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German Pages 260 Year 1983
Linguistische Arbeiten
135
Herausgegeben von Hans Altmann/ Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Paul Georg Meyer
Sprachliches Handeln ohne Sprechsituation Studien zur theoretischen und empirischen Konstitution von iilokutiven Funktionen in >situationslosen< Texten
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983
All jenen, die in der allzu langen Zeit, in der mich diese Arbeit in Anspruch nahm, meiner eigenen Situationslosigkeit abhalfen.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Meyer, Pau! Georg: Sprachliches Handeln ohne Sprechsituation : Studien zur theoret. u. empir. Konstitution von illokutiven Funktionen in „situationslosen" Texten / Paul Georg Meyer, Tübingen : Niemeyer, 1983. {Linguistische Arbeiten ; 135) NE: GT ISBN 3-484-30I35-X
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.
"La linguistique ne saurait done se donner un objet sunerieur a la phrase, parce qu'audelä de la phrase, i l n'y a jamais que d'autres phrases: ayant decrit la fleur, le botaniste ne peut s'occuper de decrire le bouquet." (Roland Barthes 1966:3)
"Grundsätzlich muß ich bemerken, daß es eine Irreführung ist, wenn man (1) statt eines Kunsthistorikers einen Chemiker beauftragt, ein Bild zu beurteilen; (2) wenn man statt einem Musiker einem Physiker die Beurteilung einer Symphonie anvertraut, (3} wenn man, statt einen Biologen heranzuziehen, einem Mechaniker das Recht zugesteht, die Realität der Handlungen aller Lebewesen nur soweit anzuerkennen, als sie dem Gesetz der Erhaltung der Energie gehorchen. " (Uexküll/Kriszat (1934) 1970:178)
VII
VORWORT
Diese Arbeit ist eine Ausarbeitung und Weiterführung meiner im Jahre 1975 erschienenen Arbeit "Satzverknüpfungsrelationen11 (TEL 61), deren Grundgedanke beibehalten, aber wie ich hoffe, auf solidere theoretische und empirische Füße gestellt wurde. Im ersten Kapitel erläutere ich die beiden wissenschaftsgeschichtlichen Stränge, auf die ich mich hauptsächlich stütze, nämlich Textlinguistik und Sprechakttheorie, und entwickle hieraus eine Abgrenzung und Definition des Objektbereichs der Arbeit, des 'situationslosen' Textes. Das zweite Kapitel zerfällt in drei größere Teile, in denen die drei Grundelemente des 'situationslosen1 Textes erörtert werden: Sachverhalte, Modalitäten, und Funktionen-im^Text. Sachverhalte und Modalitäten werden nur insoweit behandelt, wie es zur Isolierung und Beschreibung des zentralen Gegenstands der Arbeit, der Funktionen-im-Text/ notwendiq erscheint. Im dritten Teil des zweiten Kapitels werden die verschiedenen Arten von Funktionen- im-Text aus fünf grundlegenden Kategorien hergeleitet, die für die 'situationslose1 Kcrmiunikation konstitutiv zu sein scheinen: Thema, Zeit, Verständnissicherung, Kausalität/ Argumentation. Iin dritten Kapitel schließlich werden die so gewonnenen Kategorien in einem Textanalyseverfahren angewandt, das dazu verhelfen soll, sich überprüfbar über die Bedeutung 'situationsloser' Texte zu verständigen. Snpirische Grundlage für diese Arbeit war die Analyse einer großen Anzahl * situationsloser' Texte, in der Mehrzahl relativ einfache, luzide Texte, wie sie z.B. bei Verständnisübungen im fortgeschrittenen Frerndsprachenunterricht Verwendung finden. Da zum Verständnis meiner Argumentationen an Einzelbeispielen jedoch oft der Verweis auf den Gesaittttext nötig ist, habe ich fast alle meine Beispiele aus einem relativ kleinen Korpus von Texten bzw. Textauszügen genommen,das im Anhang vollständig wiedergegeben ist/ soweit die Texte nicht bereits anläßlich ihrer Analyse vollständig zitiert wurden. Auf den Archilexem-Neid der feministischen Surachkritik habe ich, trotz Bedenken, keine Rücksicht genommen. So gibt es bei mir dem Genus nach nur masku-
VIII
line "Qnittenten", "Linguisten", "Sprecher", etc. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur Luise Pusch (aus dem Zusarrmenhang gerissen) zitieren: "Eier Mensch ist ein Gewohnheitstier,..". Doch glaube ich überdies, daß es zu einer grundlegenden Veränderung des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen zunächst und dringender anderer als sprachregelnder Eingriffe bedarf. Das Manuskript wurde im wesentlichen im Mai 1980 abgeschlossen. Allerdings wurden noch einige wichtige Neuerscheinungen und Soätentdeckungen eingearbeitet. Besonderer Dank für kritische Ermunterung und ermunternde Kritik gebührt den Professoren L. Liuka, W. Heilmann, P. Classen sowie Ada-Babette NeschkeHentschkc, Ewald Lang, Peter Koch und Wolfgang Wildgen. Frankfurt am Main, im Mai 1980 Paul Georg Meyer
IX
Inhaltsverzeichnis 1
Hinführung zum Problem
1.1
Textlinguistik: Texthaftigkeit als Ausdruck des 'kcnnunikativen Sspekts' der Sprache Motivierung und Entwicklung der Textlinguistik - Kritik der Svstenlinguistik
1
1.1.2
Entwicklung des Textbegriffs
5
1.2
Sprechakttheorie und Pragmaiinguistik: Zum Handlungscharakter von Sprache
13
1.2.O
Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen
13
1.2.1
Sprechen als soziales Handeln - 5 Thesen
16
1.2.2
Kontext und Präsupposition
19
1.1.1
1
1
1
1.3
Probleme des 'situationslosen Textes
22
1.3.0
Zum Terminus 'situationslos' - Eine zu lang geratene Fußnote
22
1.3.1
Der 'situationslose' Text als kulturell bestirnter Grenzfall von kcmnunikativem Handeln
23
1.3.2
1
Von Warencharakter der 'situationslosen Texte 1
29
1.3.3
Kontext, Präsuppcsition und Verstehen Ohne Situation
3O
.,3,4
Der Begriff der Funktion-inHText - Vorläufige Einführung
33
2
Die Elemente des 'situationslosen' Textes: Sachverhalte, Modalitäten und Funktionen
36
2.1
Gegenstände, Prädikate und Sachverhalte
37
2.1.1
Zürn Begriff des Sachverhalts
37
2.1.2 2.1.2.1
Elemente des Sachverhalts: Gegenstände und Prädikatsdesignata Zum Problem der Relationen im Sachverhalt
39 39
2.1.2.2
Funktionen im Sachverhalt vs. Funktionen im Text
41
2.1.3
Relativierungen des Sachverhaltsbegriffs
42
2.1.3.1
Zur Frage der Universalität von Sachverhalten
42
2.1.3.2
Vergegenständlichung von Sachverhalten: Anmerkungen zur Nominalisierung 43 Herauslösung von Gegenständen und Prädikatsdesignata aus Saehverhalten: Topikalisierung, Emphase und verwandte Phänomene 45
2.1.3.3 2.2
Modalitäten
46
2.2.1
Tempus und Aspekt
47
2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.3 2.3
Modalität im engeren Sinne Kategorien der Modalität Modalität oder Illokution? Negation und Ouantifikation Funktionen-im-Text
47 47 51 52 53
2.3.C 2.3.1 2.3.1.0 2.3.1.1 2.3.1.1.1 2.3.1.1.2 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.1.3.1 2.3.1.3.2 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.3 0.3.3.O 2.3.3.1 2.3.3.1.1 2.3.3.1.2 2.3.3.1.3 2.3.3.2 0.3.3.2.O 2.3.3.2.1
