Interkulturelle Literaturwissenschaft und Wissenssoziologie: Studien zu deutsch- und japanischsprachigen Texten von Yoko Tawada 9783839440865

How is historically representative knowledge about interculturality organized, conveyed, annotated? - Yoko Tawada's

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German Pages 324 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
1. Vorwort
2. Einleitung
3. IKLW und Wissenssoziologie: Schnittmengen
4. Methodik I: Karl Mannheims Wissenssoziologie
5. Methodik II: Wissenschaftshistorische Kontexte
6. Die Lehre der drei Sinne
7. Forschungsansätze im Ausgang der Weltanschauungs-Interpretation
8. Das Triadische Modell nach Mannheim und Panofsky
9. Interkulturalitätsdiskurse am Beispiel von Yōko Tawada
10. Fazit: Yōko Tawada im Ausgang einer wissenssoziologischen Literaturwissenschaft
11. Abbildungen
12. Literatur
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Interkulturelle Literaturwissenschaft und Wissenssoziologie: Studien zu deutsch- und japanischsprachigen Texten von Yoko Tawada
 9783839440865

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Tobias Akira Schickhaus Interkulturelle Literaturwissenschaft und Wissenssoziologie

Lettre

Tobias Akira Schickhaus (M.A.) ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth. Seine Forschungsinteressen umfassen Fragen der interkulturellen Literatur- und Übersetzungswissenschaft. Zuvor studierte er Theaterwissenschaft, Japanologie und Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Tobias Akira Schickhaus

Interkulturelle Literaturwissenschaft und Wissenssoziologie Studien zu deutsch- und japanischsprachigen Texten von Yoko Tawada

Zugl.: München, Ludwig-Maximilians-Universität München, Diss., 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Tobias Akira Schickhaus Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4086-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4086-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Vorwort | 7

2.

Einleitung | 9

3.

IKLW und Wissenssoziologie: Schnittmengen | 27

3.1 Forschungsbericht IKLW | 27 3.2 Forschungsbericht Wissenssoziologie | 44 3.3 Zusammenfassung der Forschungsberichte | 57 4.

Methodik I: Karl Mannheims Wissenssoziologie | 63

4.1 Wissen und Literatur | 63 4.2 Lehrjahre in Budapest und Heidelberg | 66 4.3 Das Problem der Relationalität | 70 4.4 Zur Entstehung einer Soziologie des Wissens | 74 4.4.1 Exkurs I: Hegels ‚List der Vernunft‘ | 78 4.5 Beispielhafte Analysen | 82 4.5.1 Konservatismus | 82 4.5.2 Generationen | 89 4.5.3 Ideologie und Utopie | 93 4.6 Zusammenfassung Methodik I | 102 5.

Methodik II: Wissenschaftshistorische Kontexte | 105

5.1 Historismus | 107 5.2 Relationale Objektivität | 111 5.2.1 Georg Simmel: Wechselwirkung von Form und Inhalt | 111 5.2.2 Max Webers ‚Idealtypus‘ | 114 5.2.3 Stil | 119 5.2.4 Weltanschauung | 122 6.

Die Lehre der drei Sinne | 129

6.1 Der atheoretische Sinn in Kulturgebilden | 133 6.2 Wissenschaftliche Erfassbarkeit von Weltanschauung | 134 6.2.1 Exkurs II: Carl Einsteins ‚Negerplastik‘ | 136 6.2.2 Exkurs III: Alois Riegls ‚Stilfragen‘ und ‚spätrömische Kunst‘ | 142 6.3 Zusammenfassung ‚Methodik II‘ und ‚Die Lehre der drei Sinne‘ | 146

7.

Forschungsansätze im Ausgang der Weltanschauungs-Interpretation | 149

7.1 Ikonographie und Ikonologie: Erwin Panofsky | 149 7.2 Max Imdahls Ikonik | 156 7.3 Ralf Bohnsacks dokumentarische Methode | 160 8.

Das Triadische Modell nach Mannheim und Panofsky | 163

9.

Interkulturalitätsdiskurse am Beispiel von Yōko Tawada | 171

9.1 Grenz- und Raumfigurationen des Fremden | 172 9.1.1 Objektiver Sinn | 173 9.1.2 Intentionaler Sinn | 183 9.1.3 Dokumentarischer Sinn | 188 9.2 Zwischenfazit | 199 9.3 Literarische Mehrsprachigkeit | 199 9.3.1 Objektiver Sinn | 200 9.3.2 Intentionaler Sinn | 208 9.3.3 Dokumentarischer Sinn | 211 9.4 Zwischenfazit | 217 9.5 Ekusofonī | Exophonie – Kultur als Übersetzung | 218 9.5.1 Objektiver Sinn | 218 9.5.2 Intentionaler Sinn | 227 9.5.3 Dokumentarischer Sinn | 229 9.6 Zwischenfazit | 241 9.7 ‚Migrationsliteratur‘ – Innenansichten und Wahrnehmungen | 241 9.7.1 Objektiver Sinn | 243 9.7.2 Intentionaler Sinn | 254 9.7.3 Dokumentarischer Sinn | 265 9.8 Zwischenfazit | 280 10. Fazit: Yōko Tawada im Ausgang einer wissenssoziologischen Literaturwissenschaft | 281 11. Abbildungen | 291 12. Literatur | 293

1. Vorwort

Wer von ‚Globalisierung‘, ‚internationaler Vernetzung‘ oder gar von der ‚überwundenen Postmoderne‘ spricht, denkt zumeist an die Verlagerung und Mobilität von Arbeitsplätzen, Beschleunigung von Kommunikationswegen oder an polykulturelle, urbane Megazentren in den USA und Ostasien. Vorstellungen wie diese ziehen gleichzeitig eine kritische Perspektive auf ihre Phänomene nach sich, denn zur Verlagerung von Arbeitsplätzen gesellt sich oftmals auch ihre Vernichtung; die beschleunigte, digitale Kommunikation wird als Abhängigkeit und Sucht gerade junger Menschen von sozialen Medien kritisch diskutiert und die Rhetorik von grenzüberschreitender Internationalisierung stößt in Anbetracht hoher Migrationswellen in Europa auf weltanschauliche Grenzen. Eine janusköpfige Ambivalenz all ihrer Facetten ist in den Diskussionen um ‚Globalität‘ und ‚Interkulturalität‘ nicht von der Hand zu weisen: Es bleibt eine Welt mit vielen Weltbildern. Die Utopie einer polykulturellen, mehrsprachig vernetzten Räumlichkeit des Interkulturellen ist aber auch Ausdruck einer nachmodernen Problematik: Die Pluralisierung von Gesellschaften hat die Standardisierung und Fragmentarisierung ihrer Differenzen zufolge. Eine Sehnsucht nach ‚Nachhaltigkeit‘ bricht sich Bahn, denn wir wissen ja nicht, was gilt. Wie viel Vergangenes nährt Gegenwart? Vor rund hundert Jahren sah die wissenssoziologische Betrachtungsweise angesichts zunehmender Wertekonflikte erkennende Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs. Wissen bildete darin eine Funktion des Sozialen und kulturelle Denkstile wirkten konstitutiv in dieses Wissen mit hinein. Somit wurde auch schnell deutlich, dass Verständigung zwischen Gruppen und Weltanschauungen nur durch Prozesse der Übersetzung ermöglicht würden. Im Ausgang von Karl Mannheims Lehre der WeltanschauungsInterpretation wird mit dieser Arbeit die interdisziplinäre Anbindung der Literaturwissenschaft an die Wissenssoziologie praktiziert. Am Beispiel repräsentativer Texte der Schriftstellerin Yōko Tawada wird ermittelt, wie historisch repräsenta-

8 | I NTERKULTURELLE L ITERATURWISSENSCHAFT UND W ISSENSSOZIOLOGIE

tives Wissen über ‚Interkulturalität‘ in Literatur organisiert, vermittelt und schlussendlich rezipiert wird. An dieser Stelle möchte ich meinen besonderen Dank nachstehenden Personen entgegenbringen, ohne deren Mithilfe die Anfertigung dieser Promotionsschrift niemals zustande gekommen wäre. Mein Dank gilt zunächst Frau Professorin Gesine Lenore Schiewer für die Betreuung dieser Arbeit und für die freundliche Hilfe und vielfältige Ideengebung, die mir einen kritischen Zugang zu dieser Thematik eröffneten. Die zahlreichen Gespräche auf intellektueller und persönlicher Ebene werden mir immer als bereichernder und konstruktiver Austausch in Erinnerung bleiben. Ich habe unsere Dialoge stets als Ermutigung und Motivation empfunden. Ich danke Herrn Privatdozenten Thomas Hardy Borgard für die hilfsbereite wissenschaftliche Betreuung als Zweitgutachter und Herrn Professor Peter Pörtner für die wertvollen Hinweise und Ratschläge sowie Herrn Professor Jörg Matthias Roche, ohne dessen mühevolle Geduld und Verständnis diese Arbeit niemals zustande gekommen wäre. Mein außerordentlicher Dank gilt Frau Christine Gerstacker und Herrn Doktor Peter Billaudelle für die mehrfache Durchsicht und kritische Diskussion meiner Arbeit. Mein ganz besonderer Dank aber gilt meinen Eltern, Renkei Hashimoto und Johannes Schickhaus seligen Angedenkens, deren Begeisterung für interkulturelle Kunst und historische Arbeit mir Kraft und Mut zur Anfertigung und Vollendung meiner Dissertation gaben. Ihnen widme ich diese Arbeit.

2. Einleitung1 »Es geht nicht an, dem Arzte, der die Diagnose stellt, die Krankheit zur Last zu legen.« KARL MANNHEIM (1982 [1929]: 432)2

Es wird weitgehend konsentiert, dass der Prozess zunehmender Globalisierung und die dadurch ausgelösten Kulturbegegnungen maßgeblichen Einfluss auf das Denken und Fühlen im Menschen nehmen. Inmitten kultureller Zwischensphären oszillieren Welten mit spezifischen Wertesystemen, Glaubensrichtungen, Denkkollektiven, Ideologien und Lebensformen. Dass hierbei die mehrkulturelle und -sprachige Begegnung nicht selten in einen Konflikt mündet, beweisen aktuell die zahlreichen, an emotionaler Schärfe und politischer Polemik nicht armen Diskussionen in Deutschland um die Frage, wie bzw. ob so hohe Flüchtlingszahlen aus Kriegsgebieten in Deutschland und Europa integriert werden können. Die hierbei geäußerten Ängste vor den ‚Fremden‘ werden begründet mit ihrer Andersheit in

1

Der Verfasser veröffentlichte bereits einen eigenständigen Aufsatz, worauf die Seiten 17, 47, 141, 143, 167 der vorliegenden Arbeit Bezug nehmen, vgl. Schickhaus, Tobias (2015): Fremdheit als Denkstil. Wissenssoziologie als Forschungsmethode für Studierende an der Hochschule für Angewandte Sprachen. In: Florian Feuser, Regina Freudenfeld und Pilar Salamanca Fernández (Hg.): Studierende im Fokus. Beiträge zur Entwicklung von Hochschullehre und Hochschulorganisation. Hildesheim: Georg Olms Verlag, S. 121-136.

2

Mannheim, Karl (1982 [1929]): Zur Problematik der Soziologie in Deutschland. In: Volker Meja (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 361), S. 427-437.

10 | I NTERKULTURELLE L ITERATURWISSENSCHAFT UND W ISSENSSOZIOLOGIE

der religiösen und kulturellen Prägung, ihrer Erziehung, Identität und politischen Weltanschauung. Die wissenschaftliche Diskussion um ‚Interkulturalität‘ und ‚Fremdheit‘ hat gesellschaftsrelevante Probleme wie die soeben genannten stets aufgegriffen und zahlreiche Untersuchungen sowie Ansätze hervorgebracht, die das relationale Beziehungspaar zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ näher zu bestimmten suchen. Nicht zuletzt hierin ist ein diskursiv fruchtbares Betätigungsfeld für viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller entstanden, die auf vielfältige Ausprägungen ästhetischer, gesellschaftlicher sowie politischer Grenzerfahrungen Antwort geben. In dieser von Wechselwirkung geprägten Diskussion um ‚Interkulturalität‘ und ihrer künstlerischen oder wissenschaftlichen Verarbeitung stellt das Schreiben über ‚Fremdheit‘ eine soziale Praxis dar, die ‚literarische Interkulturalität‘ wiederum ein Dokument gesellschafts- und Werte prägender, divergierender Denkstile. Besonders das Münchener Institut für Deutsch als Fremdsprache hat sich hierbei unter der Federführung Harald Weinrichs mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik3 (1984) hervorgetan, die ethnischkulturelle Vielfalt mehrsprachiger Literatur unter einer wissenschaftlichen Systematisierung zu erforschen, wobei im Zuge dessen vor allem die Forschungsarbeiten innerhalb der Literatursoziologie 4 besonders aktiv waren. Das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache veröffentlichte mit Band 26 (2000) eine interdisziplinäre Annäherung Zur Theoriebildung und Philosophie des Interkulturellen5, worin Bernhard Waldenfels 6 die Beziehung zum ‚Fremden‘ als eine »Grenzlandschaft« oder ein »Niemandsland« bezeichnet, das »zugleich verbindet und trennt«. 3

Weinrich, Harald (1984): Gastarbeiterliteratur in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 14, S. 12-22.

4

Vgl. Kreuzer, Helmut; Seibert, Peter (1984): Gastarbeiterliteratur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 14, S. 7-11. Schierloh, Heimke (1984): Das alles für ein Stück Brot Migrantenliteratur als Objektivierung des ‚Gastarbeiterdaseins‘; mit einer Textsammlung. Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang (Sprache in der Gesellschaft). ZielkeNadkarni, Andrea (1985): Standortbestimmung der ‚Gastarbeiter-Literatur‘ in deutscher Sprache in der bundesdeutschen Literaturszene. Kassel: Gesamthochschul-Bibliothek (Kasseler Materialien zur Ausländerpädagogik). Hamm, Horst (1988): Fremdgegangen – freigeschrieben. Eine Einführung in die deutschsprachige Gastarbeiterliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann.

5

Cesana, Andreas; Eggers, Dietrich (2000): Zur Theoriebildung und Philosophie des Interkulturellen. In: Alois Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium (Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26), S. 435-463.

6

Waldenfels, Bernhard (2000): Zwischen den Kulturen. In: Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, S. 245-262, hier S. 245.

E INLEITUNG | 11

‚Fremd‘ ist erstens lokal zu verstehen als das, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt (vgl. externum, extraneum, peregrinum, étranger, foreign) und was in der Form des ‚Fremdlings‘ personifiziert wird. ‚Fremd‘ ist zweitens, was einem Anderen gehört (alienum, alien). Als ‚fremd‘ erscheint drittens, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt (vgl. insolitum, étrange, strange). Es sind also die drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen auszeichnen7, wobei der Ortsaspekt nicht zuletzt wegen der etymologischen Wurzel die semantische Oberhand in Anspruch nimmt8. Die ‚Fremdheit‘ wird verstanden als etwas, das »in dieser Weise da ist, indem es sich dem eigenen Zugriff entzieht« (Waldenfels 2006: 110). Darüber hinaus ist ‚Fremdheit‘ nicht gleichzusetzen mit ‚Andersheit‘: Etwas kann nur ein Selbes sein, indem es sich zugleich als Anderes von Anderem unterscheidet. Dieser Kontrast geht laut Waldenfels aus einer unterscheidenden »Abgrenzung« hervor und »führt zu einer durchgängigen Reversibilität der Standorte: Asiaten sind keine Europäer, so wie umgekehrt Europäer keine Asiaten sind. Diese Unterscheidung vollzieht sich außerdem in einem durchgehenden Medium, das zwischen den Gegensätzen vermittelt. Europäer und Asiaten mögen noch so verschieden sein, Menschen sind sie allemal.« (247) Der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem jedoch entspringt keiner bloßen Abgrenzung, sondern einem Prozess der Ein- und Ausgrenzung. ‚Fremd‘ ist ein Ort, an dem man selbst nicht ist; ‚Interkulturalität‘ gibt es erst dann, sobald sich eine Scheidung zwischen Eigen- und Fremdkultur ereignet. Dies schließt nicht aus, dass es zu Prozessen der Überschneidung oder Grenzüberschreitung kommt, jedoch wird eine Erfahrung von ‚Fremdheit‘ zuallererst vorausgesetzt. Folgt man philosophischen Ansätzen wie diesen, dann ist die Existenz des ‚Fremden‘ die erste Voraussetzung einer Reflexion über ‚Interkulturalität‘. Literarische Texte besitzen als ein Medium neben vielen, diese Erfahrung interkultureller Praktiken, und Überzeugungen zu mehr oder weniger überschaubaren ästhetischen Formen zu verdichten und an ein Lesepublikum heranzutragen. Hiergegen möchte wohl niemand widersprechen, jedoch bleiben viel beschworene Prämissen der interkulturellen Mehrperspektivik im kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs methodisch oftmals folgenlos. Im Gegenteil – und somit nicht ganz unproblematisch – wird der literarische Text oftmals weiterhin

7

Waldenfels, Bernhard (2006): Topographie des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Studien zur Phänomenologie des Fremden 1), S. 20.

8

Vgl. mhd. vrem(e)de, vröm(e)de, ahd. fremidi, fram- ‚fern von, weg von‘ (8.Jh.), vgl. Kluge, Friedrich; Seebold, Elmar (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., Berlin, New York: De Gruyter. S. 317.

12 | I NTERKULTURELLE L ITERATURWISSENSCHAFT UND W ISSENSSOZIOLOGIE

als ein isoliertes Werk betrachtet, so als ob Gefühle, Geschichten, Träume, Visionen und Utopien nicht kulturell gedacht, sondern als von Dichtern erfunden angesehen würden. In seiner Einleitung zum Klassiker Verhandlungen mit Shakespeare (1990)9 begreift Stephen Greenblatt beispielsweise die Theaterbühne als einen Ort der »sozialen Zirkulation« (1990: 11), worin Theater und Gesellschaft keine hermetisch voneinander getrennten Systeme darstellen, sondern im kulturellen Tauschprozess responsiv einander bedingen. »Für die Literaturwissenschaft haben Renaissancekünstler dieselbe Funktion wie Renaissancefürsten: Auf einer Ebene wissen wir sehr genau, dass die Macht des Fürsten eine weitgehend kollektive Erfindung ist; er ist die symbolische Verkörperung des Begehrens, der Lust und der Gewalt Tausender von Untertanen; das Ausdrucksvehikel komplexer Netzwerke von Abhängigkeiten und Ängsten; weniger Schöpfer als Agent des gesellschaftlichen Willens. Und dennoch sind wir kaum dazu imstande, über Fürsten und Dichter zu schreiben, ohne der Fiktion zu erliegen, dass die Macht unmittelbar von ihnen selbst ausgeht und dass die Gesellschaft sich auf diese Macht stützt.« (10)

Dieser Kritik soll in der vorliegenden Arbeit Rechnung getragen werden, indem der kollektiv-soziale Denkstil sowohl des literarischen Schaffens als auch seiner Rezeption in den Fokus der Untersuchung rücken. Es geht hierbei nicht darum, die Überzeugung als obsolet zu verabschieden, dass es ästhetische Autonomie gäbe, sondern den objektiv-vorfindbaren und weltanschaulichen Bedingungen für diese Autonomie nachzugehen.10 9

Greenblatt, Stephen (1990): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin: Wagenbach.

10 Aber auch in dieser Frage bleiben sowohl Greenblatt als auch zahlreiche Forschungsansätze des New Historicism viele Antworten schuldig, wie Behschnitt (1999) herausgearbeit hatte. Der Weg, den Greenblatt beschreite, um die besondere Wirkung des literarischen Kunstwerkes zu beschreiben, führt nicht über das Postulat ästhetischer Autonomie, sondern über seine heteronome Bindung an kollektive Wertungsprozesse. Jedoch entzieht sich gerade Greenblatt einer genauen Begriffsarbeit. Wenn die Welt der Renaissance durch den Spiegel der Theaterbühne wiederbelebt werden soll, bleibt die Frage, ob sich in der Abweichung von Schein und Sein analog zum Ausdruck und Inhalt nicht auch eine erkenntnistheoretische Diskrepanz zwischen Ästhetik und Gesellschaft auftut, die durch das Konzept der »sozialen Energien« nicht versöhnt, sondern geradezu verschärft wird. Somit gelingt es Greenblatt nicht, »einen wesentlich selbst gestellten Anspruch zu erfüllen, nämlich das Konzept der ‚social energy‘ für die Frage nach der überzeitlichen Wirkung großer Kunst fruchtbar zu machen«. Vgl. Begschnitt, Wolfgang (1999): Die Macht des Kunstwerks und das Gespräch mit den Toten. In: Jürg Glauser,

E INLEITUNG | 13

Mit Blick auf die gesellschaftliche Pluralisierung und Bewusstseinswandel im Zuge der historischen Moderne identifiziert Thomé (2000)11 eine Dynamisierung des Autonomiekonzeptes, die auch für die vorliegende Problemskizzierung fruchtbar ist: Autonomisierung geht mit Anbeginn der Jahrhundertwende einher mit einer Tendenz zur Pluralisierung, d.h. der ästhetische Leitbegriff des Schönen wird vom Guten getrennt und führt somit zur Abschwächung pädagogischer Implikationen; andererseits wird das ästhetische Schöne vom Wahren abgekoppelt, womit die Komponenten von ‚Wissen‘ und ‚Erkenntnis‘ einer leserseitig-kritischen Relativierung unterzogen werden. »Autonomie heißt aber auch, dass die Relation des Literatursystems zu den anderen sozialen Systemen nicht mehr, wie etwa noch im ‚bürgerlichen Realismus‘ festgelegt ist, sondern von Fall zu Fall und in unvorhersehbarer Weise entschieden werden kann.« (ebd. 21) Die Pluralisierung der Textsorten – seien es der Essay, das autobiographische oder weltanschauliche Bekenntnis, das literarische Manifest oder selbstverständlich die Dichtung selbst –, geben Zeugnis ab über die Vieldeutigkeit an Rezeptionsmöglichkeiten, ja stellen in ihrem ästhetischen Eigenwert selbst ein epochenspezifisches Dokument dar. Sowohl Greenblatts als auch Thomés kritische Bemerkungen zur Literaturgeschichtsschreibung können als Steine des Anstoßes für eine zugespitzte interkulturelle Literaturgeschichtsforschung appliziert werden. Die sich daraus ergebenden Fragestellungen können wie folgt lauten: • • • • •

In welcher Weise lässt sich ein historischer Kontext als Bezugsfeld modellieren, wenn sich interkulturelle Wissenstraditionen mischen? Wie lassen sich Kenntnisse über den interkulturellen Entstehungskontext eines Textes systematisch gewinnen? Wie wird historisch repräsentatives Wissen über Interkulturalität in Literatur organisiert, um dann vermittelt oder kommentiert zu werden? In welcher Weise kann nach dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang von Wissenselementen gefragt werden? Wie reagiert interkulturelle Literatur auf die stetigen Paradigmenwechsel ihrer gleichnamigen Wissenschaft?

Christiane Küster (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-KontextProblem in der Literaturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 157169, hier S. 168. 11 Thomé, Horst (2000): Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle. In: York-Gothart Mix, Rolf Grimminger (Hg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890-1918. München: Hanser (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7), S. 15-27, S. 21.

14 | I NTERKULTURELLE L ITERATURWISSENSCHAFT UND W ISSENSSOZIOLOGIE

Der Verflechtungsgrad interkulturellen Schreibweisen ist besonders intensiv und bündelt die zugleich interessanten, aber auch problematischen Forschungsaspekte mehrsprachiger und -kultureller Schreibverfahren: interessant, da das noch junge literaturwissenschaftliche Feld in der literarischen Produktion natürlich eine weitaus längere Tradition hat, jedoch durch Texte von Autorinnen und Autoren wie Zehra Çırak, José F.A. Oliver, Emine Sevgi Özdamar, Michael Stavarič und Feridun Zaimoglu der germanistischen Literaturwissenschaft die Augen für mehrsprachige und -kulturelle Schreibverfahren geöffnet wurden; problematisch dahingehend, dass literarische Texte vor dem Hintergrund der literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektivierung nicht mehr »nur« als Fenster in eine andere Wirklichkeit gelesen, sondern als Medium der selbstreflexiven Beschäftigung mit kulturbezogenen Konstruktionen verstanden werden. Somit laufen jedoch viele Einzelanalysen konkret Gefahr, in ihrer dekomponierenden Annäherung an literarische Fremdbilder allgemein den literarischen Text in das diskursive Feld europäischer Kunsttraditionen zu rekomponieren. Diese Verfahren, so bilanziert Esselborn (2007)12, würden dann zu schnell auf einseitige Interpretationskriterien reduziert13. Um diesem Problem zu begegnen, tun sich besonders zwischen der Interkulturellen Literaturwissenschaft 14 und der Wissenssoziologie interdisziplinär fruchtbringende Schnittstellen auf. Letztere Disziplin erfährt in der gegenwärtigen, zumeist sozialwissenschaftlichen Fachdebatte eine Renaissance. Vor allem

12 Esselborn, Karl (2007): »Übersetzungen aus der Sprache, die es nicht gibt.« Interkulturalität, Globalisierung und Postmoderne in den Texten Yoko Tawadas. In: Arcadia – International Journal for Literary Studies 42, 2, S. 260. 13 Der Befund Esselborns soll a.d.S. mit Uerlings’ Studie Interkulturelle Germanistik/Postkoloniale Studien in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft (2011) unterstützt werden, die nach einer Korpusanalyse literaturwissenschaftlicher Wörterbücher, Lexika und Geschichtsbüchern zum Ergebnis kommt, dass sich die Neuere deutsche Literaturwissenschaft nur zögerlich und verspätet den Erkenntnissen sowohl der interkulturellen als auch postkolonialen Literaturwissenschaft öffne, da es schlichtweg zu wenig Einträge und noch weniger problemorientierte Exkurse gäbe. Im Gegenteil seien es vor allem Romanisten und Anglisten, die für eine Kanonisierung beider Fachzweige sorgten. Vgl. Uerlings, Herbert (2011): Interkulturelle Germanistik/Postkoloniale Studien in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2, 1, 27-38. 14 Im Folgenden abgekürzt mit IKLW.

E INLEITUNG | 15

auf den sozialen Konstruktivismus von Berger; Luckmann (1996)15 zurückgehend entstanden eine Reihe von neuen Schulen, die sich als Wissenssoziologie hermeneutischer und diskursanalytischer Ausrichtung positionierten (Knoblauch 200516, Keller 200517, Hitzler; Reichertz; Schröer 199918, Bohnsack 199119). Fällt der Begriff ‚Wissen‘, dann wird spätestens seit Anbeginn der historischen Moderne20 der Bezug zur Wissenschaft als Institution hergestellt. Sie erhebt – zumindest im Ausgang der öffentlichen Wahrnehmung – den Anspruch, ‚wahre Erkenntnis‘ in den Verstehens- oder Erklärungsprozessen zu produzieren, obgleich vermehrt der Frage Rechnung getragen wird, wie eine soziale Institution unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen wahrheitsfähige Meinungsbildung beeinflussen könne. Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich die Wissenssoziologie als 15 Berger, Peter; Luckmann, Thomas (1996): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer (Fischer 6623). 16 Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie. Konstanz: UVK. 17 Keller, Reiner (2005): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz: UVK (Erfahrung, Wissen, Imagination, Bd. 10). 18 Hitzler, Ronald; Reichertz, Jo; Schröer, Norbert (1999): Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Konstanz: UVK. 19 Bohnsack, Ralf (1991): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS. 20 Zur historischen Relevanz der Jahrhundertwende und Weimarer Zeit für die Konstituierung der Wissenssoziologie vgl. Lichtblau, Klaus (1996): Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt: Suhrkamp, hier S. 25: »Vielleicht ist der Zeitraum der Jahrhundertwende wissenschaftsgeschichtlich und kulturhistorisch ja gerade deshalb so interessant und für unsere eigenen Selbstverständigungsversuche nach wie vor hoch aktuell, weil er die ungelösten Antinomien, Paradoxien und Pathologien des modernen Zeitalters gleichsam im Reagenzglas vorführt, und zwar so, dass auch das Scheitern der intellektuellen Auseinandersetzungen mit der Moderne in diesem Zeitraum, welches durch die Jahreszahlen 1914, 1918/19 und 1933 markiert wird, sowie die sich daran anschließende kollektive Regression und mythologische Besetzung des eigentlichen historischen Erfahrungsraumes und Erwartungshorizontes im Spiegel einer soziologiegeschichtlichen Gleichnisrede exemplarisch veranschaulicht und begreifbar gemacht werden kann.« Vgl. ferner zum universitären Selbstverortungsdiskurs und der Krise der Wissenschaften Mommsen, Wolfgang J.; Morgenbrod, Birgitt; Baier, Horst (Hg.) (1992): Max Weber Gesamtausgabe. Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Tübingen: Mohr (Gesamtausgabe Schriften und Reden, Bd. 17).

16 | I NTERKULTURELLE L ITERATURWISSENSCHAFT UND W ISSENSSOZIOLOGIE

eine Wissenschaft von den Wissenschaften: »Handelnde beziehen sich auf Wissen und sehen Wissen als Produkt des Handelns an« (Knoblauch 2010: 237)21. Neuere Standardwerke für dieses Feld bilden Peter Weingarts 1976 erschienene Arbeit Wissensproduktion und soziale Struktur22 sowie Walter Bühls Einführung in die Wissenschaftssoziologie (1974)23. Folgt man nun dem Ansatz, dass Wissenschaften und Gesellschaften um die Wahrheitsfähigkeit ihrer jeweiligen Ideen ringen, ist der partielle Blick auf die Subsysteme, u.a. sowohl auf die der Wirtschaft, Politik oder Religion erforderlich. Einen Überblick zu diesen Forschungsansätzen bietet ebenfalls Weingart (2003)24. In zahlreichen Publikationen wird auf Karl Mannheim (1893-1947)25 als den Begründer der Disziplin verwiesen, dessen Arbeit auf das Engste mit dem Nachweis der sozialen Seinsverbundenheit des Denkens verknüpft ist. Auch für die

21 Vgl. auch Schützeichel, Rainer (2007): Soziologie des wissenschaftlichen Wissens. In: Ders. (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (Erfahrung, Wissen, Imagination, Bd. 15), S. 306-328. 22 Weingart, Peter (1976): Wissensproduktion und soziale Struktur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 155). 23 Bühl, Walter Ludwig (1974): Einführung in die Wissenschaftssoziologie. München: Beck (Beck’sche schwarze Reihe, Bd. 118). 24 Weingart, Peter (2003): Wissenschaftssoziologie. Bielefeld: Transkript (Einsichten: Themen der Soziologie). 25 Károly Mannheim, britisch-deutscher Soziologe und Pädagoge österreichisch-ungarischer Herkunft, wurde am 27. März 1893 in Budapest geboren, wo er 1911 die Matura am Kölcsey-Gymnasium ablegte und das Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Geisteswissenschaftlichen Universität Péter Pázmány aufnahm. Im selben Jahr lernt Mannheim György Lukács (1885-1971) kennen und schließt sich 1912 dem Galilei Kör (Galilei Kreis) an sowie 1917 dem berühmten Sonntagskreis um György Lukács und Béla Balázs (1884-1949). Im Mai 1918 legt er sein Staatsexamen für deutsche und französische Sprache und Literaturgeschichte ab, im November desselben Jahres promoviert er in Fach Philosophie mit seiner Dissertation Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie. Nach der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik flieht Mannheim 1919 zunächst nach Wien und es folgt 1920 die Emigration nach Deutschland, zuerst nach Freiburg im Breisgau, dann weiter nach Heidelberg, wo er sich 1926 im Fach Soziologie mit seiner Arbeit Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens bei Alfred Weber (1868-1958) habilitiert. Mannheim wird an die Universität Frankfurt a.M. als Professor der Soziologie und Nationalökonomie berufen, wird jedoch nach der Machtübernahme Adolf Hitlers durch die Nationalsozialisten 1933 wieder entlassen. Nach seiner zweiten Emigration 1933 in die Niederlande hielt

E INLEITUNG | 17

vorliegende Arbeit bilden zentrale Texte Mannheims die Grundlage zur Darlegung einer wissenssoziologischen Literaturwissenschaft, zumal sich der Ansatz des seinverbundenen Denkens auf das Engste mit den fachrelevanten Implikationen der interkulturellen Literaturwissenschaft verknüpfen lässt: Das mit dem Präfix ‚Inter-‘ vorausgesetzte Bedeutungsfeld eines Zwischenraums, das den Dialog zwischen dem Eigenen und Fremden erst ermöglicht, korresponidert mit dem Mannheim’schen Ansatz des konjunktiven Erkennens. Die Mannheim’sche Wissenssoziologie ist stets darum bemüht, ihre erkentnistheoretischen und philosophischen Fragestellungen zu konkretisieren. Mit ihrer theoretischen Basis von der Abhängigkeit allen menschlichen Bewusstseins von der sozialen Struktur kollidierte Mannheim jedoch mit zahlreichen Theorien, deren Überzeugung nach ein kontextfreies, ahistorisches Wissen Ausgangspunkt und Ziel wissenschaflichen Arbeitens darstellte. »Die Geschichte der Wissenssoziologie ist daher zu einem großen Teil zugleich die Geschichte der Debatte.«26 Ernst Robert Curtius (1886-1956)27 sah in Mannheims Standpunkt jedoch ein partikularistisches Denken, das dem Streben moralischen Handelns und Forschens zuwider liefe. Seine Soziologie »will uns allgemeine Erkenntnis vermitteln, aber in Wirklichkeit bietet sie persönliches Bekenntnis« (Curtius 1932: 79). Überhaupt bilden sich in der Kritik an Mannheim unheilig-ungewöhnliche Allianzen auf, die beiderseits das Fehlen einer teleologischen, gesellschaftsformenden Wirkkraft in Mannheims Werk beklagen: Die osteuropäische Sozialwissenschaft beschimpfte in Zeiten des Realsozialismus Mannheims Wissenssoziologie als »bourgeoise

Mannheim Vorlesungen an den Universitäten Leiden, Amsterdam, Groningen und Utrecht, verließ die Niederlande aber noch im selben Jahr. In London lebte er bis zu seinem Tod am 9. Januar 1947. Als Mitglied der University of London sowie des Österreichischen P.E.N.-Clubs im Exil gründete er die Schriftenreihe International Library of Sociology and Social Reconstruction und wurde 1946 zum Chairman der Europäischen Sektion der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation (UNESCO) ernannt. 26 Stehr, Nico; Meja, Volker (1982): Zur gegenwärtigen Lage wissenssoziologischer Konzeptionen. In: Volker Meja (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 361), S. 893-946. 27 Curtius, Ernst Robert (1932): Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart [u.a.]: Deutsche Verlagsanstalt. Hoeges, Dirk (1998): Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und ‚freischwebende Intelligenz‘ in der Weimarer Republik. Frankfurt a.M.: Fischer.

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Wissenschaft«28 mit dem Vorwurf, Mannheim wolle sich der einzig wahren ‚marxistischen Wissenschaft‘ entziehen, indem er Fragen wie ‚Klassenstruktur‘ und ‚Klassenkampf‘ ausklammere. Gleichzeitig aber erhebe die Wissenssoziologie den Anspruch, eine seinsgebundene, gesellschaftlich bedingte Wissenschaft des Wissens zu sein, womit die ‚marxistische Wissenschaft‘ einen Konkurrenten im Gebiete des Geistgen gefunden hatte. Ihre Antwort auf Mannheim mündete – ähnlich wie bei Curtius – in das ritualisierte Runterbeten von ‚Relativismus‘-Vorwürfen29. Auf der westeuropäischen, amerikanischen Seite stand es um die MannheimForschung nicht günstiger. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag die intensive Resonanz für Mannheim Jahrzehnte zurück, seine Werke waren den amerikanischen Lesern sprachlich nicht zugänglich und die führenden Namen der Sozialwissenschaften hatten bis auf wenige Ausnahmen, zu denen beispielsweise Robert K. Merton und Edward Shils zählten, Mannheim weitestgehend ignoriert.30 Mehr noch als ‚Relativismus‘-Begriffe variieren ‚Relativismus‘-Vorwürfe und deutlich erinnern die o.g. Kritiken an die geschichtsphilosophischen Debatten zwischen Plato und den Sophisten: Welchen Stellenwert genießt die ‚Wahrheit‘, wenn der Mensch zum ‚Maß aller Dinge‘ wird?

28 Eine tiefer greifende Dokumentation dieser Debatte fndet sich bei Czyzewski, Marek (2007): Ein wissenssoziologischer Blick auf öffentliche Debatten. Karl Mannheim aus heutiger Perspektive. In: Balla, Bálint; Sparschuh, Vera; Sterbling, Anton (Hg.) (2007): Karl Mannheim. Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuropaforschung. Hamburg: Krämer (Beiträge zur Osteuropaforschung, Bd. 13). S. 234-266. 29 Es kennzeichnet den ‚Relativismus‘, dass eine Aussage über einen Gegenstand an das aussagende Subjekt geknüpft wird (vgl. Stehr, Meja 1982: 895f.). Wissen wird somit perspektiviert und wandelt sich von der Vorstellung einer ahistorischen Struktur zur bloßen menschlichen Aktivität. Die Bedingung für das ‚Sein‘ ist somit nicht mehr die ‚Geltung des Seins an sich‘, sondern die ‚Anerkennung durch jemanden oder etwas‘. Darüber hinaus existiert noch die Unterscheidung zwischen ‚logischem‘, erkenntnistheoretischen und ‚existentiellem‘ (sozio-historischem) Relativismus. Während in der ersten Bedeutung Aussagen auf Aussagen bezogen werden, handelt es sich bei der zweiten Bedeutung um Aussagen über Objekte. 30 Vgl. Rüschemeyer, Dietrich (1981): Die Nichtrezeption von Karl Mannheims Wissenssoziologie in der amerikanischen Soziologie. In: Rainer Lepsius (Hg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Wiesbaden: Westdt. Verl. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 23), S. 414-427.

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Im Falle Mannheims war die hitzige Kontroverse der 20er Jahre um eine Soziologie des Wissens wohl dem Umstand geschuldet, dass der Glaube an Fortschritt durch Wissensakkumulation und Humanisierung allerspätestens mit der Katastrophenerfahrung des Ersten Weltkriegs zunichtegemacht wurde. Exemplarisch für das gesamte universitäre System musste sich auch die Sozialwissenschaft einem neuen Selbstverortungsprozess unterziehen. Die damit verbundenen Relativismusdebatten kreisten dabei um folgende Kernfrage: »[K]önnen zum Beispiel Wissensansprüche unabhängig von bestimmten soziohistorischen Kontexten, sozial begrenzten Konventionen, gesellschaftlichen Gruppen oder Lebensformen als allgemeingültig garantiert werden, und worauf würden kontextunabhängige Wissensansprüche basieren?« (Stehr; Meja 1982: 896) Dies war eine Frage, dessen Verneinung schnell als Negation aller Wissenschaft umgedeutet wurde; ganz zu schweigen von dem logischen Makel, dass unter der Voraussetzung der Seinsverbundenheit aller Sätze auch der wissenssoziologische Satz Mannheims nicht absolut wahr sein könne. Doch Mannheim ging es keineswegs um ein Abdriften in die relativistische Beliebigkeit, als vielmehr um die Ausarbeitung einer relationalen Objektivität, nach der gesellschaftliche Werte sowohl als synchrone Fußnote als auch im diachronen Strom der Geschichte dokumentierbar blieben. Man halte sich nur folgenden Satz vor Augen: ‚Dieser Mensch handelt vernünftig oder unvernünftig‘. Das Handeln in zweierlei Optionen bezieht die vorherrschenden Vorstellungen über Rationalität ebenso mit ein wie ihre Objektivierung im vorfindbaren Material, hier im Verb ‚handeln‘. Eine Explikation beider Optionen ist erforderlich und verläuft immer derivativ: Ideengeschichten und Wertvorstellungen liefern die weltanschaulichen Semantiken und reichern den Satz ‚Dieser Mensch handelt vernünftig oder unvernünftig‘ mit Sinn an, denn ohne Bezugnahme zu gesellschaftlichen Normen, Vorstellungen und Ideen können vernünftiges oder unvernünftiges Handeln nicht näher bestimmt werden. Der von Bálint Balla, Vera Sparschuh und Anton Sterbling herausgegebene Band Karl Mannheim. Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuropaforschung31 versammelt die Beiträge der gleichnamigen Tagung, die vom 2. bis 6. März 2006 als Jahrestagung der Sektion ‚Ost- und Ostmitteleuropa-Soziologie‘ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing stattfand. Auch Mannheims Relevanz für die akademische Lehre verzeichnet einen Aufschwung durch die Veröffentlichung zweier Einführungen in

31 Balla, Bálint; Sparschuh, Vera; Sterbling, Anton (Hg.) (2007): Karl Mannheim. Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuropaforschung. Hamburg: Krämer (Beiträge zur Osteuropaforschung, 13).

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Leben und Werk des Soziologen32. Vera Sparschuh präsentiert auf der begrifflichen Grundlage Mannheims Generationenkonzepts eine historische Perspektive auf die Bildungssysteme der DDR am Beispiel der Lehrer-Schüler-Beziehungen im Hochschulbereich33. Aus der Dokumentation qualitativer Interviews zur Beziehung zwischen jüngeren und älteren Kindern der DDR erarbeitet die Studie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Generationstypen. Mannheims Werk und sein Verständnis von wissenssoziologischer Praxis soll im ersten Teil dieser Arbeit vorgestellt werden. Im Zentrum steht hierbei sein Aufsatz Beiträge zur Theorie einer Weltanschauungs-Interpretation (1921-22)34, worin Mannheim ein systematisches Modell zur Erfassung epochengebundener Stilmerkmale der Kunstgeschichte entwirft35. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob und inwieweit Mannheims Modell der Weltanschauungs-Interpretation für die literaturwissenschaftlichen Analysen operationalisierbar und worin sein historiographischer Mehrwert für die IKLW zu suchen ist, denn eine solche Literaturgeschichte stellt noch ein literaturwissenschaftliches Desideratum dar. Dem geht eine Begriffsbestimmung von Wissenssoziologie voraus anhand einer vergleichenden Lektüre Mannheims prominentester Arbeiten Konservatismus (1984 [1926]) 36 , Das Problem der Generationen (1928) 37 und Ideologie und Utopie (1995 [1929])38. 32 Corsten, Michael (2010): Karl Mannheims Kultursoziologie. Eine Einführung. Frankfurt, M., New York, NY: Campus-Verl. (Campus Studium). Hofmann, Wilhelm (1996): Karl Mannheim zur Einführung. Hamburg: Junius (Zur Einführung, 138). 33 Sparschuh, Vera (2005): Von Karl Mannheim zur DDR-Soziologie. Generationendynamik in der Wissenschaft. Hamburg: Krämer (Beiträge zur Osteuropaforschung, 11). 34 Mannheim, Karl (1964 [1921-22]): Beiträge zur Theorie einer Weltanschauungs-Interpretation. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. v. Kurt H. Wolff. Berlin: Luchterhand, S. 91-155. 35 Zur wissenssoziologischen Stilanalyse vgl. Barboza, Amalia (2005): Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (Erfahrung, Wissen, Imagination, 9). Barboza, Amalia (2007): Stilanalyse. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (Erfahrung, Wissen, Imagination, 15), S. 94-101. 36 Mannheim, Karl (1984 [1926]): Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 478). 37 Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generationen. Bayerische Staatsbibliothek/Münchener Digitalisierungszentrum (100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert). Online verfügbar unter http://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0100_gen_de.pdf, zuletzt geprüft am 02.10.2015. 38 Mannheim, Karl (1995 [1929]): Ideologie und Utopie. Frankfurt a.M.: Klostermann.

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Nun wurde die zentrale Fragestellung formuliert; zu erörtern bleibt noch, wie Mannheims Modell zum Wirken gebracht werden soll. Hierfür wurde das Werk der auf Deutsch und Japanisch schreibenden Schriftstellerin Yōko Tawada ausgewählt. Die 1960 in Japan geborene und seit 1982 Deutschland lebende Schriftstellerin studierte Literaturwissenschaft und schreibt seit 1986 auf Japanisch und Deutsch. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, unter anderem der Stiftung Niedersachsen und des Deutschen Literaturfonds, war 1997 als Stipendiatin der Villa Aurora (Feuchtwanger-Haus) in Los Angeles und 1999 als Max Kade Distinguished Visitor am Massachusetts Institute of Technology, 1998 Poetik-Dozentin an der Universität Tübingen. 2001 war sie »Writer in Residence« im Literaturhaus Basel, 2006 in Tours, 2008 an der Washington University in St. Louis, 2009 an der Stanford University und der Cornell University in den USA, 2011 hatte sie die Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik inne. Yōko Tawadas erstes in Deutschland veröffentlichtes Buch wurde in japanischer Sprache verfasst und erschien 1987 als Gedichtsammlung Nur da wo du bist da ist nichts / あなたのいるところだけ何もない39. Die Sammlung enthält 19 Gedichte und eine Kurzgeschichte die von Peter Pörtner ins Deutsche übersetzt wurden. 1989 erschien in Deutschland ihr zweites Buch Das Bad 40 . Die zum Schweigen verurteilte, zungenlose Ich-Erzählerin ringt um ihre eigene Identität als Japanerin in Deutschland und verstummt als exotische Projektionsfläche westeuropäischer Fremdheitsvorstellungen. Dieser Roman wurde zwar auf Japanisch geschrieben, aber nur in der von Pörtner übersetzten Fassung herausgegeben. Den Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg erhielt Tawada im Jahre 1990 und 1991 erschien der Band Wo Europa anfängt41, dessen Texte von ihr selbst auf Deutsch geschrieben wurden. Daneben hat sie mit ihrem Buch kakato wo nakushite (dt., Fersenlos in: Tintenfisch auf Reisen)42 ihr gleichzeitiges Debüt in Japan gegeben; das Buch wurde ausgezeichnet mit dem Gunzō shinjin shō (Nachwuchsliteraturpreis der Literaturzeitschrift Gunzō). Ihre Erzählung Ein Gast erschien 1993 auf Deutsch und im gleichen Jahr wurde ihr Theaterstück Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt43im Nürnberger Stadttheater aufgeführt. Die im

39 Tawada, Yōko; Pörtner, Peter (1987): Nur da, wo du bist, da ist nichts. Tübingen: Konkursbuch-Verlag. 40 Dies. (1989): Das Bad. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. 41 Dies. (1991b): Wo Europa anfängt. Korrigierte Neuauflage. Tübingen: KonkursbuchVerlag. 42 Dies. (1991a): Kakato o nakushite; Sannin kankei; Moji ishoku. Tōkyō: Kōdansha. 43 Dies. (1993b): Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt. Tübingen: Konkursbuch-Verlag.

