225 97 5MB
German Pages 184 [188] Year 2000
Linguistische Arbeiten
413
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese
Monika Schwarz
Indirekte Anaphern in Texten Studien zur domänengebundenen Referenz und Kohärenz im Deutschen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Meiner
Mutter
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schwarz, Monika: Indirekte Anaphern in Texten: Studien zur domänengebundenen Referenz und Kohärenz im Deutschen / Monika Schwarz. - Tübingen : Niemeyer, 2000 (Linguistische Arbeiten; 413) Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-484-30413-8
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhalt
Vorwort 0. Einleitung
ix ]
0.1 Zum Thema
1
0.2 Aufbau der Arbeit
2
1. Stand der Forschung
5
1.0 Vorbemerkungen
5
1.1 Indirekte Anaphern in der Textlinguistik
5
1.2 Indirekte Anaphern und Determinationssemantik
7
1.3 Psycholinguistische und psychologische Untersuchungen
10
1.4 Dynamische Semantik und Diskursrepräsentationen
12
1.5 Pragmatische Untersuchungen
14
1.6 Kognitive Grammatik und indirekte Anaphern
16
1.7 Fazit: Offene Fragen und ungelöste Probleme
17
2. Kohärenz, Textverstehen und domänengebundene Referentialisierung
19
2.0 Vorbemerkungen
19
2.1 Textverstehen als kognitiver Prozeß: Theoretische Grundannahmen
20
2.2 Referentialität und Referentialisierung
22
2.3 Textkohärenz und Koreferenz
25
2.4 Repräsentationale Voraussetzungen des Textverstehens 2.4.0 Vorbemerkungen 2.4.1 Semantische Lexikoneinträge 2.4.2 Weltwissen und konzeptuelle Schemata 2.4.3 Kognitive Domänen: Bedeutungen und ihr konzeptueller Skopus
31 31 31 33 37
2.5 Referentialisierung und die Konstruktion mentaler Modelle 2.5.1 Mentale Sachverhaltsrepräsentationen als Referentialisierungsstrukturen 2.5.2 Erreichbarkeit und Integration von Referenten im Textweltmodell
39 39 43
2.6 Referentialisierung und Anapherninterpretation: ein Rahmenmodell
45
3. Indirekte Anaphern als textuelles Referenzphänomen
48
3.0 Vorbemerkung
48
3.1 Indirekte Anaphern: Terminus und Definition
48
3.2 Direkte Anaphern 3.2.1 Zur Anapherndefinition 3.2.2 Anaphorik und Koreferenz 3.2.3 Zum Verhältnis zwischen Anapher und Antezedent
51 51 53 57
vi
3.2.4 Anaphern als Kontinuitätssignale 3.2.5 Fazit 3.3 Indirekte Anaphern: Aktivierungs- und Reaktivierungsprozesse 3.3.1 Zur Anaphorik indirekter Anaphern 3.3.2 Kurzer Exkurs: Indefinite NPs als indirekte Anaphern? 3.3.3 Zur Einführung von Referenten: Aktivierungsprozesse im Textweltmodell 3.3.3.1 Bedingungen für Referenteneinführung 3.3.3.2 Typen der Referenteneinfuhrung 3.3.4 Indirekte Anaphern: Domänengebundene Aktivierung im Textweltmodell 3.3.5 Zur Rolle der Anker: Indirekte Anaphern und domänengebundene Re-Aktivierung im Textweltmodell 4. Indirekte Anaphorik als ein Typ der referentiellen Unterspezifikation
62 64 65 65 67 68 68 70 72 74 78
4.0 Vorbemerkungen
78
4.1 Neubewertung des Phänomens der indirekten Anaphorik 4.2 Referentielle Unterspezifikation und kognitive Präzisierung im Textweltmodell 4.3 Typen referentieller Unterspezifikation
78
4.4 Textsemantik und kognitive Strategien: Zur Systematik der Elaboration 4.4.0 Vorbemerkungen 4.4.1 Eingrenzung und Spezifizierung des Inferenzbegriffs 4.4.2 Verankerung und kognitive Strategien 4.5 Indirekte Anaphern und thematische Progression: rhematische Thematisierungen 5. Typen indirekter Anaphern: Zu einer Klassifikation 5.0 Vorbemerkungen 5.1 Verankerung durch semantische Rollenzuweisung 5.1.0 Vorbemerkungen 5.1.1 Verankerung durch verbsemantische Rollen 5.1.2 Rollenzuweisung durch konzeptuelles Wissen 5.2 Verankerung durch nominalsemantische Relationen: Meronymie-basierte Typen
80 84 88 88 88 90 91 98 98 99 99 99 101 104
5.3 Schema-basierte Typen
111
5.4 Inferenz-basierte Typen
114
5.5 Fazit: Zu einem anaphorischen Kontinuum
117
5.6 Kurze Erörterung von Sonderfällen 5.6.1 Pronomina als indirekte Anaphern 5.6.2 Abstrakte Referenten, Demonstrativa und Komplexanaphern
122 122 129
6. Zu einem einheitlichen Interpretationsmodell für direkte und indirekte Anaphern 6.0 Vorbemerkungen
133 133
vii 6.1
Die Interpretation indirekter Anaphern
133
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4
133 134 136
Zur Unzulänglichkeit von Assoziation und Akkomodation Verankerung: kognitive Strategien Zur Problematik der Aktivitätsannahme Zur Relevanz der Aufmerksamkeitsverteilung: Zur Fokussierung indirekter Anaphern und Semi-Aktivierung kognitiver Domänen
137
6.2 Textstrukturelle Bedingungen für die Verfügbarkeit kognitiver Domänen
139
6.3
143
6.4
Die Interpretation direkter Anaphern 6.3.1 Textgrammatische Faktoren und die Relevanz der konzeptuellen Ebene 6.3.2 Zur Erweiterung des Such- und Vergleichsmodells: Kognitive Konstruktivität bei direkten Anaphern
146
Fazit: Zu einem einheitlichen Modell
156
143
7.
Schlußbemerkungen: Zusammenfassung und Ausblick
159
8.
Literatur
163
9.
Quellenverzeichnis
175
Vorwort
Die vorliegende Arbeit stellt meine füir die Drucklegung geringfügig überarbeitete Habilitationsschrift dar, die im Sommersemester 1998 von der philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen worde. Die DFG ermöglichte mir durch ein Habilitationsstipendium die konzentrierte Abfassung. Für wertvolle Kommentare und Anmerkungen mündlicher wie auch schriftlicher Art danke ich Anita Steube, Christine Römer, Manfred Consten, Dietrich Busse, Jürgen Lenerz und Heinz Vater. Wichtige und interessante Hinweise zu einzelnen Problembereichen erhielt ich in den anregenden Gesprächen mit Maria-Elisabeth Conte, Kari Fraurud, Simon Garrod, Kicki Hellmann, Sebastian Löbner und Yael Ziv. Heidrun Kessler hat mir mit Hinweisen zur Erstellung der Druckformatvorlage geholfen; Manfred Consten hat den Fußnoten und dem Inhaltsverzeichnis den letzten Schliff gegeben. Meine Schwester Marie-Luise hat meine lamentierenden Kommentare in der Endphase des Schreibens mit viel Geduld und Nachsicht am Telefon ertragen. Vor allem aber danke ich Sigi, der mich stets ermuntert und mit unnachahmlicher Chuzpe immer wieder zum Lachen gebracht hat.
Jena/Köln/Jerusalem, Sommer 1999
0.
Einleitung
0.1
Z u m Thema
Thema dieser Arbeit ist das textuelle Phänomen der indirekten Anaphern. Indirekte Anaphern sind definite Nominalphrasen (NPs), die keinen expliziten Antezedens-Ausdruck im Text haben und dabei weder in kataphorischer noch in deiktischer Funktion benutzt werden. Diskutiert worden sind in der bisherigen Forschung insbesondere Fälle wie (1) und (2), in denen die indirekten Anaphern Bestandteile der im vorherigen Satz eingeführten Referenten bezeichnen: (1) (2)
Ich habe mir ein Buch gekauft. Der Umschlag hat einen dicken Fleck. Meine Uhr ist kaputt. Die Batterie ist ausgelaufen.
Generell wird eine definite NP zum Referieren benutzt, wenn der Referent für den Rezipienten im Text/Diskurs bekannt und identifizierbar oder zumindest lokalisierbar ist. Von der Semantik des Ausdrucks her ist der Referent der indirekten Anapher also als lokalisierbar und/oder identifizierbar markiert und signalisiert dem Rezipienten direkte Zugänglichkeit im Textweltmodell. Eine explizite Repräsentationseinheit für den Referenten gibt es aber in der Textstruktur nicht. Es stellt sich folglich die Frage, nach welchen Prinzipien die Interpretation indirekter Anaphern verläuft. Diese Frage ist jedoch bislang in der Forschung noch nicht adäquat beantwortet worden. In den letzten Jahren hat das Phänomen der indirekten Anaphorik in den unterschiedlichen Disziplinen der Linguistik und der Kognitionswissenschaft allerdings schon einige Beachtung gefunden: in der Sprachpsychologie und Psycholinguistik unter der Bezeichnung "Bridging", in der dynamischen Semantik als Phänomen der "Akkommodation", in der Determinationssemantik und Textlinguistik als "assoziative Anaphorik" oder "Kontiguitätsanaphorik". Bis jetzt ist aber noch nicht der Versuch unternommen worden, eine umfassendere Analyse dieses komplexen Phänomens vorzunehmen. Eine Monographie zu dem Thema gibt es meines Wissens nicht. Eine umfassende, tiefergehende und systematische Behandlung des Problembereichs steht also noch aus. Die bisherigen Untersuchungen enthalten zwar treffende Beobachtungen und haben schon für einzelne Typen brauchbare Ergebnisse vorzuweisen, werden aber der semantischen und konzeptuellen Komplexität dieses Phänomens insgesamt nicht gerecht. Die meisten Untersuchungen gehen nur auf einen speziellen Typ (die Teil-GanzesAnaphern) ein (vgl. Hawkins 1978, DuBois 1980, Heim 1991, Löbner 1996). Dies ist auch der bisher am meisten beachtete Bereich der indirekten Anaphorik. Andere Analysen zielen nur auf die Erfassung eines bestimmten Aspekts des Phänomens ab (z.B. Erkü/Gundel 1987, die pragmatische Aspekte der Informationsstrukturierung betrachten oder Cornish 1996, der situationsabhängige Anaphern ohne Antezedenten erörtert) oder bleiben zu sehr einer bestimmten Perspektive (vgl. Takahashi 1995, der im Rahmen der kognitiven Grammatik arbeitet) verhaftet. Pragmatisch und prozedural ausgerichtete Untersuchungen berück-
2
sichtigen zu wenig die Rolle der textsemantischen Ebene. In textlinguistischen Abhandlungen beschränkt sich die Analyse zumeist auf einige Beispielnennungen und die Feststellung, daß es sich dabei um weltwissensabhängige Referenz handelt Die Arbeiten, die über die deskriptive Beispielanalyse hinausgehen, fuhren die Verwendung und Interpretation indirekter Anaphern entweder auf Assoziation oder auf Akkommodation zurück. Ich werde jedoch zeigen, daß beide Erklärungsansätze dem Phänomen nicht gerecht werden. Die bisherigen Darstellungen zur Semantik und Pragmatik referentieller NPs in Texten beruhen auf der Annahme, daß anaphorische NPs Referenten bezeichnen, die vorher bereits durch einen Antezedens-Ausdruck eingeführt wurden. Charakteristisch für indirekte Anaphern ist aber, daß es im vorherigen Text keinen expliziten Antezedens-Ausdruck gibt, sondern stattdessen ein Bezugselement (z.T. eine komplexe Struktur), einen "Anker", der entscheidend für die Interpretation der indirekten Anapher ist. Es stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem zu erklären, wie die Verbindung zwischen Anker und Anapher bei der Textverarbeitung hergestellt und die Sequenz für den Rezipienten somit kohärent wird. Ein wichtiges Ziel der Arbeit ist es auch zu zeigen, daß es eine Reihe von verschiedenen Typen indirekter Anaphern gibt, daß sich diese verschiedenen Typen jedoch einheitlich als domänengebundene Referenz (d.h. als eine Verweisform, die abhängig von der Existenz von im Vortext aktivierten Wissensdomänen ist) erklären lassen. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Problem zu erörtern: Läßt sich bei der Vielfalt und Heterogenität der indirekten Anaphern der Prozeß ihrer Verarbeitung einheitlich in einem Textverstehensmodell beschreiben? Es wird in dieser Arbeit dafür argumentiert, daß die Semantik der indirekten Anaphern nicht anders als die Semantik der direkten Anaphern ist. Sie signalisieren dem Rezipienten Auffindbarkeit der Referenten. Die Unterscheidungen liegen vielmehr in der kognitiven Prozessualität bei der Referentialisierung begründet. Ich werde hierbei zeigen, daß bei der Modellierung der Interpretation zwischen direkten und indirekten Anaphern oft keine strikte Grenze zu ziehen ist und für ein einheitliches Interpretationsmodell argumentieren.
0.2
Aufbau der Arbeit
Im Zentrum meiner Arbeit stehen die folgenden Fragen: Was sind indirekte Anaphern? Welche Typen lassen sich unterscheiden? Wie sind sie von direkten Anaphern abzugrenzen? Welchen Restriktionen unterliegt ihre Verarbeitung? Wie lassen sie sich im Rahmen einer linguistischen Texttheorie beschreiben und erklären? Dabei werde ich folgendermaßen vorgehen: Ich werde im ersten Kapitel einen auf die wesentlichen Aspekte komprimierten Überblick über die wichtigsten Untersuchungen geben, die sich bisher mit indirekten Anaphern beschäftigt haben. Ich werde bei dieser Darstellung zum Stand der Forschung zeigen, daß trotz zahlreicher Einzelstudien viele empirisch und theoretisch relevante Aspekte des Phänomens noch nicht hinreichend berücksichtigt und erklärt worden sind.
3 Im zweiten Kapitel erfolgt dann eine Darlegung des theoretischen Rahmens dieser Arbeit, wobei ich auf allgemeine Grundannahmen zur Kohärenz, Textreferenz und Anaphorik eingehen werde. Ich werde ein Rahmenmodell für die Behandlung von textueller Referenz vorschlagen, das den Anforderungen an eine kognitive Anaphemtheorie gerecht wird, da es prozedurale und repräsentationale Annahmen zur Referentialisierung integriert. Im dritten Kapitel werde ich erörtern, inwiefern indirekte Anaphern überhaupt zum Phänomenbereich der Anaphorik gehören und für eine weite Anapherndefinition plädieren. Hierfür ist eine eingehende Behandlung der direkten Anaphern unumgänglich. Dabei geht es mir insbesondere um die Erörterung von unterscheidenden und überschneidenden Charakteristika. In deskriptiver Weise werde ich dann indirekte Anaphern gegen andere Formen der Textreferenz (deiktische, enzyklopädische und episodische Referenz, textuelle Kataphora etc.) abgrenzen und zeigen, daß die Verwendung und Interpretation indirekter Anaphern abhängig von im Vortext genannten Bezugsausdrücken, sogenannten Ankern, ist Es lassen sich verschiedene Arten von Ankern in der Textstruktur identifizieren: Anker kann eine NP, eine VP, ein ganzer Satz oder auch mehrere Sätze sein. Es folgt eine Erörterung der kohärenzstiftenden Funktion indirekter Anaphern, die darstellen wird, daß indirekte Anaphern zwei textuelle Referenzfunktionen haben. Sie fuhren einerseits neue Referenten ein und signalisieren andererseits die Weiterführung der bereits aktivierten Referenzdomäne, verbinden also rhematische und thematische Aspekte bei der thematischen Progression. Indirekte Anaphern stellen somit eine Herausforderung für die klassische Thema-Rhema-Analyse in der Textlinguistik dar. Im vierten Kapitel geht es um den Status der indirekten Anaphorik als textuelles Phänomen. Ich werde dafür argumentieren, daß indirekte Anaphern nicht (wie in der bisherigen Forschung) als ein textreferentieller Sonderfall oder als Resultat der Verletzung textsemantischer Regeln, sondern als ein systematisch auftretender und sehr produktiver Typ der Textreferenz zu betrachten ist. Indirekte Anaphern stellen eine Form der in Texten systematisch auftretenden referentiellen Unterspezifikation dar. Diese ergibt sich aus der Produzent-Rezipient-Interaktion - also der wechselseitigen Antizipation und Koordination von Wissen - bei der Sprachverarbeitung. Indirekte Anaphern werden als "rhematische Thematisierungen" charakterisiert, da sie sowohl zur textuellen Kontinuität als auch zur Progression in Texten beitragen. In Kapitel fünf erörtere ich unterschiedliche Typen von indirekten Anaphern. Daß die Personalreferenz (die auch Referenz auf Objekte und Sachverhalte aller Art umfaßt) im Vordergrund steht, wird vom Untersuchungsgegenstand motiviert, da die Mehrzahl indirekter Anaphern in diesem Bereich zu finden ist. Es wird eine (auf umfangreichen Daten natürlich-sprachiger Texte basierende) Klassifikation vorgestellt, die semantische und konzeptuelle Typen danach unterscheidet, in welcher Relation die indirekte Anapher zu ihrem textuellen Bezugselement steht und welches Wissen aktiviert werden muss, um diese Relation etablieren zu können. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Verbindung als Ergebnis von Dekompositionsprozeduren der lexikalischen Bedeutung der involvierten Ausdrücke beschrieben werden kann. Bei den semantisch motivierten Anaphern ist dies prinzipiell möglich, nicht aber bei den konzeptuell motivierten Anapherntypen. Hier reicht die lexikalische Bedeutung der involvierten Ausdrücke nicht aus. Die Verbindung muß über konzeptuelle Relationen und/oder kognitive Strategien etabliert werden.
4 Ich werde aber auch zeigen, daß sich eine durchgängig klare Abgrenzung der Typen als schwierig und zum Teil unmöglich erweist. Der vorgestellte Typologieversuch führt letztendlich zu einem "anaphorischen Kontinuum". Anaphemverstehen präsentiert sich in vielen Fällen nicht (wie bisher weitgehend angenommen) als Such- und Vergleichsprozeß, sondern vielmehr als Interpretationsprozeß, der je nach Anapher-Antezedent-Relation bzw. Anker-indirekte-Anapher-Relation unterschiedliche kognitive Strategien (z.B. Subsumtion, Summation, konzeptuelle Verschiebung, Inferenz) erfordert. Direkte und indirekte Anaphern erweisen sich als definite Formen der kohärenzetablierenden Textreferenz, die nicht semantisch, sondern referentiell zu unterscheiden sind. Im sechsten Kapitel wird deshalb dafür argumentiert, daß die Verarbeitung direkter und indirekter Anaphern (die bislang durch ganz unterschiedliche Prozesse beschrieben wurde) einheitlich in einem Modell erklärt werden kann. Die hier vorgelegte Analyse der indirekten Anaphern kann somit einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Anaphorik allgemein leisten und tiefere Einblicke in das Phänomen der Textkohärenz liefern.
1.
