzen überschaubar. Man kann darüber systematische Betrachtungen anstellen. Man kann sich aber auch historisch fragen: Was hat sich eigentlich im Sinne der Postulate für A und CS von Aristoteles zu Darwin hin geändert? 5 6
Dawkins 2004. Strobach 2011; 2010.
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Kein Zweifel: Es hat sich viel geändert, seit Aristoteles in Physik II 8 den Gedanken zurückwies, dass Materie einfach nur aufgrund der Eigenschaften, die sie qua Materie hat, vorn im Mund ausgerechnet in Form von Schneidezähnen und weiter hinten im Mund ausgerechnet in Form von Mahlzähnen zusammentritt. (A) Das kritische Referat der Evolutionstheorie des Empedokles „Was hindert also die Annahme, dass es sich auch mit den (organischen) Teilen in der Natur so verhalte, z. B. die Zähne wüchsen mit Notwendigkeit (aus dem Kiefer) heraus, und zwar die vorderen scharf, geeignet zum Abbeißen, die Backenzähne aber breit und (daher) brauchbar zum Zerkleinern der Nahrung, wohingegen dies doch nicht um dessentwillen eintrete, sondern es falle nur so zusammen (sympesein). Und ähnlich sei es auch mit den übrigen Teilen, in welchen ein „wegen etwas“ vorzuliegen scheint. Überall, wo sich nun alles so ergab, als ob es wegen etwas geschehen wäre, da erhielten sich diese (Gebilde), die eben rein zufällig in geeigneter Weise zusammengetreten seien. Wo es sich nicht so ergab, da gingen sie unter und tun es heute noch, so wie ja Empedokles spricht von ‚Rindsgattungen mit Mannsbug‘.“7 Angesichts der zunächst sehr geringen explanatorischen Kraft des Forschungsprogramms Evolutionsbiologie war Aristoteles rational darin, es abzulehnen. Die schöne Regelmäßigkeit des Zusammentretens von Stoff ausgerechnet in Form von Zähnen war unbegreiflich, und die antiken Evolutionstheoretiker (wenn sie den Namen überhaupt verdienen) hatten nichts, um sie begreifbar zu machen. Heute ist diese Regelmäßigkeit begreiflich geworden. Zum Glück ist das evolutionäre Forschungsprogramm nur in einen Dornröschenschlaf gefallen und ließ sich, als die Zeit reif war, wieder wecken. Insofern ist die Evolutionsbiologie ein ebenso schönes wie extremes Beispiel für ein langfristiges Forschungsprogramm mit wechselvoller Geschichte, ganz im Sinne des Wortes „Forschungsprogramm“, den Imre Lakatos ihm gegeben hat.8 Und Paul Feyerabend behält Recht damit, in einem wichtigen Punkt über Lakatos hinauszugehen: bloß gut, wenn es in der Wissenschaftsge-
7 8
Phys. II 8, 198b23-31. Übers. Zekl 1987/8. Lakatos 1978.
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schichte nicht so rational zugeht, dass man Ansätze, die es zunächst verdienen, abgelehnt zu werden, nie mehr weiterverfolgt.9 Die Frage „Was hat sich strukturell seit Aristoteles verändert?“ ist auch systematisch lehrreich. Denn man merkt besser, was man alles unterscheiden muss. Zum Beispiel sind die Grundannahmen auch der aristotelischen Biologie über A und CS überhaupt nicht so unkompliziert, wie man vielleicht zunächst meint. Besondere Beachtung verdienen: spontan entstehende Aale, die drei verschiedenen im selben Bienenstock lebenden Sorten Bienen, Maultiere und schließlich der berühmte aristotelische Slogan „anthropos anthrôpon genna“ („Mensch zeugt Mensch“).
2. Konsens über Asymmetrie, Transitivität, Diskretheit und Netzartigkeit der Vorfahrenschaft Die Relation „… ist Vorfahre von …“ (A) ist in mancher Hinsicht unkontrovers. Aristoteles hätte wohl den folgenden zwei Postulaten dafür zugestimmt: (1) ∀xy (xAy ⊃ ~ yAx) Asymmetrie von A Wenn x Vorfahre von y ist, so y nicht von x. Daraus folgt sofort ohne weiteres die Irreflexivität von A: Nichts ist Vorfahre von sich selbst. Unproblematisch ist auch: (2) ∀xyz (xAy ∧ yAz ⊃ xAz) Transitivität von A Wenn x Vorfahre von y ist und y Vorfahre von z, dann ist x auch Vorfahre von z. Es ist ferner klar, dass „… ist Nachkomme von …“ die konverse Relation zu A sein muss. Diese Relation soll, wegen englisch „descendant“, mit „D“ notiert werden („gdw“ heißt „genau dann wenn“): (3) xDy gdw yAx Nachkomme x ist genau dann Nachkomme von y, wenn y Vorfahre von x ist. Es folgt, dass auch D asymmetrisch, irreflexiv und transitiv ist. Es ist praktisch, über gemeinsame Vorfahren („common ancestors“) 9
Vgl. dazu die Diskussion des Falls von Galileo Galilei bei Paul Feyerabend: Feyer abend 1993, Kap. 6-11.
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und gemeinsame Nachfahren („common descendants“) von Organismen sprechen zu können, was keine Schwierigkeiten bereitet: (4) xCAyz gdw xAy ∧ xAz gemeinsamer Vorfahre x ist genau dann gemeinsamer Vorfahre von y und z, wenn x sowohl Vorfahre von y als auch von z ist. (5) xCDyz gdw xDy ∧ xDz gemeinsamer Nachkomme x ist genau dann gemeinsamer Nachkomme von y und z, wenn x sowohl Nachkomme von y als auch von z ist. Ferner sei definiert, was es heißt, direkter Vorfahre (DA)/direkter Nachkomme (DD) zu sein: (6) xDAy gdw xAy ∧ ~∃z (xAz ∧ zAy) direkter Vorfahre x ist genau dann direkter Vorfahre von y, wenn x Vorfahre von y ist und es kein z gibt, so dass x Vorfahre von z und z Vorfahre von y ist. (7) xDDy gdw xDy ∧ ~∃z (xDz ∧ zDy) direkter Nachkomme x ist genau dann direkter Nachkomme von y, wenn x Nachkomme von y ist und es kein z gibt, so dass x Nachkomme von z und z Nachkomme von y ist. Eine wichtige – und sicherlich unumstrittene – Eigenschaft von A ist nämlich, dass Abstammung in diskreten Schritten vor sich geht. Dabei sind zwei Gedanken eng miteinander verbunden: (i) Ist x Vorfahre von y, so ist y entweder selbst direkter Nachfahre von x oder es gibt einen direkten Nachfahren z von x, der Vorfahre von y ist; (ii) Ist x Vorfahre von y, so ist y mit x durch eine Abstammungslinie über endlich viele Generationen hinweg verbunden. Ist (ii) erfüllt, so auch (i). Denn eine Situation, die (i) falsifiziert, indem immer noch ein weiteres Relat zwischen zweien liegt (wie bei Punkten auf einer geometrischen Linie), erfordert unendlich viele Relata; diese stehen aber nicht zur Verfügung, wenn (ii) wahr ist: Endlich viele Zwischenpunkte lassen sich nur diskret verteilen.10 Deshalb lässt sich für die Abstammung in diskreten Schritten das folgende Postulat festhalten: 10 (i) impliziert überraschenderweise nicht etwa (ii) (ich danke Gottfried Heine mann für diesen Hinweis). Lediglich im Sinne von (i) ist „discreteness“ definiert in Goranko et al. 2004, 15. Strobach 2011, 380, gibt in Formel (3) eine ähnliche Bedingung für Diskretheit an, die zu schwach ist. Die Begründung zu Formel (3), a. a. O., ist nicht hinreichend. Der Beweis im Anhang ist davon unberührt.
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(8) Wenn xAy, dann gibt es eine endliche Teilmenge M des Redebereichs, so dass x∈M, y∈M und für jedes x' und y' aus M gilt: x'Ay' oder x'=y' oder y'Ax'. Ferner werden sich Aristoteles und der moderne Biologe darin einig sein, weder in A- noch in D-Richtung die so genannte Linearität zu fordern.11 Offensichtlich haben viele Lebewesen zwei Vorfahren, die nicht selbst Vorfahre und Nachkomme voneinander sind: ihre Eltern. Und offensichtlich haben viele Lebewesen mehrere direkte Nachkommen. Man stellt sich Abstammung gerne als Baum vor. Aber auf der Ebene von Lebewesen ist das Bild eines Abstammungsnetzes treffender. Dass es überhaupt Vorfahren (und somit) Nachkommen gibt, wird ebenfalls zwischen dem Vertreter der aristotelischen und dem Vertreter der modernen Biologie unkontrovers sein: (9) ∃xy yAx Es gibt etwas, das Vorfahre von etwas ist. Das legt einen (wegen (1)) auf Modelle mit mindestens zwei Lebewesen fest. Selbst dass ein Lebewesen x genau zwei direkte Vorfahren hat, ließe sich ausdrücken: (10) ∃yz (yDAx ∧ zDAx ∧ y≠z ∧∀v (vDAx ⊃ (v=y ∨ v=z))) genau zwei Eltern von x Aber weder der Vertreter der aristotelischen noch der Vertreter der modernen Biologie werden fordern, dass das für jedes Lebewesen gilt.
3. Vorfahrenlose Lebewesen: zufälliger Konsens aus unterschiedlichen Gründen Komplizierter wird es bei der Frage der Vor- und Rückerstreckung. Herrscht auch hier noch Konsens? Aristoteles und der moderne Biologe werden sich zwar im Ergebnis einig sein, weder zu fordern, dass jedes Lebewesen einen Vorfahren hat, noch, dass jedes Lebewesen einen Nachkommen hat. Aber die Gründe unterscheiden sich zum Teil. Nicht bei den Nachkommen: Es gibt nun einmal Lebewe11 Für Details vgl. Strobach 2007, 15-18.
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sen, die keine Nachkommen haben. Es ist also nicht am Konsens über das folgende Postulat zu zweifeln: (11) ∃x ~∃y yDx Manches Lebewesen hat keinen Nachkommen. Die Komplikation ergibt sich im Hinblick auf das entsprechende Postulat für Vorfahren. Es liegt auf den ersten Blick nahe zu meinen: Aristoteles geht in Physik VIII, anders als Platon im Timaios,12 von einer sich unendlich vor und zurück erstreckenden Zeit aus, in der sich auch ständig natürliche Vorgänge abspielen.13 Nach Physik IV14 ist die Zeit ja das Maß dieser Vorgänge. Also hat jedes Lebewesen einen Vorfahren (aber warum eigentlich genau „also“?). Als Formel: ∀x ∃y yAx. Die aristotelischen Arten sind deshalb insofern konstant, als sie von Ewigkeit her und bis in alle Ewigkeit ununterbrochen instantiiert sind. Man könnte als Motivation dafür anführen, dass nach Aristoteles die Arten dem sterblichen Individuum, soweit ihm möglich, die Teilnahme am Ewigen erlauben sollen. (B) Ewigkeit der Arten „[A]lles Werdende [ist] nur in der Art ewig, in der es dies sein kann. Zahlenmäßig ist dies nicht möglich [...], aber der Art nach ist es möglich. Daher gibt es immer die Gattung der Menschen und der Tiere und Pflanzen.“15 (C) Biologische Fortpflanzung als imitatio des Ewigen und Göttlichen „[Zeugung und Nahrungsverwertung] sind die natürlichsten [Leistungen] für alles Lebende, [...] nämlich ein anderes, sich gleiches Wesen zu erzeugen: das Lebewesen [zôion] ein Lebewesen, die Pflanze eine Pflanze, damit sie am Ewigen und Göttlichen nach Kräften teilhaben. Denn alles strebt nach jenem, und um jenes Zweckes willen wirkt alles, was von Natur wirkt. [...] Weil nun die Lebewesen am Ewigen und Göttlichen nicht kontinuierlich teilzuhaben vermögen – denn nichts Vergängliches kann als zahlenmäßig ein und dasselbe fortbestehen –, hat jedes, 12 Platon, Timaios, 37d-38c. 13 Phys. VIII 1, 251b10-252a5. Vgl. auch 2, 252b5 f.; 6, 258b10, 259a6 f.; 8, 266a5 f.; 10, 267b25. 14 Ebd., IV 11, 219b1-2. 15 GA II 1, 731b31-732a1. Übers. hier und im Folgenden Gohlke 1959.
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soweit es dies vermag, am Ewigen teil, [...] als nicht der Zahl nach eines, wohl aber der Art nach Eines.“16 Der moderne Biologe dagegen geht von einer historischen Entstehung des Lebens und der Lebewesen aus. Er wird deshalb ganz bestimmt nicht fordern, dass jedes Lebewesen ein Lebewesen zum Vorfahren hat. Doch bei genauerem Hinsehen merkt man: Auch Aristoteles hätte das nicht getan. Denn Aristoteles‘ wichtige biologische Schrift De generatione animalium zeigt, dass er an Urzeugung von Lebendigem aus Unbelebtem glaubte. (D) Artkonstanz nach sexueller Fortpflanzung artgleicher Eltern; nach Urzeugung Xenogenese von asexuellen Nachkommen „Diejenigen Tiere [...], bei denen es einen Unterschied zwischen Männchen und Weibchen gibt, entstehen aus einer Paarung dieser beiden. [...] Die Blutlosen kennen nur zum Teil den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen, so dass also die Artgenossen zeugen, zum Teil findet wohl eine Zeugung statt, aber nicht durch Artgenossen. Dies ist da der Fall, wo Geschöpfe nicht durch Paarung gezeugt werden, sondern aus Moder und Fäulnis. [...] Und alle Tiere, die aus einer Paarung von Artgenossen hervorgehen, zeugen ebenfalls wieder nach Arteinheit. Sind dagegen Tiere nicht aus Tieren hervorgegangen, sondern aus faulendem Stoff, so zeugen diese zwar, aber eine andere Gattung, und das Erzeugnis ist weder Männchen noch Weibchen.“17 (E) Urzeugung der Aale in unbelebten Nahrungsspeichern („Maden“) „Die [aus Urzeugung hervorgehenden] Tiere dagegen gehen aus Maden hervor, sowohl die Blutlosen, die nicht von Tieren stammen, als auch die Bluttiere, wie eine Art Meeräsche und anderer Flußfische sowie die Gattung der Aale. [...] Und die sogenannten Erddärme haben das Wesen von Maden, in denen sich der Körper der Aale bildet.“18 Wie Aristoteles im Zusammenhang mit der Urzeugung mit dem Panpsychismus liebäugelt, ist verblüffend:
16 De an. II 4, 415a26-b7. Übers. Seidl 1995. 17 GA I 1, 715a18-b6. 18 GA III 11, 762b21-24.
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(F) Urzeugung und Panpsychismus „Tiere dagegen, die keine Ableger haben und keinen Schleim absondern, entstehen durch Urzeugung. [...] Es entstehen in der Erde und im Wasser Tiere und Pflanzen, weil in der Erde Feuchtigkeit, im Wasser Lebensluft und überall seelische Wärme ist. So ist in gewissem Sinne alles voller Seele [...].“19 Aristoteles und der moderne Biologe sind sich also einig: Leben entsteht aus Unbelebtem. Nur geschieht das nach moderner Ansicht heute nicht mehr. Nach aristotelischer (und in der Antike auch darüber hinaus weit verbreiteter) Ansicht dagegen entsteht zwar nur manches Leben aus Unbelebtem, dies aber tagtäglich. Beide, Aristoteles und der moderne Biologe, werden sich also wohl auf das folgende Postulat einigen, aber mit jeweils völlig anderer Begründung: (12) ∃x ~∃y yAx
Manches Lebewesen hat keinen Vorfahren.
Was fängt man mit den oben zitierten Textstellen B und C zur Teilnahme am Ewigen durch Fortpflanzung an? Widersprechen sie den zitierten Textstellen D, E und F zur Urzeugung? Nein. Man sieht schon in Text D den Unterschied angedeutet, auf den es zur Vermeidung des Widerspruchs ankommt: Die Texte B und C beschreiben eine Möglichkeit der Teilnahme am Ewigen und Göttlichen für Exemplare von Arten, die sich sexuell fortpflanzen. Genau für die schließt Aristoteles aber Urzeugung aus.
4. Dissens über die Möglichkeit einer unendlichen Ahnenreihe Schon darauf, dass für manches Lebewesen gilt, dass jeder seiner Vorfahren wieder einen Vorfahren hat, wird sich der moderne Biologe, im Gegensatz zu Aristoteles, nicht einlassen.20 (13) ∃x ~(~∃y yAx ∨ ∃y (yAx ∧ ~∃z zAy)) Manches Lebewesen ist weder vorfahrenlos noch hat es einen vorfahrenlosen Vorfahren (= manche Lebewesen haben unendlich viele Vorfahren).21 19 Ebd., 762a8-21. 20 Platon auch nicht, denn die Zeit im Timaios ist geschaffen und Richtung Ver gangenheit endlich. Vgl. Platon, Timaios, 37d-38c. 21 Man bemerke, dass „∃x ∀y (yAx ⊃ ∃z zAy)“ noch keinen Kontrast liefern würde. Das ist nämlich eine logische Konsequenz von (12): Für alle Vorfahren eines
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Der Vertreter der modernen Biologie wird hingegen davon das glatte Gegenteil vertreten: (14) ∀x (~∃y yAx ∨ ∃y (yAx ∧ ~∃z zAy)) Jedes Lebewesen ist entweder vorfahrenlos oder hat einen vorfahrenlosen Vorfahren. Doch bevor man Aristoteles das Postulat (13) zuschreibt, sollte man etwas vorsichtig sein. Wenigstens tritt hier eine systeminterne Spannung zutage. Denn aktuale Unendlichkeiten sind nicht gerade aristotelisch.22 Nur – kann Aristoteles die Teilnahme am Ewigen im Sinne der Artzugehörigkeit ohne die Annahme bekommen, es hätten bis jetzt schon aktual unendlich viele Exemplare der eigenen Art existiert? Der Platonist kann zulassen, dass lediglich endlich viele Lebewesen vertikal zur Artform streben, sozusagen gen Ideenhimmel, ohne dass ihre biologische Verwandtschaft von Bedeutung wäre. Aber kann es auch der Verfasser von Met. Z 8, der eine horizontale Formtradition im Stoff braucht, eine Tradition auf Erden vom Vater zum Kind, dessen biologische Verwandtschaft mit dem Vater für seine Form von größter Bedeutung ist? (G) Mensch zeugt Mensch „[D]er Mensch erzeugt wieder einen Menschen […]. Daher ist denn offenbar, dass es nicht nötig ist, eine Artform als Urbild aufzustellen [...], sondern es genügt, dass das Erzeugende hervorbringe und Ursache der Form an der Materie sei.“23 Auch die zunächst systemfremd erscheinende Idee einer Aufbewahrung der formenden Kräfte als „seelische Wärme“ im Zwischenspeicher Schlamm24 wirkt weniger seltsam, wenn man bedenkt, dass für Aristoteles, anders als für Platon, Stoff vorhanden sein muss, damit die Form tradiert werden kann.
vorfahrenlosen Lebewesens gilt Beliebiges, auch dass sie Vorfahren haben. Postulat (12) war aber unumstritten. Der Vertreter der modernen Biologie muss also überraschenderweise die Formel „∃x ∀y (yAx ⊃ ∃z zAy)“ unterschreiben. 22 Vgl. Phys. III 4-8. 23 Met. Z (VII) 8, 1033b32-1034a3. Übers. hier und im Folgenden Seidl 1991. 24 GA III 11, 762a8-21 (oben: Text F).
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5. Dissens über einen „Baum des Lebens“ Zwischen dem modernen und dem aristotelischen Biologen herrscht keine Übereinstimmung darüber, ob es mehrere voneinander isolierte biologische Abstammungsnetze gibt oder nur ein einziges Abstammungsnetz: eine einzige zusammenhängende Abstammungs-Insel, die, aus einem Abstand betrachtet, in dem man einzelne Lebewesen nicht mehr erkennen kann, ungefähr die Form eines „Baums des Lebens“ hat. Es mag zwar auf den ersten Blick seltsam erscheinen, auch dann noch von einer Insel zu sprechen, wenn es nur eine gibt. Es wird sich aber gleich zeigen, dass der Insel-Status keine Verinselung, mithin andere Inseln, voraussetzt, sondern es für ihn auf einen gewissen internen Zusammenhang ankommt, der auch dann gegeben ist, wenn alles, wovon die Rede ist, untereinander diesen Zusammenhang aufweist. Allerdings ist Vorsicht im Hinblick darauf geboten, wie man den Ausdruck „Baum des Lebens“ hier am besten versteht. Dies hängt damit zusammen, welchen Anspruch man an die skizzierten Modelle im Hinblick auf die moderne Biologie stellt: (i) Sollen sie nur das „Leben, wie wir es kennen“ modellieren? (ii) Oder soll die Modellklasse etwas darüber aussagen, was überhaupt als Leben zu gelten haben soll? Ich bin der Ansicht, dass man sie auch für das zweite gebrauchen kann und befürworte selbst für diesen Fall ein Postulat der Verinselungsfreiheit der Vorfahren-Relation. Das hat unter anderem die Konsequenz, dass der Satz „Extraterrestrische Aliens, die mit uns genealogisch nicht verwandt sind, sind keine Lebewesen“ aus begrifflichen Gründen wahr ist. Diese Ansicht ist, wann immer ich sie vorgetragen habe, auf einhellige Ablehnung gestoßen.25 Zum Glück muss der Fall nicht entschieden werden, um aristotelische und moderne Biologie mit Hilfe der skizzierten Modelle miteinander vergleichen zu können. Ein moderner Biologe mag (anders als ich) ruhig der Ansicht sein, dass es Phänomene geben könnte, die aus strukturellen Gründen den Namen „Leben“ verdienen, obwohl sie sich genealogisch abseits vom großen Abstammungsnetz des uns bekannten Lebens befinden. Für den strukturellen Vergleich 25 Ich argumentiere für die Plausibilität dieser Ansicht in: Strobach 2011, 12 f.; Strobach 2014. Der Grund für ihre Plausibilität ist, dass es sich bei „Leben“ um einen besonderen natural kind term oder gar einen Eigennamen im Sinne Krip kes handelt.
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mit der aristotelischen Biologie genügt es, dass der moderne Biologe der Ansicht ist: Für den Bereich des Lebens, das wir kennen, ist ein einziges großes in seiner Grobstruktur baumförmiges Abstammungsnetz nachgewiesen. Das ist auch gemeint, wenn die moderne Biologie einen einzigen „Baum des Lebens“ annimmt. Denn Aristoteles war der Ansicht, dass der Bereich des Lebens, das er kannte (ein Teilbereich des Lebens, das wir kennen), in Abstammungs-Inseln zerfällt. Diesen Unterschied kann man strukturell nachvollziehen. Für die hier intendierte Anwendung26 ist eine Insel (außer in Fällen extremer Vereinzelung) dasselbe wie ein Abstammungsnetz. Und die Frage ist: Gibt es davon (im Bereich des Lebens, das wir kennen) nur eines, oder gibt es mehrere? Man kann definieren: (15) Eine Insel ist eine maximale Teilmenge M des Redebereichs, für welche gilt:27 ∀xy (x∈M ∧ y∈M ⊃ (x=y ∨ xAy ∨ xDy ∨ ∃z zCAxy ∨ ∃z zCDxy)) Zwei beliebige verschiedene Elemente von M stehen entweder (i) in der Beziehung Vorfahre-Nachkomme zueinander oder (ii) haben einen gemeinsamen Vorfahren oder (iii) haben einen gemeinsamen Nachkommen. Zwei Elemente einer solchen Insel sind immer wenigstens über einen gemeinsamen Vorfahren oder einen gemeinsamen Nachkommen miteinander verbunden. Genau das macht die Einheit der Insel aus. Aristoteles hält mehrere solche Netze (oder: Inseln) nebeneinander nicht nur für denkbar, sondern das große Bild der aristotelischen Biologie legt sie sogar nahe. Zwischen dem Vertreter der aristotelischen und dem Vertreter der modernen Biologie umstritten ist also das folgende Postulat: (16) ∀xy (x=y ∨ xAy ∨ xDy ∨ ∃z zCAxy ∨ ∃z zCDxy) Baum des Lebens Zwei beliebige verschiedene Lebewesen (aus dem Bereich des Lebens, das wir kennen) stehen entweder (i) in der Beziehung Vorfahre-Nachkomme zueinander oder (ii) haben einen gemeinsamen Vorfahren oder (iii) haben einen gemeinsamen Nachkommen. 26 Bertram Kienzle hat die Begriffe der Verinselung und der Verinselungsfreiheit von modallogischen Modellen für eine völlig andere Anwendung als die hier diskutierte biologische Interpretation eingeführt. Vgl. Kienzle 2007, 67. 27 „Maximal“ bedeutet hier: Sie ist nicht echte Teilmenge einer Menge, die dieselbe Bedingung erfüllt.
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Der moderne Biologe stimmt zu. Jeder Mensch und jeder Löwe haben einen gemeinsamen Vorfahren, auch jeder Mensch und jeder Fisch, jeder Mensch und jeder Regenwurm etc.28 Um eine einzige Urzelle zu postulieren, müsste man (12) verstärken zu: (12a) ∃x (~∃y yAx ∧ ∀z (~∃v vAz ⊃ z=x)) Es gibt ein vorfahrenloses x, das mit jedem vorfahrenlosen z identisch ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der moderne Biologe die genannte Verstärkung von (12) als gesichertes Ergebnis seines Fachs voraussetzen wird.29 Der aristotelische Biologe postuliert das kontradiktorische Gegenteil von (16): (16a) ∃xy (x≠y ∧ ~xAy ∧ ~xDy ∧ ~∃z zCAxy ∧ ~∃z zCDxy) Verinselung Es gibt Lebewesen, die weder in der Beziehung VorfahreNachkomme zueinander stehen, noch gemeinsame Vorfahren haben, noch gemeinsame Nachkommen haben. So hat eine durch Urzeugung entstehende Population keine Vorfahren in irgendeiner anderen Population von Lebewesen.30 Doch mehr noch: Nach dem aristotelischen Bild sind auch viele nicht durch Urzeugung entstehende Arten komplette und im Wesentlichen isolierte Abstammungsnetze: Ein Mensch zeugt einen Menschen, ein Löwe einen Löwen etc. Ein Mensch (für x) und ein Löwe (für y) liefern daher nach aristotelischer Ansicht ein Gegenbeispiel zu (16). Insofern sind wenigstens eine ganze Reihe von Arten konstant (zu den Ausnahmen gleich mehr). Ist das die aristotelische Auffassung von der Konstanz der Arten, so sieht man übrigens: Konstanz der Arten im aristotelischen Sinn bedeutet nicht, dass es zu jedem Zeitpunkt Exemplare genau dersel28 Zur Motivation dieser Auffassung vgl. das Argument in Dawkins 2004, 40 f. 29 Vgl. dazu, wie man das plausiblerweise vermeiden kann: Strobach 2014. Man sieht dort freilich: Das Ergebnis gibt es nicht umsonst. Postuliert man eine Va riante von (16) ohne das letzte Alternationsglied, so kommt man, die Vergan genheitsendlichkeit durch (14) vorausgesetzt, ebenfalls auf genau eine Urzelle. In Strobach 2011, 385 sind deshalb die Worte „oder mehrere Urzellen, die nach spätestens einer Generation zusammen gewachsen sind“ zu streichen. Vgl. hier zu die Ausführungen zu maximalen gerichteten Mengen in endlichen Struktu ren in Strobach 2014. 30 Die Tradition einer Form über „seelische Wärme“ führt nicht zu identifizier baren Vorfahren (wenn GA III 11, 762a8-21 – oben: Text F – denn so ernst zu nehmen ist).
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ben Arten geben muss. Vielleicht entsteht der erste Aal irgendwann durch Urzeugung, während es schon lange, ja vielleicht schon immer, Löwen gegeben hat. Vielleicht ist der Aal zwischendurch mal ausgestorben, aber irgendwann entsteht der Aal durch Urzeugung wieder.31 Noch bevor der Begriff der biologischen Art genauer beleuchtet ist, lässt sich ein Trilemma bemerken: Man kann nicht zugleich behaupten, dass (i) es nur ein einziges großes Abstammungsnetz gibt; (ii) wenigstens im Falle mancher Arten ein Exemplar nie von einem ihm artfremden Lebewesen abstammt (abgesehen von – gegebenenfalls – den Exemplaren einer Urart); (iii) es Lebewesen mehrerer verschiedener Arten gibt. Der moderne Biologe und Aristoteles werden, von einem alltäglichen Begriff der biologischen Art ausgehend, das Offensichtliche nicht leugnen und also (iii) zustimmen. Der moderne Biologe leugnet (ii), weil er (i) bejaht; der aristotelische Biologe muss (i) leugnen, weil er (ii) bejaht. Um dies auch in der Modellierung einfangen zu können, ist es nötig, die explizite formale Rede über Artzugehörigkeit zu ermöglichen.
6. Konsens im Hinblick auf die Symmetrie der Artgenossenschaft Es bietet sich dazu an, mit einer zweiten Relation zu arbeiten: der Artgenossenschaft oder Artgleichheit (CS). Die erste Idee könnte sein: (i) Artgleichheit wird wohl eine Äquivalenzrelation sein – reflexiv, symmetrisch und transitiv. Alles ist artgleich mit sich selbst; wenn x mit y artgleich ist, so auch y mit x; und wenn x mit y und y mit z artgleich ist, so auch x mit z. Die zweite Idee könnte sein: (ii) Artgenossenschaft und Abstammung fallen bei Aristoteles einfach zusammen, in der modernen Biologie aber nicht mehr. Es wird sich
31 Was mit dem eidos Aal in der Zwischenzeit los ist, ist wiederum eine Frage, die das Verhältnis Aristoteles – Platon berührt. Dies ist ein Problem für den aristo telischen Ansatz. Man sollte es nicht unter den Teppich kehren. Deutet dafür der Panpsychismus in GA III 11, 762a8-21 (oben: Text F) eine Lösung an?
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herausstellen: (i) ist problematisch; (ii) ist weit komplizierter, als man zunächst denkt. Wenig zu zweifeln gibt es an der Symmetrie. Sowohl Aristoteles als auch der moderne Biologe werden sie postulieren: (17) ∀xy (xCSy ⊃ yCSx) Symmetrie der Artgleichheit Wenn x mit y artgleich ist, so auch y mit x.
7. Vermutlich Dissens im Hinblick auf die Transitivität der Artgenossenschaft An der Transitivität dagegen könnten sich die Geister scheiden. Die Forderung der Transitivität wäre: (18) ∀xyz ((xCSy ∧ yCSz) ⊃ xCSz) Transitivität der Artgleichheit Wenn x mit y artgleich ist und y mit z, dann auch x mit z. Das schließt jede Situation aus, in der aCSb und bCSc gilt, während aCSc nicht gilt. Vielleicht wird der moderne Biologe sich aber für eine Lösung des kniffligen Problems der so genannten Ringspezies nicht a priori die Möglichkeit verbauen wollen, dass manchmal dasselbe Lebewesen mehreren Spezies angehört.32 Interessanterweise genügt das Postulat der Transitivität, um eine Mehrartigkeit desselben Lebewesens zu verbieten. Genau gesagt verbietet es, dass etwas zwei Arten angehört, während anderes nicht beiden angehört – wobei letzteres vorauszusetzen ist, damit man überhaupt von zwei Arten reden kann. Vielleicht will auch der moderne Biologe lieber keine mehrartigen Lebewesen zulassen: Sei es, dass ein Rest Essentialismus in ihm steckt; sei es, dass selbst eine willkürliche Klassifikation nicht recht mit Mehrartigkeit zusammenpasst (denn was wäre an einer Artzuweisung, die Mehrartigkeit zulässt, noch eine Klassifikation, eine Einteilung?). Doch er wird zögern. Aristoteles dagegen hätte die Transitivität von CS ohne Zögern gefordert: Zum Konzept des eidos als einer natürlichen Art gehört es einfach, dass ein Lebewesen nicht zweien davon angehört. Denn
32 Zum Problem der Ringspezies vgl. z. B. Dawkins 2004, 308-311. Zur Andeutung: Zwei an einem Ort deutlich verschiedene Möwenarten sind über ein Kontinuum von kleinen Abweichungen um die Arktis herum miteinander verbunden.
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nichts hat zwei Essenzen. Mehrartige Lebewesen wären sozusagen multiple Persönlichkeiten der schlimmsten Sorte.
8. Vermutlich Dissens im Hinblick auf die Reflexivität der Artgenossenschaft Der schwierigste Fall im Zusammenhang mit der Relation CS ist der scheinbar einfachste: die Reflexivität. (19) ∀x xCSx Reflexivität33 von CS Jedes Lebewesen gehört zur selben Art wie es selbst. Ist es nicht klar, dass jedes Lebewesen artgleich mit sich selbst ist? Ja, wenn es nur überhaupt einer Art angehört. Was sollte sonst die Rede von Artgleichheit? Das zeigt auch, dass wir mit der Relation CS die Möglichkeit haben, auszudrücken, ob etwas überhaupt einer Art angehört oder aber nicht. Nun könnte man sagen: Dann ist ja die Reflexivitätsforderung für den aristotelischen Biologen ganz natürlich. Er wird doch emphatisch bejahen, dass jedes Lebewesen einer, seiner natürlichen Art angehört. Es gibt für ihn nichts Artloses. Und sollte nicht auch der moderne Biologe Klassifikationslücken vermeiden wollen und deshalb, wenn auch vielleicht mit anderer Motivation, zustimmen? Das Problem sind Halbesel (griechisch hemionos: Maultier/ Maulesel). Es liegt systematisch nahe, zu sagen, Halbesel gehörten keiner Art an. Aus diesem Grund ist zu vermuten, dass der Vertreter der modernen Biologie die Forderung der Reflexivität von CS eher ablehnen wird. Er wird allenfalls festhalten: (20) ∀xy (xCSy ⊃ xCSx) Wenn etwas mit irgendetwas artgleich ist, dann auch mit sich selbst. Das ist eine schwächere Forderung als (19).34
33 Zuweilen findet man für diese Relationseigenschaft den Namen „Totalrefle xivität”. 34 Es kommt vor, dass die Relationseigenschaft in (20) Reflexivität genannt wird, nämlich dann, wenn für die Eigenschaft in (19) der Ausdruck „Totalreflexivität“ gebraucht wird.
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Hat Aristoteles dieses Gegenbeispiel zur Reflexivität der Artgleichheit übersehen? Nein. Kann er (19) überhaupt vertreten? Ja. Er diskutiert Halbesel, z. B. in Metaphysik Z 8. Die Idee dort ist, dass bei Halbeseln das Art ist, was bei Pferd und Esel nicht Art, sondern nächste Gattung ist. (H) Der Halbesel als Pfesel „Bei manchen [...] ist es [...] einleuchtend, dass das Erzeugende zwar von derselben Art ist wie das Erzeugte […], wofern nicht etwas gegen die Natur geschieht, wie wenn ein Pferd einen [Halbesel] erzeugt. Aber auch hierbei ist ein ähnliches Verhältnis. Denn dasjenige, was das Gemeinsame für Pferd und Esel sein würde, diese nächste Gattung, hat keinen Namen, es würde aber wohl beides enthalten, wie eben der [Halbesel].“35 Aristoteles bedauert, dafür keinen Namen zu haben, aber nennen wir die Pferde-und-Eselartigen einfach Pfesel, so lässt sich festhalten: Jedes Pferd, jeder Esel und jeder Halbesel ist zwar ein Pfesel. Pferde und Esel sind jedoch nicht Pfesel im Sinne der Artzugehörigkeit, sondern nur im Sinne der Gattungszugehörigkeit. So ist in der Tat kein Halbesel Artgenosse eines Esels oder Pferdes. Das ist gut so, denn sonst würde mit der Transitivitätsforderung (18) folgen, dass es weder Pferde noch Esel gibt.36 Halbesel dagegen sind Pfesel im Sinne der Artzugehörigkeit. Raffiniert. Dass sich Aristoteles damit solche Mühe gibt, weist darauf hin, dass er tatsächlich durchzieht, was der Grundgedanke der Formung von Materie nahelegt: Alles gehört zu einer Art. Und gerade so ließe sich (19) etwas freier übersetzen. Der Gedanke, die Zugehörigkeit zu einer Art durch Artgleichheit mit sich selbst auszudrücken, ermöglicht es immerhin noch, die folgenden Postulate zu formulieren, die zwischen aristotelischem und modernem Biologen konsensfähig sein dürften:
35 Met. Z (VII) 8, 1033b29-1034a5. Andere Stellen zu Halbeseln: GA II 8, 748a1-8; Met. Z 9, 1034a33-b3 (NB: Dort geht es nur um Namen; Aristoteles diskutiert – entgegen dem ersten Anschein der Stelle – nicht, ob Männer und Frauen unter schiedliche biologische Spezies sind). 36 Sei p ein Pferd, e ein Esel und m ein Maultier. Angenommen pCSm und mCSe. Dann folgt wegen (18) sofort pCSe. Somit wäre, da p ein beliebiges Pferd und e ein beliebiger Esel waren, jedes Pferd ein Esel und jeder Esel ein Pferd. Man wüsste dann nicht, was „Pferd” im Kontrast zu „Esel” heißen soll; insofern gäbe es dann weder Pferde noch Esel.
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(21) ∀x (xCSx ⊃ ∃y (xCSy ∧ x≠y))
Nichts ist sui generis
(22) ∃xy xCSy Es gibt mindestens eine Art (23) ∃xy (xCSx ∧ yCSy ∧ ~xCSy) Es gibt mehr als nur eine Art Wäre (22) falsch, so würde dies das aristotelische Fülleprinzip verletzen (wo auch immer es im Text bei Aristoteles genau zu finden ist): Es gäbe dann nicht eine einzige Art und zwar allein mangels Lebewesen, die sie instantiieren. Die Idee, über Arten überhaupt indirekt mittels der Relation „ist artgleich mit“ zu reden, hat in gewisser Weise das Fülleprinzip zur Voraussetzung. Bei Reflexivität von CS folgt die Formel (22) übrigens bereits aus dem prädikatenlogisch üblicherweise vorausgesetzten nichtleeren Redebereich (und erst recht aus (9)).
9. Dissens im Hinblick auf das Prinzip „Mensch zeugt Mensch“ Kann man mit CS auch den Gehalt eines der berühmtesten Prinzipien der aristotelischen Biologie formulieren: „Anthrôpos anthrôpon genna“ – „Mensch zeugt Mensch“?37 Offenbar ist das nur ein Beispiel, und es soll für viele Arten gelten „X zeugt X“. Ein erster Versuch wäre (evtl. auch mit „DA“ statt „A“): (24) ∀xy (xAy ⊃ xCSy) Wenn x Vorfahre von y ist, dann ist x artgleich mit y. Schon (24) ist nicht einfach eine Gleichsetzung von Vorfahrenschaft und Artgenossenschaft. Denn es ist nur eine Implikation, keine Äquivalenz. Bei genauerem Hinsehen merkt man: Aristoteles hätte Formel (24) gar nicht in all ihrer Allgemeinheit befürwortet: (i) Nach De generatione animalium I 1, 715a/b (Text D) ist nach Urzeugung immer nur Xenogenese von asexuellen Nachkommen möglich. Die zweite Generation nach einer Urzeugung 37 Stellen: Aristoteles, Met. Z (VII) 7, 1032a25; Z 8, 1033b32; Λ (XII) 3, 1070a8, 1070a27; Λ4, 1070b34; N (XIV) 5, 1092a16; PA II 1, 646a33; Phys. II 3, 194b13; II 7, 198a26. Ähnlich die Formel anthrôpos ex anthrôpou. Informative Interpreta tion der Formel „Mensch zeugt Mensch“ bei: Oehler 1963.
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muss dabei sogar einer anderen Art angehören als die erste.38 Es ist bemerkenswert, dass dieses Gegenbeispiel zu (24) keine Lebewesen involviert, die sich sexuell fortpflanzen. Es hatte sich ja schon am Ende von Abschnitt 3 herausgestellt, dass die Prinzipien für sich asexuell fortpflanzende Lebewesen sich bei Aristoteles deutlich von denen für sich sexuell fortpflanzende Lebewesen unterscheiden. (ii) Halbesel sind nicht einfach artlos, sondern Pfesel und also ihren Eltern artfremd.39 (iii) Man kann die Stelle De generatione animalium III 10, 760a431 so verstehen, dass die so genannten Bienen nach der Meinung des Aristoteles aus drei verschiedenen symbiotischen Arten bestehen,40 von denen zwei artfremde Nachkommen haben: Manche Nachkommen der Königinnen sind Arbeiterinnen, manche Königinnen. Alle Nachkommen der Arbeiterinnen dagegen sind sterile Drohnen. Auch das wäre ein Gegenbeispiel zu (24). Diese Beispiele haben eine erstaunliche Konsequenz. Der moderne Biologe und Aristoteles sind sich in dem folgenden Postulat einig: (25) ∃xy (xAy ∧ ~xCSy) Xenogenese/Evolution Es kommt vor, dass x Vorfahre von y ist und dennoch x und y nicht derselben Art angehören. Nur ist der Konsens, wie schon im Falle von (12),41 wieder zufällig. Denn beide befürworten (25) aus unterschiedlichen Gründen: der moderne Biologe, weil er an die Evolution glaubt; der aristotelische deshalb, weil er an Xenogenese nach Urzeugung glaubt. Das zeigt, dass man (25) nicht zwingend als Evolutionsprinzip deuten muss, wie es der moderne Biologe tun wird. Die Beispiele zeigen: Aristoteles befürwortet explizit (26) ∃xy (xDAy ∧ ~xCSy) unmittelbare Xenogenese Es kommt vor, dass x direkter Vorfahre von y ist und dennoch x und y nicht derselben Art angehören. 38 „Xenogenese“ ist hier im Wortsinn verstanden, nicht als bloßer phänotypischer Generationenwechsel. 39 Vgl. Abschnitt 7. 40 Aristoteles benutzt dort allerdings nicht das Wort eidos, sondern ausschließlich das Wort genos. Ist es dabei nichttechnisch, als im Sinne von „Sorte“ statt „bio logische Art/Gattung“ gemeint, so ist die Stelle kein Gegenbeispiel zu (24). 41 Vgl. Abschnitt 3.
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Wegen der von ihm angenommenen Reflexivität von CS folgt für ihn sogar das noch stärkere (27) ∃xy (xDAy ∧ ~xCSy ∧ xCSx ∧ yCSy) Es kommt vor, dass x direkter Vorfahre von y ist und dennoch x und y nicht derselben Art angehören, wobei sowohl x einer Art angehört als auch y einer Art angehört. Man bedenke hierbei, dass jedes Maultier ein Exemplar der Art Pfesel ist.42 Auch der moderne Biologe wird (26) befürworten. Schon seine Sicht auf Maultiere, die von der Sicht des Aristoteles abweicht, erfordert das. Und wenn es überhaupt Artgrenzen gibt,43 so wird man sagen müssen: Wo auch immer man eine Artgrenze zieht – irgendwo muss sie einmal sein. Doch (27) wird er sich gut überlegen: Vielleicht gibt es in jedem Speziationsprozess eine Art Puffer der Artlosigkeit (vielleicht auch einen der Mehrartigkeit), so dass eindeutig artzugehörige artfremde Lebewesen nicht in direkt aufeinander folgenden Generationen vorkommen. Wie weit erstreckt sich bei Aristoteles das Konzept der Xenogenese? Eine Stelle in De generatione animalium I 16 ist zunächst verwirrend: (I) Xenogenese zweier artgleicher Eltern? „Bei den Kerbtieren findet zum Teil eine Paarung statt, und dann erfolgt die Entwicklung aus gleichnamigen Tieren, wie bei den Bluttieren, z. B. bei Heuschrecken und Zikaden, ferner Spinnen, Wespen und Ameisen. Andere paaren sich, bringen aber nicht gleichartige Tiere hervor, wie sie selber sind, sondern nur Maden, und sie entstehen auch nicht aus Tieren, sondern aus fauligen Flüssigkeiten oder festen Stoffen, wie Flöhe, Fliegen und Stechfliegen [...].“44 Steht dort wirklich, dass bei sexueller Fortpflanzung artgleicher Flöhe Xenogenese vorkommen kann? Vermutlich nein. Denn es kommt zwar etwas bei der Paarung von Flöhen heraus, aber dabei 42 Vgl. Abschnitt 7. 43 Es könnte sein, dass man schon durch die Annahme einer Relation CS von vorne herein zu scharfe Grenzen zieht. In diesem Beitrag sollen gewisse Konsequenzen der Annahme von CS diskutiert werden, keine Alternativen dazu. Das schließt nicht aus, dass man mit Erweiterung von CS um Elemente einer unscharfen Logik (fuzzy logic) oder gar mit einer ganz anderen Konzeption der biologischen Art systematisch einmal mehr Erfolg hat. 44 GA I 16, 721a2-10.