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folgenden Jahr in japanischer Sprache erschienene Erzählung Inu mukoiri (dt. Hund-Bräutigam)44 wurde mit dem Aktuagawa-Preis ausgezeichnet. Für die Wahl von Yōko Tawada hinsichtlich des Untersuchungsgegenstand gibt es zwei Gründe: Koiran (2009: 17)45 stellt erstens fest, dass das Erzählwerk deutschsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller asiatischer Herkunft in der Forschungsarbeit der Germanistik kaum Berücksichtigung findet. Besonders für Yōko Tawada kann festgehalten werden, dass es zwar zahlreiche Aufsätze zu ihren Werken gibt, aber nur zwei ausschließlich ihr gewidmete Monographien46. Darüber hinaus erschienen Sammelbände zur Poetik der Transformation47und ein ihr gewidmetes Sonderheft der Zeitschrift Text+Kritik48. Die wissenschaftliche Rezeption in der Germanistik beginnt in den 1990er Jahren und die hieraus veröffentlichten Aufsätze erlauben eine thematische Kategorisierung: Eine postkolonial oder feministisch geleitete Lektüre im konzeptuellen Ausgang von ‚Mimikry‘ und ‚Hybridität‘ findet sich beispielsweise bei Breger (1999)49, Matsunaga (2010)50

44 Dies. (1992): Inu mukoiri (Kōdansha Bunko). 45 Koiran, Linda (2009): Schreiben in fremder Sprache. Yoko Tawada und Galsan Tschinag; Studien zu den deutschsprachigen Werken von Autoren asiatischer Herkunft = Ecrire en langue étrangère: Yōko Tawada et Galsan Tschinag: etudes des œuvres allemandes des auteurs d'origine asiatique. Univ. Denis Diderot, Diss.-Paris. München: Iudicium. 46 Gelzner, Florian (1995): Worte von Gedanken trennen. Lizenzarbeit, Universität Basel.Vgl. auch ders. (1999): Worte von Gedanken trennen. In: Recherches Germaniques 29, S. 67-91. Fischer, Sabine (2004): Kulturelle Fremdheit und sexuelle Differenz in Prosatexten von Yoko Tawada. Tübingen: Stauffenburg. 47 Ivanović, Christine (Hg.) (2010): Yoko Tawada. Poetik der Transformation; Beiträge zum Gesamtwerk; mit dem Stück Sancho Pansa von Yoko Tawada. Tübingen: Stauffenburg (Stauffenburg Discussion, 28). 48 Dittberner, Hugo; Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) (2011): Yoko Tawada. München: Text + Kritik. 49 Breger, Claudia (1999): Meine Herren, spielt in meinem Gesicht ein Affe? Strategien der Mimikry in Texten von Emine S. Özdamar und Yoko Tawada. In: Gelbin, Cathy (Hg.) (1999): Aufbrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland. Königstein: Helmer (Aktuelle Frauenforschung), S. 176-206. 50 Matsunaga, Miho (2010): Ausländerin, einheimischer Mann, Confidente. Ein Grundschema in Yoko Tawadas Frühwerk. In: Ivanović (Hg.): Yoko Tawada. S. 249-261.

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oder Schestokat (2000)51 sowie Fischer (1997)52 und Liscutin (2001)53. Obgleich hier noch zu prüfen wäre, inwieweit postkoloniale Entwürfe tatsächlich hinreichende Kategorien für die Tawada-Forschung darstellen, schließlich war das Verhältnis Japans zu den angelsächsisch-europäischen Partnern nie eines von kolonialer Prägung, auch wenn der Niederlage nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeit der amerikanischen Besatzung von 1945 bis 1952 folgte. Ein weiterer Zweig der Beforschung kreist um die Frage der Übersetzbarkeit des mehrsprachig vielfältigen Werkbaums Yōko Tawadas und um die von Tawada literarisch verwirklichte Poetik des Übersetzens54. Der zweite Grund für die Wahl auf ‚Yōko Tawada‘ als Forschungsgegenstand liegt in dem Desiderat, die japanischsprachigen Werke der Schriftstellerin der interkulturellen Germanistik zugänglich zu machen. Hierzu soll diese Arbeit einen 51 Schestokat, Karin (2000): Bemerkungen zur Hybridität und zum Sprachgebrauch in ausgewählten Texten Yoko Tawadas. In: Germanic Notes and Reviews 31, S. 33-36. 52 Fischer, Sabine (1997): Verschwinden ist schön. Zu Yoko Tawadas Kurzroman Das Bad. In: Sabine Fischer, Moray McGowan (Hg.): Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Tübingen: Stauffenburg-Verl. (Stauffenburg Discussion, 2), S. 101-113. 53 Liscutin, Nicola (2001): Erotische Zwiegespräche. Feministische Ansätze in der Übersetzung. In: Irmela Hijiya-Kirschnereit (Hg.): Eine gewisse Farbe der Fremdheit. Aspekte des Übersetzens Japanisch-Deutsch-Japanisch. München: Iudicium-Verl. (Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien der Philipp-Franz-von-SieboldStiftung, 28), S. 219-241. Pulit-Binkowska, Katarzyna (2011): Orientalismusdiskurs bei Yoko Tawada. In: Mirosława Czarnecka (Hg.): Der weibliche Blick auf den Orient. Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich; (Konferenz Der weibliche Blick auf den Orient. Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich, die im Oktober 2009 in Frankfurt. Bern: Lang (Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte, 102), S. 247-259. 54 Vgl. Mae, Michiko (2010): Tawada Yokos Literatur als kulturelles Übersetzen durch Transformation. In: Hiroshi Yamamoto (Hg.): Übersetzung – Transformation. Umformungsprozesse in/von Texten, Medien, Kulturen. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 34-43. Banoun, Bernard (2010): Übersetzen als Durchscheinen-Lassen. Gedanken-Gänge eines Yoko Tawada Übersetzers. In: Ivanović (Hg.): Yoko Tawada. S. 455-468, hier S. 466. Anderson, Susan (2010): Surface translations. Meaning and difference in Yoko Tawada’s German prose. In: Seminar 46, S. 50-70. Bernofsky, Susan (2010): Disoriented language. On translating Yoko Tawada.In: Ivanović: Yoko Tawada. S. 449-453. Genz, Julia (2010): Yoko Tawadas Poetik des Übersetzens am Beispiel von Überseezungen. In: Bernard Banoun (Hg.): L'oreiller occidental-oriental de Yoko Tawada. Paris: Didier érudition (Etudes germaniques, 65, 3), S. 467-482.

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Beitrag leisten. Diskursive Themenfelder dieser Arbeit verhandeln die 1.) ‚Grenzund Raumfigurationen‘ im Werk Tawadas mit Blick auf die Kurzgeschichten Wo Europa anfängt, Eigentlich darf man es nicht sagen, aber Europa gibt es nicht55 und Rothenburg ob der Tauber: Ein deutsches Rätsel56. Grenzdiskurse und ihre literarische Bebilderung unter Einbezug der Frage, ob globale Verletzung nicht auch einer seelischen Verletzung gleichzusetzen ist, finden sich in der sowohl auf Japanisch als auch in deutscher Sprache erschienenen Kurzgeschichte Im Bauch des Gotthards (1996)57 bzw. Gottoharuto Tetsudō58. 2.) Es soll diskutiert werden, ob sich die ‚Mehrsprachigkeit‘ im Werk Tawadas im Sinne eines Sprachwechsels und einer -begegnung oder eines -konfliktes manifestiert. Hierfür werden der Roman Das Bad (1989) sowie die Erzählung Eine leere Flasche (2002b)59 und das Gedicht Ein chinesisches Wörterbuch (2002a) 60 vorgestellt und untersucht. Ob und inwieweit 3. ) ‚Übersetzung‘ auch gleichzusetzen ist mit hermeneutischer Interpretation, bildet Anlass zahlreicher Fachdiskussionen seit der kulturwissenschaftlichen Expansion der Übersetzung als wissenschaftliches Paradigma61. Mit dieser Frage beschäftigt sich Tawada in ihrer literarischen Essaysammlung Überseezungen (2002c) 62 sowie der auf Japanisch erschienenen, ebenfalls Essays enthaltenden Reisebeschreibung Ekusofonī. Bogo no soto e deru tabi (2012)63 und in dem japanischsprachigen Wörtertagebuch Kotoba

55 Tawada, Yoko (2011a): Eigentlich darf man es nicht sagen, aber Europa gibt es nicht. In: Ders.: Talisman. Unter Mitarbeit von Peter Pörtner. Tübingen: Konkursbuch-Verlag, S. 46-58. 56 Dies. (2011b): Rothenburg ob der Tauber. Ein deutsches Rätsel. In: Dies.: Talisman, S. 29-40. 57 Dies. (1996): Im Bauch des Gotthards. In: Dies.: Talisman. Tübingen: Konkursbuch, S. 96-103. 58 Dies. (1995a): Gottoharuto Tetsudō. Tōkyō: Kōdansha (Kōdansha bungei bunko), S. 741. 59 Dies. (2002b): Eine leere Flasche. In: Dies.: Überseezungen. Tübingen: Konkursbuch, S. 53-57. 60 Dies. (2002a): Ein chinesisches Wörterbuch: In: Dies.: Überseezungen, S. 32. 61 Bachmann-Medick, Doris (2009): Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 62 Dies. (2002c): Überseezungen. Tübingen: Konkursbuch. 63 Dies. (2012): Ekusofonī. Bogonosoto e derutabi. Tōkyō: Iwanami Shoten (Iwanami Gendai Bunko. Bungei, 211).

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to aruku nikki (2013)64 Auf der Ebene der formalen Komposition wird außerdem der 2008 erschienene Roman Schwager in Bordeaux65 miteinbezogen. Besonders der zuletzt in japanischer, dann von der Autorin selbst in die deutsche Sprache übersetzte Roman Etüden im Schnee66 fand in der literarischen Öffentlichkeit ein viel beachtetes Echo. Der Roman erlaubt eine selbstreflexive Lesart dahingehend, wie die Rolle der Fremden und Außenseiter, Migranten oder Künstler inmitten einer Mehrheitsgesellschaft der Anderen zu definieren ist oder besser gesagt, definiert wird. Inwieweit hierbei 4.) das literarische Leben im Zusammenspiel von literaturfördernden Institutionen und der literaturkritischen Öffentlichkeit die soziale Zirkulation um literarische Werturteile maßgeblich beeinflusst, ist Gegenstand des letzten Kapitels.

64 Dies. (2013): Kotoba to aruku nikki (Iwanami shinsho. Shin akaban, 1465). 65 Dies. (2008): Schwager in Bordeaux. Roman. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke (Konkursbuch). 66 Dies. (2014a): Etüden im Schnee. Roman. Tübingen: Konkursbuch-Verlag.

3. IKLW und Wissenssoziologie: Schnittmengen

Zuerst jedoch soll dem Selbstverständnis innerhalb der Interkulturellen Literaturwissenschaft nachgegangen werden, indem anhand eines ‚wissenschaftsreflexiven Ansatzes‘ ihre repräsentativen Fachvertreterinnen und -vertreter zu Wort kommen. Die Fragestellung lautet hierbei: Was ist das Profil der IKLW und worin sind die theoretischen Schnittmengen mit den Ansätzen der Wissenssoziologie zu suchen? Der zweite Teil des Forschungsberichts unternimmt eine Auseinandersetzung mit den Vertreterinnen und Vertrern der Wissenssoziologie. Ansätze, Konzepte, Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede sollen in einem wissenschaftshistorischen Streiflicht herausgearbeitet werden anhand der zentralen Frage, weshalb nun gerade Karl Mannheims Arbeiten einen so wichtigen Beitrag für die interkulturelle Literaturgeschichtsschreibung leisten können. Was macht sie so einzigartig und warum blieb Mannheim besonders innerhalb literaturwissenschaftlicher Fachdiskussionen bislang so unerwähnt, wohingegen Niklas Luhmanns (1927-1998) Œuvre zur neuen Wissenssoziologie auf einen so viel beachteten und stark diskutierten Wiederhall traf?

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3.1 F ORSCHUNGSBERICHT IKLW Es wird konsentiert, dass sich der Wert von ästhetischer Fremdheit anhand politischer Leitideen wie ‚Selbstkritik‘, ‚Hybridität‘, ‚Perspektivenwechsel‘, ‚interkulturelle Empathiefähigkeit‘ oder gar ‚Kulturmündigkeit‘ fixieren lässt (vgl. Hudson-Wiedenmann 2003: 455). Sommer (2008: 325)1 definiert ‚Fremdheit‘ als »relationale Größe«, weshalb auch die Interpretation von interkulturellen Beziehungen im jeweiligen historischen Diskurs gesehen werden müsse. Hausstein (2000: 231f.)2 nimmt bei Ihrer Definition von ‚Interkulturalität‘ auch die Verschiedenheit von Kulturen als Ausgangspunkt, widerspricht jedoch der »Deckungsgleichheit von Kultur und Nationalstaat« (231) und will die Qualität von Interkulturalität anhand von Zielvorgaben messbar machen: »Solche sind z.B. prinzipielle Gleichberechtigung der Kulturen, Wahrung der kulturellen Eigenart sowie friedliche Konsensfindung« (ebd.). Leskovec (2011: 7)3 stellt fest, dass ‚Fremdheit‘ in erster Linie kulturell gedacht wird, und kritisiert, dass »oftmals völlig unklar ist, was mit dem Begriff der Kultur eigentlich bezeichnet wird«. ‚Interkulturalität‘ gehe über das Kulturelle hinaus, da es immer eine Kommunikationsform und -praxis zwischen Leser und Text beschreibe (ebd. 45) und Mecklenburg (2008: 14)4 spricht dem interkulturellen Potenzial der Fremdheitsdarstellung in Literaturen sowie des -verstehens sogar die pädagogische Kraft der »Entbarbarisierung« zu. Gesellschaftspolitische Prämissen bestimmen, wenn auch nicht hinreichend, jedoch gewiss maßgeblich, den für das Fremdverständnis gewinnbringenden Wert eines literarischen Textes und werten ihn somit zum Instrument der Völkerverständigung auf wie es auch kulturformenden Medien wie dem Internet, iPhone oder dem Fernsehen zugeschrieben wird. Aber wie verhält es sich dann mit ästhetischen Kriterien für ‚Fremdheit‘ in der Literatur und wie gelangt man zu einem Werturteil, das jenseits gut gemeinter Dialogaufforderungen liegt? Würde man den o.g. Beispielen folgen, wäre in der literaturästhetischen Debatte um die IKLW

1

Sommer, Soy (2008): Interkulturalität. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Stuttgart u.a.: Metzler, S. 325.

2

Hausstein, Alexandra (2000): Interkulturalität. In: Ralf Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Stuttgart: Metzler, S. 231f.

3

Leskovec, Andrea (2011): Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt: WGB.

4

Mecklenburg, Norbert (2008): Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München: Iudicium.

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die Frühaufklärung mit Johann Christoph Gottscheds (1700-1766) Lehrsatz5 ironischerweise viel näher als das Programm der Weimarer Kunstautonomie. Es wäre hier ein großes Desiderat, anhand eines wissenschaftsreflexiven, diachronen Ansatzes die literaturwissenschaftlichen Debatten um Wissenstransfer und Völkerverständigung der Frühaufklärung mit den Konzepten der IKLW heute zu vergleichen. Könnte man sich vielmehr darauf einigen, dass die Pädagogik Gottscheds zur zweckentbundenen Kunst der Weimarer keinen Gegensatz darstellte, sondern beide aus der historischen Wasserscheide 1755 entsprungenen Strömungen zur Fachskizzierung interkultureller Literarturgeschichtsforschung konstitutive Bestandteile darstellten, hätte man eine wichtige Brücke geschlagen zwischen dem Anspruch kunstästhetischer Autonomie und der politischen Wirkmacht literarischer Fremdheitsinszenierungen. Und hier setzt die zweite Kritik an der bisherigen Forschungsdiskussion an, nämlich die oftmals ahistorische Forschungsperspektive auf ihre Gegenstände. Joachimsthaler (2009: 19)6 weist beispielsweise darauf hin, dass die IKLW als eine von gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen wie z.B. der ‚Migration‘ oder ‚Globalisierung‘ »ihren Gegenstandsbereich vorrangig auf Basis der aktuellen Literatur von Zuwanderern und in Deutschland geborenen Menschen mit Migrationshintergrund« festlegt. Joachimsthaler fordert, deutschsprachige Literatur als ein polykulturelles Erbe interkultureller Kommunikation zu begreifen, das nicht nur mit west-, sondern auch mit osteuropäischen Literaturtraditionen in Berührung kam. IKLW in Deutschland habe somit darauf zu achten, dass sie ihren Gegenstand nicht so eng definiere, dass sie damit unfreiwillig das falsche nationalistische Selbstbild einer bis 1945 nur deutschen Literatur und Kultur in Deutschland fortsetze. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Rösch (1998)7, die in den Debatten um eine angemessene Gattungsbestimmungen einer ‚Literatur der Fremde‘ Begriffe 5

Vgl. Gottsched, Johann Christoph (1968 [1736]): Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. In: Klaus Hammer (Hg): Geschichte des deutschen Theaters. Dokumente. Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts. Berlin: Henschel, S.14-61.

6

Joachimsthaler, Jürgen (2009): Undeutsche Bücher. Zur Geschichte interkultureller Literatur in Deutschland. In: Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam, New York: Rodopi (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 69), S. 19-41.

7

Rösch, Heidi: Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs. Der Text basiert auf dem Vortrag zu der Tagung Wanderer - Auswanderer - Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden.

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wie ‚Migranten-‘, ‚Migrationsliteratur‘ oder ‚Interkulturelle Literatur‘ identifiziert. »Gemeinsam ist diesen Begriffen, dass sie sich mehr oder weniger ausschließlich auf AutorInnen beziehen, die seit den 50er-Jahren aus verschiedenen Teilen der Welt in die Bundesrepublik, die DDR, die Schweiz und nach Österreich eingewandert sind, manche auf der Suche nach Arbeit oder nach Asyl, andere zum Zwecke des Studiums oder auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Betont wird im Gegensatz zum Begriff der Exilliteratur, der emigrierte AutorInnen in die Herkunftsliteratur einordnet, die Orientierung an der Einwanderungsgesellschaft als Ort der Literaturproduktion und -rezeption.« (1998: 1)

Hierbei zieht Rösch eine feine, aber sehr wichtige Trennlinie zwischen den Begriffen der ‚Migrantenliteratur‘ und ‚Migrationsliteratur‘. Ersterer meint die Literatur von Migranten und befindet sich in naher Verwandtschaft mit dem von Ackermann; Weinrich (1986)8 stark gemachten Begriff der ‚Ausländerliteratur‘. Jedoch verenge eine solche Bezeichnung den Blick der Forschung auf die Person und die autobiographischen Daten, ohne den literarischen Text angemessen zu berücksichtigen. Treffender wäre nach Rösch folglich der Begriff der ‚Migrationsliteratur‘, aus dem Grund, dass die Verschiebung von den Migranten auf die Migration die thematische Seite dieser Literatur betone und mitberücksichtige, dass es auch immigrierte oder minderheitenangehörige Autorinnen und Autoren gibt, die keine Migrationsliteratur schreiben. Somit plädiert Rösch für eine »Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs« (12), welche die innerliterarischen Elemente zur Verwebung einer ästhetischen Fremde aufdeckt. In seinem Handbuch Interkulturelle Germanistik (2003b) 9 plädiert Alois Wierlacher für neue Fachkonturen einer kulturthematisch-literatur- und fremdheits- sowie kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik mit einem sowohl integrativen als auch interdisziplinären Ansatz, der beispielsweise in seiner methodischen Konsequenz durch das bekannte Plädoyer für die Einführung der »Landesstudien« (2003: 504-513) statt der viel kritisierten, ungeliebten Landeskunde an Prominenz gewann. Eine Forderung, die im Umgang mit dem Fremden durchaus zu begrüßen ist: Schließlich bleibe dem Wort ‚Kunde‘ immer auch der religiöse Beigeschmack eines offenbarungsinteressierten Sendungsbewusstseins, der Online verfügbar unter http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf, zuletzt geprüft am 18.09.2015. 8

Ackermann, Irmgard; Weinrich, Harald (1986): Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der ‚Ausländerliteratur‘. München: Piper.

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Wierlacher, Alois (2003b): Landeskunde als Landesstudien. In: Ders. (Hg.): Handbuch.S. 504-513.

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sich »einsinnig an der Blickrichtung des Lehrenden zum Lernenden orientiert«, ganz zu schweigen von ihrer unglücklichen, deutsch-nationalen Begriffsgeschichte. Die an die englischen ‚studies‘ anlehnenden ‚Studien‘ anerkennen wenigstens die Perspektivität, Zeit- und Standortgebundenheit einer jeden Methode. So definiert Wierlacher auch das Fremde als eine vom Eigenen abhängige Größe (1993: 233)10: »Menschen erwerben eine fremde Sprache und sehen eine fremde Kultur immer durch den Filter ihrer eigenkulturellen Vorverständnisse und Vorbilder. Das Fremde ist darum grundsätzlich als das aufgefasste Andere, als Interpretament der Andersheit und Differenz zu definieren. Es ist mithin keine objektive Größe und Eigenschaft des Fernen, Ausländischen, Nichteigenen, Ungewohnten, Unbekannten, des Unvertrauten oder Seltenen. Als Interpretament ist das Fremde wie alle gesellschaftliche Wirklichkeit aber auch keine nur subjektive Größe. Es besitzt eine mehrwertige Valenz, insofern es um die Andersheit und deren im Fremdheitsprofil der Wahrnehmung erscheinendes Sosein, um Assimilation zwischen dem Fremden und dem Eigenen sowie darum geht, dass sich beide mit ihrer differenzierenden, Reiz und Spannung setzenden Interrelation (Wahrnehmung und Auffassung) selbst konstituieren und charakterisieren[.]«

Das Fremde als »Interpretament« des Eigenen werfe also seine Schatten wieder zurück auf die Verortung des Eigenen – eine für Identitäts- und alle uns bekannten Selbstverortungsdiskurse unverzichtbare Erkenntnis. ‚Interkulturalität‘ bildet gemäß Wierlacher neben der ‚Fremdheit‘ den zweiten Status seiner zentralen Rahmenbegriffe11, der bezeichnet wird als ein auf Verständigung gerichtetes, reales oder dargestelltes menschliches Verhalten, an dem einzelne Menschen oder Gruppen aus verschiedenen Kulturen in diversen zeitlichen continua beteiligt sind (vgl. ebd.). Diese ‚Interrelation‘ habe zweitens ihren Ort im Fernen, Ausländischen und in den zahlreichen Formen der Negationen, wie z.B. das ‚Nichteigene‘, ‚Ungewohnte‘, ‚Unbekannte‘, ‚Unvertraute‘. Das Fremde müsse nun auch näher in den Fokus der IKLW gerückt werden, wobei all das fremd sei, was nicht der Kultur des Rezipienten zuzuordnen wäre (Wierlacher 1985: 13)12. Die Haltung einer solchen literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit fremdkultureller Literatur 10 Ders.; Albrecht, Corinna (Hg.) (1993): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München: Iudicium (Kulturthemen, 1). 11 Ders. (2003a): Interkulturalität. In: Ders. (Hg.): Handbuch. S. 257-264, hier S. 257. 12 Ders. (Hg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München: Iudicium-Verl. (Publikationen der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, 1).

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müsse nach Wierlacher einerseits um die Dimension der ‚kulturellen Fremdheit‘ erweitert werden und die multikulturelle Sicht auf die eigene Literaturtradition miteinschließen. ‚Fremdheit‘ wird in diesem Kontext als Wahrnehmungskategorie verstanden, denn es gehe schließlich um das »Lesen mit anderen Augen« (ebd. 19). Etablierte Sichtweisen auf die Fremde, die sich als Klischees und Stereotypisierungen entpuppten, könnten somit in Frage gestellt werden. »Doch man liest auch qualitativ anders, man wird behutsamer, vorsichtiger, das Lesen intensiver. Denn in der ästhetischen Erfahrung des kulturell Unvertrauten, das durch die Komplexität literarischer Texte noch gesteigert wird, stößt der sich einlassende Leser auf seine eigenen Konzepte, Gewohnheiten und Verhaltensmodelle, provoziert dieses Sicheinlassen eine entautomatisierende, die Routine der muttersprachlichen Informationsaufnahme sprengende Reaktion, die der Freiheitserfahrung im fremden Land vergleichbar ist.« (Wierlacher 1985: 17)

Das für Wierlacher prägnante Moment in diesem Zitat ist die Vorstellung einer Fremdheitserfahrung durch Literatur, welche nicht ausgeschaltet, »sondern in ihrer trennenden und vereinigenden Andersheit erkennbar« (11) gemacht werden soll. Eine so verstandene Lesart fremdkultureller Texte führe dann zu einem gleichberechtigten Dialog eigen- und fremdkultureller Perspektiven. Das Eigene und das Fremde oszillieren gleichermaßen um die Lektüre des Textes und erlaubten es dem Leser, aus kritischer und reflektierender Distanz kulturell Fremde zu verstehen. »Während wir einen poetischen Text der eigenen Kultur häufig als Gefährdung unserer selbst erleben, nehmen wir einen Text definierter Fremde leichter als Alternative, Ergänzung oder Abgrenzung unserer Regulativmuster hin« (17). Wierlacher unterscheidet fünf Dimensionen von ‚Interkulturalität‘, von denen die erste als »Prinzip kulturbewussten Mitdenkens des Anderen und Fremden« (2003a: 258) benannt wird. Für die Verständigung zwischen den Kulturen sei eine Grundvoraussetzung das Bewusstsein über die eigenkulturelle Einbettung, »die in Forschung und Lehre die eigenkulturelle Ausgangsbasis im Sinne des leitenden Kulturverständnisses beachtet, dass Menschen Reiter und Tragende der Kulturen zugleich sind« (ebd.). Die zweite Dimension betont den Aspekt der Relation und das forschungsleitende Prinzip des Wechselspiels kulturdifferenter Wahrnehmungen (vgl. 259) durch Herauslösung des Formativs inter- aus seiner alltäglichen Wahrnehmung von Globalität und Festigung in seine ursprüngliche Wortbedeutung von »zwischen« und »wechselseitig«. Im Zuge globaler Krisenerfahrung wie jener der Ost-West-Blockkonfrontation oder dem Nord-Süd-Konflikt werden internationale Interdependenzen immer nötiger und unausweichlicher. Aus diesem

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Erfordernis ergibt sich nun die dritte Dimension von ‚Interkulturalität‘ als »Modus kooperativer Selbstaufklärung und wissenschaftlicher Partnerschaft« (ebd.). Eine kulturelle Überschneidungssituation »stiftet Interdependenzen zwischen den agierenden Identitäten als Alteritäten, die für beide eine Veränderung ihrer Selbst mit sich bringen« (260), weshalb gemäß Wierlacher auch ‚Interkulturalität‘ wenig mit dem Prinzip der Kontrastivität zu tun habe. Die Erforschung interkultureller Kommunikationsprozesse verschiebt sich – oder befand sich idealiter schon immer – zwischen beide sich reziprok bedingenden Formen von Identitäten, womit die vierte Dimension von ‚Interkulturalität‘ »als Konstitutionsprozess und Ausdruck einer kulturellen Überschneidungssituation« (ebd.) zu verstehen sei. Die fünfte und, wie sich noch zeigen wird, für diese Arbeit grundlegendste Dimension umfasst die »dritte Ordnung der Interkulturalität als kreatives Milieu aktiver Toleranz« (261). Ausgehend von der Feststellung, dass ‚Interkulturalität‘ oftmals in binären Strukturen wie etwa ‚gut und böse‘, ‚eigen und fremd‘, ‚vertraut und unvertraut‘ gedacht wird, betont Wierlacher die Notwendigkeit einer dritten Instanz in Kommunikationssituationen. So könne »Partnerschaft« erst durch eine Gemeinsamkeit erzeugt werden, womit auch Wierlachers Denkmodell aus einer Trias zwischen der Grundsprachenphilologie, Deutsch als Fremdsprache und der Fremdsprachenphilologie bestehe (ebd.). Fremdverstehen sei nicht im Sinne einer »ego alter ego«-Beziehung zu denken, nach der nur eine einzige Systemreferenz zugrunde gelegt wird. So sei auch die Drittbeteiligung in einem Forschungsgespräch ein besonderer Ausdruck von ‚Interkulturalität‘, da sie dem jeweiligen Partner die Eigenheit seiner jeweiligen Andersheit vor Augen führe. Wie bereits ausgeführt, plädiert Wierlacher für den Begriff der »Landesstudien« (Wierlacher 2003: 504-513) und für eine Methodik, welche sich bei ihrer Annäherung an den komplexen Gegenstand der Vorgehensweise der Essayistik bedient. Die Werkstatt der Landesstudien solle als »Ort, Medium und kreatives Milieu des Lerngesprächs« (ebd. 2003: 506) ein Forum des interkulturellen Dialoges ermöglichen. Doch würde dies dann im Umkehrschluss bedeuten, dass Leserinnen und Leser einer gemeinsamen Kultursphäre untereinander keine Verständnisschwierigkeiten hätten? Und wie ist das Verhältnis zum Unbekannten zu bewerten? Möglicherweise ist diese Grenze eine flexible durchsichtige Schwelle oder aber eine unüberwindbare Hürde für die Ziele gelungener Interkultureller Kommunikation. Wierlacher (2003c:18)13 hat sich für letzteres entschieden, wenn er dem Studium der Interkulturellen Germanistik einen klaren politischen Auftrag erteilt:

13 Wierlacher, Alois (2003c): Interkulturelle Germanistik. Zur Geschichte und Theorie. In: Ders. (Hg.): Handbuch. S. 1-46.

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»Sollen Kulturmauern abgebaut werden und sich die weltweite Germanistik an diesem Abbau als einer Verständigungsaufgabe beteiligen, dann ist sie gehalten, sich nicht nur anders zu strukturieren, sondern wesentlich besser als bislang für die internationale Zusammenarbeit zu qualifizieren. Dieses Ziel lässt sich nach dem heutigen Wissensstand nur erreichen, falls es gelingt, die interkulturelle Germanistik als eine Zweibahnstraße mit Gegenverkehr zu bauen, die neben den Einbahnstraßen herkömmlicher fremdsprachengermanistischer Wissensweitergaben, die ebenfalls gebraucht werden, reziproke Fragestellungen erleichtern, die so kulturwissenschaftlich und universalistisch zugleich strukturiert sind, dass sie im Dialog der Kulturen wirksam werden können.«

Dann wäre nun die Frage zu stellen, ob die Absolvierenden dieses Faches mit dem Ziel der Fremdheitsreduktion auf ein reibungsloses Minimum ausgebildet werden sollen – zumindest liest sich so die Forderung nach einem »Abbau der Kulturmauern«. Es sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass es keine »weltweite Germanistik«, sondern nur auf der ganzen Welt verteilte Institute für Germanistik mit ihren jeweils eigenen kulturregionalen Schwerpunktsetzungen, Interessen und Zielen gibt. Der literarische Text läuft in dieser Fachskizzierung Gefahr, auf einem Gefäß der Landeskundevermittlung reduziert zu werden bei gleichzeitiger Vernachlässigung des ästhetischen Eigenwertes von Literatur. Problematisch ist auch das hierbei formulierte Ziel, »Kulturmauern« abzubauen, wobei ungeklärt ist, ob das Verständnis von ‚Fremdheit‘ gleichzusetzen ist mit seiner Bändigung. Auch wird hier der Literatur eine pädagogische Wirkkraft unterstellt, die es erst noch zu prüfen gilt, zumal die Rolle des Lesers – seine Leserperspektive – hierbei völlig ungeklärt bleibt. Man muss schon von einem sehr aufgeklärten, offenen Leserprofil ausgehen, wenn man behauptet, Literatur sei imstande den interkulturellen Dialog grundsätzlich zu fördern. Aber was, wenn der Leser sich nicht belehren lassen will? Dies hat schließlich nichts mit dem Bildungsgrad des Lesers zu tun, sondern eher mit einer grundsätzlichen Offenheit. Dietrich Krusche (2003)14 äußert die Kritik an einer Begriffsverengung von Literatur als landeskundliches Gefäß und verschiebt seinen Blick auf die Vermittlung des werkimmanenten Gehaltes und die Herausbildung von Leserprofilen: »An die Stelle des ‚Textes an sich‘ als Erkenntnisgegenstand der Literaturwissenschaft rückt der ‚gelesene Text‘. Der ‚gelesene Text‘ ist gerade nicht der ohne weiteres von allen potentiellen Deutern ‚gleich gelesene Text‘, sondern der durch die je verschiedenen kulturhistorischen Bedingungen des Perzeptionsaktes ‚anders gelesene Text‘. Wenn aber der je

14 Krusche, Dietrich (2003): Lese-Differenz. Der andere Leser im Text. In: Ders. (Hg.): Handbuch. S. 467-474.

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eigene Leseprozess den Gegenstand wissenschaftlicher Literaturdeutung mitkonstituiert, gilt es ‚das eigene‘ und das ‚andere Lesen‘ zu unterscheiden.« (ebd. 2003: 470)

Der Fokus dieses Ansatzes liegt in der methodischen Offenheit verschiedener Rezeptionsangebote und der Verschiebung auf den Text als ästhetisch-gelesenes Objekt. Dietrich Krusche geht vom literarischen Text als Symbolfeld aus, das durch ein binnentextliches Kohärenznetz deiktischer Zeichen zusammengesetzt ist, und plädiert für eine »Hermeneutik der kulturell bedingten Varianz literarischen Lesens« (469). Die Untersuchung von Lese-Unterschieden aus Anlass von LeserGesprächen über kulturelle Distanzen hinweg könne dann zur Klärung der Bedingungen der Möglichkeiten und Grenzen literarischer Kommunikation überhaupt beitragen. Das innovative Moment in diesem Ansatz sieht Leskovec (2009: 92f.)15 in der »Problematisierung der Wahrnehmungslenkung durch den Text, wodurch der literarische Text als ästhetisches Objekt und nicht in seiner Funktion als Vermittler von landeskundlichen Informationen zum Objekt der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung wird«. Die Text-Kontext-Beziehung stellt die zentrale Kategorie dar, deren Position auch zweifach zu besetzen ist; textseitig durch die anschaulichen Verweise, welche eine bestimmte Perspektive auf den Text ermöglichen und leserseitig, durch das lesende Subjekt selbst16, das immer auch als Objekt seiner eigenen Bildung und Erziehung in die Konstruktion von Leseerfahrung involviert ist.

15 Leskovec, Andrea (2009): Fremdheit und Literatur. Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft. Berlin u.a.: Lit. Verlag (Kommunikation und Kulturen, 8). 16 Jedoch spielen Grad der kulturellen oder historischen Distanz im Dialog des lesenden und literarischen Subjektes keine Rolle, da Fremdheit zwischen allen Subjektrelationen zu finden ist: »Indem wir diese ‚andere‘ [im Text veräußerte] Subjektivität auf uns ziehen, tun wir zweierlei: wir vollziehen dieses Andere in uns nach und wir erleben, indem wir das Andere konkretisieren, uns selbst. Dieser prozeßhafte Vollzug der Verflechtung von Fremd- und Selbsterfahrung beim Lesen ist gelegentlich als ein ‚Dialog‘ zwischen dem lesenden Subjekt und dem Text beschrieben worden. Eine entscheidende Rolle bei dieser Evokation unserer Subjekthaftigkeit spielen, wie wir in den letzten Jahren begriffen haben, diejenigen Stellen im Text, die man ‚Leerstellen‘ nennt und die in ihrer Gesamtheit die ‚Appellstruktur‘ des Textes ausmachen. Das Vermögen (und das Bedürfnis), das wir dabei vor allem aktivieren und ausleben, ist das der Konsistenzbildung. Ohne diese Anstrengung der Konsistenzbildung käme es nicht zur Ausprägung dessen, was – in einem modernen Sinne des Wortes – die Erfahrung von ‚Identität‘ ausmacht.« Krusche, Dietrich (1985a): Lese-Unterschiede. Zum interkulturellen Leser-Gespräch.

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»Aber in dieser Doppelung geschieht das, was die zentrale Wirkung der literarischen Texte ausmacht: Wir lesen das anschauliche Erleben anderer so, als erlebten wir es selbst. Das ist nicht eine Leistung unserer empathischen ‚Identifikation‘ mit der betreffenden Figur, sondern nur der Nachvollzug einer prägnanten Vorgabe des Textes.« (ebd. 324)

Erprobt wurde dieser Ansatz an der LMU München im Wintersemester 1979/80 mit einem Lesergespräch zu Franz Kafkas Das Urteil (1912) mit Germanistikstudenten aus 20 verschiedenen Herkunftsländern. Leider wird die durchaus interessante Methode nicht bis zur letzten Konsequenz durchgehalten, wenn Krusche (2001: 349)17 erklärt: »Die Wissensbestände der Hilfswissenschaften, die Autorenvita in ihren familiären, ethnischen, soziologischen und religiösen Aspekten, waren vorab erörtert worden. Die Analyse der anschaulichen Orientierungen hatte die Besonderheit der Erzählungen bearbeitet, die den Rahmen dieses Weltmodells abgibt: die Balancierung der beiden konfliktierenden Positionen ‚Vater‘ und ‚Sohn‘.«

Das Plädoyer für ein offenes Leserprofil, das den Beobachter und seinen kulturgebundenen Blick auf den Gegenstand berücksichtigt, wird nun in einer wissensbasierten Einführung getrübt, der gebrochene Lichtstrahl wird moderiert und lenkt, möglicherweise auch verzerrend, den Blick aus der ‚Fremdheit‘ auf das Vertraute18. In seinem Aufsatz Erinnern, Verstehen und die Rezeption kulturell distanter Texte erklärt Krusche darüber hinaus, dass mangelndes »Vorwissen« (ebd.

In: Ders. (Hg.): Literatur und Fremde. Zur Hermeneutik kulturräumlicher Distanz. München: Iudicium-Verlag, S. 139-160, hier S. 141. 17 Krusche, Dietrich (2001): Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt. Würzburg: Königshausen & Neumann. 18 Die Kategorie Wissen nimmt hierbei eine ganz entscheidende Rolle für die Bestimmung kultureller Lesekompetenzen ein: »Was nun einen fremdkulturellen Leser angeht, so ist seine fremdkulturelle Kompetenz, gerade an den Stellen besonders gefordert, wo universelle Referenzschemata, die eine spontane Identifikation mit dem Text nahelegen, an solche Schemata angrenzen, die auf historisch vermittelte Faktizität Bezug nehmen. Je größer, so läßt sich sagen, die Zahl der Übergänge zwischen verschiedenen Referenzschemata innerhalb eines Textes ist, und je größer darin insgesamt die Bedeutung der kulturvermittelnden Referenzschemata, desto höher dürfte die vom Text in Anspruch genommene kulturelle Kompetenz des Lesers sein.« vgl. Krusche, Dietrich (1985b): Vermittlungsrelevante Eigenschaften literarischer Texte. In: Alois Wierlacher (Hg.):

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1991: 55-72)19 zur Unvertrautheit mit kulturell andersartigen Texten beiträgt und kommt diesem Problem bei, indem anhand einer Lyrikanalyse japanischer HaikuGedichte die konstitutiven Merkmale der Haiku-Regeln als Vorentlastung zum Verständnis des Fremden beitragen sollen. Nach Krusche sei der Weg zwischen immanenter Interpretation und historischer Kontextualisierung in der Mitte zu suchen: »Es gehört zum Entscheidungsspielraum des jeweiligen Gesprächsleiters in einem Literatur transferierenden Leser-Gespräch, ob und wieweit er sich auf die Einbringung solcher subsidiärer Referenzbereiche, wie ‚Autorenvita‘ und ‚zeitgenössischer Hintergrund‘, einlassen will. Was sich in solchen Deutungsschleifen konkretisiert, ist eine Rezeption, die Ausdruck eines ganz bestimmten Rezeptionsinteresses ist, nämlich eines binnendeutschen. Dieses zur Kenntnis zu nehmen, könnte auch für nicht-deutsche Rezipienten erhellend sein. […] Die dabei gewonnenen Einsichten haben den Status von Rezeptionsmöglichkeiten, sie sind nicht verbindlich im Sinne einer wahren, letzten, festen Deutung. Indem das Gedicht all diese historisch-faktischen Implikationen nicht in sich selbst explizit macht, weist es sie als letzten Deutungshorizont auch wieder ab und bleibt in der Spannung zwischen solch konkreter Bestimmtheit und einer weiteren, wenn man will: vageren ‚Allgemeinmenschlichkeit‘.« (Krusche 1985: 430, Herv.i.Orig.)

Diesem Zitat folgend kann festgehalten werden, dass eine einseitige, sich auf den historischen Kontext berufende Interpretation zu einer monokulturellen Deutung der Quelle führt, so wie gemäß Krusche alle Interpretationen gebunden sind an das jeweilige Rezeptionsinteresse. Dies hat zur Folge, dass interkulturelle Mehrperspektivität auch interkulturell variable Rezeptionsmöglichkeiten ermöglicht, die auf der diachronen Ebene ihrer eigenen Geschichtlichkeit unterworfen sind: Die Quelle, hier das Gedicht, bringt nicht explizit Interpretationsmöglichkeiten zum Ausdruck, sondern spiegelt die je nach Epoche vorherrschenden externen Literaturdebatten wider. Die Einsichten in die Historizität menschlicher Interaktionsformen machen dann die Bestimmung von Lese-Unterschieden zwischen dem muttersprachlichen und nicht-muttersprachlichen »und jenseits dieser Dichotomie zwischen allen Lesern verschiedener Kulturzugehörigkeit« (Krusche 1985a:

Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München: Iudicium-Verl. (Publikationen der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, 1), S. 415-433, hier S. 430 (Herv.i.Orig.). 19 Krusche, Dietrich (1991): Erinnern, Verstehen und die Rezeption kulturell distanter Texte. In: Alois Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium, S. 55-72.

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144f.) möglich. Formulieren lassen sich nach Krusche Differenzen 1.) im kulturhistorischen, insbesondere im literaturhistorischen Vorwissen, 2.) infolge der Prägung durch verschiedene Sprachstrukturen, 3.) infolge der Prägung durch »gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen samt der daraus erwachsenen aktuellen sozio-politischen Problemlagen«, 4.) infolge der Prägung durch verschiedene Kulturtraditionen (Religion, Kunstfunktion oder philosophische Systeme), 5.) infolge der Prägung durch verschiedene »Primär-Erfahrungen« aus Klima und Landschaft »samt deren Folgen für das Vorstellungsrepertoire«, 6.) im Verhältnis zur Tradition überhaupt, der literarischen Tradition insbesondere, dem Begriff der Kontinuität der eigenen Geschichte und dem »Bewusstsein mithin eigenkultureller Identität«. Bei diesen Kategorien handelt es sich zweifellos um ein wichtiges Organon zur Ermittlung individueller Leseerfahrung, die sich aber bei genauer Betrachtung nicht durch das interpretierende, ‚allgemein menschliche Wesen‘ vollzieht, sondern – wie im Text Krusches schon erwähnt – durch die soziale Einbettung des Subjektes, das durch seine Tradition des Denkens geprägt wird. Neben der Bedingung von Geschichtlichkeit aller Verstehensprozesse findet sich eine zweite Bilanz in der Erkenntnis, dass Tradition und soziale Bildungserfahrung den Dialog mit dem literarischen Text maßgeblich beeinflussen. Mit kritischerem Blick müsste noch untersucht werden, ob die von Krusche formulierten Kategorien der Lese-Differenzen tatsächlich hinreichend für das interkulturelle Lesergespräch sind. Innernationale Differenzen schließen diese Kategorien natürlich auch mit ein – worauf Krusche auch hinweist –; jedoch bleibt die Frage offen, inwieweit sich Steigerungsgrade im Lesen interkulturell mehrdeutiger Leerstellen identifizieren lassen. Norbert Mecklenburg (1990: 96)20 betont den kulturmittelnden Mehrwert von Literatur, da der literarische Text in der Vermittlung kultureller Muster auch gleichzeitig das Potenzial besitze, kulturelle Fremdheit »abzubauen«, und gleichzeitig die Leserin und den Leser für kulturelle Differenz sensibilisiere, um im Umgang mit Zeichen interkultureller Existenz ja sogar für Differenzwahrnehmung überhaupt zu schulen. Thematisiert werden müsse die Konstruiertheit und Inszenierung von kultureller Alterität, die das Dazwischen und das Sichmischen und das Ineinanderübergreifen kultureller Phänomene beschreiben (ebd. 2003: 434)21: 20 Mecklenburg, Norbert (1990): Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Dietrich Krusche, Alois Wierlacher und Götz Grossklaus (Hg.): Hermeneutik der Fremde. München: Iudicium, S. 80-103. 21 Mecklenburg, Norbert (2003): Interkulturelle Literaturwissenschaft. In: Alois Wierlacher (Hg.): Handbuch. S. 433-439.

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»Das interkulturelle Potential der Literatur erschließt sich teilweise über ihren Anspruch als Kunst und damit als ein relativ universales Kommunikationsmedium. Weil Kunst nicht nur kulturspezifisches, sondern zugleich auch allgemein menschliches Verhalten ausdrückt, darstellt und vermittelt, ist sie besonders geneigt, die Erfahrungswelt ferner und fremder Kulturen näher zu bringen.« (434)

Von besonderem Interesse ist hier das Merkmal eines »relativ-universalen« Mediums; relativ insofern, als Literatur denk- und standortgebunden einen Aspekt seines kulturthematischen Kontextes abbildet; universell dahingehend, als dem Sinn von Kunst ein allgemeines, anthropologisch konstantes Merkmal menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten zuteil wird. Um das Verstehen des Fremden entwickelt Mecklenburg den Ansatz der Interkulturellen Hermeneutik, einer »Hermeneutik der Distanz, der Differenz, des fremden Blicks« (2003: 438). Die Konstruiertheit von ‚Fremdheit‘ findet ihren Ausdruck im Begriff der ‚Inszenierung‘, einer Problematisierung der authentischen Deckungsgleichheit von phänomenologischer und diskursiver Fremdheit. Jenseits der empirisch erfassbaren Wirklichkeit vermag es der ästhetische Charakter von Literatur, die Wirklichkeit als eine verfremdete poetische Sinnerfahrung darzustellen, in der die kulturelle Alterität beibehalten werden könne. Mecklenburg empfiehlt außerdem die Fokussierung auf ganz bestimmte Literaturgattungen, um den Dialog zwischen In- und Auslandsgermanistik zu vertiefen, wobei hier interkulturelle Erfahrungswerte scheinbar nicht in der Differenz, sondern in Gemeinsamkeiten zu suchen sind: »Wo historische Prozesse des Kulturkontakts, als Einfluss oder Austausch, Abgrenzung oder Konflikt stattgefunden haben, da haben in der Regel auch Kunst und Literatur eine Rolle gespielt: als Produkt oder Triebkraft, Indikator oder Reflexionsmedium solcher Prozesse. Neben literaturgeschichtlichen Phänomenen aller Art, die in diesem Sinne eine interkulturelle Dimension haben, geht es zum einen um interkulturelle Literaturen, d.h. solche, die in besonderer Weise durch Kulturgrenzen, ihre Thematisierung und Überschreitung geprägt sind wie postkoloniale Literaturen, Literatur von Minderheiten und Migranten, Exilliteratur« (439).

Wenn ‚Flucht‘, ‚Vertreibung‘, ‚Exilerfahrung‘ oder ähnliche Metaphern von Differenzkonstruktionen Kriterien für die Kanonbildung internationaler Literaturforschung und -vermittlung bilden, muss an dieser Stelle die Frage gestellt werden,

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ob das hier unterstellte Erkenntnisinteresse am Fremden nicht wieder einen Rückfall in dichotomische Nationalstaatskonstrukte mit sich bringt und diese verfestigt. Denn unklar bleibt, ob Institute der Auslandsgermanistiken mit ihren eigenen Fach-, Lehr- sowie Lerntraditionen das Interesse an einem solchen kanonisierten Abbild deutscher Lebenswelten teilen. Gemäß Mecklenburg orientiert sich auch die Praxis der Forschung nach den »in ihr agierenden Forschungssubjekten, d.h. nach deren interkulturellen Erfahrung und Kompetenz« (2003: 434). So sei besonders ihre Stimme im polyphonen Chor der Interkulturalitätsforschung miteinzubeziehen, als Stimme der Anderen, die nicht germanozentrisch, sondern im Abstand zum deutschen Sprach- und Kulturraum die Erfahrung von »Kulturdifferenz« und deren Vermittlung präge. Ihre Ziele von Erkenntnis und Methodik müssten in die Praxis der Forschung eingebunden werden: »Ein solches Ziel ergibt die normative Überlegung: Wenn interkulturelle Kommunikation nicht nur ein Faktum, sondern auch ein Wert ist, dann ist wissenswert, welchen Beitrag Literatur zu ihr leistet. Der Wert interkultureller Literaturwissenschaft bemisst sich dann nach dem Grad, in welchem sie solches Wissen produziert.« (2003: 434, Herv. i. Orig.)