Stand der Forschung
1.0
Vorbemerkungen
Das Phänomen der indirekten Anaphorik umfaßt einen weiten Bereich der Textreferenz Bisher sind aber immer nur einzelne Aspekte und Typen (vor allem die auf Meronymie basierenden indirekten Anaphern) untersucht worden. In der linguistischen Forschung sind Typen indirekter Anaphern in zwei Bereichen berücksichtigt worden: im Rahmen allgemeiner Artikel- bzw. Determinationstheorien (s. u.a. Christophersen 1939, Vater 19792. Hawkins 1978, Heim 1982, Bisle-Müller 1991, Löbner 1996) und in der Textlinguistik (s. u.a. Isenberg 1971, Halliday/Hasan 1976, Pause 1988, Vater 19962). Aus prozeduraler Perspektive sind in der Psycholinguistik und Sprachpsychologie indirekte Anaphern in Modellen zur Sprach- und Anaphernverarbeitung untersucht worden. Auf einige der wichtigsten Arbeiten aus diesen Bereichen werde ich im folgenden eingehen. Dieses Kapitel soll keinen historischen Überblick und erschöpfenden Forschungsbericht liefern. Vielmehr geht es mir um die Darlegung deijenigen Grundannahmen und Beobachtungen, welche die bisherigen Untersuchungen wesentlich bestimmt haben und als exemplarisch für den Stand der Forschung betrachtet werden können. Auf einzelne Detailstudien und Forschungsergebnisse werde ich bei der Erörterung der jeweiligen Problematik in den entsprechenden Kapiteln eingehen.
1.1
Indirekte Anaphern in der Textlinguistik
Eine der ersten textorientierten Detailuntersuchungen zu indirekten Anaphern stammt von Isenberg (1971). In seinen "Überlegungen zur Texttheorie" behandelt Isenberg das Problem der Textreferenz, wobei er zwischen impliziter und expliziter Referenz unterscheidet (vgl. auch bereits Harweg (1968:184f), der von "Kontiguitätssubstituenda"1 spricht). Er diskutiert das Phänomen der impliziten Referenz anhand der folgenden Beispiele: (1) (2)
Gestern fand eine Hochzeit statt. Die Braut trug dabei ein langes Kleid. Peter hat mich naßgespritzt. Die Flüssigkeit lief mir vom Körper herab.
Hochzeit enthält Isenberg zufolge eine explizite Referenz auf das Ereignis Hochzeit und eine implizite Referenz auf Braut (während die Braut wiederum explizit auf eine Person referiert), naßgespritzt eine implizite Referenz auf Flüssigkeit. Die Braut und die Flüssigkeit nehmen
Harweg (1968:184f.) weist im Rahmen seiner strukturalistischen Texttheorie darauf hin, daß anaphorische Beziehungen auch zwischen Ausdrücken bestehen können, die nicht auf denselben Referenten Bezug nehmen. Er nennt Teil-Ganzes-Beziehungen und Kontaktbeziehungen.
6 also Referenzbezüge auf, die implizit bereits vorhanden sind (s. hierzu auch Brinker (19923: 34), der von "impliziter Wiederaufnahme" spricht). Isenberg liefert aber keine nähere Erläuterung oder Erklärung für das "implizite Referenzpotential" in Texten. Isenberg, der sich in seinem Aufsatz dann wieder auf die explizite Referenz konzentriert, weist den Nomina bestimmte Referenzmerkmale zu und verbleibt im Rahmen einer wortsemantischen Erklärung (vgl. hierzu bereits die entsprechende Kritik bei Kallmeyer 1980:202f). Für die Verarbeitung anaphorischer und indirekt-anaphorischer Ausdrücke ist aber nicht nur die Referentialität der Anapher und das Verhältnis zwischen Antezedens und Anapher entscheidend, sondern auch Kontext- und Weltwissen sowie kognitive Strategien (s. hierzu Pkt. 6.3). Nachfolgende textlinguistische Arbeiten haben auf die Unzulänglichkeit von Isenbergs Ansatz hingewiesen und die indirekte Anaphorik als ein wichtiges Referenzphänomen in Texten herausgestellt (vgl. Scherner 1984:192-194, Heinemann/Viehweger 1991:121, Vater 19962:131,134). Es hat aber keine umfassenderen und tiefergehenden Analysen gegeben, die über die allgemeine Festeilung, daß die Verwendung und Interpretation indirekter Anaphern auf eine noch näher zu bestimmende Weise abhängig von semantischem und konzeptuellem Wissen ist, hinausgehen. Zudem sind in der Textlinguistik und Referenzsemantik die indirekten Anaphern bisher eher als sekundäre und nicht paradigmatische Formen der Anaphorik betrachtet worden (vgl. hierzu Fraurud 1992:20, Hellmann 1996:196). Die Aussagen (in der Art "Die Interpretation indirekter Anaphern involviert Weltwissensaktivierung") bleiben entweder viel zu allgemein und damit ohne wirklichen Erklärungswert oder betreffen nur einen bestimmten Typ indirekter Anaphorik (und zwar den als prototypisch erachteten partitiven Typ). In den meisten Fällen handelt es sich lediglich um Beispielnennungen und kurze Anmerkungen (vgl. u.a. Halliday/Hasan 1976:287, Wawrzyniak 1980:100, Van Dijk 1980:51-53, deBeaugrande/Dressler 1981:70, 101-103, Scherner 1984:192-194, Comish 1986:166, Heinemann/Viehweger 1991:119-122, Brinker 19923:34, Vater 1996:131, 134). DuBois' (1980:215) vage Beschreibung der Voraussetzung für die Verwendung indirekter Anaphern ist somit symptomatisch für den Forschungsstand in der Textlinguistik geblieben: "To make a definite reference to an object, it is not necessary for there to be in previous discourse a reference to the object; it is only necessary for the idea of the object to have been evoked in some way".
Es gibt bisher keine umfassende textlinguistische Analyse, die präzise Annahmen zu diesem "to have been evoked in some way" macht. Entsprechend allgemein gehalten sind auch die Aussagen in Abhandlungen über Kohärenzphänomene (vgl. Rickheit 1991, Conte 1986, Charolles 1985:2f.) und in prozeduralen Text- und Diskurstheorien (Brown/Yule 1983:256f., Strohner 1990:212f., Givon 1992:32/33). In allen textorientierten Studien aber wird übereinstimmend die Rolle des gemeinsamen Weltwissens bei der Konstruktion von Kohärenzstrukturen und der Verarbeitimg anaphorischer Elemente hervorgehoben (vgl. hierzu bereits Lang (1977), der mit seiner Konzeption einer "gemeinsamen Einordnungsinstanz" auf die Relevanz übergeordneter Wissenseinheiten und -strukturen für das Erkennen des Textzusammenhangs hingewiesen hat). Pause (1991) beschreibt die indirekten Anaphern in seiner Abhandlung über Anaphern im Text als Kontiguitätsanaphern, die in einer stereotypen Relation zu einem Ausdruck des Vorgängersatzes stehen und somit assoziativ über die Aktivierung dieser Relation erklärbar
7 sind. Er weist zwar daraufhin, daß offensichtlich nicht alle Anaphern dieses Typs auf eine einfache assoziative Beziehung zurückzuführen sind und zum Teil komplexere Inferenzen gezogen werden müssen, geht aber dann nicht näher auf diese Typen ein. Als zentral zu lösendes Problem nennt Pause (1991:549) die Beantwortung der Frage, wie sich eine Anapher im Text auf einen bestimmten Antezedenten bezieht (vgl. hierzu auch Cornish 1986 und 1996 sowie Werth 1994). Somit wurde zwar das Problembewußtsein für dieses Phänomen entwickelt und zum Teil die zu verfolgende Fragestellung formuliert, aber eine tiefergehende Forschungsarbeit wurde bisher nicht vorgelegt und daher auch kein wesentlicher Erkenntnisfortschritt erzielt.
1.2
Indirekte Anaphern und Determinationssemantik
Eine ähnliche Forschungslage wie in der Textlinguistik ist im Bereich der Determinationsemantik anzutreffen, obgleich schon Christophersen (1939) in seiner Abhandlung zu den Artikeln des Englischen auf das Phänomen der indirekten Anapher hinweist und es durch die Konzeption der Vertrautheit ("familiarity") erklären will. "The article the brings it about that to the potential meaning (the idea) of the word is attached a certain association with previously acquired knowledge...This is what is understood by familiarity...yet it is often only indirectly that one is familiar with what is denoted by the word. It may be something else that one is familiar with, but between this "something" and the thing denoted there must be an unambiguous relation. Talking of a certain book, it is perfectly correct to say "The author is unknown"...". (Christopherson 1939:72)
Auch Vater (19792:81) weist bei der Diskussion zur Verwendung des bestimmten Artikels mit dem folgenden Beispiel auf das Phänomen hin: (3)
Es war ein hübsches Dorf. Die Kirche stand auf einer Anhöhe.
und vermutet ebenfalls, daß allgemeines Weltwissen verantwortlich für die Möglichkeit dieser Verwendimg ist. Hawkins (1978, S. 123ff.) behandelt indirekte Anaphern (bei ihm "associative anaphoric use") im Rahmen seiner Lokalisierungstheorie ("Location theory") als eine Verwendungsweise des bestimmten Artikels. Der bestimmte Artikel signalisiert dem Hörer, den Referenten in einer Referenzmenge (die situativ, enzyklopädisch oder diskursabhängig sein kann) zu lokalisieren. Mit dem bestimmten Artikel drückt der Sprecher Inklusivität der Referenz (d.h. Bezugnahme auf die Gesamtheit der Menge) aus, mit dem unbestimmten Artikel bezeichnet er Exklusivität der Referenz (d.h. nicht-alle-in-der-Referenz-Menge). "It appears that the mention of one NP, e g a wedding, can conjure up a whole set of associations for the hearer which permit the bride, the bridemaids, etc. I shall refer to the first NP as 'the trigger', since it triggers off the associations, and the first-mention definite descriptions which are dependent on this trigger as 'the associates'." (1978:123).
8 Hawkins, der zwei Typen der assoziativen Anaphorik unterscheidet (Teil-Ganzes-Relationen und Attribut-Von-Relationen), zeigt anhand von Beispielsätzen wie (4) und (5), daß definite NPs nicht ohne adäquaten "Trigger" (bei Hawkins (1978:123) eine NP im Vorgängersatz, die als Auslöser für Assoziationen fungiert) benutzt werden können: (4) (5)
The man drove past our house in a car. The exhaust fumes were terrible. The man drove past our house in a car. #The dog barked furiously.
Während the fumes dem trigger car problemlos zugeordnet werden können, ist dies bei (5) nicht möglich. Hunde sind nicht notwendige oder typische Bestandteile von Autos, die Sequenz ist daher als nicht kohärent zu bewerten2. Vater (1986:89) hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, daß (5) bei entsprechendem Vorwissen ( z . B d a ß der Sprecher einen Hund besitzt) durchaus akzeptabel ist. Es handelt sich dann jedoch um episodisches Wissen (vgl. zur Unterscheidung von episodischem und semantischem Wissen Tulving 1972; s. auch Schwarz/Chur 19962:24f.), nicht aber um allgemein zur Verfugung stehendes semantisches oder enzyklopädisches Wissen, wie dies bei den (systematisch auftretenden und kohärenzstiftenden) indirekten Anaphern der Fall ist (vgl. hierzu auch Bisle-Müller (1991:46). Hawkins (1978:123) geht dann aber auch nicht näher auf die Bedingungen für indirekte Anaphorik ein und zieht den Schluß: ". .. what are the parameters defining the set of possible associates.. I can give no fully rigorous answer to this question."
Auch Bisle-Müller (1991) kommt in seiner Arbeit über die semantischen und pragmatischen Aspekte der Artikelwörter im Deutschen nicht zu präziseren Hypothesen oder ausfuhrlicheren Ergebnissen. Als wesentlich fur die Verwendung und Interpretation direkter und indirekter Anaphern sieht er das gemeinsame Rahmenwissen der Kommunizierenden an. Ein Beispiel wie (6) ist ihm zufolge möglich (und die Einfuhrung des Referenten POINTE überflüssig). da in unserem gemeinsamen Wissen über Witze der Bestandteil Pointe enthalten ist. (6)
Er erzählte einen Witz. Die Pointe war uns nicht klar.
Bisle-Müller mutmaßt, daß die Verarbeitung indirekter Anaphern offensichtlich durch übergeordnete Prinzipien der Sinnkonstituierung bei Textkohärenz determiniert wird. Löbner (1996), der sich explizit auf Christophersen bezieht, greift dessen Konzeption der "familiarity" zur Erklärung indirekter Anaphern auf (vor dem Hintergrund der Ausführungen von Löbner (1985)). Definite Anaphern sind nur dann möglich, wenn das Nomen im gegebenen Kontext eine Funktion (im mathematischen Sinne) definiert, die eine eins-zu-einsRelation festlegt. Indefinite indirekte Anaphern drücken dagegen die Relation "eins-zu-viele" aus (s. hierzu bereits Hawkins (1978:201) "exclusiveness, or reference to not-all, versus inclusiveness, or reference to all").
Hier und im folgenden Text wird das Symbol # zur Kennzeichnung inkohärenter Textsequenzen benutzt. Ein Fragezeichen wird benutzt, wenn es sich um Grenzfälle handelt, bei denen eine Kohärenzbewertung nicht klar vorzunehmen ist.
9 (7)
Ich lese gerade ein tolles Buch. Der Autor ist wundervoll. In einem Kapitel beschreibt er seine Kindheit in Brasilien.
Da es normalerweise pro Buch nur einen Autor, aber mehrere Kapitel gibt, kann der Autor mittels einer definiten NP, das herausgegriffene Kapitel aber nur indefinit benannt werden (vgl. Hawkins Inklusivitäts-Bedingung). In einer Sequenz wie (8) würde der Rezipient entsprechend schlußfolgern, daß das Buch von mehreren Autoren geschrieben wurde (dies entspricht der Exklusivitätspräsupposition von Hawkins 1978). Da es nur ein letztes Kapitel gibt, kann in (9) wiederum eine definite NP benutzt werden (Beispiele von mir): (8) (9)
Ich lese gerade ein tolles Buch. Ein Autor ist vom Mossad. Ich lese gerade ein tolles Buch. Das letzte Kapitel beschreibt die Kindheit in Brasilien.
Die Grundlage von Löbners Erklärungsversuch ist seine allgemeine Definitheitstheorie, die im wesentlichen auf der Einteilung in sortale, relationale und funktionale Nomina beruht (vgl. hierzu bereits Löbner 1985). Sortale Nomina (z.B. Mann) klassifizieren nur Objekte. Relationale Nomina (z.B. Sohn) beschreiben Objekte als in Relation-zu-anderen-Objektenstehend. Funktionale Nomina (z.B. Ehemann) sind ein bestimmter Typ relationaler Nomina: Sie stellen eine unzweideutige Relation zu anderen Objekten her. Nun lassen sich prinzipiell aber auch für sortale und relationale Nomina funktionale Interpretationen finden und die Einteilung in verschiedene konzeptuelle Typen erweist sich eher als eine kontextdeterminierte Lesartenwahl. Löbner (1996) räumt daher selbst ein, daß die Klassifikation wohl eher die Verwendung von Nomina und nicht deren inhärente Merkmale betrifft. Die jeweilige Lesart eines Nomens hängt von der Art der Determination ab. Der bestimmte Artikel gibt an, daß es sich bei dem unmittelbar folgenden Nomen um ein funktionales Konzept handelt. Er markiert also das Nomen stets als ein funktionales Konzept. Für Löbner hängt die assoziative Anaphorik davon ab, daß die Interpretation des involvierten Nomens eine (zweiwertig) funktionale ist. Weiterhin spielt die Frame-Struktur des jeweiligen Textes/Diskurses eine große Rolle bei der Relationsetablierung (auf die Löbner aber nur in wenigen Sätzen eingeht). Eine definite NP ist für Löbner dann und nur dann eine assoziative Anapher, wenn das Kopf-Nomen der NP, die als indirekte Anapher fungiert, ein Konzept bezeichnet, das relational in eine 1:1-Beziehung zu einem anderem Konzept gesetzt wird und der Trigger anaphorisch ist. Auch Löbners Ansatz läßt viele Fragen offen: Es wird nicht ganz klar, ob Löbner Konzept mit Bedeutung gleichsetzt. Löbner zieht keine Unterscheidung zwischen Wortbedeutung und Konzept (1985:295). Es sind ja nicht die NPs, sondern die zugrundeliegenden, kontextuellen Interpretationslesarten, die relationale Konzepte sind. Der Zusammenhang zwischen semantischem und konzeptuellem Wissen wird nicht erörtert. Problematisch ist auch seine Definition von Konzept: Konzept ist bei Löbner (1985) als eine mentale Prozedur mit bestimmten Input-Output-Charakteristika definiert. Hier fallt also die Unterscheidung in repräsentationale und prozedurale Aspekte von Konzepten unter den Tisch. Zudem können auch Verben, Sätze und Satzfolgen als Trigger fungieren (vgl. den Pkt. Anker). Nicht immer ist eine unzweideutige Relation im Text zu finden (vgl. Vater 1986:90). Bei den inferenzbasierten Anaphern, die von Löbner nicht berücksichtigt werden, läßt sich eine eins-zu-eins-
10 Relation zwischen Konzepten nicht (oder nur auf Umwegen über kognitive Prozeduren) etablieren (vgl. hierzu die Beispiele in Kapitel 5). Letztlich geht Löbners Erklärungsversuch nicht wesentlich über die Familiaritätshypothese Christophersons und die Inklusivitätsbedingung Hawkins hinaus. Seine zentrale These (Löbner 1996:5), daß die Diskursstruktur als ein Frame zu beschreiben ist, ist ebenfalls nicht neu. Daß die kognitive Basis für die Verwendung indirekter Anaphern das gemeinsame Wissen ist, das in Form von Schemata gespeichert ist und bei der Sprachverwendung aktiviert wird, ist allgemein bekannt (s. Pkt. 2.4). Hervorzuheben ist aber Löbners Bemühen um eine Präzisierung der Bedeutungsrepräsentation des bestimmten Artikels und sein Hinweis, daß die anaphorische Verwendungsweise nicht als paradigmatisch fur definite Referenz zu betrachten ist. Insgesamt läßt sich jedoch konstatieren, daß auch im Bereich der Determinationssemantik kein Ansatz zu finden ist der dem Phänomen der indirekten Anaphorik gerecht wird.
1.3
Psycholinguistische und psychologische Untersuchungen
Indirekte Anaphern sind bisher am intensivsten im Rahmen allgemeiner Sprachverarbeitungs- und Anaphemmodelle empirisch-experimentell untersucht worden. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht dabei die Frage, ob die Verarbeitung impliziter Information zeitaufwendiger ist als die Verarbeitung expliziter Informationen. Clark (1977, 1983, 1993) hat in zahlreichen Studien auf die Relevanz der SprecherHörer-Interaktion ("Given-New-Contract") und des gemeinsamen Wissens ("Common Ground") zwischen den Kommunizierenden hingewiesen. Nach Clark (1977:412, 1978:513) beruht die Verwendung definiter NPs generell auf der folgenden Regel (vgl. hierzu bereits die Referenzregeln von Searle (1971:127f.)): Benutze eine definite NP nur dann, wenn damit ein bestimmer Referent ausgewählt wird und der Hörer diesen Referenten eindeutig identifizieren kann. Anaphernverstehen beruht auf der Auffindbarkeit bekannter Informationen im Gedächtnis. "The listener takes it as a necessary part of understanding an utterance in context that he is able to identify the intended referents (in memory) for all referring expressions." (Clark 1977:413)
Den Prozeß der Verarbeitung definiter NPs beschreibt Clark durch folgende Verarbeitungsschritte: 1. 2.