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handelt es sich lediglich um „Maden“. Und das sind für Aristoteles keine Lebewesen, sondern bloße Nahrungsspeicher.45 Streng genommen, findet hier also gar keine sexuelle Fortpflanzung statt. Eine Reihe von Stellen legt es sehr nahe – auch wenn sie als Teilstücke von Argumenten nicht immer leicht zu interpretieren sind –, dass Aristoteles die Grenze der Möglichkeit der Xenogenese bei der (sexuellen) Fortpflanzung zweier artgleicher Lebewesen zieht. Bei der sexuellen Fortpflanzung zweier artgleicher Lebewesen kann wirklich nur wieder Artgleiches herauskommen: (J) Artgleicher Nachwuchs bei Paarung „Und alle Tiere, die aus einer Paarung von Artgenossen hervorgehen, zeugen ebenfalls wieder nach Arteinheit.“46 „Manche Tiere bringen ja gar nicht Männchen und Weibchen hervor, sofern sie nämlich selber nicht aus Weibchen und Männchen entstanden sind noch aus einer Paarung.“47 „Sobald jedoch Weibchen und Männchen unterscheidbar sind, ist es unmöglich, dass das Weibchen den Zeugungsvorgang bis zum Ende allein führen kann, da sonst das Männchen überflüssig wäre und die Natur nichts Überflüssiges schafft.“48 Diese Beobachtung führt zu einem für die Interpretation der aristotelischen Biologie, Naturlehre und Metaphysik beachtenswerten Ergebnis: Das Prinzip „anthrôpos anthrôpon genna“ lässt sich schon bei Aristoteles nicht zu einem Prinzip „X zeugt X“ mit Nennung einer beliebigen biologischen Art an der X-Stelle verallgemeinern. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass das Prinzip nur dann einschlägig ist, wenn ein Lebewesen zwei miteinander artgleiche direkte Vorfahren hat. Die präzise Formulierung des scheinbar so einfachen „anthrôpos anthrôpon genna“ ist demnach: (28) ∀xyz (xCSy ∧ x≠y ∧ zDDx ∧ zDDy ⊃ zCSx) anthrôpos anthrôpon genna Ist z direkter Nachkomme zweier artgleicher Lebewesen, so ist z mit diesen artgleich.49 45 GA 11, 762b21-24 (oben: Text E in Abschnitt 2), zur Rolle der „Maden“ bei der Urzeugung der Aale. 46 GA I 1, 715b2-4. 47 GA II 4, 737b12-14. 48 GA II 5, 741b2-5. 49 Das Sukzedens lässt sich wegen (18), das der aristotelische Biologe annimmt, verstärken um „∧ zCSy“.
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Darf der moderne Biologe das befürworten? Im Rahmen des hier gewählten Ansatzes: nein. Denn wenn es überhaupt Artgrenzen (zwischen sich sexuell fortpflanzenden Arten) gibt, dann müssen sie auch irgendwo einmal sein. Erst recht wird der moderne Biologe das folgende Prinzip ablehnen: (29) ∀xyz (xCSy ∧ x≠y ∧ zDDx ∧ zDDy ⊃ ∀z’ (z’Az ⊃ z’CSz))50 X nur von Xen Ist z direkter Nachkomme zweier artgleicher Lebewesen, so ist z mit all seinen Vorfahren artgleich. Das heißt: Das Produkt der (sexuellen) Fortpflanzung zweier artgleicher Lebewesen hat unter all seinen Vorfahren keinen, der nicht derselben Art angehört wie seine Eltern. Aristoteles vertritt das. Er muss es vertreten für seine kühne Biologisierung der imitatio des Ewigen und Göttlichen aus Platons Timaios.51 Der moderne Biologe kann (29) nicht befürworten: Nicht alle meine Vorfahren sind Menschen. Die allermeisten sind keine Menschen. Dafür bin ich mit allem Leben (im Bereich des Lebens, das wir kennen) verwandt. Und zwar nicht irgendwie, sondern wörtlich genommen.
10. Art-Inseln Es wäre verfehlt, das große, Richtung Zukunft grosso modo wie eine Baumkrone zerfaserte Abstammungsnetz der modernen Biologie als etwas ideengeschichtlich völlig Neues zu sehen. Vielmehr liegt es nahe, es als eine Fusion aristotelischer Art-Inseln zu betrachten. Diese Art-Inseln werden in der modernen Topographie des Lebens, indem sie Teil einer Evolution werden, nun zu langgestreckt-fingrigen Halbinseln oder zu Abschnitten davon. Die Rede von Art-Inseln, die zu Halbinseln werden, lässt sich weniger metaphorisch mit Hilfe der folgenden Definitionen fassen: (30) M ist eine monospezifische Insel gdw (i) M ist eine Insel im Sinne von (15); (ii) Für jedes x, y aus M gilt: x ist artgleich mit y. 50 NB: Es darf wegen Maultieren und ähnlichen Fällen im Sukzedens von (29) nicht „D” statt „A” stehen. 51 Vgl. De an. II 4, 415a26-b7 (oben: Text C) mit Platon, Timaios 47b-c.
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Im Bild des aristotelischen Biologen kommen viele AbstammungsInseln im Sinne von (15) vor. Eine solche Insel war ja dadurch charakterisiert, dass zwei Lebewesen, die ihr angehören, wenigstens durch einen gemeinsamen Vorfahren oder Nachkommen biologisch verbunden sind. Das schließt Xenogenese freilich nicht aus. Das Besondere an einer monospezifischen Insel ist, dass alle Lebewesen, die zu ihr gehören, derselben Art angehören. Das schließt aber immer noch nicht aus, dass es Lebewesen derselben Art gibt, die zu anderen Inseln gehören. Eine maximal monospezifische Insel dagegen umfasst alle Lebewesen einer Art und keine irgendeiner anderen Art: (31) M ist eine maximal monospezifische Insel gdw (i) M ist eine monospezifische Insel im Sinne von (30); (ii) Es gibt keine von M verschiedene Insel M‘, so dass es ein x aus M und ein y aus M‘ gibt und x ist artgleich mit y. Kann es sein, dass eine Art komplett zu einer Insel gehört, aber auch Exemplare einer anderen zu ihr gehören? Im Prinzip ja. Noch immer kann man dann aber von einer Artersteckung sprechen, wenn alle Exemplare der Art über die Vorfahren-Relation wenigstens indirekt zusammenhängen: (32) M ist eine Arterstreckung gdw (i) Jedes x und jedes y aus M sind über die Vorfahren-Relation A verbunden oder haben einen gemeinsamen Vorfahren oder Nachkommen; (ii) x und y sind genau dann artgleich, wenn beide Element von M sind. Mit den neuen Begriffen lassen sich einige Thesen der aristotelischen Biologie genauer fassen: (a) Viele aristotelische Abstammungs-Inseln sind maximal monospezifisch, insbesondere im Falle von Spezies, die sich sexuell fortpflanzen. Ein wichtiges Beispiel ist die Arterstreckung der Art Mensch. (b) Nicht alle Inseln sind maximal monospezifisch: Durch Urzeugung entstandene Lebewesen derselben Art kommen typischerweise auf verschiedenen Inseln vor. Nicht alle biologischen Arten bilden also Arterstreckungen. (c) Jede maximal monospezifische Insel ist eine Arterstreckung, aber das Umgekehrte gilt nicht unbedingt. Die Art Pferd bildet eine Arterstreckung, die Art Esel auch (und die Art Pfesel auch). https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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(d) Nicht alle Inseln sind überhaupt monospezifisch: Auf der Insel der Pfesel hängt der Bereich der Pferde mit dem Bereich der Esel über den schmalen Streifen der Maultiere/Maulesel zusammen. Sie ist also polyspezifisch, mit den Arten Pferd, Esel und Pfesel. Für den modernen Biologen gibt es (im Bereich des Lebens, das wir kennen) nur eine Insel und die ist polyspezifisch. Dadurch, dass für ihn in keinem Fall Arterstreckung und Insel zusammenfallen, bekommt die Arterstreckung eine größere Bedeutung als in der aristotelischen Biologie. Während im Falle vieler Arten für Aristoteles die Art eine natürliche Grenze am Rand der Insel hat, stellt sich für den modernen Bio-Ontologen das Problem des Zusammenhangs der Art.52
11. Fazit Es ist deutlich geworden, inwiefern Aristoteles zwischen Platon und der modernen Biologie steht. Abstammungsverhältnisse müssen Aristoteles interessieren, weil er die horizontale Formtradition im Stoff gegen Platon stark macht. Die moderne Biologie geht erstens in puncto Antiplatonismus über Aristoteles hinaus: Dasjenige, was horizontal tradiert wird, ist keine zielsetzende Essenz mehr, sondern es ist Stoff, der es einfach aufgrund seiner stofflichen Eigenschaften fertigbringt, in Gang zu setzen, dass sich Stoff in bestimmter Form zusammenfindet und erneuert. Der von Aristoteles genau in diesem Punkt kritisch referierte Empedokles hatte das schon ganz richtig geahnt. Zweitens ist der modernen Biologie zufolge dasjenige, was horizontal tradiert wird, in weit entfernten Nachkommen nicht mehr typ-identisch und führt zu Stoff in anderer Form. Die aristotelische und die moderne Biologie sind nicht kompatibel, auch nicht „letztendlich“ oder von irgendeiner höheren Warte aus. Es können nicht beide Theorien wahr sein.53 Es gibt an der aris52 Die Rede von Arterstreckungen ist eine Möglichkeit, in erster Annäherung mit dieser Frage umzugehen. Im Detail ist der Begriff der Arterstreckung jedoch zu schwach, um denkbare artfremde Zwischengenerationen auszuschließen. Für einen Lösungsvorschlag für dieses Problem vgl. Strobach 2011. 53 Der so genannte Neoessentialismus (etwa bei Kripke) scheint mir dagegen, wenn man ihn vernünftig ausbuchstabiert, nicht nur mit der modernen Biologie kom patibel, sondern könnte sich mit ihr sogar gut ergänzen. Nur eine Andeutung:
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totelischen Biologie nichts zu modernisieren. Die zielsetzende Essenz ist unrettbar. Es ist die moderne Biologie, die, bei allem, was es noch zu entdecken gibt, im Großen und Ganzen wahr ist.54 Das heißt aber nicht, dass sie nicht selbst in einem ideengeschichtlichen Abstammungsverhältnis steht. Beide Biologien, die aristotelische und die moderne, sind auch nicht etwa inkommensurabel. Im Gegenteil: Sie ließen sich strukturell gut miteinander vergleichen. Immerhin hat der historisch-interkulturelle Vergleich von aristotelischer und moderner Biologie mit angemessenem formalen Instrumentarium die folgenden Ergebnisse gebracht: Es besteht zwischen dem Vertreter der modernen und dem Vertreter der aristotelischen Biologie (a) Konsens über Asymmetrie, Transitivität, Diskretheit und Netz struktur der Vorfahren-Relation; (b) zufälliger Konsens aus unterschiedlichen Gründen über vorfahrenlose Lebewesen; (c) Dissens über die Möglichkeit einer unendlichen Ahnenreihe; (d) Dissens über einen „Baum des Lebens“; (e) Konsens im Hinblick auf die Symmetrie der Artgenossenschaft; (f) vermutlich Dissens im Hinblick auf die Transitivität der Artgenossenschaft; (g) vermutlich Dissens im Hinblick auf die Reflexivität der Artgenossenschaft; (h) Dissens über das Prinzip „Mensch zeugt Mensch“; (i) zufälliger Konsens über Xenogenese; (j) Dissens über maximal monospezifische Inseln. Die gewählte formale Betrachtungsweise hat es somit erlaubt, die Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen aristotelischer und moderner Biologie so zu ordnen und in einen Zusammenhang zu bringen, wie es bisher nicht möglich gewesen ist.
Es scheint mir, dass ein Kladogramm in seiner üblichen Interpretation soviel an objektiver Struktur der Lebenswirklichkeit enthält, wie sich ein Neoessentialist nur wünschen kann. 54 Der mit dem Vokabular der Wissenschaftstheorie vertraute Leser sieht hier, dass ich, jedenfalls was die Biologie angeht, nicht an die pessimistische Meta-Induk tion glaube. Mal ehrlich: Welche empirischen Daten sollten uns je wieder an einer biologischen Evolution, an der Zellstruktur von Lebewesen oder an der Existenz der DNA zweifeln lassen?
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Aristoteles’ Kategorienschrift Formal-ontologische Ressourcen für die moderne Biologie1
„Wir leben im Zeitalter der digitalisierten Informationen: Milliarden von Webseiten sind im Internet zugänglich, Supermarktketten sammeln Terabytes von Kundeninformationen, und Krankenhäuser versuchen, ihre Arbeit in elektronischen Krankenakten zu dokumentieren.2 Ganze Wissenschaftszweige wie die Genetik sind heute ohne die digitalisierte Speicherung von Informationen und deren Abruf kaum vorstellbar, so riesig ist der Bestand an Daten, die von Wissenschaftlern in diesen Bereichen gesammelt werden. Allein bei der Beschreibung der DNS-Sequenz eines einzigen Menschen müssen 3,2 Milliarden Basenpaare beschrieben werden. Bei geschätzten 15 Millionen lebenden biologischen Arten, von denen bisher etwa ein Zehntel wissenschaftlich beschrieben ist, ist es nicht schwer, den Überblick zu verlieren. Vor hundert Jahren war es für einen Arzt noch möglich, den wissenschaftlichen Fortschritt in seinem Berufsfeld nachzuvollziehen. Heutzutage müsste er hingegen mehrere Wochen lesen, um die Erkenntnisse eines einzigen Tages in der medizinischen Forschung zu bewältigen.3 Doch wie kann ein Arzt die für ihn wichtigen Informationen finden, wenn er sie benötigt? Wie stellt ein Zoologe sicher, dass eine von ihm entdeckte Tierart zuvor tatsächlich noch nicht wissenschaftlich beschrieben worden ist? Wie finden wir die relevanten Seiten im riesigen Meer des Internets oder Einträge in Datenbanken? Wir brauchen verlässliche Techniken zum Informationsabruf: Suchmaschinen, Indizes, Kategorien. Gerade in den Biowissenschaften sprießen sogenannte Ontologien 1
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Dieser Text ist eine erweiterte deutschsprachige Fassung meiner „unzeitgemäßen Rezension“ („untimely review“) der Kategorienschrift in der Zeitschrift Topoi 26 (2007), 151-158. Dank gebührt Ingvar Johansson, Bertram Kienzle, Barry Smith und Niko Strobach für ihre Kommentare zur englischen Version des Textes, den Diskutanten in Kassel für ihre anregenden Fragen und Gelord Opitz für seine Unterstützung bei der Erstellung dieser deutschsprachigen Fassung. Vgl. Ball/Collen 1992. Vgl. Gaus 2003.
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wie Pilze aus dem Boden, die biomedizinische Datenbanken strukturieren und vernetzen sollen.4 Da wir mit dem dringenden Bedürfnis nach Kategorisierung konfrontiert sind, ist ein Buch über Kategorien mehr als willkommen. Aristoteles, ein junger griechischer Philosoph aus Athen, hat jetzt eine philosophische Untersuchung zu diesem Thema veröffentlicht.“ So könnte eine Rezension der Kategorienschrift des Aristoteles beginnen, würde das Werk heute erscheinen. Ziel dieses Essays ist es, über eine solche „unzeitgemäße Rezension“ zu spekulieren: Wie würde sie wohl fortfahren? Diese Frage wäre leichter zu beantworten, wenn wir es mit einem vernachlässigten und bislang wenig einflussreichen Text zu tun hätten. Denn ein solcher Text könnte im Unterschied zu einem Klassiker einen neuen, frischen Einfluss auf die zeitgenössische Philosophie haben. Ein Klassiker ist hingegen per Definition weder vernachlässigt noch ohne Einfluss und hat somit bereits eine prägende Wirkung auf die Philosophie ausgeübt und übt sie weiterhin aus. Dies gilt insbesondere für die Kategorienschrift, die seit mehr als zwei Jahrtausenden zu den einflussreichsten philosophischen Texten gehört. Einer unzeitgemäßen Rezension der Kategorienschrift stellt sich als weiteres Problem, dass aufgrund der uneinheitlichen Überlieferung nicht nur die Echtheit des Titels „Über die Kategorien“ in Frage steht, sondern auch die Autorschaft des Aristoteles.5 Einen schlagenden Grund gegen die Autorschaft des Aristoteles sehe ich nicht, aber das ist auch nicht entscheidend, wenn es um den Wert der kleinen Schrift für die Gegenwart geht. Mitunter werde ich Stellen von anderen Arbeiten zitieren, die auf Aristoteles zurückzuführen sind. Wer auch immer daran zweifelt, dass der Text von Aristoteles verfasst wurde, möge, wenn es um den Autor der Kategorienschrift geht, dem Namen „Aristoteles“ ein „Pseudo-“ voranstellen und die angegebenen Querverweise als Hinweise zum argumentativen Kontext auffassen. Ganz entsprechend werde ich auch den traditionellen Titel verwenden, ohne mich auf seine Authentizität festlegen zu wollen. Es gibt aber noch ein anderes Problem bei der Beurteilung des Einflusses, den die Kategorienschrift hätte, würde sie heute erschei4
Die „Open Biological and Biomedical Ontologies (OBO) Foundry“ umfasst 121 Ontologien, die Plattform „Bioportal“ sogar 438 Ontologien (Stand April 2015). Vgl. dazu Smith et al. 2007 und Whetzel et al. 2011. 5 Die Autorschaft des Aristoteles bezweifelt etwa Schmitz (1985), während Frede (1983) keinen guten Grund sieht, an Aristoteles’ Autorschaft zu zweifeln.
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nen. Der kurze Text, der uns unter diesem Titel überliefert ist, ist ohne Zweifel eine schöne kleine ontologische Übung. Trotzdem ist es eher unwahrscheinlich, dass er gegenwärtig in einer Zeitschrift wie Erkenntnis oder dem Journal of Philosophy veröffentlicht werden würde. Es fängt schon mit der Sprache an, in der er geschrieben ist: Aristoteles’ hartes Altgriechisch ist heute auch für philosophische Publikationen keine Standardsprache mehr. Zudem gibt es keine Fußnoten und Literaturangaben, keine Zwischenüberschriften und Indizes, und zeitweise (besonders in Kapitel 9) macht der Text den Eindruck eines bloßen Entwurfs. Tatsächlich wird weithin angenommen, dass der große Teil der uns überlieferten aristotelischen Texte als Aufzeichnungen für den Gebrauch innerhalb des Peripatos entstanden sind und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Unklar bleibt, ob der Text eine zusammenhängende Abhandlung zu einem einzigen Thema oder eher eine Sammlung von unterschiedlichen Gedankengängen ist, die lediglich lose miteinander verbunden sind. Aristoteles beginnt mit der Unterscheidung zwischen Homonymen, Synonymen und Paronymen. Bei dieser Unterscheidung weicht er jedoch vom modernen Sprachgebrauch ab, demzufolge dies Ausdrücke für die Wörter sind, mit denen wir reden, während sie bei Aristoteles die Dinge bezeichnen, über die wir reden. Synonyme etwa sind üblicherweise unterschiedliche Wörter mit derselben Bedeutung, wie z. B. „Handy“ und „Mobiltelefon“; bei Aristoteles sind Synonyme jedoch zwei Dinge, die mit demselben Wort mit derselben Bedeutung bezeichnet werden können. Sagen wir etwa sowohl von Sokrates als auch von Platon, dass sie ein Mensch sind, so benutzen wir „Mensch“ in diesen beiden Fällen mit derselben Bedeutung. Sokrates und Platon sind also in diesem Sinne Synonyme, wenn man sich auf sie mit dem Ausdruck „Mensch“ bezieht. Entsprechendes gilt für Homonyme: Homonyme sind Dinge, für die wir zwar das gleiche Wort, aber mit unterschiedlichen Bedeutungen benutzen, z. B. die Institution, die mein Geld verwaltet, und das längliche hölzerne Ding im Park. Beide werden „Bank“ genannt, doch mit unterschiedlichen Bedeutungen desselben Wortes. Was können wir nun in Sachen Klassifikation von Aristoteles lernen? Aristoteles präsentiert zunächst (in Cat. 2) eine Kreuzklassifikation von Dingen, über die etwas ausgesagt oder nicht ausgesagt werden kann (weil sie Individuen oder aber Universalien sind) bzw. die anderen Dingen zugrunde liegen oder nicht (und dementsprechend sind sie unabhängige Substanzen oder abhängige Akzihttps://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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denzien). Kombiniert ergeben diese beiden Unterscheidungen eine vierfache ontologische Klassifikation von Entitäten:6 Vom Zugrundeliegenden ausgesagt
Nicht vom Zugrunde liegenden ausgesagt
Braucht ein anderes als Zu grundeliegendes
Akzidenz-Universalien (Weiß, Wissenschaft)
Individuelle Akzidenzien (dieses Weiß, diese Wissen schaft)
Braucht kein anderes als Zu grundeliegendes
Substanz-Universalien (Mensch, Pferd)
Individuelle Substanzen (dieser Mensch, dieses Pferd)
Diese vierfache Unterscheidung von Seiendem konvergiert mit VierKategorien-Ontologien, wie sie von Autoren wie Jonathan Lowe oder Barry Smith verteidigt worden sind.7 Unter Ontologen ist es umstritten, ob tatsächlich jedes dieser vier Felder in einer Ontologie akzeptiert werden muss. Einige Ontologen versuchen gar, sich mit nur einem der Felder zufriedenzugeben, wie etwa die sogenannten Tropen-Theoretiker, die nur individuelle Akzidenzien anerkennen.8 Andere, wie David Armstrong, akzeptieren zwei der Bereiche, nämlich individuelle Substanzen und Akzidenz-Universalien, weisen aber individuelle Akzidenzien und Substanz-Universalien zurück. Bertrand Russell hat in seinen späteren Jahren nur Universalien anerkannt und sowohl individuelle Substanzen als auch individuelle Akzidenzien abgelehnt.9 Angesichts dieser aktuellen Debatten wäre es gut, ein paar Argumente für die Anerkennung aller vier Bereiche zu haben – doch Aristoteles gibt sich damit zufrieden, uns diese vierfache Unterscheidung lediglich vorzustellen. Zwei Abschnitte später präsentiert Aristoteles eine weitere Klassifikation in Form einer Liste mit zehn Klassen von Dingen, die mit Namen oder Prädikaten bezeichnet werden können. Das Wort „Kategorie“ fällt in diesem Kontext nicht; es kommt erst viel später im Text vor.10 Vermutlich ist es aber eben diese Liste, die dem Werk ihren 6 Zur Geschichte solcher Diagramme vgl. Angelelli 1967, 12; von Wachter 2000, 149. 7 Vgl. z. B. Lowe 2006, Smith 2005. 8 Für einen Überblick vgl. Macdonald 1998. 9 Vgl. z. B. Russell 1940, Kap. 6. 10 Nämlich in Cat. 8, 10b19, b21-22.
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Namen gibt, denn wir wissen aus anderen Texten, dass Aristoteles die Einträge dieser Liste „Kategorien“ nennt, und traditionell wird genau diese Liste als Liste der Kategorien bezeichnet. Ursprünglich bedeutete „Kategorie“ soviel wie „Anklage“ oder „Aussage“, aber dann wurde es zu einem Fachausdruck zunächst für „Prädikat“ und dann für „eine Art von Prädikaten“ (eine Formulierung, die Aristoteles ebenfalls für die Elemente seiner Zehnerliste benutzt) oder sogar, wie in Metaphysik V 7, für „eine Art des Seienden“.11 Zur Bezeichnung seiner Kategorien verwendet Aristoteles nominalisierte griechische Indefinit- oder Interrogativpronomen (was in Aristoteles’ eigenen Notizen ununterscheidbar war und folglich durch die überlieferten Manuskripte allein nicht entschieden werden kann) und nominalisierte Verben: • Ousia oder Substanz oder Wesen (anderswo von ihm auch „das Was-es-ist“ genannt), • das Wieviel, • das Wiebeschaffen, • das Auf-etwas-Bezogene, • das Wo, • das Wann, • das Liegen, • das Haben, • das Tun, • das Leiden. In der Kategorienschrift folgt nun eine Diskussion jener ersten vier Kategorien, von wesentlichen, quantitativen, relativen und qualitativen Dingen (Cat. 5-8). Die verbleibenden sechs Kategorien werden in Kapitel 9 kurz zusammengefasst und flüchtig besprochen. Dann folgt eine Reihe von Bemerkungen zu anderen philosophischen Ausdrücken, die als die Entfaltung der einleitenden Ausführungen zu den Homonymen angesehen werden können. Es gibt Kapitel über das Entgegengesetzte (Cat. 10-11), über Priorität und Gleichzeitigkeit (Cat. 12-13), über Veränderung (Cat. 14) und über das Haben (Cat. 15). Alle diese Themen sind für sich genommen sehr interessant; es ist aber nicht auf den ersten Blick ersichtlich, warum diese Ausführungen in diesen kurzen Text mit einbezogen worden sind. 11 Zur historischen Entwicklung von Aristoteles’ Theorie der Kategorien vgl. Bonitz 1853, Kahn 1978 und Oehler 1997. Vgl. auch Jansen 2005.
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Ein Weg, die scheinbare Uneinheitlichkeit des Textes wegzuerklären, ist, die Kapitel 2-9 ebenfalls als Entfaltung des Themas Homonymität zu lesen. In anderen Werken des Aristoteles findet sich explizit die These, dass das Wort „Sein“ nicht mit der gleichen Bedeutung verwendet wird, wenn es auf eine Substanz, eine Qualität oder eine Relation angewandt wird – oder, kurz gesagt, auf Dinge, die zu unterschiedlichen Kategorien gehören.12 Die Kategorien sind daher höchste Gattungen des Seienden, d. h. sie gehören nicht selbst als Untergattung zu irgendeiner anderen einheitlichen übergeordneten Gattung wie „Seiendes“ oder „Existierendes“,13 denn diese Bezeichnungen haben keine einheitliche Bedeutung. So gesehen können Kapitel 2-9 also als eine Diskussion der Homonymität des Wortes „Seiendes“ verstanden werden. Dieses Merkmal der Homonymität gibt uns auch Anlass zu einer methodischen Anmerkung. Denn die Homonymität von „Seiendes“ macht es unmöglich, Kategorien mit Hilfe ihrer Gattung und ihrer spezifischen Unterschiede zu definieren – weil es einfach keine höhere Gattung gibt, auf die wir uns beziehen könnten. Nichtsdestotrotz ist es möglich, etwas über Kategorien auszusagen und sie voneinander zu unterscheiden. Dies kann durch Beispiele geschehen oder durch Charakterisierung, d. h. durch die Angabe von Eigenschaften, die allen Dingen gemein sind, die unter eine Kategorie fallen.14 Aristoteles benutzt beide dieser Wege. Bei der Aufzählung der zehn Kategorien in Kapitel 4 erläutert er die Kategorie „im Umriss“ (hôs typô, 1b28) durch Beispiele, während er in den Kapiteln über die einzelnen Kategorien (d. h. Cat. 5-8) Fragen wie die folgenden diskutiert: Sind diese Dinge ontologisch abhängig von anderen Dingen? Haben die Dinge in dieser Kategorie Gegensätze? Erlauben sie Abstufungen? Welche Beziehungen haben sie zu anderen Entitäten? Die Antworten zu solchen Fragen werden bis heute gesucht. In einer Zeit einer zunehmenden Flut an Daten und Informationen kann der Großteil unseres wissenschaftlichen Wissens nur elek tronisch gesichert und verarbeitet werden. Um kohärente und arbeitsfähige Wissensdatenbanken zu erstellen und diese mit anderen solchen Systemen kompatibel und interoperabel zu gestalten, ist es notwendig, dass diese Datenbanken miteinander kompatible Ba12 Vgl. z. B. Met. V 7. Johansson (2008) argumentiert dafür, dass selbst die „is a“Relation in modernen formalen Ontologien mehrdeutig ist. 13 Vgl. Met. III 3, 998b22-27. 14 Vgl. Johansson 2004.
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siskategorien nutzen. Aristoteles’ Anregungen in der Kategorienschrift sind ein guter Ausgangspunkt für diese Aufgabe, die mittlerweile als „angewandte Ontologie“ bezeichnet wird.15 Obwohl die Kategorienschrift sich nicht auf den ersten Blick als kohärente Schrift offenbart, sind alle ihre Themen für diesen neuen Wissenschaftszweig relevant, sei es der Zusammenhang zwischen Sprache und Realität (Cat. 1), die Regeln für taxonomische Bäume (Cat. 3) oder die Suche nach den höchsten Gattungen, der top-level ontology (Cat. 2 und 4).16 Welche Kategorien sind Dimensionen von Veränderungen und wie sind diese Veränderungen zu klassifizieren (Cat. 14)? Aristoteles behandelt auch formale ontologische Beziehungen, die zwischen den zu diesen Gattungen gehörenden Entitäten bestehen können, nämlich die formalen Relationen „x liegt y zugrunde“ und „x wird über y als etwas Zugrundeliegendes ausgesagt“ (Cat. 2), „x ist früher als y“ (Cat. 12), „x ist zugleich mit y“ (Cat. 13) und „x hat y“ (Cat. 15). Zumindest der Relation des „Früherseins“, der ontologischen Priorität,17 sollte in der gegenwärtigen angewandten Ontologie mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, wie auch einigen von Aristoteles’ Mitteln zur Charakterisierung der Kategorien. Abstufungen und Gegensätze sind noch keineswegs Standardthemen der angewandten Ontologie, geschweige denn die Bedeutung von Gegensätzen für normative Kontexte – ein Thema, das Aristoteles in Kapitel 11 abhandelt. Allerdings gibt es eine Reihe wichtiger Fragen, die die Kategorienschrift unbeantwortet lässt: • Als erstes muss geklärt werden, ob der Autor der Meinung ist, dass seine Zehn-Kategorien-Liste vollständig ist. In anderen Schriften behauptet Aristoteles die Vollständigkeit der Liste oder zumindest, dass es nur endlich viele Kategorien gibt, bleibt aber ein Argument dafür schuldig.18 • Unklar ist auch, ob etwas stets genau einer Kategorie zuzurechnen ist. Der Autor scheint einige Probleme mit seinen Beispielen zu haben, und er scheint zu der Aussage zu neigen, dass eine Art in eine andere Kategorie gehören kann als seine Gattung (siehe Ende Cat. 8). Das wäre allerdings ein seltsames Ergebnis, denn dann könnte etwas zum Beispiel zugleich eine Qualität und 15 Vgl. als Lehrbücher für diese neue Disziplin Jansen/Smith 2008 und Munn/ Smith 2008. 16 Vgl. dazu Jansen 2008. 17 Vgl. dazu Hoeltje/Schnieder/Steinberg 2013. 18 Vgl. APo I 22, 83b15-17.
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eine Relation sein: Denn das Lesevermögen ist, so Aristoteles, eine Qualität seines Trägers, und es ist eine Art von Vermögen. „Vermögen“ gilt ihm jedoch als relationaler Term. Unter Vor aussetzung der Transitivität der Subsumptionsrelation ergäbe sich daraus, dass das Lesevermögen eine Relation ist. Die Lösung dieses Problems liegt vermutlich darin, dass nicht alle relationalen Ausdrücke auch relationales Seiendes bezeichnen (Cat. 7), sondern manche beispielsweise Qualitäten.19 • Zudem legt der Autor nicht eindeutig dar, wie seine vierfache Unterscheidung der Arten von Entitäten in Kapitel 2 und seine Liste der zehn Kategorien in Kapitel 4 miteinander in Beziehung stehen. Denn etliche Einträge in seiner Liste sind weder substanziell noch kann von ihnen gesagt werden, sie seien „in einem anderem Ding“. Relationen, Orte und Zeiten sind offensichtlich von dieser Art. Relationen sind ontologisch abhängig von ihren Relata, aber inhärieren in keinem von ihnen. Ein Ausweg wäre zu sagen, dass Relationen in ihren Relata als Gesamtheit inhärieren.20 • Auch zu Orten und Zeiten hätte mehr gesagt werden müssen, und Aristoteles hat in der Physik tatsächlich mehr dazu zu sagen. Dort nämlich definiert Aristoteles den Ort eines Gegenstands als die innere Grenze des Körpers, die den betreffenden Gegenstand umgibt, und die Zeit als die Anzahl von aufeinander folgenden Veränderungen21 – Veränderungen aber sind ontologisch abhängig von den sich verändernden Substanzen. Daher gibt es auch in diesen Fällen eine enge Verbindung zur Kategorie der Substanz. • Da Aristoteles für seine letzten sechs Kategorien nur ein paar Beispiele anführt, ist es unklar, welche Kriterien für diese Kategorien gelten. Am Ende des Buches gibt es ein Kapitel über das „Haben“ (Cat. 15), das sich mit vielem beschäftigt, aber nicht mit jener Kategorie des Habens, die er in der Liste in Cat. 4 anführt. Einige Kategorien scheinen überflüssig zu sein oder zumindest nicht so wesentlich wie andere. Warum beispielsweise benötigen wir eigene Kategorien für das Haben und die Lage?22 Aristoteles’ Beispiele für das Haben sind: „Schuhe tra19 Mehr zu diesem Problem in Jansen 2006. 20 Vgl. Jansen 2006, 86 Anm. 14, Smith/Ceusters 2007. 21 Vgl. Phys. IV 4, 212a6 (Raum) und Phys. IV 11, 219b2 (Zeit). 22 Vgl. Met. V 7.
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gen“ oder „Waffen tragen“. Könnten wir diese nicht als eine besondere Art des „Auf-etwas-Bezogenen“ ansehen, anstatt eine neue Kategorie zu schaffen? Zu guter Letzt: Die Kategorien erscheinen als bloße Liste. Sie könnten strukturierter präsentiert werden. Aristoteles selbst bestätigt immer wieder die Wichtigkeit der ersten Kategorie, der Substanz:23 Substanzen sind letztendlich die Grundlage für alle anderen Dinge. Quantitäten und Qualitäten existieren dann und nur dann, wenn es Substanzen gibt, die diese Quantitäten und Qualitäten haben. Gleiches gilt für Relationen. Sie existieren dann und nur dann, wenn es Substanzen gibt, die in gewisser Art miteinander verbunden sind. Letztendlich ist es diese Besonderheit, die der Ontologie die für eine wissenschaftliche Disziplin nötige thematische Einheit gibt. Angesichts der Homonymität von „Sein“ ist diese zunächst in Gefahr – es gibt ja auch keine Bankwissenschaft, die sowohl Geldinstitute als auch längliche Sitzgelegenheiten untersucht. Aber da alle anderen Kategorien von der Existenz der Substanzen abhängig sind, so das Argument des Aristoteles, ist alles Sein letztendlich verbunden mit dem Sein der Substanzen.24 Folglich ist eine erste große Unterscheidung zu treffen zwischen den abhängigen und unabhängigen Entitäten. Die einzigen unabhängigen Entitäten sind individuelle Substanzen; alle anderen Entitäten sind in der einen oder anderen Weise von ihnen abhängig (Cat. 5). Eine zweite Trennung innerhalb der aristotelischen Kategorien ist die Unterscheidung zwischen Kontinuanten und Okkurrenten: Kontinuanten existieren als Ganzes zu jedem Zeitpunkt, an dem sie überhaupt existieren, wohingegen Okkurrenten Zeiträume benötigen, um sich als Ganzes zu entfalten. Substanzen, Quantitäten, Qualitäten und Räume können als Ganzes in einem bestimmten Moment existieren. Tätigsein, Erleiden und (trivialerweise) Zeitintervalle benötigen Zeitintervalle für ihre Existenz. Die Letztgenannten werden daher als „Perduranten“ oder „Okkurrenten“ bezeichnet, die erstgenannten als „Enduranten“ oder „Kontinuanten“.25 Wenn wir zu diesen beiden großen Unterteilungen noch ein paar
23 Vgl. Cat. 5, 2a34-35, 2b3-5, 2b15-17. 24 Vgl. Met. IV 2. 25 Vgl. Johnson 1921, 199 für die klassische Definition von Okkurrenten/Konti nuanten und Lewis 1986a, 202 für Perduranten/Enduranten.
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Feinheiten hinzuzufügen, ergibt sich die in Abbildung 1 vorgelegte Hierarchie der Kategorien.26 Dieses Baumdiagramm ist nicht notwendigerweise vollständig. Es kann ergänzt und verfeinert werden. Das scheint mir durchaus mit dem in der Kategorienschrift vorgestellten Vorhaben übereinzustimmen, denn diese macht eher den Eindruck eines Arbeitsprotokolls für ein laufendes Forschungsprojekt, als etwas Endgültiges und Vollständiges. Barry Smith hat zum Beispiel vorgeschlagen, dass Aristoteles’ Liste um Kategorien für nichtmaterielle Dinge wie Löcher, Höhlen oder Tunnel ergänzt werden müsste,27 die für die Klassifikation anatomischer Entitäten wie die Bauchhöhle, den Mundraum oder das Zell-Lumen benötigt werden. Für die Zwecke der Medizin und der Lebenswissenschaften werden auch Kategorien wie Funktion, Disposition oder Tendenz nützlich sein.28 Ein wichtiger Aspekt muss erwähnt werden, der im Baumdiagramm selbst nicht vorkommt: Der oberste Knotenpunkt ist „Einzelding“. Aber Dinge kommen nicht nur als partikulare Tokens vor, sondern auch als Typen oder Universalien. Die Universalien teilen sich also ebenfalls in zehn Kategorien auf und folglich wiederholt sich das Schema mit einem obersten Knotenpunkt „Universale“. Nur muss das Schema etwas anders erläutert werden, wenn es um die Einteilung der Universalien geht. Denn bei den Universalien gibt es keine Aufspaltung in abhängige und unabhängige Universalien. Denn Aristoteles zufolge sind alle Universalien abhängige Entitäten: Sogar die Existenz einer Substanz-Art ist ontologisch abhängig von der Existenz eines Exemplars dieser Art.29 Es gibt also keine unabhängigen Universalien, sondern nur Universalien von unabhängigen Dingen, d. h. Universalien, deren Exemplare unabhängig sind. Es gibt bei den Universalien auch keine Unterscheidung zwischen Kontinuanten und Okkurrenten, weil kein Universale eine zeitliche Entwicklung hat.30 Es gibt keine Universalien, die Kontinuanten sind, sondern nur Universalien von Kontinuanten und Universalien von Okkurrenten, d. h. Universalien, deren Exemplare jeweils Kontinuanten oder Okkurrenten sind. 26 Frühere Vorschläge für eine Strukturierung der aristotelischen Kategorien wur den z. B. von Thomas von Aquin (In Phys., lectio 1, 6) und Franz Brentano vorgelegt (Brentano 1862; vgl. Simons 1992). 27 Vgl. Smith 2003. 28 Vgl. Röhl/Jansen 2014 und Jansen 2007. 29 Vgl. Cat. 5, 2a35-b6c. 30 Vgl. Johansson 2005, Hennig 2008.
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Substanz
Ohne Veränderung
Unabhängig
Tun
Leiden
Mit Veränderung einhergehend
Okkurrent
Einzelding
Zeit
Worin Veränderung stattfindet
Abhängig
Qualität
Quantität
In einem einzelnen Träger
Abb. 1: Ein Schematismus für die aristotelischen Kategorien
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Haben
Relation
In mehreren Trägern gemeinsam
Kontinuant
Ort
Worin die Träger sein können
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Einige Lehren der Kategorienschrift blieben nachdrücklich im kulturellen Gedächtnis der philosophischen Schulen haften, etwa die Liste der Kategorien selbst. Die Liste ist noch heute philosophischer Gemeinplatz, obwohl (oder gerade weil) sie immer und immer wieder kritisiert worden ist, unter anderem von den Stoikern, den Neuplatonikern, Kant und vielen zeitgenössischen Ontologen. Andere Teile hingegen sind vernachlässigt worden und könnten aktuelle ontologische Forschungsprojekte erneut anregen. Hier möchte ich zwei Dinge erwähnen: Aristoteles’ Nicht-Reduktionismus und das, was ich seinen „Konkretismus“ nennen möchte. Viele zeitgenössische Ontologen sind Reduktionisten. Sie versuchen die Anzahl der Kategorien der Dinge, die ‚wirklich’ existieren, auf ein Minimum zu reduzieren, und schenken dabei den anderen Kategorien keine Beachtung. Nicht so Aristoteles: Er sieht die Aufgabe der Ontologie nicht darin, so viele Kategorien wie möglich zu beseitigen, sondern jeder Kategorie ihren Platz in der Welt der Dinge zuzuschreiben. Sein Hauptwerkzeug hierfür ist die in Kapitel 12 behandelte Relation der Priorität. Die wichtigste Art der Priorität für ontologische Zwecke ist die „natürliche Priorität“, die von Aristoteles als eine Art der ontologischen Abhängigkeit definiert wurde: A ist naturgemäß früher als B, wenn es möglich ist, dass A ohne B existiert, aber nicht B ohne A – oder, wenn sich beide wechselseitig bedingen, wenn B ist, weil A ist (Cat. 12, Met. V 11). Mit einer solchen formalen Relation ist es möglich, auf den Reduktionismus zu verzichten, ohne den Gedanken aufzugeben, dass einige Entitäten grundlegender sind als andere. Das zweite Merkmal, auf das ich hinweisen möchte, ist Aristoteles’ Konkretismus. Manchmal bezeichnet dieser Ausdruck die Darstellung einer unanschaulichen abstrakten Idee durch anschauliche konkrete Dinge. Hier verwende ich den Ausdruck aber als Beschreibung von Aristoteles’ Gewohnheit, konkrete Dinge mit Hilfe von Ausdrücken zu beschreiben, die von Namen abstrakter Dinge abgeleitet sind, etwa wenn es um das Zwei-Meter-Ding geht, um den Kranken oder um Vater und Sohn. Diese Redeweise deutet darauf hin, dass Aristoteles an vielen Stellen der Kategorienschrift klarerweise eine Ontologie des Konkreten und nicht des Abstrakten entwickelt. Viele zeitgenössische Ontologen versuchen, die Struktur von konkreten Dingen zu erklären, indem sie Dinge in eine Vielzahl von abstrakten Bestandteilen aufteilen. Am deutlichsten ist dies bei der Tropen-Theorie, denn für Tropen-Theoretiker besteht die Welt überhaupt nur aus abstrakten Partikularien. Obwohl es auch in der https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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Kategorienschrift Spuren einer Diskussion abstrakter Entitäten gibt, ist diese doch nicht so dominant, wie man es vor dem Hintergrund der Tradition erwarten könnte. Anhaltspunkte für Aristoteles’ Konkretismus finden sich auch in seinen Bezeichnungen für die „großen“ Kategorien (d. h. für diejenigen Kategorien, die er in Cat. 5-8 ausführlicher diskutiert), die allesamt Bezeichnungen für konkrete Dinge sind. Am offensichtlichsten ist das im Fall der pros ti, wörtlich der „Auf-etwas-Bezogenen“, zu erkennen, die im Kapitel 7 behandelt werden: Väter und Söhne sind pros ti, nicht Vaterschaft oder Sohnschaft. Ein pros ti ist bei Aristoteles folglich keine abstrakte Relation, sondern ein Ding, auf das ein bestimmtes Substantiv zutrifft, weil es ein Relatum für eine solche Relation ist. Nur in Metaphysik V 15, 1021b6-8 bezeichnet der Ausdruck pros ti die Relation selbst. Diese Ausnahme bestätigt nicht nur die Regel, sondern auch, dass Aristoteles sich durchaus des ontologischen Unterschieds zwischen Relatum und Relation bewusst ist. Für einige Kategorien hat er sogar unterschiedliche Bezeichnungen für Konkretum und Abstraktum, was es ihm erlaubt, sowohl zwischen Quale und Qualität (poion, poiotês) als auch zwischen Quantum und Quantität (poson, posotês) zu unterscheiden. Letzteres verwendet Aristoteles nur selten – wahrscheinlich deshalb, weil es in seinen Ohren noch viel seltsamer als die von ihm schon vorgefundene Wortschöpfung poiotês, „Qualität“, klingt.31 Der Preis, den Aristoteles dafür bezahlt, ist, dass er poson sowohl für das konkrete Quantum als auch für die abstrakte Quantität benutzen muss. Das führt zu Verwirrung, da er sich im Vorfeld in Cat. 2 zunächst viel Mühe gegeben hat, sie voneinander zu unterscheiden. Was die moderne (angewandte) Ontologie daraus lernen kann, ist, dass wir zwei Arten von Dingen zu kategorisieren haben, die konkreten Dinge und die abstrakten Dinge. Wir müssen rote Dinge, lange Dinge und Väter auf der einen Seite betrachten und die Farbe Rot, Länge und Vaterschaft auf der anderen Seite. Und wir müssen die enge Verbindung zwischen den Entitäten in diesen beiden Listen explizieren. Eine weitere Inspiration könnte die derzeitige Ontologie daraus schöpfen, dass Aristoteles nicht an sprachliche Ausdrücke denkt, wenn er von Homonymen und Synonymen redet, sondern von Dingen. Denn die Ontologie beschäftigt sich mit den Dingen in der Wirklichkeit und nicht mit sprachlichen Ausdrücken oder kultu31 Vgl. Platon Theaitet, 182a8.