Neben dem eindeutigen kulturpolitischen Auftrag einer tiefergehenden interkulturellen Vernetzung von Gesellschaften legt Mecklenburg eine an der Kategorie der literarästhetischen Wirkmacht und Reichweite orientierte Messung interkultureller Dialogfähigkeit zugrunde. Um dieses Verhältnis der Proportionalität zu bemessen, sei die IKLW immer auch auf die Kenntnisse und Methoden fachverwandter Nachbarschaftsdisziplinen angewiesen: »Was Methoden, Theorien, Konzepte betrifft, so kann interkulturelle Literaturwissenschaft nicht nur durch solche, die nur ihr zugehören würden, definiert werden. Es gibt z.B. keinen vernünftigen Grund, sie einseitig entweder auf eine universalistisch orientierte kultursemiotische Methode oder auf eine kulturpluralistische Konzeption nicht-universalisierbarer Blickwinkel und Perspektiven festzulegen. Doch es gibt einige Grundannahmen, die in ihr eine besondere Rolle spielen. Schließlich bestimmt sich die Praxis interkultureller Literaturwissenschaft auch von ihrer Position auf dem Feld der Kulturwissenschaften her, von ihrer Beziehung zu den nationalsprachlichen Philologien, zur Komparatistik, zur Fremdsprachendidaktik und zu solchen Kunst-, Kultur oder Sozialwissenschaften, die als Hilfsoder interdisziplinäre Partnerdisziplinen fungieren können, besonders zu denen, die ihrerseits ein interkulturelles Arbeitsfeld eröffnet haben.« (ebd.)

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Leskovec (2009) kritisiert die Funktionalisierung des literarischen Textes als Werkzeug der Völkerverständigung bei gleichzeitiger Vernachlässigung seines ästhetischen Wertes: »Das Verständnis vom Fremden hat Konsequenzen für den Literaturbegriff und damit für das Arbeitsfeld einer interkulturellen Literaturwissenschaft und der fremdsprachlichen Literaturdidaktik im Besonderen. Das Literaturverständnis der interkulturellen Germanistik beläuft sich größtenteils auf einen referenziellen Literaturbegriff, der Literatur in erster Linie als Vermittlerin kultureller Informationen instrumentalisiert, seine Autonomie von Literatur als System jedoch weitgehend ausblendet.« (69)

Sowohl die IKLW als auch die Literaturdidaktik sollten von der Annahme ausgehen, dass verschiedene Formen der ‚Fremdheit‘ Literaturen immanent sind. Zu sehr sei die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft auf das Verständnis fremder Kulturen mittels der literarischen Lektüre fokussiert, ohne dabei das Fremde im Text, also die ästhetische Qualität, näher zu analysieren (Leskovec 2010: 238)22. Doch gerade hier gehe das Missverständnis umher, wenn man literarische Texte für den Fremdsprachenunterricht mit dem Ziel der Wissensvermittlung einseitig nutze, ohne dabei die nachhaltige Kompetenzförderung von Studierenden im Blick zu haben. Denn das Verständnis für andere Kulturen setze ein offenes, lernbereites und selbstkritisches Bewusstsein voraus, das mit dem Rezitieren historischer Jahrestabellen und -chroniken nicht erlangt werde. Daher plädiert Leskovec für einen erweiterten Fremdheitsbegriff unter Miteinbeziehung der durch den deutschen Phänomenologen Bernhard Waldenfels (2006) ins Leben gerufenen ‚radikalen Fremdheit‘. »Das Fremde zeigt […] eine Nichtassimilierbarkeit, wie sie uns besonders eindringlich im Bereich von Kunst, Eros oder Religion, aber auch in historischen Desastern begegnet. Wie kommt es, so können wir fragen, dass Sophokles‘ Ödipus die Zuschauer immer wieder erschüttert? Wie kommt es, dass ein versierter Pianist sich und seine Zuhörer immer wieder 22 Leskovec, Andrea (2010): Vermittlung literarischer Texte unter Einbeziehung interkultureller Aspekte. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (2). Online verfügbar unter http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-15-2/beitrag/Leskovec.pdf. Bereits Immacolata Amodeo zeigte in ihrer Dissertation Die Heimat heißt Babylon. Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland (1996), dass das Forschungsinteresse vieler Arbeiten innerhalb der IKLW nicht primär den ästhetischen, sondern gesellschaftsprägende Aspekte der Texte in den Mittelpunkt stellt. Vgl. Amodeo, Immacolata (1996): »Die Heimat heißt Babylon«. Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdt. Verl.

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mit Beethovens Klaviersonaten überrascht, obwohl er alle Handgriffe in den Fingerspitzen, alle Klänge im Ohr hat? […] Und wie kommt es, dass von dem schon allzu sprichwörtlichen Ereignis ‚Auschwitz‘ alle Sinngebungsversuche abprallen? Nicht, als ob da nichts zu verstehen, zu erklären und zu vergleichen wäre, es fragt sich nur, ob das Unheilsgeschehen in diesen Bewältigungsversuchen seine adäquate Antwort findet, ob es überhaupt eine adäquate Antwort gibt.« (Waldenfels 2006: 51f.)

Interkulturelle Begegnungen in der Literatur seien nach Leskovec vor allem deshalb darstellbar, weil literarische Fremdheit Handlungs- und Strukturelement in ihren unterschiedlichen Dimensionen thematisieren. Diese Mehrdimensionalität werde der Klassifizierung des Fremdheitsbegriffes in seinen drei Abstufungen nach Waldenfels gerecht. Auf den literarischen Text übertragen, könne Fremdes in verschiedene Fremdheitsgrade identifiziert werden, nämlich zunächst als ‚alltägliche‘ und ‚normale‘ Fremdheit, die innerhalb der jeweiligen Ordnung verbleibt, so etwa die Fremdheit von Nachbarn oder Straßenpassanten, mit denen wir uns auf tägliche Weise verständigen können. Literarische Texte könnten außerdem ‚strukturelle Fremdheit‘ (Leskovec 2011: 70) als Handlungselement inszenieren, und zwar »als Konfrontation zweier Wirklichkeitsordnungen«, als eine Erfahrung mit einer anderen Realitätskonstruktion aufgrund unterschiedlicher Wissens- und Wertvorstellungen. ‚Strukturelle Fremdheit‘ könne beispielsweise durch die Darstellung von kultureller Differenz, Geschlechterspezifik, sozialer Unterschiede oder Außenseiterpositionen entstehen. Die ‚strukturelle Fremdheit‘ entwickelt sich durch die Tatsache, dass Literatur ein alternatives Zeichensystem, eine weitere diskursive Ordnung schaffe mit anderen Regeln und anderen Funktionen. Hierbei seien nun aber nicht nur Unterwanderungsformen politscher Ideologien oder Ansichten einer Mehrheitsgesellschaft zu verstehen; auch die Sprache und ihre poetische Verfremdung dient der Inszenierung struktureller Fremdheit, indem »ein bloßes ‚Übersetzen‘ in die Normalsprache oder gegebenenfalls in die Fremdsprache nicht ausreicht, um die Bedeutungsintensität bestimmter Wörter, Metaphern, Sprachbilder oder Ähnliches zu eruieren« (ebd. 76). Dieser Prozess könne einerseits dadurch eintreten, da sich die Bedeutung von Wörtern nur aus einer bestimmten kulturellen Tradition erschließe, andererseits durch die Poetizität der Sprache, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit eine eindeutige Begriffsbestimmung oftmals nicht zulasse und somit jede Indifferenz von Interpretationsmöglichkeiten unterwandert. Wie Sprache eine alternative Wirklichkeitsordnung durch Einsatz von verfremdendem Sprachmaterial erschaffen kann, führt Leskovec anhand eines Auszuges aus Herta Müllers Roman Atemschaukel (2009: 179)23 vor: 23 Müller, Herta (2009): Atemschaukel. Roman. München: Hanser.

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»Mein Kellerkompagnon Albert Gion hatte auf dem Heimweg von der Nachtschicht gesagt: Jetzt, wo es warm wird, kann man, wenn man nichts zu Essen hat, den Hunger wenigstens in der Sonne wärmen. Ich hatte nichts zu essen und ging in den Lagerhof, meinen Hunger wärmen. Das Gras war noch braun, niedergedrückt und vom Frost verbrannt. Die Märzsonne hatte bleiche Fransen. Überm Russendorf war der Himmel aus gewelltem Wasser, und die Sonne ließ sich treiben. Und mich trieb der Hungerengel zum Abfall hinter die Kantine.«

Die Personifikation des Hungers wird noch durch das Personalpronomen »mein« verstärkt als ein ständiger Begleiter des Erzählers, der sich inmitten der trostlosen Alltagswelt eines sowjetischen Gefangenenlagers zurückzieht in eine andere Welt mithilfe der Sprache. Diese zweite Realität drückt sich aus durch die poetische Bildhaftigkeit, mit der die Natur beschrieben und als klassisches Gegenbild zur Kultur und Zivilisation in Opposition gesetzt wird. Die ‚Fremdheit‘ sollte schließlich ihre höchste Steigerung in einer radikalen Form finden. Diese betrifft all das, was außerhalb jener Ordnung bleibt und uns mit Ergebnissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße »Interpretationsmöglichkeit« in Frage stellten. Hierher gehörten Grenzphänomene wie Eros, Rausch, Schlaf oder Tod, die den Gang der Dinge auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen (Waldenfels 2006: 35f.), die in der literarischen Weltkonstruktion immer das Überschießende, semantisch nicht Fassbare, aber vor allem das Nicht-Interpretierbare darstellten; also eine Klassifizierung für das, was mit der Perspektive des Lesenden nicht benannt werden kann. Somit zeige sich die radikale Fremdheit ebenso in der »Thematisierung des Selbstentzuges« (Leskovec 2010: 242), der intrasubjektiven Fremdheit, welche auch interkulturell gesehen werden könne, nämlich als »blinder Fleck der Kultur« (ebd.). Hier schaffe die literarische Darstellung radikaler Fremdheit neue Ordnungen, in denen das Unsagbare zur Sprache komme, eine neue Beschreibung einer außerliterarischen Wirklichkeit vollziehe sich, ja werde gerade durch den literarischen Text erst ermöglicht. Eine exemplarische Analyse von Fremdheitsdarstellungen in Literatur bietet Lescovec am Beispiel des 2004 erschienenen Romans Nox von Thomas Hettche24. Das Modell von Leskovec ist für die inhaltlich-thematische Erschließung interkultureller Literaturanalysen zweifellos ein Gewinn. Der Prämisse, literarische Inhalte über kulturwissenschaftliche Dialogaufforderungen zu stellen, ist hier ebenso zuzustimmen, wie auch der Einsicht, dass Fremdheitserfahrungen keineswegs nur strukturell, sondern auch radikal zu benennen seien. Und hierin liegt

24 Hettche, Thomas (2004): Nox. Roman. Berlin: List Verlag (List Taschenbuch, 60459).

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auch gleichzeitig das Problem am Waldenfels’schen Modell, sofern man die Stufen der Fremdheitserfahrung für Literaturanalysen operationalisierbar machen möchte: Denn mit dem Versuch, Erfahrungsgrade zu identifizieren, werden automatisch Definitionen von ‚Interkulturalität‘ und ‚Fremdheit‘ normativ antizipiert, welche der inhaltlichen Vielfalt interkulturell (ver-)arbeitender Literatur nicht zwingend gerecht werden, ja geradezu dem viel kritisierten »Schubladendenken« von Literaturzuschreibungen Vorschub leisten können.

3.2 F ORSCHUNGSBERICHT W ISSENSSOZIOLOGIE Ziel dieses Teilkapitels ist es aufzuzeigen, wie wissenssoziologische Ansätze einen Bezug zu aktuellen Themen der interkulturellen Wissensvermittlung oder -produktion herstellen können. Die Debatten um Mannheims Gedanken zur Entstehung einer Soziologie des Wissens haben bis heute an Aktualität nicht eingebüßt und innerhalb des Selbstverortungsdiskurses der Wissenschaften, und besonders innerhalb der IKLW, eine stabile Kontinuität an Tradition bewiesen. Dies zu würdigen, ist Zweck der folgenden Übersicht, die sich zuerst mit den wissenschaftsreflexiven Ansätzen beschäftigt. Die Auffassung eines ineinander verschränkten Geflechts von Erkennen und Sozialisation wurde vom Mediziner und Philosophen Ludwik Fleck (1896-1961) in seiner Schrift Zur Krise der Wirklichkeit (2011 [1929]: 52)25 vertreten: »Wenn wir den Quellen der Erkenntnis nachforschen, begehen wir meist den Fehler, uns dieselben viel zu einfach vorzustellen. Man vergisst die simple Wahrheit, dass unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen. Dies ist aber ein schwerwiegender Umstand, denn auf dem kurzen Wege vom Munde des Lehrers zum Ohre des Schülers tritt immer eine kleine Verschiebung des Erkenntnisinhaltes ein.«

Fleck weist in seinem Aufsatz Schauen, Sehen, Wissen (2011 [1946]: 404)26 sogar den Anspruch der Naturwissenschaften als einer autonomen, von kulturellen Denkmustern unabhängigen Fachdisziplin zurück und setzt das wissensgeleitete

25 Fleck, Ludwik (2011 [1929]): Zur Krise der Wirklichkeit. In: Sylwia Werner, Claus Zittel (Hg.) (2011): Ludwik Fleck. Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1953), S. 52-69. 26 Fleck, Ludwig (2011 [1946]): Schauen, Sehen, Wissen. In: Werner, Zittel (Hg.): Ludwik Fleck, S. 390-418.

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Erkennen von wahrheitsfähigen Objekten als Grundbedingung aller Wissenschaften voraus: »Aber nicht alle geben zu, dass praktisch jedes Sehen Gestaltsehen ist und praktisch jede Gestalt durch das kollektive Leben und den kollektiven Stil des Denkens bestimmt ist. Viele Repräsentanten der Naturwissenschaften, die sich noch des Denkstils der klassischen Physik bedienen, behaupten, dass das sogenannte ‚objektive Beobachten‘ einer isolierten, elementaren Tatsache möglich ist, unabhängig von der psychologisch oder soziologisch bedingten Bereitschaft, mehr oder weniger ‚subjektive Gestalten‘ zu sehen. Dass man mithilfe entsprechender Apparate völlig unabhängig von unserem Denkstil die Phänomene der ‚äußeren Welt‘ messen kann«.

Den Blick auf unsere Umwelt sieht Fleck beeinflusst durch die Last der Tradition, das Gewicht der Erziehung und die Reihenfolge des Erkennens. Bei jeder, »der einfachsten und kompliziertesten Wahrnehmung« (391) müsse man zuerst wissen, um daraufhin zu sehen. Ein Passant, der auf irgendeinen Vorfall auf der Straße schaue, oder ein Gelehrter, der irgendein Naturphänomen untersuche – alle müssten nach Fleck lernen, die mehr oder weniger komplexen Gestalten unserer Welt zu sehen. Ein sehr wichtiger Umstand sei außerdem, dass die Menschen mit der Bereitschaft, bestimmte Gestalten wahrzunehmen, die Fähigkeit verlieren würden, andere wahrzunehmen: »In demselben Museum sieht ein Künstler etwas völlig anderes als ein dort diensttuender Detektiv« (ebd.). Fleck veröffentlichte 1935 sein Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache mit dem Untertitel Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv27. Untersucht wird in diesem Werk die Entstehung und Transformierung des Syphilisbegriffs. Ähnlich wie noch bei Mannheims Arbeiten zur ideen- und gesellschaftshistorischen Einbettung des Begriffs der Konstellation zu zeigen ist, kommt Fleck zu dem Ergebnis, dass historisch verzeitlichte Begriffe ungeachtet des methodischen Zugriffs den Wandel der Institutionen überdauern. Anstelle von totalen Kategorien wie ‚Wahrheit‘ oder ‚Irrtum‘ tritt bei Fleck der Begriff des ‚Denkstils‘ in den Vordergrund, dessen Wandelbarkeit von sozialen Einflussfaktoren abhängt, dem von Menschen getragenen ‚Denkkollektiv‘ (vgl. Fleck 1980 [1935]:32). Neben Mannheim und Fleck ist vor allem der 1874 in München geborene und 1928 in Frankfurt a.M. verstorbene Max Scheler als Mitbegründer der deutschen Wissenssoziologie hervorzuheben. Wie später noch bei Mannheim zu zeigen ist,

27 Fleck, Ludwik (1980 [1935]): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 312).

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hat sich auch die Wissenssoziologie Schelers zum Ziel gesetzt, die soziale Bedingtheit partikularer Weltansichten sowie die Begrenztheit von Ideologien aufzudecken28. Jedoch unterscheidet sich Schelers Ansatz von dem Mannheims dahingehend, dass die Konstitution des Wissens vermittels einer anthropologischen Basis erfolgt, »die gleichermaßen die gesellschaftlichen, sozialgeschichtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie die kognitiven, volitiven, sinnlichen und emotionalen«29 Konstitutionsprozesse des Wissens in ihrer sozialen Einbindung untersuchen. Aktuell wird das Werk Schelers insbesondere in der anthropologischen Medizin rezipiert30 sowie bei Wilwert (2008)31 anhand der Frage, inwieweit Anthropologie als philosophische Grundlagenwissenschaft gedacht werden kann. Schelers Ansatz grenzt die ‚Religion‘, ‚Metaphysik‘ und ‚Wissenschaft‘ als die drei kulturell real gewordenen Typen der Wissensformen ein, die als verschiedene Ausgestaltungen des Weltzugangs jeweils ganz andere soziale Welten implizieren. Unter der Kategorie der ‚Metaphysik‘ fallen nach Scheler philosophischreligiöse Denksysteme wie die von Buddha über Laotse oder Platon bis zu Marx (ebd. 60ff.). In diesem Kontext ist der Mensch als ein vital geistiges, intellektuell freies Wesen zu begreifen, dem eine Vielzahl von Realitätszugängen in emotionaler, leiblich sinnlicher und kognitiver Art möglich sind (17ff.). Ein wesentlicher Unterschied zu den Arbeiten Mannheims findet sich in Schelers Versuch, durch anthropologische Axiome – wie die eben genannten drei – das Problem des erkenntnistheoretischen, historischen Relativismus zu neutralisieren. »Gegenüber der Schelerschen Gewißheit der Existenz einer apriorisch gültigen ‚objektiven Wertrangordnung‘ verwies Mannheim […] auf die wissenssoziologische Notwendigkeit, die Herausforderung des modernen Historismus und Relativismus nicht durch den Rekurs auf neue unhinterfragbare Unbezüglichkeiten und Absolutheiten zu umgehen, sondern sie als solche ernst zu nehmen und sie auch auf den jeweilis eigenen Standpunkt zu übertragen,

28 Scheler, Max (1960): Die Wissensformen und die Gesellschaft. Mit Zusätzen hrsg. von Maria Scheler. Bern, München: Francke (Gesammelte Werke, 8), S. 9, 203. 29 Srubar, Ilja (1981): Max Scheler. Eine wissenssoziologische Alternative. In: Nico Stehr und Volker Meja (Hg.): Wissenssoziologie. Opladen: Westdt. Verl. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft, 22), S. 343-360, hier S. 354. 30 Good, Paul (Hg.) (1975): Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie. Bern: Bouvier Verlag. 31 Wilwert, Patrick (2009): Philosophische Anthropologie als Grundlagenwissenschaft? Studien zu Max Scheler und Helmuth Plessner. Würzburg: Königshausen & Neumann (Trierer Studien zur Kulturphilosphie, 17).

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um so einer dynamisch-relationalen Konzeption von Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.« (Lichtblau 1996: 535)

Die Antizipation einer anthropologischen Wissenssoziologie erscheint jedoch verengend; liegt doch das eigentlich Spezifische an der soziologischen Betrachtung an der »Generalisierung der Relativität aller Wissensgehalte, einschließlich derjenigen der Wissenschaft« (Srubar 1981: 343). Thomas Kuhn32 lehrte an der Universität Princeton Wissenschaftstheorie und machte mit Blick auf semantische Transformationsprozesse wissenschaftlicher Begriffsgeschichten die Kategorie des ‚Paradigmas‘ stark. Wissenschaften folgten demnach gewissen Mustern oder Schemata, die in Lehrbüchern, Lexika und wissenschaftlichen Methoden auf allgemeine Akzeptanz stießen. Die Wissensproduktion sei nicht als linear anwachsende Akkumulation zu verstehen, sondern durch radikale Umbrüche und Revolutionen gekennzeichnet, die nicht innerhalb der Logik, sondern außerhalb durch die Gesellschaft hervorgerufen würden (vgl. Kuhn 1976: 104). Auch wenn die Arbeiten Kuhns im Vergleich zu Mannheim und Fleck auf eine wesentlich höhere Resonanz stießen (vgl. Knoblauch 2010: 243), bleiben die Ansätze der seins- und perspektivgebundenen Wissenschaftstradition deutlich erkennbar. Vor allem die englische Schule radikalisierte die wissenssoziologischen Themen in den 70er Jahren anhand des Ansatzes, dass Wissenschaften grundsätzlich nicht beobachteten, sondern im Moment der Beobachtung selektierend in den Verstehensprozess eingreifen. Der prominente Vertreter der englischen Schule, David Bloor33, erklärt sogar mathematische Modelle und Verfahrensweisen im Bereich des Sozialen und geht in einem Vortrag34 auf die Frage ein, weshalb die Wissenssoziologie sich immer wieder scharf geführten Attacken von Seiten der Philosophie und Naturwissenschaften ausgesetzt sieht. Sobald sich Wissenssoziologen mit der sozialen Genese von Wissen beschäftigten, gerate das Objekt der Betrachtung in Gefahr, in seiner theoretischen Existenz nicht mehr mehrheitsfähig anerkannt zu werden. Nun gehört die Revision und Weiterentwicklung von Theorien,

32 Kuhn, Thomas S. (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 25), S. 10. 33 Bloor, David (1976): Knowledge and social imagery. London, Boston: Routledge & K. Paul (Routledge direct editions). 34 Grötker, Ralf (2000): Warum geraten sie in Verdacht? In: Berliner Zeitung, 03.03.2000. Online verfügbar unter http://www.berliner-zeitung.de/archiv/wissenssoziologen-werden-zu-unrecht-beargwoehnt-meint-david-bloor-warum-geraten-sie-in-verdacht-,1081 0590,9775832.html., zuletzt geprüft am 25.12.2015.

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Modellen und Formeln zum täglichen Brot wissenschaftlichen Arbeitens; der Wissenssoziologe jedoch greife nicht die beobachtbare Welt der Gegenstände an, sondern – aus Sicht vieler Kritiker – den Ort der Wissensproduktion selbst, die Universitäten und Akademien. Diese jedoch hätten nach Bloor (ebd.) den Stellenwert eines Heiligtums eingenommen und seien als Religion unangreifbar. Indem die Wissenssoziologie nun mit kausaler Begründung und Rechtfertigung Prozesse der Wissensproduktion erklärt, anstatt unumstößliche Wahrheiten zu interpretieren, werde nach Bloor sogar ein Beitrag zur »wissenschaftlichen Säkularisierung« (ebd.) geliefert. Die wissenschaftliche Relevanz dieser Aussage soll i.R. dieser Arbeit weder kommentiert noch bewertet werden. Sie zeigt aber exemplarisch auf, mit welch auffallender Schärfe die Debatten um die Wissenssoziologie auch heute geführt werden. Der Ton der Diskussion bleibt weiterhin strittig, wie hoch nun der Anteil des Sozialen an Wissen ist. Dies empirisch zu bemessen, haben sich seit dem Ende der 1970er Jahre die Science and Technology Studies (STS) zur Aufgabe gemacht. Diese Forschungsrichtung, die sich mit Fragen rund um Ethik und Wissenschaft sowie Technik beschäftigt, wird heute vertreten durch die Arbeiten von Bruno Latour, Steve Woolgar35 oder Karin Knorr Cetina36; institutionell sind die STS weitestgehend im angelsächsischen Raum vertreten37. Eine schwierige, in der literaturwissenschaftlichen Forschung noch kontrovers zu diskutierende Rolle nimmt Niklas Luhmann (1927-1998) ein. Seine Arbeiten zur ‚Systemtheorie‘ und ‚Semantik‘ bilden zweifellos wichtige Ansätze innerhalb der soziologischen Theoriedebatte, jedoch bleibt sein Verhältnis zur klassischen Wissenssoziologie weitgehend ungeklärt und auch dieser Exkurs vermag es gewiss nicht, die vielfältige Komplexität der Systemtheorie, welche immerhin ein

35 Latour, Bruno; Woolgar, Steve (1979): Laboratory life. The social construction of scientific facts. Beverly Hills: SAGE Publications (Sage library of social research, 80). 36 Knorr-Cetina, Karin (1984): Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie von Wissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (959). Eine kritische Übersicht zu Latours Gesamtwerk liefert Laux, Henning (Hg.) (2016): Bruno Latours Soziologie der ‚Existenzweisen‘. Einführung und Diskussion. Bielefeld: transcript (Sozialtheorie). 37 Vgl. Society for Social Studies of Science.Online verfügbar unter http://4sonline.org/. European Association for the Study of Science and Technology (EASST). Online verfügbar unter http://easst.net/.Science, Technology, and Society Center, UC Berkeley.Online verfügbar unter http://cstms.berkeley.edu/research/sts/.Science and Technology Studies, University of Wisconsin, Madison. Online verfügbar unter http://sts.wisc.edu/. Science, Technology & Society at the University of Michigan. Online verfügbar unter http://www.lsa.umich.edu/sts/.

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Abbild Luhmanns gesamten Opus Magnus bildet, in Gänze darzustellen38. Fakt ist jedoch, dass sein Theoriegebäude innerhalb literaturwissenschaftlicher Fachdebatten auf starke Resonzanz stieß, obgleich sich im gesamten Œuvre Luhmanns keine explizite Auseinandersetzung mit literaturtheoretischen Fragestellungen finden lässt, abgesehen von dem 1996 entstandenen, 16 Buchseiten starken Manuskript Literatur als Kommuniaktion. Daraus folgert Jahrhaus (2010: 283)39, »dass man die Luhmann’sche Systemtheorie nicht aus sich selbst heraus als Literaturtheorie verstehen kann, sondern aus dem, was die Literaturwissenschaft daraus gemacht hat.« Erschwerend tritt für eine Luhmann-Rezeption der Umstand zutage, dass die hohe Dichte an Begriffen und ihre netzwerkartige Verweisstruktur in Luhmanns Œuvre für viele Irritationen gesorgt hat.40 Luhmanns gesamtes Schaffen soll im Rahmen dieser Arbeit nicht wiedergegeben, jedoch den ‚klassisch‘-wissenssoziologischen Spuren nachgegangen werden, die sich unter seinem Begriff ‚Semantik‘ wiederfinden. Ziel dieses Exkurses ist hierbei keine Ausdifferenzierung zur ‚klassischen‘ Wissenssoziologie, sondern im Gegenteil die Suche nach inhaltlichen Korrespondenzen und Analogien zwischen Mannheim und Luhmann mit dem Ziel, Mannheims Ansatz der Weltanschauungs-Interpretation für die literaturwissenschaftliche Forschung stark zu machen. Einerseits wurde durch Luhmann die vierbändige Aufsatzreihe mit dem Untertitel Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 41 herausgegeben, andererseits distanziert sich der Autor bereits im ersten Band dieser Reihe

38 Forschungsberichte zur Rolle der Systemtheorie sowohl innerhalb der empirischen als auch textbezogenen Literaturwissenschaft finden sich bei Jäger, Georg (1994): Systemtheorie und Literatur Teil I. Der Systembegriff der empirischen Literaturwissenschaft. In: Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche und Alberto Martino (Hg.): Internationales Archiv für Soziaslgeschichte der deutschen Literatur. Tübingen: Niemeyer (19), S. 95-125 und Ort, Claus-Michael (1994): Systemtheorie und Literatur. Teil II. Der literarische Text in der Systemtheorie. In: Frühwald: Archiv, S. 161-178. Jedoch bleibt auch in diesen Berichten die Frage nach der theoriegeschichtlichen Beziehung zwischen Luhmann und Mannheim unbeantwortet. 39 Jahraus, Oliver (2010): Niklas Luhmann (1927-1998). In: Matías Martínez, Michael Scheffel (Hg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. München: Beck (Beck’sche Reihe, 1822), S. 280-300. 40 Assmann, David-Christopher (2013): Subjektform ›Systemtheoretiker‹. Theoriedarstellung und Inszenierungspraxis Niklas Luhmanns. In: Scientia Poetica 17, 1, S. 178-206. 41 Luhmann, Niklas (1980): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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dezidiert von der klassischen Wissensoziologie und namentlich von Karl Mannheim (7, 11ff.; 58ff.). Von zentraler Bedeutung ist in dieser Studie der Sinnbegriff, unter dem verstanden wird »ein Überschuß an implizierten Verweisungen auf anderes, der zu selektivem Vorgehen in allem anschließenden Erleben und Handeln zwingt« (35). Sinn halte ferner »andeutungsweise« die ganze Welt zugänglich, erfordert aber »eben damit [eine] laufende Selektion des nächsten Schrittes in einem mehr oder weniger konkret apperzipierten Kontext anderer Möglichkeiten« (ebd.). Eine Typologie des ‚Sinnes‘ vollzieht sich in drei Dimensionen: die der Sache, der Zeit und jene des Sozialen. Mit anwachsender Komplexität einer Gesellschaft vervielfältigen sich auch die Alternativen und Selektionsmöglichkeiten von Sinnbildung (37f.). Wenn nun mit den drei Dimensionen der Teleologie (Zeit), Klassenzugehörigkeit (Soziales) und der Gattungsbezeichung (Sache) grundsätzliche Perspektiven von Welt-, Gesellschafts- und Selbstauslegung zugrunde gelegt werden, stellt sich nun die Frage, ob mit einer zunehmenden Diversifizierung von Gesellschaften auch unzählige Handlungsoptionen freigelegt werden. Hier kommt nun der Begriff der ‚Semantik‘ ins Spiel. »Was der gesellschaftliche Prozess als ‚Semantik‘ hinterlegt, ist also zunächst auf diese Orientierungserfordernisse abgestimmt; er trägt dem Zwang zur Selektion, der aus der Komplexität des Systems folgt, Rechnung, ohne ihn als Ursache oder Leistung zu thematisieren. Die Entwicklung der Bewußtseinslage einer Gesellschaft folgt deshalb der Entwicklung von gesellschaftlichen Strukturen nicht wie das Subjekt dem Objekt, nicht im Sinne einer Wiederspiegelung von Tatsachen in der Erkenntnis, sondern im Sinne der Anpassung mentaler Reduktionen und Bündelungen, Raffung und Vereinfachungen an Veränderungen der Selektivität im Relationieren der Elemente.« (24)

‚Semantik‘ meint bei Luhmann demnach nicht die Bedeutung und Lehre von Worten, sondern »einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn« (19), eine Form der Begrenzung und Verarbeitung von Komplexitiät. Gesellschaften würden von einem Vorrat an Bedeutungen geleitet und die Notwendigkeit, ein immerwährendes Denken in Alternativen in einen Zwang zur Selektion zu transformieren, meint ‚Semantik‘. Das semantische Feld könne dadurch mit dem Begriff der »Limitationalität« (40) gedacht werden. »Damit ist gemeint, dass gegen an sich Denkmögliches Grenzen (Horizonte) gesetzt werden müssen, damit Operationen produktiv werden können und nicht in die Leere eines ewigen Und-so-weiter auslaufen« (ebd.). Zwar sind Gesellschaften durch den stetigen Wandel temporalisiert – und somit auch die Handlungskonstellationen ihrer Akteure –, jedoch bleiben sowohl die Form der Veränderung als auch das für diese

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Formen notwendige Bewusstsein gängigen Analysemethoden verschlossen. Systeme sind nach Luhmann »komplex« (237), die Komplexität setzt die Systembildung voraus, »weil ohne Bezug auf System die Inhalte von Welt bzw. Umwelt unbestimmbar blieben« (ebd.). Soziale Systeme sind nach Luhmann ‚autopoietische Systeme‘, d.h. sie reproduzieren sich aus den Bestandteilen, aus denen sie bestehen, durch dieselben neu. Dies lässt sich am einfachsten durch eine Abgrenzung erklären: Eine Maschine beispielsweise erhält einen Input von außen und definiert sich selbst durch das Produkt, das es herstellt (vgl. Luhmann 1987: 307324)42. Es müsse dann die Einsicht an Boden gewinnen, dass die bewusste Konfrontation mit der autopoietischen Komplexität vor dem Sortieren in Kategorien wie z.B. ‚wahr‘/‚falsch‘ kommt. Hierbei jedoch sollte Kultursoziologie nicht an der Schwelle zur »Gedankenwelt eines Autors« oder am »textnahen Interpretieren« (Luhmann 1980: 303) entlangarbeiten. Vielmehr wären die am Text oder am Autor zu beschreibenden Sachverhalte »nur Material für eine abstrakter angesetzte Theorie der Komplexitätsbewährung« (ebd.). Das Konzept der ‚Autopoiesis‘ stellt keine Metapher oder linguistische Notlösung für ein nicht erklärbares Verständnis von Systemen dar. Tatsächlich bildet die ‚Autopoiesis‘ die Denkvoraussetzung für Luhmanns gesamte Theoriestruktur, nach der der Blick für selbstreferenzielle Prozesse in Zentrum des Interesses gerückt wird. Damit verlässt Luhmann »jene subjektzentrierte soziologische und philosophische Denktradition, die das soziale Geschehen auf das Bewusstsein der beteiligten Akteure zurückzuführen sucht« (Klymenko 2012: 70)43 Luhmann verdeutlicht den Ansatz mit einem Beispiel zum Verhältnis »von Selbstreferenz und binärer Schematisierung« (304). Der berühmte Satz des Descartes, »cogito ergo sum«, ist beispielsweise Ausdruck von der Faktizität des Denkens und somit unabhängig von der Frage, ob Denkinhalte wahr oder falsch seien. Nun könne sich das Denken natürlich mit richtigen oder unrichtigen Gedanken füllen, als operatives Sinnsystem bleibt das Denken jedoch unantastbar. Selbstreferenz und binäre Kategorien distanzieren sich voneinander; die Subjektivität des Denkens erlaubt neue Definitionsmöglichkeiten des Wahren und Falschen. Beispiele wie diese ließen sich fortsetzen im Theater, wo das Spiel ‚angemessen‘ oder ‚unangemessen‘ ist oder bei Hofe, wo das Spiel um ‚Schein‘ und ‚Sein‘ die Frage nach Aufrichtigkeit oder Unaufrichtigkeit neu konditioniert. Das Thema von Komplexität, Selbstreferenz und binäre 42 Luhmann, Niklas (1987): Autopoiesis als soziologischer Begriff. In: Hans Haferkamp, Michael Schmid, Haferkamp-Schmid (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 667), S. 307-324. 43 Klymenko, Iryna (2012): Autopoiesis. In: Oliver Jahraus (Hg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, S. 69-71.

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Schematismen gewinnt nach Luhmann eine »eine Form, die vom historischen Werdegang unabhängig ist« (312). Die Umstrukturierung weiterer Plausibilitäten setzt den evolutionären Gang von Komplexität in Bewegung. Zusammenfassend gründet Luhmann seine Theorie von Gesellschaften auf begriffliche Paradigma, die sich Luhmann zufolge von historischen Semantiken wie ‚Subjekt‘, ‚Objekt‘ und dem ‚Individuellen‘ verabschiedet haben. Eine Gesellschaft besteht aus Kommunikation, nicht aus Individuen. Kommunikation ist wiederum an Systeme gebunden, nicht an Subjekte. Es ist Bäcker (2012: 52)44 zufolge die Beziehung zur sozialen Ordnung entscheidend, in welcher Gestalt Kommunikation zwischen Personen stattfindet. Verbunden werden demnach zwei Aspekte der Kommunikation: Der erste untersucht die Beziehung zwischen Personen mit eigenem Bewusstsein; und der zweite jene zwischen dem Individuum und einer sozialen Ordnung. Beide Aspekte bedingen einander, denn die soziale Ordnung regelt die Beziehungen zwischen Personen; diese wiederum stehen für eine Beziehung zur sozialen Ordnung.45 Mit dieser wechselseitigen Relation von Dependenz und Interdependenz werden aber auch Rolle und Möglichkeiten des beobachtenden Subjekts problematisiert. Zwar erzeugt der Beobachter die Welt im Vollzug des Beobachtens, jedoch bleibt er gleichzeitig in dieser selbst verortet, der Beobachtung ausgesetzt, womit ein extrasystemischer Blick unmöglich gemacht wird. Ein transzendentes, universelles Konzept von Subjekt kann es demnach nicht geben. Die Beobachtung ist einem ‚blinden Fleck‘ unterworfen.46 44 Bäcker, Dirk (2012): Systemtheorie als Kommnuikationstheorie. In: Jahraus: Luhmann-Handbuch, S. 52-57. 45 Unter Berücksichtigung dieser doppelten Dependenz von Sinnkonstitution arbeiten Henk de Berg und Matthias Prangel in den 1990er Jahren ein auf Luhmanns Systemtheorie referierendes Modell aus, das die Text/Kontext-Differenz als konstitutiv für den Bedeutungsaufbau betrachtet. Ein Text konstituiere sich erst vor dem Hintergrund von dem, was er negiert. Die Literaturwissenschaft beobachte die Bedeutung als Einheit der Differenz zwischen dem, was ein Text sagt, und dem, was er negiere. Vgl. Berg, Henk de (1991): Text - Kontext - Differenz. Ein Vorschlag zur Anwendung der Luhmanschen Systemtheorie in der Literaturwissenschaft. In: Spiel 10, 2, S. 191-206 und Berg, Henk; Prangel, Matthias (1993): Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 46 »Die Unbeobachtbarkeit der Operation des Beobachtens ist die transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit. Die Bedingung der Möglichkeit des Beobachtens ist nicht ein Subjekt (geschweige denn: ein mit Vernunft ausgestattetes Subjekt), sondern ein Paradox, an dem derjenige scheitert, der die Welt transparent zu machen sucht.« vgl. Luhmann, Niklas (2002): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M., S. 96.

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Der Befund Luhamnns einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Gesellschaften mit Anbeginn der Moderne stößt in der soziologischen Diskussion auch auf Kritik. Gießen; Luckmann (1982: 8)47 äußern Zweifel an der neuen Wissenssoziologie. So bleibe die Beziehung zwischen Theorie und illustrierter Quellenarbeit unklar, Kriterien der Stoffauswahl und Periodisierung nicht entwickelt und die Behauptung Luhmanns unbegründet, weshalb die neue Frage nach einer »Korrelation« von Wissensbeständen theoretisch anspruchsvoller sei als die durch ihn »klassisch« attributierte Vorgehensweise, nach Trägern des Wissens zu suchen. Keine direkte Kritik an Luhmanns Arbeit, jedoch eine verschärfte an den teilweise bedenkenlosen Umgang im Felde der Literaturwissenschaft äußert Ort mit der Empfehlung, die enge Verzahnung von Literaturwissenschaft und Systemtheorie so lange zu lockern, bis erklärungskräftige Konzepte zu ‚Kommunikation‘ und ‚Autopoiesis‘ vorliegen: »Wenn […] Kommunikation erstens die Basiseinheit sozialer Systeme bildet und weder auf die Kommunizierenden noch auf das Kommunizierte rückbezogen werden soll, sondern als »autopoietische Operation [erscheint], die sich selbst produziert und reproduziert und dadurch die Emergenz sozialer Systeme nach sich zieht« und wenn sie zweitens (wie oben ausgeführt) im Lauf der Medienentwicklung immer unwahrscheinlicher wird, dann wird auch die Autopoiesis des Sozialen, dann werden auch soziale Systeme immer unwahrscheinlicher.« (Ort 1994: 162)

Dieser Mahnung schließen sich Jahraus, Schmidt (1998)48 an mit der Kritik, dass die Frage nach dem Subjekt in Luhmanns Arbeit allzu häufig mit moralischen Untertönen im Sinne eines ‚Rettungsfeldzuges für den Humanismus‘ gestellt würden, aber keineswegs eine Lösung zu derselibgen böten: »Die Systemtheorie ist kein theoretisch-technokratischer Inhumanismus. Sie sieht den Menschen vielmehr als komplexes Zusammenspiel verschiedenster Systeme und setzt daher mit ihrer Konzeptualisierung tiefer an. Wenn sie also versucht, in Theorie und auch Weltanschauung die Fixierung auf Menschen, Subjekte, Handlungsträger um ein Weniges zu transzendieren, bedeutet das eben nicht eine Absage an alle humanistischen Werte und Verbind-

47 Luckmann, Thomas; Giesen, Bernd (1982): NIKLAS LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik. In: Soziologische Revue 5, 1, S. 1-10. 48 Jahraus, Oliver; Schmidt, Benjamin Marius (1998): Systemtheorie und Literatur. Teil III. Modelle Systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990ern. In: IASL, 1, S. 66-111.

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lichkeiten, sondern ist Teil des konzeptionellen Versuches, einige der entscheidenden erkenntnistheoretischen Irrtümer der Vergangenheit, aufgrund derer das ökologische System in eine möglicherweise verhängnisvolle Schieflage geraten ist, zu korrigieren. Die Einheit des Überlebens besteht aus Umwelt plus Organismus. Wir lernen durch bittere Erfahrungen, dass der Organismus, der seine Umwelt zerstört, sich selbst zerstört. Daher könnte es notwendig sein, dass wir Menschen uns soweit möglich über unsere beschränkte Selbstzentrierung erheben – um Systemzusammenhänge in den Blick zu bekommen, die höherer Ordnung sind und die eben nicht durch Zurechnung auf menschliche Aktanten angemessen erklärt werden können. Dabei kann unter anderem die Luhmann’sche Systemtheorie helfen. Und der Vorwurf, den Menschen aus dem Blick zu verlieren, trifft nicht nur daneben, er geht in die entgegengesetzte Richtung.« (Jahrhaus, Schmidt 1998: 72)

Auf der anderen Seite jedoch betonen Jahrhaus, Schmidt die Systemgebundenheit aller Aussagen – seien sie nun wissenschaftlich, politisch oder ökonomisch – und setzen somit Systeme als real existierende voraus, womit sich wiederum jede Aussage vor der Wirklichkeit zu bewähren habe und »Verantwortung« trage (ebd. 74). Doch jede Verantwortung sucht auch immer ihren Verantwortlichen und deshalb unternimmt die vorliegende Arbeit den Versuch, das Kommunikationsfeld der Literatur zu erschließen unter bewusstem Einbezug der Autorinnen und Autoren als ein Segment oder eine Trägerschaft des Wissens neben weiteren. Keineswegs soll hierbei einer einseitigen Autorenpoetik im Geiste des Geniekonzepts das Wort geredet werden. Vielmehr liegt der Grund im nicht ausgeräumten Zweifel begraben, dass eine binäre Kodierung für das System der Literatur in Kategorien wie schön/hässlich oder innovativ/alt die Diskussion schnell in die Nähe eines normativen, frühaufklärerischen Denkens führen könnten und besonders die von Luhmann dargelegte selbstreferenzielle Komplexität des Gegenstandes durch die Vorwegnahme von Binärkategorien mindern. Mit der sozialen Diversifizierung von Gesellschaften in Schichten, Professionen, Milieus und ihren jeweils spezifischen Interessensfeldern verändern sich auch Prozesse der Wissensverteilung, die man nach Knoblauch (2010: 291) durch die Aufspaltung von »Allgemeinwissen« und »Sonderwissen« charakterisieren kann. Ersteres bezeichnet »dasjenige Wissen, das zur Bewältigung von Routinesituationen des täglichen Lebens im Prinzip allen Handelnden zur Verfügung steht« (ebd.). Das institutionell komplex anwachsende Aufkommen von Sonderwissen wird dagegen in dem Maße umfassender, wie Gesellschaften historisch wachsen und somit auch den Strukturen der Vermittlung – Kindergärten, Schulen, Lehre und Ausbildung sowie Universitäten – als Verteilerinstitutionen des Wissens eine wichtige Rolle zukommt. Eine umfassende Typologie der Wissensträger

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und ihre begriffliche Ausdifferenzierung nach Intellektuellen, Experten und Professionen liefert Florian Znaniecki49. Im Bereich der Wissens- und Kompetenzforschung greift Michaela Pfadenhauer50 (2014: 243) das von Noam Chomsky definierte Verhältnis von ‚Kompetenz‘ und ‚Performanz‘ auf, nach dem die Kompetenz des Sprechens sich durch die generative Beherrschung der Sprache äußert. Diese auf der Ebene der Performanz sich vollziehende Kompetenz setzt aber nicht voraus, dass die grammatikalischen Regeln des Sprechens explizit gekannt werden müssen. Stattdessen laufe der Spracherwerb über den Weg der Berichtigungen, ohne grammatikalische Begründung. Pfadenhauer (vgl. ebd. 249) kommt anhand eines erweiterten Ansatzes über die Trias von Sprache, Kommunikation und Handeln zum Ergebnis, dass die Entwicklung von Kompetenz als interaktiver Prozess zu begreifen ist, in dem die Koordinierung von Handlungen, Körpern und Dingen eine zentrale Bedeutung einnimmt. Ewald Reuter (2016) 51 untersucht anhand einer gouvernementalitätstheoretisch angelegten Diskursanalyse, wie Konzepte von ‚Change-Management‘ aus der Wirtschaft in Universitäten für kommunikative Veränderungsstrategien übernommen werden. So weist er in einer Korpusanalyse finnischer Wissenschaftszeitschriften nach, wie ‚Narrative der Krise‘ als bewusste Managementmaßnahme von vielen Universitätsleitungen zur Effizienzsteigerung der Mitarbeiter funktionalisiert werden würden. So stehe hinter dem Einsatz »einwandimmuner Leitbegriffe« wie ‚Nachhaltigkeit‘, ‚Kreativität‘ und ‚gesellschaftliche Wirksamkeit‘ eine im Kleide des neoliberalen Hierarchieabbaus daherkommende Leitungsstrategie, die jeglichen Widerstand bereits im illokutionären Akt verstummen lässt. Innerhalb der literaturdidaktischen Fachdiskussionen greift Elisabeth Bracker die dokumentarische Methode Bohnsacks auf, um »Aufschlüsse darüber zu geben,

49 Znaniecki, Florian (1986): The social role of the man of knowledge. New Brunswick [N.J.] U.S.A.: Transaction Books (Social science classics series). 50 Pfadenhauer, Michaela (2003): Professionalität. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion institutionalisierter Kompentenzdarstellungskompetenz. Opladen: Leske + Budrich. Dies. (2014): Was das Subjekt über seine Kompetenz wissen kann. In: Angelika Poferl und Norbert Schröer (Hg.): Wer oder was handelt? Zum Subjektverständnis der hermeneutischen Wissenssoziologie. Wiesbaden: Springer VS (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft), S. 243-256. 51 Reuter, Ewald (2016): Globaler Systemwechsel an Hochschulen. Die kommunikatiove Durchsetzung universitären Organisationswandels am Beispiel einer finnischen Mitarbeiterzeitung. In: Ernest W.B Hess-Lüttich, Carlotta von Maltzan und Kathleen Thorpe (Hg.): Gesellschaften in Bewegung. Frankfurt a.M.: Peter Lang AG, S. 105-127.