Der Benriff der Funktion-im-Tesct: Anspruch - Extension 53 Korrelate Syntaktisch-topikale Funktionen: Themastruktur und semntische Isotopie 60 Zum systematischen Zusammenhang von Thaiastruktur und Isotopie 60 Kurze Übersicht über verschiedene Annäherungen an ^as Problem 65 Zur Thema-Bhenja-Gliederung 66 Zur semantischen Isotopie 72 Wortbedeutung, Referenz und Textsyntax 73 Die illokutive Kraft von syntaktisch-topikalen Funktionen: Themaentwicklung 78 Themaentwicklung als illokutiver Akt 78 Formten der Themaentwicklung 82 Raum- und Zeitfunktionen 89 Räumliche Relationen 89 Zeitliche Funktionen-im-Text 91 Interrelationen zwischen Thema, Raum und Zeit 96 Zeitbeziehungen und Kausalität 101 Illokutive Funktionen im engeren Sinne oder: How to do things with texts 102 Vorbemerkungen 1O2 Sonantisch-topikale Funktionen: Mittel der Verständnissicherung 105 Kontrastfunktionen oder: Das antithetische Prinzip 105 Paraphrastisch-explikative Funktionen 113 Restriktive Funktionen 121 Kausale Funktionen 124 Vorbemerkungen zum Kausalitätsbegriff 124 Begründen und Erklären in Texten 126
2.3.3.2.2 Folgern in Texten
136
2.3.3.2.3 2.3.3.2.4 2.3.3.2.5 2.3.3.3 2.3.4
14O 145 153 157
3 3,1
Darstellung von Intentionalität in Texten Herstellung von Bedingungszusarnmenhängen Konzessivitat oder: die nie ganz hinreichende Bedingung Argumentative Funktionen Zusartinenfassung und Synopse der Funktionen-iirt-Text als Prinzipien des Textaufbaus Probleme der empirischen Konstitution der Funktionen-im-Text; Ein illokutiv orientiertes Textanalyseverfahren Qualitative Inhaltsanalyse und Textverstehenstheorie
164 169 169
XI
3.2 Beschreibung des Textanalyseverfahrens 3.2.1 Textserpnentierung 3.2.2 Provisorische Textgliederung 3.2.3 Provisorische Funktionszuweisung 3.2.4 Endgültige Gliederungs- und Funktionsentscheidung 3.3 Weitere Beispiele 3.3.1 Feinanalyse eines korplexen Satzes 3.3.2 Analyse eines einfachen narrativen Textes 3.3.3 Analyse eines 'argunentierenden' Textes 3.4 Grenzen und Möglichkeiten des Analyseverfahrens 4 Postscriptum English Sumnary Literatur
173 174 178 182 184 186 186 193 200 209 212 215 218
Anhang
234
XII
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abkürzungen für Texte des Beispielkorpus s. Anhang Abkürzungen für bibliographische Quellen (Zeitschriften etc.) sind im Literaturverzeichnis alnhabetisch eingereiht Abkürzungen für Funktionen-im-Text s. S. 168
/ . . . / in Beispielsätzen im § 2.3 trennt die Partner der jeweils diskutierten Funktion-im-Text, an Stelle von ... steht, sofern vorhanden, das Funktionssignal Symbolein den Analysebeispielen § 3, s. S. 174, 181, 184
CD GEI KVS SVD TG TRG
Communicative dynamism Gemeinsame Einordnungsinstanz Komplexe Voraussetzungssituation Sachverhaltsdarstellung Transformationsgrammatik Thema-Rhema-Gliederung
Abbreviations used in the English summary with German equivalents:
EGA Entity of Common Arrangement "Gemeinsame Einordnungsinstanz" (GEI) ESA Elementary state of affairs "Elementarer Sachverhalt" 1C Immediate Constituent RESA Representation of an elementary state of affairs "Elementare SVD" RO Representation of an object "Gegenstandsnennung" RSA Representation of a state of affairs "Sachverhaltsdarstellung" (SVD) TCS Topic-Comment structure "Thema-Rhema-Gliederung" (TRG)
1.
HINFÜHRUNG ZUM PROBLEM
1.1
Textlinguistik: Texthaftigkeit als Ausdruck des 'kommunikativen Aspekts' der Sprache
1.1.1 Motivierung und Entwicklung der Textlinguistik - Kritik der Systemlinguistik Seit ungefähr zehn Jahren hat sich im deutschsprachigen Diskussionszusarnmenhang ein neuer Zweig der Linguistik etabliert: die Textlinguistik. Ihre Entwicklung war in mehrerer Hinsicht verschieden von der der Transformat ionsgranmatik, obwohl die Erscheinungsformen des Booms oft ähnlich waren. Die Textlinguistik ging nicht von einer einheitlichen These aus, wie sie für die TG etwa in CHOMSKY 1965 formuliert war, sondern vielmehr wurde eine Vielzahl von teils neuen, teils älteren Ansätzen allmählich unter dem Namen 'Textlinguistik1 zusammengefaßt. So erklärt sich auch die verwirrende terminologische Vielfalt, die (oft allerdings nur scheinbare) Pluralität der Ansätze und Problemstellungen. Joder, der sich an textlinguistische Fragestellungen heranwagte, baute sich seinen eigenen Begriffsapparat auf, und es gibt auch kaum eindeutige Korrelationen zwischen den verschiedenen Systemen, obwohl sie ijn Groben alle die gleichen Phänomene meinen. Von vorneherein war auch eine Vielfalt von Erkenntnisinteressen mit der Textlinguistik verknüpft, während die T3 bis zum heutigen Tag von einigen wenigen Leitgedanken beherrscht wird, die bei aller Diversität der Entwicklung, etwa zwischen IAKOFF und JACKENDOFF, immer noch einen DiskussionsZusammenhang ermöglichen und für eine gewisse Einheitlichkeit in der Terminologie sorgen. In der deutschen Textlinguistik führte das Fehlen eines solchen einheitlichen Leitgedankens ("Über die Satzgrenze hinaus" ist zu allgemein) zu einem Aneinander-Vorbei statt zu einem fruchtbaren Nebeneinander und Gegeneinander der Ansätze. Auch diese Arbeit ist hiervon insofern Ausdruck, als es mir nicht möglich war, alle Ansätze von "Textanalyse", "Textgrammatik", "Texttheorie", "Textwis-
senschaft", und wie sie sich sonst noch nennen mögen, zu berücksichtigen und auf ihre Brauchbarkeit für meine Fragestellung hin zu untersuchen. Die Vielfalt der Ansätze hat eine nicht unwesentliche Ursache in der Vielfalt der Motivierungen. Die einen wollten lediglich die TG verbessern, indem sie deren Kompetenzbegriff auf die Textebene übertrugen (HEIDQLPH, ISENBERG), Diese Hinwendung zum Text war also motiviert durch Erkenntnisse über die Relativität der Satzgrenze (lange Zeit die Schallmauer der Linguistik) und gewisse Unzulänglichkeiten der sie respektierenden Grartmatik (ISENBERG 1 968). Andere wollten, aus der Strukturallstischen Tradition heraus, den Text als Struktur darstellen, entweder durch Verfeinerung, d.h. Semantisierung der Harris'sehen Discourse Analysis (HARRIS 1952; KOCH 1965), oder durch Erweiterung des distributionalistischen Verkettungsbegriffs (FRIES 1959; KARLSEN 1959) um den der semantischen Kontiguität (HAKWEG 1968) oder der Isotopie (GREIMAS 1971/1974). Literaturwissenschaftler, inmer auf der Suche nach Auswegen aus ihrer als zu subjektiv und unüberprüfbar empfundenen Methodik, horchten auf. Sollte es möglich sein, die exakten, fast naturwissenschaftlichen Methoden der Linguistik, die ja gerade in Gestalt der TG einen groflen Aufschwung erlebten, auf literarische Texte anzuwenden? Begriffe wie Stil, Erzähltechnik, Sprachkunstwerk linguistisch zu explizieren? Linguisten, die das sterile Hantieren mit Beispielsätzen aus der MIT-Retorte leid waren, erhofften sich von der Textlinguistik eine Hinwendung zur Empirie. Wo anders sollte Sprache in Funktion beobachtet werden, wenn nicht in Texten? Schuldidaktiker, die bereits erkannt hatten, daß der Strukturbaiin an der Wandtafel des Klassenzimmers noch nicht besseren Sprachunterricht garantierte, erwarteten Modelle, mit deren Hilfe nan den [ingang mit Texten, die Reflexion über Sprache und die Förderung der kotrtnunikativen Fertigkeiten in der Schule zugleich effektiver und attraktiver gestalten könnte. Kurz, der Böen in Text-
1
Lang (1973) dreht diesen Spieß herum, indem er argumentiert, daß die Relativität der Satzgrenze gerade nicht dazu führen müsse, aufgrund bestimmter Beobachtungen über die Satzgrenze hinaus die Domäne der Grammatik zu erweitern. Er betont den völlig anderen Charakter der textkonstituierenden Relationen. Zu einer der hier dargelegten verblüffend ähnlichen Einschätzung der Entwicklung der Textlinguistik kommt übrigens Viehweger (1981).