3.
Der Hörer erkennt durch die wörtliche Bedeutung der NP die intendierte Referenz. Er sucht in seinem Gedächtnisspeicher nach einer Einheit, die der in (1) gewonnenen Beschreibung entspricht. Dabei muß diese Einheit der Beschreibung als einzige entsprechen. Wenn Schritt (2) erfolgreich ist, erfolgt Schritt (4). Wenn keine entsprechende Einheit gefunden wird, muß die Gedächtnisrepräsentation um eine Einheit erweitert werden, die der in (1) gewonnenen Beschreibung entspricht (Bridging).
11 4.
Der Hörer identifiziert die in Schritt (2) gefundene oder in (3) hergeleitete Einheit als den intendierten Referenten der definiten NP.
Die kognitive Zuordnung anaphorischer Referenten zu ihren Antezedenten wird demzufolge entscheidend davon determiniert, ob bereits eine mentale Bezugseinheit explizit vorhanden ist oder ob die referentielle Beziehung durch eine Inferenz ("bridging assumption") hergestellt wird. Haviland/Clark (1974) überprüften die Verstehens- bzw. Lesezeit durch ein Zeitreaktionsexperiment mit den folgenden Sätzen: (10) (11)
Horace got some beer out of the car. The beer was warm. Horace got some picnic supplies out of the car. The beer was warm.
Sie stellten fest, daß fur den zweiten Satz von (11) ca. 180 msec mehr Zeit benötigt wird als für den zweiten Satz von (10). Sie ziehen daraus den Schluß, daß Bridging als zusätzlicher Prozeßschritt kognitiv aufwendiger ist als der normale Such- und Zuordnungsprozeß bei direkten Anaphern. Sanford und Garrod (1981, 1994a, 1995) haben jedoch diese Annahme bezweifelt und zahlreiche Experimente durchgeführt, die den Bridging-Effekt nicht bestätigen. (12a) (13a)
Mary put the clothes on the baby. (12b) The clothes were made of pink wool. Mary dressed the baby. (13b) The clothes were made of pink wool.
So stellten Garrod und Sanford (1981) in einem Experiment fest, daß die Verarbeitung von (13b) nicht mehr Zeit als (12b) benötigte. Das mentale Argument fur clothes, das in der Bedeutung von dressed enthalten ist, wird automatisch bei der Verarbeitung von dressed aktiviert und bildet so einen kognitiven Bezugsreferenten (vgl. auch Sharkey/Mitchell 1985, Gamham/Oakhill 1990). Hier ist aber natürlich auf die unterschiedlichen Relationen zwischen Bezugsausdruck und indirekter Anapher zu verweisen: Zwischen picnic supplies und beer besteht nur eine lose Beziehung, da Bier kein notwendiger Bestandteil von Picknickvorräten ist; dagegen besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen clothes und dressed, da Kleidung als mentales Argument ein notwendiger Bestandteil der Bedeutung von anziehen ist (s. hierzu Kapitel 5). Sanford und Garrod erklären indirekte Anaphern im Rahmen ihrer Scenario-Theorie allgemein und weitgehend pauschal als weltwissenabhängige Referenz (s. auch Sanford/Garrod 1994a, Garrod 1995). Scenarios (die mentalen Modellen, Schemata. Frames und Scripts entsprechen) sind konzeptuelle Wissensstrukturen, die bei der Sprachverarbeitung aktiviert werden und den Hintergrund für die Interpretation anaphorischer Ausdrücke stellen. Scenario-Informationen stellen den impliziten Fokus für die Verarbeitung dar, während die expliziten Informationen der Textoberfläche den expliziten Fokus konstituieren. Sanford und Garrod (1994a, b, und 1995) unterscheiden in ihren neuesten Arbeiten zwei Prozeßtypen bei der Anaphernverarbeitung: "Bonding" und "Resolution". Beim Bonding werden sofort Verbindungen zu potentiellen Antezedenten hergestellt, erst bei der Resolution wird eine bestimmte Interpretation festgelegt. Die Ausführungen zu diesen beiden Prozeduren sind jedoch bisher sehr knapp und allgemein gehalten. Ich werde auf prozedurale Aspekte bei der Erläuterung der Interpretation direkter und indirekter Anapher näher eingehen (vgl. Kapitel 6).
12 Das oben geschilderte Verstehensmodell Clarks hat trotz kritischer Stimmen großen Einfluß auf alle weiteren theoretischen und empirischen Studien zur Anapherninterpretation gehabt. Bis zum heutigen Tag beinhalten die meisten (psycholinguistischen, diskursorientierten und computationellen) Modelle die Annahme, daß Anaphernverstehen im wesentlichen als ein Such- und Vergleichsprozeß zu modellieren ist, während die Verarbeitimg indirekter Anaphern einen zusätzlichen Prozeßschritt (eine überbrückende Inferenz) erfordert (vgl. u.a. Murphy 1985, Hirst 1985, Singer 1990, Ariel 1990). Dabei wird keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Typen der indirekten Anaphorik vorgenommen. Ich werde jedoch im Laufe dieser Arbeit zeigen, daß (a) sich nur ein kleiner Teil der direkten Anaphern durch einen einfachen Such- und Vergleichsprozeß erklären läßt und daß (b) die Verarbeitung indirekter Anaphern als ein Verankerungsprozeß zu modellieren ist, der nicht wesentlich anders als die Interpretation der meisten direkten Anaphern verläuft.
1.4
Dynamische Semantik und Diskursrepräsentationen
Beachtung hat das Phänomen der indirekten Anaphorik auch in der dynamischen Semantik gefunden. Die dynamische Semantik, die sich aus Ideen der File-Change-Semantics und der Diskursrepräsentationstheorie (DRT) entwickelt hat, beschreibt die Interpretation von Bedeutungen nicht mehr nur ausschließlich über Wahrheitswertbedingungen, sondern generell als einen inkrementellen und kontextabhängigen Prozeß (vgl. Kamp/Reyle 1993, Kamp 1995a und b). Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf der Einführung und Fortführung von Referenten und deren Repräsentation auf einer Zwischenebene, der Diskursrepräsentation (DR). In Anlehnung an Karttunen (1968, 1969) werden Diskursreferenten als Redegegenstände der Text- bzw. Diskurswelt definiert und auf der Ebene der DR durch logische Variablen und Konstanten dargestellt. In Heims File-Change-Semantik wird bei der Verarbeitung einer indefiniten Phrase eine neue (noch informationsarme) Karte (File) eröffnet. Auf dieser Karte werden alle Informationen zu dem entsprechenden Referenten verzeichnet. Bei der Verarbeitung einer definiten NP wird eine alte Karte hervorgeholt. "For every indefinite, start a new card; for every definite, update a suitable old card." (Heim 1982:276)
Diese Konzeption entspricht ziemlich genau der psycholinguistischen Vorstellung zur kognitiven Verarbeitung von anaphorischen Ausdrücken (vgl. Haviland/Clark 1974 und Clark 1977). Das Konstrukt der Karte erscheint zudem vor dem Hintergrund psychologischer und psycholinguistischer Forschung zur Etablierung von Informationsknoten im Arbeitsgedächtnis bei der Verarbeitung eines neuen Diskursreferenten als ein etwas artifizielles Konzept und muß vor dem Hintergrund der modelltheoretischen Semantik als ein rein heuristisches Konstrukt betrachtet werden. Heim (1982, S. 370ff.) geht im Rahmen ihrer Definitheitstheorie auch kurz auf das Phänomen der indirekten Anaphorik (bei ihr "assoziative Anaphern") ein. Bei assoziativen Anaphern kann keine alte Karte gefunden werden, obgleich es sich um definite Ausdrücke
13 handelt. In Anlehnung an Lewis (1979) und Clark (1977) greift Heim zur Erklärung dieses Phänomens daher auf den Mechanismus der Akkommodation (bei Clark "Bridging") zurück: "In our terms, accommodation is an adjustment of the file that is triggered by a violation of a felicity condition and consists of adding to the file enough information to remedy the infelicity." (Heim 1982:371) Akkommodation (Anpassung durch Weltwissensaktivierung) wird somit zu einem Erklärungskonzept für die Verwendung definiter NPs, die nicht dem als paradigmatisch betrachteten Fall entsprechen. Bei der Interpretation definiter NPs ohne Antezedenten müssen Heim zufolge "cross-references" zu einer alten Karte gezogen werden. Über die Natur dieser "cross-references" sagt sie jedoch nichts weiter aus. Heim (1982:372) kommt (ganz ähnlich wie Hawkins (1978)) zu dem Schluß: "I can say only very little about the rules that govern accommodation." (s. entsprechend auch Heim 1991:506). Die Bewertung indirekter Anaphern als "infelicity" halte ich für eine Fehleinschätzung. Diese Einschätzung beruht auf der Annahme, direkte Anaphern seien Standard und Prototyp der definiten Textreferenz. Dementsprechend werden indirekte Anaphern als von diesem Standard abweichende Sonderfälle betrachtet, die auf einer Regelverletzung beruhen. Dies entspricht jedoch nicht der kognitiven und textuellen Realität dieses Phänomens (vgl. Kapitel 4). In neueren Arbeiten der dynamischen Semantik (vgl. u.a. Saurer 1994, Bos et al. 1995) werden die Lücken in der Diskursrepräsentation ebenfalls durch Akkommodation (bzw. Bridging) überbrückt. In diesen Ansätzen 3 (die sich vor allem mit pronominaler Anaphorik beschäftigen) bleibt die Analyse aber bisher (wie in den meisten textlinguistischen und referenzsemantischen Untersuchungen) beschränkt auf einen kleinen Ausschnitt des Phänomens: die Teil-Ganzes-Anaphern und die schema-basierten Anaphern. Die Datenbasis ist zudem artifiziell: Es handelt sich nur um sehr einfache und konstruierte Zwei-Satz-Sequenzen. Der Modellansatz der D R T hat Probleme, Aspekte der nicht-sprachlichen Kognition, die nachgewiesen großen Einfluß auf die Verarbeitung von Textsequenzen hat, in ihre Modellierungen zu integrieren. In der DRT findet sich auch keine Unterscheidung in semantisches und konzeptuelles Wissen. Inferenzen werden als von Lexikoneinträgen aktivierte Strategien betrachtet (s. Kamp/Roßdeutscher 1994). Die Erklärung der Interaktion expliziter und impliziter Information sowie die Beschränkung inferentieller Prozeduren auf die wesentlichen Informationen bei der Akkommodation stellt auch in der DRT ein noch intensiv zu erörterndes und nicht gelöstes Problem dar (Hans Kamp: mündliche Mitteilung). Eine interessante Studie zu semantischen und pragmatischen Aspekten der Verarbeitung indirekter Anaphern findet sich bei Fraurud (1992), die darauf aufmerksam macht, wie wenig Forschungsarbeit bislang auf diesem Gebiet geleistet wurde. "... the topic has been paid surprisingly little attention in theories of definiteness and NP processing.... Furthermore, most theories of definiteness are still based on the notions of familiarity or givenness, where previous mention is the paradigm case." (Fraurud 1992:20)
3
Mittlerweile gibt es auch eine Fülle von Arbeiten aus der KI-Forschung zur Anaphemproblematik. Da es jedoch in dieser Arbeit um natürliche und nicht um künstliche Intelligenz geht, werde ich im Laufe der Arbeit nur am Rande auf Aspekte dieser Untersuchungen eingehen.
14 In einem diskursorientierten Ansatz, der Ideen von DRT und kommunikativen Diskursmodellen zu vereinen sucht, diskutiert Fraurud interessante Einzelbeobachtungen (auf die ich im Laufe der Arbeit zu sprechen komme) und weist auf einige der zentralen Probleme bei der Erklärung indirekter Anaphern (bei ihr "first-mention definite NPs") hin. So bezeichnet sie die Identifikation der Bezugselemente (bei Fraurud (1992:25) in Anlehnung an Prince (1981) als "anchors" bezeichnet) und die Relationsetablierung zwischen indirekter Anapher und Bezugsausdruck als die wichtigsten zu erörternden Prozeßkomponenten bei der Interpretation. Insbesondere ist es Frauruds korpusbasierten Untersuchungen (zum Schwedischen; vgl. zum Englischen Vieira/Poesio 1996) zu verdanken, daß die indirekte Anaphorik nicht länger als exotischer Sonderfall der Textreferenz betrachtet wird. Ihre Analysen zeigen, daß ca. 60 % aller definiten NPs in Texten ohne expliziten Antezedens-Ausdruck vorkommen und belegen damit die Frequentialität der indirekten Anaphern (vgl. hierzu die Ausführungen in Pkt. 4.2). Frauruds Studie bleibt jedoch in vielen Punkten fragmentarisch, da sie nur einige Fragen und Lösungsmöglichkeiten skizziert, diese aber nicht ausformuliert oder in ein theoretisches Rahmenmodell integriert.
1.5
Pragmatische Untersuchungen
Erkü/Gundel (1987) haben pragmatische Aspekte indirekter Anaphern untersucht und (vor dem Hintergrund der Relevanztheorie von Sperber/Wilson (1986)) die Rolle von Faktoren wie Relevanz und Thema (Topic) hervorgehoben. Sie diskutieren anhand von Beispielen wie den folgenden das Phänomen der "bridging reference": (14) (15)
We went to a Thai restaurant. The waitress was from Bangkok. We stopped for drinks at the New York Hilton before going to the Thai Restaurant. The waitress was from Bangkok.
In (14) wird Erkü/Gundel zufolge the waitress dem Thai restaurant zugeordnet, in (15) dagegen der (nicht explizit genannten) Bar im Hilton (obgleich die Assoziation zwischen Thai restaurant und waitress from Bangkok stärker ist). Sie führen diese Lesart darauf zurück, daß Anaphern sich in erster Lesart stets auf das Topic des vorherigen Satzes beziehen (und das Topic für den nachfolgenden Diskurs wird ihnen zufolge stets durch die VP des übergeordneten Satzes ausgedrückt). Entsprechend wäre eine indirekte Anapher wie in (16) keine korrekte (textpragmatisch einwandfreie) Referenzfortführung: (16)
We stopped for drinks at the New York Hilton before going to the zoo. #The baby orangutan was really cute.
Der Hörer erwartet aufgrund der Topic-Struktur des vorherigen Satzes eine Weiterfuhrung des Themas HILTON. Daher ist die indirekte Anapher "stylistically infelicitous", obgleich mit zoo ein idealer Bezugsausdruck für orangutan gegeben ist.
15
Nun basiert die Analyse von Erkü/Gundel aber auf einer sehr eingeschränkten Auswahl von Beispielen und einem ebenso eingeschränkten Topic-Begriff. Der Hörer wählt beim Satzverstehen nicht immer ein einziges (syntaxgesteuertes) Topic aus, das dann alleiniger Ankerpunkt für seine Erwartungshaltung bezüglich der anaphorischen Fortführung des nachfolgenden Diskurses ist. Oft existieren bei der Sprachverarbeitung mehrere mögliche Topic-Repräsentationen und erst im nachfolgenden Text wird durch die thematische Anknüpfung klar, welche davon ausgewählt werden muß. Ausserdem spielt die Intonation bei der Topic-Festlegung oft eine wichtige Rolle (vgl. ausfuhrlich hierzu Lenerz 1977). Die Annahme, ein anaphorischer Ausdruck beziehe sich stets auf das direkte Objekt des Vorgängersatzes, läßt sich also leicht widerlegen. Erkü/Gundel sprechen zwar von einer pragmatischen Analyse, bleiben aber mit ihrer Konzeption von Topic auf die syntaktisch definierte Thema-Rhema-Konzeption bezogen (vgl. hierzu kritisch Reis 1977:212f. sowie Vater 1996:96f.). Matsui (1993) hat daher die Annahmen Erkü/Gundels kritisiert und anhand von folgenden Beispielen gezeigt, daß sich indirekte Anaphern problemlos auf Bezugspunkte untergeordneter Sätze beziehen können. (17) (18)
I couldn't attend the semantics lecture because I had a temperatme. The doctor said it was a flu. My brother studied very hard in order to pass the exam. The questions were exactly what he wanted.
Wenn auch von den Annahmen und Vorhersagen Erkü/Gundels bei kritischer Betrachtung nicht viel übrig bleibt, so besteht ihr Verdienst doch immerhin darin, die Aufmerksamkeit auf die bisher kaum beachtete Rolle der Informationsstrukturierung bei der Verarbeitung anaphorischer Ausdrücke gelenkt zu haben (vgl. Lambrecht 1994 und Steube 1996 sowie Pkt. 4.5). Gundel et al. (1993) und Gundel (1995) haben einen Ansatz zur Erklärung der Verwendung unterschiedlicher referentieller Ausdrücke vorgelegt: Demzufolge richtet sich die Wahl des jeweiligen Ausdrucks nach dem Bekanntheitsgrad des Referenten beim Hörer Die "Givenness Hierarchy" besagt, daß die Form des Referenzmittels von den Annahmen des Sprechers über den kognitiven Status des Referenten beim Hörer abhängt (Gundel et al. 1993:275f ). Nun ist diese Annahme nicht gerade neu (sie findet sich u.a. bereits ausfuhrlich in der kommunikationsorientierten Arbeit von Herrmann/Deutsch (1976)); Gundel et al. erstellen aber vor ihrem Hintergrund einige Hypothesen zur Korrelation von kognitivem Status und referentiellem Ausdruck. Ihnen zufolge benennen indefinite NPs Referenten, die nur als Types identifizierbar sind, definite NPs bezeichnen Referenten, die unikal identifizierbar sind, demonstrative NPs beziehen sich auf Referenten, die aktiviert sind und Pronomina auf Referenten, die im Fokus stehen. Es besteht ein hierarchisches Verhältnis, da der jeweils höhere Status stets alle unteren Voraussetzungen erfüllt. Eine Einheit, die im Fokus steht, ist folglich auch aktiviert und unikal identifizierbar. Ich werde im Laufe dieser Arbeit zeigen, daß einige dieser Annahmen zu revidieren sind (s. hierzu bereits Pkt. 1.6).