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rellen Vorstellungen. Jedoch wären wir ohne Sprache nicht in der Lage zu kommunizieren, auf welche Aspekte der Wirklichkeit wir uns überhaupt beziehen wollen. Hinweisende Gesten können primär nur auf konkrete Dinge verweisen, etwa auf einen rollenden roten Ball. Aber mit den Mitteln der Sprache können wir auf Eigenschaften Bezug nehmen, die wir von den wahrgenommenen konkreten Dingen abstrahieren. Deshalb können wir sowohl zwischen der Rundheit, der Röte und dem Rollen des Balles, als auch dem Runden, dem Roten und dem rollenden Gegenstand unterscheiden – obwohl es ein und derselbe runde, rote und rollende Ball ist. Die bezugnehmende Funktion der Sprache ist das Mittel der Ontologen, um die unterschiedlichen Elemente der Realität aufzugreifen und zu unterscheiden. Allerdings sind genau diese Elemente das Thema der Ontologie; die Sprache der Ontologen ist also ein Instrument und kein Bereich der Forschung – und darum haben wir einen guten Grund, Aristoteles darin zu folgen, über die bezeichneten Dinge und nicht über die bezeichnenden Ausdrücke zu reden. Für das spezielle Problem der Strukturierung biomedizinischer Datenbanken können freilich wichtige Anregungen auch aus anderen Schriften des Aristoteles entnommen werden. Denn die Biologie ist keine Wissenschaft unzeitlicher und unveränderter Entitäten wie die Mathematik. Daher bedarf eine Darstellung biologischer Entitäten auch einer Ontologie der Veränderungen. Die Andeutungen dazu aus der Kategorienschrift (Cat. 14) hat Aristoteles in der Physik zu einer umfassenden Deutung der natürlichen Dynamik ausgebaut, in der die Substanz wiederum eine wichtige Rolle als Substrat von Veränderung spielt. Hinzu kommt eine ausgearbeitete Theorie kausaler Eigenschaften – der Vermögen (dynameis32) und Naturen (physeis).33 Insbesondere die Naturen sorgen als einheitsstiftende Prinzipien dafür, dass es auch in der Welt der Biologie Regelmäßigkeiten gibt, die der Biologe beschreiben kann.34 Da die Welt der Biologie beständig Varianten hervorbringt, ist es durchaus adäquat, dass die entsprechenden biologischen Regeln Ausnahmen zulassen: Sie gelten in den meisten Fällen (hôs epi to poly), lassen aber Ausnahmen zu.35
32 Vgl. bes. Met. IX; vgl. dazu Jansen 2002b und 2009. 33 Vgl. Müller 2006. 34 Vgl. Phys. II 1-2. 35 Vgl. Jansen 2015.
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Solches oder Ähnliches könnte der Inhalt einer unzeitgemäßen Rezension sein. Wie könnte solch eine Rezension abschließen? Vielleicht so: Aristoteles’ Kategorienschrift kann uns helfen, uns in großen Datenmengen zurechtzufinden, sei es in biomedizinischen Datenbanken oder im Internet. Jeder Suchalgorithmus und jede Retrieval-Strategie, die mehr als die Suche nach einer Folge von Buchstaben sein soll, sollte als erstes prüfen: Zu welcher Kategorie gehört der Gegenstand, nach dem ich suche? Aristoteles’ kleine Abhandlung schlägt hilfreiche Perspektivenwechsel vor, die der gegenwärtigen Ontologie gut tun würden, insbesondere dem stetig wachsenden Bereich der angewandten Ontologie. Sie können neue Impulse für die Anwendungen der Ontologie in der biomedizinischen Informatik, der Rechtsinformatik und der Wirtschaftsinformatik geben, aber auch neue Arbeiten zu einer altbekannten Frage anregen: Was ist das Sein?
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V. Teleologie
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„Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“ (Phys. 198b8-9) Innere und äußere Finalität bei Aristoteles1
1. Einleitung 1.1. Wie Sedley treffend bemerkt, ist Aristoteles „a steady-state theorist, who manages without any genetic account of the natural order“2. Das natürliche Entstehen und Vergehen, und überhaupt alle natürliche Änderung, ist bei Aristoteles eingebettet in die Zyklen von Tages‑ und Jahreszeiten sowie der Generationenfolge des Lebendigen. Deren Regularität kann auf die jeweiligen – spezifischen und als solche erst individuellen – Naturen der beteiligten Dinge zurückgeführt werden. Diese ändern sich nicht: „Ein Mensch zeugt einen Menschen und eine Pflanze eine Pflanze“3. Das heißt, es hat schon immer ein Mensch einen Menschen und eine Pflanze eine Pflanze gezeugt; und das wird auch immer so weitergehen.4 1 Die im Februar 2009 vorgetragene Fassung dieses Aufsatzes beschränkte sich im Hauptteil auf die hier in Abschnitt 2 besprochenen Stellen (vor allem aus Phys. II 3 und 7, s. u. T1-9); es folgte ein Hinweis auf globale teleologische Zu sammenhänge, bei denen die aristotelische Unterscheidung zwischen Wozu-von und Wozu-für (s. u. T17) zu berücksichtigen ist. Bei der anschließenden Über arbeitung wurde mir zunehmend klar, dass der (möglicherweise) nichttriviale Aspekt meiner Argumentation eben diese Zusammenhänge betrifft. Demgemäß habe ich – vor allem in Auseinandersetzung mit Sedley – die Betrachtung auf Phys. II 8, Pol. I 8 und Met. XII 10 (s. u. T13-16, T20-21) sowie den Begriff der Anpassung (s. u. T18-19, dazu die Abschnitte 3.3.3-3.3.7) ausgeweitet. Dass mir dabei das Manuskript in sehr ungehöriger Weise explodiert ist, war vielleicht unvermeidlich, aber nicht beabsichtigt. Da ich kein anderes mehr habe, gebe ich es gleichwohl zum Druck. – Das Ms. war Anfang 2010 im Wesentlichen abge schlossen. Später erschienene Literatur, vor allem die wichtigen Arbeiten von Mariska Leunissen, konnte nicht mehr systematisch berücksichtigt werden. 2 Sedley 1991, 186. 3 PA II 1, 646a34. 4 Einzelheiten bei Lennox 1985/2001. Vgl. bes. auch den Beitrag von Strobach in diesem Band.
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Die „natürliche Ordnung“, von der Sedley spricht, hat somit einen diachronen und einen synchronen Aspekt: Die diachrone Ordnung des Geschehens ist durch die jeweiligen Naturen der Dinge gewährleistet. Die synchrone Ordnung der Welt, z. B. die Stabilität der Nahrungskette, ist ein Passungsverhältnis zwischen den beteiligten Naturen, das nach Sedley auf eine „globale Natur“ – „the nature of the entire ecosystem, so to speak“ – zurückgeführt werden muss.5 „Natur“ (physis) ist nach Aristoteles eine effiziente, „zu einem Zweck“ (heneka tou) wirkende Ursache, die zur „Substanz“ (ousia) des Gegenstandes, um dessen „Natur“ es sich handelt, gehört (s. u. 2.2.3). Der Zweck, zu dem sie wirkt, ist nach Aristoteles „das Bessere nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“6. In der Generationenfolge des Lebendigen wird durch die jeweils spezifische „Natur“ ein spezifisches Optimum reproduziert (das im Einzelfall durch Störungen beeinträchtigt sein kann). Biologische Merkmale lassen sich demgemäß durch ihre jeweiligen Funktionen erklären. Im Hinblick auf jede sich reproduzierende Art ist die diachrone Ordnung des natürlichen Geschehens eine teleologische Ordnung. Der Bestand der jeweiligen Art und somit die Nachahmung des Ewigen im Vergänglichen fungiert dabei als letztes Ziel; das ist eben die Weise, in der „das gänzlich Bewegungslose und Erste von allem“7 „als Begehrtes bewegt“.8 Auch im Hinblick auf die synchrone Ordnung der Welt spricht Aristoteles von einer Zwecktätigkeit der Natur. Er tut das insbesondere im Hinblick auf lineare, in der letztlichen Nutznießerschaft des Menschen kulminierende Ausschnitte der Nahrungskette;9 deshalb glaubt Sedley, die Struktur dieser synchronen und insofern globalen natürlichen Teleologie als „anthropozentrisch“ charakterisieren zu können.10 5 Sedley 1991, 192 mit Verweis auf Met. XII 10, 1075a11-25 (ebd., a11: hê tou holou physis); s. u. T21. – Ähnlich habe ich selbst in einem früheren Aufsatz bei Aristoteles (Phys. II 8, 198b16 ff.) eine metaphorische Rede von der „Zwecktä tigkeit einer globalen ‚Natur‘“ unterstellt (Heinemann 2002, 61; vgl. ebd., 48). 6 Phys. II 7, 198b9, s. u. T5e. 7 Phys. II 7, 198b2-3, s. u. T6b. 8 Met. XII 7, 1072b3; Einzelheiten bei Kahn (1985). 9 Vgl. bes. Pol. I 8, 1256b22 (s. u. T16b); ebenso wohl auch Phys. II 8, 198b16 ff. (s. u. T13). – Linearität und teleologische Ausrichtung der Nahrungskette sind ein Sonderfall. Den Normalfall von Fressfeindschaft und Nahrungskonkurrenz beschreibt Aristoteles schlicht und treffend als „Krieg“ (HA IX 1, 608b19: pole mos); s. u. 2.2.4 und 3.3.8. 10 Sedley 1991, 179 und passim.
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1.2. Systematisch bedeutsamer als der von Sedley behauptete Anthropozentrismus ist freilich die erwähnte These, dass die letztliche Nutznießerschaft des Menschen an einer ganzen Nahrungskette auf keine spezifische, sondern nur auf eine globale Natur zurückführbar ist. Das ist zwar naheliegend. Aber dieser Rekurs auf eine die jeweiligen Naturen der Dinge umfassende Gesamtnatur ist auch mit einigen Schwierigkeiten behaftet (von denen ich hier nur zwei nenne): Erstens fragt sich, ob diese Gesamtnatur nochmals eine „Natur“ im terminologischen Sinne, d. h. ein zur „Substanz“ eines Gegenstandes gehörender (und insofern „innerer“) „Ursprung“ von dessen „Bewegung und Stillstand“,11 sein soll. Wird dies bejaht, dann müsste sie so etwas wie eine Weltseele sein; aber Sedley räumt selber ein, dass Aristoteles die entsprechenden Annahmen Platons nicht übernimmt.12 Und wenn es sich um keine „Natur“ im terminologischen Sinne handelt, dann liefert der Rekurs auf eine „globale Natur“ auch keine wissenschaftliche Erklärung; gegen Sedleys Intention wird das Passungsverhältnis zwischen den jeweiligen Naturen der Dinge zu einem unhintergehbaren Faktum. Zweitens fragt sich, was die „globale Natur“ hier überhaupt leisten soll. Das Passungsverhältnis zwischen den Naturen der Dinge wird durch diese selbst reproduziert; erklärungsbedürftig ist nicht, warum es sich erhält, sondern warum es überhaupt besteht. Der Sinn der letzteren Frage ist aber nicht ganz klar. Man könnte sie dahingehend verstehen, dass ein solches Passungsverhältnis nur besteht, wenn es irgendwie etabliert worden ist. Aber eben davon kann bei Aristoteles keine Rede sein: Ein Passungsverhältnis zwischen den Naturen der Dinge besteht entweder gar nicht, oder es hat schon immer bestanden. Sedleys Rekurs auf eine „globale Natur“ richtet nichts aus, da diese irgendwann wirken müsste und doch zu jeder Zeit, zu der sie wirken könnte, gar nicht mehr gebraucht wird. Insbesondere kann Aristoteles die Existenz der Arten und die Gewährleistung der nötigen Passungsverhältnisse weder (wie Empedokles) durch Selektion noch (wie Platon und Xenophon) durch den Sachverstand eines göttlichen „Herstellers“ (dêmiourgos) er-
11 Vgl. Phys. II 1, 192b13 ff., Met. V 4, 1015a14-5. 12 Sedley 1991, 192; dazu Wardy 1993, 26.
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klären.13 Nach einer bekannten These Theilers ist die aristotelische physis „die direkte Nachfolgerin der platonischen Weltseele bezw. [sic!] ihrer ‚Personifizierung‘, des dêmiourgos im Timaios“.14 Im Hinblick auf spezifische Naturen ist das nicht ganz abwegig, zumal wo die in der aristotelischen Biologie notorische poietische Metaphorik eine kreationistische Färbung annimmt (s. u. 3.3.5). Aber gerade bei einer „globalen Natur“, von der man es doch am ehesten erwarten würde, bleibt rätselhaft, wie sie den dêmiourgos des Tima ios oder die Weltseele der Nomoi zu vertreten vermag. 1.3. Der Begriff der „Natur“ ist bei Aristoteles ein Begriff von Regularität (und demgemäß in die aristotelische Vier-Ursachenlehre eingebettet). Die einschlägige Vorgeschichte kann bis auf die Auffassung der „Natur“ als genetische oder dynamische Konstitution in den Erziehungstheorien und im methodologischen Selbstverständnis der qualifizierten Berufe des 5. Jh. zurückverfolgt werden.15 Das ist, entgegen einer verbreiteten Auffassung,16 nicht der Naturbegriff der vorsokratischen Kosmologien. Bei den sog. Vorsokratikern ist „Natur“ (physis) der – jeweilige oder gemeinsame – Ursprung und das Zustandekommen der Dinge. Die diachrone und synchrone Ordnung (kosmos) der Welt wird nicht durch die „Natur“ der Dinge erklärt, sondern auf abstrakte Strukturprinzipien zurückgeführt und als Leistung mehr oder minder anonymer, aber jedenfalls göttlicher Lenkungsinstanzen beschrieben.17 13 Zu Empedokles s. u. T14. Bei Xenophon vgl. Mem. I 4,7: sophos dêmiourgos; bei Platon Timaios 29a3: dêmiourgos agathos; in kreationistischem Kontext auch Politeia 530a6: tou ouranou dêmiourgos, Soph. 265c4: ... theou dêmiourgoun tos, Plt. 270a5 und 273b1: dêmiourgos. An der Stelle im Timaios (28a6), wo der göttliche dêmiourgos erstmals so bezeichnet wird, ist ho dêmiourgos nur eine andere Bezeichnung für die Ursache (aition, a4) eines Entstehens. Deshalb habe ich dêmiourgos hier durch „Hersteller“ statt (wie in anderen Kontexten tref fender) durch „Fachmann“ wiedergegeben. – Zur Übersetzung von dêmiourgos auch unten Anm. 175. 14 Theiler 1925/65, 85; vgl. dann bes. ebd., 89 f. 15 Vgl. Heinemann 2002, 57 ff.; 2005, 30 ff.; 2006a. 16 Vgl. Heinemann 2005, 28 (bes. Anm. 65). 17 Solche Strukturprinzipien sind das „Recht“ (dikê) Anaximanders (DK 12 B 1), die „Regel“ (logos) Heraklits (DK 22 B 1 und passim) und Leukipps (DK 67 B 2), die „Zwangsläufigkeit“ (anagkê) bei Parmenides (DK 28 B 10.6) und die „Pas
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Die Auffassung von „Natur“ als Regularität macht zwar diese Strukturprinzipien und Lenkungsinstanzen als solche entbehrlich. Aber zur Erklärung von Ordnung genügt bloße Regularität ohne Anfangsbedingungen nicht. Es ist vielleicht kein Zufall, dass mit diesem neuen Erklärungsbedarf ein neuartiges, in der Literatur seit Ende des 5. Jh. vielfach bezeugtes,18 dann auch von Platon aufgegriffenes Interesse an kreationistischen Gedankenspielen einhergeht. Aristoteles teilt dieses Interesse nicht. Nach seinem Wissenschaftsverständnis kann eine bloße Narration nicht als wissenschaftliche Erklärung gelten. Die Anfangsbedingungen, auf die sie führt, sind stets kontingent und wiederum erklärungsbedürftig. Eine wissenschaftliche Erklärung soll aber ein Nachweis von Notwendigkeit sein; der hierfür erforderliche Rekurs auf Unbewegtes kann nach Aristoteles nur in Form einer teleologischen Erklärung gelingen (s. u. T6 und T7). Wenn Passungsverhältnisse zwischen spezifischen Naturen überhaupt erklärbar sind, dann müssen sie demnach teleologisch erklärt werden können. Folgt man der in der Themenformulierung dieses Aufsatzes zitierten Erläuterung (s. u. T5e), rekurriert jede solche Erklärung auf eine spezifische „Substanz“ oder „Natur“. Wie ich in Teil 3 dieses Aufsatzes zeigen will, ist dies jeweils die Natur derjenigen Art, die als Nutznießer auf das fragliche Passungsverhältnis angewiesen ist. In Teil 2 gebe ich einige Hinweise zu den Grundbegriffen, die nach Aristoteles für teleologische Erklärungen einschlägig sind. Die in meiner Themenformulierung erwähnte Unterscheidung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Finalität wird erst in Teil 3 eingeführt. Sie entspricht dem „Wozu-von“ und „Wozu-für“ bei Aristoteles (s. u. 3.2.4). Passungsverhältnisse lassen sich durch die „Nasung“ (harmonia) bei Philolaos (DK 44 B 6). Auf eine Lenkungsinstanz verweist die Kapitänsmetapher bei Heraklit, Parmenides und Diogenes von Apollonia, evtl. auch schon bei Anaximander (vgl. DK 22 B 41, 28 B 12.3, 64 B 5 und 12 A 15: kybernaô). – Vgl. insgesamt Heinemann 2002, 54 ff. Die Kapitänsmetapher fehlt bei Anaxagoras und Empedokles. Bei Empedokles können „Liebe“ und „Streit“ gleichermaßen als Ordnungsprinzipien und als Lenkungsinstanzen aufgefasst werden. Den Übergang zu einer kreationistischen Erklärung markiert die Behauptung des Anaxagoras, die „Vernunft“ habe, durch den Anstoß einer Wirbelbewegung, „alles geordnet“ (DK 59 B 12: panta diekos mêse nous). 18 Vgl. Anaxagoras, DK 59 B 12 (siehe vorherige Anm.); [Hippokrates], De victu 11; Theseus bei Euripides, Suppl. 195 ff.; Protagoras bei Platon, Protagoras 320c ff.; Sokrates bei Xenophon, Mem. I 4 und passim.
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tur“ der auf sie angewiesenen Arten erklären, weil dieses „Wozufür“ als biologische Anpassung interpretiert werden kann (s. u. 3.3).
2. Grundbegriffe: Die Fragen Warum? und Wozu? Zu wissen heißt für Aristoteles, nicht nur die jeweiligen Tatsachen zu kennen, sondern sie insbesondere auch durch Angabe ihrer Ursachen erklären zu können. Jede solche Erklärung ist für Aristoteles eine Antwort auf die Frage „Warum?“ (dia ti); zum Wissen gehört es dementsprechend, „das jeweilige Warum erfasst [zu] haben“.19 Aristoteles unterscheidet vier Weisen, in denen die Frage Warum? zu stellen und durch eine wissenschaftliche Erklärung zu beantworten ist. Die vier Fragen, in die sich die Frage Warum? somit differenziert, sind nach Phys. II 3, 194b23 ff.: T1a: die Frage „... woraus als darin Vorhandenem etwas entsteht, wie die Bronze, aus der die Statue, und das Silber, aus dem die Schale ist“ (b24-5), d. h. nach dem jeweiligen „Material“20 – oder in späterer Terminologie: nach der sog. Materialursache (causa materialis); T1b: die Frage „Was ist das?“,21 d. h. nach „Form“ (oder „Art“: eidos b26) und „Muster“ (paradeigma, ebd.) und nach dem „Was-esheißt-dies-(oder-so-etwas)-zu-sein“ (to ti ên einai, b27) – in späterer Terminologie: nach der sog. Formursache (causa formalis); T1c: die Frage, „von woher der erste [d. h. nächstliegende: prôtê] Anfang der Änderung oder des Stillstands kommt“ (b29-30), d. h. nach „dem, was macht“ (to poioun, b31) und den jeweiligen Vorgang oder sein Ende veranlasst – in späterer Terminologie: nach der sog. Wirkursache (causa efficiens); sowie schließlich T1d: die Frage „Wozu?“ (hou heneka, b33), d. h. nach dem „Zweck“ oder „Ziel“ (telos, b32) – in späterer Terminologie: nach der Zweckursache (causa finalis). 19 Phys. II 3, 194b19: ... prin an labômen to dia ti peri hekaston. Ebenso APo II 11, 94a20; Met. I 3, 983a25. Übersetzungen aus dem Griechischen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir. 20 In diesem Sinne Phys. II 3, 195a9: hylê. 21 Phys. II 2, 193b27 und passim: ti estin.
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Mein Thema ist das Wozu; dass das Wozu nur eine von vier miteinander zusammenhängenden Arten des Warum ist, bleibt zu beachten. Ich beginne mit der Diskussion eines verbreiteten Missverständnisses, wonach die Frage Wozu? auf eine Zwecksetzung oder Absicht verweist (Abschnitt 2.1). Anschließend erläutere ich die erwähnte, in meiner Themenformulierung zitierte Aristoteles-Stelle, wonach die Frage Wozu? vielmehr auf die „Substanz“ – und das heißt: auf die spezifische „Natur“ – des jeweiligen Gegenstandes verweist (Abschnitt 2.2). 2.1. Ziel und Absicht. Die Reichweite des Technikvergleichs Aristoteles illustriert die Frage Wozu? sogleich durch ein Beispiel: T2: „Beim Spazierengehen [ist das Wozu] die Gesundheit. Denn warum geht man spazieren? Wir sagen, ‚Damit man gesund bleibt [oder: wird].‘,22 und indem wir so sprechen, glauben wir die Ursache anzugeben.“23 So eingängig dieses Beispiel einerseits ist, so verfänglich ist es andererseits auch. Denn die angeführte Antwort – „Damit man gesund bleibt [oder: wird].“ – ist von vornherein auch als Auskunft über die mit dem Spazierengehen verbundene Absicht zu verstehen. Es liegt daher nahe, die Frage Wozu? so aufzufassen, dass ein Ziel (oder Zweck: telos) nur durch eine entsprechende Absicht zur Ursache wird. Das wäre aber ein Missverständnis. Ziele können nach Aristoteles auf verschiedene Weisen zur Ursache werden. Bei menschlichem Tun kann dies durch eine ausdrückliche Absicht geschehen. Insbesondere ist bei einer verdauungs‑ und insofern gesundheitsfördernden,24 vielleicht sogar ärztlich verordneten Maßnahme wie dem Spazie rengehen mit einer solchen Absicht zu rechnen: Die kunstgerechte Wahl der Mittel wird handlungsleitend, indem das Ziel durch eine Absicht handlungsleitend gemacht wird. Aber im Unterschied zur Teleologie kunstgerechten Tuns ist die natürliche Teleologie nach Aristoteles durchaus absichtslos. Die Pointe des Vergleichs der Ziel22 „... gesund bleibt [oder: wird]“ (hygiainêi, b34): Die Mehrdeutigkeit wird auch nicht durch die anschließenden Beispiele aufgelöst; sie ist hier wohl ohne Belang. 23 Phys. II 3, 194b33-5. 24 Vgl. Phys. II 6, 197b24, wo das Gehen ausdrücklich „zum Abführen dient“ (lapaxeôs heneka estin).
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bestimmtheit natürlichen Geschehens mit der Zweckmäßigkeit kunstgerechten Tuns liegt eben darin, dass gleichwohl für beide Fälle dasselbe Wozu? einschlägig sein soll. Durch die Verknüpfung von Ziel und Absicht ergibt sich somit eine ganz unaristotelische Auffassung von Teleologie. Diese wurde vielleicht am deutlichsten von Thomas von Aquin formuliert. Durch die Behauptung, die Natur wirke auf ein Ziel, wird nach Thomas „... die Frage der [sc. göttlichen] Vorsehung aufgeworfen. Denn was kein Ziel erkennt, strebt auch nach keinem Ziel, außer wenn es von etwas anderem, welches das Ziel erkennt, darauf gerichtet wird, wie der Pfeil vom Schützen. Wenn die Natur [von der Thomas unterstellt, dass sie als solche gar nichts erkennt] auf ein Ziel hin wirkt, muss sie daher von einem intelligenten Wesen eingerichtet sein. Und dies ist die Leistung der Vorsehung.“25 So wird die natürliche Teleologie zum Gottesbeweis. Das wäre vielleicht noch im Sinne Platons, für den es keine Ordnung ohne ordnende Tätigkeit gibt;26 aber es ist, wie gesagt, ganz unaristo telisch. Die Einschlägigkeit des obigen Beispiels ergibt sich für Aristoteles aus einer strukturellen, von der Verknüpfung von Ziel und Absicht unabhängigen Entsprechung zwischen natürlichem Geschehen und kunstgerechtem Tun:27 T3: „Worin ein Ziel ist, da wird das Frühere und das Anschließende seinetwillen getan. Und zwar gilt jeweils: wie etwas getan wird, so wäre es gewachsen, und wie etwas gewachsen ist, so würde es getan, wenn nichts dazwischenkommt. Getan wird es zu einem Zweck. Daher ist es auch zu einem Zweck gewachsen. Gehörte beispielsweise ein Haus zu den durch Natur entstehenden Dingen, dann entstünde es auf dieselbe Weise [und das heißt hier: in derselben Schrittfolge; G. H.] wie jetzt infolge der Kunst. Und entstünden umgekehrt die Naturdinge nicht durch Natur, sondern durch Kunst, dann entstünden sie auf eben dieselbe Weise wie sie gewachsen sind. Also geschieht jeweils der eine Schritt um des anderen willen.“28 25 Thomas von Aquin, In Phys. II xii 1, S. 90 (zu Phys. II 8, 198b10-16). Die Stelle ist bei Spaemann und Löw (1981, 85) teilweise zitiert; Übers. und markierte Ein schübe von mir. 26 Vgl. Platon, Philebos 28d ff. und öfter. 27 Zu dieser Entsprechung auch Charles 1991, 114 ff. 28 Phys. II 8, 199a8-15.
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Zu beachten ist, dass nach Aristoteles die „Kunst“ der „Natur“ folgt, nicht umgekehrt.29 Die Struktur natürlichen Geschehens lässt sich zwar anhand der Struktur kunstgerechten Tuns illustrieren. Aber die Analyse des natürlichen Geschehens wird durch diese Illustration nicht ersetzt; wie weit die Entsprechung beider Bereiche geht, kann überhaupt nur durch eine vergleichende Analyse ausgemacht werden. Ich will mich hier auf zwei Punkte dieser Analyse beschränken.30 Erstens. Aristoteles unterstellt in beiden Bereichen einen Typ von Vorgängen, durch die jeweils ein Anfangszustand über eine kontinuierliche Folge von Zwischenschritten in einen Endzustand überführt wird. Die behauptete Entsprechung ergibt sich dann insbesondere daraus, dass die Reihenfolge der Zwischenschritte in beiden Bereichen durch gleichartige Sachzwänge festgelegt ist. Beim Bau eines Hauses wird zuerst das Fundament gelegt, dann werden die Mauern hochgezogen und zuletzt das Dach hergestellt. Ebenso beginnt das Aufkeimen eines Bäumchens mit der Verwurzelung im Boden, dann bildet sich ein Stamm, der schließlich Blätter treibt, nachdem er eine gewisse Höhe erreicht hat. In beiden Fällen ist die Reihenfolge der Schritte ein Erfordernis für das Zustandekommen des Resultats: Man kann kein Haus bauen, indem man mit dem Dach beginnt, um dann unter dem Dach die Mauern zu errichten und unter den Mauern das Fundament zu legen; und ebenso kann kein Bäumchen entstehen, indem zuerst die Blätter wachsen und dann erst der Stamm und die Wurzeln.31 In beiden Fällen liegt es 29 Der Begriff der Kunst ist hier im weiten, alteuropäischen Sinn zu verstehen: Als „Kunst“ (gr. technê, lat. ars, davon engl. art, etc.) gilt demnach jeder Bereich anspruchsvoller und lehrbarer, eine bestimmte Aufgabe erfüllender Tätigkei ten, in dem es Kriterien zur Unterscheidung zwischen Richtig und Fehlerhaft gibt und in dem daher die Rede davon sein kann, dass jemand „kunstgerecht“ oder „kunstwidrig“ verfährt. Vgl. Heinimann 1961/76 (bes. S. 128 und 163 f.); Schneider 1989, Kap. III 1. „Künste“ sind beispielsweise die Medizin (iatrikê), die Malerei (graphikê), das kaufmännische Rechnen (logistikê), die Politik (poli tikê) usf. Erst im 18. Jh. ist es üblich geworden, den Begriff der Kunst auf die sog. „schönen“ – von Aristoteles (Poet. 1, 1447a13 ff.) als Weisen der „Nachahmung“ oder „Darstellung“ (mimêsis) charakterisierten – Künste einzuschränken; vgl. Reckermann 1976, Sp. 1374 f.; Halliwell 2003, 167 ff. sowie im Grimmschen Wörterbuch, Bd. V (1873) = Bd. 11 (dtv), s.v. „Kunst“, den Abschnitt II, 4c (Sp. 2681 f.). 30 Dieselben Punkte betont Depew 1997, 222 f. 31 Aus naheliegenden Gründen habe ich den biologischen Sachverhalt stark ver einfacht. Aristoteles ist hier nicht so explizit, wie es wünschenswert wäre. Vgl. aber PA II 8, 654b27-655a4 zur Gerüstfunktion des tierischen Skeletts.
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daher nahe, die tatsächliche Abfolge unter Rekurs auf das Resultat zu erklären, für das sie erforderlich ist. Zweitens. In beiden Bereichen wird das Ziel bereits zu Beginn des ganzen Vorgangs durch eine effiziente Ursache antizipiert. Hierin stimmt Aristoteles mit Thomas durchaus überein. Aber anders als Thomas unterstellt, sind diese Ursachen von ganz unterschiedlicher Art: Ausgangspunkt natürlichen Entstehens ist nach Aristoteles der „Same“ (sperma),32 aus dem das entstehende Lebewesen dann selber besteht.33 Durch ihn wird die relevante „Form“ (eidos) zu einem inneren Antrieb des Entstehens. Wenn dieses misslingt, liegt das nach Aristoteles entweder an widrigen Umständen oder daran, dass der Same defekt ist.34 Aber der Same ist kein unhintergehbarer Ausgangspunkt.35 Sein Urheber und insofern die „zugespitzteste Ursache“ des Entstehens ist das elterliche Lebewesen,36 als Exemplar derselben Art und somit als Träger derselben Form – d. h. T4a: „die artgleiche Natur, im Sinne der Form, und zwar diese Natur in einem anderen Ding“ – gemäß der allgemeinen Regel, dass „ein Mensch einen Menschen erzeugt.“37 Ausgangspunkt kunstgerechten Herstellens ist das Wissen, worum es sich bei dem gesteckten Ziel handelt und was zu seiner Realisierung erforderlich ist; die relevante „Form“ (eidos) ist „in der Seele“ der Herstellers, wie Aristoteles sagt: T4b: „Durch Kunst hingegen kommt zustande, wovon die Form in der Seele ist; dabei nenne ich Form das Was-es-heißt-dies(oder-so-etwas)-zu-sein des jeweiligen Gegenstandes und die primäre ousia. [...]
32 Zur Schlüsselrolle des sperma bei der Bestreitung zufälligen Entstehens: Phys. II 4, 196a31-3; ebd., 8, 199b7 und b9. 33 GA I 2, 716a8-9: ek toutou ... synistatai. 34 Phys. II 8, 199b18: an mê ti empodisêi bzw. ebd., b6: diaphtheiromen[ou] ... tou spermatos (s. u. T14c); im selben Sinne wie 199b6 auch Phys. II 6, 197b37: entos (sc. to aition, b36). – Dass sinnvollerweise von Fehlern die Rede sein kann, ist nach Charles (1991, 116 f.), neben der zweckmäßigen Schrittfolge (s. o. zu T3), ein weiteres gemeinsames Merkmal beider Formen teleologischer Verursachung. 35 In diesem Sinne Met. XIV 5, 1092a17: ouk esti to sperma prôton. 36 Vgl. zum Folgenden auch Phys. II 3, 195b21-5: Die „zugespitzteste Ursache“ (to aition ... to akrotaton, b22) ist beim Hausbau der Mensch als Fachmann – und somit letztlich sein Fachwissen. 37 Met. VII 7, 1032a24-5.
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Die Gesundheit aber ist die in der Seele anzutreffende Erklärung und die Wissenschaft. Das Gesunde (to hygies) kommt zustande, wenn man die folgende Überlegung anstellt: Weil Gesundheit dies ist, muss, wenn Gesundes sein soll, jenes vorliegen, z. B. Gleichmaß, und wenn dieses, Wärme; und so überlegt man immer [sc. weiter], bis man [sc. die Überlegung] auf etwas geführt hat, das man schließlich selber zustandebringen kann. Der hiervon dann ausgehende, auf die Gesundung gerichtete Vorgang (kinêsis) heißt Herstellung (poiêsis). So ergibt es sich, dass die Gesundheit in gewisser Weise38 aus Gesundheit entsteht und das Haus aus einem Haus – nämlich aus dem ohne Material [d. h. aus dem Was-es-heißt-gesund-zu-sein bzw. dem Was-esheißt-ein-Haus-zu-sein39] dasjenige, das Material hat. Die ärztliche oder hausbauerische Kunst ist die Form der Gesundheit bzw. des Hauses [sc. in der Seele, b1] ...“40 In beiden Fällen – beim natürlichen Entstehen und beim kunstgerechten Herstellen – ist die Form des Resultats und somit das Ziel des ganzen Vorgangs durch seine effiziente Ursache vorgegeben.41 Diese Form (eidos) entsteht nach Aristoteles nicht;42 sie liegt immer schon vor, und zwar • bei natürlichem Entstehen im Erzeuger als dessen „Natur“ (physis), und • bei kunstgerechtem Herstellen im Hersteller als dessen „Fachwissen“ (technê).43 38 Dieser Vorbehalt (tropon tina, b11) lässt daran denken, dass in einem trivialen, aber für Aristoteles an anderer Stelle wichtigen Sinne „zwar ein Mensch aus einem Menschen, aber keine Liege aus einer Liege entsteht“ (Phys. II 1, 193b8-9). 39 In diesem Sinne b14: legô ousian aneu hylês to ti ên einai (ousia steht hier für Beispiele wie Gesundheit und Haus; vgl. Ross 1924 ad loc.). 40 Met. VII 7, 1032a32-b2, b5-14. 41 Anders als Charles (1991), der Met. VII 7 unverständlicherweise übergeht, sehe ich hier einen entscheidenden Hinweis auf die in Phys. II unausgeführte Unter scheidung beider Formen teleologischer Verursachung. Dabei scheint sich frei lich ein gewisser, nach Charles (ebd., 105) unplausibler Primat der Teleologie des Werdens (ebd., 104: (iii)) vor der Teleologie der Struktur zu ergeben. Aber was mit der Frage nach einer für letztere, d. h. für die funktionale Beziehung von Teil und Ganzem (ebd., 104: (iv)) einschlägigen Form der Verursachung (ebd., 117: „form of causation“) gemeint ist, bleibt ohnehin rätselhaft. 42 Met. VII 8, 1033b5-8 u.ö. 43 Wegen dieser Gleichsetzung der technê mit dem gewussten eidos und der physis mit dem verkörperten eidos kann Aristoteles nach Sedley behaupten, dass die technê so wenig wie die physis „überlegt“ (Sedley 2007; 179 f.; Phys. II 8, 199b28:
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Diese Unterscheidung zweier Weisen, in denen eine Form vorliegen kann: • verkörpert durch einen Gegenstand, dessen Form sie ist, bzw. • gewusst durch einen Menschen, der evtl. als Hersteller eines sie verkörpernden Gegenstandes fungiert, ist nach Aristoteles für den Unterschied zwischen „Natur“ und „Kunst“ konstitutiv. 2.2. Die jeweilige „Natur“ wirkt zu einem Zweck, und sie ist selber der Zweck Eine vollständige wissenschaftliche Erklärung muss alle vier Varianten der Frage Warum? beantworten: T5a: „... da die Natur (physis) zu einem Zweck [wirkt], hat man auch diese Ursache zu kennen und das Warum in allen Bedeutungen anzugeben, als da sind (hoion):44 T5b: dass aus diesem [als der Wirkursache] zwangsläufig jenes hervorgeht (‚aus diesem‘ heißt hier: schlechthin oder meistens), T5c: und: wenn das sein soll ... (wie z. B. aus den Prämissen die Konklusion) [das heißt: wenn die Konklusion sein soll, dann ist sie aus bestimmten Prämissen – als der Materialursache – abzuleiten; und ebenso: wenn ein bestimmtes Ding sein soll, dann hat es aus einem bestimmten Material zu entstehen; G. H.], T5d: und: dass das Was-es-heißt-dies-(oder-so-etwas)-zu-sein [d. h. die Formursache] dieses war, T5e: und: weil es so besser ist – nicht schlechthin, sondern das Bessere nach Maßgabe der Substanz (ousia) des jeweiligen Ge genstandes.“45 ... ou bouleuetai): Nicht das Fachwissen überlegt, sondern der Fachmann. – Dies ist m. E. überzeugender als Wielands Interpretation der Stelle, wonach das Überlegen erst einsetzt, „wo die unmittelbare Vertrautheit mit der Sache gestört ist“ und die „vollendete Kunstfertigkeit“ daher „keiner Überlegung ... bedarf“ (Wieland 1970, 271). 44 „... auch diese Ursache“: kai tautên (b4), sc. archên (cf. a36). Zur Übersetzung von hoion (b5) s. u. 2.2.5. 45 Phys. II 7, 198b4-9.
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2.2.1. In meiner Themenformulierung habe ich den letzten Punkt dieser Liste (T5e) zitiert. Ehe ich darauf – und dann auch auf die vorangestellte Ankündigung (T5a, mit der Bemerkung, die Natur wirke zu einem Zweck) – näher eingehe, erläutere ich zunächst kurz die anderen Punkte (T5b-d). Zu T5b: Auffällig ist die ganz modern anmutende Auffassung der effizienten Verursachung als notwendige (oder zumindest wahrscheinliche) Verknüpfung. Aristoteles betont hier die Regularität effizienter Kausalbeziehungen. Unmittelbar zuvor hat er zunächst, in Anlehnung an T1c, die Wirkursache als das Woher der Bewegung charakterisiert.46 Anschließend hat er sich dann freilich gegen eine – vielleicht sogar durch diese Formulierungen nahegelegte – Auffassung verwahrt, wonach Ursachen in Form einer Narration angebbar sind. T6a: „Beim Entstehen betrachtet man die Ursachen meist folgendermaßen: Was entsteht nach wem, was hat zuerst eine Wirkung ausgeübt, oder worauf ist [sc. zuerst] eine Wirkung ausgeübt worden, und so immer eines nach dem anderen.“47 Zur wissenschaftlichen Erklärung genügt kein bloßes „erst dies und dann das“. Denn, so eine Parallelstelle in der Einleitung zu De par tibus animalium, T7: „... bei dem Schema Weil dieses der Fall oder geschehen ist (estin ê gegonen), muss jenes zwangsläufig der Fall sein oder bevorstehen (estin ê estai). lässt sich die Notwendigkeit der Demonstration nicht ins Unendliche verketten (eis aidion synartêsai), so dass man, weil dieses der Fall ist, sagen könnte, dass jenes der Fall ist (hôste eipein, epei tode estin, hoti tode estin).“48
46 In diesem Sinne Phys. II 7, 198a26: to ... hothen hê kinêsis prôton („das Woherzuerst-die-Bewegung“), vgl. a24 und a33: to kinêsan bzw. to prôton kinêsan („was bewegt hat“ bzw. „das nächstliegende, das bewegt hat“). 47 Phys. II 7, 198a33-5. 48 PA I 1, 640a5-8; „... bei dem Schema“: tês toiautês apodeixeôs (frei übersetzt). – In den Einzelheiten ist diese Stelle nicht leicht durchschaubar, da die im un mittelbaren Kontext vorausgesetzte Unterscheidung zwischen der „Naturwis senschaft“ (physikê) und den „theoretischen Wissenschaften“ (ebd., a1-2) rät selhaft bleibt. Zu den Interpretationsalternativen vgl. Kullmann 2007, 287 ff.
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Erforderlich ist nicht nur die Regularität dieser Verknüpfung, sondern vor allem auch ihre Verankerung in etwas, das T6b: „... bewegt, ohne selbst in Bewegung zu sein (kinei mê ki noumenon), z. B. das gänzlich Bewegungslose und Erste von allem [d. i. Gott] sowie das [jeweilige] Was-ist-das und die Gestalt. Denn diese sind Ziel und Wozu.“49 Sowohl Gott als auch das jeweilige „Was-ist-das und die Gestalt“ bewegen nicht als Anfang eines zeitlichen Nacheinander, sondern als „Ziel und Wozu“; sie sind daher kein Ausgangspunkt für eine narrative Erklärungsstruktur. Zu T5c: Der Vergleich von Prämissen und Material wird hier stillschweigend vorausgesetzt. An einer früheren Stelle sagt Aristoteles ausdrücklich: T8: „die Buchstaben bei den Silben, das Material bei den Werkzeugen, das Feuer, die Erde und alles dergleichen bei den Körpern, die Teile beim Ganzen sowie die Annahmen bei der Konklusion“ seien „Ursachen von der Art des Woraus“.50 Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass jeweils von einem Resultat her nach dessen Voraussetzungen – man kann auch sagen: vom Bedingten her nach der Bedingung – gefragt wird: Welche Buchstaben braucht man, um diese Silbe zu schreiben? Und welches Material, um eine Säge herzustellen? Aus welchen Grundstoffen (d. h. „einfachen Körpern“, oder lax gesagt: Elementen) bestehen Steine, Fett oder Holz? Welche Körperteile haben Regenwürmer oder Quallen? Und ebenso dann auch: Welche Prämissen brauche ich, um eine bestimmte Tatsache durch eine Demonstration zu erklären? Zu beachten ist dabei nur, dass die Demonstration nicht das Bestehen, sondern die Notwendigkeit einer Tatsache sichern soll:51 Sie stiftet einen Zusammenhang mit geeigneten Prämissen, durch den die Konklusion keine isolierte und insofern zufällige, sondern eine notwendige Tatsache ist. 49 Phys. II 7, 198b1-4. 50 Phys. II 3, 195a16-9, hier zit. in der ausführlicheren Formulierung der ansonsten identischen Parallelstelle Met. V 2, 1013b17-21. – Statt „das Feuer, die Erde und alles dergleichen“ (to pyr kai hê gê kai ta toiauta panta, 1013b18-9) hat Phys. II 3: „das Feuer und dergleichen“ (to pyr kai ta toiauta, 195a17). 51 So auch APo II 11, 94a21-2, wo das Woraus durch die Formel „Unter welchen [Voraussetzungen] (tinôn ontôn) muss dieses zwangsläufig [der Fall] sein?“ ein geführt wird; dazu Detel 1993, Bd. II, 685.