Linguistik hatte vielfältige Triebkräfte in Gestalt von Erwartungen, die innerhalb und außerhalb an die Linguistik gerichtet wurden, und die die Transfomationsgranmatik nur unvollkommen erfüllte. Dabei war sie es gewesen, die diese Erwartungen geweckt hatte. In der CHCMSKYschen Konzeption ist beides, Erwartungen und ihre Enttäuschung/ sehen angelegt: in ihrem Anspruch der "explanatory adequacy" (CHCMSKY 1964} einerseits und ihrer Bestimrrung der "competence" {CHCMSKY 1965) als Gegenstand der Linguistik andererseits. Der jSQroeetenzijegriff CHOMSKY'S steht ganz in der Tradition einer strukturalistischen, synchronen tongue (SAUSSURE), die als aus sich selbst heraus zu erklärende Struktur begriffen wird und durch formale, kalkülfähige Eigenschaften definiert ist. Kommunikative Funktion konmt der Struktur eher zufällig zu und ist unwesentlich für ihre Erklärung (so exemplarisch COSERIU in Stempel 1971:288). Die historische Bedingtheit und Punktion der Struktur gerät, als Folge dieser Abstraktionen, aus dem Blickfeld der linguistischen Forschung, Sicher, "Sprache oder Sprechen liegt auch dann vor, wenn die Kommunikation als Mitteilung gar nicht zustande karmt" fCOSERIU in Stempel 1971:288). Aber: mißglückte Instanzen einer Handlung können nicht zur Wesensbestiirrnung dieser Handlung herangezogen werden, sondern nur zur Bestirtmung der Bedingungen, unter denen die Handlung als mißglückt zu gelten hat, "Als wirklich zustande kcmraende 'Mitteilung'" ist ffoher "die Kommunikation für das Wesen der Sprache" durchaus - im Gegensatz zu QCSERIU (Lcc.cit.) - "konstitutiv". Denn käme nie eine Mitteilung zustande, wie konnte es da überhaupt Sprache geben? (vgl. SCHMIDT, ibd.,,285;288; auch schon AMMANN 1928:2 = 1974:140) Denn das, wovon die Synchronie/Kompetenz-Linguistik abstrahiertf oder was sie gar als Störfaktoren empfindet, wie Situationselemente, konrnunikative und sonstige Absichten beim Sprechen, bewußte Ambiguitat und Vagheit, u.v.a., ist geradezu das Lebenselement der Sprache: ohne Situationen und Absichten kann sich Sprache weder phylo- noch ontogenetisch entwickeln, ohne Ambiguitat und Vagheit wäre sie als Konniunikationsinstrunent unbrauchbar. So blieb als Gegenstand der Linguistik nur noch ein Leichnam von Sprache übrig, der bestenfalls als Gespenst» in Gestalt einer colorless gr-een idea den Anschein von Leben erweckt, indem er unangreifbar durch die linguistische Literatur spukt: Einzelsätze, aus jedem kctimunikativen und historischen Zusammenhang herausabstrahiert (s. CHOMSKY/MILLER 1963:283). So wie der Gegenstand der Physik nicht die empirisch vorfindliche oder besser: alltäglich uns begegnende materielle Welt istf sondern das Verhalten bestinmter abstrahierter Größen wie Energie und Masse unter konstruierten idea-
4
len Bedingungen, so konstruierte man als Gegenstand der Linguistik eine Kunstsprache, die als aus Einzelsätzen bestehend definiert war und von der behauptet wurde, sie sei eine von störenden "irrelevanten" Faktoren gereinigte Sprache, und nur so wissenschaftlicher Beschäftigung zugänglich. Andererseits ließ aber der Anspruch der explanatory adequacy (CHOMSKY 1964) die Linguisten nicht ruhen, und so nahmen sie immer neue Aspekte zur Kenntnis, die für das Zustandekommen von Sprachstrukturen relevant sind und die sie in die Graitmatiktheorie zu integrieren versuchten. Nacheinander wurden verschiedene Aspekte der Semantik, der Pragmatik, und des Textes 'entdeckt', und immer fand sich jemand, der es unternahm, die Beobachtungen, die zu diesen Entdeckungen geführt hatten, in ein TG-itodell einzuarbeiten. 2 Hierbei handelte es sich oft um die Wiederentdeckung längst bekannter und in der europäischen Tradition auch zur Kenntnis genommener Phänomene, die in den USA dem reduktionistischen Rasiermesser des Strukturalismus zum Opfer gefallen waren (vgl. LIPKA 1975). Diese Entwicklung legt exemplarisch Zeugnis davon ab, daß die Verkürzung, die der Sprachbegriff durch die Geschichte des Strukturalismus bis hin zur TG erfahren hatte, keinen befriedigenden Ansatz liefern kann, um der explanatory adequacy näher zu kortmen. Die Struktur ist eben nicht ihre eigene Erklärung, sondern muß interpretiert werden im Kontext der sozialen Verhältnisse, die sie hervorbrachten und in denen sie eine Funktion erfüllt. In der Tat bedeutete die Textlinguistik insofern einen Fortschritt, als durch die Thematisierung des Textes als Manifestationsform von Sprache der 1 kommunikative Aspekt' zumindest der Möglichkeit nach in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rückte. Denn dieser 'konmunikative Aspekt' ist nicht einfach ein Aspekt unter vielen, sondern daß Sprache primär zur Koirmunikation dient und dort ihren logischen und historischen Ursprung hat, bestimmt wesentlich ihre Strukturen, angefangen vom phonologischen System einer Sprache bis hin zu Textgroßstrukturen wie ErzMhlmustern, Argumentationsweisen, etc.
2
s. z . B . George und Robin LAKOFF für den Grenzbereich von Semantik und Pragmatik, ROSS für die illokutive Rolle, WUNDERLICH (1968a) für die Deixis, SGALL (1968) für die funktioneile Satzperspektive, HEIDOLPH (1966) für bestimmte Textphänomene, schließlich JACKENDOFF (1972) für einen bemerkenswerten Versuch, möglichst viele dieser Aspekte (allerdings nicht den der Textualität!) zu berücksichtigen und dennoch das orthodoxe Standardinodell (CHOMSKY 1965} zu 'retten'.
Die kommunikative Funktion der Sprache tritt jedoch nur dann mit wünschenswerter Deutlichkeit hervor, wenn die Sprache so untersucht wird, wie sie in der Alltagswelt vorkoimit, und da gibt es nun einmal keine künstlichen isolierten Beispielsätze (mögen diese sich noch so gut zur Demonstration abstrakter Strukturmerkmale eignen), sondern irritier schon Texte, die eine wirkliche Funktion in einer Wirklichkeit haben. Dies gilt auch und gerade für literarische Texte. 1.1.2 Entwicklung des Textbegriffs Anhand der Entwicklung des T§xtb|g£i||| in 'der' Textlinguistik will ich nun zeigen, wie der Mitteilungscharakter der Sorache sich als der Schlüssel 2011 Verständnis der Textualität herausschälte (s. dazu auch § 2.3.0}. Als eine Art Startsignal textlinguistischer Bemühungen inn deutschsprachigen Raun kann HARTMANN 1964 angesehen werden. Als 'Text' gilt ihm jedes Vorkommen von Sprache in Mitteilungsform (op.cit,, 16}. 'Text1 ist also der Begriff, der die Manifestationsforrasn von Sprache verallgemeinert; er gilt aber zunächst nicht als Ebene der linguistischen Analyse. 'Text' ist also einerseits keine abgrenzbare Einheit der Sprache wie 'Morphem1 oder 'Satz', sondern einfach ihre Vorkctnrnensweise. Andererseits ist aber auch der Aufbau von Texten von spezifischen Regeln bestürmt. Nicht jede "geordnete Folge von Sprachzeichen", wie WEINRICH ((1971) 1974:270} formuliert, 4 ist ein Text oder Teiltext. Dadurch befindet sich die herkömmliche Trennung von Korrrpetenz und lerfgrmanz in einem Dilenrtta; entweder beschränkt man den Begriff der linguistischen Kompetenz auf kalkülfähige Fähigkeiten, d.h. die Beurteilung der syntaktischen und semantischen Wohlgeformtheit einzelner Sätze (evtl. auch Satzfolgen). Dann fällt alles, was darüber hinausgeht, in die Donäne der Perforraanz (so konsequent KEMPSCN 1975). Oder raan zählt zur Kompetenz alle Fähigkeiten des Sprechers, die er braucht, um sich situationsangemessen kormtunikativ zu verhalten. TJTI ersteren Falle wird die Performanz zu einer typischen Papierkorb-Kate3
Vql. schon BLOOMFIELD 1933:17O; für eine ausführlichere Begründung s. BENVENISTE 1 9 7 4 ; 1 4 8 f f . BENVENISTE spricht aber nicht von ' T e x t ' , sondern von ' D i s k u r s ' . Ich verstehe jedoch 'Text' in diesem Sinne.