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was für sprachliche, inhaltliche und interaktional-soziale (Sinnstiftungs-)Prozesse sich in einem […] schulinszenierten literarischen Erfahrungsraum abspielen«52. Eng an den Begriff der ‚Wissensarbeit‘ ist auch die Frage nach der sozialen Verteilung des Wissens geknüpft. Inwieweit üben Vermittelnde, Institutionen und soziale Denkkonstellationen Einfluss auf die Wissensproduktion und, etwas überspitzt ausgedrückt, die -formung der Wissensempfangenden aus? Hermann Helmers53 hat bereits 1973 auch im literaturdidaktischen Kontext mit der Frage auf das Problem aufmerksam gemacht, wonach nicht nur das methodische Wie der Rezeption in den Fokus der Literaturdidaktik rücken müsse, sondern auch die Frage, unter welchen sozialen Bedingungen Literatur auf welche Weise rezipiert werde. Für den Literaturunterricht identifiziert Helmers (67) hierfür zwei »Groblernziele« des »bürgerlichen Literaturunterrichts« mit dem vorwiegenden Zweck der Vermittlung bürgerlicher Moralkategorien und des »demokratischen Literaturunterrichts« mit dem Ziel der kritischen Rezeption und der Gewinnung eines eigenständigen Standpunktes des Rezipienten. Der aus Helmers Sprache herausklingende Ton erinnert stark an Fragen des Klassengegensatzes, hat aber heute nichts an seiner Relevanz und Aktualität eingebüßt. Insbesondere die gesellschaftliche Umstrukturierung im deutschsprachigen Raum von einer Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die damit einhergehende Frage nach dem neuen Stellenwert von ‚Wissen‘ und ‚Information‘ zeigen, dass vermehrt auch von einer Oberschicht der neuen Wissensklasse gesprochen werden kann, die aus akademisch gebildeten Spitzenbeamten, Professoren und Ingenieuren besteht54. Diese Wissensklasse verfestigt sich nicht nur, sondern verschärft zudem die Kluft zwischen den unterschiedlichen Schichten der Bildungspartizipation insofern, als die Dynamik der Wissensvermittlung und -verteilung noch verstärkt wird. Diejenigen, die bereits die Nutzungsmöglichkeiten ihres Bildungssystems kennen, besitzen auch die Kompetenzen, sich die vorwiegend medialen Möglichkeiten der Wissenserweiterung zunutze zu machen. Ein höherer Bildungsgrad verbessert beispielsweise

52 Bracker, Elisabeth (2015): Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht. Wiesbaden: Springer VS (SpringerLink: Bücher), S.12. 53 Helmers, Hermann (1973): Literaturdidaktik als gesellschaftswissenschaftliche Disziplin. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1, 1/2, S. 52-72. 54 Bell, Daniel (1985): Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt a.M., New York: Campus.

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nicht nur die Lese- und Schreibkompetenz, er erlaubt durch das Vorwissen auch einen verbesserten Zugang zur Wissensexpansion55. Bohnsack (2010: 356) sieht vor allem in der Wissensvermittlung ein vielfältiges Forschungsfeld für zukünftige Arbeiten der Wissenssoziologie, denn mit der Ausweitung des Bildungssystems gehe auch ebenfalls die Spezialisierung von Fachkräften einen beschleunigten Weg. Darüber hinaus erforderten im ökonomischen Bereich vor allem die beschleunigten Produktionszyklen stets anwachsendes neues Wissen. Wenn Menschen im Zuge der Spezialisierung fortwährend in immer spezielleren Erfahrungsräumen leben, wird auch automatisch die Frage nach der Kommunizierbarkeit zwischen verschiedenen Funktionssystemen, ihre Mehrsprachigkeit und Übersetzbarkeit, einen erhöhten Stellenwert in der wissenssoziologischen Forschung erhalten.

3.3 Z USAMMENFASSUNG DER F ORSCHUNGSBERICHTE Aus den Lektüren der soeben genannten Beispiele kann festgehalten werden, dass sich der Fachgegenstand IKLW aus vielen Teil-, Partner- und Hilfswissenschaften der Kulturwissenschaften zusammensetzt und auffallend politisch motivierte Implikationen mitformuliert, nämlich die Ziele der internationalen Völkerverständigung, Dialogförderung und Empathiebildung für das Fremde. Die Rolle des literarischen Textes ist hierbei noch weitestgehend ungeklärt. Es steht jedoch fest, dass seiner medialen Rolle nicht nur eine vermittelnde, sondern teilweise auch pädagogische, ‚humanisierende‘ Kräfte zugesprochen werden. Bislang bewegt sich die Fachdiskussion um das interkulturelle Potenzial von Literaturen im Pendelschwung zwischen immanenter Autonomie und kulturwissenschaftlicher Wirkkraft. Bringt man alle Ansätze auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner, dann wäre für die ‚Kontextualisierung von Literatur‘ oder ‚Interdisziplinarität‘ sowohl methodologisch als auch in Fragen rund um die Fachprofilierung zu plädieren. Es ist hier insofern von ‚Kontextualisierung‘ die Rede, als dass die zitierten Ansätze zur IKLW neue Fachkonvergenzen zwischen der Muttersprachenphilologie und den Nachbarschaftswissenschaften suchen. So erweitert beispielsweise Wierlacher in seiner kultur- und fremdheitsgebundenen Literaturwissenschaft die Komponenten

55 Wirth, Werner (1997): Von der Information zum Wissen. Die Rolle der Rezeption für die Entstehung von Wissensunterschieden; ein Beitrag zur Wissenskluftforschung. Opladen: Westdt. Verl. (Studien zur Kommunikationswissenschaft, 23).

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der Literaturwissenschaft um die Kategorie der ‚Kollaboration‘ mit den Fremdsprachenphilologien anhand eines Prozesses, der sich vom ‚Erkennen‘ in das ‚Verstehen‘ wandelt und dabei zuguterletzt eine ‚selbstreflexive Wirkung‘ über die eigene Standortgebundenheit ausübt. Krusche überlässt es den Leseleitern, inwieweit sie während ihrer Lesestunden die sozialhistorische Kontextualisierung des Werkes miteinfließen lassen wollen, womit sich die Kategorien ‚Wissen‘ und ‚Geschichte‘ zur IKLW gesellen (23). Mecklenburg betont das allgemein menschliche, »universelle« Bedürfnis, sich über Kunst mittzuteilen, betont aber zugleich das »relative«, kulturgebundene Moment aller Verstehensprozesse, womit auf die Kooperation mit den Nachbarschaftsdisziplinen – seien es nun die Komparatistik, die Kunst- oder Sozialwissenschaften – nicht zu verzichten sei (26). Mehr noch stellt Mecklenburg eine proportionale Beziehung her zwischen ‚Wissen‘ und ‚Wert‘ von Literatur in der öffentlichen Wahrnehmung. Leskovec kritisiert die kulturwissenschaftliche Kontextualisierung innerhalb ihres Faches und betont den literarästhetischen Wert, zitiert dabei aber gleichzeitig Konzepte aus der Philosophie mit terminologisch vorformulierten Definitionen zu Steigerungsgraden von ‚Fremdheit‘. Es mag nun der Vorwurf an die Untersuchung erhoben werden, mit den bisherigen Konzepten zu oberflächlich umgegangen zu sein. Ein wahrheitsfähiger Konsens findet sich gleichwohl in der Tendenz, dass Forschende der IKLW ihren Gegenstand nur im Kontext der eigenen Ausbildung und der hinzugezogenen Denkmodelle und Konzepte erkennen. Die Einsicht in die eigene Standortgebundenheit und seinsgebundene Denkweise sollte deshalb Voraussetzung einer jeden fremdkulturellen Forschung sein, die eine Untersuchung kulturspezifischer Werte anstrebt und keine werthafte Untersuchung derselbigen. Man könnte dies auch mit einer Formel ‚IKLW = Literatur + x‘ benennen, wobei die Variable x die fremdkulturwissenschaftliche Fachkomponente oder die Wissenstradition des formulierenden Beobachters darstellt. Mit Verweis auf Fleck und Kuhn zeigt sich dann im wissenssoziologischen Bericht, wie im Vollzug der Bedeutungskonstitution die Tradition als Last des Vorwissens in den Verstehensprozess eingreift. Mit David Bloor gesprochen ist diese Feststellung nicht als Kritik oder gar Polemik zu verstehen, sondern als Eingeständnis, dass Erkennen immer partielles Wissen darstellt. Noch virulenter stellt sich bei Luhmann die Frage nach der Deckungsgleichheit, Differenz oder Relation zwischen den Begriffen ‚System‘ und ‚Gesellschaft‘; schließlich ist die im ersten Begriff schon per definitionem angelegte Charakteristik der Geschlossenheit für

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den zweiten doch eher fragwürdig56. Und genauso problematisch bleibt mit Blick auf Luhmann die Frage: wer spricht eigentlich? Jede Aussage – auch die des »cogito ergo sum« – erfordert ein sprechendes Subjekt. Es wäre eine große Schnittstelle zwischen Luhmann und Mannheim dahingehend zu suchen, dass hinter der Aussage »cogito ergo sum« prägende Denktraditionen stehen, die durch die ‚Konkurrenz im Gebiete des Geistigen‘ (Mannheim) oder durch die ‚Sinnselektion‘ (Luhmann) gleichermaßen das erkennende Subjekt objektivieren, auch wenn Luhmann von einer Sprengung der Subjekt-Objekt-Beziehung spricht, jedoch Mannheim die spezifische fach- ,zeit-, epochen- und gesellschaftsgebundene Relationalität von Subjekt-Objekt-Beziehungen betont. Gemeinsam ist beiden die Absage an eine Form des Erkennens, die zum Erkenntnisakt par excellance hypostasiert wird57. Es ist insofern das Dokument der Literaturproduktion wie jenes der -re-

56 Vgl. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 555: »Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist Gesellschaft. Die Gesellschaft konstituiert die elementaren Einheiten (Kommunikation), aus denen sie besteht, und was immer so konstituiert wird, wird Gesellschaft, wird Moment des Konstitutionsprozesses selbst.« Nun sind aber Systeme gekennzeichnet durch eine Gemeinsamkeit ihrer Elemente »Ein System von Objekten «, so Wiesen (2016), »ist eine nicht leere Menge von Objekten, zwischen deren Elementen Relationen definiert sind oder definiert werden können. Die Gesamtheit der Relationen eines Systems nennt man auch die Struktur des Systems.« Außerdem bildeten die Bestandteile eines jeden System ein »gegliedertes Ganzes«. Vgl. Wiesen, Brigitte (2016): System. Online-Wörterbuch Philosophie: Das Philosophielexikon im Internet (UTB). Online verfügbar unter http://www.philosophie-woerterbuch.de/, zuletzt aktualisiert am 03.10.2016. 57 Zum Vergleich seien a.d.S. jeweils eine Textstelle von Luhmann und Mannheim angeführt, welche die explizite Abgrenzung Luhmanns von der klassischen Wissenssoziologie nochmals problematisieren: »Man kann, will man die Subjekt-Terminologie retten, noch sagen: ein Bewußtsein sei ein Subjekt der Welt, neben dem es andere Subjektarten gibt, vor allem soziale Systeme. Oder: psychische und soziale Systeme seien Subjekte der Welt. Oder: sinnhafte Selbstreferenz sei Subjekt der Welt. Oder: Welt sei ein Sinnkorrelat. In jedem Fall sprengen solche Thesen die klare cartesische Differenz von Subjekt und Objekt.« Luhmann (1984): Soziale Systeme, S. 594f. Vgl. Mannheim: »[J]eder Erkenntnisakt ist nur ein unselbständiger Teil einer existenziellen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, einer existenziellen Bezieung, die jeweils eine anders geartete Gemeinsamkeit und eine stets spezifische Einheit zwischen diesen beiden stiftet.« Mannheim, Karl (1980 [1922-25]b): Strukturen des Denkens. (Unveröffentlichte

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zeption gleichermaßen zu berücksichtigen, denn erst die Ungleichheit der kommunikativen Interaktion erlaubt eine Neuselektion von ‚Semantiken‘. Somit rücken die Ansätze sowohl Luhmanns als auch Mannheims in den Kontext eines antiontologischen, konstruktivistischen Subjektivismus: Alles, was existiert, existiert, indem es beobachtet wird58. In der Diskussion für oder gegen Luhmann oder Mannheim ist eine gewisse Zirkelhaftigkeit der Argumentationslinien auffallend, Probleme und Fragestellungen werden im Luhmann’schen Kontext diskutiert, die schon zuvor bei Mannheim problematisiert wurden. So antwortet Nassehi (2012: 423)59 auf die Luhmann-Kritiker mit dem Argument, entscheidend sei, »unter welchen Bedingungen Individuen als Subjekte angesprochen werden und unter welchen Bedingungen welche Formen von Subjektivität als kommunikativ relevante Zurechnungspunkte entstehen«. Eine historiographische Untersuchung – folgt man der Aussage Nassehis – sollte die in und zwischen Gesellschaften verhandelten Werte, Anschauungen, Ideen, Ideologien und Vorstellungen wertfrei, aber keineswegs werthaft dokumentieren; intersubjektiv stabil mit dem Bewusstsein, dass jeder methodische Zugriff der Partialität des Ganzen unterworfen ist. Der Begriff des ‚Subjekts‘ taucht bei Luhmann stets als Thema von Kommunikation oder Gegenstand seiner Theorie auf und somit rückt ins Zentrum weniger das Subjekt selbst, sondern seine Konstruktion oder genauer gesagt: die Bedingungen für seine Entstehung. Dem ist vorerst nicht zu widersprechen, schließlich treffen sich alle wissenssoziologischen Ansätze in der Grundüberzeugung, dass individuelle Handlungen stets im Kontext der sozialen Lagerung, Klassenzugehörigkeit und kultureller Prägung beurteilt werden. Andererseits lässt sich aber auch nicht wegreden, dass das Soziale gerade im Handeln von Individuen insbesondere in der literarischen Interpretation deutlich wird60. Diese Feststellung sollte nicht vorschnell als tautologisch abgetan werden, Manuskripte). Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 298), S. 206. 58 »Wann immer man denkt oder sagt: es ‚gibt‘ eine Sache, es ‚gibt‘ eine Welt, und damit mehr meint als nur, es gibt etwas, das ist, wie es ist, dann ist ein Beobachter involviert. Für einen Beobachter des Beobachters, für uns also, ist die Frage dann nicht mehr: was gibt es? – sondern: wie konstruiert ein Beobachter, was er konstruiert, um weitere Beobachtungen anschließen zu können.« Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 78. 59 Nassehi, Armin (2012): Theorie ohne Subjekt? In: Jahraus, S. 419-424. 60 Die Vielfalt daran anschließender Interpretationsideen sieht Freudlieb (1992: 26f.) mit dem viel zu vagen Begriff der ‚Textbedeutung‘ begründet. Literarische Interpretationen erfassten ihren Gegenstand nicht nur deskriptiv und analytisch, sondern beurteilten ihn

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schließlich beweist ein Blick auf die interdisziplinäre Rezeption der Systemtheorie, dass das Subjekt des Autors keineswegs relativiert wird, sondern als ‚Soziologie Luhmanns‘ fortdauert. Diese Wechselwirkung von Mensch und Gesellschaft, Text und Kontext oder Eigenständigkeit und Dependenz gilt es, in einer historiographischen Momentaufnahme zu dokumentieren, wofür Mannheims Ansatz der seinsgebundenen Relationalität ein wichtiges Organon liefert.

auch ästhetisch-moralisch. Zum Ausdruck gebraucht würden somit sowohl poetische wie auch soziale Normen in Erwartung einer entsprechenden Zustimmung von der Leserschaft. Dabei würde zugleich, zumindest implizit, eine Subjekttheorie in Anspruch genommen, die sich auf die Vorstellung eines weitgehend autonomen und selbstbestimmten Individuums berufe, »ein Individuum, das sich durch die Auseinandersetzung mit den fiktiven Lebensentwürfen […] und utopisch-kritischen Stellungnahmen literarischer Texte zur Gesellschaft intellektuell, ästhetische und moralisch fortwentwickelt und bereichert.« vgl. Freudlieb, Dietrich (1992): Literarische Interpretation. Angewandte Theorie oder soziale Praxis. In: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ‚Theoriedebatte‘. Stuttgart: Metzler, S. 25-43.

4. Methodik I: Karl Mannheims Wissenssoziologie

4.1 W ISSEN UND L ITERATUR Es soll an dieser Stelle für ein Modell geworben werden, dass additive Aneinanderreihungen historischer Kommentare nicht als bloßen Eklektizismus abtut, sondern gerade darin ihre Stärke sieht. Denn dreht man die Richtung der Interpretation von der allgemeinen Definition zum Gegenstand um, ergibt sich der induktive Weg, der dem individuellen Kunstschaffen der Autorinnen und Autoren gerecht wird, aber auch die Stimmen der Öffentlichkeit, der Rezeption und die der kollektiven Weltanschauung gleichermaßen zu berücksichtigen hat. Für nichts Anderes hat der Begründer der Wissenssoziologe, Karl Mannheim (1893-1947) plädiert, als er ‚Wahrheit‘ als ontische Größe nicht verneinen wollte, sondern nur den Glauben, dass ‚Wahrheit‘ überhistorisch unveränderlich sei: »Mit dem Zusammenprall von Denkstilen, deren jeder die gleiche repräsentative Gültigkeit beansprucht, wird zum ersten Mal, dass die Frage auftaucht, die in der Geschichte des Denkens ebenso verhängnisvoll wie fundamental ist, wie es nämlich möglich ist, dass identische menschliche Denkprozesse, die sich mit der gleichen Welt befassen, verschiedene Vorstellungen von dieser Welt produzieren. Und von hier aus ist es nur ein Schritt zu der weiteren Frage, ob es nicht möglich sei, dass die hierin involvierten Denkprozesse keineswegs identisch sind. Muss man nicht, wenn man alle Möglichkeiten menschlichen Denkens untersucht hat, daraus schließen, dass es zahlreiche mögliche Wege gibt, denen man folgen kann.« (Mannheim 1995 [1929]: 9)

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Somit wäre es auch nicht mehr problematisch, die innerästhetische Welt des literarischen Textes anzuerkennen und diese gleichzeitig mit literatursoziologischen Fragestellungen in Verbindung zu bringen. Beide Ansätze stünden nicht im Widerspruch zueinander, sondern würden einander vielmehr bedingen, denn die literarästhetische Gestaltung speist sich entscheidend aus den individuellen Lebenserfahrungen der Autorinnen und Autoren. Sie entstammen nicht einfach einem bedeutungsleeren Vakuum, sondern nehmen Bezug auf die Wirklichkeit, beziehen Stellung zu kontrovers geführten Diskursen und bestätigen oder unterlaufen ihre kulturperspektivisch bedingten Kategorisierungen. Andererseits ist es nur schwer vorstellbar, dass eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller in Gänze aus dem eigenen Horizont, seiner Wissens- und Gefühlsprägung ausbrechen kann. Die historischen Kulturkonstruktionen dessen, was wir ‚Eigen‘ oder ‚Fremd‘ nennen möchten, sowie ihre Repräsentationsformen, sind in ihrer Wirkmächtigkeit auf das literarische Schaffen vielmehr von großer Bedeutung. An Mannheims Zitat schließt i.d.Z. ein Kommentar von Manfred Durzak1 sehr passend an: »Literatur, wenn sie nicht dem Ideal einer absoluten Kunst nacheifert […], ist immer eingebunden in gesellschaftliche und historische Prozesse. Sie bezieht – vor allem mit Blick auf die Gattung Roman oder Drama – ihre Stoffe und Themen aus der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Sie ist geprägt von der kulturellen Sozialisation des Autors, von seinen geistigen Auseinandersetzungen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Selbstverständlich sehen wir zu Recht unter diesem Aspekt Differenzen zwischen Autoren, die in der Schweiz, Österreich oder in der Bundesrepublik leben und jeweils spezifischen Erfahrungen ausgesetzt sind. Es wäre müßig, diese Erfahrungen zu leugnen.«

Der Literatur schaffende Blick ist demnach erstens standort- und vor allem perspektivengebunden. Zweitens wirken gesellschaftliche Denkprozesse ebenso in die Motivik des Schreibens hinein, wie es umgekehrt die Literatur vermag, Wissensformationen über Kultur zu formen und zu verändern. Claus-Michael Ort (2011: 169)2 definiert die Semantik des durch Literatur erzeugten Wissens unter Hinzufügung der Kategorie ‚Zeit‘ als

1

Durzak, Manfred; Kuruyazıcı, Nilüfer; Ayata, Canan Şenöz (Hg.) (2004): Die andere Deutsche Literatur. Würzburg, Germany: Königshausen & Neumann, S. 27.

2

Ort, Claus-Michael (2011): Das Wissen der Literatur. Probleme einer Wissenssoziologie literarischer Semantik. In: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin: De Gruyter.

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»[…] diejenige Teilmenge eines […] immer auch literaturexternen archivierten ThemenVorra[t], die sich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als intersubjektiv ‚wissensfähig‘ erweist, d.h. Inhalte vermittelt, die in einem je gegebenen Kommunikations- und Handlungszusammenhang als wahrheitsfähig gelten können und als solche mit je begründbaren Wissensansprüchen anschlussfähig kommuniziert werden.«

In seinem Einführungsband Literatur und Wissen (2008: 12f.) definiert Ralf Klausnitzer3 Wissen als »[…] Gesamtheit von begründeten (bzw. begründbaren) Kenntnissen«, die innerhalb kultureller Systeme durch Beobachtung und Mitteilung, also »durch Erfahrung und Lernprozesse« erworben sowie weitergegeben werden und einen reproduzierbaren Bestand von »Denk-, Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen.« Wissen sei ferner »die dynamische Gesamtheit aller jener Vorgänge und Resultate, in denen sich regelgeleitete Umgangsweisen mit begründeten Erkenntnissen auf Grundlage symbolischer Ordnungen und Technologien formieren und vollziehen, in Wirkung treten und verändern.«4 Unter diesen Definitionen wird ‚Wissen‘ also nicht als statische, unveränderbare Ansammlung von Tatsachen angesehen, sondern als Ideenreservoir, aus dem in Abhängigkeit von strukturellen Wandlungsprozessen unterschiedliche, wahrheitsfähige Perspektiven aktiviert werden. Im Ausgang dieses Exkurses zur aktuellen Wissenssforschung soll nun Karl Mannheims Werkgeschichte mit Fokus auf die 1921 bis 22 veröffentlichten Beiträge zur Theorie einer Weltanschauungs-Interpretation vorgestellt werden. Hierbei soll der Frage nachgegangen werden, wie anschlussfähig und aktuell Mannheims Arbeiten zur Wissenssoziologie sind.

3

Klausnitzer, Ralf (2008): Literatur und Wissen. Zugänge, Modelle, Analysen. Berlin: W. De Gruyter (De-Gruyter-Studienbuch).

4

Ausführlicher zur Typologie des Wissens vgl. Weber, Tilo (Hg.) (2009): Typen von Wissen. Begriffliche Unterscheidung und Ausprägungen in der Praxis des Wissenstransfers. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, NY, Oxford, Wien: Lang (Transferwissenschaften, Bd. 7).

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4.2 L EHRJAHRE

IN

B UDAPEST

UND

H EIDELBERG

»Der ungarische Krug ist zerbrochen und seine hundert Scherben sind in hundert Richtungen versprengt« (Mannheim 1985 [1921]: 73)5. Einer fand sich nach der großen Diaspora der ungarischen Intelligenz in Deutschland wieder, nachdem das nationalstaatliche Experiment einer Budapester Räterepublik rasch gescheitert war. Heidelberg entdeckt Karl Mannheim als Außenseiter, als ein »vorausgeschickter Wachposten« (ebd.), der durch die geöffneten Fenster die Gebärden und Stimmen zu entschlüsseln sucht. Dabei wird Anpassung eine täglichen Übung und bleibt es sein Leben lang im Privaten wie auch beruflich: Gegen Mannheims Habilitation wurde innerhalb der Heidelberger Philosophischen Fakultät stark opponiert und sein späterer Ruf an die Universität Frankfurt wurde vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gegen den Widerstand der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät durchgesetzt (Kettler 2007: 1496): »Wenn Menschen zusammenkommen, bin ich dort, wenn sie lernen, lerne ich mit ihnen, und ich wünschte mir auch, mit ihnen zusammenzuleben, mich niederzulassen – und dennoch finde ich meinen Platz nicht« (Mannheim 1985 [1921]: 73). Sehnsucht überwältigt den Autoren, wenn er sich nicht nur nach dem Schicksal der anderen Splitter des einst ganzheitlichen, einheitlichen Körpers erkundigt, sondern auch wünscht, mit den ungarischen Augen des Gefährten die unterschiedlichsten Ecken der Welt zu sehen. Doch dann weicht Mannheim einen Schritt zurück und konzediert das eigene Unvermögen, Deutschland mit einem Blick, einer Feder in nur einer Momentaufnahme zu erkennen. Es liegt nicht in der Macht des Schreibenden, Welten zu benennen und zu ordnen. Aus einer Selbstverständlichkeit unterstellten wir einem Tristan oder Don Juan die Fähigkeit oder besser gesagt den Drang zur Herumliebelei, ohne dabei zu fragen, »wie sie sich selbst beschrieben hätten« (74). So wie es bisher das Schicksal vieler Frauen gewesen sei, aus dem Blick ihrer männlichen Gelehrten erklärt zu werden, so blickten heute alle durch die Brille der Gelehrten auf die Welt. Nur nach mehrmaligem Hinweisen der Gelehrten nehmen Formen auf einmal Gestalt an und aus der Erkenntnis bleibt ein Schattenriss vorangegangener Denktraditionen, ein Aspekt der Struktur. Im Europa der Jahrhundertwende war Budapest gewiss nicht das Zentrum des kulturellen Aufbruchs, aber ihre Lage an der Peripherie Westeuropas gestattete das Experimentieren mit alternativen Lebensentwürfen und bot einer blühenden

5

Mannheim, Karl (1985 [1921]): Heidelberger Briefe. In: Éva Karádi (Hg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Frankfurt a. M.: Sendler, S. 73-91.

6

Kettler, David (2007): Das Geheimnis des bemerkenswerten Aufstiegs Karl Mannheims. In: Balla (Hg.): Karl Mannheim. S. 149-167.

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außeruniversitären Forschungsbewegung u.a. auf den Gebieten der Kunst- und Kultursoziologie Raum. Namentlich vertreten wurde diese Bewegung durch Béla Balázs (1884-1949) in der Dichtung, Béla Bartók (1881-1945) und Zoltán Kodály (1882-1967), welche die musikalische Moderne umsetzten und durch Oszkár Jászi (1875-1957), der als Herausgeber der berühmten Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert, eine historische Momentaufnahme des kulturellen Aufbruchs im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert umsetzte. Als Metropole war Budapest den kulturellen Leuchtfeuern der Jahrhundertwende wie Paris, Wien oder Berlin in der Leuchtkraft dennoch nicht ebenbürtig und nach dem Fall der Habsburger Monarchie endeten die politischen Erneuerungsbestrebungen 1918 in einem kurzen politischen Intermezzo der ungarischen Räterepublik innerhalb von zwei Jahren. Die Bestrebungen von Umbruch und Erneuerung waren Gegenstand zahlreicher Diskussionszirkel im intellektuellen Untergrund Budapests, den »Intellektuellen-Kreisen« (Jung 2007: 28)7, von denen zwei auf Mannheims kultursoziologische Denkansätze nachhaltigen Einfluss nahmen. Der Galilei-Kreis um den Soziologen Károly Polány (1886-1964) brachte Mannheim mit dem Reformpolitiker und Wissenschaftler Oszkár Jászi zusammen. Gemeinsam debattierte der Kreis nicht nur die theoretischen Inhalte von Konzepten wie die der Weltanschauungen, sondern auch ihre Realisierung, ihre politische Durchsetzbarkeit und gesellschaftsformende Wirkkraft. Das reformliberale Politikverständnis Mannheims nimmt in Budapest mit dem Kontakt zu Jászi seinen Anfang (ebd. 29), doch die Mitgliedschaft im Galilei-Kreis ist nur von kurzer Dauer, denn die politische Reform Ungarns steht bei Mannheim hinter den kulturphilosophischen Fragen, die nach den Bedeutungen und Beziehungen von Begriffen wie ‚Fortschritt‘, ‚Entwicklung‘ und ‚Erneuerung‘ von Gesellschaften suchten. Der Sonntagskreis bildete eine weitere Gruppierung um Georg Lukács (18851971) und seinen geistigen Verbündeten, darunter dem Dichter Béla Balázs. Ab Herbst 1915 kam der Kreis jeden Sonntag zusammen, meist von fünf Uhr nachmittags bis fünf Uhr früh (Karádi 1985: 8)8. Die Leitthemen dieser Zeit, die Kulturkrise und der Skeptizismus gegenüber lange als wahrhaftig geglaubten historischen Erklärungsmustern, fanden Eingang in die Diskussion um Kulturobjekte der

7

Jung, Thomas (2007): Die Seinsgebundenheit des Denkens. Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie. Bielefeld: Transcript. Gábor, Éva (1997): Karl Mannheim. Zweifacher Emigrant im Spiegel seiner eigenen Philosophie und Soziologie. In: Társadalom és gazdaság Közép- és Kelet-Európában / Society and Economy in Central and Eastern Europe 19, 1, S. 124-146.

8

Karádi, Éva (Hg.) (1985): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Frankfurt a.M.: Sendler.

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Kunst, Philosophie und Literatur. Der Sonntagskreis korrelierte inhaltlich mit einer Vielzahl intellektueller Bewegungen in Budapest, welche sich als »Freie Schule der Geisteswissenschaften« (ebd.11) neu formierten, einer Gegen-Universität, in der das Unbehagen gegenüber dem naturwissenschaftlichen »Methodenimperialismus« (12) zum Ausdruck kam. Die Schule folgte der Überzeugung, dass der methodischen Vielfalt universitären Denkens als adäquates Abbild von Kultursphären keine Schranken gesetzt werden dürfe. Das Erlebnis, ein Teil dieses Kreises zu sein, muss für Mannheim eine sowohl emotionale als auch kognitive Offenbarung gewesen sein, denn unter dem Titel Seele und Kultur (1917)9 legte er eine Schrift in Anlehnung an Georg Simmels Kulturkonzept vor, die wegweisend für seine spätere und für diese Forschungsarbeit wichtige Methode der Weltanschauungs-Lehre ist: »Sehr verehrte Hörer! […] Es ist meine Überzeugung, dass nur eine in ihrem Lebensgefühl verwandte Generation in der Lage ist, die objektivierte Kultur in einem einheitlichen Querschnitt darzustellen. Ich möchte daher nicht verschweigen, dass der Kern dieser Schule aus Menschen besteht, die in ihrer gemeinsamen Entwicklung aufeinander angewiesen sind. Die persönlichen und Weltanschauungsunterschiede, die unter uns bestehen, erleben wir vor allem in Beziehung zu einem gemeinsamen Zentrum, und obwohl wir uns in verschiedenen Disziplinen bewegen, sollten unsere vorjährigen Vorlesungen sowohl uns als auch unsere Hörer davon überzeugt haben, dass innerhalb der Vielfalt unserer Themenkreise ein einheitlicher Forschungs- und Gestaltungswille besteht. Kurz gesagt, wir betrachten es als unsere Aufgabe, diese Schule auf Grund einer subjektiv verwandten Kultur zu einem einheitlichen Ausdruck der objektiven Kultur zu gestalten […].« (Mannheim 1964 [1917]: 67)

Die Schlüsselworte sind das »In-Beziehung-setzen« unterschiedlicher Perspektiven zu einem »gemeinsamen Zentrum«, die aber in ihrer Vielfalt und Zusammensetzung keineswegs als arbiträr oder referenzlos zu verstehen sind, sondern durch die »Verwandtschaft der Generationen« und der zu untersuchenden Kulturobjektivation in ihrer Artverwandtschaft als eine sich gegenseitig bedingende Konstellation vielfältiger Elemente. Hieraus ist nun eine kultursoziologische Position herauszulesen, welche im gemeinsamen Erlebniszusammenhang eine tiefergehende Systematisierung entdeckt, eine Logik von »Weltanschauungen«, die Mannheim in seiner Arbeit Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis (1980: 101)10 als »eine strukturell 9

Mannheim, Karl (1964 [1917]): Seele und Kultur. In: Ders.: Wissenssoziologie. S. 6684.

10 Mannheim, Karl (1980 [1922-25]): Strukturen des Denkens. (Unveröffentlichte Manuskripte). Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 298).

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verbundene Reihe« definiert, »die zugleich für eine Vielheit von Individuen die gemeinsame Basis ihrer Lebenserfahrung und Lebensdurchdringung bildet.« Sowohl Standortgebundenheit als auch Teilhaftigkeit einer gemeinsamen Epoche bedingen die Wissensbestimmung als eine Partialität des Ganzen oder – um bei Mannheims Bild zu bleiben – als Splitter eines zerbrochenen Kruges. Ideen konkurrieren, um Tendenzen für die Zukunft vorzugeben, sie greifen aber nicht zum Maßstab eines historischen Denkens in Kategorien wie ‚Fortschritt‘ oder ‚Wertung‘, welche die sukzessive Überlappung der Sphären von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ befördern. Im Fokus von Mannheim steht vielmehr die Momentaufnahme divergierender Denkstile, zusammengehalten durch die Varianten von Gruppe, Ort und Zeit. Als »vorgeschickter Wachposten« entdeckt Mannheim 1921 nach der erzwungenen Emigration aus Ungarn die deutsche Universitätsstadt Heidelberg als eine Stadt der »Herbste und Frühlinge«: »Heidelbergs geistiges Leben lässt sich an seinen zwei polaren Gegensätzen messen: Der eine Pol sind die Soziologen, der andere die Georgeaner; der idealtypische Vertreter der einen ist der schon gestorbene Max Weber, der der anderen der Dichter Stefan George. Auf der einen Seite die Universität, auf der anderen die ungebundenere außeruniversitäre Literatenwelt, die eine liegt auf der Linie der protestantischen Kulturtradition, die andere orientiert sich am Katholizismus. Diese Gegenüberstellungen decken sich nicht restlos, es sind nur starre Schemata. […] Und dennoch ist diese Gegenüberstellung berechtigt, denn hier haben sich langsam diese zwei Weltanschauungen und die allgemeineren Grundsätze herausgebildet, wie Katholizismus, universitäre und Literatenkultur, die ihre lokale Färbung aus ihren Kontakten mit diesen beiden Polen gewinnen.« (Mannheim 1985 [1921]: 84)

Bei dieser Beschreibung beruht die Erfahrung auf sinnlichen Eindrücken; analytischen Charakter erhalten sie, da die dichotomisch angeordneten Eindrücke von »katholisch« und »protestantisch« eine Anordnung von Kulturgebilden repräsentieren, hinter denen durch Zeit und Ort strukturierte Erlebniszusammenhänge ineinanderlaufen und die Kohärenz zweier Weltanschauungen erfahrbar machen. Es ist wohl genau an dieser Stelle ein erster Hinweis auf die Konzeption einer Wissenssoziologie Mannheim’scher Prägung zu sehen, dass zunächst vortheoretische Erlebniszusammenhänge durchdrungen werden durch eine relationale Bezüge, so wie in diesem Zitat die Stadt Heidelberg zum Knotenpunkt für religiöse Lebensgefühle wird.

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4.3 D AS P ROBLEM

DER

R ELATIONALITÄT

Sowohl Mannheims Briefe als auch das Grußwort aus Seele und Kultur gehen den Fragen nach den wissenssoziologischen Erkenntnismöglichkeiten nach und eröffnen im Ausgang ihrer methodologischen Fragen auch Perspektiven für die IKLW. Die Größen von ‚Zeit‘, ‚Gruppe‘, ‚Generation‘ und ‚Ort‘ bedingen die Wahrnehmungsmöglichkeit des Kulturwissenschaftlers ebenso wie auch die Gewissheit, dass alle Beobachter ungeachtet verschiedenster Interessen und auseinanderfallender Blickwinkel auf die ‚Fremde‘ Teil der ganzen Aspektstruktur sind. Nehmen wir das literarische Werk als ein ‚Objekt‘ kultureller Produktionsprozesse wahr, sollte auch seinem ‚Schöpfer‘ und seiner Beziehung zum literarischen Werk eine entsprechende Würdigung zuteil werden. Mannheims Vortrag Seele und Kultur liest sich somit auch als Plädoyer für eine rational begründbare Vorgehensweise kulturwissenschaftlichen Arbeitens, nach dem die relationale Begriffsverschränkung objektiver und subjektiver Kultur sogar zur allumfassenden »Kulturerneuerung« (84) führen könnte. Die Lektüre des Vortrags zeigt außerdem, dass wissenssoziologische Methodik nicht nur einen systematischen, sondern auch historischen Anspruch auf ihre Analysefähigkeit erhebt und dass das Verhältnispaar ‚Schöpfer-Werk‘ sich im Erlebnisstrom stets neu konstituiert durch sich neu ordnende Erlebnis- und Wissenszusammenhänge, also wie bereits im Zitat von Claus-Michael Ort dargestellt wurde, das wahrheitsfähiges Wissen zu historisieren sei. Theorien und Denkweisen sind als gesellschaftshistorisch »seinsgebunden« zu betrachten: »Der Erkenntnisprozess ist keineswegs von rein logischen Möglichkeiten geleitet, sondern von außertheoretischen Faktoren, die hineinragen und entscheidend mitbestimmen. Hinter dem Denken und Wissen steht auch der Willenszusammenhang der Gruppe.« (Mannheim 1995 [1929]): 231) Beim Wort »Willenszusammenhang« werden schnell Assoziationen zu einer Enthüllungsmethode politisch motivierter Verschleierung gemacht, doch hier zieht Mannheim eine scharfe Trennlinie: Die Ideologienlehre mache es sich zur Aufgabe, die mehr oder weniger bewussten Lügen und Verhüllungen der menschlichen Parteiungen, zu entlarven. Die Wissenssoziologie jedoch beobachte jene Fälle, bei denen sich das gesellschaftliche Gefüge »mit allen seinen Phänomenen offenbar notwendigerweise an verschiedenen Punkten […] verschieden gibt«

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(ebd. 228). Nicht die Frage nach der Richtigkeit von Aussagen, sondern die verschieden gelagerten Perspektiven im historisch-sozialen Raum stünden im Fokus der wissenssoziologischen Untersuchung11. Bereits in seiner 1918 geschriebenen und 1922 veröffentlichten Dissertation Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie12 wird das Problem der Perspektivierung jedes Verstehens unter erkenntnistheoretischen Aspekten diskutiert. Diese Arbeit Mannheims ist deshalb von so hoher Relevanz, da sie den Möglichkeiten objektiven Erkennens nachgeht, denn sie unternimmt als Metadiskurs nichts Geringeres als den Versuch, hinter jeder als wahr deklarierten Erkenntnis aus einer Struktur alternative Wahrheiten durch alternative Wege darzustellen. Der Anspruch auf voraussetzungsloses Erkennen eines quasi autonomen Geistes ist aufgrund der Subjekt-Objekt-Beziehung nicht mehr haltbar, denn der Zusammenhang zwischen beiden werde nach Mannheim nur durch die begriffliche Unterstützung verschiedener Hilfswissenschaften gewährleistet: »Wenn die Physik z.B. behauptet, a sei Ursache von b, so lässt die transzendentale Fragestellung diese Reduktion des a auf b unberührt, weist jedoch darauf hin, dass dieser Satz stillschweigend außer jener Reduktion noch etwas voraussetzt, falls er gültig sein will, nämlich: die Gültigkeit des Kausalprinzips, die er enthält.« (Mannheim 1922: 44) Die Erkenntnistheorie leiht sich ihre Subjekt-Objekt-Beziehung aus der Logik, Psychologie oder Ontologie (vgl. ebd. 46), wobei Mannheim an dieser Stelle eine Trennung einführt zwischen dem Objekt, auf das jede Wissenschaft gerichtet ist und dem Prinzip, durch welche eine Erkenntnis zustande kommen kann, dem Subjekt. Nun wird aber der für alle Erkenntnistheorien charakteristische Anspruch einer »desubjektivierenden« (ebd.) Analyse abgelehnt, da sie – wie im o.g. Beispiel der Physik verdeutlicht – die Erreichbarkeit und Realisierung von Erkenntnis innerhalb ihrer eigenen Systematisierung zu erreichen suche, aber vom Begriffsappart seiner Nachbarschaftsdisziplinen abhängig sei. Das inhaltliche Element könne somit für die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt nicht aus sich selbst 11 Vgl. auch Meja, Volker; Stehr, Nico (1982): Zum Streit um die Wissenssoziologie. In: Ders. (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 361,1), S. 11-26.: »Die Wissenssoziologie betont somit weniger die Verhüllungsabsicht von Aussagen, sondern die ‚unvermeindlich‘ verschieden geartete Bewusstseinsstruktur der verschieden gelagerten Subjekttypen im historischen-sozialen Raum. [W]ann und wo ragen historisch-soziale Strukturen in die Art des Denkens hinein und in welchem Sinne können sie diese in concreto bestimmen. Der Begriff des ‚falschen Bewusstseins‘, der in der Ideologienlehre so häufig gebraucht wird, wird daher in der Wissenssoziologie bewusst vermieden.« (Herv.i.Orig.) 12 Mannheim, Karl (1922): Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie. Berlin: Reuther & Reichard (Kantstudien/Ergänzungshefte, 57).

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geleistet werden, da nämlich das Subjekt aller Erkenntnis nicht unmittelbar erkennbar sei. Nun haben alle drei Hilfswissenschaften ihre eigenen Wahrheitskriterien, durch welche Erkenntnis erzeugt wird: Der Primat in der Psychologie sei alles, was in Form von Erlebnissen auftrete (49). Dem widerspricht nun der logische Primat, denn »[n]icht alles, was wir im Moment des Erlebens wissen, ist gleichfalls mit der Unmittelbarkeit des Erlebens gegeben. Auch die Psychologie müsse alle wissenschaftlichen Gegebenheiten mit logischen Mitteln herausarbeiten, damit eine Erkenntnis entstehe« (ebd.). Der ontologische Primat wiederum geht davon aus, dass alles, was vorkommen kann, zu einem »im weitesten Sinne gefassten Sein« gehört. Selbst das erkennende Subjekt gehöre zum Gebilde des Seins. Die Subjekte sind somit als »Produkte möglicher Konstruktionsleistungen« (Laube 2004: 393)13 zu verstehen und werden von den Objektivationen abgebildet. So findet sich bei Mannheim (1922: 57) folgende Formulierung: »Das Subjekt als solches ist niemals ‚erkennbar‘, weil es keine (theoretisch) objektivierbare Einheit ist, ‚Träger eines jeden Erlebnisses‘, jedoch kein Element zwischen den gegebenen Elementen«. Für welchen Weg man sich auch immer entscheiden mag, feststehe, dass die Subjektbegriffe der verschiedenen Disziplinen über die jeweiligen Objektbereiche der Wissenschaften rekonstruiert würden. Der fatale Zirkelschluss ereigne sich dann aber mit dem Zugeständnis, dass die Erzeugung von Bedeutung sich aus einem Subjekt vollzieht, das selbst die Bedeutung von etwas ist. Wie schon in Seele und Kultur finden wir in der Promotionsarbeit von Mannheim die Auffassung vertreten, dass Bedeutung sich über die Objektivation des Subjekts vollzieht. Laube (2004: 389ff.)14 sieht in Mannheims Dissertation einen entscheidenden Schritt auf »dem Weg von der philosophischen zur wissenssoziologischen Beobachtung« aufgrund der zunehmenden und verschärften Historisierungserfahrung als eine »symptomatische Spannung« zur Verallgemeinerung des Systematisierungsbegriffs. Auf der einen Seite sähe Mannheim einen Weg zur Lehre von der Absolutheit der Wahrheit, die sich vor allem mit der Aufforderung kundtut, dass »das Problem der Kontingenz noch einmal dem heutigen Stande des Denkens gemäß« (Mannheim 1922: 37) gestellt werden müsse. Auf der anderen Seite, so

13 Laube, Reinhard (2004): Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus. Univ-Diss.-Göttingen, 2002. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 196). 14 Mannheim, Karl (1982 [1928]): Die Bedeutung der Konkurrez im Gebiete des Geistigen. In: Meja (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie, S. 325-370.