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Zu T5d genügt es zunächst festzuhalten, dass die Auffassung der Formursache als „das Was-es-heißt-dies-(oder-so-etwas)-zu-sein“ der eingangs aus Phys. II 3 zitierten Formulierung entspricht (s. o. T1b). Zur wissenschaftlichen Erklärung gehört demnach eine sachgemäße und auf den jeweiligen Gegenstand bezogene Auskunft (lo gos) darüber, was es heißt, dies (oder so etwas, d. h. ein Gegenstand der fraglichen Art) zu sein;52 die Frage „Was ist das?“ muss durch eine Definition beantwortet werden.53 Nach T5e ist das Wozu „das Bessere nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“. Diese Auffassung ist in mehrfacher Hinsicht erklärungsbedürftig: 2.2.2. Der Verweis auf das „Bessere“ entspricht einer früheren Bemerkung, wonach „nicht jeder Abschluss [eines Vorgangs] ein Ziel sein will, sondern nur der beste“54. Auch sonst wird das Wozu von Aristoteles mit dem einschlägigen Guten – dem „Besten und Ziel des Übrigen“ – identifiziert.55 Festzuhalten ist daher einerseits: Eine um den Begriff des Guten verkürzte Teleologie kommt für Aristoteles nicht in Betracht. Andererseits insistiert Aristoteles, dass teleologische Erklärungen als naturwissenschaftliche Erklärungen ausweisbar sein müssen; mit der Bemerkung, nicht das Bessere schlechthin, sondern das „nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“ Bessere sei von Belang, wird der Begriff des Guten geradezu als terminus technicus für die jeweilige naturwissenschaftliche Disziplin reklamiert. Die Einschlägigkeit teleologischer Gesichtspunkte für wissenschaftliche Erklärungen – und somit für die Naturwissenschaft – wird somit durch den Begriff der Substanz hergestellt.56 Aristoteles spricht ausdrücklich von der Substanz „des jeweiligen Gegenstandes“.57 „Substanz“ (ousia) ist hier nicht der jeweilige Gegenstand selbst, sondern dasjenige an ihm, das durch eine Definition gefasst werden 52 In diesem Sinne Phys. II 3, 194b27: ho logos ho tou ti ên einai. 53 In diesem Sinne Phys. II 1, 193b1-2: „... diejenige Form (eidos), die der sach gemäßen Auskunft (logos) entspricht, mit der wir definieren und angeben (hôi horizomenoi legomen), was Fleisch oder Knochen ist“. 54 Phys. II 2, 194a32-3. 55 Phys. II 3, 195a24-5; weitere Parallelstellen bei Johnson (2005, sect. 3.5). 56 Diesen – gerade auch für das ergon-Argument der Nikomachischen Ethik kon stitutiven – Zusammenhang ignoriert Brüllmann (2012, 10n20 und passim). 57 Phys. II 7, 198b9: ... pros tên hekastou ousian.
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kann, d. h. in aristotelischer Terminologie: das jeweilige „Was-esheißt-dies-(oder-so-etwas)-zu-sein“ (to ti ên [sc. to hekastôi] ein ai), mit dem in T1b und T5d die Formursache gleichgesetzt wurde.58 Vom Guten soll in teleologischen Erklärungen also nach Kriterien die Rede sein, die sich aus einer sachgemäßen, auf den jeweiligen Gegenstand bezogenen Auskunft darüber ergeben, was es heißt, dies (oder so etwas) zu sein. 2.2.3. Die Bezugnahme auf den Gegenstand, um dessen Substanz es sich handelt, erfolgt in T5e ganz beiläufig; im vorherigen Punkt habe ich sie ebenso beiläufig interpoliert. Aristoteles hat diesen Gegenstand schon in T5a durch den Naturbegriff ins Spiel gebracht. „Die Natur“, heißt es dort, wirkt „zu einem Zweck“; deshalb müsse man „auch diese Ursache kennen“ und bei wissenschaftlichen Erklärungen „das Warum in allen Bedeutungen“ angeben.59 Wie fast immer im Griechischen, ist „Natur“ (physis) hier die – individuelle oder spezifische – Natur eines bestimmten, in den fraglichen Sachverhalt involvierten Gegenstandes: T9: „die Natur ist immer in einem Zugrundeliegenden.“60 Der Naturbegriff unterstellt somit immer schon die Bezugnahme auf den Gegenstand (oder die Art von Gegenständen), um dessen (bzw. deren) Natur es sich handelt. Aristoteles definiert „Natur“ als einen „Ursprung von Bewegung und Stillstand“ eines Gegenstandes, der zu diesem Gegenstand „als 58 Unüberbietbar breit, aber treffend übersetzt Wagner: „... im Hinblick auf das bestimmte Wesen, welches dem jeweiligen Naturgebilde eignet“; desgleichen Prantl („Wesen“) und Judson (2005, 359: „essence“). Zu schwach ist Sedleys „being“ für ousia (2007, 197 f.). Sedley selbst hat in einem früheren Aufsatz (1991, 190n19) weitaus treffender auf Bonitz (Index 545b45 ff.; Stichwort ousia, 3g) verwiesen, wonach sich aus der Auffassung ousia als eidos (ebd., a32 ff.) und ti ên einai (ebd., a49 ff.) eine Verwendung ergibt, bei der ousia „notionem naturam vim alicuius rei“ bezeichnet. Dementsprechend schreiben z. B. Ross (1936, 528) und Nussbaum (1978, 80) „nature“ für ousia; Sedley (1991, 190) schreibt „in relation to the kind of thing each being is“ für pros tên hekastou ousian. – Die obige Ergänzung to hekastôi in der Formel ti ên einai entspricht der Bezeichnung to anthrôpôi einai für das ti ên einai von Mensch (etc.), vgl. z. B. Met. VII 6, 1031a15 ff. und 13, 1038b17 ff. 59 Phys. II 7, 198b4-5. 60 Phys. II 1, 192b34; zu den seltenen Ausnahmen von dieser Regel vgl. Heinemann 2006b, 177n31, 193 f. und 196.
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solchem“ (kath‘ hauto), d. h. zu dem, was ihn als ein Ding von bestimmter Art kennzeichnet und somit seine „Substanz“ ausmacht, gehört.61 In diesem Sinne eine „Natur“ zu haben, zeichnet nach Aristoteles die sog. „Naturdinge“ (physei onta) aus – im Unterschied zu Artefakten, denen nach Aristoteles nur aufgrund ihrer Materialeigenschaften, nicht hingegen „insofern, als auf sie die jeweilige Artbezeichnung zutrifft und sie durch Kunst sind“, ein „Antrieb“ zur Änderung „eingepflanzt“ ist.62 In T5e verweist das Wort „Substanz“ (ousia, b9) daher nicht nur auf das in T5d angeführte „Was-es-heißt-dies-(oder-so-etwas)-zusein“ (to ti ên [sc. to hekastôi] einai, b8), sondern zugleich auch auf die in T5a erwähnte „Natur“ (physis, b4). Eine Gleichsetzung liegt nahe. Zu beachten bleibt dabei allerdings ein Unterschied der Hinsichten: „Was-es-heißt-dies-(oder-so-etwas)-zu-sein“ ist die „Substanz“ als dasjenige an dem jeweiligen Gegenstand, das durch eine Definition gefasst werden kann; „Natur“ ist sie insofern, als sich ein „Ursprung von Bewegung und Stillstand“ dieses Gegenstandes auf seine „Substanz“ zurückführen lässt. Umgekehrt insistiert Aristoteles: Der Zweck, zu dem die „Natur“ wirkt (b4), ist nicht das Bessere schlechthin, sondern das nach Maßgabe der „Substanz“ des jeweiligen Gegenstandes Bessere (b9). Wenn diese „Substanz“ gar nichts anderes ist als die „Natur“ selbst, die auf den genannten Zweck wirkt, dann wirkt die „Natur“ auf das nach Maßgabe ihrer selbst Bessere. Das nach Maßgabe der „Natur“ Bessere ist aber die „Natur“ selbst. Das heißt, die „Natur“ wirkt nicht nur zu einem Zweck, sondern sie ist selber der Zweck, zu dem sie wirkt.63 61 Phys. II 1, 192b21-3. – „Ding von bestimmter Art...“: In diesem Sinne ebd., b17: hêi ... tetechyke tês kategorias hekastês („insofern, als auf ihn die jeweilige Art bezeichnung zutrifft“). – „Substanz“: Vgl. Met. V 4, 1015a14-5, wo die Haupt bedeutung von physis als „die Substanz (ousia) derjenigen Dinge, die als solche einen Ursprung der Bewegung in sich haben“, angegeben wird. 62 Phys. II 1, 192b16-20. 63 Diese Gleichsetzung entspricht der schon bei der ersten Erwähnung des Wozu in der Physikvorlesung geäußerten Auffassung der „Natur“ als „Ziel und Wozu“ (Phys. II 2, 194a28-9). Kurz vor T5 merkt Aristoteles demgemäß an, dass drei Arten der Ursache oft „in eins fallen; denn das Was-ist-das und das Wozu sind eines, und das Woher-zuerst-die-Bewegung ist mit diesen der Art nach dasselbe“ (Phys. II 7, 198a25-6). Der erläuternde Zusatz, dass „ein Mensch einen Men schen zeugt“ (ebd., a26-7), verweist hier nur indirekt auf die einschlägige „Na tur“, die in den drei angegebenen Weisen als Ursache fungiert. An der zitierten Parallelstelle in der Metaphysik geschieht dies aber ausdrücklich: Wieder unter
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2.2.4. „Natur“ (physis) ist somit ein „innerer“ Bewegungsursprung, im Unterschied zu einer äußeren „Kraft“ (dynamis).64 Diese kann evtl. auf die Natur eines einwirkenden Gegenstandes zurückgeführt werden. Dasselbe gilt dann auch, wenn eine Kraft zu einem bestimmten Zweck ausgeübt wird. Angenommen etwa, bei der Einwirkung von B auf A werde eine Kraft Δ ausgeübt, die auf die zu dem Zweck β wirkende Natur von B zurückgeführt werden kann. Die Natur von A mag ihrerseits zu einem Zweck α wirken. Aber die jeweiligen Zwecke haben nichts miteinander zu tun. Es ist damit zu rechnen, dass die Einwirkung der Kraft Δ die Zwecktätigkeit der Natur von A stört und im Ergebnis vereitelt.65 Es gehört zur Natur von Füchsen, sich von Hasen (und anderem Getier) zu ernähren; Hasen zu erjagen und zu verzehren ist ein Zweck,66 zu dem die Natur (d. h. die Fuchsnatur) wirkt. Aber es gehört nicht zur Natur von Hasen, von Füchsen erjagt und verzehrt zu werden. Die Natur (und das heißt nun: die Hasennatur) wirkt nicht zu diesem Zweck. Vielmehr werden alle Zwecke, zu denen die Natur eines Hasen wirkt, dadurch vereitelt, dass ein Fuchs (oder sonst irgendein Lebewesen) den Hasen erjagt und verzehrt.67 Berufung darauf, dass „ein Mensch einen Menschen zeugt“, heißt es dort, „das Durch-wessen-Einwirkung“ (hyph‘ hou) sei „die artgleiche, der Form gemäß bezeichnete Natur, und zwar diese Form in einem anderen Ding“ (Met. VII 7, 1032a24-5; s. o. T4a). 64 Vgl. Phys. II 1, 192b13 (physis): en heautôi. De caelo III 2, 301b17-9 (physis/ dynamis): en autôi hyparchousa/en allôi ê hêi allo. Met. V 12, 1019a16 (dynamis): ê en hetetôi ê hêi heteron. Met. IX 8, 1049b10 (physis): en autôi hêi auto. 65 Zur Unvermeidlichkeit wechselseitiger Störungen im Nebeneinander teleologi scher Zusammenhänge vgl. Wieland 1970, 276. 66 Wohlgemerkt: ein intermediärer Zweck, der sich nur aus dem Beitrag der Ernäh rung zu einem letztlichen Zweck, dem fuchsspezifischen Gedeihen, ergibt. 67 Dies ist gerade die Pointe der erwähnten Bemerkung (Phys. II 2, 194a30-3), dass „nicht jeder Abschluss [eines Vorgangs] ein Ziel sein will, sondern nur der beste“: Aristoteles mokiert sich hier über das Dichterwort, jemand habe „das Ende, zu dem er geboren ist“ (echei teleutên, hêsper hounek‘ egeneto = Com. Adesp. 447 Kock). Der Tod ist somit kein Zweck, zu dem die Natur wirkt. Aber er ist unvermeid lich, da Lebewesen „eine Materie haben, in deren Natur es begründet ist, dass sie sowohl existieren als auch nicht existieren können“ (Met. VII 15, 1039b2930, Übers. Frede/Patzig 1988; in demselben Sinne ist wohl auch die Wendung to dynaton einai kai mê einai an der Parallelstelle GC II 9, 335a33 zu verste hen, vgl. Joachim 1922, 248 ad loc.). Deshalb kann Aristoteles sogar behaupten, dass das Altern „naturgemäß“ ist (Phys. V 6, 230a28: to gar gêran kata physin). Zu beachten ist nur, dass sich dies auf die materielle (oder: zusammengesetzte) Natur der Lebewesen bezieht (vgl. De an. I 4, 408b22 ff.); und was „zu einem Zweck“ wirkt, ist nicht ihre materielle, sondern ihre formale Natur.
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Wie Aristoteles an einer Stelle der Historia animalium ausführt, gibt es zwischen den Tieren zweierlei „Krieg“ (polemos): einerseits zwischen Nahrungskonkurrenten und andererseits zwischen den Fleischfressern und allen anderen Tieren.68 Nach Aristoteles ist Nahrungskonkurrenz durch Nahrungsknappheit bedingt und erledigt sich, wenn diese durch Fütterung behoben wird.69 Für die Fressfeindschaft scheint Aristoteles dasselbe anzudeuten.70 Aber darauf kommt es auch nicht an. Zur jeweiligen Natur der Tiere gehört eine charakteristische Lebens‑ und Ernährungsweise mit unbehebbaren Nahrungskonkurrenzen und Fressfeindschaften; die Fütterung wird von Aristoteles nur als eine Art Experiment angeführt, um den Zusammenhang von Nahrungskonkurrenz und Nahrungsknappheit zu belegen. Meine Füchse und Hasen stehen sprichwörtlich für eine lange Liste von Feindschaften (und viel selteneren Freundschaften), die von Aristoteles an der zitierten Stelle angeführt werden. Für T5e und die Auffassung des Wozu als „das Bessere nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“ ergibt sich somit: Nach Maßgabe der „Substanz“ von Füchsen und nach Maßgabe der „Substanz“ von Hasen – d. h. dessen was es heißt, Fuchs bzw. Hase zu sein – ist das „Bessere“ durchaus verschiedenerlei. Ein übergeordnetes Gutes kommt so wenig in Betracht, wie im Hinblick auf T5e eine übergeordnete „Natur“ in Betracht kommen kann. 2.2.5. Noch eine Bemerkung zum Stellenwert von T5e: Ich habe das griechische hoion (198b5), das in T5a zur Liste der Arten des Warum überleitet, durch „als da sind“ übersetzt; „nämlich“ wäre auf dasselbe hinausgekommen. Diese Übersetzung ist durchaus nicht zwingend. Die gängigere Bedeutung von hoion, der auch viele
68 HA IX 1, 608b19-610a35. – Nahrungskonkurrenz innerhalb derselben Art: 608b19-25, 608b30-609a4; zwischen verschiedenen Arten: 609a18-24 und pas sim; Fressfeindschaft zwischen verschiedenen Arten: 608b25-7, 609a4-18 und passim; Exkurs über Fang und Zähmung von Elefanten: 610a24-33. 69 HA IX 1, 608b30-609a4. 70 Vgl. HA IX 1, 608b35-609a2, wonach sich in ägyptischen Heiligtümern gefan gen gehaltene Krokodile gegen den Priester „wegen des Nutzens ruhig verhalten (dia tas ôpheleias êremountai), ... da für ihre Nahrung gesorgt ist“. – Zu dieser Formulierung vgl. auch die Bemerkung über den Vogel trochilos, der seine Nah rung zwischen den Zähnen von Krokodilen sucht, ohne dass ihm diese etwas tun: das Krokodil „merkt, dass ihm der trochilos nützt“ (ôpheloumenos aisthanetei, ebd., c. 6, 612a22).
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Übersetzer und Interpreten folgen,71 ist: „beispielsweise“. Ich kann mich hier kurz fassen, da meine Argumentation von dieser Übersetzungsfrage gar nicht betroffen ist. T5 hebt bei der Beschreibung der verschiedenen Arten von Ursache jeweils bestimmte, systematisch relevante Punkte hervor: bei der Material‑ und der Wirkursache die charakteristische Notwendigkeit des jeweiligen Zusammenhangs; bei der Formursache die Frage, was es heißt, dies (oder so etwas) zu sein; bei der Zweckursache den Rekurs auf das Gute. Zu jeder dieser Beschreibungen hat Aristoteles an anderen Stellen Alternativen genannt.72 Daher lässt sich auch gar nicht bestreiten, dass in T5e die Wendung „weil es so besser ist“ (dioti beltion houtôs, 198b8-9) nur ein Beispiel dafür ist, wie sich die Zweckursache angeben lässt. Freilich ist dies ein ausgezeichnetes Beispiel; die Zweckursache wird, wie gesagt, von Aristoteles geradezu mit dem einschlägigen Guten identifiziert (s. o. 2.2.2). Klar ist dann aber auch, dass sich der Vorbehalt, nur ein Beispiel zu nennen, in T5e nicht nochmals auf den Zusatz „nicht schlechthin besser, sondern das Bessere nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes“ (ouch haplôs, alla to [sc. beltion] pros tên hekastou ousian, 198b9) bezieht. Dieser Zusatz bedeutet vielmehr: Wenn eine wissenschaftliche Erklärung überhaupt auf das Gute rekurriert, dann muss dies nach Maßgabe der „Substanz“ (ousia) des jeweiligen Gegenstandes geschehen. Diese Interpretation ist keineswegs neu oder originell. Sie entspricht dem Vorschlag von Ross,73 der sich seinerseits auf Philoponos (In Phys. 306.2) beruft; ihm sind u. a. Wieland74, Nussbaum75 und Judson76 gefolgt. Die Gegenposition wird vor allem in einem vielzitierten Aufsatz von Cooper vertreten; ihm sind u. a. Furley77 und Sedley78 gefolgt.
71 Prantl, Wagner, Zekl, Johnson 2005, 92 etc.; anders die ROT („namely“) sowie Charlton und die Paraphrase von Ross (Doppelpunkt). Bonitz (Index 501b53502a27, ohne Erwähnung von Phys. 198b5) erlaubt beides (vgl. a8: nempe, ni mirum, scilicet). 72 Vgl. T1, wo Aristoteles in Formulierungsvarianten geradezu schwelgt. 73 Ross 1936, 528. 74 Wieland 1970, 276. 75 Nussbaum 1978, 80 und 95 ff. 76 Judson 2005, 359 f. 77 Furley 1985, 181 f. 78 Cooper 1982/2004; Sedley 1991, 190 f.; 2007, 197 f.
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Cooper interpretiert den Zusatz in T5e dahingehend, dass „it offers as an example the most common situation, where an organ or other part exists for the good of the creature itself which has it,79 but rules out only the Platonic kind of universal teleology“80. Nach Cooper insistiert Aristoteles hier gegen Platon, dass für teleologische Erklärungen immer nur spezifische, in der „Substanz“ eines Gegenstandes liegende Maßstäbe für Gut und Schlecht in Betracht kommen können;81 aber dabei bleibt nach Cooper offen, welcher Gegenstand (oder welche Art von Gegenständen) diesen Maßstab liefert. Es ist nicht ganz durchsichtig, wie Cooper den Ausdruck „des jeweiligen Gegenstandes“ (hekastou, 198b9) interpretiert. Der von ihm als Beispiel gekennzeichnete Fall scheint sich aus demselben Rückbezug von ousia (b9) auf physis (b4) und to ti ên einai (a8) zu ergeben, den ich meiner Interpretation zugrundegelegt habe. Aber warum ist das dann nur ein Beispiel? Und andererseits: Wenn hier nur der platonische Typ von Teleologie ausgeschlossen werden soll, dann wäre he kastou (b9) nicht durch „des jeweiligen Gegenstandes“, sondern durch „irgendeines Gegenstandes“ wiederzugeben.82 Ich glaube nicht, dass der griechische Text das erlaubt; und so weit geht Cooper auch nicht.
3. Sind Passungsverhältnisse zwischen spezifischen Naturen teleologisch erklärbar? 3.1. Die biologische Agenda: biologische Funktionen und Passungsverhältnisse Die skizzierte Kontroverse über Bedeutung und Stellenwert von T5e betrifft eine biologische Agenda, auf die T5 nur andeutungsweise verweist. Sie lässt sich nicht allein anhand dieser Stelle entscheiden. 79 Beachte die stillschweigende Anspielung auf Philoponos/Ross: „... it is better for a man to have hands because they serve as organs of reason“ (Ross 1936, 528). 80 Cooper 1982/2004, 127n13. 81 Sedley (1991, 190) weist zu Recht darauf hin, dass bei Platon noch einmal zwi schen dem (für Aristoteles unproblematischen) „shared or interactive cosmic good“ im Phaidon (97c-98b) und dem (von Aristoteles abgelehnten) „intrinsic cosmic good which is not anybody’s good at all“ im Timaios (29d-30c, 33a-c) differenziert werden muss. 82 Dementsprechend wird hekastou (engl. „of each thing“) von Sedley (2007, 198) ausdrücklich im Sinne von „‚everything‘ – individuals, species, and the world’s entire contents alike“ interpretiert.
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3.1.1. Judson83 erwähnt im Zusammenhang mit T5 zwei Parallelstellen aus den biologischen Schriften. An der einen Stelle84 insistiert Aristoteles gegen Demokrit, auch das Zwangsläufige geschehe T10: „zu einem Zweck und dessentwillen, was bei dem jeweiligen Gegenstand besser ist (tou peri hekaston beltionos charin)“.85 Die andere Stelle86 formuliert einen der Grundsätze, denen Aristoteles „in [s]einem naturwissenschaftlichen Lehrgang zu folgen pflegt“87: T11: „... dass die Natur nichts vergebens macht (ouden matên poiei);88 sondern [sc. sie macht] stets aus dem Möglichen das Beste für die der jeweiligen Art von Tier entsprechende Sub stanz (têi ousiai peri hekaston genos zôiou).“89 Für Judson ist T5 „Aristotle’s ‚basic teleological axiom‘“ – wobei Judson freilich auf eine Stelle bei Lennox verweist, die unter dieser Formel nicht T5, sondern T11 paraphrasiert.90 Es mag irritieren, dass Judson hier gar keinen Unterschied macht. Worauf es ihm ankommt, ist wohl nur, dass Aristoteles in T5, T10 und T11 ausdrücklich auf den jeweiligen Gegenstand verweist, der (bzw. dessen „Substanz“) den alleinigen Maßstab des Besseren abgeben soll.
83 84 85 86 87 88
Judson 2005, 359n55. GA V 8, 789b2-5. Zitiert ist: GA V 8, 789b4-5. De inc. anim. 2, 704b15-7. Ebd., b12-3. Ich schreibe hier und im Folgenden „vergebens“ für matên und „macht“ für poiei. Das übliche „tut umsonst“ ist nicht ganz falsch – aber eben nur dann, wenn man „umsonst“ als ein anderes Wort für „vergebens“ (engl. „in vain“) und „tut“ im Sinne des „Hervorbringens“ versteht (Lennox 1997/2001 hat zwar meist „does“ für poiei, aber ebd., 208 „produces“ für poiousan, GA V 8, 788b22). Manchmal liest man für matên auch „zwecklos“ (Wagners Übers. von Phys. II 6, 197b22 ff.; Gigons Übers. von Pol. I 8, 1256b21); zumal an der letzteren Stelle (s. u. T16) ist das irreführend. 89 Zu dieser Stelle vgl. Lennox 1997/2001, 206 f. (die Aussage wird dort auch als NP* abgekürzt, vgl. ebd., Anm. 4, S. 220 f.). 90 Judson 2005, 359 mit Verweis (n56) auf Lennox 2001a, 341. Dessen Formulierung („... his basic teleological axiom is that nature does what is best among the pos sibilities for the animal’s own being“; ebd., Hervorhebung dort) resümiert zahl reiche Formulierungsvarianten bei Aristoteles; zu diesen vgl. Lennox 1997/2001, 206 ff. – Beachte aber, dass Lennox an beiden zitierten Stellen T5e unerwähnt lässt.
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Das durch die Formel „Die Natur [wirkt] zu einem Zweck (hê physis heneka tou)“ angezeigte Programm beinhaltet somit drei eng miteinander verknüpfte Hauptpunkte: Erstens die Unverzichtbarkeit eines starken (oder aitiologischen) Funktionsbegriffs in der Biologie;91 das heißt, biologische Merkmale sind nach Aristoteles unter bestimmten Bedingungen durch ihre Funktion für ihren Träger erklärbar. Zweitens: Unhintergehbarer Ausgangspunkt für solche Erklärungen sind die spezifischen Lebensfunktionen, die den jeweiligen Träger eines Merkmals als voll ausgebildetes Exemplar seiner Art charakterisieren und somit seine „Substanz“ ausmachen.92 Drittens: Was die „Substanz“ eines Lebewesen ausmacht, wird unter Rekurs auf ein spezifisches Optimum expliziert.93 Die spezifische Form ist dieses Optimum; individuelle Abweichungen werden auf defekten Samen oder widrige Umstände zurückgeführt.94 Dass durch Varianten ein neuartiges Optimum in Betracht kommen könnte, wird gar nicht erwogen. Ein Defekt kann erblich sein; auch ein mit ihm verbundener Fitnessvorteil führt zu keiner biologischen Innovation, sondern nur zu dauernder Degradation.95 Unstrittig ist, dass die aristotelische Biologie weitgehend einer derartigen Agenda folgt. Aber es gibt auch Fragen, die dabei unberücksichtigt bleiben und von denen man nicht vorschnell annehmen sollte, dass Aristoteles sie ganz ignoriert. Und es gibt Stellen bei Aristoteles, wo die Explikation der aristotelischen Teleologie durch einen biologischen Funktionsbegriff eher abwegig erscheint. Diese Explikation mag als Beitrag zu einer wohlwollenden, die wissenschaftliche Seriosität der aristotelischen Biologie betonenden 91 Zum biologischen Funktionsbegriff vgl. McLaughlin 2005, bes. 26 ff. 92 Vgl. Kosman 1987, 376 f. und 379 f. Ganz richtig interpretiert Kosman die In strumentalität des Leibes (in diesem Sinne De an. II 1, 412a28 und b6: organi kon; vgl. PA I 1, 642a11: organon) als ein auf den spezifischen „lifestyle“ (ebd., 379) bezogenes Zu-einem-Zweck (heneka tou). – Zu den antireduktionistischen Implikationen des skizzierten Programms Gotthelf 1976/87, bes. S. 212 ff. 93 So ausdrücklich, wenn auch in einem etwas entlegenen Kontext, Pol. I 5, 1254a36-9: „Man muss das Naturbedingte (to physei) eher an Naturgemäßem (en tois kata physin echousi) als an Verdorbenem studieren. Deshalb haben wir den Menschen mit der besten körperlichen und seelischen Verfassung zu be trachten ...“ 94 Phys. II 8, 199b6-7 und b18 (s. u. T14c); dann ausführlich GA IV 3, 769b10 ff.; ebd., 4, 769b30-770b27 und 773a2 ff. 95 Vgl. Witt 2012, 101 über die – von Aristoteles nicht ausdrücklich diskutierte – Anpassung „deformierter“ Arten an das Leben in ungewöhnlichen Umgebungen.
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Interpretation gerechtfertigt sein. Aber dabei bleibt zweierlei zu bedenken: Erstens, ob die resultierende Interpretation nicht allzu wohlwollend ist, da sie allzu forsch über anstößigere Theoriestücke hinweggeht;96 und zweitens, ob nicht umgekehrt gerade eine wohlwollende Interpretation der aristotelischen Biologie einen weiteren Horizont teleologischer Erklärungen zulassen muss. 3.1.2. Die in dem skizzierten Programm unberücksichtigten Fragen betreffen einerseits die Erklärung von Passungsverhältnissen zwischen einer biologischen Art und ihren (z. B. klimatischen) Umweltbedingungen sowie zwischen verschiedenen Arten. Andererseits fällt auf, dass dieses Programm die Existenz der Arten unerklärt lässt. Wo die jeweilige „Substanz“ der Lebewesen als unhintergehbarer Ausgangspunkt der teleologischen Erklärung fungiert, muss unerklärt bleiben, wieso es die jeweilige Art – und welche biologischen Arten es – überhaupt gibt. Nach Cooper gibt es für Aristoteles im letzteren Punkt nichts zu erklären: Ein Prinzip der Fülle, wonach „die Natur“ zu maximaler Vielfalt tendiert und die vorhandenen Arten von Lebewesen und sonstigen Dingen insgesamt ein solches Maximum ausmachen, wird von Aristoteles gar nicht erst erwogen.97 Und da nach Aristoteles auch die reduktionistische Erklärung biologischer Phänomene misslingt,98 werden die existierenden Arten als „gegeben“ genommen.99 Sie sind „a basic, not a derived constituent of physical reality“100; ihre Erhaltung – dass „the natural world ... so governs itself as to preserve in existence the species of well-adapted living thing that it actually contains“ – ist eine schlichte, nicht weiter zu 96 In diesem Sinne Kahn 1985, 195 (zu GA II 1, 731b20-732a9): „... his doctrine of cosmic teleology ... rarely contributes to his best science, and more often deforms it“. 97 Cooper 1982/2004, 114 f. Die Frage eines Prinzips der Fülle bei Aristoteles ist umstritten; vgl. einerseits Lovejoy 1936, 55-58, andererseits Hintikka 1973, 95113 und passim; dann Jansen 2002a, 162-170 (mit wichtigen Klarstellungen). Dabei ist aber zu beachten, dass das Prinzip der Fülle in dieser Diskussion als eine bloße „These über den Zusammenhang von Modal- und Zeitbegriffen“ (Jansen 2002a, 166; vgl. Hintikka 1973, 102 f.) aufgefasst wird und auch die ihr zugrundeliegenden Stellen nur diesen Zusammenhang betreffen. Mit der Frage, welche biologischen Arten es gibt, hat diese Diskussion gar nichts zu tun. 98 Cooper 1982/2004, 116-121. 99 Ebd., 115n5. 100 Ebd., 121.
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erklärende Tatsache101. Dieses „principle of the permanence of the species“ ist für Aristoteles Grundlegung und Rechtfertigung „for all the types of teleological arguments he ever accepts in the natural sciences“.102 Insbesondere ergibt sich aus ihm eine teleologische Erklärung der erwähnten Passungsverhältnisse – soweit nämlich für die Erhaltung einer biologischen Art bestimmte Umweltbedingungen und bestimmte Interaktionen mit anderen Arten erforderlich sind.103 Was in solchen Fällen überhaupt unter einer teleologischen Erklärung zu verstehen ist, wird von Cooper nicht weiter erklärt. Das gilt insbesondere für die Existenz einer Art, die einer anderen als Nahrung dient: Nach dem Prinzip der Permanenz der Arten wäre die Faktizität der Existenz beider Arten unhintergehbar. Nach Cooper soll man mit Aristoteles gleichwohl sagen können, „that the former exist in part for the sake of the latter“.104 Aber was das heißen soll, müsste zumindest erklärt werden. Der Naturbegriff bleibt bei Cooper auf spezifische Naturen beschränkt. Diese Beschränkung ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass gemäß T5e die jeweilige „Substanz“ der Lebewesen als unhintergehbarer Ausgangspunkt aller teleologischen Erklärungen fungiert. Demgegenüber sieht Sedley bei Aristoteles einen weiteren, nicht durch T5e gedeckten und demgemäß bei Cooper unberücksichtigten Typ teleologischer Argumentation: Wie sich spezifische Merkmale und interspezifische Interaktionen durch spezifische Naturen erklären lassen, „so too the nature of the world ... can be invoked to explain why it contains the species, whether systems, and other amenities that it does“.105 Unabhängig von den Textbezügen Coopers und Sedleys,106 auf die ich noch eingehen werde, möchte ich hier auf einen systematischen Punkt hinweisen, in dem Sedley der Interpretation Coopers nicht folgt: Nach Cooper ist der Bestand der Arten für Aristoteles eine unhintergehbare Tatsache und eben deshalb ein „Prinzip“, 101 Ebd., 114. 102 Ebd., 124. Cooper fügt hinzu: „... with only a small class of exceptions“ (ebd.); seine anschließende Diskussion beschränkt sich auf ein der Arterhaltung nach geordnetes „principle of ‚nobility‘“ (ebd., 127 f. mit Verweis auf PA II 14, 658a20 und passim: timiôtera). 103 Ebd., 125-127. 104 Ebd., 126 (Hervorhebung im Original). 105 Sedley 2007, 203. 106 Phys. II 8, 198b16-199a8 (s. u. T13-15) und Pol. I 8, 1256b10-26 (s. u. T16); bei Sedley zusätzlich und vor allem Met. XII 10, 1075a11-25 (s. u. T21).
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durch das andere Tatsachen erklärt werden können. Ob und unter welchen Bedingungen die Inanspruchnahme solcher Gegebenheiten als Prinzipien nach dem aristotelischen Wissenschaftsverständnis unvermeidlich (und insofern auch berechtigt) ist, bleibt bei Cooper unerörtert. Klar ist allenfalls die notwendige Bedingung, dass es sich bei diesen Gegebenheiten um Regularitäten handeln muss; aber diese Bedingung ist nicht hinreichend.107 Sedleys Interpretation ist geradezu darauf abgestellt, dieser Schwierigkeit auszuweichen. Eben deshalb ist auch die Existenz der Arten nach Sedley erklärungsbedürftig. Ob der von Sedley postulierte Erklärungsanspruch bei Aristoteles nachweisbar ist, und ob er von Aristoteles irgendwie eingelöst wird, sind dann freilich ganz andere Fragen. Gegen Sedley ließe sich im Sinne Coopers einwenden, dass Aristoteles als „steady-state theorist“108 immer nur aufzeigen kann, wie die faktisch bestehende Welt funktioniert. Eine andere Welt, vielleicht mit ganz anderen Arten von Lebewesen, könnte ganz anders funktionieren; aber sie wäre kein Gegenstand der aristotelischen Naturwissenschaft. Naheliegenderweise lässt sich bei der Durchführung eines solchen Programms die Inanspruchnahme von Gegebenheiten als Prinzipien gar nicht vermeiden. Dass insbesondere die jeweilige Natur der Arten nicht nochmals auf andere Prinzipien zurückführbar ist, deutet Aristoteles selber an: T12: „Dass es die Natur gibt, zeigen zu wollen, wäre albern. Denn offensichtlich gibt es viele derartige Dinge. Und das Offensichtliche durch Verweis auf Ungesehenes zu zeigen, ist Sache dessen, der nicht unterscheiden kann, ob etwas durch sich selbst oder nicht durch sich selbst bekannt ist. Dass einem dies geschehen kann, ist unschwer einzusehen; es könnte ja auch ein von Geburt Blinder Schlussfolgerungen über [sc. die Existenz von] Farben ziehen. Zwangsläufig ist es bei solchen Leuten daher so, dass sie nur gedankenlos über Worte argumentieren.“109 3.2. Ressourcen und Nutznießerschaft Zu den in 3.1.2 erwähnten Passungsverhältnissen äußert sich Aristoteles eher beiläufig. Die einschlägigen Stellen werden oft dahin107 Vgl. Cooper 1982/2004, 112n4 (zu GA II 6, 742b17 ff.). 108 Sedley 1991, 186. 109 Phys. II 1, 193a3-9. Dazu Hussey 2012, 19.
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gehend interpretiert, dass sie entweder gar keine teleologischen Zusammenhänge beschreiben,110 oder sie werden als populäre Exkurse abgetan, die keinesfalls zur Naturwissenschaft gehören.111 Ich halte beides für unangebracht: Es handelt sich um teleologische Zusammenhänge, freilich nicht im Sinne eines biologischen Funktionsbegriffs, sondern von Nutznießerschaft (s. u. 3.2.4); diese kann mit Aristoteles auf biologische Anpassung zurückgeführt und somit innerhalb des durch T5e gesteckten Rahmens erklärt werden (s. u. 3.3.2 ff.). 3.2.1. Die bei Aristoteles an T5 anschließende Diskussion verknüpft zwei unterschiedliche Themen: das Passungsverhältnis zwischen Klima und Vegetation (T13) sowie die funktionsgerechte Bildung des – menschlichen (?) – Gebisses (T14). Ich zitiere ausführlich.112 T13a: „Eine schwierige Frage ist, warum es sich nicht so verhält, dass die Natur gar nicht zu einem Zweck wirkt und wie es besser ist, sondern so, wie Zeus regnet,113 nämlich nicht damit der Weizen wächst, sondern aufgrund einer Zwangsläufigkeit. Denn
110 Vgl. Wieland 1970, 275 f. und Nussbaum 1978, 94 zu Phys. II 8, 198b16 ff. (s. u. T13-15). 111 Vgl. Wieland 1970, 275; weitere Belege bei Johnson 2005, 231 (jeweils zu Pol. I 8, 1256b6 ff. = T16); vgl. Judson 2005, 359 (zu Phys. II 2, 194a33 ff. = T17). Ein Sonderfall ist die – gelegentlich (vgl. Kullmann 1979, 17) als „Kollegwitz“ abgetane – Bemerkung über das ressourcenschonende Haifischmaul (PA IV 13, 696b27-30; vgl. HA VIII 2, 591b27-8); dazu Johnson 2005, 208 f. sowie Kull mann 2007, 749 ff. 112 Vgl. zu dieser vieldiskutierten Stelle bes. Cooper 1982/2004, 116 f. und 125; Furley 1985; Sedley 1991, 181-187 und passim; Wardy 1993; Judson 2005, 342355; Johnson 2005, 150-158; Scharle 2008. Ich übernehme im Folgenden die u. a. von Cooper, Furley und Sedley vertre tene, von Scharle (2008, 150 und passim) so genannte „Corn Growth Interpre tation“ von T13. Scharles Gründe, diese Interpretation abzulehnen (ebd., 154 ff.), sind m. E. nicht durchschlagend. 113 Diese Wendung – „Zeus regnet“ (hyei ho Zeus, b18) – ist nach Furley (1985, 178) „good Homeric Greek“, aber „not used elsewhere by Aristotle“; vielleicht handelt es sich um eine Anspielung auf eine Polemik in den Wolken des Aristo phanes (Vs. 368-380, vgl. Sedley 1991, 185n10). Unter Verweis auf ein altes, bei Mark Aurel (V 7) zitiertes Gebet „Regne, regne, lieber Zeus, auf das Ackerland der Athener und die Wiesen!“ merkt Sedley (ebd., 185) an, zur Debatte stehe hier von vornherein eine „an thropozentrische“ Teleologie. – Ich werde Sedleys Anthropozentrismus-These hier nur am Rande erörtern.
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was aufwärts bewegt wird, muss abkühlen, und das bei der Abkühlung entstandene Wasser muss herunterkommen; wenn dies geschieht, ergibt es sich nebenher, dass der Weizen wächst. Und ebenso, wenn jemandem der Weizen auf der Tenne verdirbt: es regnet nicht, damit der Weizen verdirbt, sondern dies ergibt sich nebenher.“114 Die Erklärung des Regens ist eben diejenige, die Aristoteles an anderen Stellen selber vertritt.115 Die Einflüsse des Regens auf den Weizen werden nur angedeutet: Winterlicher Regen lässt den Weizen wachsen, sommerlicher Regen lässt die Weizenernte verderben. Die Annahme, dies sei ein bloßes Zusammentreffen, wird zunächst anhand eines analogen Falls diskutiert: Wenn hier ein bloßes Zusammentreffen vorliegt, T14a: „... was spricht dann dagegen, dass es sich auch mit den Teilen in der Natur [sc. eines Lebewesens] so verhält? – Dass nämlich z. B. die Zähne aufgrund einer Zwangsläufigkeit hervorkommen, und zwar die vorderen scharf und zum Schneiden geeignet, die Backenzähne hingegen abgeflacht und brauchbar zum Zerquetschen der Nahrung, da sie ja nicht zu diesem Zweck entstehen, sondern sich dies nur so trifft. Und ebenso mit den anderen Teilen, bei denen das Zu-einem-Zweck vorzuliegen scheint. Wo sich nun alles so ergeben hat, als ob es zu einem Zweck entstanden wäre, da hat sich dies erhalten, nachdem es irgendwie von selbst (apo tou automatou) in geeigneter Weise zusammengetreten war; andernfalls ging und geht es unter, wie Empedokles von den menschenköpfigen Kälbern sagt.“116 Die Ablehnung der somit referierten Theorie ergibt sich für Aristoteles daraus, dass die Bildung eines funktionsfähigen Gebisses nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig erfolgt und diese Regelmäßigkeit nicht als bloßes Zusammentreffen erklärt werden kann:
114 Phys. II 8, 198b16-23. 115 Vgl. Furley 1985, 181. Die ebd. genannten Parallelstellen sind: Mete. I 11, 347b12 ff. (aber vgl. insgesamt c. 9 ff.); De somno 3, 457b31 ff.; PA II 7, 653a2 ff.; APo II 12, 96a2 ff. 116 Phys. II 8, 198b23-32.
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T14b: „... die angegebenen Dinge und alles, was durch Natur ist, kommen entweder immer oder meistens so zustande117 – aber nichts von dem, was zufällig oder irgendwie von selbst ist.“118 Ebenso beim Regen: T13b: „Wir halten es ja auch nicht für Zufall oder bloßes Zusammentreffen, dass es im Winter häufig regnet, sondern wenn das im Hochsommer geschieht; und entsprechend bei Hitze nicht im Hochsommer, sondern im Winter. Wenn119 nur dies: durch bloßes Zusammentreffen oder zu einem Zweck zu sein, in Betracht kommt und diese Dinge weder durch bloßes Zusammentreffen oder irgendwie von selbst sein können, dann wären sie wohl zu einem Zweck.“120 Aristoteles kann daher resümieren: T15: „Tatsächlich ist dergleichen alles [d. h. die in T13 und T14 beschriebenen Klimaverhältnisse bzw. Körpermerkmale] durch Natur, wie auch jene zugeben, die diese Argumente vortragen.