4
Zumindest müßte WEINRICH genauer explizieren, was er unter "geordnet" versteht. In dieser Formulierung könnte man z . B . auf die Idee kommen, auch alphabetisch geordnete Wortlisten seien Texte. Dies meint WEINRICH sicher nicht.
gorie, in die man alles wirft, was die erhabene Reinheit der formalen Analyse stört. Im letzteren Falle weitet sich die linguistische Kompetenz zur 'kornntniJcativen Kompetenz' aus, ein Begriff, der mehr Probleme aufwlrft, als er löst, Ich benutze den Begriff hier im Sinne von S.J. SCHMIDT (1973:106): "die Kenntnis einer natürlichen Sprache (ihres Lexikons, ihrer Granmatik) sowie die Kenntnis der Regeln für das Glücken von Kornrunikationsakten". SCHMIDT grenzt sich ausdrücklich von der HABEEMäSschen Verwendung des Begriffs ab (s. HAEm-ffiS 1971) . Ich kann hier nicht die ganze Diskussion um diesen Begriff aufarbeiten, noch die unterschiedlichen Kontexte explizieren, in denen dieser Begriff, mit unterschiedlicher Zielsetzung und in unterschiedlicher Bedeutung, in die Diskussion eingebracht wurde (s, HYMES (1966) 1972; CAMPBELL/WALES 1970:249; HABEFMAS 1971). Doch verweist gerade diese DiversitMt der Verwendung des Begriffs auf die Schwierigkeiten, die er verursacht. Ich will hier nur auf einige dieser Schwierigkeiten hinweisen, die mir für die Anwendung der Kompetenz-Performanz-Dichotonie auf die Textebene besonders relevant scheinen. Es geht hier also lediglich um eine Klärung, in welchem Sinne diese Dichotomie auf der Textebene sinnvoll ist. Zum einen besitzt der Begriff keinerleitTrennschärfe zwischen verschiedenen Fähigkeiten des Sprechers einer Sprache: die Grenze zwischen sprachlichen Konpetenzen, etwa in der Phonologie oder Syntax, und nichtsprachlichen, wie Intelligenz und Kontaktfreudigkeit, geht in ihm unter. Zum anderen verleitet der Begriff gerade durch seine Vagheit wieder dazu, ihn gegen jenen engeren, kalkülfähigen Begriff von Kompetenz auszuspielen, den er doch seinem Anspruch nach in sich aufheben müßte (vgl. auch WUNEERLICH 1972166). Die Rezeption des Begriffs in der sprachdidaktischen Diskussion zeigt, daß grarmiatische nicht in kommunikativer Kompetenz aufgehen muß, sondern daß diese sich relativ unabhängig von jener entwickeln und auch in Widerspruch zu ihr geraten kann, ein Widerspruch, der sich z.B. als ZieUconflikt im Sprachunterricht geltend macht (s. dazu NGLD 1978). Zur Verständigung in einem nichtmuttersprachlichen Medium bedarf es im Grenzfall einer grammatischen Kompetenz ebenso wenig, wie letztere don akademisch perfekten Lerner bei der Bewältigung kommunikativer Alltagsprobleme in der Fremdsprache hilft. Wenig hilfreich scheint mir auch der Ansatz von HÄRTIG und KURZ (1971 ·. 1G6-18) , die die Dichotomie Kompetenz-Perforrnanz durch Einführung einer vermittelnden
"Performanzkompetenz" zu einer Trichotomie erweitern. Besonders verwirrend ist, da8 sie die 'Performanzkompetenz 1 als zusätzliche Differenzierung auf der Performanzebene verstehen. Wenn irgendwo Differenzierungen zu machen sind, dann bei der Kompetenz. (So etwa CAMPBELL/HALES 197O}.6
Grundlage dieser theoretischen Schwierigkeiten und Mißverständnisse ist m,E. eine Hypostasierung der Dichotomie Kompetenz-Perfonnanz (bzw. languepayole), die in der linguistischen Diskussion vorherrscht. Kompetenz und Performanz werden oft so diskutiert, als seien sie abgrenzbare, in sich hcmogene Entitäten von gleichen ontologischem Status, zwischen denen alle als 'sprachlich1 empfundenen Phänomene und Probleme restlos aufgeteilt werden itüssen. Dabei sind die verschiedenen Kompetenzen des Sprechers einer Sprache nur ein Faktor unter mehreren» die zum Erscheinungsbild dessen, was wir Performanz zu nennen gewohnt sir*3, beitragen: "To study actual linguistic performance, we must consider the interaction of a variety of factors, of which the underlying competence of the speakerhearer is only one." (OKWSKV (!) 1965:4) Außerdem hat jedes sprachliche Phänonen mit sprachlicher Konpetenz zu tun,
genauso wie es selbstverständlich in der Performanz aufzufinden ist. Die einzig sinnvolle Unterscheidung, die im Sinne einer Kcnpetenz-Performanz-Dichotcnie zu machen wäre, ist die zwischen den wirklichen Äußerungen wirklicher Sprecher in einem Kontext und den Regeln, aufgrund derer die Äußerungen zustande kamen, bzw. den Optionen, die die Sprecher bei der Realisierung ihrer Sprechintentionen haben. Diese Regeln und Optionen sind nun in sich heterogen. Zu ihnen gehören Regeln und Optionen der phonetischen Realisierung ebenso wie Interaktionsnormen, die z.B. festlegen, was als Begrüßung in einer Sprache 5
Pur böswillige native speakers des Altgriechischen: 'Trichotomie' bedeutet hier 'Dreiteilung' und nicht etwa 'Haarspalterei'.
6
vgl. WUNDERLICH 1972:66: "Realisieren sprachlicher Kommunikation folgt gewissen sozial eingespielten Regeln (einschließlich jener, die grammatische Regeln genannt werden), doch ist es irreführend zu behaupten, es gäbe nun noch eigene Regeln des Realisierens." In dieselbe Kerbe schlägt auch schon OLLER (1970:506): "What we need is not an additional theory of performance, but an adequate theory of competence."
7
vgl. WUNDERLICH 1972:68: "...Befolgen von Regeln (was mir die Sachlage besser zu treffen scheint als 'Sprache als S t r u k t u r 1 ) " ; HALLIDAY 1970a:142, wo Grammatik als "system of available options" bezeichnet wird, sowie id. 1978:4;4Off. Ich sehe das Verhältnis von Regel und Option allerdings nicht alternativ, sondern dialektisch-komplementär, Optionen sind Möglichkeiten, deren Realisierung durch Regeln geregelt wird. Zur Wirklichkeit des Sprechens gehört seine Regelhaftigkeit genauso wie die prinzipielle Wahlfreiheit des Sprechers in bezog auf die anzuwendenden Regeln.