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Laube, umgebe uns ein stets sich erweiternder Horizont von geschichtlichen Erkenntnissen und die Fähigkeit, sich in ein historisches Gebilde hineinzuversetzen. Darüber hinaus greifen die wissenschaftsreflexiven Beschreibungen zur SubjektObjekt-Beziehung auf die noch zu erläuternde Bedeutung und Beziehung dessen voraus, was in der Kultursoziologie als konjunktives und kommunikatives Denken bezeichnet wird. Dieses Denkgebäude einer »oszillierenden Argumentation zwischen problematisierender Historisierung und entproblematisierender Enthistorisierung« (Laube 2004: 391) wird Mannheim spätestens 1928 in Zürich auf dem Sechsten Deutschen Soziologentag auf alle Gesellschaftswissenschaften übertragen. Die Konkurrenz im Gebiete des Geistigen15 sei somit ein mitkonstituierender Teil der Weltauslegung und die Soziologie solle es sich zur vornehmsten Aufgabe machen, die Bedeutung des sozialen Körpers für das Geistige in das Blickfeld zu rücken. Verknüpft man beide Sphären, entsteht der Begriff des »seinsverbundenen Denkens« (330), zu dem Mannheim das historische, politische sowie alles Denken in den Geistes- und Sozialwissenschaften als auch das des Alltags zählt. Dieses Denken charakterisiert Mannheim ex negativo durch Heranziehung der Naturwissenschaften: Während beim seinsverbundenen Denken das Subjekt in das Denkergebnis konstitutiv hineinrage, würden die Ergebnisse der exakten Naturwissenschaften von einem »Bewusstsein überhaupt« (331) abgeleitet. Was bedeutet das genau? Dem Denkergebnis ‚2 + 2 = 4‘ sehe man es explizit nicht an, wer der Urheber der Idee sei. Dem seinsverbundenen Wissen aber könne man nicht nur im Inhalt, sondern auch der Form nach anmerken, dass die »gesellschaftlich-historische Welt vom Standpunkt der historischen Schule […] aus gesehen wurde« (331). Mannheim führt fort, dass nur die aus der Methodologie der Naturwissenschaften kommende Skepsis gegenüber einer wertelosen Beliebigkeit seinsverbundenen Denkens es vermöge, den Vorwurf des relativistischen Soziologismus zu erheben. Nur müsse man nach Mannheim alle Erkenntnis aus seiner innersten Eigenart heraus zu verstehen versuchen. Es bestehe ein großer Unterschied darin, ob das forschende Subjekt nur einen Aspekt perspektivisch betrachte oder diesem eine willkürlich zusammenkonstruierte Erkenntnis entlocke. Vielmehr wird hier die These vertreten, »dass nur bestimmten, historisch-sozialen Bewusstseinsstrukturen bestimmte qualitative Eigenheiten am historisch lebendigen Objekt sich eröffnen« (331). Sowohl beim historischen als auch seinsverbundenen Denken handele es sich um einen Wettbewerb verschiedener Parteien mit demselben Ziel, wobei die Konkurrenz auch schnell graduell vom Konflikt zum Kampf umschlagen können wie auch umgekehrt, in ein Miteinander. Mannheim belässt dieses Modell nun

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nicht auf dem Feld der gesellschaftspolitischen Praxis, sondern überträgt es auf die Arbeitspraxis der Geisteswissenschaften: »In dieser Beziehung bildet auch die Soziologie, bilden auch die Geisteswissenschaften keine Ausnahmen, sie sind mit modernen wissenschaftlichen Mitteln ausgebaute Fortsetzungen des alten Kampfes um die Beherrschung der öffentlichen Auslegung des Seins. Es bleibe dahingestellt, ob die früheren Weltauslegungsarten purer Glaube und Aberglaube waren und unsere Weltanschauung allein die wissenschaftliche und richtige ist, – auch wenn man das unbedingt bejaht, muss man zugeben, dass die Strukturformen des Aufkommens wissenschaftlicher Auslegungen und die Expansion von derselben Art sind, wie das Aufkommen und Expansion älterer Weltauslegungsversuche.« (334)

4.4 Z UR E NTSTEHUNG EINER S OZIOLOGIE

DES

W ISSENS

Diese geschichtsphilosophische Betrachtung auf ein »unruhige[s] wellen-mäßige[s] Nacheinander der sich ablösenden geistigen Strömungen« (1964 [1925]: 310)16 weltanschaulicher »Konstellationen« (ebd. 308) wirft nun die Frage auf, welche die für Mannheim grundlegenden Faktoren sind, warum sich gerade in der Weimarer Zeit das Problem einer Soziologie des Denkens neu formiert. Der für Mannheim entscheidendste Prozess ist die »Selbsttranszendierung und Selbstrelativierung des Denkens« (311), obgleich mit dem zweiten Begriff nicht der erkenntnistheoretische Relativismus gemeint sei, sondern »nur das Gegenteil von Autonomie« (ebd.). Keineswegs werde der Wahrheitsgehalt oder der Wert des Wahren per se in Frage gestellt, wenn man darauf hinweise, dass das Denken seinsabhängig und nicht autonom gedacht werden kann. »Uns ist ein Relativismus, der sich die Sache schwer macht, indem er alle jene Momente, die für die Partialität, Seinsgebundenheit einer jeweils gebundenen Aussage sprechen, herausarbeitet, lieber, als jener Absolutismus, der prinzipiell zwar die Absolutheit des eigenen Standortes oder der Wahrheit an sich verkündet, de facto aber zumindest genauso partial ist wie irgendeiner seiner Gegner, und was noch schlimmer ist, in seiner Theorie des Erkennens mit den Problemen der Zeit- und Seinsgebundenheit des konkret vorliegenden Denkens nichts anzufangen weiß, und nicht sieht, wie in die Struktur und Bewegungsformen des Wissens diese Seinsgebundenheit hineinragt.« (311)

16 Mannheim, Karl (1964 [1925]): Das Problem einer Soziologie des Wissens. In: Ders.: Wissenssoziologie. S. 308-372.

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Die Transzendierung einer Immanenz des Denkens findet dann statt, wenn das denkende Subjekt erkennt – hierin liegt die ambivalente Relationierung von Sein und Ganzem, der Abhängigkeit des autonomen Verstehens eines übergeordneten Systems –, dass sein Denken im Gefüge der Weltganzheit als eine Partialerscheinung nicht begrifflich determinierten, sondern ausdrücklichen Charakters ist. Diese für einige philosophische Schulen womöglich schwer zu akzeptierende Einsicht sei für die wissenschaftlichen Disziplinen der Künste und Religion eine Selbstverständlichkeit, denn die Abhängigkeit ihrer Gegenstände von Faktoren wie jene des sozialen Lebens würden ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen (vgl. 312). Nun hätte aber eine Soziologie des Wissens bereits viel früher einsetzen können. Schließlich ist der Faktor der Selbstrelativierung keine Erfindung der historischen Moderne. Das Besondere an der aus Mannheims Sicht gegenwärtigen Situation besteht jedoch genau darin, »dass zum Auftauchen eines Problems das Vorhandensein nicht nur eines Faktors nötig ist, sondern die Totalität einer ganzen Konstellation geistiger und lebendiger Potenzen vorhanden sein muss« (314). Bewusst hat sich Mannheim für den Begriff der ‚Konstellation‘ entschieden und begründet dies (308) mit der Vorstellung aus der Astrologie, nach der jeder Stand und jedes gegenseitige Verhältnis der Sterne in dem Glauben oder der Überzeugung gedeutet würden, dass sie das Schicksal der Menschen bestimmten. Auch in diesem Fall ist das Verstehen in einem Netz vieler Konstellationen verwoben. Wichtig hierbei ist nun, dass Astrologie als unglaubwürdig und unwissenschaftlich in Vergessenheit versank, der Begriff der ‚Konstellation‘ jedoch abgehoben wurde und nun in einem »neuen Weltzusammenhang« zur Erfassung von Erfahrungsräumen gebraucht wird. Beispiele wie diese finden sich in allen anderen Sektoren des Verstehens, seien sie nun vortheoretischer oder theoretischer Natur, insbesondere im Falle der Geschichtsphilosophie.17 Als ein weiteres Beispiel für die Transzendierung eines Begriffes in eine neue Konstellation epochenkennzeichnender Denkstile nennt Mannheim das Jahrhundert der Aufklärung (314ff.). Das System des Rationalen, das eine bewusste Autonomie des Denkens forderte und somit ironischerweise gegen alle Ansätze

17 Vgl. zum Begriff der Konstellation auch Albrecht, Andrea (2010): ›Konstellationen‹. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologisch-astronomischenKonzepts bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim. In: Lutz Danneberg (Hg.): Scientia poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften = Yearbook for the history of literature, humanities and sciences, Bd. 14. Berlin, New York: De Gruyter (Scientia Poetica), S. 104-149.

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seinsgebundenen Denkens zu kennzeichnen sei, manifestierte sich in seinen bürgerlichen Lebensarten des literarischen Lesezirkels, des Buchmarktes, der Diversifizierung der Presse und des Verlagswesens und nicht zuletzt durch das serielle Lesen schöner Literatur zuungunsten theologischer Erbauungsliteratur. Doch damit trat die ideengeschichtliche Autonomie unter soziologischer Betrachtung in eine seinsgebundene »Oppositionswissenschaft« (314) zur Theologie und Metaphysik. Nach Mannheim sei dies der Moment, in dem ein neues historisch wirkmächtiges Moment seine Kreise auf die folgenden Epochen ziehen wird, eine »bewußtseinsmäßige Verhaltungsweise Ideen gegenüber, die von da ab zur Tradition aller aufstrebenden Klassen wurde und im Marxismus nur [die] Formulierung in der Selbstreflexion erhielt« (315). Auch wenn sich diese aufklärerische Haltung in einer Verschränkung von Wissen und Handeln äußert – und somit auch für die aktuellen Debatten um die Suche nach Kompetenzmodellen relevant ist –, behält sie immer auch einen Bezug zu der von ihr bekämpften Weltanschauung. Immer wenn eine Idee negiert wird, ist sie zugleich als These vorauszusetzen, womit auch das Moment der Opposition in der Aufklärung zu verstehen sei als ein »enthüllendes Bewußtsein« (315) mit dem Ziel, gewisse Ideen zu zersetzen, sodass zugleich das Weltbild einer sozialen Schicht zersetzt werde. »Das Entstehen des ‚enthüllenden Bewußtseins‘ – ohne dessen Verständnis man die Gegenwart in ihrer Eigenart gar nicht erfassen kann – ist jener zweite, allein soziologisch erfaßbare Faktor, der nicht so sehr durch die Richtung, als durch die Art der Transzendierung der theoretischen Immanenz etwas Neues darstellt. Im Seinskampf gesellschaftlicher Klassen entstand hier eine neue Verhaltungsweise zunächst zu einzelnen bestimmten Ideen, die zum Ausgangspunkte einer neuartigen Transzendierung der theoretischen Immanenz überhaupt diente.« (317)

Eine deutlichere Erklärung erfordert noch das Adjektiv »enthüllend«. Mannheim versteht darunter nicht das Aufdecken einer Lüge. Sobald eine Aussage als Lüge bezeichnet wird, ist nichts über den theoretischen Gehalt dieser Aussage erkannt worden. Es ist lediglich eine Feststellung vollzogen worden über die Beziehung des »den Satz aussprechenden Subjektes zu dem von ihm vertretenen Gehalt« (316). Mit einem Angriff auf die hinter dem Satz stehende ethisch-persönliche Existenz soll der Gehalt entkräftet werden, anders als bei der Ideologieenthüllung: »Der wesentliche Unterschied zwischen Lügenenthüllung und Ideologieenthüllung besteht darin, dass die erstere Enthüllung auf die ethische Persönlichkeit ausgeht und in diesem Sinne durch die Enthüllung das hinter der Aussage stehende moralische Subjekt vernichten

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will, wogegen die Ideologieenthüllung in ihrer reinen Gestalt sozusagen eine unbewusst wirkende, sozialgeistige Vitalsphäre angreift, einen Prozess des Unterbewusstsein aufweisen will, aber nicht um dadurch die moralische Existenz der hinter der Aussage stehenden Menschen zu vernichten, sondern um durch diese Enthüllung der Funktionalität bestimmte Ideen in ihrer sozialen Wirksamkeit aufzulösen.« (ebd.)

Zwei Momente stehen mit der Entstehung einer Soziologie des Denkens in Bezug zueinander. Bisher bezog sich die enthüllende Transzendierung nur auf einzelne Gebiete und zweitens wurde »noch nicht angegeben, woraufhin diese Transzendierung im Besonderen vorgenommen wurde« (317). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Denken nur transzendiert werden kann, wenn ihm ein Sein als dessen Ausdruck gegenübergestellt wird. Mannheim bezieht sich hier auch wieder auf das o.g. Beispiel, nach dem Subjekte anhand des religiösen Offenbarungsglaubens das Denken transzendierten und dieses Realitätsempfinden sich dann auf das Historische und Ökonomische verschob. Doch auch in diesem Beispiel bleibt die Skizzierung einer Soziologie des Wissens in der Partialität verfangen wie der zerbrochene Splitter des ganzen Kruges. Oftmals wird im Werk Mannheims die gesellschaftliche Weltanschauung als Indikator für Verwissenschaftlichung atheoretischer Kollektiverlebnisse zitiert, obgleich eine Begründung hierfür ausbleibt. Mannheim greift deshalb auf sein Verständnis der Enthüllung zurück (vgl. 320) und setzt es in Bezug zu einer repräsentativen, im Sinne der Totalität vorfindbaren Grundübereinstimmung soziologischer Ideen und gesellschaftlicher Erlebnisströmungen im Kontext des historisch Werdenden: »Nicht indem man [die Gedanken] einzeln negiert, nicht indem man sie bezweifelt, nicht indem man sie als Lüge bezeichnet, nicht indem man sie einzeln als von einer Interessenlage bedingt enthüllt, werden sie relativiert, sondern indem man sie als Teile eines Systems, noch weitergehend als Teile einer Weltanschauungstotalität aufweist, die als Ganzes gebunden ist an eine Etappe des sozialen Seins. Von nun an stehen Welten Welten gegenüber, und nicht

Einzelbehauptungen

werden

Einzelbehauptungen

gegenübergestellt.«

(320,

Herv.i.O.)

Das von Mannheim gezeichnete Bild erinnert deutlich an ein Netzwerk, in dem sich durch die Zirkulation der einzelnen Teile das Gesamtbild verändert, deshalb wäre auch das Bild eines Kaleidoskops angebracht, in dem das Zusammenspiel vielfältiger Denkstile die Farbzusammensetzung des Gesamtbildes veränderten. An dieser Stelle – und möglicherweise zur Überraschung vieler Kenner – nimmt Mannheim Bezug auf Georg Friedrich Wilhelm Hegels Lehre von der List der

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Vernunft (1986 [1830-31]: 319)18, die ein Beispiel für die Transzendierung von Ideen in neue weltanschauliche Konstellationen sei. Auch bei Hegel sei die Selbstrelativierung der Theorie gegeben, wenn er in der subjektiven Vorstellung der Menschen nur ein Mittel für das wirklich Werdende sieht. Und genauso sei auch die Ideologie in ihrer Autonomie, wie die subjektive Vorstellung bei Hegel, depraviert zugunsten einer größeren Totalität. Um sich dem doch schwer zugänglichen Begriff der Totalität anzunähern, soll die Analogie zu Hegel für einen Exkurs genutzt werden mit der Frage, worin die Strukturähnlichkeit zwischen beiden Modellen gegeben sei. 4.4.1 Exkurs I: Hegels ‚List der Vernunft‘ Fünfmal las Hegel zur Philosophie der Weltgeschichte im zweijährigen Turnus vom Wintersemester 1822/23 an bis zum Wintersemester 1830/31. Über die ‚List‘ spricht Hegel nur in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Weltphilosophie, in der Logik19 und der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (§209)20. Als Grundbedingung für eine Historiographie der sowohl kritischen, philosophischen als auch pragmatischen Geschichte stellt Hegel die Überzeugung an, dass »Vernunft in der Welt geherrscht habe und herrsche« (1986 [1830-31]: 23). Dabei stünden sowohl die Vernunft des Betrachteten als auch des Betrachtenden in Abhängigkeit und Wechselbestimmung zueinander, denn »wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an (ebd.). Somit existieren auch zwei Aspekte von Vernunft, von denen der eine das »Geschichtliche« (ebd.) darstelle. Damit sei nun keine individuelle Vernunft gemeint, sondern der Verstand überhaupt.

18 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986 [1830-31]): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Werke, 12), vgl. S.11-104. 19 »Daß der Zweck sich unmittelbar auf ein Objekt bezieht und dasselbe zum Mittel macht, wie auch daß er durch dieses ein anderes bestimmt, kann als Gewalt betrachtet werden, insofern der Zweck als von ganz anderer Natur erscheint als das Objekt und die beiden Objekte ebenso gegeneinander selbständige Totalitäten sind. Daß der Zweck sich aber in die mittelbare Beziehung mit dem Objekt setzt und zwischen sich und dasselbe ein anderes Objekt einschiebt, kann als die List der Vernunft angesehen werden.« Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986 [1830]b): Wissenschaft der Logik. II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 606), S. 451. 20 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986 [1830]a): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1830 ; Teil 1. Die Wissenschaft der Logik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Werke, 8), S. 365.

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Hegel nennt als Beispiel die Bewegung des Sonnensystems, die nach unveränderlichen Gesetzen, der Vernunft desselben erfolgt, auch wenn weder die Sonne noch die um sie kreisenden Planeten ein Bewusstsein darüber hätten. Die Vernunft ist somit in der Natur angelegt, unabänderlich regiert von Gesetzen. Der zweite Aspekt, der von einer Vernunft durchdrungenen Welt überzeugt, entpuppt sich im Kleide der religiösen Wahrheit (vgl. 25). Nicht der Zufall bestimme den Lauf der Geschichte, sondern eine Vorhersehung zur Verwirklichung des absolut vernünftigen Endzweckes. In diesem Zusammenhang hieße Geschichte erklären, »die Leidenschaften des Menschen, ihr Genie, ihre wirkenden Kräfte enthüllen« (ebd.) und aus dieser Bestimmtheit die Existenz eines Plans zu erkennen, auch wenn sein allgemeines Prinzip, vereint im Glauben an Gott, nicht auf das Konkrete erfahrbar gemacht werden kann. Nun habe sich Gott aber in der christlichen Religion offenbart, indem er sich dem Menschen zu erkennen gegeben hat, als das, was er ist. Daraus wiederum erwächst die Pflicht des Menschen, kraft seines Geistes Gott zu suchen: »Gott will nicht engherzige Gemüter und leere Köpfe zu seinen Kindern, sondern solche, deren Geist von sich selbst arm, aber reich an Erkenntnis seiner ist, und die in diese Erkenntnis Gottes allein allen Wert setzen. Die Entwicklung des denkenden Geistes, welche aus dieser Grundlage der Offenbarung des göttlichen Wesens ausgegangen ist, muss dazu endlich gedeihen, das, was dem fühlenden und vorstellenden Geiste zunächst vorgelegt worden, auch mit dem Gedanken zu erfassen. Es muss endlich an der Zeit sein, auch diese reiche Produktion der schöpferischen Vernunft zu begreifen, welche die Weltgeschichte ist.« (28)

Lange sei es nach Hegel eine Mode gewesen, Gott in der Natur, den Tieren und Pflanzen zu suchen, weshalb also nicht auch in der Geschichte? Denn die Gegenstände in ihrer stofflichen und materiellen Beschaffenheit seien Manifestationen des Geistes, der sich im Kleinen wie im Großen verwirkliche. Aus diesem Grunde verortet Hegel seine Betrachtung als Theodizee, »eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte« (ebd.). Die Bestimmung der Vernunft fällt mit der Frage nach dem Endzweck der Welt zusammen. Demnach ist nach dem Inhalt der Bestimmung als solche zu fragen und zweitens nach ihrer Verwirklichung. Die Bestimmung wird durch den Geist vorangetrieben. Man kann sie sich am besten dadurch erklären, was sie nicht ist: Was der Substanz der Materie die Schwere ist, ist dem Wesen des Geistes »die Freiheit« (30). Die Materie konzentriert sich auf einen Mittelpunkt, sie ist zusammengesetzt aus einzelnen Bestandteilen und sucht ihre Einheit in der Schwere.

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Anders hat der Geist seine Einheit in sich selbst, in seiner Freiheit, denn »wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein Anderes, das ich nicht bin« (30). Selbstbewusstsein meint das Bewusstsein von sich selbst. Nun ist außerdem zu unterscheiden, dass der Geist weiß und was er weiß. Somit ist der Geist immer seine eigene Natur und auch Tätigkeit zugleich, welche darin besteht, immer wieder zu sich selbst zu kommen, sich z.B. in der Weltgeschichte zu verwirklichen. Hegels Ausführungen zur Logik und Existenz des Geistes finden nun eine plötzliche Wendung in eine fortschrittsorientierte Kulturkomparatistik. So klassifiziert er die Kulturen in einem historischen Entwicklungsschema, dem zufolge zunächst die »Orientalen« (31) nichts von ihrer Freiheit wüssten, da in ihren Gesellschaften selbst nur Einer frei gewesen sei und dieser als Despot seinen Neigungen und Leidenschaften nachgegangen sei. Auch bei den Griechen und Römern sei das Bewusstsein der Freiheit nur einigen wenigen vorbehalten gewesen. Erst die germanischen Nationen seien durch das Christentum zum Bewusstsein gelangt, das der Mensch als Mensch frei sei und dass die Freiheit des Geistes seine eigene Natur sei. Die Weltgeschichte »ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben« (32). Die Freiheit ist der Zweck des Geistes, die Weltgeschichte arbeite auf diesen Endzweck zu. Nun ist die Frage nach den Mitteln der Realisierung zu beantworten. Hegel stellt fest, dass die Weltgeschichte eine »Bühne der Leidenschaften« (34) ist, auf der einzelne durch Ehrgeiz, Machtgier, Vaterlandsliebe oder aus anderen edlen wie bösartigen Motiven die Schicksale einzelner oder ganzer Völker beeinflussen. Diejenigen, deren Einfluss so weit reicht, sind an der Zahl wenige. Feststellen kann man auch, dass sie häufiger von negativen Emotionen angetrieben werden als von gesellschaftlich ehrenwerten Tugenden wie etwa Wahrhaftigkeit oder Rechtmäßigkeit. Hegel begründet dies damit, dass ein Zweck, für den ein Mensch tätig sein soll, auch seinem egoistischen Interesse entsprechen muss (vgl. 36). Dies sei sein »unendliches Recht« (ebd.) als partikulärer Mensch. Nützlichkeit, Gewinn, Vorteil und Rechte sind nun keine unter dem Vorzeichen autoritärer Erziehung negativen Begrifflichkeiten, sondern legitime Ansprüche im Zeitalter des autonomen Verstandes. In besondere Nähe zu Mannheim bewegt sich dann folgender Absatz: »So sagen wir also, daß überhaupt nichts ohne das Interesse derer, welche durch ihre Tätigkeit mitwirkten, zustande gekommen ist; und indem wir ein Interesse eine Leidenschaft nennen, insofern die ganze Individualität mit Hintansetzung aller anderen Interessen und Zwecke, die man auch hat und haben kann, mit allen ihr innewohnenden Adern von Wollen

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sich in einen Gegenstand legt, in diesen Zweck alle ihre Bedürfnisse und Kräfte konzentriert, so müssen wir überhaupt sagen, daß nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist.« (37)

Dann weicht Hegel einen Schritt zurück und räumt ein, dass »Interesse« nicht ganz dem entspricht, was ausgedrückt werden soll, da Inhalt und der damit verbundene Zweck noch nicht genau umrissen seien (vgl. 38). Klar erkennbar sei jedoch die Struktur eines Staates, in der durch langwierige und schwere Auseinandersetzungen partikulärer Interessenslagen gebildet wurden. Nun ist das Interesse, oder der Denkstil an Ideologemen bei Hegel nicht die ‚Gesellschaft‘, wie bei Mannheim, sondern die Verwirklichung des einen Zwecks. Zur Vervollständigung dieser betraten nun große Persönlichkeiten die Weltbühne; praktische und politische Menschen (vgl. 46), die aber die Einsicht in sich trugen, dass »von dem, was not und was an der Zeit ist« (ebd. Herv.i.Orig.). Diese Leidenschaft in sich tragend – Hegel nennt sie das »besondere Interesse« (49) –, werden Handeln und Wirken großer Persönlichkeiten wie Napoleon oder Alexander dem Großen zur Manifestation oder Performanz einer sich im Hintergrund haltenden »List der Vernunft« (ebd.). Sie lässt die Leidenschaften für sich wirken, wobei das Gefäß des Menschen den Tribut des Wirkens zumeist mit dem Tode bezahlt. Eine weitere Parallele zu Mannheim zeigt sich in der historischen Wandelbarkeit von Wertvorstellungen. Zwar gibt es unter dem Geist der Vernunft Aprioritäten wie ‚Moralität‘ oder ‚Menschlichkeit‘, jedoch richtet sich der Mensch aufs Neue in dem ihm zugeschriebenen Handlungsraum ein Urteil über alle Wertvorstellungen. In einem Zustand des persönlichen Unglücks schafft er sich die Prämissen und Ideale, die in der Gegenwart nicht entsprechend zu finden sind (vgl. 51): »Nichts ist, wie gesagt, jetzt häufiger als die Klage, dass die Ideale, welche die Phantasie aufstellt, nicht realisiert, dass diese herrlichen Träume von der kalten Wirklichkeit zerstört werden. Diese Ideale, welche an der Klippe der harten Wirklichkeit, auf der Lebensfahrt, scheiternd zugrunde gehen, können zunächst nur subjektive sein und der sich für das Höchste und Klügste haltenden Individualität des Einzelnen angehören.« (52)

Dieser Exkurs wurde durch den Hinweis Mannheims eingeschlagen, in der Ausführung Hegels zur List der Vernunft eine geisteshistorische Brücke zur Bildung einer Soziologie des Denkens zu sehen. Die Transzendierung von Begriffskonstellationen wie jener der ‚Freiheit‘ unter dem ‚Willen der Vernunft‘ (Hegel) oder einer gesellschaftlich bedingten Figuration von ‚Wissenskonstellationen‘ (Mannheim) lädt zu weiterführenden Forschungsfragen ein:

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Inwieweit ist eine Soziologie des Denkens mit Konzepten des Deutschen Idealismus in Verbindung zu setzen? Handelt es sich hierbei um einen geisteshistorischen Bruch oder um eine Fortführung von Tradition? Welche Rolle spielen in beiden Konzepten apriore Vorstellungen von Geschichtlichkeit? Denn das Wesen in der ‚List der Vernunft‘, welches sich durch einzelne partikuläre Interessen vervollständigt, setzt in der zugegebenermaßen oberflächlichen Ausführung i.R. dieser Arbeit interessante Bezüge zum ‚konjunktiven Wissen‘ als Ausdruck einer möglichen Weltanschauung seinsgebundenen Denkens. Die letzte, aber wichtigste Frage wäre, worin der Unterschied zwischen Hegels Geschichtsphilosophie und Mannheims Soziologie des Denkens liegt, sobald man die Begriffe der ‚Vernunft‘ und ‚Gesellschaft‘ vertauscht.

4.5 B EISPIELHAFTE ANALYSEN 4.5.1 Konservatismus Den ‚Test auf die Prämisse‘ leistet Karl Mannheim 1925 in seiner Habilitationsschrift Konservatismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, die an der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereicht wurde. Die folgende Präsentation der Arbeit bezieht sich auf die 1984 erschienene Ausgabe von David Kettler, Volker Meja sowie Nico Stehr. Die posthum veröffentlichte vollständige Fassung von Karl Mannheims Habilitationsschrift gliedert sich in drei Abschnitte: Im ersten Teil wird das Erkenntnisinteresse und das begriffliche Instrumentarium vorgestellt. Dann wird eine Typologie konservativen Denkens erarbeitet, um auf dieser Basis repräsentative Strömungen konservativen Denkens exemplarisch zu identifizieren. Die inhaltliche Stärke dieser Arbeit liegt in der Methode, weltanschauliche Quellen aufzuspüren und somit die Urerfahrung bestimmter Lebenskreise zu dokumentieren, deshalb schlägt die Untersuchung auch eine wichtige Brücke zwischen der noch zu entwickelnden Integration eines sowohl literaturhermeneutischen als auch sozialwissenschaftlich-empirischen Zugangs zu Gegenständen der IKLW. Bedingt sich die Wahrnehmung innerliterarischer Fremdheit durch literaturexternes Wissen – wie in Analogie zum bereits erwähnten Beispiel Karl Mannheims Dissertationsschrift dargelegt –, so gewährt die Untersuchung Konservatismus nicht nur eine Einführung in exemplarische Beispiele wissenssoziologischen Arbeitens, sondern auch die Erkenntnis, dass Denkstile und Denkorte künstlerischer Wissensproduktion gebunden sind an politische Prozesse der Meinungsfin-

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dung und der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen. Nimmt man die sozialhistorische Bedingtheit von Wissen als Basis einer solchen Analyse, zeigt sich auch, dass Wissenssoziologie nicht nur im Felde der Soziologie oder der Politikwissenschaft, sondern auch in dem der Kunstwissenschaften applizierbar ist. Eine Kritik an Mannheims Schrift soll an dieser Stelle aufgegriffen werden, die man durchaus auch ins Positive wenden kann. Wilhelm Hoffmann (1996: 81) sieht in der Arbeit Mannheims einen historiographischen Schematismus vorliegen, welcher die wissenssoziologische Analyse des ‚Konservatismus‘ zu sehr an die Epochenschwelle der Französischen Revolution binde und von dort aus pauschalisierend die eigentliche soziologische Dimension vernachlässige. Dieser Kritik ließe sich nun entgegnen, dass Karl Mannheim in seiner Einleitung dezidiert erklärte, den Denkstil in »einem eng begrenzten Gebiete des Historischen« (47) aufzuweisen und nicht das »Denken und Wissen überhaupt«, sondern »von einem bestimmten Denken und Wissen in einem bestimmten Lebensraume« (ebd.) seinen Gegenstand eingrenzt. Insofern greift der Vorwurf begrifflicher und methodischer Engführung nicht ganz; im Gegenteil bietet diese Herangehensweise interessante Perspektiven auch für literaturwissenschaftliche Perspektiven hinsichtlich historiographischer, im Sinne problemorientierter Schwerpunktsetzungen. Anhand Konservatismus sollte nachgewiesen werden, wie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von bestimmten sozialen Schichten getragen, in Deutschland eine einheitliche Denkrichtung herausbildete, »die man ‚Altkonservatismus‘ nennen kann« (ebd.). Fällt heute der Begriff ‚Konservatismus‘, eröffnen sich unserer Vorstellung verschiedene semantische Sphären: die einer politischen Haltung, einer geschichtsphilosophischen Strömung oder einer individuellen Vorstellung von Lebensführung. Bewahrt wird, was alt und gut ist; so die geläufige, allgemeine Vorstellung. Nur ist nach Mannheim der Begriff des ‚Konservativen‘ für den deutschsprachigen Raum von ganz spezifischer Prägung, denn in seiner Genese, Entwicklung und Einflussnahme ließe sich auch die Frage beantworten, seit wann in den Kulturwissenschaften die Opposition von ‚Geschichte‘ und ‚Natur‘ thematisiert werde (Kettler 1984:50).Verfolge man dann die historischen Linien zurück, gelange man eindeutig zu den politischen Machtkämpfen der Französischen Revolution, den französischen Traditionalisten und letztendlich auch zur Deutschen Romantik. Interessant ist an dieser Stelle, dass Mannheim zwar die Arbeiten zum Verhältnis zwischen ‚Natur‘ und ‚Geschichte‘ im Werk von Giambattista Vico (16681744) erwähnt, aber inhaltlich nicht näher darauf eingeht. In dessen 1744 posthum erschienenen Schrift Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der

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Völker wird zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte die prinzipielle Unterscheidung zwischen Natur- und Humanwissenschaften thematisiert mit der zentralen Aussage Giambattista Vicos, dass Naturwissenschaften ihren Gegenstand nie in Gänze erfassen könnten, denn die Wahrheit sei eine vom Menschen selbst gemachte. Man muss jedoch auch sagen, dass die hier skizzierten Anfänge eines konstruktivistischen Wissenschaftsverständnisses klar unter einem theologischen Dach erarbeitet wurden, was im berühmten Vico-Theorem besonders deutlich wird: »Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: dass diese historische Welt ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihrer Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muss jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben.«21

Diesem Zitat folgend, sind menschliche Ideen und Werte keine unveränderbaren Gegebenheiten, sondern unterliegen selbst der geschichtlichen Entwicklung, wobei hier der zentrale Begriff in der »Modifikation« zu suchen ist, nach der sich das individuell menschliche Tun und die gesellschaftlich-historische Konstellation gegenseitig bedingen. Wolle man deshalb, wieder mit Blick auf Mannheim, das Konservative als Denkstil identifizieren, wäre eine rein ideengeschichtliche Abhandlung ungenügend; es müssten vielmehr noch die sozial-historischen Konstellationen aufgeführt werden, welche in Deutschland zur seiner Entstehung beitrugen und dahingehend präzisiert Mannheim seine Fragestellung: »Mit dem Sich-Verschieben des Schwergewichtes […] modifiziert sich auch immer mehr [das] Gewicht: der Gegensatz von Natur und Geschichte enthüllte sich als ein vorgeschobener Posten eines noch radikaleren Gegensatzes zweier grundverschiedener Denkweisen, die in zwei grundverschiedenen Weltanschauungen verankert waren« (51, Herv.i.Orig.). Wie in seinen Beschreibungen Heidelbergs fällt auch hier wieder die Metapher des vorgeschobenen Postens als Ausdruck einer unauflösbaren Verbindung

21 Vico, Giambattista (2000 [1744]): Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Übers. v. Erich Auerbach. Berlin, New York: De Gruyter, S. 125.

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zwischen ‚Sein‘ und ‚Wissen‘, denn – so die Überzeugung Mannheims – die problemgeschichtliche Antithese von Natur und Geschichte spiegle den durch soziale Kräfte getragenen Gegensatz des »liberalen und konservativen Denkens« (Kettler 1984: 51) wider. Nun dürfe aber andererseits diese Binäropposition ambivalenter Denkstile nicht auf einen Schematismus reduziert werden. Man könnte sich gemäß Mannheim durchaus dazu verleiten lassen »eine ständige Korrelation zwischen ‚Historismus‘ und ‚Konservatismus‘ zu behaupten« (57-58), da es als plausibel und logisch erscheint, dass Geschichtsbewusstsein aus einem konservativen Weltenblick entsteht. Diese Analogie ist für Mannheim jedoch zu simpel, denn die konservative Konzeption von Geschichte, Geschichtsanschauung und -schreibung ist »Produkt einer spezifischen soziologischen Konstellation, die noch heute nachwirkt« (58). Diese Charakteristik einer Geschichte, deren Wirkkraft auf die Zukunft verweist, treffe dann auch auf die Strömungen der revolutionären Aufklärung zu, welche ohnehin einen »intensiven Sinn für Geschichte bekundet hatte« (ebd.). Für den deutschsprachigen Raum lässt sich beobachten, dass sich die Pole des ‚Liberalismus‘ und ‚Konservatismus‘ ziemlich schroff wie »Thesis und Antithesis« (63) gegenüberstanden, wohingegen jedoch in England das Verhältnis zwischen Tories und Whigs bis 1790 in Gänze anders, als ein Zustand des Opponierens und Kollaborierens zugleich beschrieben werden könne. Für den deutschsprachigen Raum jedoch war die Vorstellung im jungen 19. Jahrhunderts voneinander lernender Ideologien unmöglich. Aufgrund der scharfen Trennlinie zwischen Adel und Bürgertum fehlte das parlamentarische Leben und somit jede Möglichkeit eines Meinungsaustausches. Eine für pluralistische Demokratien angemessene Streitkultur konnte somit nicht geschaffen werden, gleichzeitig war aber der Klassengegensatz stark genug ausdifferenziert, sodass der Konservatismus entstehen konnte (vgl. 64), in seiner Genese geradezu einen tiefen Spalt zwischen die aufklärerischen und romantischen Interessen treiben konnte. Das für Deutschland »spezifische Zusammenwirken einer verspäteten gesellschaftlichen Modernisierung mit trotzdem bereits hinreichend entwickelten Klassengegensätzen« (73) ermöglichte eine »Situation der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf der Ebene der Ideologien« (ebd.). Dennoch solle der Schwerpunkt dieser Arbeit nicht im Politischen gesucht werden, das Politische ist hierbei vielmehr als Vehikel anzusehen für das Erkennen des dahinterstehenden Denkens: »Das politische Element ist also (…) nicht unbedingt das schöpferisch Primäre, auch nicht als Kasusfaktor das verursachende Erste bei dem Zustandekommen und Werden der Denkrichtungen. Das politische Element ist nur (…) das am leichtesten und klarsten erfassbare

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Element für die Fixierung der in einem Zeitalter vorhandenen Weltwollungen und Denkrichtungen (…). Wir lassen unsere Analyse nur deshalb beim politischen Element ansetzen, weil das lebendige Zusammengehen des spekulativen Elementes mit dem sozialen Geschehen im Politischen am klarsten wahrnehmbar ist – und schließlich auch deshalb, weil in dem zu behandelnden Zeitalter, wie erwähnt, meistens das Politische de facto auch der Agglomerationspunkt für die weltanschaulichen Denkstandorte wurde.« (78)

Als solche Agglomerationspunkte finden sich in der Beziehung beider Antipoden Regelmäßigkeiten, für das gesellschaftliche Zusammenleben maßgebliche Formen, die vom aufklärerischen Denken bejaht, vom romantischen aber abgelehnt werden: die Rationalisierung, die Eliminierung des Besonderen und die Institutionalisierung des allgemeinen Marktes (vgl. 82). Ganz entscheidend veränderten sich mit der zunehmenden Ökonomisierung des deutschsprachigen Raumes auch anthropologische Vorstellungen vom Sein. War der Mensch in einer patriarchalischen oder feudal organisierten Welt Glied einer hierarchisch gegliederten Gemeinschaft, so wurde er in einer »warenproduzierenden Gesellschaft« selbst zur Ware, seine Arbeitskraft eine »in Zahlen bestimmbare Größe«. Das Ergebnis ist: »je weiter sich die Kreise erstrecken, wo der Mensch als Funktion der sich ausbreitenden kapitalistisch-rechenhaften Organisation vorkommt, umso häufiger wird er als abstrakt rechenhafte Größe erlebt« (82). Dieser Prozess – man darf ihn wohl als Entfremdung von der Arbeit begreifen – macht nun die Romantik zur Geburtshelferin einer konservativen Revolution, einer bewusst gesteuerten Konfrontation unter Erweckung verdrängter Lebensformen gegen den bürgerlichen Rationalismus. Ganz entscheidend ist aber die Einsicht, dass die Romantik aus der Aufklärung »erwachsen ist, als Antithesis gegen eine Thesis, und wie eine jede Antithesis durch die Thesis bedingt ist [.]« (85) Strukturell also ist die Romantik in ihren Fundamenten, Einstellungen und Methoden im Denken der Aufklärung insofern verankert, als dass beide Größen in einem Verhältnis der Ambivalenz sich voneinander abstoßen, aber auch gleichzeitig bedingen. Indem die Romantik gegen die Rationalisierung der Aufklärung aufbegehrte und die »irrationalen, verdrängten« (ebd.) Lebensmächte zu retten versuchte, rationalisierte sie sich gleichfalls und auf sich selbst gerichtet. Indem die Romantik das Irrationale thematisiert, transformiert sich die Erscheinung zur Bewegung und das Festhalten an dem Überkommenen wird »ein hoch reflektiertes Unternehmen« (85). Es ist nach Mannheim dies die Ironie der Geschichte: Momente der Kritik an ursprünglich historisch verlaufenden Prozessen verfallen derselben Dynamik und gehorchen somit einer »List der historischen Vernunft« (85).

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Wie manifestiert sich nun der romantische Denkstil? Vor allem Sprachspiele und Kollektivsingulare besetzen hierbei das Feld des Irrationalen, wie zum Beispiel in der Vorstellung von ‚Freiheit‘. Dieser »in der Natur der Individualität angelegte« (116) Begriff befindet sich in der Nähe eines »anarchischen Subjektivismus« (ebd.). Somit verliert der romantische Gedanke seine »weltlich-evolutionierende Spitze«, welche sich im liberalen Denken als Freiheit des öffentlichen Lebensentfalten konnte. Zweitens entzieht das romantische Denken dem Individuum den Freiheitsgedanken und überträgt dessen Trägerschaft den »organischen Gemeinschaften«, den Ständen. »Es wurden nunmehr die Stände zum Träger dieses inneren Wachstumsprinzips, in dessen Entfaltung die Freiheit bestehen soll. Hiermit enthüllt sich aber zumindest die andere Wurzel des qualitativen Freiheitsbegriffes, seine ständische Herkunft. […] Die Lösung besteht darin, dass man das Freiheitsprinzip verinnerlicht, die äußeren Beziehungen aber dem Ordnungsprinzip unterwirft.« (117)

Hierin sieht Mannheim ein weiteres Indiz für das Ineinandergreifen ideengeschichtlicher Konzepte und vortheoretischer Weltanschauung, dessen Dynamik er als »körperhafte Einheit zum Substrat der Geschichte« (123) gehoben sieht. Mehr noch liegt hier die Gemeinsamkeit im Denken mit späteren »proletarischen und sozialistischen« (ebd.) Strömungen, denn auch dort »wird das eigentliche Substrat der Geschichte nicht der Einzelne sein, sondern Einheiten wie ‚Produktionsverhältnisse‘ und ‚Klassen‘« (ebd.). Der Unterschied zwischen diesen beiden Spielarten »nichtindividualistischen Sehens der Geschichte« (ebd.) liege aber darin, dass der Konservative zumeist von »organischen Kollektivverbänden« (ebd.), wie jenem der Familie, das historische Leben konstruiere, während für das proletarische Denken die neueren Formen der »Kollektivverbände« ausschlaggebend seien. »Wo im konservativen Denken Familie und Kooperation stehen, steht im sozialistischen Denken die Klasse, wo dort Grund und Boden, stehen hier Betriebs- und Produktionsverhältnisse« (ebd.). Mannheim betont, dass zu ihrer jeweiligen Mischung noch die Betonung des historischen Gewordenen hinzutreten muss. Das Leben aus der Vergangenheit und aus der Peripherie der modernen Gesellschaft ist die Bedingung wahrhaft konservativen Erlebens. »Konservativ […] erleben bedeutet also von jenen Erlebniszentren aus zu leben, deren Entstehungsursprung in vergangenen Konstellationen des historischen Geschehens verankert ist, von Erlebniszentren aus, die sich relativ unverändert bis in jene Zeit, in der der moderne Konservatismus sich konstituiert, deshalb halten konnten, weil sie in jenen Gebieten und

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Provinzen des sozialen Werdens ihre Träger hatten, die bis dahin von dem modernen Geschehen noch nicht mitgerissen worden sind. Aus diesen originären Lebenskeimen und Erlebnisformen erhält das konservative Denken seine Fülle und seinen nicht bloß spekulativen Charakter« (125).

In seinem ersten Anwendungsfall (139 ff.) skizziert Mannheim die Entstehung sowie sozialhistorische Ausgangslage des romantischen Denkens. Mit der historischen Zäsur der Französischen Revolution geriet im deutschsprachigen Raum der Adel zunehmend unter Druck. Der Funke der Revolution und der Ruf nach mehr bürgerlichen Freiheitsrechten erforderte eine sowohl politische als auch philosophisch-konzeptionelle Gegenreaktion. Das im Machtverhältnis doch asymmetrische Bündnis zwischen der Bürokratenschicht Preußens und der intellektuellen Gruppierung der Romantiker sollte dieser Bewegung die politische und weltanschauliche Stoßkraft verleihen, denn der Adel brauchte die Rechtfertigung und die Romantik die soziale Verortung, welche – ganz im Gegensatz zu den Aufklärern – im Prekären lebten. Mannheim kommt zu dem Ergebnis, dass die Romantiker erst dann die Bühne betraten, als sie sich in den aktiven Dienst politischer Interessen stellten. In der Genese konservativen Denkens nennt Mannheim Adam Müllers Schrift Die Elemente der Staatskunst (1809), in der ein sich qualitativ-konkretisierender Konservatismus aus der »ständischen Schicht des Denkens und Erlebens« (165) formuliert wird, weiter die »Betonung des Lebens gegenüber dem Begriff« (167) sowie der »irrationalen Seite des geschichtlichen Werdens und insbesondere des Staates«. Ebenso wie Adam Müller betonte auch der Begründer der historischen Rechtsschule Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) die Irrationalität zur »objektiven Dimension der Dynamik des geschichtlichen Seins« (187). Nach ihm versteht sich das Sein nicht im Denken, sondern vielmehr »im Elemente des Irrationalen, und das Denken hat die Funktion des Weitertastens, des Klärens. Dieses Denken ist kein Berechnen, ist kein Vermitteln, ist keine Rekonstruktion des Weltplanes: Es ist Läuterung eines vor dem Denken Daseienden« (ebd.). Läuterung wird im allgemeinsprachlichen Gebrauch als Reinigung im religiösen Sinne gebraucht, in der Literaturtheorie mit der Katharsis in Verbindung gebracht. Das Denken also kann man verstehen als eine Kanalisierung oder Sichtbar-Machung eines Gefühls durch seine sprachliche oder bildhafte Abbildung. Ein Beispiel für solch eine nicht künstlich herstellbare Größe sei das ‚Recht‘ als organisch Gewordenes, dem jede subjektive Vernunft zurückzustehen hätte. Mannheim nimmt in seinen Analysen zur historischen Schule Bezug auf von Savignys Schriften Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814) und Über den Zweck der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft (1815). Dezidiert argumentiere Savigny gegen die Vorstellung eines geschichtlichen Sinnes,

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aus dem sich die Existenz eines universal geltenden Naturrechts deduzieren ließe, denn in jedem Volk steckte das »gleiche Gefühl der inneren Notwendigkeit« (189) für Recht. Nun trete aber mit der Entwicklung und dem Fortschreiten eines Volkes auch eine Differenzierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ein. Je mehr ein Volk wächst, umso vielfältiger wird auch das Spektrum an Interessen. Spätestens dann nehme die Zunft der Juristen als eine Zunft von vielen die Sprache des Rechts in die Hand. Aber nur die Sprache, das Gefühl eines Rechtsverständnisses lebe in jedem Volk in seinen verschiedenen Formen fort. Carl v. Savigny, betont das Irrationale als eine Existenz a priori eines spezifischen, Wesenszentrums; Mannheim kommt zum Schluss (199): »Das generelle Gesetz ist rational, aber dass man es überhaupt auf die Welt anwenden kann, ist ein irrationales Faktum«. 4.5.2 Generationen Die Eindrücke zu Heidelberg und Budapest aufgreifend erscheint 1928 die in den Kölner Vierteljahresheften für Soziologie veröffentlichte Schrift Das Problem der Generationen. Für viel Aufsehen sorgte der Aufsatz damals jedoch nicht. Die Geschichte seiner Rezeption war eher eine der Nicht-Rezeption. Erst seit Martin Kohli den Mannheim’schen Generationenaufsatz in den 1970er Jahren im Kontext der Lebenslaufforschung wieder in die Diskussion brachte, gehört er neben der Sammlung Ideologie und Utopie zu den bekanntesten Arbeiten Mannheims22. Entworfen wird hier ein Generationenkonzept, das nicht mehr aufgrund biologistischstatistischer Rhythmen den historischen Wandel ermittelt, sondern durch Rückbindung an die gesellschaftliche Zugehörigkeit Zusammenhänge zwischen Innenweltbezüge und politischer Einflussnahme ergründet. Mannheims Schrift zur Generationenproblematik erweckt gerade in den aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Debatten hohes Interesse (vgl. Corsten 2010: 134). Dies liegt einerseits an dem schnelllebigen und den wissenschaftlichen Begriff verwässernden Phänomen, mit dem heute eine neue Generation ausgerufen wird, seien es die ‚Generation X‘, ‚Generation Golf‘, die ‚Generation Prekär‘ oder die ‚Generation Praktikum‘. Hierbei bildet der Klassiker Mannheims jedoch eine fruchtbare Grundlage, wird doch die Generationenlage zuallererst als Stilvielfalt analysiert; durch seine Adaption etablierten sich ganze Forschungszweige zum Beispiel in der Lebenslauf- und Kohortenforschung. Zu nennen sind hierbei der 1965 in der American Sociological Review veröffentlichte Aufsatz The 22 Sparschuh, Vera (2007): Karl Mannheims Aufsatz zum Problem der Generationen. Werkgeschichtliche und theoretische Dimensionen. In: Balla (Hg.): Karl Mannheim, S. 172-194.

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Cohort as a Concept in the Study of Social Change23 von Norman Ryder sowie Martin Kohlis 1978 bei Luchterhand erschienene Sammelband Soziologie des Lebenslaufs (vgl. Corsten 2010: 133)24. Im Ausgang zu Mannheims Aufsatz ist außerdem das vierbändige internationale Handbuch zur Generationenforschung Biographical Research Methods (2004)25 erschienen und im Sammelband zum Subjektverständnis der hermeneutischen Wissenssoziologie (2014)26 bietet das erste Teilkapitel eine Übersicht zum Problem und Methoden der Biographieforschung. Wie in seinen Heidelberger Briefen – und später auch in seiner Habilitationsschrift Konservatismus – sieht Mannheim in der Generationenfrage zwei Wege von Weltanschauungen in Konkurrenz um die Deutungshoheit zueinanderstehen, »einen positivistischen und einen romantisch-historistischen« (Mannheim 1928: 4). Sah der erste Weg sein »Ideal in der Quantifizierbarkeit der Problematik« (ebd.), schlug die andere Seite einen qualitativen Weg ein, »verzichtete auf das mathematische Tageslicht und verinnerlichte das Problem« (ebd.). Im Zentrum der Frage – und hier liegt die Gemeinsamkeit beider Wege – stand das Bestreben, ein allgemeines Gesetz für historische Rhythmik zu finden, angesichts der unumstritten begrenzten Lebensdauer des Menschen. Für den Liberalen, Positivisten, im erwähnten Sinne idealtypischen Franzosen sei das Generationsproblem zumeist ein Beleg für die geradlinige Fortschrittskonzeption gewesen: »Dieses aus modern-liberalen Impulsen erwachsene Denken hatte von Anfang an mit einem veräußerlichten, mechanisierten Zeitbegriff operiert und versuchte an der quantitativ messbaren Zeit einen objektiven Maßstab für den geradlinigen Fortschritt zu finden. Auch die Abfolge der Generationen erschien hier eher als ein Geschehen, das die Geradlinigkeit der Zeitfolge nicht so sehr durchbrach, als es sie artikulierte. Das Wichtigste am Generationswechsel blieb, dass er als einer der wesentlichsten treibenden Faktoren im Fortschritt betrachtet wurde« (8).

23 Ryder, Norman (1965): The Cohort as a Concept in the Study of Social Change. In: American Sociological Review 30, 6, S. 843-861. 24 Kohlis, Martin (Hg.) (1978): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt: Luchterhand (Soziologische Texte). 25 Miller, Robert (Hg.) (2004): Biographical research methods. London, Thousand Oaks, Calif.: SAGE Publications (Sage benchmarks in social research methods). 26 Poferl, Angelika; Schröer, Norbert (Hg.) (2014): Wer oder was handelt? Zum Subjektverständnis der hermeneutischen Wissenssoziologie. Wiesbaden: Springer VS (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft).