16 1.6
Kognitive Grammatik und indirekte Anaphern
In der Kognitiven Grammatik (einer holistischen Ausrichtung der Kognitiven Linguistik) sind in den letzten Jahren ebenfalls einige Studien zur direkten und indirekten Anaphorik vorgelegt worden. Allerdings liegt der Schwerpunkt hier bei der Interpretation von pronominalen Anaphern (vgl. VanHoek 1992, Langacker 1996). Eine kurze Studie zu definiten NPs in der Funktion indirekter Anaphern hat kürzlich Takahashi (1995) vorgelegt. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Analyse Langakkers (1991) zur Semantik determinierter und nicht-determinierter Nomina. Demzufolge benennt ein Nomen ohne Determinans einen konzeptuellen "Type" (z.B. Haus, das für die Klasse HA US steht), ein Nomen mit bestimmtem Artikel bezeichnet sowohl einen Type als auch eine unikale Instanz (so referiert das Haus auf ein bestimmtes, lokalisierbares Gebäude und beinhaltet gleichzeitig den Verweis auf einen bestimmten Objekt-Typen), ein Nomen mit unbestimmten Artikel benennt einen Type und eine Instanz dieses Types. Instanzen haben stets partikulare Lokalisierungen in einem Instanziierungsbereich, Types haben dies nicht (vgl. zu einer ähnlichen Type-Token-Analyse bereits Jackendoff 1983). Diese Generalisierung ist jedoch nicht durchgängig anzuwenden. Referenz ist hochgradig kontext- und situationsabhängig, und hängt letztlich von den mentalen Aktivitäten der Sprecher und Hörer ab. So kann z.B. ein Nomen ohne Determinans ohne weiteres auf eine Instanz referieren (und zwar nicht nur in der Kindersprache; z.B. in Geld oder Leben! Oder Geld hergeben!, wo mit Geld eine bestimmte, lokalisierbare Instanz gemeint ist) und entsprechend ein Nomen mit bestimmten oder unbestimmtem Artikel auf einen Type Bezug nehmen (z.B. bei generischer Referenz wie in Das Geld spielt heutzutage eine viel zu große Rolle in der Welt\ vgl. hierzu auch Vater 1996). Takahashi zufolge benennen indirekte Anaphern wie in (19) also unikale Instanzen (was aber keineswegs immer der Fall ist; es gibt auch Type-Anaphern (vgl. Kapitel 5)); (19)
I enjoy my work immensely. The pay is excellent.
Ein Thema (topic), in (19) die Nennung von my work, evoziert einen konzeptuellen Bereich, der den Kontext für die Interpretation einer assoziierten Einheit (the pay ist Bestandteil von work) bereithält (vgl. entsprechend Hawkins "trigger"). Takahashi postuliert ein allgemeines Assoziierbarkeitsprinzip ("associability principle") zur Erklärung indirekter Anaphern, das man folgendermaßen umschreiben kann: Zwischen den Referenten von Bezugsausdruck und indirekter Anapher besteht ein mentaler Kontakt, der über eine gemeinsame Konzeptualisierung etabliert wird. "Associability is ultimately based on encyclopedic knowledge combined with the information from current discourse" (Takahashi 1995:5).
Betont wird also die Rolle konzeptueller Konfigurationen, insbesondere der sogenannten "dominions" (die Langacker als "set of entities to which a particular reference point gives access" definiert (vgl. hierzu Langacker (1993:6)). Ein "Reference point" ist eine Entität, die ein bestimmtes Maß an Salienz oder Erreichbarkeit im Diskurs hat (zur Konzeption der Erreichbarkeit vgl. ausfuhrlich Kapitel 2). Die in der Kognitiven Grammatik eingeführte "do-
17 minion" entspricht dabei ungefähr dem "shared set" von Hawkins (1978), dem memorialen Suchraum Clarks (1977) und dem Scenario von Sanford/Garrod (1981) und (1995) (vgl. ebenso den "mental space" von Fauconnier (1985) und die "domain" bei Croft (1993)). Konzeptuell determinierte Wissensbereiche spielen also in allen Ansätzen (unterschiedlichster theoretischer und methodischer Ausrichtung), die sich mit indirekten Anaphern beschäftigt haben, eine große Rolle. Allerdings bleibt die Explikation der Interaktion dieser Domänen mit den lexikalischen Informationen der sprachlichen Textebene aus oder sie ist unbefriedigend. Assoziierbarkeit ist zudem als Kriterium nicht restriktiv genug (vgl. Kapitel 5). Ich werde im Laufe dieser Arbeit zeigen, daß und inwieweit konzeptuelle Repräsentationen für die Erklärung indirekter Anaphern wesentlich sind und inwiefern sie mit lexikalischen Informationen der sprachlichen Textebene interagieren.
1.7
Fazit: Offene Fragen und ungelöste Probleme
Zusammenfassend läßt sich die bisherige Forschung folgendermaßen beschreiben: •
•
•
Es existiert bislang keine umfassende Klassifikation, die zwischen den verschiedenen Typen indirekter Anaphern (Teil-Ganzes-Anaphern, schema-basierte Anaphern etc.) differenziert. Bei den bisher vorliegenden Studien sind zudem immer nur einzelne Aspekte dieses komplexen Phänomens untersucht worden. Direkte Anaphern mit explizitem Antezedens-Ausdruck werden als paradigmatisch, als Normalfall für definite Textreferenz betrachtet. Indirekte Anaphern werden dagegen überwiegend als Sonderfall textueller Anaphorik erörtert. Dabei werden die prozeduralen Unterschiede zwischen direkten und indirekten Anaphern betont. Die Interpretation indirekter Anaphern wird entweder durch Assoziation oder durch Akkommodation/Inferenzziehung erklärt. In den prozeduralen Modellen wird die Verarbeitung direkter Anaphern als ein Such- und Vergleichsprozeß, die Verarbeitung indirekter Anaphern als ein Konstruktionsprozeß (mit einem zusätzlichen Prozeßschritt) erklärt.
Bisher ungeklärt bzw. ungenügend expliziert sind die wesentlichen Probleme: 1. 2. 3. 4.
Wodurch wird die Relationsetablierung zwischen indirekten Anaphern und ihren interpretativen Bezugsausdrücken im vorherigen Text determiniert? Welchen Einfluß hat die textsemantische Information auf diese Relationsetablierung? Wie läßt sich die in allen Ansätzen hervorgehobene Rolle des konzeptuellen Weltwissens bei der Interpretation indirekter Anaphern beschreiben? Welchen Status haben indirekte Anaphern als textuelle Referenzmittel bei der Kohärenzetablierung und welche Funktion kommt ihnen bei der thematischen Progression zu?
Die meisten Ansätze, die sich mit indirekten Anaphern beschäftigt haben, haben die Ebene der Textsemantik zu wenig oder gar nicht berücksichtigt, sondern statt dessen sofort den
18 "Sprung" zur konzeptuellen Ebene vollzogen. Dies liegt unter anderem daran, daß es sich bei der Mehrzahl der Studien um Einebenen-Modelle handelt, die weder eine Trennung zwischen Welt- und Sprachwissen bei der Repräsentation von Bedeutungen im mentalen Lexikon vorsehen, noch eine Unterscheidung von semantischer und konzeptueller Ebene bei der Sprachverarbeitung machen (vgl. hierzu Pkt. 2.4). Daher werden immer weltwissensabhängige Inferenzen als maßgeblich für die Interpretation aller indirekten Anaphern postuliert. Die textsemantische Ebene aber verdient mehr Aufmerksamkeit, da sie stets die Ausgangsebene für die Interpretationsaktivität des Rezipienten ist. Es gilt insbesondere zu klären, ob im Interpretationsprozeß von Anfang an (also on-line) das konzeptuelle Wissen entscheidend ist oder ob es auch Typen gibt, wo die textsemantische Information die Analyse determiniert. Ich werde mich daher in dieser Arbeit mit der Interaktion der beiden Ebenen beschäftigen. Indirekte Anaphorik beruht zudem nicht (wie bisher oft angenommen wird) auf der Verletzung referentieller Regeln oder textsemantischer Bedingungen, sondern ist Ausdruck der in der Sprachverarbeitung stattfindenden Produzent-Rezipient-Interaktion, die im wesentlichen auf gegenseitiger Wissens-Antizipation basiert (vgl. Kapitel 4). Relativ wenig ist auch über die Frage reflektiert worden, welche textsemantischen und textreferentiellen Charakteristika indirekte Anaphern eigentlich aufweisen. Dabei ist die Beantwortung dieser Frage sowohl wichtig für die Untersuchung der indirekten Anaphern, als auch für deren Abgrenzung von direkten Anaphern und anderen Formen der Textreferenz. Bevor ich auf diese Frage im dritten Kapitel näher eingehe, werde ich zunächst im folgenden Kapitel mit der Darstellung der Grundannahmen der kognitiven Textverstehenstheorie den theoretischen Hintergrund skizzieren, vor dem meine rezeptionsorientierten Detailanalysen zu betrachten sind. Nach der Erörterung grundlegender Aspekte und Fragen der Kohärenz, Textreferenz und Anaphorik werde ich ein Rahmenmodell für die Untersuchung textueller Anaphern vorschlagen, das den Anforderungen an eine Referenztheorie gerecht wird, da es prozedurale und repräsentationale Annahmen zur Referentialisierung integriert.
2.
Kohärenz, Textverstehen und domänengebundene Referentialisierung
2.0
Vorbemerkungen
Eine mittlerweile unumstrittene Grundannahme der modernen Texttheorie und der Textverstehensforschung ist, daß der Rezipient bei der Verarbeitung eines Textes 1 nicht bloß die im Text explizit dargebotenen Informationen aufnimmt und analysiert, sondern bei der Erstellung der mentalen Textrepräsentation aktiv Sinn-Zusammenhänge erstellt, textuelle Lücken füllt und Elemente seines Wissens in den Verstehensprozeß miteinbringt. Textverstehen ist also ein konstruktiver Prozeß. Die Forschung der letzten Jahre hat sich daher intensiv mit den Fragen beschäftigt, welches Wissen wir aktivieren und welche Strategien wir anwenden, wenn wir Texte verstehen. Dabei stellt sich für die Textlinguistik die Frage, ob die Kohärenz (also der inhaltliche Zusammenhang) als eine Eigenschaft des Textes oder als Resultat der jeweiligen Rezipientenaktivität zu beschreiben ist. Nach Darlegung der Grundannahmen der prozeduralen Texttheorie, die den allgemeinen Hintergrund meiner Arbeit darstellen, konzentriere ich mich auf den für diese Arbeit besonders relevanten Aspekt der Referenzetablierung (Referentialisierung), wobei ich insbesondere die wesentlichen Fragen und Probleme erörtern werde, die sich bei der Erklärung des Anaphernverstehens ergeben. Kohärenz wird als das Ergebnis sowohl textinterner als auch textexterner Faktoren betrachtet. Es wird betont, daß die sprachliche Textstrukturebene und die mentale Prozeßebene stets bei der Kohärenzetablierung 2 interagieren. In diesem Zusammenhang werde ich auch einige grundlegende Annahmen zur Repräsentation semantischer und konzeptueller Einheiten skizzieren. Diese beinhalten Hypothesen zur Schnittstellenproblematik, d.h. zum Verhältnis zwischen semantischem und konzeptuellem Wissen. Diese Erörterung erweist sich als notwendig, da jedes prozedurale Textmodell Hypothesen zur Repräsentation des im Rezeptionsprozeß aktivierten Wissens beinhalten muß. Das Kapitel schließt mit der Darstellung eines allgemeinen Rahmenmodells zur Referentialisierung beim Textverstehen.
Es gibt eine R e i h e von ganz unterschiedlichen Textdefinitionen (s. die Diskussion bei Brinker 1992 3 und Vater 1996 2 ). In der vorliegenden Arbeit wird Text aus der "engen" Perspektive der Textlinguistik als eine schriftlich fixierte Sprachstruktur verstanden, die sprachlich k o m p l e x ist, d.h. aus mindestens zwei Sätzen besteht, die in bestimmten Relationen zueinander stehen. Zu einer weiten, kommunikationsorientierten Definition, die Text als k o m m u n i k a t i v e G r u n d e i n h e i t , als " Ä u ß e r u n g s m e n g e in Funktion" versteht, vgl. z.B. Schmidt 1973 und W a w r z y n i a k 1980. Unter Kohärenzetablierung verstehe ich den vom Rezipienten zu leistenden Prozeß der inhaltlichen V e r b i n d u n g zwischen den Sätzen eines Textes.
20 2.1
Textverstehen als kognitiver Prozeß: Theoretische Grundannahmen
Textverstehen (im folgenden als Rezeption schriftlicher Sprache verstanden) wird heute allgemein als ein komplexer kognitiver Prozeß verstanden, bei dem der Rezipient eine mentale Repräsentation erstellt, in die sowohl Informationen des Textes als auch Informationen aus dem Langzeitgedächtnis (LZG) des Rezipienten einfließen (vgl. z.B. Groeben 1982, Van Dijk/Kintsch 1983, Johnson-Laird 1983, Flores d'Arcais/Schreuder 1983, Gerasbacher 1990, Garnham/Oakhill 1990, Strohner 1990, Schnotz 1993, Rickheit/Strohner 1993, Rickheit/Habel 1995). Textverstehen involviert also textbasierte Bottom-up- und wissensbasierte Top-down-Prozesse. Busse (1992:162) hat daher Textverstehen als "Fähigkeit des InBeziehung-Setzens von Ausdruckselementen zu Wissenselementen" charakterisiert. Die Annahme, daß Sprachverstehen kein passiver Dekodierungsprozeß, sondern eine konstruktive Tätigkeit ist, findet sich bereits bei Paul (1880) und bei Wegener (1885:127f.) sowie bei Bühler (1934). In der Literaturwissenschaft wird diesem Aspekt seit der Etablierung der Rezeptionsästhetik besondere Beachtung geschenkt (s. Warning 1975). Aber erst durch die moderne, computergestütze Experimentaltechnik erhält die konstruktivistische Verstehenstheorie auch starke empirische Evidenz (vgl. Rickheit/Strohner 1993:95f., Schwarz 19962:30f.), da nun die unmittelbar (also on-line) ablaufenden Prozesse gezielt untersucht werden können. Beim Textverstehen sind verschiedene Prozeßebenen involviert, die weitgehend simultan auf verschiedene Kenntnissysteme in unserem Gedächtnis Bezug nehmen: Auf der Ebene der perzeptuellen Wahrnehmung werden die visuell wahrgenommenen Gebilde auf dem Papier von uns als Buchstaben erkannt und zu Wörtern zusammengesetzt. Beim Prozeß der Worterkennung ordnen wir der Buchstabenfolge eine Wortrepräsentation zu, gleichzeitig aktivieren wir die dazu passende Bedeutung, bei der syntaktischen und semantischen Analyse des Satzes ordnen wir der Folge von Wörtern eine bestimmte Struktur und eine mentale Repräsentation zu. Ziel des Textverstehens ist es, Sinn zu erzeugen. Texte werden vom Rezipienten als sinnvoll verstanden, wenn die einzelnen Sätze semantisch und/oder konzeptuell so miteinander verknüpft werden können, daß sie eine größere und insgesamt plausible Sinneinheit bilden. Der Sinn eines Textes ergibt sich dabei oft nicht nur aus der Summe der Satzbedeutungen, sondern in vielen Fällen erst aus der Aktivierung zusätzlichen Weltwissens sowie der Anwendung kognitiver Schlußfolgerungen. Die meisten kognitiven Textverstehensmodelle gehen von den folgenden Annahmen aus: •
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Der Rezipient wartet bei der Interpretation des Textes nicht bis zum Textende ab, sondern beginnt bereits beim ersten Wort damit. Mit dieser Annahme wird dem on-lineCharakter der Sprachverarbeitung Rechnung getragen. Der Rezipient konstruiert eine mentale Repräsentation der Sachverhalte, die im Text genannt werden. Dabei interpretiert er die Sachverhalte stets als Sachverhalte eines bestimmten Typs, d.h. die Interpretation ist an bereits vorhandenen Kenntnissen über Standardsituationen orientiert. Diese Annahme entspricht dem Vorgang der SchemaAktivierung bzw. der Konstruktion eines mentalen Modells (vgl. Pkt. 2.4.2). Es werden vom Rezipienten alle Informationen benutzt, um das Ziel des Textverstehens (die Erstellung einer plausiblen Sachverhaltsrepräsentation) zu erreichen (vgl. hierzu be-
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reits Hörmanns Prinzip der Sinnkonstanz 1976:179ff.). Reichen also die expliziten Informationen des Textes nicht aus. um eine adäquate Sachverhaltsrepräsentation zu konstruieren, aktiviert der Rezipient zusätzlich konzeptuelles Wissen, das in seinem Langzeitgedächtnis (LZG) gespeichert ist. Während der Textverarbeitimg bildet der Rezipient (aufgrund seiner im LZG gespeicherten Weltwissensstrukturen) ständig Erwartungen über den Fortlauf des im Text Geschilderten. Die dabei involvierten mentalen Repräsentation werden dann im Verlauf der weiteren Textverarbeitung schrittweise bestätigt und/oder modifiziert.
Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die semantischen und konzeptuellen Interpretationsprozesse (vgl. auch Rickheit/Strohner 1993:219, die die semantische Rezeption als "Kernbereich der Sprachverarbeitimg" sehen). Auf syntaktische Prozesse der Textverarbeitung (die bei mir aber stets als grammatische Basis- bzw. Parallelanalyse vorausgesetzt werden) werde ich daher nur eingehen, wenn diese Operationen den Vorgang der Referentialisierung maßgeblich beeinflussen. Anhand der folgenden Beispiele läßt sich veranschaulichen, daß die Interpretationsprozesse ein großes Maß an Flexibilität und Konstruktivität aufweisen (s. hierzu auch Kapitel 4 zur Unterspezifikation in Texten): (1) (2) (3)
Das Tier kam laut kläffend auf ihn zu. Hans versuchte, den nächsten Baum zu erreichen. Kannst Du mal abrechnen. Das Schnitzel an Tisch 4 will bezahlen. Tanja vergaß den Braten im Ofen. Er verbrannte.
Bei (1) wird der Rezipient dem allgemeinen Ausdruck Tier die spezifische mentale Repräsentationseinheit HUND zuordnen und die Schlußfolgerung ziehen, daß Hans auf den Baum klettern will, weil er Angst hat, gebissen zu werden (und nicht, um die schöne Aussicht zu bewundern). (2) wird als Diskurs unter Kellnern verstanden; das Schnitzel als (metonymische) Referenz auf den Kunden interpretiert (vgl. hierzu auch Nunberg 1978). Bei (3) wird der Rezipient die Schlußfolgerung ziehen, daß der Ofen angestellt war und daß der Braten (und nicht der Ofen) verbrannte. Der Rezipient füllt und spezifiziert also nicht nur Leerstellen und Vagheiten im Text, sondern er konstruiert auch eine mentale Repräsentation von dem im Text dargestellten Sachverhalt. Dies geschieht durch Aktivierung und konstruktive Anwendung unseres allgemeinen Weltwissens, das in Form von geistigen Netzwerken im LZG gespeichert ist und mittels inferentieller Prozesse benutzt wird. Daß das Weltwissen der Sprachbenutzer eine große Rolle bei der Textproduktion und -rezeption spielt, ist heute unumstritten. Nicht eindeutig geklärt ist aber, wann und wie das Weltwissen die sprachlichen Verarbeitungsprozesse determiniert (vgl. McKoon/Ratcliff 1992, Kelter/Habel 1996). Minimalistische Theorien gehen davon aus, daß nur dann Inferenzen gezogen werden, wenn dies fur die Textinterpretation notwendig ist. Beim Textverstehen wird demzufolge eine sprachnahe, propositionale Repräsentation erstellt, die bei Bedarf gegebenenfalls erweitert werden kann (s. Ratcliff/McKoon 1994). Maximalistische Theorien dagegen nehmen an, daß beim Textverstehen immer eine Elaboration der sprachlich vermittelten Repräsentationen vorgenommen wird, d.h. es werden immer Inferenzen gezogen, um eine kognitive Sachverhaltsrepräsentation zu erstellen (s. Schnotz 1993a,b. Kelter 1993).