8
zählt. Pur unsere Diskussion hier ist vor allem eins wichtig: Die Regeln, die befolgt werden müssen, um einen akzeptablen Text zu produzieren, sind anderer Natur als die Regeln, die für die Granmatücalität von Sätzen zuständig sind. Sie sind bestirnt "durch funktionale Aspekte der Karcnunikation" (IANG 1973:294) . Die CHOMSKY'sehe Dichotomie von Grammatikalität und Akzeptabilitat und ihre Parallel!sierung mit Kompetenz und Performanz verleitet dazu, die Regeln für die Akzeptabilitat von Texten "kurzerhand in eine Performanztheorie abzuschieben" {iixä.), oder aber, indem Regelhaftigkeit mit Kompetenz und diese mit Kalkülfähigkeit assoziiert wird, in ein mathematisches Prokrustesbett zu zwingen. Letzteres vor allem geschah in Deutschland. Die Entdeckung textlinguistischer Fragestellungen fiel hier in eine Zeit euphorischer Rezeption genau jenes reduzierten Kcnpetenzbegriffs der TG. iton glaubte, endlich einen objektiven, wissenschaftlichen Zugang zur Sprache gefunden zu haben, der eine Befreiung von Mief der Schulgratimatik und Philologie zu verheißen schien. Dies blieb natürlich nicht ohne Folgen für die Entwicklung der Textlinguistik. Die ausdrücklich für die Erzeugung von Safczgrammatiken entwickelten Kategorien der transforrnationellen Rrarmatiktheorie wurden auf die Textebene angewandt. Aus der Grarmatik wurde eine Textgranratik, aus der Tiefenstruktur eine Texttiefenstruktur, und aus der Kompetenz eine Textkonpetenz. Dabei nahm man natürlich nur solche Textphänomene zur Kenntnis, die auch mit diesen Kategorien erfaßbar waren. Dadurch geriet die textlinguistische Forschung, nachdem ihre bloße Existenz schon zwei Schritte vorwärts in Richtung auf die Wirklichkeit der Sprache zu bedeuten schien, wieder einen Schritt zurück, indem jahrelang versucht wurde, einen kalkülfähigen Textbegriff zu entwickeln. So fiel der 'kommunikative Aspekt' wieder stillschweigend unter den Tisch. Daß ein Text zunächst einmal etwas ist,
das verstanden werden kann und soll, wurde zwar nicht explizit
geleugnet, aber nicht zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Anstrengung gemacht. Stattdessen ist verhältnismäßig viel Forschungsaufwand in das Problem investiert worden, welche formalen Eigenschaften eine intuitiv als kohärenter Text empfundene Zeichenfolge nachweisbar zu einen Text machen, also das Problem der Textkonstitution. Es galt als Schlüsselproblem für die Frage der Definition des Begriffs 'Text'. Schon die discourse analysis nach HARRIS (1952) konnte als Versuch mißverstanden werden, einen Algoritmus für textkonstituierende Eigenschaften
zusairntenhängender Rede aufzustellen. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß HAARIS gar keinen expliziten Textbegriff hat, und auch nicht den Anspruch erhebt, etwa einen Begriff 'Text in L' formal zu explizieren (s, BIERWISCHs HÄRRIS-Rezension, 1965). Aber daß HARRIS1 Methode überhaupt funktionieren kann, hat dieselbe Grundlage in der Textrealität wie alle späteren Versuche einer formalen Textdefinition. Aufbauend auf HARRIS und auf distributionalistischen Untersuchungen von Satzverbindungen durch Konjunktionen, Anaphora und Ellipse, führt HARWEG (1968) z . B . einen sehr weiten Begriff von "pronominaler Verkettung" ein und macht dies zum Definiens des Textes: er faßt hierunter nicht nur alle Arten von Wiederaufnahme eines Gegenstandes im Text (sei es durch erneute Nennung mit Hilfe des ursprünglichen Referenzträgers, Einführung eines neuen, oder Pronominalisierung), sondern auch jede Art von semantischer_Kontiguität, d . h . das Nacheinander von Ausdrücken im Text, die im Sprachsystem in einer setnantischen Beziehung zueinander stehen ( z . B . Briefkasten-Postauto; LehrerSchule; Pferd-wiehern-reiten). Hierdurch wird natürlich die Zahl der Texte, die dann als "ununterbrochen pronominal verkettet" erscheinen, gegenüber Ansätzen, die ausschließlich Koreferenzphänomene berücksichtigen, beträchtlich erhöht. Ihre Menge dürfte ungefähr deckungsgleich mit der Menge der Texte sein, die von HARRIS' discourse analysis erfaßt werden können, denn HARRIS' Xquivalenzklassen kommen aufgrund des gleichen Phänomens zustande wie HARWEGs 'pronominale Verkettung 1 :
Jeder Text für den Alltagsgebrauch oder über den Alltag (auch die Mehrzahl der literarischen Texte), handelt - banal genug - von Dingen, die in der Alltagswelt und damit auch im semantischen System der Sprache in einem Zusanrnenhang stehen. Denn semantische Systeme sind der Reflex von Alltagswelten; sie entstehen in der Auseinandersetzung mit diesen (SCHMUTZ 1975;392f., MEYER 1975:25ff., s.a. unten § 2.3.1.0). Schon bald tauchten in der Diskussion Gegenbeispiele zur HAFNEGs Textdefinition mit Hilfe der 'pronominalen Verkettung1 auf (z.B. WUNDERLICH 1968b}. Schon BIBLISCH (1965:72) hatte einen Scheintext konstruiert, der zumindest zeigt, daß pronominale Verkettung keine hinreichende Bedingung für einen Text ist, was HAFWEG {1968:286} sogar implizit zugibt. Letzterer rettet sich durch eine Unterscheidung von "etischem" und "emischem" Text. Danach wären wohl Satzfolgen wie BIERWISCHs Scheintext zwar emische, jedoch keine etischen Texte. D.h.: nach formalen Regeln wären sie von einem akzeptablen Text nicht zu unterscheiden, und erst bei Hinzuziehung zusätzlicher, pragmatischer Kriterien als Scheintexte erkennbar. Bezieht man aber die Begriffe 'anisch' und 'etisch' auf die Kcrnpetenz-Performanz-Distinktion - sie können als das Korrelat dieser Unterscheidung in der Linguistik K.L. PIKEs gelten -, so wird die Einordnung falsch. Denn auch ein Unterscheidungsvermbgen zwischen Texten und Scheintexten, das über das Erkennen bloßer semantischer Rekurrenzen
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hinausgeht, ist eine Frage der linguistischen Kompetenz, wie schon BIERWISCH (1965:73) bemerkt. Also wäre ein Scheintext, der einige formale Eigenschaften der pronominalen Verkettung aufweist, ansonsten aber sinnlos ist, auch vom Standpunkt der Kompetenz aus, also auch "emisch", kein wohlgefomtter Text. HAHWEG ist das früheste und zugleich einleuchtendste Beispiel dafür, daß ein formaler Textbegriff, der von 'komtunikativen Aspekt1 abstrahiert und in der hypostasierten Konpetenz-Performanz-Dichotonie befangen bleibt, nicht haltbar ist (s.a. DRESSIER 1970a:195:210f.; 1972:13f.). HARWEG ist jedoch bei weitem nicht der einzige, der sich darin versuchte. Auch NICKEL (1968), HÄRTUNG (1966) und HEIDOLPH (9966) sahen, wenn sie von "Satzverbindung" o , ä . sprachen, lediglich formale Eigenschaften wie Anaphora, semantische Kontiguitat und Thema-Rema-Beziehungen. NICKEL allerdings erwähnt, daß "Relationen zwischen Sätzen...selbstverständlich auch durch außersprachliche Phänomene, wie Gestik und Mienenspiel, hergestellt werden (können)" (1968a:17). HÄRTUNG (1966:8) weist noch auf die Intonation h i n , die textkanstitutive Kraft haben könne. So kommt ein Warenhauskatalog von "Verknüpfungsmitteln" zustande, für den es keine Verallgemeinerung zu geben scheint.
Ein zugleich umfassenderer und systematischerer Ansatz zur Erfassung formaler Aspekte der Textkohärenz ist der Zugang über den Begriff der Isotopie (GREIMAS (1971) 1974:60-92; RASTIER (1972) 1974). Isotcpie meint ganz einfach die (systematische) Wiederkehr beliebiger sprachlicher Einheiten im Text. Diese Einheiten können Segmente oder Merkmale von Segmenten sein, und sie können phonologisch, morphologisch, syntaktisch oder lexikalisch-semantisch definiert sein. Eine Form isotopischer Isotopie ist z . B . der Reim, eine Form morphologischer Isotopie die Kongruenz, eine Form syntaktischer Isotopie der Parallelismus. Für die Analyse von nicht-literarischen Texten sind fast ausschließlich die "Inhalt-.sisot.opien" (RASTIER 1974:159ff.) interessant (s. dazu unten § 2.3.1).
Gegen dieses Konzept sind in wesentlichen zwei Einwände zu erheben (s. ERCKS 1976:73): Als Methode, die nicht von der konmunikativen Funktion des Textes ausgeht, sondern zunächst möglichst viele formale Ubereinstintnungen zwischen Textelementen sammelt, birgt die Isotopie die Gefahr der Willkür in sich, "denn irgendetwas Ganeinsames wird sich immer feststellen lassen." (ERCMS ibd.) Zweitens ist zu bemängeln, daß der "prozessuale Charakter der Texte" nicht zum Ausdruck könnt. D.h., der Text erscheint primär als Struktur, nicht als Mitteilung, die verstanden werden soll. Das einigende Prinzip, die kommunikative Funktion, bleibt auch hier ausgeblendet (für ein Beispiel s.u. § 1.3.3 S. 31£). Diejenigen aber, die die Sackgasse des formalen Textbegriffs schon früh er-
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kannten (wie WUNDEBLICH 1968b), leugneten die Möglichkeit einer Textlinguistik überhaupt und wandten sich der Analyse von Sprechakten in Gesprächssituationen zu (WUNDERLICH 1972). Wunderlich stellt später lapidar fest: "Ein Text muß primär nicht als Abfolge von Sätzen, sondern als Ergebnis einer Abfolge von Sprechakten [oder Schreibakten} angesehen werden, ( . . . ) Mit dieser theoretischen Umorientierung verschiebt sich auch der Schwerpunkt der Untersuchungen von monologischen und schriftlichen Texten zu dialogischen und mündlichen 'Texten', ..." (1976:295f.}.