117 „... entweder immer oder meistens“: ê aiei ... ê hôs epi to poly. Nach Cooper (1982/2004, 112n4 [S. 113]) meint diese Formel bei Aristoteles: „existing eter nally or recurring regularly throughout all time, with only the occasional ex ceptions implied in the ‚for the most part‘ rider.“ – Die letztere Klausel besagt nach Cooper (ebd., 117n7), dass die Ausnahmen nicht mehr als 50 % der Fälle ausmachen dürfen, was (z. B. im Hinblick auf die Aufzuchtraten der meisten Tierarten) ziemlich absurd ist. Nach Judson (1991, 82 ff.) ist vielmehr von be dingten Häufigkeiten die Rede. Ohne auf Details eingehen zu können, möch te ich hier nur anmerken, dass ich Judsons Einwände (ebd., 88 f.) gegen die von Cooper geforderte ewige Instantiierung für weniger überzeugend halte: Die ewige Periodizität (i) des Vegetationszyklus und der Jahreszeiten sowie (ii) der Biogenese bei Empedokles sollten unbestritten sein; wieso es nicht zu allen Zeiten der Fall sein soll, dass Honigwasser meist gegen Fieber hilft (vgl. Met. VI 1, 1027a22-6), ist unerfindlich; das agora-Beispiel (Phys. II 5, 196b36197a5) ist für diese Frage nicht einschlägig. 118 Phys. II 8, 198b34-6. Die Argumentation wird in T14c (Phys. II 8, 199b5-9, 1318) weitergeführt, s. u. 3.2.2. 119 Nach Charles (1991, 112 f.) wird diese Alternative nicht von Aristoteles ins Spiel gebracht. Vielmehr richte sich das Argument „ad personam“ gegen einen Opponenten, der sie unterstellt; Aristoteles argumentiere hier gar nicht für Teleologie, sondern gegen eine bestimmte Weise des Rekurses auf Zufall. – Demgegenüber interpretiere ich T13-15 (mit Cooper) als ein Argument für Teleologie, wobei ich aber (anders als Cooper) die engere Auffassung von Te leologie zugrundelege, die sich m. E. aus T5e ergibt. 120 Phys. II 8, 198b36-199a5.
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Also gibt es das Zu-einem-Zweck bei dem, was durch Natur wird und ist.“121 3.2.2. In T13 und T14 haben wir jeweils zwei Regularitäten, die in einer charakteristischen Weise zueinander passen: Weil immer oder meistens φ geschieht, kann ψ immer oder meistens gelingen. Dabei ist φ • in T13 die normale Abfolge der jahreszeitlichen Regen‑ und Trockenperioden und • in T14 die Bildung eines normalen Gebisses; ψ ist • in T13 der Vegetationszyklus von Weizen und • in T14 die Ernährung. Es handelt sich um einen regelmäßigen Zusammenhang. Die Nützlichkeit von φ für ψ ist somit kein bloßes Zusammentreffen; deshalb lässt sie sich nach Aristoteles nur dadurch erklären, dass ψ der Zweck ist, zu dem φ geschieht.122 – Soweit die Entsprechung zwischen T13 und T14. Wichtig sind aber auch die Unterschiede: In T14 handelt es sich um eine einzige biologische Art. Ein spezifisches Merkmal wird – ganz im Rahmen des unter 3.2.1 skizzierten Programms – durch seine Funktion für die jeweils spezifische Lebensweise erklärt. Das von Aristoteles konstatierte „zu einem Zweck“ (heneka tou) verweist somit auf den aitiologischen Funktionsbegriff der aristotelischen Biologie. Demgegenüber handelt es sich in T13 um ganz verschiedene Arten von Dingen. Der biologische Funktionsbegriff ist hier gar nicht einschlägig; das in T13b konstatierte „zu einem Zweck“ lässt sich nicht durch ihn erklären.123 Daher ist in T13 auch nicht klar, welche effiziente Ursache diesen Zweck antizipiert. Nach T14 wird die Ausbildung der spezifischen, funktionsgerechten Merkmale eines Tiers durch den „Samen“ (sper ma) gesichert; denn dieser ist von vornherein der Same eines Tiers der fraglichen Art. Aristoteles insistiert gegen Empedokles, dass sich Tiere und Pflanzen aus Samen entwickeln und eventuelle Fehlbil121 Phys. II 8, 199a5-8. 122 Treffend Cooper (1982/2004, 117n7): „... when something good happens its being good must, if it is not a coincidence, have a teleological explanation“. 123 Cooper (1982/2004) geht auf dieses Problem, soweit ich sehe, nicht ein.
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dungen auf äußere Störungen oder defekten Samen zurückführbar sind: T14c: „Auch bei den ursprünglichen Zusammensetzungen sind die menschenköpfigen Kälber, wenn sie unfähig waren, eine bestimmtes Maß und Ziel zu erreichen, aus irgendeinem verdorbenen Ursprung entstanden, wie jetzt aus verdorbenem Samen. Auch muss zuerst der Same entstehen, und nicht sogleich die Tiere; das ‚ungegliederte Zuerst‘ war Same.124 [...] Außerdem müsste auch in den Samen entstehen, was sich zufällig ergibt. Aber wer so spricht, hebt gänzlich auf, was durch Natur geschieht, und [somit überhaupt] die Natur. Denn durch Natur geschieht, was von einem inneren Ursprung her mit einer kontinuierlichen Bewegung ein bestimmtes Ziel erreicht. Und zwar von dem jeweiligen Ursprung her weder jeweils dasselbe noch was sich zufällig ergibt, wohl aber immer auf dasselbe [d. h. dieselbe Form] hin, wenn nichts dazwischenkommt.“125 Bei den in T13 diskutierten Zusammenhängen ist nichts dergleichen der Fall. Der Wettergott wird zwar erwähnt, aber sogleich mit der Zwangsläufigkeit im meteorologischen Geschehen gleichgesetzt.126 Eine effiziente Ursache von Regen und Trockenheit, die das Gedeihen des Weizens irgendwie antizipierte, kommt für Aristoteles nicht in Betracht. 3.2.3. Dasselbe gilt für zwei viel diskutierte Parallelstellen, auf die Sedley und Judson im Zusammenhang mit T13-15 hinweisen.127 Die eine Stelle ist der Politik entnommen. Thema sind hier die Nahrungsquellen, auf deren Besorgung und Besitz die menschliche Haushaltsführung beruht. In einer vergleichenden Betrachtung weist Aristoteles zunächst darauf hin, dass die unterschiedlichen Lebensweisen (bioi) der Tiere durch ihre unterschiedlichen Ernährungsweisen (eidê trophês) bedingt und von der „Natur“ entsprechend festgesetzt sind;128 ebenso können auch die unterschiedlichen 124 „... das ‚ungegliederte Zuerst‘“: to „oulophyes men prôta“ (199b9) – Aristoteles zitiert (ohne Berücksichtigung des Satzzusammenhangs) Empedokles DK 31 B 62.4: oulophyeis [sic!] men prôta typoi chthonos exanetellon; cf. Ross ad loc. 125 Phys. II 8, 199b5-9, 13-18. 126 So bereits Euripides Troades 886; vgl. Heinemann 2005, 34 f. 127 Sedley 1991; Judson 2005. 128 Pol. I 8, 1256a19-29.
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menschlichen Lebensweisen auf die Nutzung unterschiedlicher Nahrungsquellen zurückgeführt werden.129 Bei allen Unterschieden bleibt nach Aristoteles aber festzuhalten: T16a: „Solcher Besitz (ktêsis)“, d. h. die Verfügung über Nahrungsquellen, „wurde offenbar allen von der Natur selber gegeben – gleich bei ihrer Geburt und ebenso, wenn sie erwachsen sind. Denn gleich bei der Geburt gibt ein Teil der Tiere, nämlich die Larven oder Eier gebärenden, soviel Nahrung mit, wie das Neugeborene braucht, bis es sich selbst versorgen kann; und die Lebendgebärenden haben eine zeitlang Nahrung für die Neugeborenen in sich, nämlich die Sorte Stoff, die man Milch nennt.“130 Wie somit die Neugeborenen mit Dotter oder Muttermilch versorgt sind, so T16b: „... muss man offenbar auch bei den Ausgewachsenen (genomenois) annehmen, dass die Pflanzen um der Tiere willen (tôn zôiôn heneken) da sind und die anderen Tiere zum Vorteil der Menschen (anthrôpôn charin): die zahmen durch Gebrauch und Verzehr, von den wilden die meisten, wenn nicht alle, zum Verzehr und sonstiger Nutzung durch Verarbeitung zu Kleidung und sonstigem Zeug. Wenn die Natur nichts unvollendet und nichts vergebens macht, dann folgt daraus zwingend, dass die Natur dieses alles um der Menschen willen gemacht hat (tôn anthrôpôn heneken auta panta pepoiêkenai tên physin).“131 Wie in T13 ist das „um ... willen“ hier durch keinen biologischen Funktionsbegriff explizierbar. Es lässt sich auch keine effiziente Ursache angeben, die den Zweck, zu dem Pflanzen und Tiere da sind, bei deren Erschaffung antizipiert. In T13 und T16 bleibt daher das „um ... willen“ oder „zu einem Zweck“ zunächst unverständlich. Und ebenso erklärungsbedürftig ist in T16 die – anders als in T11 auf keinen biologischen Funktionsbegriff verweisende – Formel, dass „die Natur nichts unvollendet und nichts vergebens macht“. 3.2.4. Den entscheidenden Hinweis gibt eine zweite Parallelstelle. In ihrem Kontext geht es darum, dass Material und Form bei den 129 Ebd., 1256a29-b7. 130 Ebd., 1256b7-15. 131 Ebd., 1256b16-22.
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Künsten und daher auch in der Naturwissenschaft stets in dieselbe Disziplin fallen.132 In einer anschließenden Bemerkung schreibt Aristoteles: T17: „Die Künste stellen auch das Material her, teils schlechthin, teils veredelt (euergon); wir verwenden es in der Annahme, alles sei unsertwillen vorhanden (hôs hêmôn heneka pantôn hyparchontôn).133 In gewisser Weise sind nämlich auch wir ein Ziel. Denn der Ausdruck ‚Wozu‘ (to hou heneka) ist zweideutig, wie in den Büchern Über Philosophie ausgeführt.“134 Für das gegenwärtige Thema ergibt sich aus T17 zweierlei. Erstens: In T16 wird der Mensch – und mit ihm die menschliche Zivilisation – an der Spitze der Nahrungskette positioniert. Aber darin, vorfindliche Ressourcen durch eine geeignete Lebensweise zu nutzen, unterscheidet er sich nicht von den anderen Tieren. Nach T17 unterscheidet er sich allenfalls darin von ihnen, dass er nicht auf bestimmte Ressourcen festgelegt ist: Wie sich der Mensch alles zum Material macht, so ist „alles unsertwillen vorhanden“. Zweitens: Bei diesem „unsertwillen“ muss man nach T17 zwei Bedeutungen des Wozu unterscheiden. Gemeint ist die an anderen Stellen getroffene Unterscheidung zwischen „Wozu-von“ (hou he neka tinos) und „Wozu-für“ (hou heneka tini),135 d. h. zwischen • dem Fall, dass sich eine Handlung durch ihren Zweck, eine Entwicklung durch ihr Ziel oder ein biologisches Merkmal durch seine Funktion erklären lässt, und • bloßer Nutznießerschaft. Was den Menschen nach T17 auszeichnet, ist seine universelle Nutznießerschaft. Ebenso wird er in T16 als letzter Nutznießer an die Spitze der Nahrungskette gesetzt. Und auch bei dem in T13 diskutierten Gedeihen des Weizens unter geeigneten Klimabedin132 Phys. II 2, 194a21-7. 133 Das griechische hôs vermeidet jede Stellungnahme (vgl. Wardy 1993, 27). Anders Sedley 1991, 189: „on the ground that“ (da Aristoteles nach Sedley der Annahme zustimmt). 134 Phys. II 2, 194a33-6. 135 Vgl. De an. II 4, 415b2-3, ebd., b20-1; Met. XII 7, 1072b1 ff.; EE VIII 3, 1249b15. Dazu vor allem Kullmann 1979, 25-37 sowie Johnson 2005, sect. 3.1 (zu T17: S. 76 ff.). Die in T17 zitierte Schrift Über die Philosophie ist verloren. – Leunis sens Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Teleologie fällt hier mit nicht zusammen (vgl. Leunissen 2010b, 130n20).
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gungen handelt es sich um bloße Nutznießerschaft (zunächst des Weizens und dann letztlich wieder des Menschen, der den Weizen anbaut). Die in T13-15 und T16 unterstellte Analogie dieser Nutznießerschaft zur Funktion eines Gebisses bzw. von Dotter und Muttermilch sollte nicht irritieren: Keine Analogie ohne Unterschied, und der Unterschied ist hier eben derjenige zwischen Wozu-von und Wozu-für. 3.3. Auf wessen Natur können Passungsverhältnisse zurückgeführt werden? Nach T13-15 wirkt „die Natur zu einem Zweck und wie es besser ist“; nach T16 macht sie „nichts unvollendet und nichts vergebens“.136 Wie in T5 und T10 sowie an den von Lennox diskutierten Parallelstellen, ist der Naturbegriff hier im terminologischen Sinn aufzufassen.137 Nach T9 muss daher die „Natur“, von der Aristoteles in T13-15 und T16 spricht, „in einem Zugrundeliegenden“ sein. Das heißt, es ist von der „Natur“ bestimmter Dinge die Rede. 3.3.1. Sedley stellt hier die entscheidende Frage: Welcher Dinge? „Whose nature is exhibited in the providential winter rainfall?“138 – Im Hinblick auf T13-15 und T16 unterscheidet Sedley demgemäß zwischen • Zielen, denen ein Ding der Art A per se dient (und das heißt: aufgrund seiner eigenen Natur, ebd., 192), und • Zielen, denen die Dinge der Art A dadurch dienen, dass ihr regelmäßiges Auftreten an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten zum Gedeihen einer anderen Art B beiträgt.139 In letzterem Fall handelt es sich um bloße Nutznießerschaft. Diese ist als ein Wozu‑für zu interpretieren, wenn sie – wie in T13 beschrieben – regelmäßig besteht. Dasselbe Wozu‑für ist nach Sedley
136 Phys. II 8, 198b17 bzw. Pol. I 8, 1256b21. 137 Lennox 1997/2001. 138 Sedley 1991, 192 (zu T13 Hervorhebung im Original). – Dies entspricht der von Bodnár (2005, 24 f.) diskutierten Frage, wessen Natur „the locus of teleo logy“ ist. 139 Sedley 1991, 190 f.
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zu unterstellen, wenn Aristoteles in T16 und T17 die menschliche Nutzung natürlicher Gegebenheiten beschreibt.140 Sedley betont zu Recht, dass die Nutznießerschaft von B an A nicht in der Natur von A liegen kann.141 Nach seiner Auffassung muss sie daher auf eine „globale Natur“ – d. i. „the nature of the entire ecosystem, so to speak“ – zurückgeführt werden.142 Die Alternative, dass sie in der Natur von B liegen könnte, wird von Sedley an anderer Stelle ausdrücklich verworfen; denn dann müsste es nach T16 in der menschlichen Natur liegen, dass „plants exist for the sake of animals in general“, etc.143 Dieses Argument ist aber nicht überzeugend: Warum sollte nicht – in Anlehnung an einen Gegenvorschlag Scharles144 – die Nutznießerschaft von Rindern an Gras auf die Natur der Rinder, die Nutznießerschaft von Schweinen an Eicheln auf die Natur der Schweine und die Nutznießerschaft von Menschen an Feigen, Rindern und Schweinen auf die menschliche Natur zurückgeführt werden? 3.3.2. Scharles Vorschlag nimmt ein Argument Judsons145 auf, wonach die in T13 – ich ergänze sinngemäß: und T16 – beschriebenen Zusammenhänge als „teleologische Anpassung“ der Art B „an ihre Umwelt“ zu erklären seien. Was dabei unter „Anpassung“ zu verstehen ist, bleibt erklärungsbedürftig. Zu beachten ist zunächst, dass der Begriff der Anpassung bei Aristoteles weder auf die Umsicht eines Schöpfers noch auf einen 140 In diesem Sinne versteht Sedley auch den von ihm behaupteten Anthropozen trismus der aristotelischen Teleologie: „Nature is anthropocentric to the extent that man is the ultimate beneficiary“ (1991, 180 mit ausdrücklichem Verweis auf die in T17 getroffene Unterscheidung zwischen Wozu-von und Wozu-für; Hervorhebung im Original). 141 Sedley 1991, 192; 2007, 202. Sedleys Argumentation ist im Wesentlichen die selbe wie oben, Abschnitt 2.2.4. 142 Sedley 1991, 192 mit Verweis auf Met. XII 10, 1075a11-25; s.u. T21 („globale Natur“ etc.: hê tou holou physis, ebd., a11, d. h. „die Natur des Ganzen“); ebenso ders. 2007, 203 (s. o. 3.1.2). 143 Sedley 2007, 202 (S. 201 zitiert T16). 144 Vgl. Scharle 2008, 162: „... plants are for the sake of animals in the sense that it is part of animal nature to make use of plants; and animals are for the sake of humans in the sense that it is part of human nature to make use of animals.“ Im selben Sinne schon Bodnár 2005, 25: „... in the cases where an entity uses to its own advantage the teleological structures arising out of the interaction of entities, the locus of teleology is in the nature and activity of the beneficiary.“ 145 Judson 2005, 355.
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Selektionsprozess verweist. Es gibt keinen Vorgang, durch den eine biologische Art an gegebene Bedingungen angepasst würde. Streng genommen, handelt es sich um eine bloße Metapher – die Aristoteles aber selbst verwendet.146 Was im Rahmen der aristotelischen Biologie überhaupt unter „Anpassung“ zu verstehen ist, lässt sich anhand der Beispiele klarmachen, die Judson neben T13 zitiert: Das Kamel hat einen harten Gaumen und einen geteilten Wiederkäuermagen, weil seine Nahrung dornig und holzig ist;147 Watvögel haben lange Beine und Zehen, weil sie im Sumpf leben.148 Ausgangspunkt der Erklärung ist jeweils ein bestimmtes Merkmal einer spezifischen Lebensweise (bios):149 sich von dorniger und holziger Nahrung zu ernähren bzw. im Sumpf zu leben.150 Die genannten Körpermerkmale werden durch ihre Funktion für diese Lebensweise erklärt: T18: „... denn die Natur macht die Werkzeuge (organa) nach Maßgabe der Funktion (ergon),151 nicht die Funktion nach Maßgabe der Werkzeuge.“152 Wie die Körperteile an ihre Funktion, so ist der Leib eines Lebewesens insgesamt an die spezifische Lebensweise angepasst, für die er
146 Depew (1997, 209 und passim) schlägt demgemäß vor, im Hinblick auf Aristo teles nicht von „Anpassung (adaption)“, sondern nur von „Passung (aption)“ zu sprechen. Ich folge dem nicht ganz konsequent. Denn Aristoteles braucht die Anpassungs-Metapher für die – im Kontext meiner Fragestellung nicht ganz unerhebliche – Unterscheidung zwischen Anpassung von A an B und Anpassung von B an A (s. u. T18). 147 PA III 14, 674a27-b5. 148 PA IV 12, 694b12-7. Judson 2005, 355n46. Zusätzlich verweist Judson (ebd.) auf die ausführliche Darstellung jahreszeitlicher Wanderungen und Ruhezeiten in HA VIII, c. 12-17, 596b22-601a23. Weitere Beispiele bei Scharle (2008, 164 f.). 149 Vgl. PA IV 12, 694b7: tou biou charin. 150 Ebd., 674a28-9 und 694b12-3. Dass beim Kamel von der „Ernährung“ (674a28, b3: trophê) und bei den Watvögeln von der „Lebensweise“ (694b7, b12, b16: bios) die Rede ist, macht keinen Unterschied. Die im Kontext von T16 (Pol. I 8, 1256a19 ff., s. o. Anfang von 3.2.3) getroffene Differenzierung zwischen Le bensweise und Ernährungsweise (eidos trophês, 1256a19) spielt hier keine Rol le. Sie ist ohnehin so zu verstehen, dass zu jeder Lebensweise eine bestimmte Ernährungsweise, und zwar als ihr bestimmender Faktor, gehört (vgl. HA I 1, 487a11 ff.). Man beachte auch, dass bios im Griechischen von vornherein beides, Lebensweise und Lebensunterhalt, bedeutet. 151 Man kann auch übersetzen: sie „passt die Werkzeuge der Funktion an“ (pros to ergon ... poiei). 152 PA IV 12, 694b13-4.
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als Werkzeug fungiert.153 Wenn man die poietische Metaphorik – „die Natur macht“ (ebd., b13: hê physis poiei), etc. – beiseitelässt,154 ergibt sich jedenfalls, dass die beschriebene Anpassung auf die spezifische Natur des jeweiligen Lebewesens zurückgeführt wird. Aristoteles spricht hier von keiner Anpassung an die Umwelt.155 Umweltbedingungen kommen nur durch Lebensweisen ins Spiel. Zu einer spezifischen Lebensweise gehört die Nutzung bestimmter Ressourcen, z. B. charakteristischer Nahrungsquellen sowie topographischer und klimatischer Gegebenheiten. Diese müssen oft eigens – evtl. im jahreszeitlichen Wechsel – aufgesucht werden. Auch dieses für eine Art charakteristische, der Nutzung bestimmter Ressourcen angepasste Verhalten liegt in ihrer Natur; „denn“, so Aristoteles, T19: „die Natur selbst sucht das Zuträgliche.“156 So hat jede Tierart ihre charakteristischen Aufenthaltsorte (oikeioi topoi, HA IX 16, 616b19) und Wanderungsmuster. Entsprechendes muss für die Verbreitung der Pflanzen gelten, worüber man aber bei Aristoteles nur wenig erfährt.157 Und es gilt insbesondere auch in der Landwirtschaft, wo die „Kunst“ (technê) die „Natur“ (physis) bei der Suche des Zuträglichen vertritt:158 Nach Sedley beschreibt 153 Vgl. PA I 1, 642a11-2 (dazu auch oben, Anm. 92). 154 Zu einer – vermeintlich! (G. H.) – „poietischen“ Naturauffassung bei Aristo teles vgl. Mittelstrass (1981, 38 und passim sowie viele spätere Publikationen). Demgegenüber treffend Lloyd 1968, 62: „Aristotle ... clearly recognises that his metaphors are metaphors“. 155 Insofern ist Judsons oben zitierte Formulierung unpräzise. Judson zitiert an der erwähnten Stelle (2005, 355n46) T18, geht aber auf den Zusammenhang von „Funktion“ (ergon, b13) und „Lebensweise“ (bios, b7, b12, b16) nicht ein. 156 HA IX 12, 615a25-6. Wenn deshalb z. B. Vögel mit Schwimmhäuten sämtlich am Wasser leben (ebd., 615a24-5), besagt das nicht etwa (im Widerspruch zu T18), dass nun doch die Lebensweise dem Körperbau angepasst wäre. Treffend Balme 1991, 95 (unter Verweis auf T19 sowie HA VIII 6, 595a16): „Arist. is saying that nature has provided suitable organs and therefore the animal seeks the food that these organs enable it to get“. 157 Vgl. andeutungsweise Scharle 2008, 165 sowie Wardy 2005, 84n44 (mit Hin weis auf die oikeioi topoi der Pflanzen bei Theophrast, CP I 16, 11). 158 Sedley behauptet fälschlich, nach Aristoteles sei „man’s naturally harmoni ous relation with his local environment ... an inherent feature of an eternal natural order“ (1991, 187). Im Hinblick auf die menschliche Zivilisation, ein schließlich der Landwirtschaft, ist Aristoteles kein „steady-state theorist“; die „Historizität der Technai“ (Schneider 1989, 122) ist für ihn ein Gemeinplatz. Wie vor ihm Platon, rechnet Aristoteles mit periodischen Katastrophen, die eine Neuerfindung der technai erzwingen (vgl. ebd., 122 f., mit Belegen).
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T13 das für den Anbau von Weizen günstige Klima von Attika oder Assos,159 im Unterschied zum Klima Makedoniens, das eher den Anbau von Hirse begünstigt; demnach wären Attika und Assos (aber nicht Makedonien) bevorzugte Anbaugebiete für Weizen, und Makedonien (aber nicht Attika und Assos) für Hirse. 3.3.3. Aber zu suchen heißt nicht, zu finden; wenn es nichts zu finden gibt, wird vergebens gesucht. Es liegt nach Aristoteles in der Natur jeder biologischen Art, dass sie das Zuträgliche sucht (T19). Aber dass das Zuträgliche auch zu finden ist, kann nicht mehr auf ihre Natur zurückgeführt werden.160 Bei den in T13 und T16 beschriebenen Zusammenhängen handelt es sich nicht nur darum, dass jede biologische Art mit Körperbau und Verhalten an die Nutzung bestimmter Ressourcen angepasst ist. Wenn dies in ihrer Natur liegt, dann liegt es auch in ihrer Natur, dass ihr Bestand von der verlässlichen Verfügbarkeit dieser Ressourcen abhängig ist.161 Aber die verlässliche Verfügbarkeit der Ressourcen A1, A2, ... liegt nicht mehr in der Natur der sie nutzenden Art B. Teils liegt sie in der eigenen Natur dieser Ressourcen: wie es z. B. in der Natur von Rindern liegt, Gras zu fressen, so liegt es in der Natur des Grases, nachzuwachsen. Teils muss die verlässliche Verfügbarkeit von A1, A2, ... auf die Natur anderer, am Zustandekommen von A1, A2, ... beteiligter Dinge zurückgeführt werden: der Sonne, der Elemente, der Bienen, denen der Bär den Honig raubt,162 usf.
159 160
161
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Hierzu gehört insbesondere auch die Anpassung der Landwirtschaft an lokale Umweltbedingungen und die gezielte Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Dieses „Wo und Wie“ (Pol. I 11, 1258b13) liegt schon im explorierenden Blick des Kolonisten, den Homers Beschreibung der Insel vor dem Kyklopenland do kumentiert (Od. IX, 116-41; dazu Austin und Vidal-Naquet 1972/84, 30 f. und 184) – längst ehe Aristophanes (Ran. 978-9) seine sophistische Didaktisierung parodiert (dazu Schütrumpf 1991, 356 f.). Sedley 1991, 186 (mit Anm. 13). Ebenso Scharle 2008, 165: „Given that animals take in nutrients and grow, they have the proper bodily parts and live in a proper location for taking in such nutrients. This is not to say that the nutrients are to be located where they are and have the consistency they do so that the animals can take them in as food.“ (Hervorhebung im Original.) Es ist hier mit einer gewissen Flexibilität zu rechnen, die Aristoteles vor allem bei domestizierten Tieren beschreibt. Vgl. z. B. HA VIII 6, 595a19 ff. und ebd., 7, 595b6 ff. über die Schweine- und Rindermast; HA VIII 9, 596a24 über den Gerstenbrei- und Weinverbrauch eines Elefanten. HA VIII 5, 594b7-8.
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Den in T13 und T16 beschriebenen Zusammenhängen liegt somit ein Passungsverhältnis verschiedener, in unterschiedlicher Weise involvierter Naturen zugrunde. Sedleys Frage, auf wessen „Natur“ diese Zusammenhänge zurückführbar sind, bleibt daher zunächst unbeantwortet; denn eine Relation zwischen den Naturen verschiedener Dinge ist nach Aristoteles niemandes und somit keine Natur. So betrachtet, scheint ein Erklärungsverzicht nur durch Ausweichen auf Sedleys „globale Natur“ vermeidbar zu sein. Aber diese Schlussfolgerung wäre voreilig. Denn es ist zu vermuten, dass Aristoteles einen entscheidenden Schritt der obigen Argumentation nicht vorbehaltlos mitgehen würde. Zu suchen heißt zwar nicht, zu finden; aber Aristoteles würde im Hinblick auf T19 insistieren, dass nur suchen kann, wer schon oft genug gefunden hat. Die Art B existiert nur dann, wenn sie an die Nutzung verlässlich verfügbarer Ressourcen angepasst ist. Der Fall einer biologischen Art, die an die Nutzung gar nicht oder nur zufälligerweise verfügbarer Ressourcen angepasst wäre, kommt für Aristoteles gar nicht erst in Betracht. Zwar liegt die verlässliche Verfügbarkeit der Ressourcen, an deren Nutzung B angepasst ist, nicht in der Natur von B, sondern in deren eigener Natur (oder in der Natur derjenigen Dinge, durch die sie reproduziert werden). Aber das heißt nicht, dass dieses Passungsverhältnis zwischen den beteiligten Naturen zur Anpassung als solcher hinzukommen müsste. Vielmehr ist es in ihr gewissermaßen schon impliziert. Ich sage: gewissermaßen. Denn es kommt hier nicht darauf an, dass eine Anpassung an die Nutzung nicht oder nur zufällig verfügbarer Ressourcen ein hölzernes Eisen wäre. Aber unter Abstraktion von deren verlässlichen Verfügbarkeit betrachtet, ist Anpassung an die Nutzung bestimmter Ressourcen eine bloße Disposition. Und für solche Dispositionen gilt nach Aristoteles der Grundsatz, dass die Aktualität der Potentialität nicht nur definitorisch (logôi), sondern auch „der Substanz nach“ (ousiai) vorhergeht.163 Es muss hier genügen, die Anwendung dieses Grundsatzes durch einen Vergleich zu erläutern: Man stelle sich eine Welt vor, in der es nichts zu sehen gibt. Es kann dort kein Sehen geben, denn nach Aristoteles ist das Sehen die Aktualität oder Aktivierung (energeia)
163 Met. IX 8, 1049b10-1, 1050a4 (dazu Jansen 2002a, 237 ff.).
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dessen, was es zu sehen gibt.164 Und da das Sehen zugleich auch die Aktivierung des Vermögens ist, das den Gesichtssinn ausmacht, ist dieses nicht aktivierbar. Aber ein nicht aktivierbares Vermögen ist keines. Das heißt, der Gesichtssinn ist gar keiner; in einer Welt, wo es nichts zu sehen gibt, ist das Auge blind und insofern gar kein Sinnesorgan.165 Die Anpassung an eine Lebensweise, für die es keine verlässlich verfügbaren Ressourcen gibt, ist wie ein Auge, für das es nichts zu sehen gibt. Denn eine Lebensweise (bios) ohne verlässlich verfügbare Ressourcen ist gar keine. Die Anpassung an eine Lebensweise ist daher von vornherein auch eine Anpassung an die verlässliche Verfügbarkeit der genutzten Ressourcen – und somit daran, dass diese durch die relevanten Naturen gewährleistet ist. 3.3.4. Dieser Zusammenhang der Naturen ist nicht trivial. Er ist es nicht für eine Selektionstheorie Darwinschen Typs, die das Aussterben und die Entstehung neuer Arten auch durch die Instabilität der Umwelt, mit Ausfall gewohnter oder Erschließung neuer Ressourcen, erklärt. Und auch im Hinblick auf Aristoteles ist es nicht anachronistisch, zwischen • den Ressourcen A, an deren Nutzung die biologische Art B angepasst ist,166 und • den von B tatsächlich vorgefundenen Ressourcen Afakt zu unterscheiden und dann erst zu fragen, wodurch die für den Bestand von B erforderliche Entsprechung zwischen A und Afakt gewährleistet ist. Tatsächlich variiert dieser Herangang ein aus den voraristotelischen Kulturentstehungslehren, von denen sich Aristoteles insofern absetzt, bekanntes Motiv: (i) Bei Hesiod (Erga, 42) revanchieren sich die Götter für den Opferbetrug des Prometheus (ebd., 48), indem sie „den Menschen ihren Lebensunterhalt (bios) verborgen halten“. – Das heißt: Nachdem dem Menschen die Ressourcen, die er braucht, entzogen wur164 Vgl. De an. III 2, 425b26 ff. (bes. 426a13-9). – Die anschließende Bemerkung über Sinnesdaten ohne Sinnesorgan (a19-26) betrifft nicht den hier disku tierten Fall (Sinnesorgan in einer Welt ohne einschlägige Sinnesdaten); vgl. Cat. 7, 7b23-8a12. 165 Vgl. De an. II 1, 412b20-2; zur Gleichsetzung von Auge und Gesichtssinn auch ebd., 12, 424a25. 166 Ich schreibe A als Abkürzung für A1, A2, ... (s. o. 3.3.3).
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den, ist die anfängliche Entsprechung zwischen A und Afakt gestört; deshalb ist der Mensch zur Arbeit gezwungen (ebd., 43-6). (ii) In der hippokratischen Abhandlung Über die alte Medizin (VM, c. 3) heißt es, die menschliche Natur könne die vorfindlichen Lebensmittel nicht (oder nur mit äußerster Not) bewältigen; man habe die Zubereitung geeigneter Lebensmittel eigens erfinden müssen. – Die anfängliche Diskrepanz zwischen A und Afakt wird demnach behoben durch artifizielle Anpassung der vorfindlichen Ressourcen an die menschliche Natur und Leistungsfähigkeit (und somit durch Angleichung von Afakt an A).167 (iii) Im Mythos des Protagoras bei Platon168 wird der Mensch von Epimetheus, „der nicht gerade ein Ausbund an Sachverstand ist“ (ou pany ti sophos ôn, 321b7), bei der Ausstattung der Tiere mit spezifischen „Vermögen zur Arterhaltung“ (dynamis eis sôtêri an, 320e2-3) übergangen. Zum Ausgleich erhält er von Prometheus und Zeus die „demiourgische“ (d.h. fachmännische) bzw. politische „Kunst“ (dêmiourgikê/politikê technê 322b3/5); die erstere zur Sicherung des Lebensunterhalts (bios, 321d4), die letztere als Befähigung zur Bildung von Gemeinwesen und zum „Krieg gegen die wilden Tiere“ (tôn thêriôn polemos, ebd.). – Biologisch ist demnach der Mensch gänzlich unangepasst; stattdessen wird er zur Entwicklung einer materiellen und politischen Zivilisation befähigt, die den Erfordernissen der Arterhaltung unter den gegebenen Umweltbedingungen und mit den gegebenen Ressourcen angepasst ist. Klarerweise sind (ii) und (iii) Varianten von (i). Aber dabei ist eine Entwicklung zu beachten: In (i) ist die Diskrepanz zwischen A und Afakt durch unzureichende Ressourcen bedingt. Sie wird nicht eigentlich behoben; die resultierende Not wird als Zwang zur Arbeit verewigt.169 In (ii) verweist der Vergleich mit dem digestiven Leistungsvermögen von „Rindern, Pferden und allen Tieren außer dem Menschen“ (VM 3,3) auf ein Defizit der menschlichen „Natur“ (VM 3,4 und passim: physis). Dieses Defizit ist als solches unbehebbar; zur Behebung der dadurch bedingten Diskrepanz wird stattdessen Afakt durch geeignete Erfindungen korrigiert. In (iii) ist der Mensch nicht durch seine körperliche Gestalt (wohl in diesem 167 Vgl. VM 3,5: plassontes ... pros tên tou anthrôpou physin kai dynamin. Wie in T18 (pros to ergon ... poiei) ist hier ausdrücklich von Anpassung die Rede. 168 Platon, Protagoras 320d ff. 169 Die anschließend erzählten Komplikationen – Feuerraub des Prometheus, Pan dora (Erga 50 ff.) – sind hier ohne Belang.
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Sinne: physis, Protagoras 320e2), sondern durch die „Kunst“ an die vorfindlichen Ressourcen und Umweltbedingungen angepasst.170 Er ist nur körperlich ein Mängelwesen, tatsächlich aber durch die ihm verliehenen „göttlichen Vorzüge“ (theia moira, Prot. 322a3) privilegiert. Wichtig ist in (iii) der Perspektivwechsel: Anders als bei Hesiod und in der Abhandlung Über die alte Medizin, wird im Mythos des Protagoras nicht mehr von B und A, sondern von Afakt her gedacht: Das Problem der Verfügbarkeit derjenigen Ressourcen, auf deren Nutzung der Mensch angewiesen ist, wird durch die Annahme einer Anpassung des Menschen an die Nutzung der verfügbaren Ressourcen und Umweltbedingungen eliminiert. Die Anpassung erfolgt in drei Schritten: durch Epimetheus, Prometheus und Zeus. Diese Schrittfolge ist ein bloßes Darstellungsmittel,171 um den Beitrag der „Künste“ zur spezifisch menschlichen Weise der Arterhaltung sowie den Unterschied zwischen politischer und demiourgischer „Kunst“ zu verdeutlichen. 3.3.5. Derselbe Perspektivwechsel ist auch bei Aristoteles zu beobachten. Seine Agenda ist aber eine ganz andere als diejenige im Mythos des Protagoras. Die biologische Frage nach den Passungsverhältnissen, durch die der Bestand der Arten insgesamt gesichert ist, fungiert im Mythos des Protagoras nur als Hintergrund für eine die Lehrbarkeit der politischen „Kunst“ betreffende These.172 Wo die biologische Seite der conditio humana zur Fehlleistung eines göttlichen Stümpers wird, ist dieser Hintergrund geradezu als Karikatur ausgeführt. Aristoteles muss hier – ein bisschen humorlos – seine Korrekturen anbringen. Mit wörtlicher Anspielung auf den Mythos des Protagoras weist Aristoteles die Behauptung einer defizitären körperlichen Ausstattung des Menschen zurück:173 Die „Natur“ gibt jedes Werkzeug 170 Wie in T18 und in (ii) wird durch pros (Protagoras 321a3 und passim) Anpas sung angezeigt; dasselbe pros dann auch 322b3-5: Die technai sind Hilfsmittel pros trophên bzw. pros tôn thêriôn polemon. 171 In diesem Sinne auch die einleitende Frage des Protagoras an das Publikum, ob ein mythos oder ein logos, d. h. eine narrative oder diskursive Form des Vortrags erwünscht sei (Platon, Protagoras 320c3). 172 Platon, Protagoras 319a ff. 173 PA IV 10, 687a6-b5. Die Beschreibung des Menschen als „unbeschuht“, „nackt“ und „keine Waffe ... besitzend“ (PA 687a25-6: anhypodêton te ... kai gymnon
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dem, der es gebrauchen kann (tôi dynamenôi chrêsthai, a12). Deshalb haben die anderen Tiere jeweils ein einziges Hilfsmittel, auf das sie festgelegt sind (a27-31). Der Mensch hat stattdessen die Hand, weil er unter den Tieren „das verständigste“ ist (a10). Denn die Hand ist ein Universalwerkzeug (a19 ff., a31 ff.), und nur „das verständigste unter den Tieren“ (to phronimôtaton ... tôn zôiôn, a18-9) kann ein solches gebrauchen. Nach Aristoteles ist die Hand vor allem deshalb ein Universalwerkzeug, weil sie einem universellen Werkzeuggebrauch dient.174 Ohne die demiourgischen technai ist sie vergleichsweise nutzlos. Insofern ist es ganz sachgemäß, dass sie im Mythos des Protagoras nicht als Gabe des Epimetheus angeführt wird; sie gehört nicht zur biologischen Ausrüstung des Menschen, mit der er als Tier unter Tieren zu überleben hat, sondern gleichsam als Zubehör zu den „göttlichen Vorzügen“, die ihm erst Prometheus verschafft. Bei Aristoteles gibt es keine solchen Zuständigkeiten. Womit im Mythos des Protagoras nacheinander drei Götter befasst sind (Epimetheus, Prometheus und Zeus), das „macht“ (poiei, a17) bei Aristoteles die „Natur“. Indem sie jedes Werkzeug dem gibt, der es gebrauchen kann, und somit „unter den gegebenen Möglichkeiten die beste realisiert“ (ek tôn endechomenôn poiei to beltiston, a16-7), verfährt die Natur „wie ein verständiger Mensch“ (kathaper anthrôpos phronimos, a11-2). Das unterscheidet sie von dem „nicht allzu sachverständigen“ Epimetheus und verbindet sie eher mit dem „Hersteller“ (dê miourgos) in Platons Timaios, dessen „Verständigkeit“ (phronêsis) sich darin bewährt, seine Sache gut zu machen und ein guter Fachmann zu sein.175 kai ouk echonta hoplon) zitiert Prot. 321c5-6: gymnon te kai anhypodêton ... kai aoplon. Ebenso entspricht das Zuteilen der Werkzeuge durch die Natur (PA 687a11: dianemei) dem Verteilen der Vermögen durch Epimetheus (Prot. 320d5 und passim: neimai, nemei etc.). 174 In diesem Sinne PA IV 10, 687b5: ... dia to panta [sc. organa] dynasthai lambanein kai echein. 175 In diesem Sinne Platon, Timaios 29a2-3: ... kalos estin hode ho kosmos ho te dêmiourgos agathos; ebd., 29a7: phronêsis. Ich sollte ergänzen, dass eine Verbindung mit dem dêmiourgos des Timaios erst durch die ausdrückliche Behauptung einer einschlägigen Exzellenz der Natur (hier: der „Verständig keit“) hergestellt wird. Es genügt nicht die bloße Verwendung von dêmiour geô für das Wirken der „Natur“ (zu den bei Bonitz, Index 174b21-3 genann ten Belegstellen ergänze GA I 22, 730b31 und GA III 11, 762a16). Die Bedeutung von dêmiourgeô bei Aristoteles ist: „herstellen“, gelegentlich auch:
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3.3.6. Die Anspielungen auf Platon sind hier aber nur beiläufig. Ausdrücklich wendet sich Aristoteles an der zitierten Stelle gegen die Behauptung des Anaxagoras, der Mensch sei, „weil er Hände hat, das Verständigste unter den Tieren“176: Das wäre, als sollte jemand ein Musikinstrument nur deshalb lernen, weil er es hat – wo es doch vielmehr richtig ist, den mit Musikinstrumenten auszustatten, der die Kunst, sie zu spielen, beherrscht (a12-4). Denn diese ist „die Hauptsache“ (to kyriôteron, a14); das Instrument ist „die Kleinigkeit“ (to elatton, a15), die man dann auch noch braucht und die ihr – im Falle der Hand: durch die Natur – hinzugefügt wird.177 Dies ist zwar nur eine Variante des bereits zitierten Grundsatzes, dass „die Natur ... die Werkzeuge nach Maßgabe der Funktion und nicht die Funktion nach Maßgabe der Werkzeuge“ macht.178 Wichtig ist hier aber der Perspektivwechsel, den Aristoteles in der Auseinandersetzung mit Anaxagoras ausdrücklich vollzieht: Anaxagoras geht von einem körperlichen Merkmal aus, und lässt dann die Bedingungen hinzukommen, unter denen dieses Merkmal eine Funktion erfüllen kann. Eben diese Betrachtungsweise lehnt Aristoteles ab: Die Hand ist nicht irgendein körperliches Merkmal, das sich unter Abstraktion von seiner Funktion betrachten lässt. Sondern sie ist ein „Werkzeug“ (organon, 687a11) für eine bestimmte Funktion „verarbeiten“ oder „verwalten“. Ein Werturteil ist dabei nicht präjudiziert, sondern muss gegebenenfalls eigens hinzugefügt werden (in diesem Sinne z. B. GA I 23, 731a24: eulogôs ... dêmiougei; De inc. anim. 12, 711a18: ouden dêmiougei matên ...; vgl. auch GA II 6, 744b16: hôsper ... oikonomos agathos). Dies entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch; die wertende Verwendung von dêmiourgikôs („fachmännisch“) bei Aristophanes (Pax 429) ist ein Ausnahmefall. Generell gilt vielmehr: Wo es auf Sachverstand ankommt, sind die „dêmiourgoi teils schlecht, teils ganz herausragend“ ([Hippokrates], VM 1,2). Auch in Platons Timaios ist das ganz selbstverständlich: Als bloßer dêmiourgos (Tim. 28a6) kann der Hersteller der Welt seine Sache gut oder schlecht machen (ebd., a8-b2: kalon vs. ou kalon); dass er sie gut macht (29a2: kalos estin hode ho kosmos), zeichnet ihn als einen „guten“ dêmiourgos aus (29a3, e1: aga thos). 176 PA IV 10, 687a8-9 = DK 59 A 102. 177 PA IV 10, 687a14-6. Wörtlich: „Die Natur“ (hê physis, a11) „hat dem Größe ren und Wichtigeren das Geringere hinzugefügt, nicht dem Geringeren das Ehrwürdigere (timiôteron, a15) und Größere“. Angesichts dieser Wortwahl an ein – nach Cooper (1982/2004, 128; s. o. Anm. 102) eher vorwissenschaftliches – „principle of ‚nobility‘“ zu denken, wäre irreführend. Worauf es ankommt, ist, dass hier von biologischen Funktionen und somit von einem spezifischen Optimum die Rede ist; als „ehrwürdig“ wird hier bezeichnet, woran die Kriterien für dieses Optimum festgemacht sind. 178 PA IV 12, 694b13-4, s. o. T18.