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Ich vertrete diesbezüglich eine (gemäßigte) minimalistische Position und somit die Hypothese, daß der Rezipient sich (gemäß der Annahme von einer ökonomischen, d.h. effizienten und redundanzfreien Verarbeitung) zuerst immer an der textsemantisehen Ebene orientiert und nur bei Bedarf auf die Aktivierung konzeptuellen Wissens und Inferenzziehung zurückgreift. Da es aber kaum Texte gibt, deren semantische Information tatsächlich ausreichend für die Erstellung einer Sachverhaltsrepräsentation und/oder zur Interpretation textueller Einheiten und Relationen ist, kann kaum ein Textverstehensprozeß ohne die Mitwirkung konzeptuellen Wissens modelliert werden (s. hierzu auch Steube 1996:2 und 1997:14; zu einer vermittelnden Position s. auch Rickheit/Strohner 1993:229).
2.2
Referentialität und Referentialisierung
Die Interpretation von Texten involviert nicht nur interne Informationsrepräsentionen, sondern immer auch Referenzstrukturen, d.h. die Verbindung zu einer externen Weltebene. 3 Mit Texten nehmen wir Bezug auf Aspekte (Gegenstände, Zustände, Ereignisse etc.) der außersprachlichen Welt, wir referieren. Referenz (die Relation zwischen sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Gegebenheiten) wird in bestimmten Situationen etabliert. Ausdrücke per se referieren nicht; sie werden vielmehr von Kommunikationsteilnehmern benutzt, um Referenz (produktiv oder rezeptiv) herzustellen. Daß der Bezug auf ein Objekt (den Referenten) gelingt, liegt an den Fähigkeiten der Sprecher und Hörer einer Sprachgemeinschaft, Bedeutungen aus ihrem mentalen Lexikon abzurufen und Objekte als Mitglieder von bestimmten Kategorien (im Sinne von Klassen von Objekten) identifizieren zu können. Referenz ist also eng an die menschliche Fähigkeit der Kategorisierung geknüpft (vgl. hierzu auch Jackendoff 1983, Bierwisch 1983a, b, Schwarz 1992, Zelinsky-Wibbelt 1996). Als "referentiell" werden in der Linguistik sprachliche Ausdrücke bezeichnet, die prinzipiell benutzt werden können, um Referenz herzustellen, "referierend" sind solche referentiellen Ausdrücke, wenn sie tatsächlich in einer bestimmten Situation zum Referieren benutzt werden (vgl. Thrane 1980, Vater 1986 und 19962). Entsprechend bezeichnet Referenz die in einer bestimmten Situation hergestellte Relation zwischen einer sprachlichen und einer außersprachlichen Einheit, Referentialität dagegen das (semantische) Potential eines Ausdrucks, zum Referieren benutzt zu werden. In der Referenzforschung wurde lange Zeit angenommen, daß man nur mit Nominalphrasen (NPs) referieren kann (vgl. u.a. Donellan 1966, Searle 1971, Wimmer 1979, Thrane 1980). Im Zuge der kognitiven Entwicklung und der damit entstandenen konzeptuellen Semantik spricht man heute aber auch anderen sprachlichen Kategorien (VPs, APs, PPs und auch ganzen Sätzen) Referentialität zu (vgl. Vater 1986:122 zu einem Überblick sowie Vater 19962:109ff. zu einer allgemeinen Diskussion dieser Problematik).
Je nach Text handelt es sich dabei entweder um die für uns verbindliche, als real erlebte Welt oder um eine fiktive, eine vergangene, eine zukünftige oder vorgestellte Welt.
23 Ohne hier im Detail auf alle Aspekte des komplexen Referenzphänomens einzugehen, sei vermerkt, daß in allen neueren Ansätzen davon ausgegangen wird, daß die Referenzetablierung (von mir im folgenden "Referentialisierung" genannt) als ein mentaler Vorgang angesehen werden muß (vgl. Recanati 1993, Geiger 1996). Aus rezeptionstheoretischer Perspektive ist Referenz als das Resultat eines komplexen Verarbeitungsprozesses zu sehen. Die Referentialisierung ist also eine wichtige Prozeßphase bei der Textverarbeitung (s. hierzu Pkt. 2.6). In neueren Referenztheorien wird dabei nicht mehr nur die (lange im Mittelpunkt der Analysen stehende) singularische Gegenstandsreferenz untersucht; vielmehr richtet sich das Augenmerk zunehmend auch auf Ereignis-, Zeit- und Ortsreferenz (vgl. Jackendoff 1989, Vater 19962, Ehrich 1992) sowie pluralische Referenz (s. Eschenbach et al. 1990, Müsseler/Rickheit 1990, Wrobel/Rickheit 1994). Referenz ist dabei nicht nur auf die perzeptuell bzw. sensorisch erfahrbare Welt beschränkt: Wir können ebenso gut auf mentale Konstrukte in unserem Gedächtnis referieren. Ontologische und konzeptuelle Aspekte wurden in den traditionellen Referenzsemantiken lange ausgeklammert. Dem naiven Realismus folgend, der davon ausgeht, daß die erfahrbare Welt aus der Wahrnehmung ableitbar ist und in ihrer Struktur objektiv erforschbar ist sind Referenten als reale Objekte fraglos vorausgesetzt worden. Der realistischen Wahrnehmungstheorie zufolge werden alle Informationen vom Gehirn direkt aus der Umgebung aufgenommen und (wie Abbilder) unvermittelt repräsentiert. Die Forschung der kognitiven Neurowissenschaft hat aber umfangreiche Evidenz dafür erbracht, daß in unserem Gehirn nach der sensorischen Informationsaufnahme hochkomplexe Verarbeitungsvorgänge ablaufen, die zwischen Input- und Outputprozessen vermitteln. Die durch Befunde der modernen Gehirnforschung unterstützte Annahme, daß die Welt eine Konstruktion dessen ist. der sie wahrnimmt, findet sich bereits bei den Vorsokratikern (z.B. bei Xenophanes). Durch Kants erkenntnistheoretische Überlegungen wurde dieses Problem der Epistemologie und der Ontologie in den Mittelpunkt der Philosophie gerückt. Kants Gedanken finden in Konstruktivismus und Neurowissenschaft erneut (einen aktualisierten) Ausdruck (vgl. Maturana/Varela 1987, Kosslyn 1994). Bereits Seuren (1977:265) hat in der Linguistik darauf hingewiesen, daß Referenz über konzeptuelle Strukturen (einen "Weg über Gedanken") zustande kommt. Aber erst durch die Weiterentwicklung kognitionswissenschaftlicher Forschung und die im Zuge dieser Entwicklung entstandenen Arbeiten von Jackendoff (1983) und Bierwisch (1982. 1983a) ist der Rolle des konzeptuellen Systems in der linguistischen Referenzforschung wirkliche Beachtung geschenkt worden (vgl. hierzu auch Recanati 1993). In Jackendoffs konzeptueller Semantik werden die Referenten sprachlicher Ausdrücke in der projizierten (also konzeptuell konstruierten) Welt lokalisiert und damit als mentale Phänomene gekennzeichnet (Jackendoff 1983:17f.). Was als Tatsache gilt, wird vom mentalen Weltmodell bestimmt. Für Jackendoff bedeutet die Annahme des mentalen Charakters von Wahrheit und Welterfahrung eine Verbesserung bzw. Erweiterung semantischer (vor allem wahrheitsfunktionaler) Ansätze, da nun auch alle Arten von Abstraktionen in die Analyse einbezogen werden können. Er schränkt seinen Ansatz dann aber unverständlicherweise selber ein. indem er Formen der Type-Referenz ausschließt (1983:94). Durch den bloßen Verweis auf die Konstruiertheit und konzeptuelle Determination unserer Welterfahrung ergibt sich für die Referenzproblematik per se jedoch kein wesentlicher Erkenntnisfortschritt. Die wahrnehmbare, also sensuell erfahrbare Welt, die als realer, externer Zustand erfahren wird, bleibt weiterhin der für unser Zusammenleben und unsere Kom-
24 munikation verbindliche Lebensraum. Sie dient (trotz des Wissens um ihre Konstruiertheit!) der Orientierung in allen sozio-kulturellen Angelegenheiten. Deshalb besteht weiterhin ein großer Unterschied, ob ich mit einem realen Hammer oder geistig in meiner Vorstellung mit einem konzeptuellen Hammer auf jemanden einschlage (auch wenn beide letztlich Projektionsergebnisse meines Gehirns sind). Es ergibt sich daher auch gar nicht das Problem zu entscheiden, ob wir nun grundsätzlich entweder auf Objekte oder auf Konzepte Bezug nehmen. Wir können je nach Situation und Bedarf mit der Sprache sowohl auf externe Objekte als auch auf interne Konzepte referieren. Die konzeptuellen Einheiten der repräsentationalen Kognition werden dabei im Gegensatz zu den Objekten der realen Welt in ihrem mentalen Charakter als interne Entitäten des Organismus erfahren. Beide Repräsentationsebenen sind aber in der Struktur und der Funktionalität des menschlichen Gehirns verankert. Visuelle Wahrnehmung und bildhafte Vorstellung beruhen auf der Aktivität derselben Gehirnareale Beide Erfahrungsbereiche basieren auf denselben Neuronenvernetzungen, werden aber prozedural unterschiedlich aktualisiert und im externen oder internen Modus auf die erfahrbare Kognitionsebene projiziert (vgl. hierzu Kosslyn 1994). Nicht so sehr der Verweis auf die Konstruiertheit unserer Welt ist also fur die Erklärung von Referenzphänomenen relevant. Vielmehr ist die Einbeziehung konzeptueller Repräsentationseinheiten für die Referenzforschung wichtig, da sich dadurch eine grundlegende Erweiterung des Referentialitätspotentials fur sprachliche Ausdrücke ergibt. Daher erweist sich Jackendoffs Ausschluß der Type-Konzepte als ein (kaum nachzuvollziehender) Schritt, der die von ihm angekündigte Erweiterung des Referentialitätsbereichs nachträglich wieder drastisch begrenzt. Wir nehmen Bezug auf die projizierte, von uns aber als objektiv erlebte und reale Welt, deren Einheiten uns als Objekte zugänglich sind, und wir referieren auf die repräsentationellen Einheiten unseres Gedächtnisses, die wir bewußt in ihrem mentalen Charakter empfinden. Dabei können wir nicht nur Bezug auf konkrete Instanzen (Tokens) nehmen, sondern auch auf mentale Repräsentationen von Klassen referieren, also die sogenannte TypeReferenz vollziehen (vgl. zur generischen Referenz, die Type-Konzepte involviert, ausfuhrlich Chur 1993, s. auch Strohner 1995:115f ). Die Type/Token-Unterscheidung spielt sowohl bei konkreter als auch bei abstrakter Referenz eine wichtige Rolle: (4) (5) (6) (7)
Die Liebe ihres Mannes rettete sie. (Token-Referenz) vs. Was wäre das Leben ohne die Liebe! (Type-Referenz) Die Bäume in unserem Garten sind krank. (Token-Referenz) vs. Wie können wir die Bäume für unsere Nachwelt retten? (Type-Referenz)
Da Referenz nicht an perzeptuelle Wahrnehmungssituationen und konkrete Gegenstände gebunden ist, kann mittels sprachlicher Ausdrücke auch auf vergangene (z.B. Goethe), zukünftige (z.B. meine späteren Kinder), imaginal-vorgestellte (z.B. allgemeiner Weltfrieden) und fiktive (z.B. Hans Castorp) Entitäten (konkreter wie abstrakter Natur) Bezug genommen werden. Ebenso können Eigenschaften (z.B. ihr Hochmut, seine Güte), Relationen (z.B. ihr Verhältnis, die Strecke) und komplexe Sachverhalte (z.B. die Reise, das Lawinenunglück, die Demonstration) als Referenten von Äußerungen fungieren (s. hierzu auch Pkt. 6.3.3).
25 2.3
Textkohärenz und Koreferenz
Texte weisen in der Regel Kohärenz auf. Mit Kohärenz4 ist gemeint, daß die Sätze in einem Text semantisch und/oder konzeptuell in bestimmten plausiblen Relationen zueinander stehen (vgl. Charolles 1989, Rickheit 1991, Sanders et al. 1992). Texte wie (8) und (9) werden ohne einen entsprechenden Kontext (z.B. abgedruckt in einem Band mit moderner Lyrik) sicherlich als inkohärent empfunden, da keine Verbindungen zwischen den Inhalten der aneinandergereihten Sätze, die zudem unterschiedliche Referenzbereiche benennen, bestehen: (8)
Die öde Debatte stimuliert mich. Mäuse liefen verschreckt über den Dachboden. Himbeeren pflücke ich im Winter. Das Laub fallt im Oktober. Der Mann sitzt in der Bar und ist melancholisch. Ein Bischof soll voller Demut sein. Mäuse mögen aber Käse.
(9)
Dagegen stellt (10) einen Text dar, der Kohärenz aufweist: die einzelnen Sätze sind inhaltlich einer Referenzdomäne (GARTENARBEIT IM HERBST) zuzuordnen und zudem durch einige sprachliche Indikatoren (es nimmt den Bezug auf Laub auf; auch und aber beziehen sich auf die in den vorherigen Sätzen dargestellte Tätigkeit) miteinander verknüpft. (10)
Im Herbst gibt es immer viel im Garten zu tun. Das Laub fällt schon im Oktober von den Bäumen. Wir müssen es aufkehren und in Säcke packen. Auch die welken Blumen müssen nun abgeschnitten werden. Aber die Arbeit macht Spaß.
Die Kohärenz eines Textes wird sprachlich (auf der Textoberfläche) durch kohäsive Verknüpfungsmittel (die u.a. temporale und lokale Relationen indizieren wie in (11) und (12)) ausgedrückt (s. Halliday/Hasan 1976, Gülich/Raible 1977, Lang 1977, de Beaugrande/Dressler 1981, Heinemann/Viehweger 1991, Vater 19962): (11) (12)
Der Junge! ging in die Küche. Danach rief er i Anna an. Hans und Ingej kamen nach München^ Port 2 trafen sie! Tanja.
Andere wichtige Kohäsionsformen 5 sind z.B. die Rekurrenz (Wiederholung eines Textelements), die partielle Rekurrenz (Teile eines Textelements werden wiederholt), Miktionen (z.B. Konjunktionen, die additive Relationen anzeigen). Auch die Tempusformen eines
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Der textlinguistische Terminus "Kohärenz" wird von manchen Linguisten in einem weiten Sinn als die Gesamtheit aller strukturellen und inhaltlichen Beziehungen in einem Text verstanden (s. z.B. Brinker 1992:27ff), von anderen Forschem dagegen benutzt, um nur auf die inhaltlichen Repäsentationen zu verweisen (s. z.B. de Beaugrande/Dressler 1981 und Vater 1996). Nicht alle Textlinguisten unterscheiden im Sinne von de Beaugrande/Dressler (1981) auch terminologisch zwischen "Kohäsion" (der Oberfläche eines Textes) und Kohärenz (der Sinnkontinuität), sondern grenzen grammatische Phänomene von semantischen und thematischen Aspekten der Kohärenz ab (s. u.a. Brinker 1992:2Iff ).
26 Textes gelten als kohäsive Mittel (zur ausfuhrlichen Darstellung kohäsiver Mittel s. de Beaugrande/Dressler 1981:50ff. und Fritz 1982). Kohäsion ist jedoch als alleiniges Kriterium nicht ausreichend, um einen Text kohärent bzw. sinnvoll zu machen: Kohäsive Mittel, die auf der Textoberfläche explizit zur Etablierung von Kohärenz genannt werden, sind weder hinreichend6 noch notwendig. (13)
Prinz Charles spielt Polo. Er bereitet den Stierkampf vor. Er ist der erste Marsbesucher. Er hat lange, dicke Haare.
Unser Weltwissen über den Referenten läßt uns den Text (13) als unsinnig erkennen, obgleich das Kriterium der pronominalen Wiederaufnahme auf der Textoberfläche Kohäsion vermittelt. Zudem treffen wir in jedem Satz auf einen Wechsel der Referenzdomäne. In (14) dagegen stimmen Kohäsion (pronominale Wiederaufnahme) und Kohärenz (gleichbleibende Referenzdomäne sowie Kompatibilität der vermittelten Informationen) überein. (14)
Prinz Charles spielt Polo. Er hat sein Pferd gut unter Kontrolle. Er schlägt den Ball weit über das Feld.
Ein rein struktureller Textansatz (wie er in typischer Ausprägung von Harweg (1968) vorgelegt wurde, dessen Text-Definition auf textinternen Kriterien basiert und der Text als "ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten" beschreibt) kann daher auch nicht die Komplexität des Kohärenzphänomens erfassen. Die Kohäsion eines Textes liefert dem Rezipienten Hinweise für die Erstellung von Kohärenz, hat diese aber nicht notwendig zur Folge. Umgekehrt gilt: Auch nicht explizit durch kohäsive Mittel verknüpfte Satzsequenzen wie (15) bis (18) können kohärent sein (s. hierzu auch Brinker 19923:42). (15) (16) (17) (18)
In der Nacht tobte ein Gewitter. Anna versteckte sich unter ihrer Bettdecke. Hannes spielte um Mitternacht mit seiner Band auf dem Balkon. Bei der örtlichen Polizei liefen die Telefone heiß. Noch immer läuft der Katzenmörder frei herum. Alle Ermittlungen sind bisher ohne Erfolg gewesen. Die Polizei hat keinen Verdächtigen. Peter kommt nicht zur Prüfung. Er ist krank/betrunken/nicht vorbereitet/?glücklich/??ein netter Kerl/ein guter Fußballspieler.
In (15) wird auf der Textoberfläche keine explizite Relation zwischen dem ersten und dem zweiten Satz ausgedrückt. Trotzdem wird der Text als kohärent bewertet, da der Leser durch die Schlußfolgerung ANNA HATTE ANGST VOR GEWITTERN eine konzeptuelle Ver-
Vgl. hierzu bereits das viel zitierte Josefine-Beispiel von Bierwisch 1965, das viele Rekurrenzen aufweist, aber nicht kohärent ist: Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt. Unsere Sängerin heißt Josefine. Gesang ist ein Wort mit fünf Buchstaben. Sängerinnen machen viele Worte.