Damit wurde zwar - legitimerweise - eine Art von Texten in den Mittelpunkt des Fcrschungsinteresses gerückt, deren 'komiunikativer Aspekt1 von ihrer sprachlichen Form beim bösesten Willen nicht mehr zu trennen war, und wo Illusionen über eine kontextfreie Analyse gar nicht erst aufkottnen konnten (vgl. MEYER 1975:2-8). Das Problem der sequentiellen Konstitution längerer monologischer Texte wurde dadurch aber verdrängt. Eine logische Notwendigkeit für eine derartige einseitige Ausrichtung des Forschungsinteresses besteht jedenfalls nicht, WUNDERLICHs Abneigung gegen das, was sich in den frühen 7oer Jahren mit dan Namen 'Textlinguistik1 schmückte, ist allerdings verständlich angesichts der jahrelangen Stagnation der Diskussion um das Problem der Textkonstitution (s.o.) und der unkritischen Begeisterung (oft in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Sachverstand) mit der diese neue itode vielenthalben aufgegriffen wurde. Auch LANG (1973) mahnt zur Vorsicht angesichts einer textlinguistischen Euphorie, die oft nur eine Umetikettierung von Phänomenen bedeute, die gar nichts für die spezifische Begründung einer Textebene hergäben, sondern durchaus auf Satzebene, in einer Theorie der Koordination, abgehandelt werden könnten (loc. cit.:297). LANG ( 1 9 7 7 : 3 2 f . ) versteht seine Theorie der koordinativen Verknüpfung allerdings als ersten Baustein einer möglichen Texttheorie. Und er betont die Bedeutung des 'kommunikativen Aspekts' für die Koordination, indem er den Begriff der 'Mitteilung* als Rahmen für seine Thesen über die Koordination wählt,
ISENBER3 (1974, Manuskriptabschluß 1972)
entwickelt aus seinem 1968er Be-
griff der "Vertextungstypen" einen Begriff der "konnunikativen Funktion" von Sätzen in Texten, der zum zentralen Begriff seines Entwurfs einer linguistischen Texttheorie (id. 1976) wird. Die Ausgangsfrage für die kcmnunikativen Funktionen formuliert er so: "Welche kommunikativen Handlungen werden mit der Realisierung des Textes vollzogen und worin besteht die einheitliche kommunikative Handlungscharakteristik des Gesamttextes?" ( i b d . : 4 8 )
Auf die ISENBERGsche Konzeption komme ich in § 2.3.0 zurück. Die Frage
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ISENBERSs erweist sich als fruchtbarer Ausgangspunkt für die Untersuchung der Textkonstitution. Mit ihr ninrnt der 'kommunikative Aspekt1 als Handlungseharakter des Textes endlich den ihm gebührenden theoretischen Bang ein. In Westdeutschland war es vor allem S,J. SCHMIDT, der die oben diskutierten Probleme aufgegriffen und in einer Texttheorie thematisiert hat (id. 1973). Er hat auch die Faktoren der Kannunikation, die neben den Kompetenzen der Sprecher-Hörer das Erscheinungsbild der sprachlichen Äußerungen bestimmen, genauer untersucht und in einem Faktorenmodell der Sprechsituation aufeinander bezogen. Ich konnte darauf in § 1.2.2 zurück. In diesem Paragraph soll uns zunächst der SCHMlCTsche Textbegriff interessieren (s. dazu op. cit.:145-50). Er unterscheidet zwischen "Textualitat" als Strukturmerkmal jeder (auch nicht-sprachlicher) Kamunikation und "Texten" als "konkrete(n) Realisierung(en) der Struktur 'Textualitat'". Diese Unterscheidung hat nun gar nichts mehr mit der geläufigen in Kompetenz und Perforroanz zu tun. Beide Aspekte sind in der Konrtunikationssituation, in dem also, was wir Performanz zu nenen gewohnt waren, aufzufinden, beide sind aber auch im Termini von Sprecherkcmpetenzen zu analysieren. Textualitat ist nicht eine apriorische Eigenschaft sprachlicher Objekte, sondern "kann nur im Kontext sozialer Interaktionszusairmenhänge beschrieben werden", SCHMlOTs Textbegriff ist also konsequent an der kommunikativen Funktion der Sprache orientiert. Seine Definition liest sich dann so: "Ein Text ist jeder geäußerte sprachliche Bestandteil in einem kommunikativen Handlungsspiel, der thematisch orientiert ist und eine erkennbare kommunikative Funktion e r f ü l l t , d.h. ein erkennbares Illokutionspotential realisiert. ( . . . ) Werden in einem Kommunikationsakt mittels verschiedener Sußerungsmengen verschiedene unterscheidbare Illokutionsakte realisiert, und lassen sich diese Illokutionsakte hierarchisch in ein kohärentes System einordnen, dann gilt die gesamtefiußerurtgsmenge,die die Illokutionshierarchie vollzieht, als Text..." (on.cit. :15ö)
Diese Definition scheint mir als Ausgangspunkt für textlinguistische Untersuchungen recht brauchbar. Sie enthält implizit ein Forschungsprogramm in Gestalt vieler erläuterungswürdiger Begriffe, deren Explikation m.E. eine Hauptaufgabe der Textlinguistik wäre. Leider findet sich bei SCHMIDT selbst nur wenig zur Inplementierung dieses, zugegebenermaßen ehrgeizigen Programns. Der einzige Begriff aus obiger Definition, den er in einiger Ausführlichkeit erläutert hat, ist der des kariminikativen Handlungsspiels (op. cit., passim). Ansonsten bleiben viele Fragen, die sich aus der SCHMIDTschen Textdefinition ergeben, offen: a) Was bedeutet "thematisch orientiert"? Wie drückt sich thematische Orien-
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tierung in Texten aus? Hierauf werde ich in § 2.3.1 zurückkönnen. b) Vielehe Illokutionspotentiale werden in Texten wie realisiert? Mit Hilfe meines Begriffs der Funktion-im-Text werde ich die Vielfalt möglicher Illokutionspotentiale aufzeigen und begründen (§2.3). c) Die Begriffe 'erkennbar1 und 'unterscheidbar' werfen die Frage auf: wie sind Illokutionspotentiale erkennbar und unterscheidbar? Dies versuche ich in Kap. 3 an Beispielen zu zeigen. d) Inwiefern sind Illokutionsakte "hierarchisch in ein kohärentes System" eingeordnet? Auch das wird anhand des in Kap. 3 vorgestellten Textanalyseverfahrens deutlicher werden.
1.2
Sprechakttheorie und Pragmalinguistik: 2um Handlungscharakter von Sprache
In Abschnitt 1.1 habe ich einen überblick über die Probleme gegeben, die der wissenschaftlichen Erfassung der Textualität von Sprache sich stellen. Als wichtigstes Ergebnis kann ich festhalten, daß Textualität keine Eigenschaft ist, die eindeutig an Kriterien festgemacht werden kann, sondern nur aufwe-isbar ist an wechselnden Merkmalskonfigurationen, die ihren gemeinsamen Nenner erst unter dem Gesichtspunkt des kcmnunikativen Handelns finden. Zum Begriff des Handelns und zu seinem wissenschaftstheoretischen Hintergrund will ich zunächst einige Vorüberlegungen anstellen,
1.2.0 Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen
o
Schon im Abschnitt 1.1 habe ich deutlich gemacht, von welchem Sprachverständnis ich ausgehe. Sprache ist zwar System und Struktur, aber ein adäquater wissenschaftlicher Zugang zu diesem System und dieser Struktur ist nur möglich Die hier vertretenen Thesen erheben keinen Anspruch auf besondere Originalität. Ich muß aber darauf verzichten, sie im einzelnen durch Literaturhinweise zu untermauern, da sie nicht so sehr das Ergebnis systematischen Studiums sind als vielmehr das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses, der sich in jahrelanger Erfahrung und Lektüre, in Seminaren und informellen Diskussionen vollzog. Ich beschränke mich darauf, hier und da einige 'Kronzeugen' anzurufen; sie sind aber bei weitem nicht die einzigen oder wichtigsten Quellen meiner Positionen. Eine Zusammenfassung der wissenschaftstheoretischen Problematik der Linguistik am Beispiel der TG findet sich bei APEL (1974:bes, 90-113}, Eine ausgezeichnete problemgeschichtliche Aufarbeitung der in diesem § 1.2 angerissenen Fragen liefert STIERLE 198Q, wenn auch mit literaturtheoretischem Erkenntnisinteresse.