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Demgegenüber positionierte sich unter Berufung auf Wilhelm Dilthey eine Bewegung, welche den Verlauf geistiger Bewegungen durch das Ergründen »nacherlebbarer« (9) Messungen verinnerlicht, im Sinne einer Konservierung qualitativer Erlebniszeit. Dieser Bewegung nach könne die rein statistische Messung von Tagen, Wochen, Monaten und Jahrzehnten schon insofern nicht genügen, da das Phänomen »Gleichzeitigkeit« (ebd.) nur in Verbindung mit dem der »Gleichartigkeit« verstanden werden könne: »Gleichzeitig aufwachsende Individuen erfahren in den Jahren der größten Aufnahmebereitschaft, aber auch später die selben leitenden Einwirkungen sowohl von Seiten der sie beeindruckenden intellektuellen Kultur als auch von Seiten der gesellschaftlich-politischen Zustände. Sie bilden eine Generation, eine Gleichzeitigkeit, weil diese Wirkungen einheitlich sind. Gerade durch diese Wendung, dass Gleichzeitigkeit im Geistesgeschichtlichen nicht ein chronologisches Datum, sondern Gleichartigkeit der vorhandenen Einwirkungen bedeutet, gleitet die Fragestellung von einer Ebene, die in eine mystische Zahlenarithmetik umzuschlagen neigte, in das Gebiet der bloß durch das Verstehen erfassbaren Innerzeitlichkeit.« (ebd.)

In diesem Zusammenhang greift Karl Mannheim das von Wilhelm Pinder (18781947) vertretene Epochenkonzept der Entelechie kritisch27 auf als »Ausdruck der Einheit ihres [der Generation] inneren Zieles« (9) und sieht in Pinders Arbeit eine Übertragung des Riegl’schen ‚Kunstwollens‘ vom Phänomen der Stileinheit auf die Generationenfrage. Wenn nun jede Generation eine aus sich heraus erfassbare Entelchie bilde, stehe jeder Zeitpunkt für einen Zeitraum mit mehreren Dimensionen, »da er ja stets von verschiedenen Entfaltungen der einzelnen daseienden Generationsschichten aus erreicht wird« (10). Das Zeitdenken müsse also im Sinne einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen polyphon organisiert sein, so dass die einzelnen Stimmen der einzelnen Generationen von jedem Punkt erreicht werden. ‚Generation‘ war nach Karl Mannheim nicht als rechnerisch-statistische Größe zu verstehen, aber auch keine im soziologischen Sinne fest definierte Größe mit überzeitlich konstanten Beschreibungskriterien 28. ‚Generation‘ war eine wei-

27 Keineswegs übernimmt Mannheim uneingeschränkt die Überlegungen Wilhelm Pinters. Vor allem kritisiert er Pinders allzu romantischen Erklärungen, Entelechien würden aus einem geheimnisvollen Naturzusammenhang geboren werden ohne Erwähnung des gesellschaftlichen Einflusses (vgl. 11). Grundsätzlich äußert Karl Mannheim starke Zweifel an ein Intervalldenken des Generationenwandels. 28 Lichtblau, Klaus (2007): Karl Mannheim und das Problem der historischen Zeit. In: Balla (Hg.): Karl Mannheim. S.11-19, 11: »Koexistierende Generationen mögen zwar

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tere Manifestation von Relationen. Mit Bezugnahme auf Pinders Bild einer Dreiklangverteilung wird in dem Aufsatz weniger von konkreten Gemeinschaften als von gemeinschaftlichen Lagerungen gesprochen, einem Miteinander von Menschen, die sich nicht durch Gemeinsamkeiten untereinander, sondern mithilfe eines gemeinsamen Gegenstandes verbunden fühlen, auf den sie blicken. Die in diesem Zusammenhang erwähnte Äußerung einer Klassenlagerung meint insofern den sozialen Kontext, in dem das Individuum eingebettet ist und den es nicht einfach wie einen Verein oder eine Partei verlassen kann. Das Individuum kann innerhalb des ihm zugeschriebenen Raums handeln, obgleich aus dem Aufsatz nicht hervorgeht, ob aus dem Handeln wiederum das soziale Feld in seiner Gestalt verändert wird. Bliebe man bei dem Bild einer Klasse, wäre diese Option nicht gegeben. Dass eine solche Lagerung aber existiert, sei unumstößlich, ob man nun »davon weiß oder nicht, ob man sich ihr zurechnet oder diese Zurechenbarkeit vor sich verhüllt« (15). In Abgrenzung zum biologischen Standpunkt der »generationellen Lagerung« meint der soziologische Begriff des »Generationenzusammenhangs« Formen der Bewusstseins- und Erlebnisschichtung, die es ermöglichten, dass Menschen »verwandter« Jahrgänge eine ähnliche Perspektive auf Ereignisse ausbildeten, »eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit bezeichnen«. Diese Zusammenhänge werden dann in »Generationeneinheiten« aufgeteilt, wenn sie ein solches Erlebnis auf die für ihr Milieu spezifische Weise verarbeiten (25). Im Kontext dieser Überlegungen zum Thema der ‚Generationen‘ wird das Konzept des ‚konjunktiven‘ Erfahrungsraumes skizziert als eine Einsicht in die seinsgebundene Partialität dessen, was als Erfahrungsgemeinschaft erlebbar ist. Diese Voraussetzung aller wissenschaftlicher Erkenntismöglichkeiten ist bereits in der Rede Seele und Kultur vorformuliert worden: Die milieu- oder gesellschaftsgebundene Erkenntnis mag kontrollierbar sein, aber nicht allgemein objektivierbar. ‚Generationen‘ sind für die wissenssoziologische Profilschärfung in Abgrenzung von der Philosophie deshalb entscheidend, da für die Beschreibung von Wissensformationen nun die Dimensionen von ‚Standort‘ und ‚Raum‘ die immanente Interpretation bedingen. in derselben chronometrischen Zeit leben. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sie diese gemäß völlig unterschiedlichen inneren Erlebniszeiten wahrnehmen und intepretieren. In gleicher Weise differiert auch das Zeiterleben des ‚konservativen‘ und des ‚progressiven‘ Menschen: für ersteren ist die Gegenwart der Endpunkt einer glorreichen Vergangenheit, für den letzteren dagegen der Ausgangspunkt für zukünftige Höherentwicklung der Menschheit. Sowohl für die Generationenlagerung als auch für das unterschiedliche Gegenwartserleben des Konservativen und des Progressiven ist also eine ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ kennzeichnend, die auf zentrale Unterschiede der damit jeweils einhergehenden historischen Zeiterfahrungen verweist.«

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Außerdem werden Generationen nach dem Bilde des ‚Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen‘ ihre konjunktiven Erfahrungen an zukünftige Generationen weitergeben oder durch bewusste Verschleierung in Vergessenheit geraten. Generationen verhalten sich in einer historischen Verkettung zueinander, womit die Wissensakkumulation als Prozess verhandelnder oder konkurrierender Generationeneinheiten verstanden werden kann. 4.5.3 Ideologie und Utopie Das 1929 bei Friedrich Cohen in Bonn erschienene Buch Ideologie und Utopie wurde 1937 in enger Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Soziologen Louis Wirth ins Englische übersetzt, womit die Arbeiten Mannheims auch vermehrt internationale Ankerkennung fanden. Heute wirkt Ideologie und Utopie vor allem als eine in sich geschlossene Monographie, jedoch besteht sie – wie es oftmals im Gesamtwerk Mannheims der Fall ist – aus verschiedenen Abhandlungen. Darüber hinaus liegt sie aktuell nicht in der Originalfassung von 1929 vor, sondern in der Übersetzung ihrer englischsprachigen Version von 1937. Die Kapitel zwei bis vier erschienen in der ersten Auflage und erst 1952 wurde eine deutsche Fassung wiederaufgelegt mit der englischsprachigen Einleitung sowie dem Handbucheintrag Wissenssoziologie (227-267). Seitdem ist Ideologie und Utopie in acht Auflagen erschienen. Die Bedeutung des Werkes bringt Wirth in seinem Vorwort in Verbindung mit den gesellschaftshistorischen Herausforderungen und Problemkonstellationen während des Niedergangs der Weimarer Republik: »Es scheint ein Kennzeichen der Gegenwart zu sein, daß Normen und Wahrheiten, die einst für absolut, allgemein und ewig galten oder in beneidenswerter Ahnungslosigkeit über ihre Folgen hingenommen wurden, in Frage gestellt werden. Was einst für erwiesen galt, bedarf im Licht des modernen Denkens und Forschens des Beweises und der Bestätigung. Die Wahrheitskriterien selbst sind strittig geworden. Misstrauen herrscht nicht bloß gegenüber der Gültigkeit von Ideen, sondern auch gegenüber den Motiven derer, die sie behaupten. Die Situation hat sich noch durch den Kampf aller gegen alle in der geistigen Arena verschlimmert, in der an Stelle der Wahrheit der persönliche Prestigegewinn zur begehrten Prämie geworden ist. Gebiete, die man einst völlig von uneigennütziger und objektiver Wahrheitsforschung beherrscht glaubte, sind von der zunehmenden Säkularisierung des Lebens, der Verschärfung der Antagonismen in der Gesellschaft und dem allseitigen Konkurrenzkampf der Individuen durchsetzt worden.« (Mannheim 1995 [1929]: IXf.)

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Nicht nur die fortschrittsskeptische Haltung kommt hier bei Wirth zum Ausdruck; besonders im letzten Teil des Zitats wird die leichte Verführbarkeit der Wissenschaft angeklagt, die doch, im Gegensatz zur Etablierung und daraus resultierenden Autonomie der Naturwissenschaften von der Kirche (vgl. ebd. XI), als Wissenschaft der Gesellschaften nachwievor gegen Intoleranz und institutioneller Unterdrückung zu kämpfen habe. Denn eine sozialwissenschaftliche Abhandlung zeichne sich vor allem dadurch aus, dass »jede Aussage, so objektiv sie immer sein mag, Implikationen enthält, die über die Grenzen der Wissenschaft selber hinausreichen. Da jede Aussage über eine ‚Tatsache‘ der gesellschaftlichen Wirklichkeit die Interessen von Individuen und Gruppen berührt, kann man nicht auf das Vorhandensein bestimmter ‚Fakten‘ aufmerksam machen, ohne dadurch zugleich die Einwände jener hervorzurufen, die ihre gesellschaftliche Funktion nur durch den Rekurs auf eine andere Deutung der ‚faktischen‘ Situation rechtfertigen können« (ebd. XIII). Was hat es also dann noch mit der Objektivität in der Sozialwissenschaft auf sich, wenn man zwar auf der theoriegeleiteten Ebene von Unvoreingenommenheit wissenschaftlicher Beobachtung spricht, diese aber auf der methodisch-praktischen Ebene der Beschreibung von Gesellschaftsprozessen in die Bewertung ihrer Gegenstände mündet und die Umwertung als gegebenenfalls polemische Reaktion nach sich zieht? Wirth verschiebt zunächst einmal den Blick, wie schon zuvor Ludwik Fleck, insofern, als er nicht mehr von der Objektivität, sondern von »Objektivitätsdiskussionen« (1995 [1929]: XV) spricht, und sieht in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt kein voneinander zu trennendes, sondern ineinander verschränktes Geflecht von vor allem interessengeleitetem Handeln der Wissenschaften. »Die Objektivität erscheint so in zwiefacher Sicht: in dem einen Fall sind Objekt und Subjekt diskrete und getrennte Wesen, in dem anderen liegt der Nachdruck auf dem Widerspiel zwischen ihnen. Während Objektivität im ersten Fall sich auf die Zuverlässigkeit unserer Daten und die Gültigkeit unserer Schlüsse bezieht, befasst sie sich im zweiten Falle mit dem, was für unsere Interessen erheblich ist. Besonders im sozialen Raum ist Wahrheit nicht bloß eine Art einfacher Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, sondern vom Interesse des Forschers an seinem Gegenstand, von seinem Standort, seinen Wertungen, kurz davon gefärbt, wie der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit abgegrenzt wird« (XVI).

Dem Zitat liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Beobachter des Sozialen ein Teil des Beobachteten ist und somit auch einen Teil des Gegenstandes darstellt. Nach Wirth war es die Leistung Mannheims, auf die selbstreflexive Dimension von Wissenschaft aufmerksam zu machen, auf den Umstand hinzuweisen, dass »unweigerlich sich in allem Denken, […] das Interesse widerspiegelt« (XIX) und

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aufzuzeigen, dass Denken, anders als zuvor vermutet, nicht nur Gegenstand der Logik und Psychologie sei, sondern sich innerhalb sozialer Prozesse konstituiert. Und hierin ist auch die deutliche Resonanz auf das Werk zu erklären; schließlich wirkt Ideologie und Utopie weit über die Fachgrenzen der Sozialwissenschaften hinaus in die Diskussionen der Philosophie und Politikwissenschaft hinein. Nichts Geringeres als die Frage wird aufgeworfen, ob Wahrheit seinsgebunden sei – und somit bloße Rhetorik29. Das Buch macht es sich zur Aufgabe, »eine geeignete Methode für die Beschreibung und Analyse dieses Denktypus und seine Wandlungen auszuarbeiten und die damit verbundenen Probleme zu formulieren« (4). Weiterhin wird die Position in diesem Buch und dem gesamten Fachgegenstand vertreten, dass es Denkweisen gibt, die so lange nicht verstanden werden können, als ihr gesellschaftlicher Ursprung im Dunklen bleibt, obgleich es keinen freischwebenden Gruppengeist gäbe, der dem Individuum das Denken abnimmt. Das Individuum denkt selbst, nur suche die Wissenssoziologie das »Denken in dem konkreten Zusammenhang einer historisch-gesellschaftlichen Situation zu verstehen« (ebd.). Es seien nicht die Menschen »als solche«, die denken, sondern »Menschen in bestimmten Gruppen, die einen spezifischen Denkstil in einer endlosen Reihe von Reaktionen auf gewisse typische, für ihre gemeinsame Position charakteristische Situationen entwickelt haben« (5). Die Wissenssoziologie zeichne sich in einem zweiten Merkmal dadurch aus, dass sie »die konkret existierenden Denkweisen nicht aus dem Zusammenhang des kollektiven Handelns löst, durch das wir die Welt erst in einem geistigen Sinn entdecken« (5). Mannheim macht es an dieser Stelle besonders der Logik zum Vorwurf, dass diese das individuelle Denken von der Gruppenkonstellation ebenso abkoppelt wie das Denken vom Handeln. Hierin sieht Mannheim das zentrale Problem, dem das Buch gewidmet ist. Nicht die Fähigkeit des autonomen Denkens wird in Frage gestellt, sondern in der Verflechtung von den drei Größen der Denkkollektive, individueller Denkstile und des gesellschaftlichen Handelns neu bewertet: »Unsere Bemerkungen möchten klarmachen, dass eine Vertiefung in diese Probleme und ihre Lösung den Sozialwissenschaften eine Grundlage geben und die Frage nach der Möglichkeit einer politischen Wissenschaft beantworten kann« (6). Nach Mannheim ist es wahrlich kein Zufall, in seiner Generation das Unbehagen und die Skepsis über das bisher als trivial selbstverständlich angenommene Unbewusste zu reflektieren; ein Unbewusstes, das Antrieb und Motor war für alles Denken und Handeln. »Kollektiv-unbewusste Motive« (7) nennt sie Mannheim, 29 Vgl. Speier, Hans (1985): Karl Mannheim’s Ideology and Utopia. In: State, Culture, and Society 1, 3, S. 183-197.

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die immer mehr Menschen zwingen, »nicht bloß über die Dinge der Welt, sondern über das Denken selbst zu reflektieren und nicht so sehr über die Wahrheit an sich als über die alarmierende Tatsache, dass die gleiche Welt verschiedenen Beobachtern verschieden erscheinen kann.« (ebd.) Dieses Phänomen sei nach Mannheim mit Anbeginn der historischen Moderne wie noch selten zuvor spürbar, denn die Beschleunigung sozialer Mobilität zerstöre die Illusion einer statischen Gesellschaft Stück für Stück durch die Verschärfung einer sowohl »horizontalen« als auch »vertikalen« Mobilität. Die horizontale meint die Bewegung von einer Stelle zur anderen oder von einem Land zum anderen; sie zeigt auf, unter welchen Bedingungen und Denkstilen unterschiedliche Völker leben. Dieses Bewusstsein für die interkulturellen Unterschiede alleine beschleunigt aber noch nicht den geschichtsdynamischen Prozess. Erst mit dem Bewusstsein einer verschärften vertikalen Mobilität durch Auf- und Abstieg innerhalb der gleichen Gesellschaft wird das Problembewusstsein für die Vielfalt an Denkrichtungen spürbar. Diesen Prozess der vertikalen Mobilität verschärft und beschleunigt die »Demokratisierung« (9), da mit dem Aufstieg der unteren Schichten auch ihrem Denken mehr öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird und in ihnen sich nun eine Opposition gegenüber der herrschenden Klasse herausbildet. Um diese Dynamik zu kanalisieren, existieren in jeder Gesellschaft soziale Gruppierungen, bestehend aus Experten, die für die Interpretation von Welt zuständig sind. Zementiert sich nun aufgrund allzu starker Deutungshoheit die gesellschaftliche Dynamik zu einer Statik, ist dies ein Indiz, dass diese »Intelligenz« zu einer Kaste der Magier, Brahamen oder des Klerus geworden ist. Diese Machtkonzentration, die sich aus der begründeten oder eingebildeten Notwendigkeit erklärt, einem gemeinsamen Feind die Front zu zeigen, verändert das Denken zur »Scholastik« (11). Beide Begriffe Mannheims zeichnen sich im Gegensatz zur Idee des Denkens dadurch aus, dass sie die »Möglichkeit des falschen Bewusstseins« (53, Herv.i.Orig.) einschließen. Die bisher tradierte Vorstellung von Denken wurde geleitet vom Glauben an einer Idee, die als Ganzes, Wahrhaftiges selbst unbezweifelbar als Medium der Realität gesehen wurde. Die negativen Folgen, seien es Trauer, Krieg oder Wut, blieben deswegen noch lange nicht aus; nur wurden diese Ideen als von der Norm abweichende Verirrungen betrachtet. »Hier an diesem Punkt ist ein grundlegender, historisch-substantieller Wandel eingetreten, seitdem der Mensch gelernt hat, die Ideenschicht in ihrem intentionalen Sinne nicht einfach nur hinzunehmen, sondern sie zugleich auf ihre Ideologie- und Utopiehaftigkeit hin zu prüfen« (53). Doch wie wird nun das Ideologische als falsches Bewusstsein entlarvt? Als Beispiel könnte hier der aktuelle ‚Polittalk‘ in Deutschland genannt werden, der nicht selten in eine brennende Auseinandersetzung zwischen Ideologien und Standpunkten mündet. Wenn zum Thema ‚Migrationsflucht‘ beispielsweise ein

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Vertreter des skeptisch-konservativen Flügels einwirft, dass aus dem nordafrikanischen Raum stammende Flüchtlinge mit der abendländisch-christlichen Tradition im deutschsprachigen Raum keine gemeinsame Tradition hätten und somit ihre Integrationsmöglichkeiten beschränkt seien, folgt oftmals gleich die Reaktion des linken Flügels: Diese Skepsis sei keine politisch, ethisch oder sonst wie begründete Sorge, sondern der plumpe Versuch, Menschen aus anderen Kulturkreisen unter Generalverdacht zu stellen. Darüber hinaus würden inhaltslose, aber umso polemischere Parolen wie diese den rechtsradikalen Kräften des Landes in die Hände spielen. Rassistisch seien Kommentare wie diese ohnehin. Dass sich in diesem Beispiel beide Kombattanten schnell den Verdacht des Ideologieverdachtes zuziehen, ist evident. Aber worin nun liegt in nach Mannheim das Ideologische? Mannheim unterscheidet zwischen einem »partikularen« und »totalen« Ideologiebegriff (53-60). Mit »partikular« ist die Skepsis gegenüber einer bestimmten Aussage von Ideen oder Vorstellungen gemeint, »denn man hält sie für mehr oder minder bewusste Verhüllungen eines Tatbestandes, dessen wahre Erkenntnis nicht im Interesse des Gegners liegt« (53). Nach dem obigen Beispiel wären die Kritiker dann möglicherweise mit Einzelformulierungen wie »abendländische Kultur« nicht einverstanden, würden jedoch der grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Integrationsfähigkeit zustimmen. Zum »totalen« Ideologiebegriff wandelt sich die Kritik dann, wenn die totale Bewusstseinsstruktur oder die grundsätzliche Auffassung angegriffen werden, z.B. dass die Vorstellung einer Aufteilung von westlichem und orientalistischem Denken als obsolet und nicht zielführend zu betrachten sei. Die Betrachtung auf ein Kulturgebilde oder eine Gedankenäußerung wird dann zur ideologischen, wenn ihr Begriff »funktionalisiert« wird (54). Auch wenn sich beide Parteien grundsätzlich bei der Frage über Orient und Okzident einig sind, wird dem einen Interpreten bei seiner Auslegung ein individueller, auf der »psychologischen« (ebd.) Ebene vorfindbarer Fehler unterstellt. »Noologisch« (55) aber verfährt die totale Ideologiekritik, welche die gesamte Basis des Verstehen Wollens einer Epoche oder eines Denkkollektivs umfasst: »Wenn man etwa sagt, jenes Zeitalter lebt in jener Ideenwelt, wir in einer anderen, oder jene historisch-konkrete Schicht denkt in anderen Kategorien als wir, so meint man nicht nur einzelne Gedankengehalte, sondern ein ganz bestimmtes Gedankensystem, eine bestimmte Art der Erlebnis- und Auslegungsform. Es wird eben die noologische Ebene funktionalisiert, sooft man mit den Inhalten und Aspekten auch die Form, letzten Endes die kategoriale Apparatur auf eine Seinslage bezieht.« (ebd. )

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In ihrer historischen Wandelbarkeit durchlaufen Begriffe zahlreiche Bedeutungen, je nach Konstellation ihrer institutionellen oder sozialen Träger. Da die Kategorien des partikularen und totalen Ideologiebegriffs in einer Beziehung der »Sinndualität« (57) zueinanderstehen, lassen sich auch in ihrer Geschichte zwei Strömungen verfolgen. Die Entstehung des totalen Ideologiebegriffs ist den Arbeiten der Philosophie zu verdanken; nicht als einer vom »Lebenszusammenhang abgeschnürten Disziplin, sondern gerade als letzte und radikalste Ausdeuterin eines Wandels im gesamten zeitgenössischen Kosmos« (61). Der erste Schritt vollzog sich in der Herausbildung der »Bewußtseinsphilosophie« (ebd.), mit der Auffassung, dass das Bewusstsein eine Einheit sei und durch Kohärenz in sich zusammengehalten würde. Seit Anbeginn der Aufklärung nehme hier vor allem das Subjekt eine ausnehmend wichtige Position des absoluten Bewusstseins ein, nachdem die mittelalterlich-christlich objektive Welteinheit zerfallen war. Im zweiten Schritt wurden die aus dem Bewusstsein geborenen Bewusstseinssysteme historisiert (vgl. 62). Dies sei vor allem den Arbeiten Hegels und der historischen Schule zu verdanken. Das Subjekt war nicht mehr, wie zuvor noch in der Aufklärung, eine überzeitliche Größe eines allumfassenden Bewusstseins, sondern es rücken nun die impliziten Erfahrungen aus dem Leben in den Vordergrund, sein Gefühlswandel entdeckte im Kleide der Philosophie nicht die »Historizität des Geistes«, sondern das »politisierte Leben jener Zeit« (ebd.). Aus der historisch-sozial bedingten Dynamisierung des Bewusstseins entstand dann der »letzte und wichtigste Schritt zur Schaffung des modernen totalen Ideologiebegriffes aus der historisch-sozialen Bewegung« (63, Herv.i.Orig.). Wer zuvor noch den Volksgeist-Begriff stark machte, vertrat nun das »Klassenbewusstsein, richtiger die Klassenideologie« (ebd.)30. Im historischen Bedeutungswandel des Ideologie-Begriffs sieht Mannheim eine »Doppelbewegung« dahingehend, dass eine Kontinuität der Synthese die vielfältigen Erscheinungen und Wahrnehmungen von Ideologie auf ein Zentrum zu vereinigen sucht; andererseits vollzieht dieselbe Bewegung eine Ausdifferenzierung – Mannheim spricht von »Elastischergestaltung« (ebd.) – derselben Synthese vom überzeitlichen Bewusstsein zur ausdifferenzierten Konstellation vieler Bewusstseinsebenen: »Das Ergebnis dieser Doppelbewegung ist, daß aus der zunächst fiktiven Einheit eines überzeitlichen, sich gleichbleibenden ‚Bewußtseins überhaupt‘ (das als eine solche statische Einheit niemals aufweisbar war) immer mehr ein nach historischer Zeit, nach Nationen und

30 Vgl. Weinstein, Deena; Weinstein, Michael (1982): The Problem of Individuality in Karl Mannheim's Sociology. In: Sociological Inquiry 52 (4), S. 335-348.

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sozialen Schichten differenziertes Subjekt tritt. Auch jetzt noch wird an der Einheit des Bewußtseins festgehalten (die durch die geschichtliche Forschung zu bewältigende Gehalte zerbröckeln nicht mehr in eine diskontinuierliche Mannigfaltigkeit der Ereignisse), aber die Einheit ist nunmehr eine dynamische, eine Werdeeinheit.« (ebd., Herv.i.Orig.)

Nun ist aber der Ideologie-Begriff nicht nur auf eine Partei, sondern auf alle Meinungsträger anzuwenden bzw. von allen Lagern hervorzubringen, weshalb Mannheim auch von der »Expansion des Ideologiebegriffs« (69) spricht. Die daraus sich ergebende Dynamik des Werdens sozialer Strukturen zieht nun einige Aufgaben nach sich, denn das alleinige Bewusstsein über die Parteilichkeit eines jedes jeden theoretischen Grundgebäudes erlaube es noch lange nicht, sich in diesem Gewissen gemütlich der »Denkfaulheit« (88) zu überlassen. Nur wenn das Individuum »alle entscheidend wichtigen Motivationsreihen in sich aufgenommen hat, die historisch sozial geworden sind und in ihrer realen Spannung die Gegenwartslage charakterisieren« (86f.), nur dann könne eine den aktuellen sozialen Seinslagen angemessene Lösung gefunden werden31. Zur »Bewältigung« einer jeden historischen Seinslage gehört »ein bestimmt geartetes Denken, das sich auf der Höhe der aktuellen Realproblematik« (91) bewegt und den »Konfliktstoff« übersieht. Für die wissenssoziologische Praxis hat dies wiederum zur Folge, dass sowohl in historischer als auch politischer Hinsicht gilt, dass derjenige, der nichts in beiden Größen will, auch nichts in ihnen sieht (vgl. 82). Somit wird Wissenssoziologie verstanden als eine »Situationsanalyse« (93), die ihre Begriffe und Fragestellungen aus der Interaktion von Sprache und Alltag entnimmt: »Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Hauptsätze der Soziologie weder mechanistischäußerlich noch formal, noch rein quantitative Korrelationen sind, sondern Situationsdiagnosen darstellen, in denen wir fast die gleichen Begriffe und Denkmodelle benutzen, die im wirklichen Leben für die Zwecke der Praxis geschaffen wurden. Es ist ferner klar, daß jede soziologische Diagnose eng mit den Bewertungen und unbewußten Orientierungen des Forschers verknüpft ist und daß die kritische Selbstklärung der Soziologie aufs engste mit der kritischen Klärung unserer Orientierung im Alltag verbunden ist.« (41)

31 Zur Problematik des Anspruchs auf eine die gesellschaftliche Struktur überblickende Haltung der sozialwissenschaftlichen Intelligenz im Widerspruch zur aktuellen, relativistisch geprägten Wissenschaftspraxis in sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen wie etwa dem Feminismus und der Anthropologie vgl. Turner, Bryan (1995): Karl Mannheim’s Ideology and Utopia. In: Political Studies 43, 4, S. 718-727.

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Es mag verwundern, dass der zweite Begriff im Titel des Werkes Utopie erst sehr spät, im vierten Kapitel als Widmung zum 60. Geburtstag Alfred Webers erscheint (vgl. S.169ff.). Die Struktur des utopischen Bewusstseins wird beschrieben als »Inkongruenz« (169) mit dem es umgebenden Sein, als eine »wirklichkeitstranszendente Orientierung«, die versucht, die »jeweils bestehende Seinsordnung zugleich oder teilweise oder ganz« (ebd.) zu sprengen. Nun ist an dieser Stelle zu fragen, ob es zwischen Ideologie und Utopie überhaupt einen Unterschied gibt, da beide Kategorien nicht mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmen, sondern sie mithilfe eines bestimmten Milieus, einer Gruppe oder einer spezifischen Denktradition zu verändern suchen. Mannheim sieht den wesentlichen Unterschied in der Zielgerichtetheit der jeweiligen Vorstellung von Sein und Gesellschaft; d.h. eine Vorstellung bleibt dann ideologisch, solange sich die durch sie transzendierte Seinsvorstellung in das zugehörige Weltbild einfügt. Als Beispiel führt Mannheim die mittelalterliche Kirche an (vgl. 170), welche die Verheißung auf das Paradies ins Jenseits verbannt. Somit wird die Ordnung der Kirche diesseits des Grabes stabilisiert. Erst als die Wunschbilder in das Handeln der Menschen aufgenommen wurden und mit diesem Bestreben die Ordnung der Kirche ins Wanken geriet, entstand – in Opposition zur vorherrschenden Ideologie – die umwälzende Funktion des Utopischen. »Ideologien nennen wir jene seinstranszendenten Vorstellungen, die de facto niemals zur Verwirklichung des in ihnen vorgestellten Gehaltes gelangen. Werden sie auch oft gutgläubig zu Motiven des subjektiven Handelns der einzelnen, so werden sie doch meist ihrem Sinngehalte nach im Handlungsvollzug umgebogen. […] Utopien sind auch seinstranszendent, denn auch sie geben dem Handeln eine Orientierung an Elementen, die das gleichzeitig verwirklichte Sein nicht enthält; sie sind aber nicht Ideologien bzw. sie sind es insofern und in dem Maße nicht, als es ihnen gelingt, die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren.« (171)

Nun fallen Utopien aber nicht vom Himmel, sondern sind in einem »dialektischen« (174) Verhältnis eng geknüpft an das Sein, das jene »Gedanken- und Seelengehalte« (ebd.) ex negativo, also im Mangel daran und als Ausdruck des Bedürfnisses in sich trägt: »Das Sein gebiert Utopien, diese sprengen das Sein in der Richtung auf ein nächstes Sein« (ebd.). Als Beispiele für den »Gestaltwandel des utopischen Bewusstseins« (S. 184f.) nennt Mannheim die chiliastische Bewegung der Wiedertäufer, die bürgerlich-liberale Utopie von Freiheit und Humanität, die konservative Idee sowie die Varianten der sozialistischen Utopie. Natürlich sind die Grenzen beider Begriffe schwimmend und weisen viele Schnittmengen auf. Denn wenn eine Utopie vom verheißungsvollen Zukunftsprojekt den Marsch

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durch die Institutionen bis in die höchsten Ämter überstanden hat, transformiert auch diese sich in eine Ideologie der Stabilität oder gar Statik32. Eine noch drastischere Diagnose zieht Mannheim für die aktuelle Gegenwart, vier Jahre vor der Terrorherrschaft Adolf Hitlers: Wenn nun Parteien ihren Blick auf die gesamte, weltanschaulich relevante Gesellschaftskonstellation verlieren und sich in der Konkurrenz um ihre eigenen Konzepte mit dem Ergebnis zu überbieten suchen, dass ganzheitliche Zukunftsprojekte des Utopischen verschwinden, so bleibt am Schluss nur noch das strategische Handeln um die »Beherrschung der Mannigfaltigkeit« (216). Diese Zerbröckelung utopischer Zielstrebigkeit führe zu einer Trockenlegung der historischen Sicht, zu einer Versachlichung, die unter dem Diktat eines lähmenden Rationalismus ironischerweise in den Irrationalismus des Faschismus führen sollte. »Für die Zukunft ergibt sich daraus, dass eine absolute Ideologie- und Utopielosigkeit prinzipiell zwar möglich ist in einer Welt, die gleichsam mit sich fertig geworden ist und sich stets nur reproduziert, dass aber die völlige Destruktion der Seinstranszendenz in unserer Welt zu einer Sachlichkeit führt, an der der menschliche Wille zugrunde geht. Hierbei zeigt sich auch der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden Arten der Seinstranszendenz: Während der Untergang des Ideologischen nur für bestimmte Schichten eine Krise darstellt und die durch Ideologieenthüllung entstehende Sachlichkeit für die Gesamtheit immer eine Selbstklärung bedeutet, würde das völlige Verschwinden des Utopischen die Gestalt der gesamten Menschwerdung transformieren. Das Verschwinden der Utopie bringt eine statische Sachlichkeit zustande, in der der Mensch selbst zur Sache wird.« (224f.)

Die Zukunft verweigert sich zwar jeglicher Prophetie, da sie »zwangsläufig in reine Determination« (223) mündet und die Menschen ihrer Möglichkeiten von Wahl und Entscheidungen beraubt werden, deshalb solle auch nicht nach einer Erkenntnis für die Zukunft gefragt werden, sondern nach dem Wollen. Es ist vor allem dies die vornehme Aufgabe einer »soziologischen Bewusstseinsgeschichte« (224), die in einer dargestellten Epoche wesentlichen »Wandlungen der geistigen Struktur von den Transformationen des Utopischen« (ebd.) zu erfassen, damit

32 Es ist dies wohl auch der Grund, weshalb nach Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe von Ideologie und Utopie besonders die Kritik aus dem linken Lager mit mehr als 30 Beiträgen besonders laut war. Vgl. Ashcraft, Richard (1981): Political Theory and Political Action in Karl Mannheim’s Thought. Reflections upon Ideology and Utopia and Its Critics. In: Comp. Stud. Soc. Hist. 23, 1, S. 23.

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dann die Bedeutung der »Option« im Ausdruck des Wollens formuliert werden kann33.

4.6 Z USAMMENFASSUNG M ETHODIK I Die bisherigen Lektüren haben gezeigt, dass Mannheims Blick auf die Wissensproduktion stark durchsetzt ist von binären Leitdifferenzen, die sich gemäß dem Konzept der Konstellation immer wieder in der historischen Dynamik hervortun; seien es die Oppositionen ‚Subjekt-Objekt‘, ‚Kultur-Natur‘, ‚Verstehen-Erklären‘, ‚Aufklärung-Romantik‘, ‚progressiv-konservativ‘ oder ‚Utopie-Ideologie‘. Ein Forschungsdesiderat wäre es hier, die Argumentationsstruktur Mannheims in Beziehung zu setzen mit den im 20. Jahrhundert noch folgenden diskurs- und kommunikationstheoretischen Konzepten anhand der Frage nach dem Stellenwert terminologischer Ambivalenzen. Oder wäre es nicht doch lohnender, nach einer triadischen Struktur zu fragen? Denn die Dualismen werden in den Arbeiten Mannheims immer mit konkreten Beispielen angereichert, die dann quasi als Tertium Comparationis eine Veranschaulichung in die Perspektivität differierender Wirklichkeitskonstruktionen erlauben. Festgehalten werden kann jedenfalls die durchgehende Bezugnahme Mannheims auf den Argumentationsrahmen seiner Dissertation, der im paradigmatischen Wechsel von der Philosophie zur Wissenssoziologie erhalten bleibt. Keineswegs bildet die Mannheim’sche Wissenssoziologie

33 Inwieweit der aus dem Frühwerk zur Entstehung einer Soziologie des Denkens stark gemachte Begriff der Konstellation wieder an Relevanz für Ideologie und Utopie gewinnt, zeigt der Aufsatz von Albrecht, Andrea (2010): »Im Kern läuft Mannheims wissenssoziologische Arbeit damit auf eine Herausstellung der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Positionen und ihres relationalen Zusammenhangs hinaus. In der Tradition M. Webers enthält er sich dabei bewußt einer eigenen, genuin politischen Positionsnahme, identifiziert sich beispielsweise mit keinem der in Ideologie und Utopie charakterisierten Intellektuellentypen (Sozialisten, Konservative, Liberale). Doch er nutzt die wissenssoziologische Metaebene für eine andere Form des Engagements, insofern er für die Aufrechterhaltung der konstellativen Dynamik durch eine intellektuelle Haltung votiert, die sich nicht mit der Tendenz zur ‚Sachlichkeit‘ und ‚Spannungslosigkeit‘ zufrieden geben und ‚beruhigen‘ […] will, sondern sich bewußt für die ‚dynamische Mitte‘ […] und den aus dieser Mitte heraus betriebenen Erhalt der utopischen Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten der Konstellation engagiert.« (137)

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die absolute Repräsentationsform des Wissens; durchaus jedoch nahm sie in Anspruch, dass sie ihren Blick auf die Gegenwart fokussiert und somit auf der Höhe ihrer Zeit den widerstreitenden, konkurrierenden Weltanschauungen Rechnung trägt. Der damit verbundene Anspruch auf Repräsentation einer Epoche wird eingelöst durch die historisch erfahrbare, empirische Bestandsaufnahme verschiedener Erfahrungsräume, die als Utopien das gesellschaftliche Wollen für die Zukunft formulierten. Dies wurde in der Lektüre von Konservatismus deutlich, wonach die Romantik ihr Fundament im Denken der Aufklärung vorfindet und als Antithesis zur Thesis eine Gegenbewegung antrat gegen die Durchrationalisierung und Ökonomisierung der Arbeitswelt und sich damit wieder einem neuen Prozess der Rationalisierung unterordnete. Man könnte das Bild auch übertragen auf das Problem der Generationen und den zuvor besprochenen Vortrag Seele und Kultur. In beiden Texten wird ‚Generation‘ begriffen als ein unkündbarer Zusammenhang unterschiedlicher Weltanschauungen auf ein Zentrum. In Ideologie und Utopie ringen Ideologeme um die Meinungshoheit einer Ordnung der intersubjektiv stabilen Wissens- und Wahrheitsfähigkeit. Das Wollen – und hier tritt der aufklärerische Wille zur Gestaltung am deutlichsten hervor – ist Ausdruck einer die Ideologie umstürzenden Utopie. Mit Ideologien werden aber Ideengehalte bezeichnet, die gemäß Mannheim nie zur absoluten Verwirklichung ihres totalen Ideengehaltes gelangen. Führt man alle drei Beispiele auf eine Synthese, wäre das Mannheim’sche Verständnis von ‚Relativismus‘34 als Denken im relationalen Bewusstsein eines übergeordneten Systems zu verstehen, dessen historische Wandelbarkeit im Kaleidoskop der Weltanschauungen immer neue Konstellationen hervorbringt.

34 Zur Kontroverse Relativismus und Relationismus vgl. auch Seidel, Markus (2011): Relativism or Relationism? A Mannheimian Interpretation of Fleck’s Claims About Relativism. In: Journal for General Philosophy of Science, 42, 2.

5. Methodik II: Wissenschaftshistorische Kontexte

Die Kategorie ‚Wahrheit‘ ist somit kein überzeitlich-ahistorisches Axiom, sondern als Attribut im Sinne eines wahrheitsfähigen Konzeptes zu verstehen, das seine Akkreditierung durch die für Gesellschaften relevanten Verhandlungen und Debatten erlangt. Dies drückt der Begriff der »Uneigentlichkeit« aus, das Eingeständnis der Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, perspektivgebundenes Wissen zu produzieren rund um diejenigen Debatten, welche heute in Anlehnung an Ernst Troeltsch 1922 veröffentlichten Aufsatztitel Krise des Historismus subsumiert werden1. Der Grund für diese Historisierung von Wissenschaft während der Zwischenkriegszeit ist gewiss im ersten Gesamterlebnis der Menschheit zu suchen, dem 1. Weltkrieg. Durch die Erfahrung dieser Urkatastrophe wurde der Glaube erschüttert, technischer Fortschritt gehe stets einher mit einem kulturellen und zivilisatorischen. Diesem globalen Gesamterlebnis gingen partikulare Erfahrungen von sozialen Umwälzungen, Industrialisierung und Urbanisierung voran. Ökonomischer Aufstieg wurde mit der Massenausbeutung und dem sozialen Abstieg zahlreicher Menschen bezahlt, politische Vielfalt bildete die einheitliche Erfahung kurz vor Kriegsausbruch, als parlamentarische Demokratien und totalitäre Monarchien um die Herrschaft in Europa und der ganzen Welt rangen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wurde zur Lebenserfahrung einer Generation. Die nun formulierte Kritik vermittels kollektiv, globaler Katastrophenerfahrung führt zur Auflösung einer Metaphysik des Wahren und Historischen sowie

1

Vgl. Troeltsch, Ernst (1961 [1922]): Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch; das logische Problem der Geschichtsphilosophie. Tübingen: Scientia-Verlag, S. 1-110. Vgl. auch Laube (2004): Karl Mannheim und die Krise des Historismus sowie Knoblauch (2005): Wissenssoziologie, S. 78-94.

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zum Abbau überzeitlichicher Normensysteme, wie sie die kirchlichen im Mittelalter verkündeten oder die vernunftgemäßen der Frühaufklärung erklärten. Der Anspruch des Kulturhistorikers, einen lückenlosen Zusammenhang im Sinne einer entwicklungsgeschichtlichen Vollständigkeit aus dem Studium von losen Fragmenten wiederherzustellen, wurde ebenso für obsolet erklärt wie auch das Selbstverständnis einer Wissenschaftsgeschichte als vernunftgeleitete Alternative zum religiösen Weltgericht. Vielmehr beschränkte man sich auf den Anspruch, »allenfalls eine Fußnote zu einem Überlieferungszusammenhang«2 herzustellen, »der auch noch anders als mit den Methoden einer modernen Einzelwissenschaft vergegenwärtigt werden kann« (Lichtblau 1996: 19). Das durchaus diffuse Gefühl eines Krisenbewußtseins der Wissenschaft wurde außerdem genährt durch eine stetige, soziale Auflösung des Bildungsbürgertums in den Großstädten. Die Eliten fördernden Institutionen der Gymnasien und Universitäten gerieten mit ihrem humanistischen Erziehungsideal in zunehmenden Konflikt mit der ökonomisierten Weltanschauung funktionierender Großbetriebe. Diese und ähnliche Fragen waren es, die im historischen Umfeld um Karl Mannheim zu einer tief greifenden Diskussion um Sinn und Zweck von Wissenschaft führten. Das Unbehagen erhärtete sich in einer Bündelung von Fragen, ob beispielsweise eine Trennung zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Wissenschaft angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen der Moderne notwendig sei; und wo wäre dann diese Trennung zu ziehen? Im folgenden fünften Kapitel wird die Weltanschauungs-Interpretation Mannheims als ein mögliches Modell für die folgenden Literaturanalysen vorgestellt. Zuvor jedoch soll die dokumentarische Interpretation im Ausgang jener kulturhistorisch wirkmächtigen Debatten der 1920er Jahre kontextualisiert werden anhand eines begriffshistorischen Ansatzes. Der Essay Mannheims wird getragen von den unter Zeitgenossen viel diskutierten Fragen nach Sinn, Zweck und Gehalt des ‚Historimus‘, der ‚Objektivität von Erkenntnis‘ sowie nach der Beziehung von ‚Stil‘ und ‚Weltanschauung‘. Die Explikation dieser Begriffe dient der Bereitstellung historisch-lexikalischen Wissens sowie der ideengeschlichtlichen Kommentierung Mannheims Weltanschauungs-Interpretation. Die Zusammenfassung in Kapitel 6 bezweckt eine Zwischenbilanz, die darin besteht, durch die Bezugnahme historischer Quellen auf aktuelle Fragen der IKLW das innovative Moment Mannheims Weltanschauungs-Interpretation zu unterstreichen.

2

Lichtblau, Klaus (1996): Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt: Suhrkamp, S. 19.

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5.1 H ISTORISMUS ‚Historismus‘ als Begriff ist auch aktuell sehr umstritten, seine semantischen Facetten vielfältig. Zum einen ist er Ausdruck einer Denkform und Wissenschaftshaltung, die an der Entwicklung der Geisteswissenschaften wesentlichen Anteil hatte und hat. Zum anderen schwingt dem Begriff ein gewollt oder ungewollt polemischer Unterton bei. Rüsen3 unterscheidet hierbei drei verschiedene Qualitäten des historischen Denkens. Man nennt 1.) ein Denken »historistisch« (Rüsen 1993: 17), wenn menschliches Handeln in seiner jeweiligen zeitlichen Besonderheit reflektiert und die damit zu erklärende Vergangenheit als ein »willkommener Beitrag zur Kultur der Gegenwart« (18) gewertet wird. Denken kann 2.) als »historistisch« angesehen werden, wenn es den Geist »handlungslähmend« (18) auf die Vergangenheit ausrichtet und zu einer einseitig negativen Bewertung der Vergangenheit aufgrund der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Umstände kommt. Man nennt 3.) ein Denken dann »historistisch«, wenn es durch einen gewissen Typ der Geschichtswissenschaften repräsentiert wird; dies ist nach Rüsen (18) die geläufigste Vorstellung von Historismus als eine innerhalb der geisteswissenschaftlichen Disziplinen etablierte Wissenschaftsepoche zwischen der Aufklärung und dem Umbruch in die historische Moderne, obgleich bereits innerhalb der Aufklärung wichtige Meilensteine zur Etablierung dieser Wissenschaftshaltung gesetzt wurden. Nach Rüsen (ebd.) existiert daneben auch eine polemische Bedeutung von Historismus als ein Verständnis von Geschichtswissenschaft, in dem die wertfreie Erschließung historischer Fakten und eine neutrale Stellung der historischen Erkenntnis im politischen Meinungskampf ihrer Gegenwart vertreten wird oder eine Betrachtung von Vergangenheit, die sich darum bemühe, »diese mit eigenen Wertmaßstäben zu messen« (ebd.). Wissenschaftshistorisch erleben die Debatten um den ‚Historismus‘ nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Hochkonjunktur, als sich vor allem in Deutschland nach der Erschütterung politischer und kultureller Normen das Verhältnis von Geschichte, Gesellschaft und Entwicklung wieder auf dem Prüfstand menschlichen Zusammenlebens befand4. Plakative Etiketten bleiben als Beschreibung komplexer Sachverhalte problematisch. Ungeachtet dieser trivial für selbstverständlich anmutenden Tatsache ist

3

Rüsen, Jörn (1993): Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1082), S. 17-29.

4

Troeltsch, Ernst (1922): Der Historismus und seine Probleme. Tübingen: Mohr. (Gesammelte Schriften, Bd. 3).

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es aber nicht unzutreffend, die bisherigen Lektüreergebnisse zu Mannheims Methodenskizzierung in einer Kulturbeschreibung zu suchen, die Komplexität nicht reduziert, sondern sich auf der Grundlage erkenntnistheoretischer Perspektivengebundenheit ihrem Gegenstand nähert. Keineswegs wird hier die Wahrheit als ontische Größe in Frage gestellt, sondern vielmehr der Glaube, dass Wahrheit historisch unveränderbar sei. In Kapitel V Wissenssoziologie des Handwörterbuches der Soziologie 1931 (abgedruckt und zitiert auch in Mannheim (1995 [1929]: 244), heißt es: »Die wissenssoziologischen Analysen bereiten die direkte Diskussion erst vor, in einer Zeit, die ihre Standortgespaltenheit und die Uneigentlichkeit ihrer Denkbasis entdeckt hat und die Einheit auf höherer Stufe herzustellen bestrebt ist.« Wahrheit könne nur insofern beansprucht werden, als sie der gelebten Erfahrung des Wahrheit Suchenden entspricht. Demzufolge hat der Historismus einen universalen Anspruch auf das Denken und Werden aller Gesellschaften, impliziert aber gleichzeitig die relative Standort-, Zeit- und Kulturgebundenheit moderner Gesellschaftsformen. Dass sich das Denken im historischen Zusammenhang entwickelt, ist unstrittig; wie sich jedoch weltanschauliche Zugänge zu Staat, Gesellschaft, Moral, Religion oder Kunst aufbauen, ist entwicklungshistorisch relational zu bewerten. Wenn sich jedoch unveränderliche Wahrheiten zugunsten eines wandelbaren Lebensstromes auflösen, wird auch das überzeitliche Wertegerüst von Gesellschaften in Frage gestellt, womit das zentrale Problem einer konsequenten Historisierung umrissen ist und in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen heftig diskutiert wurde; die Wissenschaften steckten in der Krise (vgl. und die Idee eines zeitüberdauernden System der Werte wurde ein Problem der »Ethik«5. Dieser Epochenproblematik hat sich beispielsweise Lothar Köhn (1974)6 angenommen und unternahm eine historiographische Neubewertung der Literatur der Zwischenkriegszeit. Ernst Troeltschs titelgebende Formulierung Überwindung des Historismus wurde von Köhn zum Paradigma, woraus eine Definition des Historismus’ entwickelt wurde: »Historismus im definierten Sinn kann für diese Jahre nur unter den besonderen Aspekten einer Überwindung als epochenbestimmend gesehen werden. Wenn sich darin so etwas wie ein ‚transzendentaler Horizont‘ zeigt, von dem her möglicherweise auch die Literatur der Epoche als ‚Einheit‘ – in der Vielzahl widersprüchlichen ‚Tendenzen und Traditionen‘ 5

Troeltsch, Ernst (1966 [1924]): Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vorträge, eingeleitet von Friedrich von Hügel. Neudruck der Ausgabe Berlin 1924. Aalen: Scientia, 3.