27 bindung erstellt. Entsprechendes gilt für (16) und (17). Der Rezipient stellt aufgrund seines Weltwissens inhaltliche Relationen zwischen den Sätzen der Kurztexte her. In (18) liefert der zweite Satz jeweils die Begründung fur Peters Fehlen; dies ist aber nicht explizit (z.B. durch denn) ausgedrückt. Die Anwendung unseres Wissens über plausible Gründe füllt diese Lücke und verknüpft die beiden Sätze. In (19) entscheidet der Leser ebenfalls aufgrund seines Weltwissens, auf wen das Pronomen jeweils referiert. (19)
Hannoi wurde von einem Räuber2 überfallen. Er2 hatte eine Pistole./ Er, hatte aber zum Glück kein Geld bei sich.
Die Interpretation von kohäsiven Mitteln wie Pronomina und die Etablierung von Kohärenz hängt also häufig von Weltwissensaktivierungen ab (vgl. hierzu auch Van Dijk 1980:180). Die Forschung der letzten Jahre hat sich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wodurch ein Text kohärent wird. Kohärenz basiert offensichtlich vor allem auf zwei Faktoren: zum einen auf der Kontinuität der Referenzbezüge (vgl. zur "referential continuity" u.a. Hobbs 1979, Reinhart 1980, Peterson 1993, Givon 1992, 1995, Figge 1994), d.h. der wiederholten Bezugnahme auf dieselben Referenten und Referenzbereiche, und zum anderen auf den inhaltlichen Relationen, die zwischen den Textbestandteilen bestehen (und die entweder explizit oder implizit in der Textstruktur bezeichnet werden). Die Kohärenz duch Relationen zwischen Textsegmenten läßt sich folgendermaßen beschreiben: Die Segmente S1 und S2 des Textes Τ drücken die Propositionen Ρ und Q aus, die inhaltlich miteinander in einer bestimmten Verbindung stehen. Die Relationen sind dabei teils semantisch über die Propositionen (Das Bier ist im Eisschrank. Ich habe es gestern dort hineingetan.), teils pragmatisch über die Illokutionen (Das Bier ist im Eisschrank. Ich bin beschäftigt.) zu erschließen (s. hierzu Sanders et al. 1992 und Noordman/Vonk 1992, Mötsch 1996). Neuere Ansätze der Textlinguistik und Texttheorie untersuchen Kohärenz nicht mehr nur aus struktureller Perspektive, sondern auch aus prozeduraler Sicht. Kohärenz wird in prozeduralen Ansätzen als Resultat mentaler Prozesse betrachtet. Dabei wird sowohl die mentale Aktivität des Produzenten als auch des Rezipienten berücksichtigt (s. u.a. de Beaugrande/Dressler 1981, Scherner 1984, Heinemann/Viehweger 1991. Rickheit/Habel 1995). Der Textstruktur wird die Rolle zugewiesen, den Rezipienten bei der kognitiven Analyse zu "leiten". Demzufolge stellen die overten grammatischen Einheiten und Strukturen rezeptionstheoretisch gesprochen Signale dar, die zu einer bestimmten Konstruktion der mentalen Repräsentation des Textes fuhren (vgl. hierzu Givon 1992 und 1995, Hellmann 1996). Entsprechend werden die Textstrukturen aus produktionstheoretischer Sicht als Spuren der kognitiven Tätigkeit des Textproduzenten betrachtet (vgl. hierzu Batori 1981, Rochester/Martin 1982, Scherner 1994). Eine strikte Trennung von Kohäsion (expliziter Oberflächenstruktur) und Kohärenz (inhaltlicher Zusammenhang) ist m.E. im Prinzip gar nicht möglich, denn die spezifische grammatische Textstruktur löst immer bestimmte kognitive Prozesse beim Rezipienten aus, die wiederum die Aktivierung bzw. Konstruktion von Kohärenz bedingen. Inhalte werden beim Textverstehen stets über Formen vermittelt. Kohärenz basiert folglich einerseits auf den
28 sprachlichen Informationen des Textes, andererseits auf der Rezipientenaktivitat. Somit kann die in der modernen Textlinguistik diskutierte Streitfrage, ob Kohärenz7 eine Eigenschaft von Texten oder das Resultat der kognitiven Verarbeitungsprozesse der Rezipienten sei, dahingehend beantwortet werden, daß die Kohärenzetablierung stets beide Faktoren involviert. Da aber Textstrukturen in einem mehr oder weniger starken Ausmaß Kohäsion aufweisen, kann dementsprechend die kognitive Aktivität des Rezipienten je nach Text unterschiedlich stark gefordert sein (s. hierzu Kapitel 4). Die bei der Kohärenzetablierung involvierten (formal-grammatischen, semantischen und referentiell-konzeptuellen) Ebenen und deren Abhängigkeitsverhältnis ist in dem folgenden Modell darstellbar: Text
SI S2 S3 S4
IUI
PI P2 P3 P4
1 \\\
RSI RS2 RS3 RS4
Abbildung (1) Ein Text (nach der hier zugrundegelegten engen Textdefinition) setzt sich aus mehreren Sätzen mit grammatischer Struktur (in der Abbildung aus den Sätzen S1 bis S4) zusammen, denen bestimmte semantische Repräsentationen (die als Propositionen beschreibbar sind) zugeordnet werden können. Die Propositionen (PI bis P4) beziehen sich auf bestimmte referentielle Sachverhalte (RS). Das Ausmaß der geforderten Rezipientenaktivitat ist abhängig davon, inwieweit auf den jeweiligen Repräsentationsebenen formale und inhaltliche Relationen realisiert sind. So können beispielsweise auf der formalen Ebene Rekurrenzen eine textuelle Verbindung zwischen den Sätzen signalisieren, auf der propositionalen Ebene kausale (additive etc.) Beziehungen bestehen und/oder auf der referentiellen Ebene zusammengehörige Zustande oder Handlungen repräsentiert sein. Dabei können die Repräsentationen der mentalen Sachverhalte je nach
7
In der textlinguistischen Forschung wird häufig noch eine weitere Differenzierung in lokale und globale Kohärenz vorgenommen. Bei der lokalen Kohärenz handelt es sich um die inhaltliche Verbindung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Satzsequenzen in einem Text. Die globale Kohärenz betrifft die Gesamtstruktur eines Textes und somit seine Makrostruktur(en). Ich werde im Laufe der Arbeit zeigen, daß sowohl mikro- als auch makrostrukturelle Kohärenzfaktoren relevant für die Verarbeitung indirekter Anaphern sind.
29 Vorwissen des Rezipienten (aber auch je nach Situation und kognitiver Leseanforderung) unterschiedlich komplex elaboriert werden. Die wichtigste Kohärenzrelation in Texten ist die der Koreferenz. Koreferenz liegt vor, wenn zwei oder mehrere Ausdrücke dazu benutzt werden, um auf denselben Referenten Bezug zu nehmen. Koreferenz wird also als Referenzidentität interpretiert (20)
Ophelia[ kann Hamlets2 endlose Monologe3 nicht länger ertragen. Sie[ kann sie3 mittlerweile auswendig, weil er2 sie3 ständig wiederholt.
Die Ziifern in den Beispielsätzen zeigen die jeweiligen Koreferenzrelationen an. Der erstgenannte referentielle Ausdruck wird "Antezedens" oder neuerdings in Anlehnung an die englische Terminologie zunehmend auch "Antezedent" genannt. Dieser Antezedent ist der interpretative Bezugspunkt für alle weiteren Ausdrücke (die Anaphern). Zur anaphorischen Referenz können außer den Pronomina wie in Beispiel (20) die gleichen Ausdrücke wie in (21), Synonyme wie in (22), Oberbegriffe wie in (23), Paraphrasen wie in (24) oder Eigennamen wie in (25) verwendet werden (zur Anaphorik s. ausfuhrlicher Kapitel 3). (21) (22) (23) (24) (25)
Ein Mann( betrat den Raum. Der Mann [ war stark betrunken. Gestern war ich beim Frauenarz^. Dieser Gynäkologei hat aber keinen guten Eindruck auf mich gemacht. Das Taxi fuhr ihm zu langsam. Der Wagen fuhr keine 80. Ein Mann! kam gestern in unser Dorf. Der Fremdet war uns unheimlich. Die junge Fra^ betrat zögernd den Raum. Katharina Blurn hatte Angst.
Die textuelle Verbindungsfunktion anaphorischer Ausdrücke besteht in der Weiterfuhrung referentieller Bezüge über längere Textstrecken hinweg (s. z.B. Sanford/Garrod 1981, Cornish 1986, Klein/von Stutterheim 1987, 1991, Vonk et al. 1992, Petersen 1993, Tyler 1994). Die sogenannten Referenzketten in Texten sichern thematische Kontinuität. Bei der anaphorischen Wiederbenennung eines Referenten im Text spielt die Verwendung der Determinantien eine große Rolle, da spezifische Referenzbeziehungen ganz entscheidend durch die Art der jeweiligen Determination der referentiellen Ausdrücke festgelegt werden. Zur Semantik und Pragmatik dpr Determinantien gibt es mittlerweile eine Fülle von Untersuchungen (vgl. z.B. Vater 1979'. 1984, 1996, Hawkins 1978, Thrane 1980, Löbner 1985, Bisle-Müller 1991, Chesterman 1991. Heim 1982. 1991). Viele der Arbeiten zur Artikelsemantik sind dabei von der Analyse Russells (1905) beeinflußt, der die Bedeutung des definiten Artikels als Kombination von Existenz- und Einzigkeitsbehauptung angegeben hat (s. vor allem Heim 1982, 1991). Diese Kriterien sind aber zu strikt und erfassen nur einen kleinen Teil der möglichen Anwendungsgebiete des bestimmten Artikels. "Unikalität" und "Identifizierbarkeit" wird daher von vielen Linguisten ersetzt durch "Nicht-Ambiguität" oder "Lokalisierbarkeit" (s. hierzu auch Hawkins 1978, Löbner 1985, Steube/Späth 1996:2). Vater (19962:130) sieht Determination als gleichbedeutend mit "Definitmachung" der jeweiligen Referenten. Dies entspricht der Lokalisierung eines Referenten in einer Referenzmenge (s. hierzu die Ausführungen zur Erreichbarkeit von Referenten in Suchräumen in Pkt. 2.5.2). Beim Textverstehen wird der bestimmte Artikel allgemein als Interpretationssignal für den Rezipienten betrachtet. Es ist eine Art "Anweisung" an den Leser, in der Textrepräsenta-
30 tion nach einem bestimmten, bereits erwähnten Referenten zu suchen (vgl. hierzu auch Ariel 1990, Givon 1992, Gundel et al. 1993). Diese Interpretationsanweisung kann vereinfacht folgendermaßen umschrieben werden: Wenn ein bestimmter Artikel zum Referieren benutzt wird, heißt das, daß es einen mühelos zu erreichenden (Text-)Referenten gibt. In dem folgenden Beispiel findet der Rezipient den Textreferenten im unmittelbar vorausgegangenen Satz erwähnt: (26)
Ein Junge] kam angelaufen. Der Junge, war ganz außer Atem.
Mit "erreichbar" ist gemeint daß der Rezipient den Referenten der definiten NP problemlos und ohne kognitive Anstrengung in der jeweiligen Text(welt)repräsentation finden kann. Es ist aber nicht nur der bestimmte Artikel (oder eine andere Form der Determination), der relevant für die Anapherninterpretation ist, sondern auch die Semantik des Kopfnomens der NP. die als Anapher fungiert. Der bestimmte Artikel leistet nicht die Identifikation oder Lokalisierung bei der Re-Identifizierung von Referenten, sondern "kündigt sie nur an" (s. hierzu bereits Oomen 1977:54, Bisle-Müller 1991:1.4.5; s. hierzu ausführlicher Kapitel 5 und 6). Nominalphrasen mit dem unbestimmten Artikel können normalerweise nicht zur sprachlichen Wiederaufnahme eines bereits eingeführten Referenten benutzt werden. In (27) wird daher keine Koreferenzrelation angenommen: (27)
Ein Jungei kam angelaufen. Ein Junge2 war ganz außer Atem.
Manchmal finden sich aber in Texten auch Sequenzen wie die folgenden: (28)
Da hatte der Mörder, sein nächstes Opfer 2 gefunden. Am nächsten Tag fand die Polizei eine erwürgte Frau? im Schloßgarten.... Lange Zeit leugnete B., die Tat. Doch schließlich hatte die Polizei dann doch noch einen geständigen Verbrecher,.
Der Leser/Hörer wird hierbei einen geständigen Verbrecher als identisch mit der Mörder und B. sowie sein nächstes Opfer als koreferent mit eine erwürgte Frau interpretieren (s. hierzu die Anmerkungen in Kapitel 3). Die pcädizierende Informationsvermittlung steht bei dieser Referenzart im Vordergrund. Ahnlich verläuft es in (29): ein richtiger Frosch bezieht sich auf die (mittlerweile veränderte) vorher erwähnte Kaulquappe. Dadurch wird die Veränderung des Referenten in den Vordergrund gestellt. (29)
In den Wochen darauf wuchsen der Kaulquappe, auch vorne winzige Beine, und ihr Schwanz wurde kleiner und kleiner. Und eines Tages kletterte ein richtiger Frosch, aus dem Wasser. (Lionni, Fisch ist Fisch, 7)
Daß die traditionell als indefinit charakterisierten NPs zum Teil Funktionen erfüllen, die sonst nur definiten Ausdrücken zugesprochen werden, hat auch Vater in mehreren Untersuchungen hervorgehoben (vgl. z.B. Vater 1984, 1986, 1996). Vater sieht indefinite NPs dabei nicht als determinierte, sondern als quantifizierte Ausdrücke an (s. hierzu auch Pkt. 3.3).
31 Es muß jedenfalls beachtet werden, daß die Determinantien nicht per se die Lokalisierung leisten, sondern sie nur als semantisches Potential für den Rezipienten bereitstellen bzw. signalisieren. Nicht allein die Bedeutung der Determinantien sichert das Verstehen anaphorischer Relationen. Der Rezipient leistet die Zuordnung, indem er alle ihm zur Verfügung stehenden Informationen benutzt, um eine sinnvolle Textrepräsentation zu erstellen. Die Koreferenz wird also nicht nur durch sprachliche Verknüpfungsmittel etabliert, sondern auch entscheidend duch die mentale Aktivität der Sprachbenutzer. Der Zusammenhang zwischen Artikelverwendung und Wissensaktivierung ist dabei von zentralem Interesse für jede Anapherntheorie.
2.4
Repräsentationale Voraussetzungen des Textverstehens
2 4.0
Vorbemerkungen
Obgleich diese Arbeit textverstehensorientiert und somit prozedural ausgerichtet ist, so bedarf es doch der Erörterung einiger Grundannahmen zur Repräsentation des Wissens, das beim Textverstehensprozeß aktiviert und benutzt wird, da Hypothesen, die die repräsentationale Komponente betreffen, Einfluß auf die Modellierung der prozeduralen Komponente haben. Ich werde daher im folgenden kurz auf die beiden Wissenskomponenten eingehen, die für die Interpretation textueller Einheiten und Sequenzen besonders relevant sind: semantische Lexikoneinträge und konzeptuelle Organisationseinheiten.
2.4.1
Semantische Lexikoneinträge
Das mentale Lexikon (verstanden als ein im LZG gespeichertes Kenntnissystem, in dem Informationen über die Wörter unserer Sprache in Form von Lexikoneinträgen repräsentiert sind) spielt eine entscheidende Rolle bei Sprachproduktions- und Sprachrezeptionsprozessen: Der Zugriff auf das in diesem Speicher repräsentierte Wissen ist Voraussetzung für alle Sprachverarbeitungsprozesse (vgl. u.a. Emmory/Fromkin 1988, Aitchison 19942:197ff., Handke 1995:50fF., Engelkamp 1995; s. auch den Aufsatz von Schwarze (1988), der die Rolle des lexikalischen Wissens für das Textverstehen erörtert). Lexikalische Bedeutungseinheiten sind nicht isoliert abgespeichert, sondern sind durch vielfältige semantische (sowie phonologische und morpho-syntaktische) Relationen miteinander verknüpft und in semantischen Netzen organisiert. Insbesondere die Priming-Untersuchungen haben zeigen können, daß diese Netze die Basis für semantische Aktivierungsausbreitungsprozesse darstellen (s. Rickheit/Strohner 1993:117, Aitchison 19942:82ff.). Es bestehen in der Forschung allerdings große Differenzen hinsichtlich der Beziehung zwischen Lexikonbedeutungen und Weltwissensinformationen im Gedächtnis sowie zwischen Lexikonbedeutungen und kontextuellen Informationen bei der Bedeutungsinterpretation. Beide Problembereiche sind eng miteinander verknüpft, da Hypothesen, die die Reprä-
32 sentation betreffen, auch Einfluß auf die Modellierung der Interpretationsmechanismen nehmen. In der kognitiven Semantik existieren zwei theoretische Ansätze, die jeweils stellvertretend für die Positionen von Holismus und Modularismus sind. Charakteristisch für holistisch orientierte Semantikansätze ist, daß die (für die strukturelle Semantik noch zentrale) Annahme einer spezifisch sprachlichen Bedeutungsebene aufgegeben wird. Bedeutungen fallen mit den konzeptuellen Einheiten zusammen, in denen das allgemeine und das spezifische Wissen der Sprachbenutzer gespeichert wird (vgl. z.B. Lakoff 1986, Langacker 1988. Taylor 1995). Das mentale Lexikon hat somit einen ausgesprochen enzyklopädischen Charakter. Die Bedeutung der Präposition in (X IST ENTHALTEN IN Y) zu kennen, involviert beispielsweise auch die Kenntnis über die spezifischen Realisierungen dieser Relation bei unterschiedlichen Entitäten (z.B. Wasser im Hohlraum einer Vase, ein Sprung in der materiellen Substanz einer Tasse, ein Geldstück in der geschlossenen Hand). Alle semantischen Lesarten eines Lexems werden direkt im Lexikon gespeichert und als miteinander durch bestimmte Relationen verknüpfte Informationsknoten eines Netzwerkes dargestellt. Je nach Kontext wird dann die jeweilige Lesart aktiviert. Bei der Sprachverarbeitung wird die jeweilige Liste der Lesarten mit dem aktuellen Kontext verglichen und die adäquate, die dann als aktuelle Äußerungsbedeutung fungiert, ausgewählt. Nun ist es aber (u.a. aus ökonomischen Überlegungen) höchst fraglich, ob das mentale Lexikon tatsächlich listenartig alle Lesarten repräsentiert. Zudem ist die Bedeutungsinterpretation nie bloß durch eine einfache Aktivierung und Lesarten-Auswahl zu modellieren, sondern erweist sich als ein kontextabhängiger, flexibler und konstruktiver Vorgang. In modularen Lexikontheorien (Bierwisch 1983a, 1996, Lang 1991, 1994) gehören enzyklopädische Informationen nicht zu den von der Grammatik determinierten Kernbedeutungen, sondern fallen unter die Komponente des konzeptuellen Weltwissens (wobei Bierwisch 1997 und mündliche Mitteilung) gleichzeitig betont, daß zwischen Semantik und Konzeptwissen eine enge Interaktion besteht und daß die mentale "Substanz" beider Systeme wahrscheinlich dieselbe ist). Die beiden für die Interpretation sprachlicher Äußerungen relevanten Ebenen SF (semantische Form) und CS (konzeptuelle Struktur) werden unterschiedlichen Modulen im Kognitionssystem des Menschen zugeordnet. SF ist sprachgebunden, lexikon-basiert und komponentiell. CS ist dagegen sprachunabhängig, intermodal und kombinatorisch (vgl. Lang 1994:27f.). Die modularen Modelle, die wegen ihrer Unterscheidung in zwei inhaltliche Ebenen auch Zweistufen-Semantiken genannt werden, unterscheiden dabei die im Lexikon gespeicherte, abstrakte und kontextinvariante Kernbedeutung eines Wortes und die im Kontext ausdifferenzierte, spezifische Äußerungsbedeutung (vgl. Lang 1991:27ff). Zweistufigkeit impliziert somit auch die strikte Trennung der lexikalischen Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke von deren situationsabhängigen referentiellen Werten (vgl. Bierwisch/Schreuder 1992:25f). Die lexikalische Bedeutung enthält nicht alle möglichen Lesarten, sondern ist als unterspezifizierte Repräsentation konzipiert, die aus einer Komposition semantischer Primitiva mit Parametern und Variablen besteht. Im Falle der Bedeutung von in (DAS ZU SITUIERENDE OBJEKT X IST ENTHALTEN IN EINER REGION VON Y) ergeben sich dementsprechend die Interpretationen von χ und y durch kontextuell abhängige Instantiierungen. Es existiert jedoch bislang keine präzise Vorstellung darüber, wie der Zugriff auf die konzeptuelle Ebene im Interpretationsprozeß erfolgt (vgl. hierzu auch Dölling 1997).