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(ergon), der sie im Rahmen einer spezifischen Lebensweise (bios) zu dienen hat. Nur als dieses Werkzeug ist sie eine lebendige Hand – wie jeder Leib nur als Werkzeug lebendig ist und somit überhaupt nur, indem er als Werkzeug dient, als lebendiger Leib existiert.179 Im Hinblick auf die gegenwärtige Fragestellung kann eine spezifische Lebensweise als eine spezifische Weise der Nutzung bestimmter, an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten regelmäßig angetroffener Gegebenheiten aufgefasst werden. Die spezifische Natur eines Lebewesens ist dasjenige an seiner „Substanz“ (ousia), das es zu dieser Lebensweise befähigt. Diese „Substanz“ oder „Lebendigkeit“ (psychê) ist nicht dasselbe wie die spezifische Lebensweise, sondern sie verhält sich zu dieser wie eine Disposition zu ihrer Aktivierung: Wie der Gesichtssinn eine Disposition zum Sehen ist, deren Aktivierung von der Sichtbarkeit der Dinge anhängt, so ist die charakteristische „Substanz“ und „Lebendigkeit“ eines Lebewesens insgesamt die Disposition zu einer spezifischen Lebensweise, deren Aktivierung von der Nutzbarkeit der jeweiligen Ressourcen abhängig ist.180 Wie die „Substanz“ (ousia) des Gesichtssinns auf das Sichtbare,181 so ist demnach die „Substanz“ und „Lebendigkeit“ des ganzen Lebewesens auf das Nutzbare bezogen – d. h. insgesamt auf Umweltbedingungen, unter denen es in der Weise leben kann, zu der seine spezifische Natur es befähigt. Das heißt aber nicht, dass nun etwa „Substanz“, wie „Material“ (hyle),182 als „etwas Bezügliches“ im kategorialen Sinne aufzufassen wäre. Material als solches ist bloßes Potential; es existiert überhaupt nur im Hinblick auf dessen Aktuali179 In diesem Sinne De an. II 1, 412a28 und b6: organikon (s. o. Anm. 92). 180 Ich verallgemeinere hier das Potentialität-Aktualität-Modell aus De an. II 5 (erste Aktualität = zweite Potentialität), dazu Gill 2004, 8 ff., Burnyeat 2002, 51 ff. 181 In diesem Sinne De an. II 6, 418a24-5: die jeweiligen idia aisthêta (d. i. beim Sehen das Sichtbare) sind kyriôs aisthêta, und das heißt: sie sind dasjenige, pros ha hê ousia pephyken hekastês aisthêseôs. – „Substanz“ (ousia) heißt hier naheliegenderweise: „Natur“. Ich will nicht ausschließen, dass durch pephyken ein terminologischer Naturbegriff angezeigt wird; dann ergäbe sich sinngemäß ein Pleonasmus, der an eine Stelle im Corpus Hippocraticum (De humoribus c. 16) erinnert, wo die Beobachtung, dass „Naturen“ mehr oder gut zu bestimmten Jahreszeiten etc. passen, so ausgedrückt wird: physies ... pros tas hôras ... eu kai kakôs pephykasin. Zu denken ist stattdessen aber auch an eine Stelle bei Platon (Politeia 478a12-3: ep‘ allôi allê dynamis pephyken; vgl. ebd., a3-4 und 477b10-11), wo durch die Verwendung von pephyken die Regu larität der Zuordnung verschiedener Bereiche der Ausübung an verschiedene Vermögen (dynameis) angezeigt wird. 182 Vgl. Phys. II 2, 194b9: tôn pros ti hê hylê (dazu Heinemann 2009).
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sierung durch die entsprechende „Form“ (eidos)183. Die „Substanz“ und „Lebendigkeit“ (psychê) eines Lebewesens ist diese Form.184 Ihre Bezogenheit auf Umweltbedingungen ergibt sich daraus, dass zu den die Form eines Lebewesens ausmachenden Merkmalen und somit zu dessen spezifischer „Natur“ Dispositionen gehören, deren Aktivierung von äußeren Gegebenheiten abhängig ist. Diese Gegebenheiten sind keine Ursachen; sie geben nur die Gelegenheit zu einer Tätigkeit des Lebewesens, deren Ursachen nach Aristoteles gleichwohl innere sind.185 3.3.7. Wie der „gute Fachmann“ in Platons Timaios,186 „macht“ nach Aristoteles „die Natur nichts unvollendet (ateles) und nichts vergebens (matên)“; deshalb hat sie „die Pflanzen um der Tiere willen ... und die anderen Tiere zum Vorteil des Menschen“ gemacht.187 Das besagt nach Schütrumpf, der hier einen breiten Konsens wiederzugeben scheint, dass Pflanzen und Tiere „insofern nicht ohne Zweck geschaffen [sind], als sie die Lebensbedingungen für den Menschen bilden“.188 Die „Natur“ hätte demnach Pflanzen und die anderen (d. h. vom Menschen verschiedenen) Tiere „vergebens“ gemacht oder irgendetwas „unvollendet“ gelassen, wenn nicht die Pflanzen von den Tieren und die vom Menschen verschiedenen Tiere vom Menschen genutzt würden. Diese Interpretation ist aber nicht zwingend. Weitaus näher liegt es, bei der zitierten Formel daran zu denken, dass die „Natur“ den Menschen „vergebens gemacht“ hätte, hätte sie nicht überdies 183 Vgl. De an. II 1, 412a9-10. 184 Ebd., a19-21. 185 In diesem Sinne, wenn auch im Hinblick auf eine ganz andere Fragestellung, Waterlow 1988, 33: „a natural substance manifests its nature through some single typifying pattern of change to which external circumstances contribute nothing but the opportunity of realization“. 186 Vgl. Platon, Timaios 33b4: matên (was hier aber nicht „vergebens“, sondern „überflüssig“ oder „nutzlos“ bedeutet). – Siehe auch oben, Anm. 175. 187 Pol. I 8, 1256b21, ebd., b16-7; s. o. T16b. 188 Schütrumpf 1991, 314 (zu 1256b20) – „ohne Zweck“: matên. Ähnlich Nuss baum 1978, 95 f.: T16 „does seem to claim that the existence of animals and plants cannot be satisfactorily explained with reference only to the lo gos of their own species“ – mit dem Zusatz, dies sei aber nur „a preliminary phainomenon, from the human practical standpoint, not a serious theoretical statement“ (ebd., 96 unter Berufung auf Wieland). Auch Schütrumpf (1991, 313) weist darauf hin, dass die aristotelische Biologie keine „teleologische[n] Existenzbegründungen für das Vorhandensein einzelner Tierarten“ gibt.
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auch die Pflanzen zur Ernährung der Tiere und die vom Menschen verschiedenen Tiere zur Nutzung durch den Menschen gemacht.189 Sicherlich zeigt die Formel „die Natur macht nichts vergebens“ bei Aristoteles meist einen aitiologischen Funktionsbegriff an.190 Dieser wird auch in T16 durch den Vergleich mit Dotter und Muttermilch (ebd., b10-15) nahegelegt: Wie deren Existenz durch ihre Funktion für die Ernährung der Neugeborenen zu erklären ist, so würde demnach die Existenz von Pflanzen und (vom Menschen verschiedenen) Tieren durch ihre Funktion für die Menschen erklärt. Aber dieser Vergleich hinkt. Denn anders als bei einem Körperteil stellt sich bei einer biologischen Art die Frage, zu welchem Zweck sie existiert, nicht. Es wäre für sie kein Fehler, „ohne Zweck geschaffen“ zu sein.191 Dass die Existenz einer Art irgendwie „vergebens“ sei, ist im Kontext der aristotelischen Biologie ein ganz unverständlicher Gedanke. Und insbesondere existiert eine Art nicht etwa deshalb „vergebens“, weil sie keine Fressfeinde hat. Dass „die Natur nichts unvollendet macht und nichts vergebens“, lässt sich im Hinblick auf die zunächst genannten Beispiele, Dotter und Muttermilch, zwar im Sinne eines aitiologischen Funktionsbegriffs interpretieren. Aber es gilt eben auch umgekehrt: Ohne Muttermilch würden Säuglinge „vergebens“ (matên) geboren, desgleichen Fisch‑ oder Vogellarven ohne Dotter. Und ebenso wären Pflanzen, Tiere und Menschen „vergebens“ – und der Mensch „unvollendet“ – geschaffen, hätte „die Natur“ nicht • für das Gedeihen der Pflanzen durch den jahreszeitlichen Wechsel von Regen und Trockenheit gesorgt (T13) und • zur Ernährung der Tiere die Pflanzen sowie zur Nutzung durch den Menschen die anderen Tiere gemacht (T16b).192 Etwas „vergebens“ zu erschaffen hieße demnach: es zu erschaffen, ohne dass es Bestand hätte. Dass „die Natur“ nichts „unvollendet“ 189 Ebenso – zunächst zu „... wenn sie erwachsen sind“ (1256b9-10, s. o. T16a) – Johnson 2005, 234: „If such provisions were not forthcoming for all these animals, their existence would be in vain.“ 190 Siehe oben 3.1.1, zu T11; vgl. bes. Lennox 1997/2001. 191 Deshalb ist es auch wichtig, matên hier nicht durch „zwecklos“ (Gigon) oder „ohne Zweck“ (Schütrumpfs Kommentar zur Stelle) wiederzugeben. 192 Der agrarische Haushalt wird zum Dottersack des Menschen – oder wie ein großer Aristoteliker des 19. Jh. sagte: zu seinem „unorganischen Leib [...], mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben“ (Marx 1844/1974, 516).
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oder „vergebens“ macht, besagt somit auch: Sie erschafft keine an bestimmte Umweltbedingungen angepasste und auf bestimmte Ressourcen angewiesene Art, ohne dass die passenden Umweltbedingungen verlässlich angetroffen würden und die Verfügbarkeit der benötigten Ressourcen gesichert wäre. Diese Mehrdeutigkeit entspricht der in T17 angedeuteten Mehrdeutigkeit des Wozu: Aristoteles verwendet die Formel „die Natur macht nichts vergebens“ meist im Kontext eines „Wozu-von“ (hou heneka tinos), wo sie dann einen aitiologischen Funktionsbegriff anzeigt. In T16 steht dieselbe Formel aber im Kontext eines „Wozu-für“ (hou heneka tini). Die Erwartung ist unbegründet, dass sie auch in diesem Kontext im Sinne eines aitiologischen Funktionsbegriffs zu verstehen sein müsste. 3.3.8. Fressfeindschaft ist nach Aristoteles „Krieg“ (polemos);193 und von etwas anderem als diesem Krieg ist auch in T16 nicht die Rede.194 Unmittelbar anschließend an T16 fährt Aristoteles fort: T20: „Deshalb dürfte auch die Kriegskunst von Natur irgendwie eine Erwerbskunst sein (die Jagd ist ja ein Teil von ihr),195 die man gegen die Tiere sowie gegen diejenigen Menschen anwenden muss, die dazu geboren sind, beherrscht zu werden, aber nicht wollen, da dieser Krieg von Natur gerechtfertigt ist.“196 Zu dem bloßen Nutzungsinteresse kommt hier ein paternalistisches Motiv hinzu. In dessen Hintergrund steht die bekannte These, jemand sei „von Natur Sklave“, wenn er „an der Vernunft eben soviel Anteil hat, dass er sie zwar vernimmt, aber nicht besitzt“.197 Für so jemanden ist es nach Aristoteles besser, beherrscht zu werden; und ebenso für die domestizierten Tiere (und die hier unerwähnt bleibenden Nutzpflanzen), „denn dadurch wird ihr Überleben gesichert“.198 Es ist deshalb nicht ganz abwegig, die Schlussbemer193 HA IX 1, 608b19-610a35; s. o. 2.2.4. 194 Vgl. Johnson 2005, 234 f. Ebenso bereits Craemer-Ruegenberg 1980-81, 26 f.: Für alle Tiere „gehört auch das Vernichten und Verzehren des fremden Lebens zum artspezifischen Lebensprozeß“. 195 Johnson 2005, 230 verkehrt dies zu: „That is why natural acquisition is a kind of war, ...“. 196 Pol. I 8, 1256b23-26. 197 Pol. I 5, 1254b20-23. 198 Ebd., b19-20 bzw. b12-3.
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kung von T20 so zu verstehen, dass der zur Versklavung von Menschen bzw. zur Domestikation von Tieren nötige „Krieg“ nach Aristoteles durch deren „Natur“ gerechtfertigt ist. Dieser Paternalismus mag sich auf das ganze lebende Inventar des agrarischen Haushalts erstrecken. Aber er hat zwei Grenzen: • Erstens dort, wo sich der Mensch gegen die domestizierten Tiere dann doch als bloßer Fressfeind verhält. Das individuelle Überleben ist mit der Schlachtung vorbei. Den Schlächter kümmert das nicht, und das Wohlergehen der restlichen Herde geht das Schlachtvieh nichts an. • Und zweitens, wo sich der Mensch durch seinen Krieg gegen die wilden Tiere unliebsamer Nahrungskonkurrenten entledigt.199 Diese sind gerade nicht „zum Vorteil der Menschen“ da (an thrôpôn charin)200, sondern sie beeinträchtigen ihn bei der Nutzung seiner „von der Natur selber gegebenen“ Nahrungsquellen (vgl. ebd., b8). Aber wiederum wäre es abwegig zu behaupten, dass „die Natur“ die Nahrungskonkurrenten des Menschen „vergebens“ gemacht hat. Die paternalistische Einfriedung des agrarischen Haushalts ändert also nichts daran, dass der Mensch seine naturgegebenen Nahrungsquellen nutzen und schützen und sich deshalb auch auf unvermeidliche Fressfeindschaften und Nahrungskonkurrenzen ein199 Aristoteles behauptet an der zuletzt zitierten Stelle, die domestizierten Tiere seien „in ihrer Natur besser“ als die wilden (Pol. I 5, 1254b11: beltiô tên phy sin). Soll man hierin die Rechtfertigung einer Parteinahme sehen? – Wichtig ist der Hinweis Schütrumpfs (1991, 258 ad loc.) auf HA I 1, 488a30-1 und PA I 3, 643b3-8, wonach alle domestizierten Tiere verwildern können und die Unterscheidung zwischen domestizierten und wilden Tieren daher biologisch irrelevant ist. Man könnte die zitierte Behauptung im Sinne einer nicht mehr wissenschaftlich ausweisbaren, globalen Teleologie oder im Sinne der Nütz lichkeit für den Menschen zu verstehen suchen. Aber beides ist nicht zwingend und weit hergeholt. Viel näher liegt es, die Wendung tên physin hier im Sinne eines seit dem 5. Jh. bezeugten Sprachgebrauchs durch „dem Charakter nach“ wiederzugeben. Vgl. LSJ, Stichwort physis, II 4, mit Verweis auf (u. a.) Pol. VII 13, 1332a39 ff. Äl tere Belege für diesen Sprachgebrauch, meist in Anwendung auf Menschen, sind beispielsweise: Aristophanes, Eq. 518, Nub. 1187 etc. sowie (ohne Artikel) Aischylos, Prom. 487 (Anwendung auf Vögel, im mantischen Kontext); Sophokles, Aj. 472 etc.; Euripides fr. 495.41 N. etc.; dann bei Platon die bekannte Bemerkung über den „philosophischen“ Charakter von Hunden und Wächtern (Politeia 375a10-1: philosophos tên physin). 200 Pol. I 8, 1256b17; s. o. T16.
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lassen muss. Der hiermit verbundene Krieg bleibt ein unvermeidlicher Bestandteil der Erwerbskunst, und zwar gerade soweit diese „naturgemäß“ ist;201 nur seine Fronten werden verschoben. 3.3.9. Ich komme nun endlich auf die Frage zurück, von wessen Natur in T16b die Rede ist. Angenommen, es handelt sich in T16b darum, dass Gras um der Rinder willen, Eicheln um der Schweine willen sowie Feigen, Rinder und Schweine „zum Vorteil der Menschen da sind“ (einai ... tôn anthrôpôn charin)202 und „die Natur dieses alles um der Menschen willen gemacht hat“ (tôn anthrôpôn heneken auta panta pepoiêkenai tên physin)203. Auf die Frage (1) Von wessen Natur werden nach Aristoteles Gras, Eicheln, Feigen, Rinder, Schweine und Menschen gemacht? kann es nur eine Antwort geben: Gras wird von der Natur der jeweiligen Grassorte gemacht, Eicheln von der Natur der Eichen, Feigen von der Natur der Feigenbäume, Rinder von der Natur der Rinder, Schweine von der Natur der Schweine und Menschen von der menschlichen Natur.204 Aber genügt das? Aristoteles spricht an der zitierten Stelle nicht in der Gegenwartsform, sondern er sagt ausdrücklich, die Natur „habe“ Pflanzen und Tiere um der Menschen willen „gemacht“. Das grammatische Perfekt (pepoiêkenai) lässt an einen Schöpfungsakt denken. Insbesondere wird durch diese Vergangenheitsform nahegelegt, dass von der Existenz der jeweiligen Arten, nicht nur einzelner Exemplare, die Rede ist. Die obige Frage, von wessen Natur Gras etc. gemacht werden, wäre demnach im Hinblick auf T16b falsch gestellt. Zu fragen wäre vielmehr: (2) Von wessen Natur sind nach Aristoteles Gras etc. gemacht worden? Wenn man somit zwischen (1) und (2) unterscheidet, kann es auf (2) aber nur eine Antwort geben: Von gar keiner. Als biologische
201 Vgl. Pol. I 8, 1256b26-39 (unmittelbar nach T20) – „naturgemäß“: kata physin, ebd., b27 und b38. Dazu Johnson 2005, 235-7. 202 Pol. I 8, 1256b16-7. 203 Ebd., b22. 204 Ich abstrahiere von eventueller Domestikation; zu den diesbezüglichen Kom plikationen vgl. Wardy 2005.
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Arten sind Gras, Eicheln, Feigen, Rinder, Schweine und Menschen nach Aristoteles gar nicht „gemacht“ worden, sondern es hat sie schon immer gegeben. Soweit die Wendung „gemacht worden sein“ (pepoiêkenai) auf eine effiziente Ursache verweist,205 läuft die Frage ins Leere. Denn eine effiziente Ursache der Existenz biologischer Arten gibt es nach Aristoteles nicht. Oder vielmehr: Es gibt sie nur insofern, als die Reproduktion der Arten auf ihre jeweilige Natur zurückgeführt werden kann. Wir sind also auf (1) zurückverwiesen. Die zitierte Vergangenheitsform deutet zwar an, dass es irgendwie um die Existenz der Arten geht. Ansonsten ist sie aber irreführend. Sie gehört hier nicht zur Aussage, sondern zur kreationistischen Metaphorik. Wenn man diese abzieht, bleibt von (2) nur noch (1). Was Aristoteles in T16b sagt, ist somit dies: Die menschliche Natur würde vergebens Menschen machen, wenn nicht gleichzeitig die Natur der Rinder Rinder machte, deren Nutznießer die Menschen sind, und die Natur des Grases Gras, dessen Nutznießer die Rinder sind, usf.206 Und das kommt nicht vor: Erstens, weil es nicht funktioniert; denn ohne verlässlich verfügbare Ressourcen gibt es keine Menschen, und ohne Menschen gibt es auch keine menschliche Natur. Und zweitens und vor allem deshalb, weil es sich bei der Reproduktion einer biologischen Art ohne verlässlich verfügbare Ressourcen um keine Regularität handelte, sondern allenfalls um ein zufälliges Geschehen; was in einem solchen Falle Menschen machte, aber ohne sicheren Bestand und somit letztlich „vergebens“ (matên), wäre keine Natur. Mehr an Erklärung der Existenz der Arten und der sie sichernden Passungsverhältnisse ist von einem „steady-state theorist“207 nicht zu erwarten. Und insofern besteht kein Anlass, mit Sedley auf eine globale Natur auszuweichen. Der durch T5e gesteckte Rahmen wird auch hier nicht gesprengt.
205 Vgl. die Charakterisierung der effizienten Ursache als „das, was macht“ (to poioun, Phys. II 3, 194b31, s. o. T1c). 206 Hier schließen sich insbesondere auch die in T13 thematisierten Zusammen hänge zwischen meteorologischen und botanischen Regularitäten an. 207 Sedley 1991, 186.
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3.3.10. Gleichwohl ist die von Sedley herangezogene Stelle aus der Metaphysik208 für das gegenwärtige Thema bedeutsam.209 T21a: Aristoteles fragt, „auf welche Weise die Natur des Ganzen (hê tou holou physis, a11) das Gute und [d. h.] das Beste enthält (echei): als etwas Abgetrenntes und an sich Seiendes, oder dadurch, wie es geordnet ist (tên taxin, a13).“ Aristoteles antwortet sogleich (a13-5): Beides, aber vor allem auf die erstere Weise; wie bei einem Heer, dessen Ordnung durch den Feldherrn gut ist, nicht umgekehrt. Das heißt, die Natur des Ganzen enthält das Gute in Gestalt der ewigen widerfahrnisfreien Tätigkeit Gottes, der – so die Andeutung in T21a – die Welt ordnet, indem er „als Begehrtes bewegt“.210 Insofern T21b: „... trifft es nicht zu, dass eines keine Beziehung zum anderen hätte; sondern es gibt eine. Denn alles ist durch die gemeinsame Ausrichtung auf eines hin zusammengeordnet (pros ... hen ... syntetaktai, a18-9).“ In die somit gestiftete Ordnung sind, wie Aristoteles schon zuvor (a16-7) angemerkt hat, unterschiedliche Dinge auf unterschiedliche Weise einbezogen. Der an T21b anschließende Vergleich mit einem bäuerlichen Haushalt (oikia, a19) erläutert diese Unterschiede: Wie einerseits das disziplinierte Tun der Freien auf das Ziel, zum „Gemeinsamen“ beizutragen, ausgerichtet ist (tetaktai, a21; ergänze sinngemäß: eis to koinon, a21-2), so sind die Himmelsbewegungen direkt auf den Ersten Beweger orientiert. Und wie andererseits der Hahn nur tun muss, wonach ihm gerade ist (ho ti etychen, a22),211
208 Met. XII 10, 1075a11-25. 209 Zur Interpretation vgl. einerseits Sedley 2000, 328-336; andererseits (mit überzeugender Zurückweisung seiner Inanspruchnahme dieser Stelle für eine anthropozentrische Naturteleologie) Scharle 2008, 157-161. Als Hintergrund bleibt Kahn 1985 unverzichtbar. 210 Met. XII 7, 1072b3. 211 Beachte, dass das in gewisser Hinsicht auch auf die Sklaven (andrapoda, a21) zutrifft: Dem Sklaven wird gesagt, was er zu tun und zu lassen hat; er muss sich nicht selbst auf ein übergeordnetes Ziel ausrichten, sondern er kann sich an den jeweiligen Aussichten auf Belohnung und Strafe und insofern daran, wonach ihm gerade ist, orientieren. – Anders (und nicht recht nachvollziehbar) Sedley 2000, 332.
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so imitieren Pflanzen und Tiere den Ersten Beweger, indem sie ihre jeweilige Art reproduzieren.212 Denn, so Aristoteles, T21c: „... ein solcher Ursprung der jeweiligen Tätigkeit (hekastou archê, a22-3) ist ihre Natur (autôn hê physis, a23).213 Ich meine zum Beispiel, dass sie alle zur Auflösung kommen müssen; und so gibt es auch anderes, worin sich alles als Beitrag zum Ganzen (eis to holon, a25) verbindet.“ Ich kann mich hier auf drei Anmerkungen beschränken. Erstens: Was nach Aristoteles eine teleologische Erklärung ausmacht, ist der Rekurs auf das „Gute“ und „Beste“ (s. o. 2.2.2). Dieses kommt in der aristotelischen Biologie als spezifisches Optimum ins Spiel, das sich aus der jeweiligen „Form“ und „Substanz“ der Lebewesen ergibt (s. o. 3.1.1). Aber wieso die jeweilige „Form“ und „Substanz“ der Dinge (nicht nur der Lebewesen, sondern auch der Grundstoffe und Himmelskörper) überhaupt eine Wertung impliziert, bleibt unerklärt. Die in T21 angedeutete Antwort, das Gute liege in der Imitation der ewigen Tätigkeit Gottes,214 ist nach heutigen Maßstäben vielleicht etwas wunderlich. Aber sie macht jedenfalls klar, dass es sich um keine überflüssige Frage handelt.215 212 In diesem Sinne De an. II 4, 415a26-b2; vgl. GC II 10, 336b27-337a7. Dazu Kahn 1985, 193 f. bzw. 188 f. Es ist nicht ganz klar, wie die Sklaven in dieses Bild passen. Man könnte an die Grundstoffe oder „einfachen Körper“ – Erde, Wasser, Luft und Feuer – denken, deren zyklischer Umsatz im Wechsel der Jah reszeiten nach Aristoteles (GC II 10, 337a3-4; vgl. Mete. I 9, 346b36 und Met. IX 8, 1050b28-9) die Zyklität der Himmelsbewegungen imitiert. Vgl. Scharle (2008, bes. 159, 169 ff. und 179 f.). 213 Rossscher Text. Die Zusammenstellung mit „Ursprung“ (archê) deutet an, dass „Natur“ (physis) hier, anders als in T21a, im terminologischen Sinn zu verstehen ist, d. h. als (innere) archê kinêseôs. Die kontroverse Diskussion zwi schen Sedley (2000, 329), Bodnár (2005, 18 f.) und Scharle (2008, 170n60) geht darauf nicht ein. 214 Zur Imitation des Ewigen im Vergänglichen vgl. bereits Platon, Symposion 207c9 ff. Eine Vorgeschichte dieses Gedankens bei Empedokles deutet Sedley 2007, 51n63 an. Tatsächlich impliziert T21 eine subtile Stellungnahme zu Platon. Aristoteles stimmt mit Platon darin überein, dass das Gute nur durch eine externe Instanz ins Spiel kommen kann. Diese ist bei Aristoteles aber keine effiziente Ursache wie der Demiourg im Timaios, sondern sie ist wie das Schöne im Symposion etwas, das „als Begehrtes bewegt“. 215 Beachte, dass Kants Kritik der Urteilskraft dieser Frage ausweicht, indem sie die sog. Zweckursachen überhaupt nur als Formursache konstruiert (vgl. bes. KU § 10, dann § 64 ff.). Das Gute kommt erst durch die Verbindung von Natur und Moral ins Spiel (vgl. bes. KU § 84 ff.).
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Zweitens: In der Weise, wie sie die ewige Tätigkeit Gottes imitieren, unterscheiden sich Lebewesen von Grundstoffen und Himmelskörpern: Himmelskörper sind direkt und Grundstoffe indirekt (durch Imitation der Himmelsbewegungen) am Ersten Beweger orientiert; Lebewesen hingegen an ihrer jeweils eigenen „Form“ und „Substanz“, die sich als spezifische „Natur“ reproduziert. Die entsprechenden Zyklen sind in vielfältiger Weise miteinander verzahnt, wobei die Himmelsbewegungen als gemeinsamer Taktgeber fungieren. So ergibt sich ein Gefüge unterschiedlicher Regularitäten, das alle Arten von Dingen umfasst; insbesondere lassen sich auch die Umweltbedingungen biologischer Arten als Gefüge solcher Regularitäten beschreiben. Dies ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass überhaupt von einem Passungsverhältnis zwischen einer biologischen Art und ihren Umweltbedingungen, und daher auch von Nutznießerschaft in einem biologisch relevanten Sinne, die Rede sein kann. Aber kein einzelner Fall von Passung und Nutznießerschaft wird auf diese Weise – d. h. durch die gemeinsame Ausrichtung aller Dinge auf den Ersten Beweger – erklärt.216 Drittens: Es ist in T21c nicht ganz klar, an welchen „Beitrag zum Ganzen“ mit der Bemerkung, alle Dinge müssten „zur Auflösung kommen“, gedacht ist: in die Nahrungskette einzugehen oder die Elemente für den meteorologischen Kreislauf freizugeben.217 Nutznießerschaft und Passungsverhältnisse kommen in beiden Fällen aber erst dadurch zustande, dass die „Auflösung“ zur rechten Zeit und an geeigneten Orten geschieht; die Himmelsbewegungen als gemeinsamer Taktgeber sind unentbehrlich. – Noch weniger klar ist, worauf mit der anschließenden Bemerkung über „anderes, worin sich alles als Beitrag zum Ganzen verbindet“ (a24 f.), angespielt wird. Aber darauf kommt es wohl auch nicht an. Jedenfalls gibt es Passungsverhältnisse über die Nahrungskette und den meteorologischen Kreislauf der Elemente hinaus. Und auch sie tragen zu derjenigen „Ordnung“ (taxis, a13) bei, die Aristoteles als eine Weise, in der „die Natur des Ganzen das Gute ... enthält“, charakterisiert. 216 Ebenso – mit stärkerer Betonung der von mir nur im Verhältnis von Grund stoffen und Himmelskörpern gesehenen indirekten Imitation – Scharle 2008, 160. 217 Dazu Sedley 2000, 333 ff.; Scharle 2008, 161. Ich selber habe an anderer Stelle eher beiläufig für die Nahrungskette plädiert; vgl. Heinemann 2001, 280: Der Hahn muss „nur tun ..., was ihm paßt (bis er schließlich im Suppentopf lan det)“. Zu beachten bleibt freilich, dass auch die Nahrungskette zum meteoro logischen Kreislauf der Elemente gehört.
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Typen der Teleologie des Organischen bei Aristoteles
Die Teleologie des Organischen bei Aristoteles soll in diesem Beitrag nicht primär aus der Perspektive der Aristoteles-Forschung untersucht werden, sondern aus der Perspektive der Philosophie der Biologie und deren Diskussionsstand der letzten Jahrzehnte. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Typen der Teleologie, die in der aktuellen Diskussion unterschieden werden, zur Teleologie bei Aristoteles stehen. In einem ersten Abschnitt werden diese verschiedenen Typen vorgestellt, in einem zweiten die wesentlichen Aspekte der aristotelischen Teleologie des Organischen diskutiert, in einem dritten Abschnitt geht es um die antiken Vorstellungen von der Einheit eines Organismus, die teilweise mit dem Begriff der Sympathie verbunden sind, in einem vierten um Aristoteles’ fehlenden Organismusbegriff und in einem fünften schließlich um den Zusammenhang zwischen Teleologie und Organismusbegriff.
1. Typen der Teleologie Nach einem einfachen Verständnis bilden Zwecke und Ziele – also der Gegenstand der Teleologie – eine besondere Art von Wirkungen; sie betreffen die Wirkungsseite in einer Ursache-WirkungsVerknüpfung. Zwecke und Ziele werden also in Bezug auf Prozesse in kausalen Abläufen von Geschehnissen zugeschrieben. Ein Herz schlägt und erreicht damit den Zweck des Antriebs des Blutkreislaufs in einem Organismus; ein Baum wirft im Herbst seine Blätter ab und erzielt damit die Wirkung, d. h. der Vorgang hat die Funktion oder den Zweck, den Baum vor der winterlichen Kälte zu schützen. So wie auf der einen Seite die Ursachen des Herzschlags oder des Laubfalls stehen, so stehen auf der anderen Seite die Wirkungen dieser Vorgänge – als Ziele oder Zwecke können diese Wirkungen https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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verstanden werden, wenn sie in Erklärungen dieser Geschehnisse eingebunden sind. Der Verweis auf die Wirkung des Herzschlags und des Blattabwurfs hat für Biologen offensichtlich einen erklärenden Status. Dass das Herz mit seiner Aktivität das Blut zum Fließen bringt und der Blattabwurf den Baum schützt, erklärt eben das Vorkommen dieser Prozesse. Weil das Spätere in diesen zweckbezogenen, teleologischen Erklärungen das Frühere erklärt – der Blutfluss das Pumpen oder der Schutz den Blattabwurf –, sah sich die naturwissenschaftliche Erklärung mittels Zwecken seit der Antike dem Vorwurf der Rückwärtsverursachung ausgesetzt. Lukrez spricht von einer „verdrehten“ Erklärung – „ratio perversa“.1 Es macht nach diesem Vorwurf keinen Sinn anzunehmen, das Auge sei zum Sehen gemacht oder das Bein zum Gehen, wenn die von diesen Körperteilen ausgeübten Funktionen doch immer erst nach deren Entstehung wirksam werden können. Nach einer besonders in der Frühen Neuzeit sich verfestigenden Auffassung ist eine Erklärung darauf eingeengt, die zeitlich früheren, wirkenden Ursachen eines Ereignisses anzugeben. In einer teleologischen Verknüpfung liegt danach eine Verkehrung der realen Verhältnisse vor: Der Zweck als das Spätere wird zur Ursache des vor dem Erreichen des Zwecks ablaufenden Geschehens erklärt. 1.1. Das mentalistische Teleologiemodell Eine klassische Auflösung erfährt dieses Paradoxon, dass das Spätere auf das Frühere wirkt, im zielesetzenden Handeln des Menschen. Hier ist das Ziel, auf das die Handlung gerichtet ist – bei Aristoteles z. B. ein fertiges Haus – zwar gedanklich vorweggenommen – es stellt sich real aber doch erst nach dem Vollzug der Handlung ein.2 Nicht das fertige Haus selbst, sondern lediglich seine mentale Antizipation, nämlich die Absicht, ein Haus bauen zu wollen, bildet die Ursache für den Hausbau. Die Interpretation der Teleologie als intentionale Zwecksetzung bietet den Vorteil, klar angeben zu können, in welcher Weise der strittige Bezug auf ein (angenommenes) zukünftiges Ereignis zur 1 2
Lukrez IV, Vs. 833. Phys. II 8, 199b15-17 in Verbindung mit 9, 200a25-b4 (Übers. hier und im Folg enden Wagner 1967).
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Deutung eines Prozesses sinnvoll sein kann. Diese Interpretation wird daher von vielen Autoren als die eigentliche Kernkonzeption jeder Teleologie verstanden.3 Nicolai Hartmann interpretiert insbesondere die aristotelische Teleologie in der Weise, dass sie sich dem Muster der mentalen Antizipation fügt. Eine Zielverfolgung vollzieht sich danach in drei Etappen: 1. die Antizipation des Zukünftigen durch eine Zwecksetzung im Bewusstsein mit „Überspringung des Zeitflusses“, wie es heißt; 2. die ausgehend vom gesetzten Zweck erfolgende Selektion der Mittel durch das Bewusstsein; und schließlich 3. die Realisation der mentalen Vorstellung durch die Reihe der Mittel, die als „Realprozess“ außerhalb des Bewusstseins verläuft.4 Weil mentale Antizipationen im Sinne von Intentionen in diesem Modell eine wichtige Rolle spielen, soll es hier das mentalistische Modell der Teleologie genannt werden. Aristoteles wendet sich in seiner Physik (II, 8) allerdings ausdrücklich dagegen, eine Zielgerichtetheit nur dort anzunehmen, wo ein vorheriges Überlegen stattgefunden habe. Auch das Handwerk überlege nicht, so Aristoteles.5 Das Streben auf ein Ziel kann für Aristoteles vielmehr in einem Körper selbst liegen und ohne die mentale Ebene des Bewusstseins auskommen. In der Aristotelesforschung des 20. Jahrhunderts hat sich daher die Auffassung durchgesetzt, dass die aristotelische Teleologie gerade keine mentalistische Grundlage hat (auch wenn dies nicht selten kritisiert wird).6 Besonders deutlich macht Aristoteles dieses nicht-mentalistische Teleologiemodell in seiner Beschreibung der ontogenetischen Entwicklung von Organismen. Man kann es daher das embryologische oder ontogenetische Modell der Teleologie nennen. 1.2. Das ontogenetische Teleologiemodell Nach diesem Modell besteht die Teleologie in der gerichteten Entwicklung von Lebewesen von einem wenig differenzierten Ausgangsstadium zu einem komplexen Erwachsenenstadium, das mit den für die Art typischen Lebensfunktionen, insbesondere der Re3 4 5 6
Woodfield 1976, 163. Hartmann 1951, 69. Phys. II 8, 199b26 ff. Ross 1923/49, 186; Charlton 1970, 101; Guthrie 1981, 107; vgl. Bedau 1990, 68.
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produktionsfähigkeit, ausgestattet ist. Nach dem ontogenetischen Teleologiemodell hat ein Lebewesen das Prinzip seiner gerichteten Veränderung, d. h. die Entelechie als Ziel seiner Entwicklung, quasi in sich selbst. Es ist in dieser Beschreibung besonders die Regelmäßigkeit und Artkonstanz der Entwicklung, die die teleologische Perspektive rechtfertigt. Aristoteles schließt wiederholt von der Regelmäßigkeit eines Phänomens auf das Vorliegen eines „Worumwillen“, d. h. einer Zweckmäßigkeit. Aufgrund dieser Verbindung von Regelmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der organischen Entwicklung ist es auch naheliegend, einen Zusammenhang mit seiner Annahme einer Konstanz der Arten herzustellen. Die Konstanz der Arten garantiert, dass es immer derselbe Zielzustand ist, zu dem sich die Organismen entwickeln. Die Regelmäßigkeit führt Aristoteles auch als das entscheidende Argument gegen die Zufallslehre des Empedokles an. Dass, wie Empedokles meint, die Organismen aus bloßer Fügung und durch blinden Zufall so geworden sind, wie sie sind, ist für Aristoteles deshalb ausgeschlossen, weil sie ihre Formen regelmäßig bilden.7 Die Regelmäßigkeit gehört zum Wesen (ousia) eines Lebewesens und sie ist damit auch Teil seines Begriffs (logos). In Aristoteles’ Augen stellt es daher einen Fehler von Empedokles dar, etwas erklären zu wollen, ohne dessen Begriff vorauszusetzen. Bevor die Genese eines Organismus erklärt werden könne, müsse er selbst, unter Bezug auf sein Wesen, d. h. sein Ausgerichtetsein auf einen Zweck, bestimmt sein. Ist diese Ausrichtung sein Wesen, dann kann seine Bestimmung sich nicht in der Summierung seiner Elemente und deren Potenzen erschöpfen, er kann nicht auf seine Elemente reduziert werden, so wie Empedokles es Aristoteles zufolge meint. Aristoteles betrachtet also nicht nur die Elemente als letzte Wesenheiten, sondern auch die Lebewesen, die ihrer Natur und damit ihrem Begriff nach eine Zweckursache voraussetzen, die etwas anderes ist als die von den Elementen ausgehenden Ursachen. Der zentrale Punkt von Aristoteles’ Argumentation läuft also darauf hinaus, die Lebewesen als deskriptiv und explanativ eigenständige Gegenstände wissenschaftlich zu etablieren.8 Ausdrücklich stellt Aristoteles fest, nur diejenigen Merkmale seien zweckmäßig, die für eine Gattung von Wesen typisch seien, nicht 7 8
Phys. II 8, 198b29-199a8. Gotthelf 1976/88, 213.
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aber solche, wie etwa die blaue Augenfarbe des Menschen, die nur bei einigen, aber nicht allen Vertretern vorkommen: „Was nämlich kein allgemeines Werk der Natur ist noch eine besondere Eigenheit der Gattung, in dem steckt kein Sinn, und sein Werden hat keinen Zweck. Das Auge hat gewiß seinen Sinn, aber seine blaue Farbe nicht, höchstens wenn es sich um die Eigenart einer ganzen Gattung handelt“.9 Insofern er von der Regelmäßigkeit auf die Zweckmäßigkeit schließt, betrachtet Aristoteles die beiden Erklärungen des Zufalls und der Zweckursache als vollständige Disjunktion. Weil es keine Koinzidenz sein könne, wie die Organismen regelmäßig sich entwickeln, müsse dies eine Zweckursache haben. Offensichtlich verfügt Aristoteles hier nicht über den Begriff des Naturgesetzes, der eine dritte Möglichkeit eröffnen würde. Ein Zweckbegriff, der allein auf der Regelmäßigkeit von Abläufen beruht, ist aus neuzeitlicher Perspektive zumindest ungewöhnlicher. Er läuft offensichtlich Gefahr, jeden regelmäßigen Prozess als teleologisch anzusehen. Für Aristoteles ist es aber eben genau die gattungstypische Regelmäßigkeit, die einer Struktur oder einem Prozess seine Zweckmäßigkeit verleiht. Für die ontogenetische Entwicklung ist diese Regelmäßigkeit dadurch gegeben, dass sie sich periodisch in der Folge der Generationen immer wieder vollzieht. Die Entwicklung von Organismen vollzieht sich sequenziell in der wiederholten Fortpflanzung, also der Expansion und Kontraktion der Organisation eines Organismus – der Expansion in der Expression der Entwicklungsanlagen und der Kontraktion in der Bildung der Keimzellen. Und sie vollzieht sich parallel in dem gleichförmigen und gleichzeitigen Auftreten bei den artgleichen Organismen einer Generation. Diese Wiederholung rechtfertigt es für Aristoteles, Entwicklungsprozesse teleologisch zu beurteilen. Zwei weitere Modelle, die in der gegenwärtigen Diskussion eine dominante Rolle spielen, werden von Aristoteles kaum thematisiert: das eine, dem die meisten Philosophen der Biologie die größte Bedeutung beimessen, geht von dem Prozess der Selektion aus, das andere von dem Konzept des Organismus.
9
GA V 1, 778a30-34 (Übers. Gohlke 1942).
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1.3. Das selektionstheoretische Teleologiemodell Vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie werden organische Funktionen aus der Perspektive ihrer Entstehung betrachtet. Die Zweckmäßigkeit eines Prozesses oder einer Struktur erweist sich in seiner langfristigen, generationenübergreifenden Formung durch die Selektion. Einem Merkmal wird eine Funktion oder ein Zweck zugeschrieben, eben weil es zur Ausbreitung des Typs von Organismen beigetragen hat, an denen es vorkommt. Knapp lässt sich diese Auffassung so charakterisieren: Zweckmäßige Prozesse oder Strukturen sind Anpassungen oder in der Vergangenheit selektierte Effekte10 oder, in den Worten von Paul Griffiths: „wherever there is selection, there is teleology“11. Als ein besonderer Vorzug einer selektionsorientierten Interpretation der organischen Teleologie kann es gelten, dass mit ihr in Aussicht gestellt ist, eine Erklärung für die Anwesenheit eines Teils oder einer Eigenschaft in einem Organismus zu liefern. Denn wird ein Merkmal als eine Anpassung ausgezeichnet, dann ist seine Verbreitung als Folge seines vergangenen Auftretens gedeutet – genauer: des vergangenen Auftretens von Merkmalen des gleichen Typs. Die Anwesenheit eines Herzens in einem Organismus oder des Laubabwurfs bei Bäumen kann z. B. unter Verweis auf deren Funktion erklärt werden, weil diese Struktur bzw. dieses Merkmal einen Beitrag zum Überleben und zur Fortpflanzung seiner Träger geleistet hat und dieser Beitrag daher seine Ausbreitung und Stabilisierung in der Population unterstützt hat. Genau diese selektionstheoretische Perspektive findet sich nicht bei Aristoteles, einfach weil er kein Anhänger einer Evolutionstheo rie ist. Es findet sich aber trotzdem eine ähnliche Argumentation, nämlich eine Anwesenheitserklärung aufgrund einer Zweckzuschreibung. Dies ist eine teleologische Erklärung, die auf einer hypothetischen Notwendigkeit beruht: Die Notwendigkeit einer bestimmten Struktur zur Erreichung eines Zwecks kann deren Anwesenheit erklären. Bei Aristoteles heißt es: „so wie das Beil hart sein muß, wenn man mit ihm (Holz) spalten will, […] so ist es auch notwendig, daß der Körper von der und der Beschaffenheit ist und aus den und den Bestandteilen besteht, wenn er seine Aufgabe erfüllen soll; denn der Körper ist ein Werk10 Williams 1966, 258; Ruse 1971; Millikan 1984; Neander 1991. 11 Griffiths 1993, 422.