6

Köhn, Lothar: Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933. In: DVjs 48 (1974), S. 704-766 (Teil I) und Bd. 49 (1975), S. 94-165 (Teil II).

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(Sengle) natürlich – begriffen werden kann, so geht es nicht primär um den ‚Einfluß‘ der Philosophie auf die Literatur, der ja an sich bedeutsam genug ist. Vielmehr vollziehen sich im Bereich der Literatur Wandlungen […], die als parallele Versuche innerhalb jenes Horizontes zu verstehen sind, der im philosophisch-theoretischen Bereich vielleicht am genauestens faßbar wird.« (Köhn Teil I, 752)

Genau wie im Zitat von Troeltsch zuvor erfüllt ‚Historismus‘ im vielfältigen Orchester literarischer Stile einen bindenden, gemeinsamen Horizont, der zum Kriterium für die Literatur der Zwischenkriegszeit wird. Die Vielzahl widersprüchlicher Tendenzen und Strömungen kann als epochenstiftende Einheit betrachtet werden. Auch in Tröltschs gleichnamigem Vortrag wird das geschichtsphilosophische Bild eines Horizontes gezeichnet, der sich aber in Raum und Zeit seit der Französischen Revolution stark geweitet hat. Die »Mannigfaltigkeit« und »Bewegtheit« (Troeltsch 1966 [1924]: 2) aller Weltkulturen mache die Konstruktion von evolutionistischen Fortschrittsreihen insofern schwierig, als die zentrale Idee Risse und Sprünge zeigte. »Die Idee der europäischen Humanität und der zugehörigen Staats- und Gesellschaftsordnung wurde relativiert, kritisch zersetzt, wich allerhand Zukunftsplänen oder Pessimismus oder dem rein materialistischen Sinn für Interessen, die nur mit Gewalt zu verwirklichen sind« (ebd. 3). Es ist für Troeltsch unstrittig, dass sich der historische Relativismus in allen Bereichen des Lebens bemerkbar macht. »Das wirkliche Lebensproblem liegt in der Frage nach den Möglichkeiten, wie weit eine begrifflich gesicherte und geklärte Ethik ihn bändigen kann« (4). Eine Philosophie wie die Ethik bewertet das menschliche Handeln, nur setzen sich die Normen einer Ethik aus verschiedenen Quellen zusammen und sind dem Strome der historischen Verzeitlichung unterworfen. Troeltsch geht es nicht darum, Werte aus dem Studium der Geschichte abzuleiten, sondern um die Einsicht, dass jede historische Explikation standort- und perspektivgebunden und somit nie in Gänze frei von Wertung sein könne, was Troeltsch vor allem am Beispiel der Religion und der Rolle des Christentums exemplifiziert7. Die Krise des Historismus offenbart sich in der Eichsicht, dass jeder Versuch einer Deduktion 7

»Die europäische Idee der Persönlichkeit, ihres ewigen göttlichen Rechtes, des Fortschrittes zu einem höheren Reich des Geistes und Gottes, die ungeheure Energie der Ausbreitung und der Verbindung von Geistlichem und Weltlichem, unsere Sozialordnung, unsere Wissenschaft, unsere Kunst: all das steht bewußt und unbewußt, gern und ungern auf dem Boden dieses völlig entorientalisierten Christentums. Die Geltung des Christentums besteht vor allem darin, daß wir nur durch es geworden sind, was wir sind, und nur in ihm die religiösen Kräfte behalten, die wir brauchen. Ohne es verfallen wir in ein selbstmörderisches Titanentum oder in entnervende Spielerei oder in gemeine Roheit.« (Troeltsch 1966 [1922] 77)

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von Wertesystemen – sei es die der Vernunft oder jene des Glaubens oder der Evolution – apriori in der Fülle, Spannung und Kreuzung vielfältiger Kulturwerte erlischt. Die Chance dieser Krisis sieht Troeltsch im Vorgehen einer »AposterioriKonstruktion, die in erster Linie Voraussetzungen, Geschichte und Schicksal des eigenen Kulturkreises kennen muß« (39). Somit sind jeder Kultursynthese bestimmte Möglichkeiten vorgeschrieben, »in denen nichts anderes liegt als die historische Individualität des eigenen Kulturkreises« (ebd.). Insofern wird der Grundgedanke vertreten, dass jeder Wert seinen Maßstab aus der Vergangenheit gewinnt und so umgedeutet wird, dass er eine bestimmte Richtung für die Zukunft einnimmt. Der historische Gegenstand, sei es ein Ereignis oder eine historische Persönlichkeit, wird konstituiert »durch den Begriff der individuellen Totalität« (1961 [1922]: 71). Wenn sich Gesellschaften als solche Einheiten darstellen, liegt das in der relativen Einheit von Sinn und Wert, den sie für sich zugrunde gelegt haben. Die Problematisierung wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen ist sicher selbst ein Spiegel jener Zeit der kulturellen sowie politischen Zerrissenheit im Deutschland der 20er Jahre. Aber Mannheim sieht in der Historisierung von Wahrheit einen wichtigen Weg zur weiterführenden Erkenntnis weltanschaulicher Prozesse, wie er in seiner 1924 veröffentlichten Schrift Historismus (246)8 darlegt: »Der Historismus […] ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlichkulturelle Wirklichkeit betrachten. Er ist nicht ausgeklügelt, er ist kein Programm, er ist der organisch gewordene Boden, die Weltanschauung selbst, die sich herausbildete, nachdem das religiös gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm säkularisierte Weltbild der Aufklärung mit dem Grundgedanken einer überzeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte.« All dies bedeute aber keineswegs, dass man den Historismus wie ein Schicksal hinnehmen müsse, »an dem man nichts ändern muss« (247). Den ‚Historismus‘ hätten wir uns selbst geholt, »seitdem die Geschichte selbst aus der historistischen Weltanschauung herausgeschrieben wird. Nicht die Geschichtsschreibung hat uns den Historismus gebracht, sondern der Geschichtsprozess hat uns zu Historisten gemacht« (ebd., Herv.i.Orig.). Aufgabe und Ziel des historistischen Denkens müsse es nun sein darzustellen, wie in einem »gleichzeitigen Stadium die soeben isoliert betrachteten Motive auch untereinander organisch zusammenhängen. 9 8

Mannheim, Karl (1980 [1922-25]a): Historismus. In: Ders.: Strukturen des Denkens, S. 246-298.

9

Es fällt auf, dass ‚Historismus‘ hier zur wissenschaftlichen Programmatik erhoben wird, während Karl Mannheim im Konservatismus den Historismus als Phänomen und reaktionäre Dynamik gegen alle Tendenzen des Umbruchs versteht: »Der Historismus ist (…) ein äußerst komplexes und vielschichtiges, auch sozial differenziertes Gebilde, in

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Dass also der geistige Strom nicht in isolierten Kanälen der einzelnen Lebens- und Kulturgebiete sich fortwälzt und emporwächst, sondern in einem jeweiligen Stadium sich die einzelnen Motive gegenseitig bedingen, Teil und Funktion einer Totalität sind« (249). Der Historismus wird somit für Mannheim gemäß Tokunaga 10 ein Konzept der Ideologienforschung und somit die Antwort auf die durch ihn selbst aufgeworfene Frage, ob sich denn überzeitlich geltende Kategorien u.a. der Vernunft, des Fortschritts und der Humanität überhaupt noch als tragfähig erweisen.

5.2 R ELATIONALE O BJEKTIVITÄT 5.2.1 Georg Simmel: Wechselwirkung von Form und Inhalt In Seele und Kultur begreift Mannheim im Objekt ein Medium, das es dem Menschen erlaubt, die eigene auf sich gerichtete Entfremdung zu überwinden und zu sich selbst zu gelangen: »Der unerlöste Mensch verliert sich, wenn er seinen Standort außerhalb des Geschehens einnimmt, da er den Spuren seiner Seele nur durch eine Wendung seines Lebens und Handelns nach außen folgen kann. […] Wenn man nun die Frage aufwirft, ob denn die der Seele fremden Geschichtsgestaltung für sie einen Sinn haben könne, muss die Antwort rückschreitend zum Verhältnis des einzelnen (…) zu seinem Werk gesucht werden.« (Mannheim 1964 [1917]: 70) Deutlich erkennbar ist hier die Anknüpfung Mannheims an Georg Simmels Grundlagentext zur Kulturphilosophie Der Begriff und die Tragödie der Kultur (2009 [1911])11. Auch bei Simmel sehen sich im Dualismus von Subjekt und Objekt die Ideen von Kultur in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis gegenüber, denn anders als das Tier ordne sich der Mensch nicht fraglos in die natürliche

seinem wesentlichen Punkte aber konservativen Ursprungs. Er entstand überall als politisches Argument gegen den revolutionären Bruch mit der Vergangenheit – und ‚Geschichtsbetrachtung‘ wird zu Historismus dort, wo man nicht nur historische Tatsachen liebevoll gegen Gegenwartstatsachen ausspielt, sondern das ‚Werden‘ als solches empathisch erlebt« (Kettler 1984:156). 10 Tokunaga, Makoto (1958): Karl Mannheim und die Probleme des Historismus. In: Shakaigaku Hyoron, JSR 9 (1), S. 17-31. 11 Simmel, Georg (2009 [1911]): Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ralf Konersmann (Hg.): Grundlagentexte Kulturphilosopie. Benjamin, Blumenberg, Cassirer, Foucault, Lévi-Strauss, Simmel, Valéry u.a. Hamburg: Meiner, S. 55-76.

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Begebenheit der Welt ein, sondern reiße sich von ihr los und seine Seele finde in zahlreichen Gebilden seine »zweite Instanz« (55). Bei Simmels Überlegungen findet sich bereits im Verlauf der Kulturstadien die wachsende »Tragödie« (ebd. 67) einer Entfremdung des subjektiven Geistes von der Kultur, worin beide übereinstimmen: »Die erste Feststellung, die wir nun machen müssen, ist, dass das Werk in einem Sinne mehr, in einem anderen Sinne weniger als sein Schöpfer ist. Das Werk ist weniger, da es stets auf den Schöpfer, der es gedacht, getan oder dargestellt hat, zurückweist: Der Gedanke bedeutet etwas und weist auf den Erlebnisstrom hin, den er zu erfüllen sucht. (…) In einem anderen Sinne aber ist das Werk mehr als die Seele, die es schafft, denn es folgt seinem eigenen Gesetz. Während die Seele für uns chaotisch und undurchdringlich bleibt, lässt sich der Stoff nach seinen besonderen Gesetzen zu einem geschlossenen Gefüge formen.« (Mannheim 1964 [1917]: 71)

Es ist die Auswahl von Form, Material und Inhalt, die dem Kulturobjekt eine gewonnene Distanz zu der schöpferischen Seele verleiht und ihm eine selbstständige Wirklichkeit zugesteht. Dies liege nicht zuletzt an der Tatsache, dass der Mensch »leeren« Kulturobjekten eine andere oder inadäquate Sichtweise abgewinnen kann. Mit der Verzeitlichung des Werkes können dann ganze Traditionslinien begründet werden, die sich auf Form und Inhalt des Werkes berufen, jedoch bei zunehmender zeitlicher Distanz eine sukzessive Entfremdung vom Werk erfahren. Dieser Prozess spalte nun – wie auch bei Simmel – die »Seele« vom Werk ab und nach Ansicht Mannheims wird die wissenschaftliche Theorie zum »Erbe der entfremdeten Kunstschöpfung« (ebd. 76). Wenn Menschen aus ein und demselben Erlebniszusammenhang meinten, das wahrheitsgemäß ‚reine Gefüge‘ von Kulturobjektivationen zu sehen, hänge das vor allem mit ihrer historischen Gebundenheit an gesellschaftlichen Sehgewohnheiten zusammen. Mannheim spricht der »gegenseitigen Abhängigkeit« (ebd. 84) objektiver und subjektiver Kultur, dem In-Beziehung-Setzen beider Existenzen das Wort: »Die objektive Kultur umgibt uns wie ein Leviathan, aber die kann ihr Eigenleben ohne die Hingabe und Mitarbeit des einzelnen nicht weiterführen und entfalten« (ebd.). Andererseits entgehe dem Individuum seine eigene Erlösung, wenn es sich die objektive Kultur nicht immer wieder aufs Neue aneigne. In seiner erstmals 1908 veröffentlichten Schrift Das Problem der Soziologie12 begreift Simmel das »Wissen des Wahren« als eine »Waffe im Kampf ums Dasein 12 Simmel, Georg (2016 [1908]): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 8. Auflage. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Wissenschaft, 811).

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[…] sowohl gegenüber dem außermenschlichen Sein wie in der Konkurrenz der Menschen untereinander« (Simmel (2016 [1908]). Nach Simmel hat das »selbstherrliche« Erkennen der Wissenschaft seine Beziehung zu den »Interessen der Praxis« (ebd.) keinesfalls abgebrochen. Die Gegenstände der Soziologie verwirklichen sich nur im menschlichen Bewusstsein und unterliegen den Voraussetzungen desselben. Schwierig wird es, einen Gegenstand für die Soziologie zu definieren, denn das empirisch-Gegebene bestand schon lange, bevor sich das Fach der Soziologie konsolidiert hat. Stattdessen hat man seinen Begriff wie die Grenze auf einer Landkarte eingeschrieben, ausgeschnitten und zurecht geformt. Dem Gesellschaftsbegriff nähert sich Simmel anhand der Gegenüberstellung von »Form« und »Inhalt« (vgl. 17ff.). Inhalt ist all das, »was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, […] psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, dass daraus […] die Wirkung auf andre« (18) entsteht. Jedoch sind diese Motive noch nicht sozialen Wesens, sie bilden es erst, »indem sie das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung gehören« (18f.). 13 Simmel vergleicht das Bild der Gesellschaft mit dem Bild einer »Kugel« (23), die einerseits als bestimmte »geformte Materie« erscheint, andererseits die bloße Gestalt im mathematischen Sinne, die es der geformten Materie im ersten Sinn erlaubt, Kugel zu werden. Genauso sieht die Soziologie ihr Objekt in allem, was innerhalb der Gesellschaft vor sich geht oder, im zweiten Sinne, all die Kräfte und Beziehungen, durch die die Menschen sich vergesellschaften. Die Aufspaltung eines subjektiv gemeinten Sinnes und objektiv gegebenen Gegenstandes ist somit für Simmel nicht mehr von Relevanz, da konkrete Inhalte wie Triebe, Motive oder Interessen das soziale Apriori für Vergesellschaftung ausmachen. Die Frage, wie Natur möglich sei (vgl. ebd.: 42f.), könne nur vermittels der Einsicht beantwortet werden, als ‚Natur‘ nur als ‚Vorstellung von Natur‘ möglich sei. Mit der Anlehnung an Simmels Unterscheidung eines subjektiven und objektiven Kulturbegriffs

13 Weber erhebt gegen Simmel den Vorwurf, im Rahmen seiner soziologischen Methode nicht zureichend zwischen dem Verstehen der Motive der Akteure und dem durch den Forscher rekonstruierten »objektiven Sinnzusammenhang« zu unterscheiden (vgl. Lichtblau 1994: 539). Betont Simmel hingegen, dass Wechselwirkung auch Vergesellschaftung sei, so hebt er bespielsweise die soziale Funktion des Geldes hervor, indem er nicht das Geld, sondern die Wertfrage nach dem Geld stellt.

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figuiert die Gesellschaft zu einem Raum der Interaktion zwischen individueller Handlung und gesellschaftlicher Ordnung14. »[W]as wir Natur nennen, ist eine besondre Art, auf die unser Intellekt die Sinnesempfindungen zusammensetzt, anordnet, formt. Diese ‚gegebenen‘ Empfindungen, des Farbigen und Schmeckbaren, der Töne und der Temperaturen, der Widerstände und der Gerüche, die in der zufälligen Folge subjektiven Erlebens unser Bewußstsein durchziehen, sind für sich noch nicht ‚Natur‘, sondern sie werden es durch die Aktivität des Geistes, der sie zu Gegenständen und Reihen derselben, zu Substanzen und Eigenschaften, zu ursächlichen Verknüpftheiten zusammenstellt« (42).

5.2.2 Max Webers ‚Idealtypus‘ Die Einsicht in die Partialität wissenschaftlichen Arbeitens lässt Zweifel wach werden an der Haltung und Profilbildung nicht nur der Wissenschaft als Sache, sondern vor allem auch des Wissenschaftlers in Person selbst. Unbestritten ist jedoch in vielfacher Hinsicht Max Webers (1864-1920) Stellung in der Sozialwissenschaft. Zwar postuliert Weber ein wissenschaftliches Objektivitätsideal, jedoch erfordert dies zuallererst eine Begründung, was unter ‚Objektivität‘ auf dem Gebiete der Kulturwissenschaften verstanden werden kann. Neue Schwerpunkte und Interessen werden selektiert, je nach ihrer Wertbeziehung innerhalb des Faches und außerhalb zu weltanschaulichen Konstellationen. Nun ist es keineswegs selbstverständlich, Max Weber an die prominente Stelle wissenssoziolgoischer Fachimplikationen zu setzen. Gleichwohl lassen sich implizite Ansätze einer Wissenssoziologie auch in seinen zentralen methodologischen Werken identifizieren. »Als grundlegend für seinen Ansatz kann die Vorstellung eines wechselseitigen Wirkungszusammenhangs zwischen institutionellen Prozessen und Deutungsprozessen bezeichnet werden« (Endreß 2007: 42)15. 14 Vgl. Lichtblau, Klaus (1994): Kausalität oder Wechselwirkung? Max Weber und Georg Simmel im Vergleich. In: Gerhard Wagner (Hg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1118, S. 564: »Simmel geht von einer grundlegenden Zirkularität des menschlichen Erkennens aus, der zufolge das äußere Geschehen nur nach Analogie raumzeitlicher, das heißt ‚äußerer‘ Bestimmungen symbolisch gedeutet werden können. Beide Analogiebildungen stehen dabei nicht im Verhältnis von ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ zueinander, sondern finden gleichzeitig statt bzw. erzeugen sich wechselseitig und verhalten sich insofern korrelativ zueinander.« 15 Endreß, Martin (2007): Max Weber. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK-Verl.-Ges (Erfahrung – Wissen – Imagination, 15), S. 42-55.

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Webers Soziologie rückt zwei Probleme in den Vordergrund: »die Interessen, ihre Formierung, die Konflikte zwischen ihnen, und die Ideen, die Wertvorstellungen, auf die sich das Handeln der einzelnen und der Kollektive bezieht und durch die Institutionen begründet und legitimiert werden« (Lepsius 2009: 31)16. Als ein historisches Zeitzeugendokument für die geschichtsphilosophischen Debatten um Pluralität und Kultursynthese der historischen Moderne kann Webers 1919 veröffentlichter Aufsatz Wissenschaft als Beruf gelesen werden (vgl. Mommsen 1992: 80)17, den Weber am 7. November 1917 auf Einladung durch den Freistudentischen Bund in München hielt18: »In der heutigen Zeit ist die innere Lage gegenüber dem Betrieb der Wissenschaft als Beruf bedingt zunächst dadurch, daß die Wissenschaft in ein Stadium der Spezialisierung eingetreten ist, wie es früher unbekannt war, und daß dies in alle Zukunft so blieben wird.« Weber stellt in diesem Vortrag einen Zusammenhang her zwischen einem Beruf, der ihm zugrundeliegenden institutionellen Eigenart und der den Beruf umgebenden Wertesphäre. Wissenschaft ist eingespannt in einen unendlichen Ablauf des Fortschrittes, jedoch kommt Weber zu dem Ergebnis, dass mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung akademischer Fachdisziplinen auch ein Selbstentzauberungsprozess der Wissenschaften eintrat (vgl. ebd. 109) mit der Folge, dass Wissenschaft und Leben immer mehr auseinanderfielen. Vorbei seien die Zeiten, in denen eine Wissenschaft im Stile pathetischer Prophetie den letzten Sinn methodischen Tuns vermittelten, stattdessen beschwöre der Polytheismus der Werte den Kampf der Götter von Neuem herauf: »Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation an schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein.« (101)

16 Lepsius, Mario Rainer (2009): Interessen, Ideen und Institutionen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften. 17 Mommsen, Wolfgang J.; Morgenbrod, Birgitt; Baier, Horst (Hg.) (1992): Max Weber Gesamtausgabe. Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Tübingen: Mohr (Gesamtausgabe Schriften und Reden. Bd. 17). 18 Zur Debatte um Webers Vortrag vgl. Pohle, Richard (2009): Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Nach Weber (1991 [1904]: 23ff.)19 geht eine jede Wissenschaft zuallererst von den praktischen Erfordernissen und Interessen des Lebens aus, wobei die ihr zugeschriebene Rolle in zwei Erklärungsmuster aufgeteilt werden könne: Zum einen wurde ihr die Rolle zuteil, die Kluft zwischen dem »Seienden« und dem »Seinsollenden« zugunsten eines »Werdenden« aufzulösen. Gegen diese Rolle spräche bislang das Argument, dass analog zu den unabänderlichen Naturgesetzen auch die Prinzipien der Ökonomie beispielsweise die Geschicke und Entwicklungen von Gesellschaften bestimmten, sodass eine Auflösung von »Sollen« und »Sein« in der Wissenschaft für undurchführbar oder nicht zwingend notwendig erachtet wurde. Weber hält fest, dass »die Nationalökonomie Werturteile aus einer spezifisch ‚wirtschaftlichen Weltanschauung’ heraus produziere und produziert habe« (24). Umgekehrt benennt es Weber als »Naivität« (29), wenn Wissenschaften Prinzipien auftstellten, aus welchen die Normen für problemorientierte Einzelanalysen deduzierbar seien. Nun existiert nach Weber für die Entstehung eines Objektes nicht die eine Ursache, gleichzeitig ist wiederum die Formwerdung von der Welt der Ideen zur materiellen auch nicht nur in einer Form zu erkennen, sondern in »der individuellen Wirklichkeit« (58) der Erkenntnisse und Interessen, da nur diese in Verbindung mit den »Kulturwertideen« (ebd.) betrachtet werden können. Die Sozialwissenschaft, die es nach Weber zu betreiben gälte, ist eine »Wirklichkeitswissenschaft« (14). Die Wirklichkeit des Lebens solle man in ihrer Eigenart verstehen, »den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-undnicht-anders-Gewordenseins andererseits« (49f.). Besonders deutlich werden a. d S. methodologische Brücken zu Mannheim geschlagen, da – wie bei Ideologie und Utopie (vgl. Kap. 3.5.3) dargelegt – auch Weber die Entstehung eines Interessenbetriebs für eine die Gesellschaften der Jahrhundertwende kennzeichnende Beschreibungskategorie entwirft20. Weber und Mannheim beziehen sich auf Ideen, die das Wissen und Handeln in sozialen Beziehungen gestalten und pragmatisch auf Prozesse der Vergesellschaftung wirken. Das legitimiert aber keineswegs die begriffliche Verwischung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Wert- oder Vorurteilen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse stünden vielmehr auf dem Grunde gewisser Werte, womit eine Brücke gebaut werden kann zwischen Mannheims Begriff der ‚Relationalität‘ und des 19 Weber, Max (1991 [1904]): Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Max Weber (1991): Schriften zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Michael Sukale. Stuttgart: Reclam, 8748. 20 Vgl. Eberl, Matthias (1994): Die Legitimität der Moderne. Kulturkritik und Herrschaftskonzeption bei Max Weber und bei Carl Schmitt. Marburg: Tectum.

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‚Seinsgebundenen Denkens‘ sowie Webers ‚Wertbeziehung‘ (vgl. 202). Das wissenssoziologische Profil Webers lässt sich nach Endreß auf der Ebene seiner soziologischen Grundbegriffe dokumentieren: »Webers verstehender Soziologie geht es somit darum, die Wirkung institutioneller Prozesse auf menschlichen Ideen, Werte und Glaubensüberzeugungen und umgekehrt zu untersuchen und entsprechende geschichtliche Umwandlungen als Vorbedingungen für die Entwicklung unterschiedlicher Typen moderner Gesellschaften zu begreifen« (Endreß 2007: 42). Somit bedeuteut Wertfreiheit für die Wissenschaft die dezidierte Ablehnung einer zwischen mehreren Ethik- und Weltanschauungsangeboten abwägenden Forschungspraxis 21 . Wertungen lassen sich durchaus wissenschaftlich untersuchen, »aber lediglich, um sie beschreibend in ihrer Beziehung zu den Tatsachen kritisch zu rekonstruieren« (Fitzi 2004: 17)22. Hierfür prägt Weber den Begriff des »Idealtypus« (1991 [1904]: 77ff.). Nach heutigem Verständnis fallen darunter gedankliche und mentale Konstruktionen, nicht falsifizierbare Theoriemodelle, die empirisch vorfindbare Einzelerscheinungen zu einem widerspruchlosen Gebilde vereinen: »[Der Idealtypus] ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche Wirklichkeit‘ ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.« (ebd.) Als Beispiel nennt Weber die »abstrakte Wirtschaftstheorie« (72) als Synthese historischer Erscheinungen. Sie biete ein »Idealbild« der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei »tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln« (ebd.). Dieses »Gedankenbild« vereinigt »bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge« (72f.). Inhaltlich trage diese Konstruktion den »Charakter einer Utopie« (ebd.) und ihre Funktion besteht darin, die Eigenart des lebenswirklichen Zusammenhanges anhand eines Modells »pragmatisch« (ebd.) zu veranschaulichen. Diese »Möglichkeit« könne sowohl heuristisch wie für die Darstellung von Wert eine methodologische Hilfestellung bieten. 21 Vgl. Segady, Thomas W. (1994): Sozialwissenschaftliche Objektivität und die Werthaftigkeit von Wissen. In: Gerhard Wagner (Hg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1118), S. 491-506. 22 Fitzi, Gregor (2004): Max Webers politisches Denken. Konstanz: UVK Verl.-Ges., 2570.

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Jedoch ist das Modell des Idealtypus keinesfalls mit einer idealistischen Geschichtsphilosophie zu vermengen. Ideen können nach Lepsius (2009: 33) vielmehr Ausdruck von psychischen Bedürfnissen und sozialen Interessen unterschiedlichster Art sein. »Sind sie einmal entstanden, so erhebt sich die Frage, wie sie ihrerseits auf psychische Bedürfnisse und soziale Verhaltensformen wirken. Kultursoziologische Fragestellungen haben eine doppelte Richtung: auf den Entstehungszusammenhang von Ideen einerseits und auf den Wirkungszusammenhang andererseits« (ebd.). Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass »die historische Dimension zum Idealtypus selbst gehört« (Palonen 2010: 114)23, d.h. die historische Reichweite, die von den jeweiligen Idealtypen geschaffen wird, ist begrenzt, da Idealtypen selbst historische Konstruktionen darstellen und in anderen historischen Kontexten »ihre analytische Schärfe verlieren« (ebd. 115), wie Weber am Beispiel der »Sekte«24 veranschaulicht. Aber können idealtypische Modelle in ihrem konstruierten Wesen eine Objektivität gewährleisten? Objektive Gültigkeit entsteht, indem das »Sein-Sollende« mit dem »Seienden« begründet wird, d.h. indem das empirisch Gegebene mit den Wertideen in Beziehung gesetzt wird. Wer andere Kategorien bevorzugt, wird auch zu anderen Wahrheiten gelangen. Entscheidend ist, dass je nach Konstellation der Kategorien der Zweck des Gewollten im empirisch Vorfindbaren aufgezeigt werden kann (vgl. Weber (1991 [1904]: 61).

23 Palonen, Kari (2010): ‚Objektivität‘ als faires Spiel. Wissenschaft als Politik bei Max Weber. Baden-Baden: Nomos. 24 »Will ich aber den Begriff der ‚Sekte‘ genetisch, z.B. in bezug auf gewisse wichtige Kulturbedeutungen, die der ‚Sektengeist‘ für die moderne Kultur gehabt hat, erfassen, so werden bestimmte Merkmale beider wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Beziehung zu jenen Wirkungen stehen. Die Begriffe werden aber alsdann zugleich ideal typisch, d.h. in voller begrifflicher Reinheit sind sie nicht oder nur vereinzelt vertreten. Hier wie überall führt eben jeder nicht rein klassifikatorische Begriff von der Wirklichkeit ab. Aber die diskursive Natur unseres Erkennens: der Umstand, dass wir die Wirklichkeit nur durch eine Kette von Vorstellungs-veränderungen hindurch erfassen, postuliert eine solche Begriffsstenographie. Unsere Phantasie kann ihre ausdrückliche begriffliche Formulierung sicherlich oft als Mittel der Forschung eintbehren, – für die Darstellung ist, soweit sie eindeutig sein will, ihre Verwendung auf dem Boden der Kulturanalyse in zahlreichen Fällen ganz unvermeidlich« (Weber 1991 [1904]:78).

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5.2.3 Stil Der Anspruch wird erhoben, eine »Einheit auf höherer Stufe« zu erlangen, also die konkurrierenden Kräfte zu versöhnen, der sich mit dem von Max Scheler (1874-1928) 1921 ins Leben gerufenen Begriff einer »Soziologie der Erkenntnis«25 gut umschreiben lässt. Außertheoretische Prozesse wirken auf den Erkenntnisprozess ein und die Wissenssoziologie »sucht […] das aneinander Vorbeireden bei disparaten Gegnern« eben dadurch aufzuheben, dass sie den Quellpunkt der partiellen Differenzen »durch ein besonders geartetes Zurückfragen ausdrücklich zum Thema macht« (Mannheim 1931: 241). Objektivierungen des Wollens (vgl. ebd. 1922: 96)26 sind Resultate, die vom Inneren hergestellt und rückwirkend durch den Erlebniszusammenhang charakterisiert werden. Dann erkennt man in vielen Kompositionen ein wiederkehrendes Element, das zum Stil einer Gruppe oder Epoche erhoben werden könnte, womit sich auch zeigt, dass der Begriff des ‚Stils‘ immer eine ästhetische sowie soziologische Komponente gleichermaßen in sich trägt: »Unter dem Aspekt des ‚Stiles‘ einen Formzusammenhang und einen dazugehörenden Erlebniszusammenhang zu erfassen bedeutet soviel, wie die betreffenden Momenten des Werkes und die dazugehörigen Erlebniszusammenhänge nicht dem schöpferischen Individuum, sondern dem dazugehörenden Gruppenerlebnis zuzurechnen. ‚Stil‘ ist eben ein Phänomen, das darauf hinweist, dass gewisse Sinnschichten im Kunstwerk fortsetzbar sind. (…) Der Stil bezeichnet also das vornehmlich Soziale am Kunstobjekt und an dem ihm zugehörigen Erlebniszusammenhang.« (97-98)

Als Stile bezeichnet man »Einstellungen zur Welt, die sich als Weltanschauungen in einer bestimmten Zeit entwickelt haben. [Sie] sind weder plötzlich als allgemeine menschliche Eigenschaften entstanden, noch handelt es sich um substantiellen ‚Geist‘« (Barboza 2009: 73)27. Vielmehr entfalten sie sich in einem bestimmten Lebensraum, in einer bestimmten Konstellation. Mannheim verweist auf die Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin (1995 [1931]: 233), denn diese habe bereits mit ziemlicher Genauigkeit herausgearbeitet, dass in Kunstgestalten 25 Jerusalem, Wilhelm, (1921): Soziologie des Erkennens (Bemerkungen zu Max Schelers Aufsatz: Die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens und die Aufgabe einer Soziologie der Erkenntnis). in: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften, 1921, 1, S. 28-34. 26 Mannheim, Karl (1980 [1922-25]b): Strukturen des Denkens. S. 94-109. 27 Barboza, Amalia (2009): Karl Mannheim. Konstanz: UVK Verl.-Ges (Klassiker der Wissenssoziologie, 9).

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»datierbare Stile« hineinwirken. Ein Gestaltungselement wird erstens vor allem durch seine historische Legitimierung zum Aspekt von Kultur-objektivationen erhoben. Nicht sein immanentes, von jeglicher Entstehungsbedingung absolutes Wesen, sondern sein historischer Kontext erklärt ihn zu dem, als was es in der Zukunft angesehen wird. So wie der Name »Adam« sich erst als Begriffspaar mit »Eva« vom Sinn zur biblischen Bedeutung wandelt, entfalten auch ästhetische formimmanente Kriterien ihre Wirkkraft nur unter Berücksichtigung ihres Kontextes. Anders könne man es sich nicht erklären, dass ein Element in vielen Werken wiederkehrt und den Stil des Objektes im Korrelat mit der Weltanschauung derselben Epoche bildet. Wie schon in Seele und Kultur spricht Mannheim auch in seiner Schrift Der innere Aufbau kultursoziologischer Erkenntnis (1922) von der Aufgabe der Wissens- und Kultursoziologie, Brücken zu schlagen »zwischen der geltungsmäßigen Sphäre der Gebilde und den Formen der Vergesellschaftung« (Mannheim 1922: 100). Die Voraussetzung sei stets, dass grundlegende Erlebnisse nicht der Erfahrung eines Individuums entspringen, sondern mit dem Erlebnisgehalt einer zusammengehörigen Gruppe korrespondieren. Die Pluralität der Stile zählt zum »Symptom der Moderne«28 und ihre Analyse beisteht darin, in den »inhaltlichen und formalen Eigenschaften des Denkens die sozialen Unterschiede von Denkrichtungen erfassbar zu machen« (Barboza 2007: 94). Indem die Wissenssoziologie die stilistischen Aspekte verschiedener Denkwerke identifiziert und zuordnet, wird der Glaube an die Uniformität und Einheitlichkeit einer Kultur vermittels eines Ausdrucks für obsolet erklärt. Dagegen bricht sich nun die Überzeugung Bahn, dass die in der historischen Moderne vielfach beschworene »Kulturkrise« (Lichtblau 1995: 25) in der Gesellschaft die Neben- und Nacheinander-Existenz eines Stilpluralismus mit sich brachte. Diese zweifellos mit der Erfahrung des 1. Weltkrieges in Verbindung zu setzende Skepsis gegenüber lineare Fortschrittskonzepte von Wissenschaft und Technik setzt auch die einzelnen wissenschaftlichen Fachdisziplinen unter Selbstverortungsdruck. Hierbei ist sicher die Gegenüberstellung von ‚Wissenschaft‘ und ‚Weltanschauung‘ (vgl. Kap. 4.2.4. Weltanschauung) eine Zuspitzung der Debatte, neben dieser auch die marxistische Wissenschaftskritik als auch jene von seiten der aktivistischen Lebensphilosophie sich in Konkurrenz zum bürgerlichen Rationalismus stellen (vgl. Lichtblau 2011: 290f.)29.

28 Barboza, Amaila (2007): Stilanalyse. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK-Verl.-Ges (Erfahrung – Wissen – Imagination, 15), S. 94-102, hier S. 94. 29 Lichtblau, Klaus (2011): Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften.

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Die Methode der Stilanalyse wird zuerst im Bereich der Kunst erkennbar, allen voran sind hierzu die in vorliegender Arbeit noch zu besprechenden Ansätze der Kunsthistoriker Alois Riegl (vgl. Kap. 5) und Erwin Panofsky (6.1) zu nennen. Die als »Weltanschauungsforschung« (Barboza 2007: 95) verstandene Stilforschung präsentiert eine Kunstgeschichte, die »nicht die Individuen« als Künstlerpersönlichkeiten, sondern ihre vermittels Kunst zum Ausdruck gebrachten Weltanschauungen dokumentiert. Auch in der gegenwärtigen Stilforschung werden Weltanschauungen, die über eine längere historische Lebenszeit verfügen, als Stile bezeichnet.30 So entwickelt Hans-Georg Soeffner in seinem Aufsatz Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags (1986)31 das Argument für eine Stilbildung als ästhetische Überhöhung des Alltags, in denen Elemente des religiösen Ausdrucks enthalten sind. Im Zentrum stehen hier symbolische und emblematische Strukturen sozialer Ordnungen sowie die Beschreibung und Interpretation aktuell beobachtbarer Erscheinungsweisen sozialer Darstellungsformen. Am Beispiel der Punk-Bewegung unterscheidet Soeffner zwischen ‚Stil‘ und ‚Stilisierung‘ dahingehend, dass Stil in einer Gesellschaft produziert wird, die »immer schon eine Gesellschaft von Beobachtern« (Soeffner 1986: 319) ist und Stile produziert werden, um beobachtet zu werden. »Stil repräsentiert und präsentiert in sozialer Interaktion die Einheit von Präsentation und Beobachtung. In dieser Hinsicht kann ‚Stilisierung‘, das ‚Styling‘ begriffen werden als Bündelung beobachtbarer Handlungen, die ausgeführt werden, um eine einheitliche abgestimmte Präsentation zu erzielen« (ebd.). Wie Mannheim zuvor betont auch Soeffner die ausdrucksseitige Bedeutung des Stils als inszenierte »Interpretationsanleitung« (320) für das Publikum sowie die deutend, interpretierende (321). Alois Hahn unterstreicht die Relevanz des Stil-Begriffes auf alle Bereiche »des menschlichen Handelns«32, schränkt aber zugleich den Definitionsraum ein, indem er dem expressiven Charakter einer sich wiederholenden Handlung zur Bedingung von Stilbildung macht. Das Schwingen einer Angel ist beim Fischen durchaus als eine über-

30 Vgl. Gebhardt, Winfried (2008): Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wiesbaden: Springer Fachmedien (Erlebniswelten). Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.) (1986): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 633. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M. u.a.: Campus-Verl. 31 Soeffner, Hans-Georg (1986) Stil und Stilisierung. Punk oder die Überhöhung des Alltags. In: Gumbrecht (1986), S. 317-341. 32 Hahn, Alois (1986): Soziologische Relevanz des Stilbegriffs. In: Gumbrecht, S. 603611.

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individuelle, überzeitliche Handlung zu begreifen, verbleibt jedoch in seiner instrumentellen Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme eine rein sachlich erforderliche Voraussetzung. Doch die Aufgabe der Stilanalyse ist mit der Dokumentation und Gliederung weltanschaulicher Stile nicht beendet. Gleichzeitig muss eine »Faktizitätszurechnung« (Mannheim 1995 [1931]: 264) die konkrete Präsenz von modellhaften Stilen prüfen. Wie Weber zuvor (Kap 4.2.2) gebraucht auch Mannheim den Begriff des »Idealtypus« (ebd.) und korrespondiert mit dem Weber’schen Ansatz, dass bei konkreter Betrachtung eine Geschichte der Denkstile mit dem empirisch Gegebenen nicht absolut deckungsgleich sein muss. Führt man sich nochmals genauer vor Augen, dass die Stilforschung sowohl inhaltliche als auch formale Eigenschaften untersucht, öffnen sich weitere Perspektiven für die interkulturelle Literaturwissenschaft und deren Vermittlung. Insbesondere für die Schnittstelle zur Mehrsprachigkeit birgt die Etablierung des Stilbegriffs eine Aufwertung des Formalen, dem in der Textanalyse noch stärker nachzugehen ist. 5.2.4 Weltanschauung Es ist in diesem Zusammenhang besonders auffallend, dass der Begriff der ‚Weltanschauung‘ nicht nur in Mannheims Fokus steht, sondern die Fachdiskussionen vieler Zeitgenossen beherrscht33. ‚Weltanschauung‘ verstehen wir im allgemeinen Sprachgebrauch als eine politische, ideologische oder pädagogische Perspektive auf einen Gegenstand, die nicht nur von einer Person, sondern einer ganzen Gruppe, Schicht oder Gesellschaft geteilt wird. Es zeichnet diese Gemeinschaft ferner aus, dass es ein bindendes Moment, eine Gemeinsamkeit der Gruppenzugehörigkeit gibt; sei es ein geteiltes Leid, derselbe Beruf, die identische Religionszugehörigkeit oder eine gemeinsame Vorstellung von Lebensführung. Begriffshistorisch steigt das Kompositum ‚Welt-‘ vor allem im Wissenschaftsdiskurs des 19. Jahrhunderts zu einem Schlüsselwort der Intellektuellendiskurse auf und erscheint in verschiedensten Wissens- und Textsorten auf34. Die Debatten um

33 Zu nennen sind hier Herman Nohls Vortrag Typische Kunststile in Dichtung und Musik (1915) und Stil und Weltanschauung (1920), Eduard Sprangers Lebensformen (1914) und Karl Jaspers Psychologie der Weltanschauungen (1919). 34 Vgl. Thomé, Horst (2002): Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt, Hartmut Böhme und Jörg Schönert (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, S. 338-380, hier S. 338.

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‚Weltanschauungsliteratur‘ wurden vornehmlich von Autoren wie Gustav Theodor Fechner, David Friedrich Strauß, Ernst Haeckel, Wilhelm Bölsche oder Otto Weininger geführt. Ihre hohen Auflagen wurde sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch vom Laienpublikum rezipiert, jedoch sinkt der Begriff – spätestens seit seiner inflationären Verwendung im Schrifttum des Nationalsozialismus vollends diskreditiert – in den politisch-polemischen und pseudo-intellektuellen Sprachgebrauch ab. Thomé (2002: 338) definiert die ‚Weltanschauungsliteratur‘ als einen »Korpus von Texten, die den expliziten Anspruch erheben, die Weltanschauung des Verfassers argumentativ darzulegen«. Es kennzeichnet diese Literatur außerdem, dass wissenschaftliche Ergebnisse dargelegt und verknüpft werden mit »waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen« (ebd.). Zu unterscheiden sind hierbei die Begriffe des ‚Weltbildes‘ und der ‚Weltanschauung‘. Versteht man unter Ersterem die Zusammenfassung und gedankliche »Verarbeitung der Ergebnisse der Naturwissenschaften zu einer wissenschaftlichen (oder auch naturphilosophischen) Gesamtschau«, überschreitet die Weltanschauung ihre fachdisziplinären Grenzen als eine wertende Stellungnahme zur Welt. Sie erhebt den Anspruch, die letzten Fragen von Ursprung, Sinn und Ziel der Welt zu beantworten (vgl. ebd. 341). Aktuell ist das Interesse an der Weltanschauungsdiskussion und -literatur eher überschaubar35. In der Philosophie werden beide Forschungsgegenstände als trivial oder offenkundig widersprüchlich abqualifiziert; der Wissenschaftsgeschichte fehlt es in dieser Textsorte an innovatorischen Momenten. Sie steht der Polemik der Philosophie nicht nach, wenn sie diese Textsorte als abstruse Nebentätigkeit eigentlich verdienstvoller Wissenschaftler abtut. Die Literaturwissenschaft sieht in überwiegender Einstimmung die Weltanschauungsliteratur als einen flankierenden Behelf zur eigentlich schönen Literatur. Lediglich innerhalb der gender studies36 gäbe es ergiebigere Quellen, jedoch stünde die Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsliteratur ohne Bezug und Kontextualisierung ihrer 35 Die Weltanschauungsdiskussion als Krisenphänomen begreifend sammeln sich Beiträge im Band Drehsen, Volker; Sparn, Walter (1996): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Berlin: De Gruyter. Vgl. Gebhard, Walter (1984): Der Zusammenhang der Dinge. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Zugl.: München, Univ., Habil.-Schr. Tübingen: Niemeyer (Hermaea, N.F., 47). 36 Thomé stellt die Überlegung an, dass der antiquierte Begriff ‚Weltanschauung‘ unter anderen Namen, wie beispielsweise in der ökologischen oder feministischen Literatur,

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begriffshistorischen Semantik, die ebenso ein Desiderat darstellt wie auch die bibliographische Erfassung der Weltanschauungstexte (vgl. ebd. 2002: 340). Mannheim definiert ‚Weltanschauung‘ als »eine strukturell verbundene Reihe von Erlebniszusammenhängen, die zugleich für eine Vielheit von Individuen die gemeinsame Basis ihrer Lebenserfahrung und Lebensdurchdringung ist« (Mannheim 1980: 101). Sie sei weder »die Totalität der in einem Zeitalter vorhandenen geistigen Gebilde noch die Gesamtheit der in einem Zeitalter vorhandenen Individuen, sondern die Gesamtheit jener strukturell zusammenhängenden Erlebnisreihen, die sowohl vonseiten der Gebilde wie auch vonseiten der sozialen Gruppenbildung bestimmt werden können« (ebd., Herv.i.Orig.). Ferner könne sie nicht als eine aus sich heraus erfassbare Größe verstanden werden, sondern nur »in gewissen Querschnitten« (102), auf gewisse »Probleme bezogen« formuliert werden. In diesem Kontext macht der Untertitel von Odo Marquards Aufsatz Weltanschauungstypologie37 »Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts«, deutlich, dass Kategorien wie die der ‚Vernunft‘, ‚Vorhersehung‘ oder ‚Wahrheit‘ neuen, mit der ‚Weltanschauung‘ in Verbindung gebrachten Kategorien wie ‚Geschichtlichkeit‘, ‚Wollen‘ und ‚gesellschaftlichem Handeln‘ gewichen sind. Wie bereits bei Mannheim erwähnt ist die Dynamik der Vergesellschaftung auch bei Marquards Betrachtung auf die Ideengeschichte der Weltanschauung zentral38. Im Kreise der Historiker würden Typen geschaffen, die in der Betrachtung auf das historisch-Vergängliche ironischerweise nach dem »ewigen Möglichen« (114) suchen. Ein entscheidender Referenz-

weiterlebt. So würden in einschlägigen populärwissenschaftlichen Taschenbuchreihen autobiographische Schriften von Frauen erscheinen, die nicht den Lebensweg als Ganzes beschreiben, sondern einen Emanzipationsprozess, der als Erfahrung Kriterien einer feministischen Theorie etabliert. »Mehr expositorisch angelegte Texte appellieren wiederum an die eigenen Erfahrungen der Leserinnen und malen lebensweltliche Szenen aus, die im konkreten Bild das Allgemeine der patriarchalischen Gesellschaft erscheinen lassen« (vgl. Thomé 2002: 339). 37 Marquard, Odo (1973): Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Theorie), S. 107-121, hier S.107. 38 »Der Mensch ist ein zu Meinungsverschiedenheiten neigendes Lebewesen. Wo diese Meinungsverschiedenheiten ‚ins Grundsätzliche abgleiten‘, berühren sie die Philosophie. So will zwar die Philosophie die eine sein. Gleichwohl gibt es viele Philosophien.« (Marquard 1973:107).