33 In der jüngsten Zeit etablieren sich zunehmend "gemischte Ansätze", die Aspekte der beiden Modelle integrieren (vgl. Egg 1994, Meyer 1994, Schwarz 1995). Pustejowski (1995) erweitert Lexikoneinträge um die "Qualia-Strukturen" (d.s. mentale Repräsentationen, die über die strikte Dekompositionsstruktur hinausgehende Angaben machen). Er betont zudem die Kreativität der Sprachbenutzer bei der Sprachverarbeitung (Pustejowski 1997 und mündliche Mitteilung). Einerseits ist es kognitiv unplausibel, alle möglichen Informationen in die semantisehen Repräsentationen der Lexikoneinträge zu "stopfen" und das Zustandekommen semantischer Lesarten durch unflexible Aktivierungsprozesse zu erklären, andererseits besteht ohne Zweifel (und empirisch-experimentell nachgewiesen) ein enger repräsentationaler Zusammenhang zwischen Semantik und konzeptuellem System sowie zwischen kompositionalen und nichtkompositionalen (z.B. inferentiellen) Prozessen (s. hierzu meinen Vorschlag in Pkt. 2.4.3). In diesem Zusammenhang stellt sich ohnehin die Frage, wodurch eine Unterscheidung motiviert ist und ob sie nicht ein Artefakt oder ein Anachronismus linguistischer Theoriebildung ist. Der Hinweis auf Ökonomie-Überlegungen ist als Argument nicht stark genug, da die aus dem Lexikon ausgegrenzten Informationen dann eben in einem anderen Teil des LZG gespeichert sind und somit für das kognitive System nur die Verteilung der Repräsentationen anders ist. Als starke Evidenz sind aber die Befunde der kognitiven Neurowissenschaften zu bewerten, die für eine gewisse Dissoziierbarkeit des lexikalischen (grammatikdeterminierten) Wissens und des enzyklopädischen Wissens sprechen (vgl. u.a. Shallice 1988, Hillert 1994, Kelter 1990, 1994). Es fehlen aber auch in diesem Forschungsbereich durchgängig eindeutige Belege. Die moderne Sprachverarbeitungsforschung (kognitiver wie neuronaler Ausrichtung) hat gleichzeitig gezeigt, daß Sprachverstehen nicht allein auf der Aktivierung lexikalischen Wissens beruht, sondern entscheidend von der Aktivierung konzeptuellen Weltwissens determiniert wird. Die semantische Information (so habe ich bereits anhand diverser Textbeispiele gezeigt) reicht oft nicht aus, um Koreferenz zu erkennen und Kohärenz zu etablieren. Die mentale Textrepräsentation muß mittels kognitiver Strategien durch konzeptuelle Informationen elaboriert werden. Die Erklärung der Interpretation textueller Strukturen führt somit zu der Frage, wie konzeptuelles Wissen im LZG repräsentiert ist, wie es mit semantischem Wissen verknüpft ist und wie es beim Textverstehen abgerufen wird.
2.4.2
Weltwissen und konzeptuelle Schemata
Unsere Kognition besteht aus verschiedenen mentalen Subsystemen (den sogenannten "Modulen"), die nach spezifischen Prinzipien aufgebaut sind und mit modalitätsspezifischen Repräsentationen (motorisches, taktiles. räumlich-perzeptuelles Wissen usw.) operieren (wobei anzumerken ist, daß die strikte Modularitätskonzeption im Sinne Fodors (1983) längst durch die Ergebnisse der empirischen Kognitions- und Neurowissenschaften zugunsten einer Konzeption aufgegeben wurde, die zwar die strukturellen und funktionalen Eigengesetzmäßigkeiten der Module berücksichtigt, deren repräsentationale Überschneidung und prozedurale Interaktion mit anderen Subsystemen aber wesentlich stärker betont). In unseren perzeptuellen und kognitiven Prozessen beziehen wir Informationen aus diesen verschiedenen Kenntnissystemen aufeinander, d.h. wir integrieren Informationen zu holistischen Einheiten und Wahrnehmungserlebnissen.
34 Einer Hypothese der Kognitionsforschung zufolge wird dieser Prozeß durch die abstrakte Ebene des konzeptuellen Systems, die Informationen amodal oder zumindest intermodal speichert, ermöglicht. Das konzeptuelle System speichert zugleich unser gesamtes Weltwissen (zur allgemeinen Konzept-Problematik vgl. u.a. Murphy 1991, Peacocke 1992, Fodor 1994, Kelter 1994). Allgemeines Weltwissen untermauert jeden Aspekt unserer Erfahrung. Ohne Rückgriff auf dieses Wissen könnten wir unsere Erfahrungen nicht sinnvoll einordnen oder interpretieren Bisher habe ich immer nur sehr allgemein von der Rolle des Weltwissens bei der Sprachverarbeitung gesprochen. Was genau ist das für ein Wissen? Wie ist dieses Wissen im LZG organisiert und repräsentiert? Und wie aktivieren wir in Verstehensprozessen die jeweils relevanten Teilbereiche dieser komplexen Wissensmenge? Mit diesen Fragen haben sich die Disziplinen der Kognitionswissenschaft in den letzten Jahren intensiv auseinandergesetzt (s. z.B. Schank/Abelson 1977, Minsky 1980, Metzing 1980, Brown/Yule 1983, Smith/Swinney 1992, Barsalou 1992). Unser Weltwissen ist zu einem großen Teil in Form von Annahmen über typische Exemplare von Objekt-, Handlungs- oder Situationskategorien gespeichert. Diese Annahmen repräsentieren Standardinformationen. Zur Darstellung solch komplexer Standardinformationen sind die sogenannten "Schemata" (von mir im folgenden als Oberbegriff für "Frames", "Orientierungsbereiche", "Szenarios", "Skripts" etc. benutzt) vorgeschlagen worden (s. auch Konerding (1993), der ausführlich die Relevanz der kognitionswissenschaftlichen Schema-Konzeption für die linguistische Lexikologie erörtert). Schemata sind netzartig strukturierte Modelle im LZG, die stereotype Gegenstandsbereiche, Situationen und Handlungen mental repräsentieren. Ich werde im folgenden den Terminus "Schema" als Bezeichnung für eine komplexe konzeptuelle Wissensstruktur im LZG verwenden, die typische Informationen eines bestimmte Realitätsausschnittes repräsentiert. Die Basiseinheiten dieser komplexen Repräsentationen sind Konzepte. Konzepte sind im LZG nicht isoliert, sondern durch verschiedene Relationen verknüpft abgespeichert. Ein Schema repräsentiert somit miteinander verbundene konzeptuelle Informationsknoten über Gegenstände und Sachverhalte. Die konzeptuellen Einheiten der Schemata sind als Variablen (die allgemeine stereotypische Charakteristika, sogenannte Defaults, repräsentieren) konzipiert. Diese Variablen werden im Verstehensprozeß mit konkreten Werten besetzt. Entspricht ein Sachverhalt oder eine sprachliche Sachverhaltsdarstellung nicht den Defaults eines Schemas, werden durch kognitive Strategien (z.B. Problemlösungsprozesse) entsprechende Modifikationen vorgenommen. Wir verfügen über statische Objektschemata, die typische Bestandteile von Objektklassen repräsentieren: Das HAUS-Schema in unserem LZG beispielweise beinhaltet, daß ein Haus ein Wohn-Gebäude ist, das Wände hat, Fenster, Türen, ein Dach, einen Keller usw. Neben diesem allgemeinen Haus-Schema besitzen wir auch noch spezifischere Schemata zu Hochhaus, Bungalow, Fachwerkhaus usw. Bestandteile eines Schemas können wiederum eigene Schemata darstellen: z.B. das FENSTER-Schema, das die Informationen repräsentiert, daß ein Fenster normalerweise aus Glas oder Kunststoff besteht, einen Rahmen hat, geöffnet werden kann usw. Viele Schemata sind dynamisch und stellen typische Vorgänge oder Handlungsabläufe dar (z.B. Besuch eines Restaurants, Besuch einer Vorlesung). Man spricht hier auch von "Skripts" (s. Bower et al. 1979, Walker/Yekovich 1987, Wilson et al. 1993). Skripts sind sozusagen unsere mentalen Drehbücher für Handlungsabläufe. Ein Skript besteht aus einer
35 Liste von einfachen Handlungen, aus denen sich eine komplexe Handlung konstituiert. Bestandteile von Skripts sind dabei die Personen (mit bestimmten Rollen) und die Requisiten (mit bestimmten Funktionen). So ist im RESTAURANT-Skript u.a. gespeichert, daß Kellner nach den Wünschen der Gäste fragen und sie bedienen, Köche in der Küche kochen, Gäste an Tischen sitzen, Speisen bestellen, dann essen und später bezahlen (vgl. Schänk/Abelson 1977. Wettler 1980. Bartsch 1987). In Anlehnung an Schänk/Abel son (1977) und Bower et al. (1979) unterscheide ich Rollen-Konzepte (z.B. im Restaurant-Schema GAST. KELLNER, KOCH etc.), RequisitenKonzepte (z.B. TISCH, SPEISEKARTE etc.), Voraussetzungskonzepte (z.B. HUNGER HABEN, GELD HABEN etc.) und Resultatskonzepte (z.B. WENIGER GELD HABEN, KEINEN HUNGER MEHR HABEN etc.). Im Skript verzeichnet sind dabei auch Informationen über den typischen Ablauf der jeweiligen Handlung (z.B. ERST RESTAURANT BETRETEN, DANN AN EINEN TISCH SETZEN, DANN DEN KELLNER HERANWINKEN, etc.). Die Verfügbarkeit des Schema-Wissens über Situationen und Handlungsabläufe wird vom Textproduzenten bei der Produktion sprachlicher Äußerungen vorausgesetzt. Dementsprechend werden viele Aspekte der Referenzbereiche, auf die Bezug genommen wird, gar nicht genannt, da sie als erschließbar und somit als redundant erachtet werden (s. hierzu die Erörterung zur Unterspezifikation in Kapitel 4). Bei dem folgenden Witz mit der indirekten Anapher den Aufsatz setzt der Produzent beispielsweise voraus, daß der Rezipient in seinem Schema WISSENSCHAFTLICHE ARBEIT als einen Default das PUBLIZIEREN VON AUFSÄTZEN gespeichert hat. (30)
Zwei Professoren im Gespräch über ihre wissenschaftliche Arbeit. Klagt der eine: "Manchmal habe ich aber auch keinerlei Einfalle mehr." Sagt der andere: "Stimmt! Den Aufsatz habe ich letztens gelesen." (Bäckerblume 7, 1992, 8)
Auch der folgende Text ist unvollständig in Bezug auf die Referenzstruktur: (31)
Auf der Piazza della Esedra...Die Schaufenster der Geschäfte lagen hinter Gittern. Die Kaufleute waren mißtrauisch, fürchteten die Nacht und die Räuber. Die Auslagen waren erleuchtet. (Koeppen, Der Tod in Rom, 40)
Die folgenden Informationen sind nicht explizit aufgeführt (da sie als allgemeines Wissen vorausgesetzt werden und damit weglaßbar sind): Die Geschäfte gehören Kaufleuten. In der Dunkelheit und Einsamkeit der Nacht kommen oft Räuber, um die Geschäfte auszurauben. Deshalb sind zum Schutz Gitter angebracht. Die Auslagen sind als Auslagen in den Schaufenstern (und nicht auf der Straße) zu lokalisieren. Nicht geklärt ist jedoch bis heute, wie komplex bzw. wie tief die konzeptuelle Zerlegung jeweils geht. Ein Problem der Schema-Theorie ist es also, eine Erklärung zu liefern, wie der Inferenzprozeß eingeschränkt wird. Es wäre viel zu aufwendig und für das Kurzzeitgedächtnis (KZG) eine kapazitäre Überlastung, wenn der Rezipient immer alle in dem jeweils aufgerufenen Schema gespeicherten Informationen gleichermaßen aktivieren würde. Die Begrenzung der Aktivierung wird durch verschiedene Faktoren (Situation, Anforderungen, Motiva-
36 tion, Interesse) determiniert. Die Komplexität der konzeptuellen Repräsentation richtet sich offensichtlich nach der Rezeptionssituation und den jeweiligen kognitiven Anforderungen. In unserem Sprachverarbeitungsprozessor ist aber auch ein allgemeiner Mechanismus verankert, der eine Überflutung des KZG verhindert und die Inferenzziehung auf die relevanten Schlüsse begrenzt. Dieser Selektionsmechanismus aktiviert nur die jeweils relevanten Einheiten. Gleichzeitig werden die nicht-salienten Wissenseinheiten gehemmt. Ein spezifischer Teilprozeß dabei ist die Fokussierung, wobei bestimmte textuelle und/oder kognitive Einheiten in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken und als saliente Repräsentationen besonders schnell zugänglich sind. Jede Textverstehenstheorie muß also den Prozeß der Fokussierung berücksichtigen (s. hierzu Pkt. 6.1.4). Daß Faktoren der mentalen Fokussierung eine wesentliche Rolle bei der Erklärung semantischer Phänomene spielen, wird dabei auch zunehmend in der modelltheoretisehen und dynamischen Diskurssemantik erkannt. So stellt Heim (1991:506) angesichts der situationsbedingten Beschränkung des Individuenbereichs bei der Anaphorik die Frage, ob sich "psychologische Begriffe wie Auffälligkeit und Aufmerksamkeit so explizieren lassen, daß die Verwendung des definiten Artikels vorausgesagt werden kann". Wodurch bestimmte Einheiten in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, ist jedoch bisher nicht eindeutig geklärt. Im Textverstehensprozeß werden Informationen, die in Schemata gespeichert sind, automatisch, mühelos und meistens völlig unbewußt "mitverstanden". Über die sprachlichen Ausdrücke, die im LZG an Schema-Informationen geknüpft sind, werden die nicht expliziten Schema-Bestandteile latent mitaktiviert. Textverstehen sollte aber nicht in totaler Abhängigkeit von der Schema-Aktivierung betrachtet werden (wie dies inbesondere in den frühen Schema-Modellen der Fall ist). Rezipienten verstehen auch mühelos Texte, die nicht mit den Defaults des jeweils aktivierten Schemas bzw. Skripts kompatibel sind: (32)
Wir saßen gemütlich im Restaurant. Da kam plötzlich der Kellner durch die Küchentür getorkelt (an dieser Stelle entsteht beim Rezipienten on-line bereits die Erwartung für eine bestimmte Interpretation: z.B. DER KELLNER IST BETRUNKEN oder DER KELLNER IST VERLETZT/UNPÄSSLICH etc.). Er hatte eine Flasche Whisky in der Hand und lallte /Er war bleich und zitterte vor Angst./Er hatte eine klaffende Wunde am Kopf, (eine bestimmte antizipierte Lesart wird jeweils bestätigt).
Wir verstehen auch Informationen, die nicht direkt im Schema gespeichert sind, da wir nicht nur statisch Wissensstrukturen gespeichert haben, sondern (als Teil unserer prozeduralen Kompetenz) auch flexible Strategien zur Verfügung haben, die den Textrezeptionsprozeß leiten. Schemata spielen nicht nur bei der Sprachverarbeitung eine wichtige Rolle, sondern auch bei allen anderen kognitiven Prozessen (wie z.B. der visuellen Analyse von Objekten und Szenen in der Wahrnehmung; vgl. Humphreys 1983). Sie fungieren als kognitive Modelle, die das Gerüst in der Organisation und Interpretation von allen individuellen Erfahrungen darstellen. Nicht allen Schema-Variablen lassen sich also sprachliche Repräsentationseinheiten zuordnen. Das mentale Schema fiir ROSE beispielsweise enthält auch ein mentales Bild (also das Perzept einer prototypischen Rose) sowie Informationsknoten olfaktorischer und taktiler Art. Die sprachlichen und visuellen Repräsentationsknoten mentaler Schemata
37 sind aber die bisher am intensivsten untersuchten Einheiten. Festzuhalten bleibt jedenfalls ein Aspekt, der in der Forschung oft nicht hinreichend genug beachtet worden ist: Schemata stellen Organisationskomplexe unserer Kognition dar, die modulübergreifende Eigenschaften und somit integrative Funktionen bei der Verarbeitung von Sinneserfahrangen haben. Bislang wurde die Frage, welche Relation zwischen Schemata und semantischen Lexikoneinträgen besteht, nicht beantwortet. Diesem Aspekt wende ich mich nun zu.