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zeug (zu einem bestimmten Zweck existiert ja jeder seiner Teile und ebenso auch das Ganze).“12 Ein Beil muss also scharf sein, wenn es den Zweck des Holzspaltens soll erfüllen können. Und Zähne müssen eine bestimmte Form haben, wenn sie ihre notwendige Rolle im Prozess der Ernährung sollen wahrnehmen können.13 Unter der hypothetischen Voraussetzung, dass etwas eine funktionale Rolle wahrnimmt, also einem Zweck dient, muss es eine bestimmte Struktur haben. Und umgekehrt kann dann die spezifische Struktur unter Verweis auf ihre Funktion erklärt werden.14 Aristoteles führt diese Form der Erklärung durch eine Analogie aus der Technik ein, in der sie auch unmittelbar einleuchtend ist: Ein technisches Gerät ist für eine bestimmte Aufgabe gestaltet. Er überträgt diese Perspektive auf die organische Natur – und formuliert damit eine Anpassungserklärung: Wenn etwas eine Funktion in einem Organismus wahrnimmt, dann ist seine Struktur dieser Funktion gemäß, es ist an sie angepasst. Zweckzuschreibungen haben bei Aristoteles also den Charakter des sogenannten ätiologischen Funktionsbegriffs: Die Anwesenheit oder besondere Beschaffenheit einer Struktur wird über deren funktionale Wirkung, ihren Zweck erklärt. Wie dies im Bereich der Natur sein kann, klärt Aristoteles aber nicht. Eine naturalistische Einbettung dieser Erklärungsform leistet erst Darwin: Wenn ein Teil in einem Organismus eine Funktion ausübt, dann wird er so geformt, dass er dieser Funktion angemessen ist – nämlich durch Natürliche Selektion. Die Selektion liefert also einen Mechanismus zur Rechtfertigung der hypothetischen Notwendigkeit der Teleologie bei Aristoteles. In der aktuellen Debatte um den Funktionsbegriff der Biologie ist das evolutionstheoretische Modell zur Deutung von Funktionen als selektierte Effekte allerdings auch umstritten. Gegen die evolutionstheoretische Deutung spricht bereits die weite Verbreitung der teleologischen Sprache der Biologie lange bevor sich die Selektionstheorie als allgemein akzeptierte Theorie etabliert hat. Die früheren Verwendungen des Zweckbegriffs beziehen sich vielfach auf die unmittelbare Wirkung eines Prozesses oder einer Struktur innerhalb eines Organismus. Die Teleologie hatte ihren Ort in einer Analyse der Wirkung von Teilen eines Systems im Hinblick auf das 12 PA I 1, 642a9-13 (Übers. hier und im Folgenden Kullmann 2007). 13 PA III 1, 661a34 ff. 14 Gotthelf 1976/88, 240; Cooper 1987, 255; Ariew 2007, 175.
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Systemganze. Dem Herzen konnte z. B. eine Funktion zugeschrieben werden, weil seine Aktivität für die Arbeitsweise der anderen Organe als relevant erachtet wurde. Diese physiologische Verwendung des Zweckbegriffs ist durch die Evolutionstheorie weitgehend unverändert geblieben.15 Funktionen werden also offensichtlich nicht nur dann zugeschrieben, wenn eine vergangene Selektion für eine Funktion stattgefunden hat. Auch spontan entstandene Merkmale können vor ihrer Selektion Funktionsträger sein, nämlich dann, wenn sie eine systemrelevante kausale Rolle in einem Organismus spielen. Von dieser Überlegung geht das letzte der vier Modelle der Teleologie aus: das organisationstheoretische Modell. 1.4. Das organisationstheoretische Teleologiemodell Nach diesem Modell bildet eine Funktion ein Element in einem Kreislauf von wechselseitig voneinander abhängigen Prozessen. Die Funktion eines Teils wird an seinen gegenwärtigen Beitrag für das System gebunden, nicht an den Beitrag, den er früher einmal geleistet hat und aufgrund dessen er selektiert wurde. In besonders klarer Weise formuliert Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft dieses Modell. Organismen oder „organisirte Wesen“ bilden für Kant eine eigene Klasse von Gegenständen, die über eine besondere kausale Struktur ausgezeichnet sind und deren Erkenntnis einen besonderen Begriff voraussetzt: den Zweckbegriff. Die kausale Struktur der Organismen als „Naturzwecke“ ist nach Kant dadurch gegeben, dass ihre Teile „von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“.16 Diese kausale Wechselseitigkeit zwischen den Teilen macht aus dem Organismus – im Gegensatz zu einer Maschine – ein „sich selbst organisirendes Wesen“.17 Jeder Teil wird beurteilt als die anderen Teile hervorbringend, also die Teile einander wechselseitig produzierend. Das Wesen der Teleologie liegt hiermit in einem wechselseitigen kausalen Verhältnis von Teilen eines Systems: Indem ein Teil auf einen anderen Teil wirkt, von dem er selbst eine Wirkung empfängt, wirken die
15 Vgl. Boorse 1976; Amundson/Lauder 1994. 16 Kant, KU § 65 (A 288; Akad. Ausg. V, 373). 17 Kant, KU § 65 (A 289; Akad. Ausg. V, 374).
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Teile wechselseitig aufeinander ein und ermöglichen sich gegenseitig in ihrer Existenz. Inwiefern dieses Modell bei Aristoteles erscheint, soll im übernächsten Abschnitt diskutiert werden. Abschließend zu den Typen der Teleologie hier eine kurze Übersicht über die unterschiedenen vier Typen. Unterschieden wurde das Handlungsmodell, nach dem Zwecke mental antizipierte und real bewirkte Ziele einer Handlung sind, das Entwicklungsmodell, das Zwecke in organischen Entwicklungsprozessen identifiziert, die regelmäßig auf die Bildung von komplexen Strukturen gerichtet sind, das Selektionsmodell, demzufolge Funktionen durch Selektion in der Vergangenheit positiv selektierte Merkmale eines Lebewesens darstellen, und schließlich das Organisations- oder Kreislaufmodell, nach dem Zwecke die Elemente einer Organisation von wechselseitig voneinander abhängigen Prozessen in einem Organismus sind. Zur weiteren Klärung des Verhältnisses dieser vier Modelle können sie in einer Kreuztabelle angeordnet werden: Systemische Relation zwischen den Gliedern
Kausale Relation zwischen den Gliedern
Intrinsische Beziehung
Vergangenheits- orientierung
Lineare Verknüpfung
Ontogenese: Entwicklungsmodell
Antizipation: Handlungsmodell
Rückkopplung
Organisation: Kreislaufmodell
Evolution: Selektionsmodell
Dabei wird deutlich, dass sich das Entwicklungs- und Handlungsmodell auf lineare Prozesse beziehen, das Kreislauf- und Selektionsmodell dagegen auf rückgekoppelte Prozessmuster, und dass außerdem das Entwicklungs- und Kreislaufmodell sich übereinstimmend auf intrinsische Verhältnisse eines Gegenstandes beziehen.
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2. Wesentliche Aspekte der aristotelischen Teleologie In Bezug auf die interne Teleologie bei Aristoteles sollen hier vier Aspekte herausgestrichen werden: Erstens der intrinsische Charakter der Teleologie: Im Gegensatz zum Teleologieverständnis Platons, das von einem intentionalen göttlichen Schöpfer der Welt ausgeht, der alles bestmöglich eingerichtet hat und den Dingen von außen eine Zweckgerichtetheit verleiht, ist eine Zweckursache von Aristoteles so konzipiert, dass sie etwas in dem betreffenden Gegenstand selbst Liegendes bezeichnet. Die aristotelische Teleologie ist wesentlich eine interne Teleologie. Die Zielgerichtetheit der Lebewesen liegt in ihnen selbst. Holz wird zwar nicht von selbst zu einem Schiff, aber ein Same bildet doch aus sich heraus einen Baum. Indem Aristoteles die Natur mit einem Arzt vergleicht, der sich selbst behandelt, und mit einem Handwerker, der in seinem Baustoff selbst sitzt, entwickelt er den Begriff einer sich selbst organisierenden Natur: „hätte die Schiffbaukunst ihren Sitz im Bauholz, so wäre ihre Arbeitsweise wie die der Natur“, heißt es in Aristoteles’ Physik.18 Zweitens der holistische Aspekt: Aristoteles unterscheidet bei verschiedenen Körperteilen unterschiedliche Zweckursachen je nach ihrer Rolle in dem Lebewesen; sie sind aber alle bezogen auf das Ganze des Lebewesens und dessen typische Lebensfunktionen wie Ernährung und Fortpflanzung: „auf diese beiden Dinge sind alle ihre Mühen und ihr Leben gerichtet“.19 Alle Einzelfunktionen sind also in dem Ganzen des Lebewesens und dessen Grundfunktionen integriert. Eng verbunden ist damit der dritte Aspekt, das hierarchische oder zentralistische Moment der Teleologie: Alle Zweckbestimmungen gehen von der Seele als einem zentralen Prinzip aus und sind auf dieses wiederum bezogen. Der Körper selbst gilt Aristoteles als ein „Organ der Seele“. Mit dem zweiten Aspekt fällt dieser Punkt weitgehend zusammen, weil die Seele bei Aristoteles im Wesentlichen als das holistische Einheits- und Aktivitätsprinzip der Lebewesen bestimmt ist. Der vierte Aspekt der aristotelischen Teleologie, der hier betont werden soll, ist ihre ontologische Signifikanz. Für Aristoteles sind es teleologische Bestimmungen, auf denen biologische Begriffe basie18 Phys. II 8, 199b28-29. 19 HA VIII 1, 589a2-5 (Übers. Aubert/Wimmer 1868).
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ren. Der Zweckursache kommt insofern eine ausgezeichnete Stellung zu. So heißt es in De partibus animalium: „Als ranghöchste [Ursache] erscheint die sogenannte Zweckursache, da sie den Begriff [logos] hergibt, der für künstliche wie für natürliche Dinge in gleicher Weise den Ausschlag gibt“.20 Die biologischen Gegenstände werden zu dem, was sie sind, aufgrund ihrer immanenten Tendenzen und Zwecke: „das Wesen und der Zweck sind eines und dasselbe“.21 Diese teleologische Wesens- oder Gegenstandsbestimmung hat auch zur Folge, dass ein Teil zu einem anderen Teil wird, wenn er seine Funktion verliert. Es ist eben die Funktion oder Leistung eines Teils, und nicht etwa seine Form oder Materie, die ihm seine Bestimmtheit verleiht. Eine steinerne Hand verdient es für Aristo teles daher auch nicht, im eigentlichen Sinne ‚Hand‘ genannt zu werden.22 Und ein steinernes Auge einer Statue ist für Aristoteles ausdrücklich kein Organ.23 ‚Auge‘ kann es nur in homonymer Weise genannt werden. Denn es liegt im Wesen eines Auges zu sehen oder in der Natur einer Hand zu greifen. Diese vier Aspekte der aristotelischen Teleologie können als allgemein bekannt und anerkannt gelten. Es wird aus ihnen häufig geschlossen, dass die Teleologie bei Aristoteles auf eine Theorie des Lebewesens als Organismus hinweist. Dieser Zusammenhang soll in den beiden folgenden Abschnitten bezweifelt werden.
3. Teleologie, Sympathie und Wechselseitigkeit Auffallend ist, dass Aristoteles grundsätzlich die äußeren Körperteile, kaum aber die inneren Organe als ‚organon‘ bezeichnet.24 Das paradigmatische Organ bildet immer die menschliche Hand. In der Zeit nach Aristoteles wird der Organbegriff im physiologischen Kontext bis zur römischen Kaiserzeit kaum noch verwendet. Erst ein halbes Jahrtausend nach Aristoteles ist es der römische Arzt Galen, der das Wort ‚Organ‘ selbstverständlich in seinen physio20 21 22 23 24
PA I 1, 639b14-16. Phys. II 7, 198a25 f. Pol. I 2, 1253a20-25 (Übers. hier und im Folgenden Rolfes 1995). De an. II 1, 412b20-22; vgl. auch GA II 1, 734b24-7; Mete. IV 12, 390a10-13. Wolf 1971, 22.
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logischen Texten gebraucht. Der terminologische Charakter des Ausdrucks zeigt sich bei Galen u. a. darin, dass das Wort bei ihm – anders als bei Aristoteles – häufig absolut, d. h. ohne ein weiteres Attribut erscheint. Bevorzugt innere Teile des Körpers nennt Galen ‚Organe‘, so z. B. Leber, Milz, Nieren, Magen, Harnblase – und auch die nicht lokalisierten Teile wie Muskeln, Venen, Arterien und Nerven.25 Galen entwickelt insgesamt eine umfassende teleologische Perspektive auf die Teile des menschlichen Körpers – von denen er eine viel differenziertere Kenntnis hat als Aristoteles. Aber nicht nur die Differenziertheit der Organe, sondern insbesondere ihr Zusammenwirken, ihre wechselseitige Beziehung – gerade der inneren Organe –, kommt damit in den Blick. Die Betrachtung eines Lebewesens als eine Einheit der Wechselseitigkeit von Teilen ist eine Perspektive, die sich offenbar erst in den Jahrhunderten nach Aristoteles etabliert. Sie hat ihren Ursprung wohl in einer Metapher aus dem Bereich des Sozialen. Die Teile eines Körpers verhalten sich nach dieser Analogie wechselseitig zueinander so wie die Institutionen oder sozialen Stände eines Staates in einer Beziehung der gegenseitigen Nützlichkeit zueinander stehen. Die Ursprünge dieser Metapher liegen in Griechenland wohl im ausgehenden 5. Jahrhundert, am bekanntesten wird sie später in der Fabel des Menenius Agrippa in der Fassung von Livius.26 In welcher Richtung ursprünglich dieses metaphorische Verhältnis verstanden wurde – die Gesellschaft als Metapher für das Lebewesen oder das Lebewesen als Metapher für die Gesellschaft –, lässt sich wohl kaum noch klären und ist hier auch unerheblich. Wichtig ist, dass mit dieser Beschreibung ein System als eine Einheit der Wechselseitigkeit der Teile gegeben ist. Die Gliedmaßen und die inneren Organe verhalten sich zueinander wechselseitig wie Mittel und Zweck, das eine dient dem anderen. Auch Platon27 und Aristoteles28 beschreiben in diesem Sinne das Staatswesen als einen lebendigen Körper – ein Lebewesen wird von Aristoteles andererseits aber wesentlich durch das Vorhandensein einer Seele charakterisiert, und gerade nicht durch das Verhältnis der Wechselseitigkeit seiner Teile. Einen wichtigen Status erhält das Verständnis eines Lebewesens als Einheit der Wechselseitigkeit seiner Teile ausgehend von dem 25 Galen, De usu partium: I, 33; 122; 269 f.; 281; 285; 295; 300. 26 Livius, Ab urbe condita II, 32; vgl. Nestle 1927, 507. 27 Platon, Politeia 462cd; 464b. 28 Pol. I 2, 1253a18-29.
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medizinischen Konzept der Sympathie. Der antike Sympathiebegriff hat allerdings keine spezifisch biologische Bedeutung, sondern bezeichnet ein umfassendes Korrespondenzprinzip, das nicht nur der Einheit einzelner Körper zugrundeliegt, sondern auch die Entsprechung von Himmel und Erde, von Mikro- und Makrokosmos auf den Begriff bringen soll. Besonders im Rahmen der Philosophie der mittleren Stoa, bei Poseidonios am Beginn des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, wird die Sympathie, wie es Karl Reinhardt formuliert, zur „weltdurchdringenden Allkraft, zur Erklärung der Welträtsel, die auf einen verborgenen Zusammenhang aller Dinge wiesen“.29 Der Kosmos insgesamt gilt als eine Einheit der Wechselseitigkeit von Teilen, durchströmt von einem Pneuma.30 Aber auch im biologisch-medizinischen Kontext spielt der Sympathiebegriff eine wichtige Rolle. In den frühen hippokratischen Schriften ist die Sympathie, das Mitleiden, Ausdruck der Auffassung von Krankheiten als Disharmonien der Körpersäfte. Die Störung des Säftegleichgewichts eines Organs zieht nach dieser Lehre die Erkrankung eines anderen Organs nach sich.31 Später erscheint der Ausdruck in zentraler physiologischer Stellung in einem berühmten Satz aus der pseudo-hippokratischen Schrift De alimento, von der vermutet wird, dass sie um Christi Geburt entstanden ist. Dort heißt es: „Zusammenfließen eines, Zusammenatmen eines, alles in Sympathie (panta sympatheia); alles gemäß Ganzgliedrigkeit (kata … oulomeliên panta)“.32 Durch Zusammenfließen, Zusammenatmen, Zusammenleiden werden hier die Lebensfunktionen also auf die Gemeinsamkeit der Organe zurückgeführt. Alles steht in „gegenseitigem Wirkungszusammenhang“, so dass alle Teile zu Gliedern werden, die nur im Ganzen Bestand haben und nur im Ganzen ihre Funktion ausüben können.33 Aufgegriffen und interpretiert wird dieser Satz von Galen. Er kommentiert ihn mit den Worten: „Die Teile des Körpers stehen zueinander in Sympathie, d. h. sie stehen übereinstimmend alle im
29 Reinhardt 1953, 649; vgl. ders. 1926. 30 Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.), Math. IX, 70: „συμπάσχει τὰ μέρη ἀλλήλοις“. 31 Hippokrates, De locis in homine c. 1 (Littré VI, 276-349, hier 276), De mulierum affectibus c. 38 (Littré VIII, 10-232, hier 94); vgl. Burkert 1955; Schott 1992; Richter 1996. 32 (Pseudo-)Hippokrates, De alimento c. 23 (Littré IX, 106; Übers. Deichgräber 1973, 37). 33 Deichgräber 1973, 38 f.
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Dienst eines ergon“.34 Der Begriff der Sympathie zur Beschreibung des Verhältnisses der Organe zueinander spielt in der Physiologie Galens insgesamt eine wichtige Rolle.35 Galen gilt überhaupt als derjenige, der ‚Sympathie‘ zu einem physiologischen Begriff macht.36 Er stellt sich die Wechselseitigkeit der Organe über die Nerven oder über die Blutbahn vermittelt vor. Neben dem Bild der Sympathie verwendet Galen für das Zusammenwirken der Teile in einem Lebewesen auch andere Metaphern, die dessen dezentralisierte Struktur betonen. So spricht er z. B. von einer Symphonie, die durch das Zusammenwirken aller Teile erhalten wird.37 Begründet wird damit ein funktionales Modell der Seele, in dem die Seelenteile in Wechselwirkung zueinander stehen.38 Auch bei diesem Verständnis der Lebensfunktionen als Ergebnis des Zusammenwirkens der Körperteile steht offensichtlich immer noch ein hierarchisches Modell im Hintergrund: Die Organe wirken auf ein über ihnen als Zweck stehendes ergon, demgegenüber sie Mittel sind. Aber es wird doch ihr Zusammenwirken betont, wenn auch noch nicht im Sinne eines Konstitutionsprinzips wie bei den mechanistischen Organismusmodellen des 18. Jahrhunderts und besonders prominent bei Kant, bei dem die Wechselseitigkeit der Teile zum Einheitsprinzip des Ganzen wird.39 Man kann aber sicher sagen, dass sich das galenische Lebewesenmodell schon weiter auf dem Weg zum neuzeitlichen Organismusbegriff mit seiner Betonung der durchgängigen Wechselseitigkeit der Teile befindet als die aristotelische Bestimmung der Lebewesen über die Referenz zu einer zentralen Seele. Es weist in diese Richtung, weil das Konzept der dezentralisierten Organisation weitgehend an die Stelle des zentralistischen Prinzips der Seele tritt. Und es weist damit auch voraus auf das Verständnis der Teleologie als Interdependenz der Teile in einem organisierten Wesen, wie es oben als das organisationstheoretische Teleologiemodell beschrieben wurde.
34 Galen, De usu partium, 30 (Übers. Richter 1996, 146). 35 Galen, De usu partium, 340; vgl. Siegel 1968, 360-370; Pichot 1993, 137 f. 36 Siegel 1968, 361. 37 Galen, De methodo medendi, 643: „συμφωνία τῶν πραττομένων ἁπάντων ἐστὶν εἰς τὴν διαμονὴν αὐτῆς“. 38 Vgl. Siegel 1973, 129: „The ‚soul‘ simply expressed the notion of the functional organization as another manifestation of the marvelous organization of nature at all levels of life“. 39 Vgl. Toepfer 2011.
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4. Aristoteles’ fehlender Organismusbegriff Die physiologischen Lehren des Aristoteles sind demgegenüber von einem dezentralisierten Lebewesenmodell, das die Wechselseitigkeit der Organe betont, weit entfernt. Der aristotelischen Physiologie fehlt ein ausgearbeitetes Konzept der Organisation des lebendigen Körpers. Die Organe werden nicht systematisch in ihrem wechselseitigen Bezug zueinander thematisiert, sondern vielmehr als Werkzeuge verstanden, deren sich der Körper oder die Seele zu einem Zweck bedienen. Im Sinne des späteren Organisationskonzepts lassen sich allenfalls die Vorstellungen Aristoteles’ zu einem „organischen physischen Körper“ interpretieren.40 Von einem solchen Körper sagt Aristoteles, dass jeder Teil einem bestimmten Zweck diene, so dass der Körper insgesamt als ein integriertes Ganzes mit einem ihm eigenen Ziel erscheint.41 In einer weiter gehenden Interpretation kann auch die Seele selbst bei Aristoteles (ebenso wie noch deutlicher später bei Galen; s. o.) als die Organisation des Körpers gedeutet werden. Denn die Seele betrifft im physiologischen Zusammenhang der aristotelischen Argumentation die Form oder Gestalt eines Körpers, d. h. auch seine innere Struktur und die Anordnung seiner Bestandteile.42 Die Seele eines Lebewesens wird vor diesem Hintergrund als dessen „Organisationsstruktur“ oder „Funktionalität“ bezeichnet.43 Weil die Seele mit den physiologischen Prozessen selbst in Verbindung steht, ist die von ihr ausgehende Organisation darüber hinaus als dynamisch zu denken: Sie ist nicht die statische Gestalt eines Lebewesens, sondern die über allen Gestalt- und Stoffwechsel gleichbleibende Substanz eines einzelnen Wesens: „the soul should be conceived as a dynamic organization, namely, an organization which causes not only the unity, identity and being of the living body, but also its biological processes“.44 Angemessen erscheint das Verständnis des aristotelischen Seelenbegriffs als Organisation, weil es zahlreiche sachliche Parallelen zwischen den beiden Konzepten gibt: (1) Wie die Seele ist auch die
40 De an. II 1, 412b5-6: sôma physikon organikon; vgl. ebd., 412a28-412b1; 412b26 f. (Übers. hier und im Folgenden Theiler 1959). 41 PA I 5, 645a10-15. 42 Nussbaum 1978, 71; Schark 2005, 421. 43 Hilt 2005, 20. 44 Quarantotto 2010, 39; vgl. Miller/Miller 2010, 68.
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Organisation eines Körpers nicht selbst ein Körper, sondern gehört nur zu diesem; (2) Seele und Organisation bestehen gleichermaßen nicht unabhängig von einem jeweiligen Körper; (3) Seele und Organisation kommen darin überein, das Prinzip der Einheit und Identität eines Systems zu bezeichnen; und (4) Seele und Organisation können als Prinzip der Bewegung eines Körpers verstanden werden.45 Andererseits ist das aristotelische Konzept der Seele doch in gewisser Hinsicht auch unterschieden von dem späteren Organisationsbegriff. So weist es in eine andere Richtung, wenn Aristoteles in De anima seine Auffassung von der Einheit eines Lebewesens von einer älteren Harmonietheorie ausdrücklich abgrenzt. Dieser Theorie zufolge besteht die Seele selbst in der Harmonie der Elemente des lebendigen Körpers. Das zentrale Argument von Aristoteles gegen die Harmonietheorie ist sein Verständnis der Seele als eines Prinzips zur Initiierung von Bewegungen – von einer Harmonie, also der bloßen geordneten Mischung und Zusammensetzung der Elemente, könne aber keine Bewegung ausgelöst werden.46 Nicht die besondere Konfiguration der Teile, sondern erst die Seele als ein eigenes „Lebens-, Einheits- und Bewegungsprinzip“ macht die Lebewesen also zu dem, was sie sind.47 Durch diese Konzeption hat sich Aristoteles aber die Möglichkeit verstellt, den Zusammenhang zwischen körperlicher Organisation und Seele näher zu untersuchen. Es bleibt bei Aristoteles daher offen, wie die Verankerung der Seele, also des Prinzips der Lebendigkeit, im Körperlichen des Lebewesens vorzustellen ist – und es gibt insbesondere keine Hinweise darauf, dass er sie sich als Interaktion der Teile vorstellt. Die Seele als das Prinzip der Lebendigkeit hat bei Aristoteles nicht direkt etwas mit der Gliederung des Körpers in Organe zu tun, und die zentrale Textstelle, die nahezulegen scheint, dass Aristoteles die Seele versteht als Erfüllung (Entelechie) eines „natürlichen mit Organen ausgestatteten Körpers“, wie üblicherweise übersetzt wird48, ist wohl besser so zu verstehen, dass der Körper insgesamt als Instrument der Seele dient.49 Denn an allen anderen 21 Stellen, an denen Aristoteles den Ausdruck ‚organisch‘ (organikon) ver45 46 47 48
Vgl. Quarantotto 2010, 39. De an. I 4, 407b34-408a1. Vgl. Perler 1996, 355. Beispielsweise Theiler 1959; vgl. Bolton 1978, 275; Bos 2003, 85 f.; 2012, 375; vgl. dazu und zum Folgenden auch Heinemann (2016) und Meyer (2016). 49 Kosman 1987, 377; Bos (2003, 93) nimmt dagegen an, allein das pneuma, als „ein besonderer Körper innerhalb des sichtbaren Körpers eines Lebewesens“, sei
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wendet, wird er nicht in der Bedeutung „ausgestattet mit Organen“, sondern einfach im Sinne von „instrumentell, als Werkzeug“ gebraucht.50 Die Auffassung, Aristoteles spreche an dieser Stelle von einem organischen Körper („corpus organicum“) im Sinne eines Körpers, der über Organe verfügt, wird bereits seit der Spätantike vertreten.51 In der Scholastik heißt es bei Thomas von Aquin (in der Wiedergabe von Aristoteles): „dicitur corpus organicum, quod habet diversitatem organorum“52 (ähnlich auch F. Suárez 1574: „Dicitur autem corpus organicum, quod ex partibus dissimilaribus componitur“53). Fast alle neuzeitlichen Übersetzungen schließen sich dieser Auffassung an.54 Abweichend von dieser verbreiteten Ansicht, nach der Aristoteles hier von einem in Organe gegliederten Körper spricht, übersetzt Abraham Bos (wie andere Autoren der jüngeren Zeit55) den betreffenden Satz mit „Die Seele ist die erste Entelechie eines natürlichen Körpers, der als ein Instrument der Seele dient“.56 Gestützt wird diese Deutung auch dadurch, dass Aristoteles im unmittelbaren Anschluss an diese Passage das Verhältnis zwischen der Seele und ihrem Instrument, dem natürlichen Körper, mit einem Vergleich erläutert, in dem von einem in Organe gegliederten Körper nicht die Rede sein kann, nämlich dem Verhältnis einer Axt zu ihrer Funktion: Offensichtlich kann eine Axt ihre Funktion ausüben und als Werkzeug (= Organ) dienen, auch wenn sie selbst nicht über Organe verfügt.57 Eine weitere Stützung erfährt die Deutung von ‚organischer Körper‘ im Sinne von ‚instrumenteller Körper‘ durch die damit gelöste Schwierigkeit, wie sonst verständlich werden könnte, dass Samen und Früchte, die nach Aristoteles keine Organe haben,
50 51 52 53 54 55 56 57
Instrument der Seele. Ich danke Gottfried Heinemann für den Hinweis auf die Aufsätze von Kosman (1987) und Bos (2012)! Vgl. Bonitz 1870, 521; Bos 2003, 87. Johannes Philoponos (6. Jh.), In De anima 217, 13: ὀργανικὸν δέ ἐστι τὸ ἔχον ὄργανα; vgl. Alexander von Aphrodisias, De anima liber cum Mantissa 16, 11; Bos 2003, 85. Thomas von Aquin, Commentarius in libros de anima II et III 2, 1, 20 (Nr. 230); vgl. Summa contra gentiles 4, 44, 5. Suárez 1571-74, 473; vgl. Des Chene 2000, 95. So z. B. King 2001, 41; vgl. Bos 2003, 85 f. Kosman 1987, 377; vgl. Bos 2012, 375. „... the soul is the first entelechy of a natural body (which potentially possesses life and) which serves as an instrument (organon) of the soul“ (Bos 2003, 92); vgl. Bolton 1978, 275. De an. II 1, 412b11-17; vgl. Bos 2003, 102.
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überhaupt über Leben verfügen können: Wäre es für einen Körper, der der Möglichkeit nach über Leben verfügt, notwendig, dass er Organe hat, dann könnten Samen und Früchte folglich nicht der Möglichkeit nach über Leben verfügen – was nach Aristoteles aber doch der Fall ist.58 Schließlich offenbart auch ein offensichtlich fehlerhafter Schluss des Aristoteles von der Zweckhaftigkeit der Teile eines Lebewesens auf die Zweckhaftigkeit des Ganzen59 seinen nicht-systemtheoretischen, sondern instrumentalistischen Zweck- und Organbegriff: In De partibus animalium leitet Aristoteles die Zweckhaftigkeit des Ganzen eines Lebewesens aus dem Modell der Zweckhaftigkeit seiner Teile ab. Er etabliert damit ein instrumentalistisches, agentenbasiertes Verständnis von Organen: Die Seele gebraucht danach den ganzen Körper zu ihrem Zweck, so wie die Organe zu ihrem jeweils besonderen Zweck verwendet werden. Aristoteles verschließt sich mit diesem instrumentalistischen Zweck- und Organbegriff aber den Weg, diese Begriffe ausgehend vom Verhältnis der Wechselseitigkeit der Glieder eines Ganzen zu entwickeln (für das das instrumentelle Handeln kein Modell sein kann). Die Interpretation von ‚organischer Körper‘ im Sinne von ‚mit Organen ausgestatteter Körper‘ ist also offenbar eine der aristotelischen Auffassung nicht gerecht werdende spätere Projektion auf sein Verständnis des Konzepts. Aristoteles beschreibt ein Lebewesen zwar als einen gegliederten organischen Körper und bestimmt die Körperteile funktional durch ihre Leistung im Rahmen des Ganzen – eine eigentliche Lehre der Wechselseitigkeit zwischen den Organen findet sich bei ihm aber nicht. Daher erscheint es auch konsequent, wenn nicht das Verhältnis der Organe untereinander, sondern allein das Verhältnis zwischen Körper und Seele in pseudo-aristotelischen Schriften als Sympathie bezeichnet wird.60 Dieses Verhältnis zwischen Körper und Seele wird dort ausdrücklich als wechselseitig („allêlois“) und als Ursache aller Empfindungen beschrieben.61 Die für aristotelische Denker nur marginale Stellung des Sympathiebegriffs in der Physiologie wird schließlich auch daran deutlich, dass unter der Überschrift 58 De an. II 1, 412b25-27; vgl. Bos 2003, 100. 59 De partibus animalium I 5, 645b14-20; vgl. dazu Kullmann 2007, 356; Heine mann 2016. 60 Physiognomonica 1, 805a6; 4, 808b11 ff.; APr II 27, 70b16. 61 Physiognomonica 1, 805a10.
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des Begriffs in einer Diskussion der Problemata physica an erster Stelle das Phänomen des ansteckenden Gähnens diskutiert wird,62 also alles andere als eine physiologisch zentrale Erscheinung. Auf die Wechselwirkung der Organe bezieht Aristoteles auch nicht den Ausdruck Synergie, den er in anderem Kontext durchaus zur Bezeichnung von Kooperationsphänomenen verwendet.63 Es sind nur Andeutungen der wechselseitigen Bezogenheit der Teile in einem Organismus, die sich an verschiedenen Stellen der aristotelischen Schriften finden. So bezeichnet Aristoteles ein lebendes Wesen als einen Mikrokosmos.64 Die Bestimmung eines Lebewesens als Mikrokosmos, als kleine Ordnung, kann als Vorläufer eines holistischen Organismusbegriffs gelten, insofern die Ordnung eines dynamischen Systems gerade in der wechselseitigen Bezogenheit der Elemente besteht. Bei Aristoteles steht die Beschreibung eines Lebewesens als Mikrokosmos allerdings im Zusammenhang einer Analyse der Möglichkeit seiner Selbstbewegung und weniger seiner Einheit aus wechselseitig aufeinander bezogenen Teilen. Als Hinweis auf die dezentrale Organisationsstruktur eines Lebewesens kann es außerdem gewertet werden, dass Aristoteles ein Lebewesen mit der Einrichtung einer „recht gut regierten Stadt“ vergleicht, in der es keinen „Alleinherrscher“ gebe, jeder Bürger also nicht durch eine zentrale Steuerung zu seinen Aktivitäten veranlasst werde.65 In der aristotelischen ‚Physik‘ und ‚Metaphysik‘ findet sich ein expliziter Ausdruck für eine wechselseitige Ursache (allêlôn aitia): „Es kommt auch wechselseitige Verursachung bei einigen Dingen vor, z. B. körperliche Anstrengung als Ursache guter Verfassung und (umgekehrt) diese als Ursache der Anstrengung“.66 Eine Asymmetrie liegt nach Aristoteles aber darin, dass das eine als Ziel (die gute Verfassung), das andere aber als Ausgangspunkt und Mittel (die Anstrengung) vorliege. Auf das Verhältnis der Organe eines Lebewesens zueinander bezieht Aristoteles auch diesen Ausdruck nicht. Insofern Aristoteles in physiologisch zentraler Bedeutung Sympathie und Wechselseitigkeit allein im Verhältnis von Körper und Seele, nicht dagegen in der Beschreibung des Verhältnisses der Or62 Problemata physica VII 2, 886a29 ff. und 6, 887a4 ff.; vgl. Richter 1996, 120. In den überlieferten Schriften des Aristoteles selbst erscheint der Ausdruck sympatheia gar nicht (Flashar 1962/83, 488). 63 Problemata physica IV 2, 876b15; GA III 2, 753a18; vgl. Toepfer 2016. 64 Phys. VIII 2, 252b26: mikros kosmos. 65 De motu anim. 10, 703a29-b2 (Übers. hier und im Folgenden Kollesch 1985). 66 Phys. II 3, 195a8-9 (Übers. Zekl 1995); vgl. Met. V 2, 1013b9.
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gane untereinander diskutiert, ist auch die organische Teleologie bei Aristoteles nicht relational bestimmt, sondern bezeichnet vielmehr ein intrinsisches Potenzial: Die Zweckmäßigkeit oder Zielgerichtetheit eines Prozesses liegt nicht in der Relation dieses Prozesses zu anderen, mit denen er ein organisiertes Ganzes bildet, sondern sie liegt in diesem Prozess selbst, insofern das Ziel in ihm vorhanden ist, so wie das Erwachsenenstadium in einem sich entwickelnden Organismus vorhanden ist. Aristoteles wird allerdings nicht selten so interpretiert, dass sein Sympathiebegriff „gesetzmäßige Wirkungszusammenhänge in einem organischen Ganzen“ bezeichne; es gehe um „die Art, wie die Teile des Organischen sich gegenseitig beeinflussen und aufeinander reagieren“, wie Walter Burkert meint.67 Ausdrücklich findet sich dazu bei Aristoteles aber kaum etwas. Daher lässt sich abschließend konstatieren: Aristoteles verfügt nicht über einen Organismusbegriff. Selbstverständlich nimmt das Konzept des Lebewesens eine zentrale Stellung bei ihm ein. Und über das Konzept der Seele und der Seelenteile bringt er die Lebendigkeit und die Grundfunktionen der Lebewesen wie Ernährung, Wachstum und Fortbewegung auf den Begriff. Erklärungsgrundlage bleibt aber das zentrale Einheitsprinzip der Seele. – Ein Organismus ist aber ein dezentriertes System, dessen Einheit allein auf dem Verhältnis der Interaktion und Interdependenz, der Wechselseitigkeit, seiner Teile beruht.
5. Teleologie und Organismusbegriff Die Grundlage für den neuzeitlichen Organismusbegriff wird im Wesentlichen erst in nacharistotelischen Lehren gelegt, besonders einflussreich in den stoischen und galenischen Lehren der (universal-kosmischen) Sympathie und der (spezifisch-physiologischen) Wechselseitigkeit der Organe in einem Lebewesen. Verbunden ist mit dieser Entwicklung die Stärkung des Konzepts der Selbsterhaltung als grundlegendes Erklärungsprinzip für den Bereich des Organischen. Ebenso wenig wie der Organismusbegriff nimmt das Konzept der Selbsterhaltung in der Biologie des Aristoteles eine zentrale Stellung ein. Zwar enthält auch die aristotelische Lehre der Lebe67 Burkert 1955, 65.
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wesen den Begriff der Erhaltung. So argumentiert Aristoteles, die Erhaltung eines Lebewesens sei nur möglich, insofern es sich ernähre.68 Über die Ernährung erhalte ein Lebewesen sein Sein (oder: Wesen).69 Daneben stellt er auch klar, dass Lebewesen Einrichtungen aufweisen, die ihrer Erhaltung dienen. So sei der Schlaf eine solche Einrichtung, denn seine Finalursache sei die Erhaltung (sôtêria) des Tieres.70 Auch ist Aristoteles sich im Klaren darüber, dass Tiere für ihren Erhalt auf Ressourcen aus der Umwelt angewiesen sind, so z. B. auf Nahrung und auf Abkühlung.71 In der Folge dessen ist die aristotelische Seele, deren unterstes Vermögen das der Ernährung ist, insgesamt als die Aktivität der „organischen Selbsterhaltung“ interpretiert worden.72 Trotzdem kommt dem Konzept der Selbsterhaltung nicht die zentrale Stellung in der Erklärung organischer Phänomene zu, die es später erlangt. Dies zeigt sich besonders an der Teleologie des Organischen bei Aristoteles. Denn das Leben der Tiere und Pflanzen wird bei ihm nicht durch die Ausrichtung auf ihre Selbsterhaltung entworfen, sondern als Ausdruck einer Finalursache der Natur, die insgesamt auf das Gute abzielt und im Falle der Lebewesen die Entfaltung ihrer Potenzen bewirkt. Aristoteles bezieht die Teleologie also weniger auf das Beharren der Lebewesen in ihrem Sosein als vielmehr auf die Dynamik ihrer gerichteten Veränderung. Ein Grund für dieses Fehlen einer Selbsterhaltungstheorie bei Aristoteles kann darin gesehen werden, dass er Naturforscher und Philosoph, nicht aber Arzt war – in der Antike (und später) wird der Aspekt der Selbsterhaltung des Lebendigen aber besonders von Ärzten betont.73 In der stoischen Philosophie, die auf ein erheblich bereichertes physiologisches und medizinisches Wissen zurückgreifen kann, wird die Selbsterhaltung aber zu dem zentralen Gesichtspunkt der Teleologie des Organischen. Dies zeigt sich in vielen, später formelhaft verwendeten Sätzen über die funktionale Ordnung und Ausrichtung der Aktivitäten von Lebewesen: „[F]ür jedes lebende Wesen sei seine erste ihm von selbst zugewiesene Angelegenheit
68 De an. II 1, 412a14; vgl. III 12, 434a33-b4. 69 De an. II 4, 416b14: sôzei … tên ousian; vgl. Miller/Miller (2010), 62; 74 f. 70 De somno 3, 458a31 f. 71 Aristoteles, De resp. 11, 476a16 f. 72 Hübner 1999, 16. 73 Vgl. Pichot 1993, 125.
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sein eigenes Bestehen sowie das Bewußtsein davon“, heißt es etwa bei Chrysipp;74 und Cicero formuliert: „Jedes Lebewesen liebt sich selbst und strebt von seiner Geburt an danach, sich zu erhalten, weil ihm dies als erster Instinkt für sein ganzes Leben von der Natur gegeben ist, um sich zu erhalten und damit es in den besten seiner Natur gemäßen Bedingungen besteht.“75 Anders dagegen die aristotelische Konzeption der Teleologie, für die nicht die bloße Selbsterhaltung zentral ist, sondern die Ausrichtung auf das Gute oder, spezieller für die Pflanzen und Tiere, auf die Entfaltung ihrer Potenzen, also etwas von ihrer Selbsterhaltung Unterschiedenes. Diese aristotelische Konzeption der Teleologie im Sinne einer Selbstveränderung, nicht Selbsterhaltung, macht erst die von Robert Spaemann konstatierte „Inversion der Teleologie“ möglich. Nach dieser von Spaemann in der Frühen Neuzeit lokalisierten Neukonzipierung der Teleologie wird das Sein nicht mehr dynamisch als ausgerichtet auf ein Ziel (wie das Gute oder Ewige) vorgestellt, sondern die Dynamik wird vielmehr selbstbezüglich, insofern sie bezogen ist auf die „Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist“.76 Ein besonders plastisches Beispiel für diese Inversion der Teleologie betrifft die Teleologie des Organischen, die sich von einer Teleologie der angestrebten Ziele – wie der Entwicklung zum Stadium der (Fortpflanzungs-)Reife – zu einer Teleologie der bloßen Selbsterhaltung verschiebt. An die Stelle der (aristotelischen) Entfaltungs teleologie tritt die (stoische) Erhaltungsteleologie. Plausibel wird die Erhaltungsteleologie besonders vor dem Hintergrund eines Organismusbegriffs, der ein ganzheitliches System aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen bezeichnet. Im Hinblick auf den Organismusbegriff ist die Erhaltungsteleologie nichts als das Muster einer kausalen Abhängigkeit, das von Kant „innere Zweckmäßigkeit“ genannt wurde und das die wechselseitige Hervorbringung oder Erhaltung der Teile in einem Ganzen betrifft – also das oben so bezeichnete organisationstheoretische Teleologiemodell. Zur Beschreibung und Analyse von Systemen aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen ist die teleologische Perspektive auf Geschehnisse – d. h. die Konzipierung eines Prozesses ausgehend 74 Nach Diogenes Laertius VII 85. 75 Cicero, De finibus V 24. 76 Spaemann 1963, 80.
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von seiner Wirkungsseite – angemessen und aufschlussreich. Denn in diesen Systemen bilden die Wirkungen einer Komponente den für die anderen Komponenten und damit das Ganze des Systems relevanten Aspekt. Weil in diesen Systemen die Wirkung einer Komponente auf die anderen von besonderer Bedeutung ist, ist es auch in der Beschreibung solcher Systeme verbreitet, die Prozesse ausgehend von ihrer Wirkung zu bestimmen und zu benennen. Die systemrelevanten Wirkungen bilden das identifizierende Moment der Teile. Teleologische Elemente sind daher bereits in der Beschreibungssprache, in der Organismen biologisch in ihre Komponenten zerlegt werden, verankert. Die Teile und Teilprozesse von Organismen werden nicht durch intrinsische Eigenschaften, sondern unter Bezug auf ihre Wirkung auf andere Teile benannt.77 Diese teleologische Art der Identifikation von Gegenständen macht die Biologie wesentlich zu einer Systemwissenschaft. Sie zerlegt ihre Gegenstände in einzelne, wechselseitig voneinander abhängige Funktionen, in Systemstellen, die von verschieden geformten und entstandenen Teilen ausgefüllt werden können. Auf Aristoteles kann dieses Verfahren der teleologischen Gegenstandsbestimmung in der Biologie zurückgeführt werden; gleiches gilt für die ontologische Eigenständigkeit und innere Teleologie von Lebewesen aufgrund der Selbstbezüglichkeit ihrer Aktivitäten, die auf die Erhaltung ihrer selbst („Selbst-Ernährung“) und die Erhaltung ihrer Art (im „ewigen“ Kreislauf ihrer Fortpflanzung) gerichtet sind – es fehlt bei Aristoteles aber eine systemwissenschaftliche, auf dem Organismusbegriff aufbauende Begründung und Rechtfertigung des methodischen Grundansatzes der Biologie, der die Teleologie auf die Interdependenz der Teile eines Organismus bezieht und von dieser entwickelt.