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über den Gesamtkontext menschlichen Handelns (vgl. SCHMIDT 1973:39; ., & 1978:1-5). Dies heißt nicht, daß Sprechen auf Handeln oder Handeln auf Sprechen sich reduziert. Beide stehen logisch und historisch in einer konplexen Wechselbeziehung, zu der ich unten (S. 17f) einige Thesen wagen werde. Ich verstehe die Linguistik als eine Sozialwissenschaft. Ein solches Verständnis hat weitreichende methodologische Konsequenzen. Die Gegenstände der Linguistik sind "Kulturobjekte, die in der Praxis menschlichen Lebens geschaffen wurden" (UNGEHEUER (1972) 1974:22) und von denen der Forscher sich nicht lostrennen kann, als seien es Felsbrocken oder Bäume. Wer über Sprache reflektiert, reflektiert inner auch schon über sich selbst. Subjektivität geht also in linguistische, wie in jede sozialwissenschaftliche Forschung, ininer mit ein. Das methodologische Problem ist nicht, wie man Subjektivität ausschalten kann, sondern wie man sie kontrolliert in die Forschungsstrategie einbeziehen kann. Bemühen um Objektivität', das sich über diese Probleme nicht im klaren ist, schlägt oft in extremsten Subjektivismus um, indem nämlich die subjektive Sicht eines Forschers für die Objektive Wirklichkeit' ausgegeben wird. Besser als ein Wegleugnen von Subjektivität, die durch die Hintertür dann doch wieder hereinkamt, ist die genaue Bewußtmachung der Voraussetzungen, die in die Analyse eingehen (UNGEHEUER 1974:17-19). Für den komtunikativ orientierten Linguisten bedeutet dies, daß er sein methodologisches Prinzip der Berücksichtigung des Gesamtkontexts von Äußerungen auch reflexiv, auf sich selbst anwenden muß: er muß auch den Kontext, in den er seine Äußerungen gestellt sehen will, genau explizieren. Reflexivität ist es auch, die den Linguisten anderen Sozialwissenschaftlern unterscheidet. Soziologen bzw. Psychologen untersuchen z.B. Interaktionszusarrrnenhänge bzw. individuelle Einstellungen. Auch sie sind selbst Teil ihres Untersuchungsobjekts, insofern als sie selbst in Interaktionszusartmenhängen stecken bzw. bestiumte Individuelle Einstellungen haben. Aber ihre spezifische Einstellung als Sozialwissenschaftler besteht nicht darin, Hafl sie sich auf. ihr Untersuchungsobjekt durch Interaktion beziehen, bzw. daß sie ihre individuelle Einstellung zu einer Frage ändern, sondern darin, daß sie ihre Erkenntnisse verbal weitervermitteln. Der Linguist äußert sich verbal über verbale Äußerungen. Dies bedingt größere methodische Schwierigkeiten, als wir alle ahnen (UNGEHEUER, loc. cit.: 18). Wenn ich zum Beispiel über das Bedeutungsproblem mich äußere, so unter-
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liegen meine Äußerungen doch selbst wieder diesen Problem. Diesem Zirkel kann der Linguist nicht entrinnen. Die Trennung in Objektsprache und Metasprache, zur Lösung bestiimvter logischer Probleme sicherlich notwendig, bietet hier auch keinen Ausweg. Denn jede Metasprache, sei sie ontologisch noch so sparsam und im logisch-semantischen Aufbau noch so streng kontrolliert, unterliegt dem gleichen Problem, und zwar prinzipiell und nicht zufällig. Denn das Problem rührt ja daher, daß ich über Sprache nur sprachlich mich verständigen kann, und nicht daher, daß die verfügbaren Metasprachen unzulänglich seien. Wenn ich Linguistik den Sozialwissenschaften zurechne und als methodologische Forderung aufstelle, daß der Forscher seine eigenen Voraussetzungen selbst mit untersuchen und explizieren muß, weil sie so oder so in seine Forschung eingehen, so bedeutet und erfordert dies auch ein Bekenntnis zu einer bestimmten Art von Sosialwissenschaft. Es ist dies nicht unbedingt eine bestimmte Schule, aber eine grundsätzliche Einstellung gegenüber sozialen Phänomenen, die von mehreren, jedoch nicht von allen, sozialwissenschaftq liehen Lehrmeinungen geteilt werden« Als Kriterium für diese Grundeinstellung gilt mix ein emphatischer Handlungsbegriff, der sich auch in der Methode niederschlägt: ein Handlungsbegriff nämlich, der Handeln von Verhalten abhebt, und berücksichtigt, daß sich die Individuen mit ihren Handlungen immer schon auf soziale Situationen beziehen und diese zu verändern trachten, also ihnen nicht in einem kausal zu beschreibenden Beiz-Reaktionsschema ausgeliefert sind. In der Methode ist dies in der Weise zu berücksichtigen, daß die Trennung von Forscher und Forschungsobjekt nicht aufrecht zu erhalten ist. indem der Forscher eine soziale Situation erforscht, bezieht er sich schon handelnd auf dieselbe und wird ein Teil von ihr, ob er will oder nicht. Versucht er den Handlungsbezug auf sein Forschungsobjekt zu verhindern (wie die meisten 'behavioristischen' Sozialwissenschaftler}, dann kann er in der zu untersuchenden Situation auch kein Handeln entdecken, weil er selbst mit seinem Handeln draußen bleibt. Er sieht die Handelnden in der sozialen Situation lediglich "sich verhalten", die Bedeutung des "Verhaltens", das nämlich, was die Handlung ausmacht, erschließt sich ihm nicht.
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Als Beispiele seien genannt: die SCHÜTZsche Rezeption des WEBERschen Handlungsbegriffs {SCHÜTZ (1932) 1 9 7 4 : 7 4 f f . ) , der symbolische Interaktionismus (s. dazu ARBEITSGRUPPE 1973), sowie die in LEIST 1975 repräsentierten marxistischen Ansätze.
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Handeln ist also sinnvolles, d.h. geplantes und zielgerichtetes "Verhalten". Die Epitheta 'geplant' und 'zielgerichtet' bezeichnen die Einbindung der Handlung in die soziale Situation genauer: Planung interpretiert die gegebene Situation und vergleicht sie mit den eigenen Interessen. Zielgerichtetheit trachtet die Situation im Sinne der eigenen Interessen zu verändern bzw. eine Veränderung, die diesen Interessen zuwiderläuft, zu verhindern. Beides will ich im folgenden der Einfachheit halber unter 'eine Situation verändern' zusammenfassen, denn auch die Verhinderung einer Veränderung kann als Veränderung interpretiert werden. Planung ist notwendig, weil "das menschliche Individuum einer Welt gegenübersteht, die es, will es handeln, interpretieren muß...Es kann den Aufbau seiner Handlung sehr schlecht durchführen, aber es muß ihn durchführen." (BLUMER 1973:54f.) Zielgerichtetheit ist notwendig, um die Verwirklichung des Plans in jedem Handlungsstadium zu kontrollieren und ihn ggf. zu modifizieren. Auch dies kann natürlich den Individuen mehr oder weniger gut gelingen; daß sie es tun, dürfte kaum zu bestreiten sein. Letztlich bedeutet dies, daß der Anspruch auf wissenschaftliche Erklärung von Äußerungen in einer bestimmten Situation - in jedem gelaäuf igen Sinn von 'wissenschaftlicher Erklärung' (s. GRZYB 1974:1Off.) - aufgegeben wird.10 Stattdessen sollte der Linguist versuchen zu rekonstruieren, wie ein Verständnis dieser Äußerung zustande kamen konnte. Dieses Verständnis kann aber nur zustande konmeri, wenn die Probleme verstanden wurden, auf die die Äußerung eine Antwort sein sollte, kurz, wenn ihre Funktion verstanden wurde. Damit hat man auch verstanden, wie die Äußerung selbst zustande kam. Wissenschaftliches Verstehen ist in seinen Strategien nicht wesentlich verschieden vom Alltagsverstehen (MATTHES/SCHÜTZE 1973:49f.). Beide kotroen in einem Interpretationsprozeß zustande, und zwar nur dann, wenn der Verstehende an der Situation teilniimtt. 1.2.1 Sprechen als soziales Handeln - Fünf Thesen Genäß meinen Vorüberlegungen zum Verhältnis von Linguistik und Sozialwissen-
1O vgl, LUHMANN 197O:16: "Selbstverständlich 'erklären 1 die Bezugsprobleme darum auch nicht das faktische Vorkommen bestimmter funktionaler Leistungen." Zu LUHMANN s.a. § 2.3.O.