2.4.3
Kognitive Domänen: Bedeutungen und ihr konzeptueller Skopus
Daß Lexikoneinträge mit konzeptuellen Wissensstrukturen verbunden sind, wird nicht bestritten. Die Erklärung der Art dieser Verbindung jedoch stellt für jede kognitive Semantiktheorie ein gewichtiges Problem dar und wird seit einigen Jahren unter der Bezeichnung "Schnittstellen-Problematik" erörtert. Hinsichtlich der Repräsentation semantischer und konzeptueller Einheiten im Gedächtnis argumentiere ich für die folgende Konzeption: Die offensichtlich engen Beziehungen zwischen kompositionalen8 und nicht-kompositionalen Prozessen bei der Sprachverarbeitung lassen sich plausibel durch ein Modell erklären, das keine strikte Trennung zwischen semantischer und konzeptueller Repräsentationsebene postuliert, sondern die repräsentationale Interdependenz und das prozessuale Zusammenwirken dieser beiden Wissenssysteme berücksichtigt. Ich gehe daher davon aus, daß semantische Repräsentationen und konzeptuelle Einheiten durch prozedurale Routen (d.s. Relationen, über die Aktivationszustände ausgelöst bzw. weitergegeben werden können) verbunden sind. Somit sind semantisches Gedächtnis und Konzeptgedächtnis nicht als zwei völlig autonome Speicher zu verstehen, sondern als eng miteinander verknüpfte Kenntnissysteme. Als Schnittstellen-Vermittler fungieren die Schemata, da sie sich sowohl aus sprachlichen als auch nicht-sprachlichen Informationen zusammensetzen. So schlagen sie eine Brükke vom Kenntnissystem Sprache zur nicht-sprachlichen Kognition. Die Annahme abstrakter, kontextinvarianter und grammatikdeterminierter Bedeutungseinträge im Lexikon bleibt erhalten. Es handelt sich um Kernbedeutungen im engeren Sinne, die an Zeichenkörper gebunden sind und den sprachlich relevanten Ausschnitt des zugrundeliegenden Konzeptes darstellen. Jede lexikalische Bedeutungsrepräsentation hat aber einen bestimmten "konzeptuellen Skopus" im Gedächtnis, mit dem sie über prozedurale Routen verbunden ist. Dieser Skopus bildet quasi den enzyklopädischen Hintergrund des Lexikoneintrags, fungiert somit wie eine Art kognitionsinhärenter Kontext. Je enger die SkopusInformationen an die semantische Repräsentation gekoppelt sind, desto wahrscheinlicher ist die gleichzeitige Aktivierung beider Informationen bzw. die Semi-Aktivierung der jeweils angeknüpften Information bei Aktivierung des Lexikoneintrags (zur Semi-Aktivierung s. Pkt. 6.1.4).
Dem Kompositionalitätsprinzip zufolge läßt sich die Bedeutung eines Ganzen als Funktion der Bedeutung seiner Teile und deren Kombination erklären. Beim Textverstehen jedoch reicht die Komposition der im Text enthaltenen Zeichenbedeutungen oft nicht aus, um eine Kohärenzstruktur zu etablieren und den Textsinn zu erschließen. Daher müssen konzeptuelle Inferenzprozesse, die nicht notwendigerweise kompositional arbeiten, bemüht werden.
38 Diese Annahme wird empirisch durch psycholinguistische Priming-Experimente und Deblockierungen bei Aphasie-Patienten, deren Lexikonzugang blockiert ist und durch nichtsprachliche Repräsentationseinheiten deblockiert wird, gestützt (vgl. u.a. Flores d' Arcais 1986, Kelter 1990). Im Lexikoneintrag ist also nur die kontextinvariante, unterspezifizierte Kembedeutung repräsentiert. Dies wäre beispielsweise für Haus ( W O H N G E B Ä U D E ) oder fiir erschießen (AGENS X T Ö T E T PATIENS Y MIT INSTRUMENT Ζ (SCHUSSWAFFE Z)). Über prozedurale Routen aber sind diese Repräsentationen verknüpft mit im Konzeptgedächntis gespeicherten Schemata. Der jeweilige konzeptuelle Skopus eines Lexikoneintrags entspricht den Defaultvariablen des angeknüpften Schemas. Diese werden bei der Aktivierung des entsprechenden semantischen Eintrags ebenfalls in einen Aktivitätszustand versetzt und determinieren somit die Präferenz oder die Akzeptanz einer Lesart beim Rezipienten. So sind im Schema von SCHUSSWAFFE verschiedene Standardwerte gespeichert, die j e nach Kontext instantiiert werden (oder entsprechend spezifischer belegt werden) und die Instrument-Variable der semantischen Repräsentation konzeptuell besetzen. (33)
Hanna hat Hans erschossen. Die Pistole/Das Gewehr/Die Flinte/Der Revolver/Die Walter PKK/Die Uzi war gestohlen.
Im konzeptuellen Handlungs-Schema für ERSCHIESSEN sind aber auch weitere Informationen (wie z.B. Ursachen für die Handlung, Begleitumstände, Folgen etc.) gespeichert (bzw. durch Strategien zu erschließen). (34) (35) (36) (37)
Hanna Hanna Hanna Hanna
hat hat hat hat
Hans Hans Hans Hans
erschossen. erschossen. erschossen. erschossen.
Der Knall war bis nach Gladbach zu hören. Die Wunde blutet furchtbar. Das Motiv war Eifersucht. Die Polizei fand die Waffe im Küchenschrank.
Diese Informationen gehören nicht zum Lexikoneintrag von erschiessen, bilden aber seinen konzeptuellen Skopus. Die semantischen Informationen des Lexikoneintrags und die angekoppelten konzeptuellen Informationen dieses Skopus bilden zusammen eine kognitive Domäne. Die Bedeutung stellt dabei den sprachlich relevanten Ausschnitt aus der kognitiven Domäne dar. Mit der Konzeption der kognitiven Domäne wird der Tatsache Rechnung getragen, daß semantische und konzeptuelle Informationen substanziell gleich und im Gedächtnis eng aneinander gekoppelt gespeichert sind.
[FOLGEN] IBEGLEITUMSTÄNDEJ MOTIVEI t t Τ E R S C H I E S S ( x , y, ζ) (X (AGENS) TÖTET Y (PATIENS) MIT Ζ (INSTRUMENT IST SCHUSSWAFFE Z)).
Abbildung (2): Teil der kognitiven Domäne von ERSCHIESS
39 Die im Fettdruck dargestellten Informationen stellen die lexikalische Kerninformation dar, die in Form von Variablen angegeben ist. Die Rollen lassen sich so je nach Kontext unterschiedlich besetzen. Die Pfeile symbolisieren die prozeduralen Routen, über die Weltwissen aktiviert werden kann. Die Nahtstelle zwischen semantischem und konzeptuellem Wissen liegt in den Einträgen des mentalen Lexikons. Vgl. hierzu auch Sperber und Wilson (1986), die davon ausgehen, daß jedes Konzept einen mehrelementigen Komplex darstellt, der aus einer sprachlichen Repräsentation, assoziativen Verbindungen zu benachbarten Wissensnetzen und den verknüpften logischen Operationen und Beziehungen besteht. Es lassen sich aus linguistischer Perspektive Arbeitshypothesen über den Umfang kognitiver Domänen machen; die tatsächliche Aktivitätsstärke der Relationen jedoch läßt sich nur empirisch-experimentell (z.B. mittels Priming- und ERP-Techniken) überprüfen (vgl. z.B. George et al. 1994). Durch die Rezeption sprachlicher Einheiten werden die jeweils relevanten Domänen aktiviert, die dann einen entscheidenden Einfluß auf die Textinterpretation nehmen. Beim Textverstehen wird die Aktivierung konzeptueller Wissenskomplexe also durch die Aktivierung der Bedeutungsrepräsentationen der sprachlichen Ausdrücke in den jeweiligen Textstrukturen ausgelöst (ausführlicher hierzu s. Pkt. 5.2). Da die konzeptuellen Schemata nicht voll-spezifizierte Repräsentationen darstellen, sondern (wie die Lexeme) mit Variablen und Parametern ausgestattet sind, bleibt die Flexibilität und Konstruktivität der Rezipienten berücksichtigt. Eine spezifische Lesart ist somit nicht bloß die aktivierte und abgerufene Lesart aus dem LZG, sondern stets das Resultat der Interaktion von lexikalischer, konzeptueller und kontextueller Information.
2.5
Referentialisierung und die Konstruktion mentaler Modelle
2.5.1
Mentale Sachverhaltsrepräsentationen als Referentialisierungsstrukturen
Es hat sich bei der Erklärung textreferentieller Aspekte (z.B. bei der Erklärung abstrakter, fiktiver, negierter9 und real gar nicht existierender Referenten) nicht nur als heuristisch hilfreich, sondern auch als kognitiv notwendig erwiesen, von einer mentalen Ebene auszugehen, die während des Textverstehens gebildet und im Gedächtnis repräsentiert wird und als Mittlerebene zwischen Sprache und Welt fungiert. Entsprechend ist übrigens auch die Diskursrepräsentationsebene in der dynamischen Semantik konzipiert. Allerdings ist diese zum
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In Raabes Hungerpastor (1966:197) findet sich ein schönes Beispiel für eine solche Form der Referenz (Hinweis von Manfred Consten): "... denn sie hatte kein Kind geboren, und ihr Sohn konnte später nicht am Tisch sitzen, ein so gelehrter Mann, und konnte nicht über seine Bücher herübersehen und mit den Augen winken." Die Existenz des Referenten wird zuerst negiert, dann aber wird auf eben diesen nicht existierenden Referenten definit mit ihr Sohn verwiesen.
40 einen stark an Wahrheitswertbedingungen geknüpft und zum anderen hat sie Schwierigkeiten, Faktoren der nicht-sprachlichen Kognition in die Diskursrepräsentation zu integrieren. Die Grundannahme konstruktivistischer Verstehenstheorien ist, daß der Rezipient unter Hinzuziehung seines Weltwissens eine komplexe Repräsentation der im Text dargestellten Sachverhalte erstellt, also ein mentales Modell aufbaut (vgl. u.a. Johnson-Laird 1983, 1994. Garnham/Oakhill 1992, Smith/Swinney 1992, Schnotz 1993, Wrobel/Rickheit 1994, Kelter/Habel 1996). "Sachverhalt" fungiert hierbei als übergeordneter Terminus für Zustände, Vorgänge und Handlungen und deren Einbettimg in raum-zeitliche Domänen. Der Aufbau eines mentalen Modells vollzieht sich Johnson-Laird zufolge in zwei verschiedenen Prozeßschritten: Zuerst erstellt der Rezipient beim Lesen eine propositionale Repräsentation, die sprachnah das im Text tatsächlich explizit Genannte darstellt. Auf diese Repräsentation aufbauend erfolgt dann die Repräsentation des mentalen Modells (s. hierzu auch Perrig/Kintsch 1985. Wilson et al. 1993). Ein mentales Modell stellt eine mentale Sachverhaltsrepräsentation dar und ist formal darzustellen als Konstellation von konzeptuellen Einheiten und Relationen in einer Netzwerkstruktur (vgl. hierzu de Beaugrande/Dressler 1981:107f.; s. auch Habel 1986; von manchen Forschern werden Informationen des Modells aber auch durch Propositionen dargestellt; vgl. z.B. Van Dijk/Kintsch 1983). Es werden stets nur kleine Teile von mentalen Modellen exemplarisch formalisiert, da größere Texte zu "Explosionen" im Darstellungsformat führen (man stelle sich z.B. die Netzwerkstruktur des mentalen Modells von Manns "Zauberberg" vor!). Ähnliche theoretische Konstrukte sind die "Textwelt" von de Beaugrande/Dressler (1981) und Strohner (1990), das "Situationsmodell" von Van Dijk/Kintsch (1983) und das "Szenario" von Sanford/Garrod (1981 und folgende Arbeiten; vgl. auch Garrod 1995). Es gibt zwar mittlerweile eine Fülle an Arbeiten zur Mentale-Modelle-Theorie, Aussagen über die Prozesse, die zum Aufbau und zur Konsolidierung solcher Modelle führen, sind aber eher spärlich gehalten. Die Einführung von Referenten in das Textweltmodell ist noch nicht hinreichend untersucht, ebenso fehlt eine vergleichende Analyse von anaphorischen und indirekt-anaphorischen Ausdrücken. Nicht geklärt ist auch, unter welchen Bedingungen nicht explizit genannte Referenten im Textweltmodell erschlossen werden. Diesen Aspekten werde ich mich in den folgenden Kapiteln widmen. Sachverhaltsrepräsentationen werden von mir als das Ergebnis von Referentialisierungsprozessen betrachtet. Referentialisierung habe ich (in Pkt. 2.2) als den Teilprozeß beim Textverstehen definiert, der eine bestimmte Referenz etabliert und mental repräsentiert. Jedem Referentialisierungprozeß geht dabei die syntaktisch-semantische Analyse der sprachlichen Ausdrücke voraus. Referentialisierung führt zur Erstellung einer spezifischen konzeptuellen Repräsentation. Diese konzeptuelle Repräsentation beinhaltet somit einerseits Informationen aus dem Text, andererseits aber auch Informationen aus dem LZG des Rezipienten. Dabei können (müssen aber nicht) bildhafte, analoge Repräsentationen integriert sein. Bei der Rezeption eines sehr abstrakten Textes erfolgt auch die Konstruktion eines mentalen Modells (als Synthese sprachlich explizit genannter und vom Rezipienten zusätzlich aktivierter Informationen), es braucht aber keine bildhafte Repräsentation dabei erstellt zu werden. In diesem Sinne ist also eine mentale Sachverhaltsrepräsentation eine Referenüalisierungsstruktur, wobei (kontextuell interpretierte) Konzepte zu einem komplexen kognitiven Modell verbunden werden. Ich werde die mentale Sachverhaltsrepräsentation, die im Rezeptionsprozeß aufgebaut wird, im folgenden als "Textweltmodell" (TWM) bezeichnen. Durch diesen Terminus wird einerseits der Modellcharakter jeder Referentialisierungsstruktur und
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die Abhängigkeit vom Rezipienten, andererseits die Bindung dieses Konstrukts an die Textstruktur hervorgehoben. Beim Textverstehen erstellt also der Rezipient Rz auf der Basis des Textes Τ eine mentale Struktur S, indem er Informationen von Τ mit Informationen aus seinem Gedächtnis G so verbindet, daß ein Modell der in Τ dargestellten Welt W entsteht. S ist das Textweltmodell (TWM). TWM wird hier in einer weiten Definition verstanden: Es handelt sich nicht um ein analoges, bildhaftes Modell, das lediglich als konzeptueller "Zusatz" zur propositionalen Basisstruktur des Textes entsteht, sondern um das jeweilige Resultat eines Rezeptionsprozesses, das textinterne und textexterne Informationen integriert. Das im Rezeptionsvorgang entstehende Textweltmodell bildet eine kognitive Zwischenebene im Gedächtnis und fungiert damit als ein Mittlersystem zwischen sprachlicher Textstruktur und außersprachlicher Welt. Das Textweltmodell enthält je nach Referentialisierung Tokens und/oder Types, also konzeptuelle Repräsentationseinheiten, welche die Objekte (im weitesten Sinn) des im Text geschilderten Sachverhalts repräsentieren. Außerdem stellt es die Relationen dar, die zwischen den Tokens und/oder Types bestehen. Es enthält weiterhin Informationen, die zeitliche und räumliche Relationen und Konstellationen angeben. Das Textweltmodell wird im on-line-Verstehen schrittweise durch neue Informationen aufgebaut. Jede neu hinzukommende Information wird in das bereits bestehende Modell integriert. Diese Integration verläuft weitgehend nach probabilistischen Prinzipien, die auf Weltwissensschemata operieren (s. hierzu auch Johnson-Laird 1994). Die Prinzipien richten sich dabei jeweils nach der im Text angesprochenen Textwelt, deren Gesetzmäßigkeiten sehr unterschiedlich definiert sein können (vgl. z.B. die Textwelt eines Märchens, eines Science Fiction Romans oder eines Heimatromans). Das Textweltmodell ist nicht nur als Produkt des Textverstehens zu betrachten. Es hat eine wichtige Funktion bei der sukzessiven Verarbeitung aller weiteren Textbestandteile und determiniert on-line deren Interpretation. Alle Referentialisierungen werden vor dem Hintergrund des jeweiligen Textweltmodells interpretiert. Das Modell kann dabei durch neue Informationen verändert und modifiziert werden (s. hierzu auch die Konzeption der "referentiellen Bewegung" als "Entfaltung von Information von Äußerung zu Äußerung" von Klein/von Stutterheim 1987:166; 1991:25, die allerdings stark produzentenorientiert ist). Die Token-Repräsentationen der Textreferenten können beispielsweise erweitert und spezifiziert werden (s. ausfuhrlicher hierzu Pkt. 3.2 und 6.3). In dem folgenden Zeitungstext bleiben die Repräsentationen der Textreferenten SPAZIERGÄNGER und KRIMINALPOLIZEI unverändert, der zuerst abstrakt repräsentierte Textreferent GRAUSIGER FUND erhält dagegen die folgende Spezifizierung im Textweltmodell: (INSTANTIIERUNG: GRAUSIGER FUND IST REISETASCHE (MIT INHALT (LEICHENTEILE)). (38)
Einen grausigen Fund machte gestern ein Spaziergänger an der Neyetalsperre bei W. Er entdeckte eine Reisetasche, in der Leichenteile verpackt waren. Die Kriminalpolizei übernahm die Ermittlungen. (KSTA 4.8.97, 28)
Das Textweltmodell im Gedächtnis des Rezipienten präsentiert sich dann (off-line) folgendermaßen (SV steht für Sachverhalt; TR für Textreferent; Orts- und Zeitangaben lasse ich hierbei weg):
42 I SPAZIERGÄNGER 1 " '| findet [REISETASCHE
1R2
(INHALT (LEICHENTEILE
1R3
))|
SV
I KRIMINALPOLIZEI 1144
ERMITTELT HINSICHTLICH (TR2 und TR3)
Abbildung (3) zum Textweltmodell von Text (38) Bei dem folgenden Text bleibt bei der on-line-Rezeption die Referentialisierungsrepräsentation von eine Leiche unspezifisch und damit ambig (dies dient der Spannungssteigerung). Es kann sich um Schubart handeln oder um den ungebetenen Besuch (wobei inferiert wird, daß es sich dabei nicht um eine Ratte oder einen Hund handelt, sondern um einen oder beide Räuber). (39)
Tatort: Geld oder Leben Banküberfall in Berlin: Die Täter erschießen den Kurier einer Geldtransportfirma. Kassierer Schubart schaltet blitzschnell: Er dreht den Räubern zwei leere Geldkoffer an - läßt 850.000 Mark verschwinden. Abends erhält Schubart ungebetenen Besuch. Am nächsten Morgen fischt die Kripo eine Leiche aus der Spree. (90 Min. Dann ein Bild, unter dem folgender Text steht: Die Kommissare Roiter und Zorro nehmen Schubart ins Gebet.; Hörzu 37, 1997, 44)
Der konzeptuelle Knoten für LEICHE wird im Textweltmodell erst durch die Information unter dem Bild disambiguiert: Der Rezipient kann nun wenigstens ausschließen, daß Schubart die Leiche ist. Eine konkrete Token-Repräsentation ist dennoch nicht erstellbar, da keine näheren Informationen zur Identität des Textweltreferenten LEICHE gegeben werden. Zu unterscheiden sind die sukzessive und on-line-stattfindende Repräsentationsentfaltung und die off-line akkumulierte (Resultats-)Repräsentation. Bei einem Text wie (40) erfahrt der Rezipient erst im Verlauf des Lesevorgangs nähere Informationen über den Referenten (seinen Beruf, seinen Namen), die er akkumulativ dem konzeptuellen Knoten zufugt. (40)
Ein junger Mann war gestern das Opfer eines brutalen Raubüberfalls. Als der 24jährige Sparkassenangestellte den Kassenraum...betrat, wartete dort schon die dreiköpfige Bande...Hans K. erhielt einen Schlag auf den Kopf...(KSTA 7, 1997, 3)
Der Resultatsknoten integriert dann schließlich alle aus dem Text übermittelten Informationen: (JUNGER MANN