77 Vgl. Woodger 1929, 437.
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Verzeichnis der erwähnten Schriften des Aristoteles
(Dt. Titel nach Flashar 1983, 202 ff., Abkürzungen meist nach Horn/Rapp 2002) Abk.
Titel, Bücher
Bekker 1831
Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare
De anima I-III (Über die Seele)
402-435
Parva naturalia = De sensu bis De iuv.
436-480
De sensu et sensibilibus (Über die Sinneswahrnehmung und ihre Gegenstände) De memoria et reminiscentia (Über Gedächtnis und Erinnerung) De somno et vigilia (Über Schlafen und Wachen) De insomniis (Über die Träume)
436-449
dt. Gigon 1950 gr./dt. Seidl 1995 gr./dt. Corcilius 2016 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1961 Komm. und dt.: Theiler 1959 Komm: Polansky 2007 dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955 dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955
De divinatione per somnum (Über die Weissagung im Traume)
462-464
Biologische Werke De an.
De sensu
Mem.
De somno
Insomn.
Div. somn.
De longae De longaevitate et de vitate brevitate vitae (Über Lang- und Kurzlebigkeit)
449-453
453-458
458-462
464-467
dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955 Komm. und dt.: King 2004 dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955 dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955 Komm. und dt.: van der Eijk 1994 dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955 Komm. und dt.: van der Eijk 1994 dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
328 De iuv.
Verzeichnis der erwähnten Aristoteles-Schriften De iuventute et senectute, de vita et morte, de respiratione (Über Jugend und Alter, Leben und Tod und Atmung) Historia animalium I-X (Tierkunde)
467-480
dt. Dönt 1997 gr./engl. Hett 1964 Komm. und gr.: Ross 1955
486-638
PA
De partibus animalium I-IV (Über die Teile der Lebewesen)
639-697
De motu anim.
De motu animalium (Über die Bewegung der Lebewesen)
698-704
De inc. anim.
704-714 De incessu animalium (Über die Fortbewegung der Lebewesen) De generatione animalium 715-789 I-V (Über die Entstehung der Lebewesen)
dt. Gohlke 1949 gr./dt. Aubert /Wimmer 1868 gr./engl. (I-VI): Peck 1965-70 gr./engl. (VII-X): Balme 1991 Komm. und dt. (I-II): Zierlein 2013 gr./engl. Peck 1937 gr./dt. v. Frantzius 1853 Komm. und dt.: Kullmann 2007 Komm. und engl.: Lennox 2001a Komm. und dt.: Kollesch 1985 Komm. und gr./engl.: Nussbaum 1978 Komm. und dt.: Kollesch 1985
HA
GA
dt. Gohlke 1959 gr./engl. Peck 1942 Komm. (V): Liatsi 2000
Weitere Schriften Cat.
Categoriae (Kategorien)
1-15
APr
Analytica priora I-II (Erste Analytiken)
24-70
APo
Analytica posteriora I-II (Zweite Analytiken)
71-100
Komm. und dt.: Oehler 1984 gr./dt. Zekl 1998 dt. v. Kirchmann 1877 Komm. und gr.: Ross 1949 Komm. und dt. (I): Ebert/ Nortmann 2007 Komm. und dt. (II): Strobach/Malink 2015 Komm. und gr.: Ross 1949 Komm. und dt.: Detel 1993
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristoteles-Schriften Phys.
Physica I-VIII (Physikvorlesung)
184-267
De caelo
De caelo I-IV (Über den Himmel) De generatione et corruptione I-II (Über Entstehen und Vergehen) Meteorologica I-IV (Meteorologie)
268-313
Met.
Metaphysica I-XIV (Metaphysik)
9801093
EN
Ethica Nicomachaea I-X (Nikomachische Ethik) Politica I-VIII (Politik)
10941181 12521342
Athenaion politeia (Verfassung der Athener)
./.
GC
Mete.
Pol.
Ath. pol.
314-338
338-390
329 gr./dt. Prantl 1854 gr./dt. Zekl 1987-8 Komm. und dt.: Wagner 1967 Komm. und gr.: Ross 1936 Komm. und engl. (I-II): Charlton 1970 Komm. und dt.: Jori 2009 gr./frz.: Moraux 1965 Komm. und gr.: Joachim 1922 Komm. und dt.: Buchheim 2010 dt. Gohlke 1955 Komm. und dt.: Strohm 1970/79 Komm. (IV): Düring 1944 dt. Bonitz/Wolf 1890/1994 gr./dt. Seidl 1991 Komm. und gr.: Ross 1924 Komm. und gr./dt. (VII): Frede/Patzig 1988 dt. Bien 1972 dt. Wolf 2006 dt. Gigon 1971 dt. Rolfes 1922/95 Komm. und dt.: Schütrumpf 1991 ff. Komm. und dt.: Chambers 1990
Zweifelhaft / Unecht: Physiognomonica (Physiognomik)
805-814
De plantis I-II (Über die Pflanzen) Problemata physica
815-830 859-967
Komm. und gr./ital.: Ferrini 2007 Komm. und dt.: Vogt 1999
Komm. und dt.: Flashar 1962/83
engl. Gesamtausgabe ROT
Revised Oxford Translation
= Barnes (Hg.) 1984
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen
Categoriae c. 1 c. 2 c. 2-9 c. 3 c. 4 4, 1b28 c. 5 5, 2a 5, 2a34-35 5, 2a35-b6c 5, 2b3-5 5, 2b15-17 c. 5-8 c. 7 7, 7b23-8a12 c. 8 8, 10b19-22 c. 11 c. 12 c. 13 c. 14 c. 15
213 209, 213, 214, 219 212 213 213, 214 212 215 109 215 216 215 215 212, 219 214, 219 264 213 210 213 213, 218 213 213, 220 213, 214
Analytica priora (APr) I 1, 24b18-20 II 27, 70b7-10 II 27, 70b16
84 177 296
Analytica posteriora (APo) I 22, 83b15-17 II 11, 94a20 II 11, 94a21-22 II 12, 96a2 ff.
Physica
II 1, 192b13 II 1, 192b13 ff. II 1, 192b16-20 II 1, 192b17
213 230 238 252
242 91, 227 241 241
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
332 II 1, 192b21-23 II 1, 192b34 II 1, 193a3-9 II 1, 193a28-b5 II 1, 193b1-2 II 1, 193b8-9 II 1-2 II 2, 193b27 II 2, 194a21-27 II 2, 194a28-29 II 2, 194a30-33 II 2, 194a32-33 II 2, 194a33-36 II 2, 194b9 II 3, 194b13 II 3, 194b19 II 3, 194b23 ff. II 3, 194b27 II 3, 194b31 II 3, 194b33-35 II 3, 195a8-9 II 3, 195a9 II 3, 195a16-19 II 3, 195a24-25 II 3, 195b21-25 II 4, 196a31-33 II 5, 196b36-197a5 II 6, 197b22 ff. II 6, 197b24 II 6, 197b36-37 II 7, 198a24 II 7, 198a25-26 II 7, 198a26 II 7, 198a26-27 II 7, 198a33 II 7, 198a33-35 II 7, 198b1-4 II 7, 198b2-3 II 7, 198b4-9 II 7, 198b4-5 II 7, 198b5-6 II 7, 198b7-8 II 7, 198b8 II 7, 198b9 II 8, 198b10-16 II 8, 198b16 ff. II 8, 198b16-23 II 8, 198b17 II 8, 198b23-31 II 8, 198b23-32 II 8, 198b29-199a8
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen 241 14, 240 (T9), 258 250 (T12) 173, 174 239 235 220 230 257 241 242 239 251, 257 (T17), 259, 272 269 198 230 230 (T1), 237, 239 f., 244, 275 239 275 231 (T2) 297 230 238 (T8) 239 234 234 253 246 231 234 237 241, 289 237 198, 241 237 229, 237 (T6a) 229, 238 (T6b) 226 236 (T5), 244, 245 f., 258 236 (T5a), 240, 241, 243-245 236 (T5b), 237 236 (T5c), 238 236 (T5d), 239, 240, 241, 226, 229, 236 (T5e), 239-245, 246, 249, 251, 253, 275 232 226, 249, 251-255 (T13-15), 255-260, 262 f., 271, 275 251 f. (T13a) 258 183 228, 252 (T14a) 282
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen II 8, 198b34-36 II 8, 198b36-199a5 II 8, 199a5-8 II 8, 199a8-15 II 8, 199b5-18 II 8, 199b15-17 II 8, 199b26 ff. II 8, 199b28 II 8, 199b28-29 II 9, 200a25-b4 III 4-8 IV 4, 212a6 IV 11, 219b1-2 IV 11, 219b2 V 6, 230a28 VIII 1, 251b10-252a5 VIII 2, 252b-253a VIII 2, 252b26 VIII 2, 252b5-6 VIII 4, 254b VIII 4, 255a VIII 6, 258b10 VIII 6, 259a6-7 VIII 6, 259b VIII 8, 266a5-6 VIII 10, 267b25
De caelo
I 1, 268a9 ff. III 2, 301b17-19
333
253 (T14b) 253 (T13b) 253 f. (T15) 232 (T3), 234 13, 234, 247, 253, 255 (T14c) 280 281 235 288 280 190 214 187 214 242 187 137 297 187 137 137 187 187 137 187 187
97 242
De generatione et corruptione (GC) II 3-4 II 9, 335a33 II 10, 336b27-337a7 II 10, 337a3-4
17 242 277 277
Meteorologica (Mete.) I 9, 346b36 I 11, 347b12 ff. III 4, 374b33 ff. IV 1, 379a6 IV 7-10
De anima
I 1, 402a7 I 2, 403b25 ff. I 3, 407b15-26 I 4, 407b34-408a1
277 252 97 97 43
170 170 133 294
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
334 I 4, 408b22 ff. I 4, 409a17-18 II 1, 412a9-10 II 1, 412a9-21 II 1, 412a14 II 1, 412a19 ff. II 1, 412a19-21 II 1, 412a27-b1 II 1, 412a27 ff. II 1, 412b5-6 II 1, 412b6 II 1, 412b10-11 II 1, 412b11-17 II 1, 412b20-22 II 1, 412b25-26 II 1, 412b25-27 II 1, 412b26-27 II 2, 413a20 ff. II 2, 413a22 II 2, 413a22-25 II 2, 413b11 ff. II 2, 413b25 II 2, 414a12-13 II 2, 414a19-21 II 2, 414a22-25 II 3, 414a29 II 3, 414a32 ff. II 3, 414b6-7 II 3, 414b16 ff. II 3, 414b19 II 3, 415a9 II 4, 415a22-25 II 4, 415a23 II 4, 415a23-25 II 4, 415a26-b2 II 4, 415a26-b7 II 4, 415b2-3 II 4, 415b8 II 4, 415b8 ff. II 4, 415b13 II 4, 415b15 II 4, 415b17 II 4, 415b18-19 II 4, 415b18-20 II 4, 415b19-20 II 4, 415b20-21 II 4, 415b21-22 II 4, 416a9-18 II 4, 416a13 II 4, 416b13-20 II 4, 416b14
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen 242 170 270 174 299 18 270 22, 133, 175, 247, 269, 293 105 293 247, 269 170 295 264, 289 170, 176 296 140, 293 98 130 130 171 129 171, 174 133 133 17 99 129 99 129 129 130 128 99 277 188, 202 257 88 170 18, 138 88 18 172 88 18 257 170 101 101 128 299
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen II 4, 416b25 II 5 II 6, 418a24-25 II 12, 424a25 III 2, 425b26 ff. III 2, 426a13-19 III 2, 426a15-26 III 2, 426a19-26 III 12, 434a33-b4
Parva naturalia
335
28 269 269 264 264 264 17 264 299
De sensu 1, 436a18-b1 De somno 3, 457b31 ff. De somno 3, 458a31-32 De iuv. 7, 470b6 ff. De iuv. 18, 479a De iuv. 21, 480b22-30
29 252 299 101 39 29
Historia animalium (HA) I 1 I 1, 487a11 ff. I 1, 488a30-31 I 7 I 10, 492a1-2 I 10, 492a1-7 I 11, 492a22-23 I 15, 494b15-16 I 16-17 I 16, 494b27-29 I 17, 497a32-33 III 20 IV 1, 525a9 IV 2 IV 9, 535a28 ff. IV 9, 535a31 IV 9, 536b5-8 IV 10 V 1 V 1, 539a14-15 V 8, 542a26-27 VI 11, 566a14-15 VII 1, 581a21 VII 5, 585a1 ff. VII 10 VII 10, 587b13-16 VIII 1, 588b4 ff. VIII 1, 589a2-5 VIII 2, 591b27-28 VIII 5, 594b7-8 VIII 6, 595a16
35 260 273 47 30 50 47 49 47 47 31, 37 40 31 36 50 50 51 49 36 31 32 31 51 40 49 46 15 288 251 262 261
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
336 VIII 6, 595a19 ff. VIII 6, 595b6 ff. VIII 9, 596a24 IX 1, 608b19 IX 1, 608b19-25 IX 1, 608b19-610a35 IX 1, 608b25-27 IX 1, 608b30-609a4 IX 1, 608b35-609a2 IX 1, 609a4-18 IX 1, 609a18-24 IX 1, 610a24-33 IX 6, 612a22 IX 12, 615a24-25 IX 12, 615a25-26 IX 16, 616b19
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen 262 262 262 226 243 243, 272 243 243 243 243 243 243 243 261 261 (T19), 262 f. 261
De partibus animalium (PA) I 1, 639a15 ff. I 1, 639b14-16 I 1, 640a1-2 I 1, 640a5-8 I 1, 640a19-26 I 1, 640b34 I 1, 642a9-13 I 1, 642a10 ff. I 1, 642a11-12 I 3, 643b3-8 I 4, 644a12 ff. I 4, 645a5 ff. I 5, 645a10-15 I 5, 645b14-20 I 5, 645b15-18 II 1 II 1, 646a12-24 II 1, 646a13 ff. II 1, 646a24-26 II 1, 646a26-27 II 1, 646a32-35 II 1, 646a33 II 1, 646a34 II 1, 646a35-b2 II 1, 646b5-10 II 1, 646b12-647a6 II 3, 650a3 ff. II 3, 650a4 II 4, 650b14-651a19 II 4, 651a2-3 II 4, 651a5-7 II 7, 652a24 ff. II 7, 652a31-33
110 289 237 229, 237 (T7) 13 134 88 f., 285 105 247, 261 273 110 110 293 296 110 35 32 95 33 33 34 198 225 34 34 33 99 100 100 100 100 101 101, 102
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen II 7, 652b6-16 II 7, 652b17-23 II 7, 653a2 ff. II 7, 653a20 ff. II 7, 653a27 II 7, 653b5-8 II 8, 653b30 ff. II 8, 654b27-655a4 II 9 II 13 II 14, 658a20 II 16, 658b33-659a36 III 1 III 1, 661a34 ff. III 2, 663a31-33 III 2, 664a1-2 III 4, 666a2-3 III 4, 666b21 ff. III 5, 668a13-b1 III 7, 670a19 III 7, 670a25 ff. III 7, 670a25-26 III 14, 674a27-b5 III 14, 674a28-29 III 15, 676a6 IV 5, 681a12 ff. IV 5, 681a13 IV 10, 686a25 IV 10, 686b11 IV 10, 687a6-b5 IV 10, 687a8-9 IV 10, 687a10 IV 10, 687a11 IV 10, 687a11-12 IV 10, 687a12 IV 10, 687a12-14 IV 10, 687a14-16 IV 10, 687a16-17 IV 10, 687a18-19 IV 10, 687a19 ff. IV 10, 687a25-26 IV 10, 687a27-31 IV 10, 687a31 ff. IV 10, 687b5 IV 10, 690b3 ff. IV 12, 694b7 IV 12, 694b12-17 IV 12, 694b13-14 IV 13, 696b27-30
337
101 101 252 101 47 107 45 233 45 49 249 11 31 285 102 102 101 97 100 97 101 48 260 260 40 95 18 50 50 266-269 268 267 267, 268 267 267 268 268 267 267 267 266 267 267 267 107 260 260 260 f. (T18), 265, 266, 268 251
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
338
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen
De motu animalium 10, 703a29-b2
297
De incessu animalium 2, 704b12-13 2, 704b15-17 12, 711a18
246 246 (T11), 256, 271 268
De generatione animalium (GA) I 1, 715a1-18 I 1, 715a18-b6 I 1, 715b2-4 I 2 I 2, 716a8-9 I 16, 721a2-10 I 17-18, 721a30 ff. I 18, 725a11 ff. I 18, 725b23-25 I 19, 726a28 ff. I 19, 726b22 ff. I 19, 726b30 ff. I 20, 727a34-728a9 I 20, 728a17 I 20, 728b32-729a4 I 20, 728b34 I 20, 729a32 I 22, 730b20 I 22, 730b31 I 23, 730b33-731a9 I 23, 731a24 II 1, 731b20-732a9 II 1, 731b24 II 1, 731b31-732a1 II 1, 733a33 II 1, 734a II 1, 734a23-25 II 1, 734b24-27 II 1, 734b25 ff. II 3 II 3, 736b33-737a1 II 3, 737a II 4 II 4, 737b12-14 II 4, 739a29-30 II 4, 739b16 ff. II 4, 739b21 II 4, 739b25 II 4, 739b33-740a1 II 4, 739b34 II 4, 740a17-37
25 188, 198 201 37 234 200 102 38 50 102 98 38 38 38 40 40 39 39 267 42 268 248 34 187 35 54 f. 48 289 98 43 39 55 43, 44, 47 201 41 38 95 95 40 95 41
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen II 4, 740a19 ff. II 5, 741b2-5 II 5, 741b15-18 II 5, 741b22-24 II 6 II 6, 742a16-18 II 6, 742a19-20 II 6, 742b7-8 II 6, 742b17 ff. II 6, 743b4-6 II 6, 743b26-28 II 6, 743b30-33 II 6, 744a5 II 6, 744a14-23 II 6, 744a27-31 II 6, 744a35-b2 II 6, 744b16 II 6, 744b23 II 6, 744b28 II 6, 744b-745a II 6, 745a II 6, 745a6-7 II 6, 745b2-9 II 7, 746a II 8, 748a1-8 III 2, 753a18 III 10, 760a4-31 III 11, 762a8-21 III 11, 762a16 III 11, 762b21-24 IV 1, 764b14 IV 1, 765a6 IV 1, 766a24-25 IV 3, 767b29-32 IV 3, 769a18 IV 3, 769b10 ff. IV 4, 769b30-770b27 IV 4, 773a2 ff. V 1, 778a30-34 V 1, 779a26-b6 V 1, 779a34 V 7, 788a1 V 8, 788b10 ff. V 8, 788b22 V 8, 789b2-5
94, 101 201 47 40 45, 46, 47, 48 48 34 43 250 43 48 48 49 49 47 49 49, 268 44 97 45 46 45 46 45 197 297 199 189, 190, 193, 194 267 188, 201 39 39 97 29 39 247 247 247 283 49 30, 50 51 46 246 246 (T10), 258
Physiognomonica 1, 805a6 1, 805a10 4, 808b11 ff.
339
296 296 296
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
340
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen
De plantis 9 Problemata physica IV 2, 876b15 VII 2, 886a29 ff. VII 7, 887a4 ff.
297 297 297
Metaphysica (Met.) I 1, 981a1 ff. I 1, 981a25 ff. I 3, 983a25 III 3, 998b22-27 IV 2 V 2, 1013b9 V 2, 1013b17-21 V 4, 1015a14-15 V 7 V 11 V 12, 1019a15 ff. V 12, 1019a16 V 15, 1021b6-8 VI 1, 1027a22-26 VII 6, 1031a15 ff. VII 7 VII 7, 1032a24-25 VII 7, 1032a25 VII 7, 1032a32-b14 VII 7-8 VII 8, 1033b5-8 VII 8, 1033b29-1034a5 VII 8, 1033b32 VII 8, 1033b32-1034a3 VII 9, 1034a33-b3 VII 12, 1037b29 ff. VII 13, 1038b17 ff. VII 15, 1039b29 VII 17, 1041b11-12 VII 17 – VIII 2 VIII 1, 1042a28-30 VIII 1, 1042b12-13 VIII 1, 1043a28 IX 8, 1049b5-10 IX 8, 1049b10 IX 8, 1049b10-11 IX 8, 1050a4 IX 8, 1050b28-29 XII 3, 1070a8 XII 3, 1070a27 XII 4, 1070b34 XII 7, 1072b1 ff.
109 109 230 212 215 297 238 (T8) 227, 241 211, 214 218 17 242 219 253 240 212 234-236 (T4a), 242 198 234-236 (T4b) 172 235 197 198 190 197 94 240 242 154 172 172 172 172 17 242 263 263 277 198 198 198 257
https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
Verzeichnis der erwähnten Aristotelesstellen XII 7, 1072b3 XII 10, 1075a11-25 XIV 5, 1092a16 XIV 5, 1092a17
341
226, 276 226, 249, 259, 276-278 (T21) 198 234
Ethica Nicomachea (EN) I 1, 1095a2 ff. I 6
52 129, 130
Ethica Eudemica (EE) VIII 2, 1249b15
257
Politica
I 2, 1253a18-29 I 2, 1253a20-25 I 4, 1253b27 ff. I 5, 1254a36-39 I 5, 1254b11 I 5, 1254b12-13 I 5, 1254b19-20 I 5, 1254b20-23 I 8, 1256a19-29 I 8, 1256a29-b7 I 8, 1256b7-15 I 8, 1256b7-22 I 8, 1256b16-22 I 8, 1256b21 I 8, 1256b22 I 8, 1256b23-26 I 8, 1256b26-39 I 11, 1258b13 III 13, 1284a17 VII 13, 1332a39 ff. VII 17, 1336b41-1337a3
290 289 94 247 273 272 272 272 255, 260 256 256 (T16a) 249, 251, 256-259 (T16), 262 f., 270-275 256 (T16b) 246, 258, 270 226, 274 272 f. (T20) 274 262 84 273 51
Athenaion politeia c. 22, § 3
84
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Personenregister
Aischylos 273 Alexander von Aphrodisias 295 Alkmaion 29, 39 Althoff, J. 12, 18-20, 22, 29, 31, 38 f., 43-45, 52, 94, 99, 101-103, 107 f. Alvarez, M. 135 Ampère, A. M. 163 Amundson, R. 286 Anaxagoras 26, 29, 38 f., 54, 229, 268 Anaximander 29, 228 f. Angelelli, I. 210 Ariew, A. 285 Aristophanes 251, 262, 268, 273 Armstrong, D. 133, 210 Ast, F. 86 Athenaios 87 Atkins, J. F. 70 f. Aubert, H. 32, 328 Austin, M. 262 Bakchylides 87 Ball, M. J. 207 Ballauff, T. 83, 93, 109 Balme, D. M. 10, 29, 34, 261, 328 Baranov, P. V. 70 f. Barnes, J. 329 Beatty, J. 14 Beckermann, A. 166 Bedau, M. 281 Bekker, I. 327 Berkeley, G. 171 Berthelot, M. 84 Bichat, X. 33 Bien, C. G. 29, 329 Binnig, G. 152 Blumenbach, J. F. 56 Bodnár, I. 258 f., 277 Bolton, R. 294 f. Bonitz, H. 85, 211, 240, 244, 267, 295, 329 Bonnet, C. 55
Boorse, C. 286 Bos, A. P. 52, 294-296 Brentano, F. 216 Brigandt, I. 14 Broad, C. D. 154 Brown, T. A. 70, 75 Brücke 112 f. Brüllmann, P. 239 Brunner, O. 110 Brüntrup, G. 174 Buchheim, T. 329 Burian, R. M. 69, 119 Burkert, W. 291, 298 Burnyeat, M. F. 269 Byl, S. 85-87, 104 Canguilhem, G. 113 Carnap, R. 144 f., 154, 159 Cat, J. 14 Ceusters, W. 214 Chambers, M. 329 Charles, D. 18, 181, 232, 234 f., 253 Charlton, W. 244, 281, 329 Cheung, T. 83-85 Choi, S. 17 Chrysipp 300 Cicero 300 Collen, M. F. 207 Condit, C. M. 60 Condit, D. M. 60 Conze, W. 110 Cooper, J. M. 14, 244 f., 248-251, 253 f., 268, 285 Corcilius, K. 17, 327 Costa, F. F. 73 Craemer-Ruegenberg, I. 272 Craik, E. M. 86 Crane, T. 150, 153, 155 Danilatos, G. D. 162 Darwin, C. 12 f., 30, 114-118, 182, 264, 285
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344
Personenregister
Davidson, D. 159 Davidson, E. H. 120 Dawkins, R. 60, 114, 182, 193, 195 de Lavoisier, A. L. 12 Deichgräber, K. 291 Delbrück, M. 14, 62, 64, 113 Demokrit 29, 38 f., 41, 46 f., 87, 246 Depew, D. 15, 36, 181, 233, 260 Des Chene, D. 295 Descartes, R. 90, 93, 126 Detel, W. 238, 329 Diemer, A. 148 Diller, H. 44, 47 Diogenes Laertius 26, 300 Diogenes von Apollonia 39, 229 Dohrn-van Rossum, G. 110 Dönt, E. 327 f. Dörrie, H. 181 Downes, S. M. 69 Du Bois-Reymond, E. 112 Düring, I. 97, 329 Ebert, T. 328 Edelstein, L. 181 Ehlich, K. 83 Empedokles 13, 29, 39, 42, 49, 107, 183, 204, 227-229, 252-255, 277, 282 Erwin, D. 120 Euripides 229, 255, 273 Falcon, A. 10 Falk, R. 68 Fara, M. 17 Fechner, G. T. 113 Feldman, F. 131 Felin, F. 181 Felsenfeld, G. 73 Ferrini, M. F. 329 Feyerabend, P. K. 183 f. Fischer, E. P. 113 Fischer, W. 51 Flashar, H. 32, 36, 44, 297, 329 Föllinger, S. 10, 37 f., 98 Fomenko, D. E. 71 Foret, S. 74 Frede, M. 208, 329 Furley, D. 244, 251 f. Furth, M. 136 f. Futuyma, D. J. 72
Galen 33, 107, 289-293, 298 Galilei, G. 184 Gaus, W. 207 Gazzaniga, M. 165 Gerhoh von Reichersberg 85 Gelber, J. 18 Geus, A. 113 Ghiselin, M. 117 Gigon, O. 246, 271, 327, 329 Gill, M. L. 269 Giorgianni, F. 42 f. Gohlke, P. 328 f. Goranko, V. 185 Görgemanns, H. 12 Gotthelf, A. 10 f., 14, 18, 247, 282, 285 Gottlieb, B. J. 90 f. Gottlieb, G. 119 Gould, S. J. 118 Gray, R. D. 119 Greco, J. 16 Greenspan, R. J. 120 Grene, M. 15 Grew, N. 96 Griffiths, P. E. 119, 284 Grimm, J./Grimm, W. 233 Groff, R. 16 Groudine, M. 73 Guthrie, W. K. C. 281 Haeckel, E. 112 f. Haig, D. 73 Halliwell, S. 233 Hankinson, R. J. 42 Hardy, G. H. 117 Harré, R. 133 Hartmann, F. 91 f. Hartmann, N. 281 Harvey, W. 12, 91, 100 Heckl, W. 152 Hegel, G. W. F. 115 Heil, J. 15-17 Heinemann, G. 13 f., 21, 177, 226, 228 f., 240, 255, 269, 278, 294, 296 Heinimann, F. 233 Hennig, B. 216 Heraklit 228 f. Herodot 84 Herophilos 12 Herzhoff, B. 9, 12, 42
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Personenregister
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Hesiod 38, 264, 266 Hett, W. S. 327 f. Hilt, A. 293 Hintikka, J. 248 Hippokrates, Corpus Hippocraticum 31, 38, 42-44, 47, 86, 94 f., 107, 229, 265, 268 f., 291 Hoeltje, M. 213 Höffe, O. 94 Homer 262 Hooke, R. 96 Hübner, J. 299 Hume, D. 15 f., 161 Hussey, E. 250 Hyman, J. 135 Jablonka, E. 74 Jacob, F. 58, 114 Jansen, L. 15-17, 21, 211, 213 f., 216, 220, 248, 263 Jirtle, R. L. 74 Joachim, H. H. 242, 329 Johansson, I. 212, 216 Johnson, M. R. 239, 244, 251, 257, 271 f., 274 Johnson, W. 215 Joly, R. 86 Jonas, H. 170 Jori, A. 39, 329 Judson, L. 240, 244, 246, 251, 253, 255, 259-261 Kahn, C. H. 211, 226, 248, 276 f. Kant, I. 12, 14, 20, 22, 110 f., 113, 218, 277, 286, 292, 300 Keller, E. F. 58, 77, 119 Kienzle, B. 192 Kim, J. 20, 150, 153 f., 156 f., 160, 168 f. King, R. A. H. 38, 295, 327 Kingsland, S. E. 117 Kirk, G. S. 42 Kleanthes von Assos 91 Kluge, F. 83 Knaup, M. 143 Köchy, K. 20, 64, 109, 111-113, 117, 119, 143, 152, 164 Kollesch, J. 328 Koselleck, R. 110 Kosman, L. A. 18, 52, 247, 294 f.
Kratzsch, S. 91 Kripke, S. A. 191, 204 Kucharski, R. 74 Kühn, C. G. 107 Kühner, R. 84 Kullmann, W. 9-11, 18, 25, 28, 32 f., 39 f., 46, 48, 50, 89, 94-96, 102, 110, 237, 251, 257, 296, 328 Lakatos, I. 183 Lange, F. A. 113 Laubichler, M. D. 111, 118 Lauder, G. V. 286 Lefèvre, W. 14 Leibniz, G. W. 19, 83, 91 f., 106 Lennox, J. G. 10, 18, 27, 34, 109, 225, 246, 258, 271, 328 Leschhorn, W. 38 Lesky, E. 38, 42 Leukipp 228 Leunissen, M. 225, 257 Lewis, D. 15 f., 158, 215 Lewontin, R. 142 Liatsi, M. 30, 328 Lindee, M. S. 62 Liske, M.-T. 174-177 Littré, É. 86, 291 Livius 290 Lloyd, G. E. R. 15, 42, 261 Lobanov, A. V. 71 Locke, J. 127, 134 Löschhorn, B. 84 Love, A. 14 Lovejoy, A. O. 248 Löw, R. 232 Lowe, E. J. 210 Lukrez 280 Macdonald, C. 210 Mackie, J. L. 133 f. Maienschein, J. 54, 63, 72 Maleszka, J. 74 Maleszka, R. 74 Malink, M. 328 Malpighi, M. 96 Marc Aurel 251 Marmodoro, A. 16 f. Marx, K. 271 Matthews, G. B. 28, 130
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Personenregister
Mayr, E. 116-118, 147 McLaughlin, P. 247 Meixner, U. 155 Mendel, G. 117 f. Menenius Agrippa 290 Metzger, W. 87 Meyer, M. F. 9 f., 12, 19, 33, 46, 50, 294 Miller, A. E. 293, 299 Miller, G. A. 165 Miller, M. G. 293, 299 Millikan, R. G. 284 Mittelstrass, J. 261 Monod, J. 58 Morange, M. 119 Morani, M. 89 Moraux, P. 329 Moss, L. 79 Mourelatos, A. 140 Müller, G. B. 119 Müller, J. 220 Müller, T. 143 Müller-Wille, S. 55 Munn, K. 213 Nagel, E. 145, 153 Neander, K. 284 Nelkin, D. 62 Nemesius von Emesa 89 Nestle, W. 290 Neurath, O. 144, 150, 154, 159 Newman, S. A. 119 f. Nortmann, U. 328 Norwig, M. 15, 20 f. Nussbaum, M. C. 135, 240, 244, 251, 270, 293, 328 Oehler, K. 34, 198, 211, 328 Oken, L. 112 Oser-Grote, C. 29, 33, 46 Oyama, S. 54, 61, 64 f., 67, 77-79, 119 Papachristou, Ch. 48 Parmenides 29, 228 f. Patzig, G. 329 Peck, A. L. 43, 328 Pennisi, E. 119 Perler, D. 294 Philolaos 42, 229 Philoponos, J. 244 f., 295
Pichot, A. 292, 299 Pietsch, C. 94 Pindar 87 Pitt, J. C. 162 Planck, M. 168 Platon 26, 50 f., 84-87, 90, 93 f., 118, 187, 189 f., 194, 202, 204, 219, 227229, 232, 245, 261, 265-270, 273, 277, 288, 290 Pleitz, M. 181 Plutarch 87 Polansky, R. 327 Popper, K. R. 155 Portin, P. 69 Poseidonios 107, 291 Prantl, K. 240, 244, 329 Primas, H. 145 Primavesi, O. 13 Protagoras 229, 265-267 Psillos, S. 15 Pythagoras 93, 107 Quarantotto, D. 293 f. Quintilianus, A. 85 Rádl, E. 109, 113 Raven, J. E. 42 Raz, G. 74 Reckermann, A. 233 Rehmann-Sutter, C. 58, 63, 76, 114, 119 Reinhardt, K. 291 Rheinberger, H.-J. 55 Rhenius, R. 176 f. Richter, J. 291, 297 Robert, J. S. 63, 67, 78, 119 Röhl, J. 216 Rohrer, H. 152 Rolfes, E. 329 Ros, A. 148 Ross, W. D. 235, 240, 244 f., 255, 277, 281, 327-329 Roth, G. 152 f., 166 Röttger, G. 84 Ruegg, M. A. 69 Ruse, M. 284 Russell, B. 210 Sakar, S. 118 Salazar-Ciudad, I. 120
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Personenregister
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Sanger, F. 70 Scharfenberg, L. N. 32 Schark, M. 18, 20, 22, 293 Scharle, M. 251, 259-262, 276-278 Schaxel, J. 14 Schelling, F. W. J. 112 Scherer, G. 171 Schiemann, G. 164 Schleiden, M. J. 112 f. Schlick, M. 145 f., 150 Schmid, S. 16 Schmidt, J. C. 164 Schmidt, K. 19, 119 Schmitz, H. 208 Schneider, H. 233, 261 Schnieder, B. 213 Schofield, M. 42 Schott, H. 291 Schrödinger, E. 113 Schubert, C. 38 Schummer, J. 164 Schütrumpf, E. 52, 94, 262, 270 f., 273, 329 Schwann, T. 113 Schwegler, H. 152 f. Scott, S. F. 118 Sedley, D. 181, 225-227, 235, 240, 244 f., 249-251, 255, 257-259, 261-263, 275-278 Seidl, H. 18, 327, 329 Sextus Empircus 107, 291 Siegel, R. E. 292 Simonides 87 Simons, P. 141, 216 Smith, B. 208, 210, 213 f., 216 Snell, B. 87 Sober, E. 116 Sokrates 229 Solé, R. V. 120 Sophokles 87, 273 Spaemann, R. 151, 232, 300 Spät, P. 143 Stahl, G. E. 19, 90-92, 106, 108 Stederoth, D. 143 Steinberg, A. 213 Steiner, P. M. 171 Stephan, A. 153 f. Stetefeld, J. 69 Stokes, D. J. 162
Stotz, K. 78 f. Strobach, N. 12, 21, 181 f., 185 f., 191, 193, 204, 225, 328 Strohm, H. 329 Stückelberger, A. 26 Suárez, F. 295 Sullivan, L. 89 Tahko, T. E. 16 Taub, L. 107 Theiler, W. 228, 294, 327 Theophrast 9, 42, 261 Thomas von Aquin 216, 232, 234, 295 Thompson, D. W. 46 Thukydides 84 Toepfer, G. 12, 14, 20-22, 52, 83, 93, 106 f., 292, 297 Torrey, H. 181 Turanov, A. A. 71 van der Eijk, Ph. J. 12, 29, 38, 107, 327 van Leeuwenhoek, A. 55 Vegetti, M. 15 Vetter, B. 16 Vidal-Naquet, P. 262 Vinci, T. 63, 67 Virchow, R. 112 f. Vogt, S. 329 von Bertalanffy, L. 14, 93 von Frantzius, A. 328 von Kirchmann, J. H. 328 von Staden, H. 12 von Uslar, D. 172 von Wachter, D. 210 Waddington, C. H. 73 Wagner, G. P. 118 Wagner, H. 240, 244, 246, 329 Walsh, D. 63 f., 116, 120, 122 Wardy, R. 227, 251, 257, 261, 274 Waterland, R. A. 74 Waterlow, S. 270 Weber, M. 152 Wehrli, F. 9 Weigmann, K. 65 f. Weinberg, W. 117 Whetzel, P. L. 208 Wieland, W. 236, 242, 244, 251, 270
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348 Wieser, W. 117 Williams, G. C. 284 Wimmer, F. 32, 328 Witt, Ch. 247 Wöhrle, G. 9 f., 12, 42 Wolf, J. H. 289, 329 Wolff, C. F. 56 Woodfield, A. 281 Woodger, J. H. 181, 301
Personenregister Wuketits, F. M. 116, 147 f. Xenophon 227-229 Zekl, H. G. 244, 328 f. Zeller, E. 52 Zhmud, L. 9 Zierlein, S. 97, 328 Zoepffel, R. 51 Zosimos von Panopolis 84
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Autorinnen und Autoren
Jochen Althoff, Jg. 1962, ist seit 1998 Professor für Klassische Philologie/Gräzistik an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: antike Philosophie, antike Naturwissenschaften, antike Medizin, altattische Komödie. Veranstalter des Arbeitskreises und Mitherausgeber der Buchreihe „Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption“ (AKAN). Stellv. Sprecher des Graduiertenkollegs 1876 „Frühe Konzepte von Mensch und Natur“. Veröffentlichungen: Warm, kalt, flüssig und fest bei Aristoteles, Stuttgart 1992; Art. „Hippokrates“ in: B. Zimmermann (Hg.), Handbuch der Griechischen Literatur der Antike, Bd. 1, München 2011, 295-320; Art. „Medizinische Literatur zwischen dem Corpus Hippocraticum und Galen“ in: B. Zimmermann/A. Rengakos (Hgg.), Handbuch der Griechischen Literatur der Antike, Bd. 2, München 2014, 571-583; „Presocratic discourse in poetry and prose: The case of Empedocles and Anaxagoras“, Studies in History and Philosophy of Science vol. 43, issue 2 (June 2012), 293-299. Gottfried Heinemann, Jg. 1949, ist seit 1990 außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: antike Philosophie, Naturphilosophie, Metaphysik. Veröffentlichungen u. a.: Zeitbegriffe (als Hg.), Freiburg-München 1986; Studien zum griechischen Naturbegriff, Teil I: Philosophische Grundlegung: Der Naturbegriff und die „Natur“, Trier 2001. Ludger Jansen, Jg. 1969, ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Rostock und vertritt den Lehrstuhl für PhilosophischTheologische Grenzfragen an der Ruhr-Universität Bochum. Außer zur Philosophie der Antike forscht er insbesondere zur Metaphysik der Biologie und des Sozialen. Veröffentlichungen u. a.: Tun und Können, Frankfurt a. M. 2001; 2. Aufl., Wiesbaden 2015; Biomedizinische Ontologie (als Hg. mit Barry Smith), Zürich 2008; Philosophische Anthropologie in der Antike (als Hg. mit Christoph Jedan), Frankfurt a. M. 2010; Gruppen und Institutionen, Wiesbaden 2016.
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Autorinnen und Autoren
Kristian Köchy, Jg. 1961, Biologe und Philosoph, ist seit 2003 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte in den Bereichen der Philosophie der Biologie, der Naturphilosophie, der Geschichte der Biologie, der Bioethik sowie der Entwicklung eines Programms der Integrativen Biophilosophie. Wichtige Publikationen: Ganzheit und Wissenschaft (1997), Perspektiven des Organischen (2003), Biophilosophie zur Einführung (2008), Synthetische Biologie (als Hg. zus. mit Anja Hümpel, 2012), Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext (als Hg. zus. mit Francesca Michelini, 2015), Philosophie der Tierforschung, 2 Bde. (als Hg. zus. mit Martin Böhnert und Matthias Wunsch, 2016). Martin F. Meyer, Jg. 1962, ist Privatdozent für Philosophie und lehrt seit 1995 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Koblenz-Landau. Monographien: Über Platons epistemologische Handlungstheorie (1994), Aristoteles und die Geburt der biologischen Wissenschaft (2015), Illustrierte Geschichte der Philosophie (2016). Herausgeberschaften: Geschichte des Dialogs (2006), Kulturgeschichte der Scham (2009), Kulturgeschichte der Botanik (2013). Martin Norwig, Jg. 1970, ist seit 2004 Lehrbeauftragter im Institut für Philosophie an der Universität Kassel, war dort 2007–2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Theoretische Philosophie und im Sommersemester 2012 Lehrkraft für besondere Aufgaben. Forschungsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie der Physik sowie der Neuro- und Kognitionswissenschaften, Naturund Technikphilosophie, Umweltethik. Diverse Veröffentlichungen als Autor und Mitherausgeber, u. a.: Nanobiotechnologien. Philosophische, anthropologische und ethische Fragen (als Hg. zus. mit K. Köchy und G. Hofmeister), Freiburg 2008. Marianne Schark, Jg. 1966, Biologin und Philosophin, Forschungsschwerpunkte: Ontologie, Philosophie der Biologie, Bioethik. Veröffentlichungen u. a.: Lebewesen versus Dinge. Eine metaphysische Studie (2005); „Zur moralischen Relevanz des Menschseins: Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen aufgrund ihrer Gattungszugehörigkeit?“, in: Peter Dabrock und Stefan Schaede (Hg.), Gattung Mensch. Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen (Mohr Siebeck) 2010, 297-323; „Wie aktuell ist Kants Auflösung des https://doi.org/10.5771/9783495813447 .
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Naturteleologie-Problems?“, in: Uwe Meixner und Albert Newen (Hg.), Logical Analysis and History of Philosophy/Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 14, Special Issue: Final Causes and Teleological Explanations (Gast-Hg.: Dominik Perler und Stephan Schmid), Paderborn (Mentis) 2011, 125-154. Kirsten Schmidt, Jg. 1972, Biologin und Philosophin, ist seit 2014 Koordinatorin des geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Be reichs des Alfried Krupp-Schülerlabors der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Tierethik, Philosophie der Biologie. Veröffentlichungen u. a.: Tierethische Probleme der Gentechnik, Paderborn 2008; Was sind Gene nicht?, Bielefeld 2014. Niko Strobach, Jg. 1969, war von 2008–2011 Professor für Analytische Philosophie an der Universität des Saarlandes und ist seit 2011 Professor für Logik und Sprachphilosophie an der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik/Ontologie, Logik, antike Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: The Moment of Change, Dordrecht 1998; Alternativen in der Raumzeit, Berlin 2007; Einführung in die Logik, 4. Aufl., Darmstadt 2015; Aristoteles Analytica priora II – Übersetzung (mit M. Malink), Einleitung und Kommentar, Berlin/Boston 2015. Rainer Timme, Jg. 1977, war von 2010 bis 2016 Lehrkraft für besondere Aufgaben im Institut für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: antike Philosophie, Sprachphilosophie, Philosophische Anthropologie. Veröffentlichungen: Der Vergleich von Mensch und Tier bei Ernst Tugendhat und Aristoteles – Selbstbeschreibung und Selbstverständnis. Kritik eines Topos der Philosophischen Anthropologie, Berlin 2012. Georg Toepfer, Jg. 1966, Biologe und Philosoph, ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Bamberg und seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Philosophie der Biologie, zurzeit insbesondere die kulturellen Bezüge des biologischen Wissens. Wichtige Publikationen: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme (2004), Philosophie der Biologie (Hg. zus. mit Ulrich Krohs, 2005), Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (3 Bde., 2011). https://doi.org/10.5771/9783495813447 .