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Schäften kann ich nun folgende Thesen zum Verhältnis van Sprechen und Handeln aufstellen: 1 Es scheint analytisch zweckmäßig, zwei Arten von Handeln zu unterscheiden: symbolisches und mater ielles . Symbolisches Handeln ist Handeln, das Situationen durch Mitteilungen verändert, und das nur gelingt, wenn die Hitteilung verstanden wird. Materielles Handeln verändert Situationen unmittelbar, ohne 1 über eine Mitteilung. Z.B. ist die Aufforderung: "Mach daß du raus kommst" eine symbolische Handlung; ein physischer Hinauswurf dawecren eine materielle Handlung, wo zum Gelingen nicht nötig ist, daß der Hinauszuwerfende die Intention des Handelnden versteht, ^ 2
Auf dieser Grundlage ist evident, daß jedes Sprechen in kommunikativer Absicht eine Form von symbolischem Handeln ist. Sprechen, das nicht planvoll und zielgerichtet ist (z. B, mechanisches Aufsagen von Auswendiggelerntem), würden wir zögern, überhaupt 'Sprechen' zu nennen, ich würde hier von 'Sprechverhalten' reden. 2 Symbolisches und materielles Handeln gehören wesentlich zusanmen. Das menschliche Zusammenleben kann dadurch charakterisiert werden, daß es einerseuts wesentlich sprachlich vermittelt ist, andererseits aber die sprachliche Vermittlung logisch sekundär ist gegenüber der Vermittlung der Individuen über die gesellschaftliche Produktion und Distribution, Ohne symbolische, und das heißt in der Hauptsache: sprachliche Vermittlung kann jedoch von Planung und Ziel und damit von Handeln nicht mehr die Rede sein. Ohne materielles Handeln wiederum könnten sich die symbolisch vermittelten Pläne und Zielsetzungen nicht in die Wirklichkeit umsetzen; wir wären eine Gesellschaft von Schwätzern, die bald verhungern müsste. Hier liegt die Wurzel des Primats des materiellen Handelns. 3 Sprechen ist nicht einfach eine Form von Handeln; vielmehr kann eine Vielzahl von symbolischen Handlungen durch Sprechen vollzogen werden, darunter so relativ belanglose Dinge wie 'grüßen' oder 'gratulieren' und so schwerwiegende 11 Ich verzichte hier darauf, detailliert auf die Arbeiten zur Sprechakttheorie einzugehen. Genannt seien AUSTIN 1962; GRICE 1975; SEARLE 1969; WUNDERLICH 1972; 1976. Sprechakttheorie und Pragmalinguistik im allgemeinen geben den Hintergrund ab, aus dem die folgenden Thesen entnommen sind; jedoch kann es hier nicht darum gehen, die Entwicklung dieser Thesen durch Zitate und Quellenangaben im einzelnen zu dokumentieren. 12 Ich habe dieses Beispiel von MAAS (1972:197) übernommen, obwohl es hier MAAS zur Illustration eines anderen Unterschieds dient; es eignet sich aber auch gut für meinen Zweck.
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wie 'zu einer Strafe verurteilen1. Die Art der Handlung, die durch eine Äußerung in einer bestimmten Situation als vollzogen gilt, nennen wir seit AUSTIN (1962) ihre illokuti-ve Rolle* 4 Sprechhandeln ist nur verstehbar im Rahmen kornrunikativer Handlungsspiele (SCHMIDT 1973), und diese sind es, die eine Vermittlung leisten, über die der Sprechakt eine Funktion im gesellschaftlichen Prozeß erhält. Dies erst berechtigt uns, dem Begriff 'Handeln1 das oft mißbrauchte Epitheton 'sozial1 hinzuzufügen, 5 Unser ganzer Alltag ist von Konventionen durchzogen, die die irritier wieder nötig werdende Lösung des Koordinationsproblems Verständigung regulieren, symbolisches und materielles Handeln miteinander verzahnen und z.T. letzteres in ersteres umdeuten. Sie bestimmen, was in welcher Situation als welcher Sprechakt zu gelten hat, welche sozialen Voraussetzungen und Folgen bestimmte Sprechhandlungen haben, uvm. Sie sind Instanzen, auf die man sich bei Kcrrntunikationsstörungen beruft. Die logischen Zusammenhänge von Sprechen und Handeln sind in älteren Kulturen auch historisch gegenwärtiger als bei uns, MALINOWSKI (1923), der die Sprache der Trobriander in der Südsee untersucht hat, kam zu dem Ergebnis, daß sie derart situations- und handlungsgebunden ist, daß man kaum von einer Bedeutung sprachlicher Aasdrücke in unserem Sinne sprechen kann: zum Verstehen der benutzten Ausdrücke ist eine detaillierte Kenntnis der jeweiligen Situation in ihrer Bedeutung für die betreffende Kultur erforderlich. Die klassische Antike war sich der Tatsache bewußt, daß mit Worten Handlungen vollzogen werden (s. PLATCN, Kratylos, 387b:8f.). Die Skala der Institutionalisierungen dieses Verhältnisses reicht von magischen und rituellen Formeln bis zur wissenschaftlichen Rhetorik. ARISTOTELES1 Rhetorik könnte geradezu den Titel von Austins Vferk "How to do things with words" tragen! Je stärker eine Kultur jedoch von schriftlicher Kannunikation geprägt ist (die Antike war es längst nicht in dem Maße wie die unsere!) t desto mehr kann das Bewußtsein der Zusammenhänge von Sprache und Handeln verloren gehen, kann auch der Zusammenhang selbst partiell sich lockern, "kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen." (MARX/ENGELS, Deutsche Ideologie, MEW 3,31}
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1.2.2
Kontext und Presupposition
Der Begriff des ' kcmnunikativen Handlungsspiels1 gut bei SCHMIDT den Rahmen ab, in dort Snrechhandlungen wissenschaftlich verstanden werden können. Die Explikation dieses Begriffs (SCHMIDT 1973:124) ist eine der detailliertesten Ausarbeitungen früherer Kontextbegriffe irn Rahmen eines pragmalinguistischen Ansatzes. Ich will versuchen, das SCHMIDT'sehe Faktorenmodell auf ein Modell des Kontexts zu beziehen, das ich in MEYER 1975:1f. skizzierte. Schmidt bringt folgende Faktoren miteinander in Zusammenhang: 13" Kommunikationsakte: Textäußerungen - Manifestationsformen Illokutionspotentiale K.partner: - Komm. Kompetenz - Lexikon, Grammatik Illokutionsregeln Komplexe Voraussetzungssituation, Teilmenge daraus: Situationspräsuppositionen K.situation: Zeit, Ort, Umstände, kopräsente Objekte, Partnerreaktionen, Perlokutionseffekte, konkomitierende Handlungen, suprasegmentale Paktoren
Um nun mein Kontexbmodell in Termini des katraunikativen Handlungsspiels zu interpretieren, ist es nötig, zunächst auf den SCHMIDT'sehen Begriff der konolexen Voraussetzungssituatipn (KVS) einzugehen. Nach SCHMIErr (1973:1O4) enthält die KVS "alle spezifischen Bedingungen, Beschränkungen und Bestirrmungen, unter denen Komiunikationspartner in Kcnminikationsprozessen· stehen." Aus diesem Repertoire wählen die Kommunikationspartner bestimmte Elemente aus, die sie in ihren Kcmnunikationsakten aktualisieren, indem sie sie als Situationspräsuppositionen der jeweiligen Kotrnunlkationssituation zugrundelegen. SCHMICiF sieht nun offenbar einen umgekehrt proportionalen Zusammenhang zwi