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punkt dieser Betrachtung findet sich gemäß Marquard in Wilhelm Diltheys Arbeiten, vor allem in seinem Aufsatz Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen39: Dilthey erkennt den immer schärfer werdenden »Widerspruch zwischen dem zunehmenden geschichtlichen Bewusstsein und dem Anspruch der Philosophien auf Allgemeingültigkeit« (Dilthey 1982 [1911]: 75) und fordert von der Philosophie, »nicht mehr in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse« (78) zu suchen. Alle Weltanschauungen enthalten regelmäßig dieselbe Struktur40, die trotz des immer wechselnden, historischen Grundgerüstes unter ihren vielfältigen Manifestationen – Dilthey spricht von »Gebilden« (85) – eine »Regelhaftigkeit« (ebd.) aufweisen, eine Typologie von Weltanschauungen41. Anders als bei Mannheim sieht Dilthey unter Berufung der »historischen Vergleichung« (99) als Methode Weltanschauungen nicht als »Erzeugnisse des Denkens« an, sondern in der »Struktur unserer psychischen Totalität«, der »Lebenserfahrung« (86) verortet. Die drei großen Grundtypen des ‚Naturalismus‘, des ‚Idealismus der Freiheit‘ und des ‚objektiven Idealismus‘ sieht Dilthey in der Religion und Dichtung ausgedrückt42. Laut Marquard sei die Hochkonjunktur der Weltanschauungen eine Folge des geschichtsphilosophischen Zerfalls an der Schwelle zur historischen Moderne; die klassische Fortschrittstheorie sei einem historischen Sinn gewichen. Der aufklärerische Grundgedanke der »Vermittlung« (1973:114) als Mittel der Freiheit 39 Dilthey, Wilhelm (1982 [1911]): Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. In: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Hg. v. Bernhard Groethuysen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 75-112. 40 »Diese Struktur ist jedesmal ein Zusammenhang, in welchem auf der Grundlage eines Weltbildes die Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und hieraus Ideal, höchstes Gut, oberste Grundsätze für die Lebensführung abgeleitet werden. Sie ist durch die psychische Gesetzlichkeit bestimmt, nach welcher die Wirklichkeitsauffassung im Lebensverlauf die Unterlage für die Wertung der Zustände und Gegenstände in Lust und Unlust, Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung ist und diese Lebenswürdigung dann wieder die untere Schicht für die Willensbestimmungen bildet.« (Ders.: 83) 41 Zum Konzept und zur Struktur ‚Weltanschauung‘ vgl. auch Thomé (2002: 342-351). 42 »Indem [die Dichtung] ein Geschehnis aus dem Nexus der Willensbezüge herauslöst und seine Repräsentation in dieser Welt des Scheins zu einem Ausdruck der Natur des Lebens umbildet, befreit sie die Seele von der Last der Wirklichkeit und offenbart ihr zugleich deren Bedeutung. […] Sie öffnet [dem Menschen] den Blick in eine höhere und stärkere Welt. In all diesem aber kommt das Grundverhältnis zum Ausdruck, auf dem die Poesie beruht: das Leben ist ihr Ausgangspunkt[.]« (Dilthey 1982 [1911]: 92)

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wurde ersetzt durch den der »Bedeutsamkeit«. Bisher folgte der aufklärerisch-idealistische Gedanke insofern der »Antinomie« (ebd.), als jede Vermittlung auf einen Widerspruch antworte und gleichzeitig zum Anlass eines neuen werde. An ihre Stelle tritt die »Pluralität von Individualitäten« (115). Drittens weicht der Glaube an einer »Auflösung aller Antinomien« im Sinne eines fortschreitenden Endzweckes dem Reichtum »im Geschehen« (ebd.). Der Gewinn an geschichtlichem Bewusstsein wurde durch den Verlust der Geschichtsphilosophie erkauft. Darin aber liegt auch das Problem der Weltanschauungstypologie begraben, denn der als obsolet zu Grabe getragene Gedanke der Vermittlung wird jetzt zu dem des Typus. »Der Typus gehört zum Genre der Mittel, der Vermittlungen. Nur: er ist jene Vermittlung, zu der sich kein Prozess mehr nennen lässt, in den sie gehört, und kein Ziel mehr, an dem sie arbeiten könnte. Entsprechend ist dann ja auch die Weltanschauung – als sozusagen zweckfreie Ideologie – ein latent zweckbezogen gedachtes Bewusstsein, aber eben ohne Zweck: und darum in besonderer Weise anfällig für die Suche nach einem Zweck um jeden Preis; sie ist demnach – notabene – etwas, was zu haben man tunlichst vermeiden sollte. Fazit also und These: Weltanschauungstypen sind Vermittlungen im Wartestand oder Ruhestand.« (120)

Die hier vorgefundene Zirkelhaftigkeit des Erkenntnisprozesses wird unter Rückgriff auf die Arbeiten Jürgen von Kempskis43 in der Analyse von Friedrich Vollhardt44 bestätigt. Auch für Mannheim besteht die Tätigkeit eines Kultursoziologen darin, eine »Kongruenz zwischen dem einem gegebenen Kulturprodukt zugrundeliegenden ‚Stil‘ oder Prinzip und der ‚Weltanschauung‘, die einer sozialen Bedingung oder einem sozialen Ort angemessen ist, zu finden« (Mannheim 1980 [1922-25]b: 17). Seine Distanz zu Diltheys erklärt Mannheim mit dem Zweifel, dass konkrete Weltanschauungstypen nie ein Weltbild, sondern nur Bestandteile dessen nachzeichnen könnten: »Deshalb mündet stets auch eine generalisierend aufgebaute Kultursoziologie in eine Auflösung der einmaligen Weltanschauungskomplexe, in eine Erfassung regelmäßig wiederkehrender Erlebniszusammenhänge, die, entsprechend der fragmentarischen Charakteristik der ihnen zurechenbaren kulturellen

43 Kempski, Jürgen von; Eschbach, Achim (1992): Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 922. 44 Vollhardt, Friedrich (1986): Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie ›Die Schlafwandler‹ (1914-1932). Berlin: De Gruyter (Studien zur deutschen Literatur, 88), S. 156.

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und sozialen Momente, auch den Funktionalitätsbezug nur generalisierend herauszuheben vermag.« (139) Gemäß Mannheim könne nur die Begriffsbildung vortäuschen, dass »die äußeren allgemeinen Merkmale mit den konkreten Einmaligkeiten identisch sind« (140) oder noch deutlicher: »Die große Bedeutung der Diltheyschen methodologischen Schriften besteht trotz der relativen Dürftigkeit ihrer Ergebnisse darin, daß sie dasselbe Problem der Eigenart geisteswissenschaftlicher Erkenntnis von einem diesen Disziplinen kongenialen philosophischen Boden zu erfassen versuchten. Dilthey wird getragen und ist vielleicht der wichtigste Exponent jener irrationalistischen Unterströmung, die zunächst in der Romantik selbstbewußt wurde und in der Neuromantik der Gegenwart in veränderter Form ihren Gegenschlag gegen den bürgerlichen Rationalismus auszuführen im Begriff ist.« (181)

Die Auseinandersetzung mit Weltanschauungen kann bei Dilthey und Mannheim als ein Indiz für die Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprozess angesehen werden. Geht man von der Einsicht aus, dass sich moderne Gesellschaften durch eine Pluralität miteinander konkurrierender Denksysteme auszeichnen, erweist sich die Ordnung mannigfaltiger Erfahrungen als eine Bündelung genetischer Betrachtungsweisen. Die Anerkennung von Pluralität ist hierbei zentral verbunden mit der Herausbildung eines historischen Bewusstseins; das Toleranzgebot ist im wissenschaftlichen Umgang mit Pluralität keine Zielsetztung mehr, sie bildet vielmehr den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Sinnstiftungsdiskursen.

6. Die Lehre der drei Sinne

In seiner Schrift Beiträge zur Theorie einer Weltanschauungs-Interpretation (1921-22) greift Mannheim auf Alois Riegls Begriff des ‚Kunstwollens‘ zurück. Hinter jeder Kunstproduktion, so Mannheim, stehe ein Gedanke (1921-22: 100) und die Wissenschaft müsse Mittel und Wege finden, die Kluft zwischen beiden zu verringern. Sie dürfe dabei auch nicht dem Irrglauben erliegen, die Kluft vollständig schließen zu können, da die Weltanschauungseinheit in keinem dieser Gebiete, weder im Theoretischen noch in einer der übrigen Sinngebildesphären, »sondern gewissermaßen in allen« (102) liege. Aufgabe müsse es nun sein, den logischen Ort des Weltanschauungsbegriffes innerhalb der Kulturwissenschaften zu bestimmen sowie seine methodologische Struktur. Wenn die Weltanschauung eines Zeitalters zu bestimmen ist, müsse zuallererst eine Selektion ihrer Gegenstände stattfinden, die dann für die Beschreibung dieser Totalität operationalisierbar sei. Falls dies möglich ist, stellt sich dann das Problem, wie sich Weltanschauung in ihrer Eigenart zu anderen Eigenarten weiterer kulturhistorischer Gegenstände verhält. Mannheim verlässt das Gebiet der Kunstgeschichte nicht, erweitert es jedoch durch die Notwendigkeit interdisziplinärer Betrachtung, wenn die Forderung nach »Transzendierung« wie folgt erhoben wird (94): »Denkt man sich innerhalb der Kunstgeschichte eine immanent konsequent durchgeführte Stilgeschichte und andererseits eine ebenso vollständige Stoffgeschichte, so werden jene Einheiten, die nämlich bei diesen methodischen Abstraktionen vernachlässigt worden sind, die einzelnen Kunstwerke als solche, das ‚Gesamtwerk‘ eines Künstlers als umfassendere Totalität und die Kultur, Weltanschauung einer Epoche als noch umfassendere Einheit als wissenschaftlich zu bewältigende Aufgabe noch immer weiter bestehen bleiben. Die Totalitäten werden für die kulturgeschichtlichen Einzelgebiete noch aus einem zweiten Grunde relevant. Die durch Abstraktion entstandenen Einzeldisziplinen können nämlich ihren logi-

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schen Gegenstand gar nicht vollgültig innerhalb ihres immanenten Gefüges erfassen, geschweige denn erklären, ohne auf jene Totalitäten in einem gewissen Stadium ihrer Ausführungen zu rekurrieren.«

Es zeigt sich spätestens hier, welche starken Einfluss der Sonntagskreis auf Mannheims Denken genommen hat. Wenn die variierenden Blicke auf einen Gegenstand gerade durch ihre gebündelte Vielfalt Stilkonventionen einer Epoche zu begründen vermöge, so sei dies nur dann möglich, wenn vom Kunstwerk über das gesamte Opus bis zur Weltanschauung die Überwindung eines Wissenschaftsverständnisses der parallel aneinander vorbeiziehenden Begriffskokons ermöglicht wird. Ein Gegenstand kann nach Mannheim unvermittelt oder vermittelt gegeben sein. Ist er unvermittelt, so ist er in Selbstgegenwart da. Ist er aber vermittelt gegeben, so gibt es auch jemanden oder etwas, der oder das vermittelt. Hier kommen nun die Mittlerrolle des Ausdrucks und die der Dokumentation hinzu (vgl. 104). Ein Gegenstand kann somit als unvermittelt dargestellt werden in seinem objektiven Sinn, seiner Selbstgegenwart, vermittelt durch seinen Schöpfer als intendierter Ausdruckssinn oder benannt durch eine beobachtende Instanz, den dokumentarischen Sinn (vgl. 105f.). Die Beschaffenheit eines Kulturgebildes in ihrer »dreifachen Artung« (196) erklärt Mannheim anhand seines berühmten AlmosenBeispiels (108-110). Zwei Freunde begegnen einem dritten Mann, der sitzend die Hand in Richtung der beiden Männer austreckt. Einer der beiden Männer gibt ihm daraufhin ein Geldstück. In diesem objektiven Kontextfeld wird der Freund zum ‚Hilfeleistenden‘, der dritte Mann zum ‚Bettler‘ und das Geldstück zum ‚Almosen‘. Der Freund gibt dem Bettler das Almosen aus Mitleid und wird somit zum Sinnträger der ‚Barmherzigkeit‘. Der Innenweltbezug wird hergestellt, »der immer in der Weise gemeint ist, wie er von dem ihn ausdrückenden Subjekt gemeint ist« (108). Damit sind aber die Interpretationsmöglichkeiten keineswegs erschöpft, denn die dritte, die Szene beobachtende Person erfasst nun den intendierten Ausdruckssinn mit dem objektiven Sinn und zieht daraus eine komplett andere Schlussfolgerung. Denn diese milde Gabe war in den Augen des verstehenden Dritten ein Akt der Heuchelei. Nun kommt es gar nicht mehr darauf an, was objektiv getan wurde, auch nicht darauf, was durch die Tat hätte ausgedrückt werden sollen, sondern was durch seine Tat – wenn auch unbeabsichtigt – über ihn, den Hilfeleistenden, dokumentiert wird. Der Mehrwert einer solchen methodischen Vorgehensweise liegt

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in der Beibehaltung der heute viel beschworenen Prämisse der intersubjektiven Stabilität oder nach Mannheim im Potenzial der Selbsterkenntnis (109)1: »Es ist zugleich etwas Eigentümliches, dass wir unter Umständen in dieser Art der Interpretation auch uns selbst gegenüberstehen können. Die intentionale Ausdrucksinterpretation unserer eigenen Objektivationen bildet für uns kein Problem. Was wir durch einen Ausdruckssinn bekunden wollten, das war uns im Vollzuge in Selbstgegenwart originär gegeben, wir können es uns (sofern wir es nicht vergessen haben) stets vergegenwärtigen. Was aber eine unserer Handlungen dokumentarisch bedeutet, das kann uns genauso zum Problem werden, als stünde uns in unseren Objektivationen ein Fremder gegenüber. Kaum heben sich irgendwo die Ausdrucks- und die Dokumentarinterpretation so scharf voneinander ab wie in diesem Grenzfalle der ‚Selbsterkenntnis‘.«

Eine solche Vorgehensweise verhindert einen synthetisierenden Blick auf den Gegenstand, da die polyvalente Betrachtungsweise die Vielfalt interdisziplinärer Forschungsdiskussionen nicht nur berücksichtigt und letztlich auch bereichert, sondern vor allem vorbereitet. Der Ausdruck, das Kunstwollen, dürfe hierbei nicht außer Acht gelassen werden, denn jeder Bildinhalt enthalte Objektives und Ausdrucksmäßiges zugleich. Schließlich stellte auch »das Mittelalter in der Regel nur einen kanonischen Inhalt (aus der Bibelgeschichte) dar und auch dann nur eine bestimmte Phase des Gesamtgeschehens. [Dies] lag zum Teil daran, dass man nur gewisse Gefühle auszudrücken bestrebt war« (110). Genauso wenig dürfe man die zeit- und ortsgebundene Kontextlastigkeit des Gegenstandes vernachlässigen, da man sich bei der Erfassung des vom schöpferischen Subjekt Gemeinten »stark in die Sinngebung jenes Zeitalters und des besonderen […] schöpferischen Subjektes hineingearbeitet haben muss, um das Werk in seinem Ausdruckscharakter nicht misszudeuten« (112). Im Bezug auf die Verschränkung von ausdruckshafter und objektiver Form unterscheidet aber Mannheim deutlich je nach Medium, denn »obgleich […] der objektive Sinn in der Sinngebildesphäre beheimatet« sei, bestehe dennoch ein nicht zu übersehender Unterschied in der Beziehung des »Sin-

1

Bei beiden wissenschaftlichen Grundsätzen handelt es sich auch um wichtige Komponenten der IKLW (vgl. Kap.2). Insbesondere die von Alois Wierlacher skizzierte Kooperationstrias zwischen Muttersprachenphilologie, Deutsche als Fremdsprache und Fremdsprachenphilologie könnte Gegenstand einer qualitativen Institutionenforschung nach Vorbild der Weltanschauungs-Interpretation werden. Fragestellungen ergäben sich vor allem im Ausgang der Kanonforschung und Wissensverteilung dahingehend, welche literaturwissenschaftlichen Schnittmengen zu einer interkulturellen Kooperation unter dem Dach internationaler Forschungsnetzwerke führen könnten.

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nes zu dem ihn tragenden und realisierenden sinnlichen Medium« (113). Ein theoretischer Sinn, beispielsweise ein Begriff, stünde außer »jedem wesentlichen Bezug« zu dem ihn tragenden sinnlichen Medium, sei es das Wort, ein akustisches, visuelles, gesprochenes oder gedrucktes Gebilde. Das Medium bleibe lediglich nur ein Zeichen für ihn. Ganz anders verhalte es sich beim »bildnerisch-objektiven Sinn«, wenn er auch kein im Raume oder in der Sphäre des stofflichen Mediums »liegendes Etwas« ist, jedoch als Gestaltung unabtrennbar mit dem Medium verbunden ist: »Der objektive Sinn als Gestaltung, wie er gerade in der bildenden Kunst vorkommt, nimmt in einer eigentümlichen Weise das sinnliche Medium in den geistigen Bestand des Sinnes auf, ohne dabei selbst an der physischen Welt teilhaftig zu werden; als visueller Sinn […] ist er eben der Sinn des Optischen und gerade dadurch selbst nichts Optisches.« (114) Demgegenüber jedoch durchkreuzt das Dokumentarische alle Sinnsphären, alle »Objektivationen desselben Subjekts« (121). Und auch jedes Subjekt sei in einem Moment der Intensität dokumentarisch vermittelt: »Behauptet Riegl u.a., dass in dem im spätrömischen Kunstgewerbe auftretenden negativen Ornament dasselbe Kunstwollen steckt, wie in der zeitgenössischen Architektur und erweitert er den Begriff dieses Kunstwollens so weit, dass sogar in den Erscheinungen der zeitgenössischen Philosophie sich Entsprechungen aufweisen lassen, so liefert er damit ein Beispiel für diese dokumentarische Gegebenheitsweise. Hier gelingt es dem Interpretierenden, an einem scheinbar ganz nebensächlichen, bloß den Stoff gestaltenden ‚Prinzip’ ein für die Geistigkeit des Zeitalters dermaßen charakteristisches Moment zu entdecken, dass dieser Ausgangspunkt ihn in den Stand setzt, die ‚korrespondierenden’, charakteristischen Züge auch an den parallelen Objektivationsgebieten abzuheben. Ist hier das Dokumentarische an die Formung des Darstellungsstoffes geknüpft, so kann es sich selbstverständlich genau so auch an die Formung des Bildinhaltes knüpfen; also alle Phasen und Momente der objektiven Sinnschicht können für die dokumentarische Interpretation relevant werden, sofern wir das in ihnen steckende Dokumentarische abzuheben imstande sind.« (122).

Durchaus könne ebenso der ausdruckshafte Sinn dokumentarisch verwendet werden, indem der Versuch eines Künstlers oder einer Epoche als »Ars poetica« aufgefasst wird, ihre eigenen Intentionen »theoretisch-konfessionsmäßig zu klären« (ebd.). Hierbei ginge es nicht um eine auf Richtigkeit überprüfbare positivistische Verbleibstudie, sondern um das Dokument eines konsistenten Epochenbekenntnisses. Das Ergebnis einer solchen Dokumentation wäre das Abbild oder die weltanschauliche Totalität eines mitunter auch real existierenden Subjektes; sei es der klassische Geist oder jener Goethes. Keineswegs redet Mannheim an dieser Stelle einer Geschichtsschreibung großer Fürsten, Generäle oder Männern das Wort. Der

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Bezug soll vielmehr nur hergestellt werden zwischen dem Realen, für die Forschung Greifbarem und den damit verbundenen Kulturgebilden. Den wesentlichen Unterschied zwischen den drei Arten von Interpretation sieht Mannheim in der Eigenheit des dokumentarischen Sinnes, »dass [er] im Unterschiede von den beiden anderen Arten des Verstehens in einem jeden Zeitalter neu gemacht werden muss, und dass eine jede einzelne Deutung innerhalb ihres Bereiches eng verflochten ist mit jenem geistig historischen Standorte, von dem aus man sich dem Geist verflossener Epochen nähert« (126). Verstehen ist nicht zeitlos, sondern geschichtsphilosophisch bedingt. Mannheim nimmt sich das Bild eines alternden Menschen zum Beispiel, der mit zwanzig, dreißig, oder sechzig Jahren in den Augen seiner Kinder ein jeweils anderes, dem Alter angepasstes Charakterbild abgibt, ohne dabei das Korrelat zu seinem gesamten Wesen jemals in Gänze aufzugeben.

6.1 D ER

ATHEORETISCHE

S INN IN K ULTURGEBILDEN

Im Folgenden geht Mannheim der Frage nach, wie Kulturgebilde in ihrer »originären (von der Theoretisierung womöglich noch gar nicht affizierten) Gestalt« (129) darstellbar sind und worin – wenn auch nur fragmentarisch – die charakteristischen Züge ihrer Struktur zu suchen sind. Kulturgebilde stellen sich nicht in »Schichten« (ebd.) dar. Alle drei Sinnebenen seien zusammen und gleichzeitig existent. Eine auf der objektiven Ebene beispielsweise gegebene Melodie ist zugleich »stimmungsbeladen (Ausdruckssinn)« und verrate insgesamt die »Musikalität« und »Geistigkeit« (Dokumentsinn) des Komponisten. Wenn nun Kritiker behaupteten, dass die Melodie alleine existent sei und Größen wie »Stimmung« sowie »Geist« lediglich »akzessorische Momente« (130) den objektiv gegebenen darstellten, übersehe man nach Mannheim, dass auch die Melodie ihrerseits den einzelnen Tönen und Intervallen Sinn verleiht. Auch der Ausdrucksgehalt ist Sinn, ein »geformtes Lebensgefühl« (ebd.). Dass dieser atheoretische Sinn historisch wandelbar ist, zeige der Begriff ‚Sentimentalität‘ (131) als eine Erlebnisform, welche durch Objektivationen wie Bilddarstellungen nur in gewissen Epochen darstellbar gewesen war, wohingegen in anderen der »Zustand« jedoch nicht als atheoretischer Sinne dargestellt wurde. Erfahrbar werde ein Zustand erst dann, wenn er sich »vom undifferenzierten Strome der Erlebnisse abhebt, sodass er als sinngemäßer (wenn auch nicht als theoretischer Sinn) dem Subjekte gegenübersteht« (132). Für die Forschungsarbeit resümiert Mannheim:

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»Dieses Sich-Abheben vom Zuständlichen und das Sich-Verwandeln zum Gegenständlichen ist das allgemeinste Charakteristikum des Sinnes überhaupt, sowohl des objektiven wie des ‚selbstweltbezogenen‘, des theoretisch fixierten wie des atheoretischen. Wir müssen die Mittelsphäre des atheoretischen Sinnes einschalten, wenn wir nicht alles, was nicht begrifflich ist, als intuitiv, irrational bezeichnen wollen; zwischen den Polen des theoretischen Sinnes und dem in der Tat völlig irrationalen des bloß Zuständlichen liegt eben die breite Schicht der sinnmäßigen atheoretischen Erlebnisform.« (ebd.)

Diese atheoretischen Erlebnisformen würden mit dem Verstreichen der Zeit auch ihre begriffliche Prägung erhalten; zu nennen wären nach Mannheim solche wie »Ressentiment, Melancholie, Acedia, Fin de siècle-Stimmung, das Numinose von Otto«. Der objektive Sinn jedoch habe den übrigen beiden voraus, dass er auch alleine erfasst werden könne. Die Handbewegung des Freundes müsse als Tat der ‚sozialen Hilfe‘ erst erfasst sein, damit das ‚Sicherbarmen‘ als Ausdruck oder die ‚Heuchelei‘ als Dokument in Erscheinung träten (135). Der objektive Sinn »ist immer derjenige, welcher die erste relevant werdende, an und für sich erfassbare Sinnschicht abgibt« (ebd., Herv.i.Orig.), als bereits geformter Sinn jedoch: Nach Mannheim muss man sich von dem Gedanken lösen, dass an und für sich bestehende Sinnfragmente für sich alleine stünden. Ein Fragment wird nur dadurch zum Teil, sofern die »dazugehörige Ganzheit« (ebd.) miterfasst wird. Ein Farbfleck kann zugleich in der Sinngebung der Farbenkombination und diese wiederum in der Sinngebung des Gefühlswertes erfasst werden.

6.2 W ISSENSCHAFTLICHE E RFASSBARKEIT W ELTANSCHAUUNG

VON

Im letzten Teilkapitel zur Weltanschauungs-Lehre geht Mannheim der Frage nach, anhand welcher Beispiele die theoretische Erfassung von Kulturgebilden operationalisiert werden kann. »Anders gewendet: es handelt sich darum, wie jene Totalität, die wir Geist, Weltanschauung einer Epoche nennen, aus ihren Objektivationen aufgebaut wird und zur theoretischen Darstellbarkeit zu gelangen vermag« (141). Die hier eröffnete Frage setzt Mannheim in Beziehung zur Biographienforschung (ebd.), welche in zweierlei Gestalt, das Wesen des Dichters aus dem in seinen Objektivationen gegebenen Dokumentsinn aufbaut oder andererseits im Sinne einer Lebensgeschichte aus den »intentionalen Ausdrucksfragmenten« (141) die Innenwelt des schöpferischen Subjektes als tatsächlichen Verlauf

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aufbaut 2 . Mannheim sieht bei diesem Unterfangen zwei Probleme: Einerseits müsse eine wie auch immer vermutete Weltanschauungseinheit als »objektivationsjenseitg angesetzt« in mehreren Kultursphären zugleich verglichen werden können und nicht ausschließlich in einer. Die zweite Schwierigkeit liegt in der Überzeugung, dass Kulturen sich geschichtlich entwickeln. Wenn also vergleichende Kulturforschung betrieben werden soll, müssen sich auch diametrale Querschnitte neben den horizontalen um die Validität einer Weltanschauungseinheit bewähren. Hier beruft sich Mannheim wieder auf Alois Riegls Versuch, anstelle einer ganzen Epochenschau die Untersuchung auf das Kunstwollen zu lenken, welches mit den jeweils zeitgenössischen Wissenschaften, Philosophien und Religionen konfrontiert, zu einem »Weltwollen oder Kulturwollen« (145) erweitert wurde. Die Erkenntnis Riegls bestand darin, dass sich alle dokumentarischen Momente der spätrömischen Kunst ausdrücken durch eine sich aus der Grundform heraushebende Einzelform, woraus wiederum das Wollen dreidimensionaler Vollräumigkeit abgeleitet werden könnte. Das Beispiel sticht für Mannheim deshalb heraus, da es jeglichem Verdacht »deduktiver Logik« entgegentritt, denn vorausgesetzt werde stets das Vermögen des vortheoretischen Dokumenterfassens: »Zweitens ist es keine bloß theoretische Deduktion, wenn Riegl z.B. aus dem Wollen der Vollräumigkeit das Sich-Isolieren der Einzelform von der Grundebene ableitet. Den Notwendigkeitscharakter kann man doch nur ‚sehen‘, in unserer Sprache: er ist nur aus dem Sinn der reinen Sichtbarkeit verständlich. Die äußere strenge Form darf uns also an seiner Darstellungsart nicht täuschen. Diese Art der Rationalisierung setzt die sogenannte ‚Intuition‘ (in diesem Falle die originäre atheoretische Fähigkeit, die Sichtbarkeitszusammenhänge in ihrem originären Notwendigkeitscharakter zu erfassen) geradezu voraus und jeder Schritt in der ‚Deduktion‘ (sofern sie sachhaltig ist) bewahrheitet sich doch nur am Material, an dem reinen visuellen Notwendigkeitszusammenhange.« (146)

Darüber hinaus findet sich im Text bereits ein Hinweis auf ein Verständnis von Kunstkritik, demzufolge Wert- und Geschmacksurteile in Abhängigkeit zeitgenössischer Debatten- und Denkstile zu sehen sind. Bereits das Sehen eines objektiven Sinngehaltes – hier ist eine Brücke zu Fleck gebaut – könne nicht als ein »für allemal gültiges visuelles System in der bildenden Kunst« (ebd.) vorausgesetzt

2

Besonders als Schnittstellenforschung zwischen Erfahren und Erzählen findet die Biographienforschung in der aktuellen wissenssoziologischen Forschung Beachtung. Vgl. Kauppert, Michael (2010): Erfahrung und Erzählung. Zur Topologie des Wissens. 2., korrigierte Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaft (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft: Schriften zur Wissenssoziologie), S. 17-87.

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werden. Der künstlerisch, objektiv gegebene Raum bei einer »Negerplastik« sei nicht für allemal derselbe wie bei einer »griechischen oder modernen Plastik« (ebd.). An dieser Stelle greifen die sozialwissenschaftlichen Vorarbeiten Mannheims (vgl. Kap. 3.3) mit den kunstwissenschaftlichen Carl Einsteins ineinander. 6.2.1 Exkurs II: Carl Einsteins ‚Negerplastik‘ Der am 26. April 1885 in Neuwied im Rheinland geborene Schriftsteller und Kunstkritiker Carl Einstein wird heute vor allem für seinen 1912 veröffentlichten Roman Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders rezipiert. Bei diesem Werk handelt es sich um den Versuch, wahrnehmungsanalytische Erkenntnisse des malerischen Kubismus für die Wortkunst fruchtbar zu machen. Darüber hinaus feierte er als einflussreicher Mitarbeiter zahlreicher Kunstzeitschriften große Publikumserfolge, allen voran mit seiner Monographie Die Kunst des 20. Jahrhunderts, die als 16. Band in den Propyläen 1926 erschien. Beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs schloss sich Einstein den Internationalen Brigaden an und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird er in einem Lager bei Bordeaux interniert, von wo ihm 1940 die Flucht gelang. Nachdem alle Ausweichmöglichkeiten unmöglich waren, beging Einstein am 5. Juli 1940 im französisch-spanischen Grenzgebiet Selbstmord. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist Einsteins 1915 im Verlag der Weißen Bücher (Leipzig) erschienene Schrift Negerplastik von besonderem Interesse, da Mannheim neben seinen Ausführungen zu Riegl hierauf explizit Bezug nimmt. Als kanonisch-wertvoll für eine interkulturelle Literaturgeschichtsschreibung kann sie insofern interessante Impulse geben, als es sich bei Einsteins Studien um einen ersten, öffentlich anerkannten Beitrag zur »Gleichwertigkeit afrikanischer Kunst« (Hofmann 2015: 57; Einstein 2012 [1915]: 155)3 handelt. Mit sprachlich virtuosen und intellektuell feinen Begriffsskizzen zeichnet Einstein den Unterschied zwischen einer europäischen, abendländisch konnotierten und einer afrikanischen Kunstauffassung. Als Werk, das ein im europäischen Schönheitskanon fehlendes Element hinzufügte, wird Einsteins Beitrag heute als »Akt interkultureller Kommunikation bis dato ohnegleichen«4 gelesen. Fleckner

3

Hofmann, Michael; Patrut, Iulia-Karin: Einführung in die interkulturelle Literatur (Einführung Germanistik).; Einstein, Carl (2012 [1915]). Negerplastik. Reclam. Stuttgart.

4

Kiefer, Klaus (1994): Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde. Tübingen: Niemeyer (Communicatio, 7), S. 134.

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(2006: 70) 5 nennt Einstein den »ersten und vielleicht wichtigsten Historiker der kubistischen Revolution«, auch wenn er bei Weitem nicht der Erste ist, der sich mit afrikanischer Kunst beschäftigt. Vor allem in Paris tätige Künstler wie André Derain (1880-1954), Maurice de Vlaminck (1876-1958), Henri Matisse (18691954), aber auch die Künstler des Blauen Reiters hatten die Skulpturen der schwarzafrikanischen Kunst erst wenige Jahre zuvor für sich entdeckt. Das Dekorative europäischer Flächenmalerei bildete für Einstein den Ausgangspunkt einer kritischen Sicht auf den nachimpressionistischen6 Denkstil: »Der optische Naturalismus abendländischer Kunst ist nicht das Nachahmen der Außennatur; die Natur, die hier passiv nachgeahmt wird, ist der Standpunkt des Beschauers« (Einstein 2012 [1915]: 21). Demgegenüber widerstreite der Kubismus den Verfälschungen durch die unmittelbare Darstellung ohne Rückgriff auf die Abstraktion wissenschaftlicher Erfahrung. Insbesondere der Kubismus stellte für viele Künstler und Kunstkritiker im Europa des noch jungen 20. Jahrhunderts das entscheidende Leitbild für einen künstlerischen Neubeginn dar. Auf der »Grundlage einer neukantianischen Erkenntniskritik« (vgl. Fleckner 2006: 15) erhofften sich namhafte Vertreter wie Pablo Picasso (1881-1973) und Georges Braque (1882-1963) die Rückkehr zum Gegenstand, der in den Bildanordnungen des Impressionismus zu Farb- und Lichtflecken zerfallen war. Doch nicht etwa durch eine »einfache Nachahmung der Natur, sondern durch Abstraktion vom natürlichen Seheindruck sollte das Wesenhafte der Menschen und Dinge schließlich zurückerobert werden« (ebd.). Betont werde im europäischen Illusionismus das visuell-vorgeprägte, und kulturell gesetzte Bild einer Kunstauffassung, welche – gleich einer Theatermaske – ihren Gegenstand nicht verkörpert, sondern vor sich herträgt. Das europäische Verständnis von Kunst spiegelt durch ein mimetisches Verfahren, das hier mit dem Attribut »passiv« behaftet ist, die Perspektivik seines Schöpfers wider. Und so, wie der Europäer Kunst zu sehen gewohnt ist, blickt er ebenfalls auf die afrikanische Kunst. Nicht die Offenheit für ein fremdes Objekt wiegt vor, vielmehr verschleiert sein gesellschaftliches Weltwissen den Blick auf die immanente Form einer afrikanischen Plastik; seine Interpretation bleibt ein Derivat des ihm vorgelebten Handlungs- und Symbolraums. Seine diesbezüglichen Wertungen verhaften im despektierlichen Blick aus einer überlegenen Kultur: 5

Fleckner, Uwe (2006): Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biographie. Berlin: Akademie-Verl. (Veröffentlichungen / Deutsches Forum für Kunstgeschichte).

6

Zur expressionistischen Dimension in Carl Einsteins Werk vgl. Braun, Christoph (1987): Carl Einstein. Zwischen Ästhetik und Anarchie: zu Leben und Werk eines expressionistischen Schriftstellers. München: Iudicium, S. 183-212.

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»Kaum einer Kunst nähert sich der Europäer dermaßen misstrauisch, wie der afrikanischen. Zunächst ist er hier geneigt, überhaupt die Tatsache Kunst zu leugnen, und drückt den Abstand, der zwischen diesen Gebilden und der kontinentalen Einstellung sich auftut, durch eine Verachtung aus, die sich geradezu eine verneinende Terminologie schuf.« (ebd. 7)

Die afrikanische Kunst gelte von Beginn an als der tierische, wilde und fehlerhafte Teil des Menschen, auf welchen leichtfertig grobe Evolutionstheorien und fantastische Konzepte von Primitivität und Ursprünglichkeit gespiegelt wurden, sodass man sich in der Vorstellung geradezu badete, der »Neger« lebe in einer ewigen Urzeit fort. Einstein greift die in ethnologischen Sammlungen europäischer Museen und deren imperiale und koloniale Sicht auf und wendet sie in seiner folgenden Argumentation zum positiven Attribut primitiver Kunst um. Insbesonders zeichnet sich das hier angeführte Zitat durch sprachliche Kunstfertigkeit aus (vgl. Einstein 2012 [1915]: 165), wenn er durch das generalisierende Topos »der Europäer« eine Gleichstellung beider Ethnien nicht mehr argumentativ begründet, sondern stillschweigend voraussetzt. Dem heute als rassistisches Schimpfwort markierten Begriff »der Neger« wird nun »der Europäer« hinzu gestellt. Einstein richtet seinen Blick auf das Nachtleben der europäischen Bohemienviertel und die darin tobende Mode des Barbarischen und Exotischen. Mit Begeisterung wurde mit »Negergedichten«, »-musik« und »-tänzen« das Ursprüngliche gefeiert (vgl. ebd. 159), nicht in seiner wahrhaftigen Gestalt des Fremden, sondern in Form einer gezähmt-manierierten Importware. Einstein hatte für Verzerrungen dieser Art nicht sehr viel übrig, was er in seinen Essays zu Sprache brachte. In seiner 1921 bei Orbis Pictus erschienenen Schrift Afrikanische Plastik konstatiert der Kritiker nur, »[h]ilflos negert der Unoriginelle« (abgedr. in Baacke 1993: 84)7 und spricht sich gegen eine verfälschende Mimikry aus, gegen das »Interpolieren« (10) von Kunstanschauungen, die nur innerhalb ihrer spezifischen Gesetze wirkten. Die Generalisierungen mithilfe von Kollektivsingularen und dem gehäuften Einsatz des unpersönlichen »man« setzen sich fort und gipfeln in der wohl bekanntesten Passage in Einsteins Werk: »Trotzdem, man wird von der Tatsache und nicht einem unterschobenen Surrogat ausgehen. Ich glaube, sicherer als alle mögliche Kenntnis ethnographischer usw. Art gilt die Tatsache: die afrikanischen Skulpturen! Man wird das Gegenständliche, respektive die Gegenstände der Umgebungsassoziationen ausschalten und diese Bildungen als Gebilde analysieren.« (Schmidt-Möbius 2012: 10) Das wissenschaftliche Organon zur Beschreibung fremdartiger Phänomene wird mit einem abwertenden »usw.« als obsolet und

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Baacke, Rolf-Peter (Hg.) (1993): Carl Einstein: Sterben des Komis Meyers. Prosa und Schriften. Orig.-Ausg. München: Dt. Taschenbuch-Verl., 19019.

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nutzlos beiseitegelegt. Es folgt die grammatisch unvollständige, mit dem Ich-Pronomen beginnende und dem Ausrufezeichen schließende »Tatsache«, »die afrikanische Kunst«. Einstein diagnostiziert eine grundsätzliche Verständnislosigkeit des Europäers für afrikanische Kunst dahingehend, dass seine Sehgewohnheiten auf Plastiken von »malerischen Surrogaten [=Behelfen]« (11) durchkreuzt seien. Durch das malerische Erfassen des Kubischen werde automatisch eine Hierarchie von Motiven erzeugt, welche das Dreidimensionale in der Plastik unterdrückt und die »gegenständlich vorn« platzierten Elemente betone (ebd.). Ein Grund hierfür ist nach Einstein in der Deutungshoheit der Wissenschaften zu suchen, welche die Erfahrung von »Totalität« (Die Aktion 1914) anhand von Kunstgegenständen zunichtegemacht habe. Totalität ermöglicht »die konkrete Anschauung« (Baacke 1993: 74) und ermögliche somit die Transzendenz eines Kunstgebildes im Sinne einer übersinnlichen Erfahrung des Jenseitigen und Unendlichen. Die Wissenschaften verkürzten das Erlebnis jedoch anhand der Logik zu einer ableitenden Terminologiearbeit, ohne zu bedenken, dass auch die Gesetzmäßigkeiten der Logik nicht allgemein, sondern als spezifische Wissenschaft wie der Physik usw. ihre eigenen Gegenstände besäßen (vgl. Siebenhaar 1991: 21)8. Noch deutlicher wird Einstein in seiner an scharfer Polemik nicht armen Kritik Kunst-Ausstellungen (1914)9. Unter dieser wahrnehmungsgeleiteten Vorstellung afrikanischer Kunst tritt das religiöse Element hinzu: »Ich sagte, das Dreidimensionale muss vollkommen und ungemindert geleistet sein, die Anschauung ist religiös vorausbestimmt und wird vom religiösen Kanon gefestigt. Mit dieser Bestimmung des Schauens ist ein Stil geleistet, der keiner Willkür des einzelnen unterliegt, sondern kanonisch bestimmt ist und nur durch religiöse Umwälzungen verändert werden kann« (Schmidt-Möbius 2012: 16). Das Individuelle findet im Akt der Schöpfung keinen Platz, auch nicht das des Künstlers selbst, denn er »besitzt von Beginn an Distanz zum Werk« (15), das ihn als Gottheit festhält. Das Werk wird »als Typus der adorierten Gewalt aufgerichtet« (16) und müsse sich gänzlich in der vollständigen Form dartun, indem die Form »zur äußersten Geschlossenheit« (17f.) durchgebildet wird. Carl Einstein 8

Siebenhaar, Klaus (Hg.) (1991): Carl Einstein. Prophet der Avantgarde. Berlin: Fannei & Walz.

9

»Das Denken über – das ist Weiberart, sich von bereits Gedankengeformten beschlafen zu lassen – ist dermaßen erfolgreich eingedrungen, dass man vieles heutige, Gemälde und Dichtungen, als Vorschlag oder Anleitung zu Gemälde oder Gedicht bezeichnen muss. Der Feuilletonismus bemächtigte sich in diesen Fällen vor allem des Monumentalen; die Beispielsbilder absoluter Kunst gelten mir eher als plakatierte Traktate denn als Kunst.« (Die Weißen Blätter 1914, abgedruckt in Baacke 1993: 80)

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spricht von einem »kräftigen Realismus« in Abgrenzung zu einem »nachahmenden Naturalismus«, der nicht auf abstraktem oder polemischem Wege erreicht werden kann, sondern »unmittelbar Form« sei. Die Mittel zum unmittelbaren Formerlebnis stellt Carl Einstein über die Raumanschauung her, welche vom Kunstwerk gänzlich »absorbiert« werden müsse. Perspektive oder »übliche Frontalität« sind verboten, da beide Kategorien die Vorstellung von Bewegung und Verzeitlichung voraussetzen, das Kunstwerk jedoch sei als »zeitlos« zu begreifen, womit europäische Kunstsehgewohnheiten nach Einstein ihre Probleme hätten. »Europäische Lösungen, die, geprüft an afrikanischer Plastik, eher zu Auswegen sich verzeichnen, sind den Augen geläufig, überzeugen mechanisch und durch Gewohnheit. Frontalität, vielfältige Ansicht, übergehendes Modélé und plastische Silhouette heißen vor allem die üblichen Mittel« (19). In all jenen Verfahren finde man ein »malerisches oder zeichnerisches« Verfahren, welches Tiefe suggeriert, jedoch kaum unmittelbare Form erzeuge. Der Irrglaube des europäischen Kunstdenkens liege darin, dass man durch umschreibende Erregungszustände eine materielle Masse zur Form erklärte (ebd.). Das dreidimensionale Erleben wird auch in der afrikanischen Kunst während des Seh-Aktes aktiv geformt, ohne Zuhilfenahme illusionistischer Tiefengestaltung. Somit liest sich Carl Einsteins Schrift als Plädoyer für eine »formal-tektonische Konzeption« (Einstein 2012 [1915]: 172) des kubistischen Raums. Terminologisch bedient sich Carl Einstein mathematischer Fachbegriffe, um den formalen Aufbau des kubistischen Raums zu verdeutlichen und verfällt spätestens an diesem Punkt wieder zurück in das zuvor von ihm noch angeprangerte europäische Konzept der Logik. Zwei Begriffe spielen hierbei eine zentrale Rolle, der des »Tiefenquotienten« und der »Resultante« (ebd. 22-27, 30). Das Verhältnis zweier Größen zueinander wird in der Differenzialrechnung als Quotient bezeichnet. Das Einheitliche im kubistischen Kunstwerk wird nach Einstein erzeugt durch zwei entgegengesetzte Richtungen: Aus der »Tiefenrichtung« und der »Tendenz nach vorn« (22, 32f.) bilde sich der Tiefenquotient. Nun ist hierbei aber nicht die Aufteilung einer in Maßen gedachten Verhältnismäßigkeit zu verstehen. Vielmehr bildeten die dabei entstehenden Vektoren eine »Richtungsresultante« (25), welche wiederum eine optische Diskontinuität in der Betrachtung auf die Plastik erzeuge, indem »die nicht zugleich sehbaren Teile« (21) in einer totalen Form gesammelt werden können. Gesehen werden soll die Summe aller möglichen Erscheinungen; nicht von einem naturalistischen Standpunkt im Zuge einer Bewegungsveränderung, sondern von mehreren Standpunkten gleichzeitig. Den kubistischen Raum habe man sich als eine eingefrorene Ansammlung von resultierenden, in ihrer Beschaffenheit alle zentral liegenden Punkten vorzustellen (24) mit der Gestalt »nicht als Effekt, sondern in ihrem unmittelbaren Raumsein« (ebd.). Das Motiv

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für diese innere Geschlossenheit afrikanischer Plastik ist nach Einstein in der Religion zu suchen: »Der Körper des Gottes entzieht sich als Dominierendes den verbindenden Händen des Arbeiters; der Körper ist funktionell von sich aus erfasst. Häufig tadelt man an den Negerskulpturen die sogenannten Proportionsfehler; man begreife, die optische Diskontinuität des Raums wird in Formklärung übersetzt, in eine Ordnung, der, da es um Plastizität geht, nach ihrem plastischen Ausdruck verschieden gewerteten Teile. Ihre Größe ist eben nicht das Entscheidende, vielmehr der ihnen zugebilligte kubische Ausdruck, den sie rücksichtslos darstellen sollen« (ebd. 24).

Somit lässt sich auch erklären, warum Text und Anhang mit den 111 Abbildungen in der Negerplastik unkommentiert und ohne Verweise aneinandergereiht werden. Es handelt sich wohl um einen Verzicht auf jede individuelle, interpretative Vorwegnahme des Seh-Aktes. Doch keineswegs verbleiben Einsteins Schriften auf einer sensuellen und metaphysischen Ebene idealistischer Kunstautonomie. Seinen gesellschaftsrevolutionären Anspruch auf Erneuerung durch Kunst macht Einstein in seiner Schrift Zur primitiven Kunst (1919) in der Zeitschrift Die Gemeinschaft deutlich (abgedruckt in Baacke 1993: 82f.). Die europäische Kunst sei in den Prozess »differenzierter Kapitalisierung« (82) verstrickt. Kunst werde nur noch von Kleinbürgern für Besitzende geschaffen, diene deren innerlicher »Sicherstellung und Stärkung« in Form »snobistischer Erregung«. »Primitive Kunst« habe die kapitalistische Kunstüberlieferung abzulehnen.

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6.2.2 Exkurs III: Alois Riegls ‚Stilfragen‘ und ‚spätrömische Kunst‘ Karl Mannheim bezieht sich außerdem auf die Erkenntnisse der Kunstgeschichte, allen voran auf den Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl 10 (1858-1905). Riegl brach gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Untersuchungen Stilfragen (1893) 11 und Die spätrömische Kunstindustrie (1901) 12 mit dem in der Geschichtsforschung weit verbreiteten Denken von Verfall und Ideal künstlerischer Leistungen und der Vorstellung einer progressiven Kunstgeschichte. Der Kunsthistoriker widersprach einem universalen antiken Schönheitsbegriff, der in Fragen nach ästhetischer Qualität als ‚Maß aller Dinge‘ die höchste Wertschätzung genoss. Denn auch die zwischen Abfall und Kostbarkeit unterscheidenden Stimmen bewerteten – hier zeigt sich eine wichtige Parallele zu Mannheim – aus ihrem gewohnten Empfinden und Wahrnehmen, welche ihnen Tradition und Gesellschaft vermittelt hatten:

10 Alois Riegl, Begründer der sog. »Stilanalyse« und Pionier der Denkmalpflege, wurde 1858 in Linz geboren. Er begann 1877 an der Universität Wien Rechtswissenschaft zu studieren, wechselte jedoch zur philosophischen Fakultät und studierte u.a. bei Franz Brentano, AlexiusMeinong, Robert Zimmermann und Max Büdinger. Im Jahre 1881 wurde er Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung bei Theodor von Sickel, Rudolf von Eitelberger und Moritz Thausing. 1883 legte er die Institutsprüfung ab und promovierte am 7. Dezember desselben Jahres zum Doktor der Philosophie (vgl. Rosenhauer 1996). Der Verweis auf Riegl findet sich bei Mannheim (1964 [192122]: 137) in der Erörterung der Frage nach der wissenschaftlichen Erfassbarkeit vorwissenschaftlicher Wahrnehmung, das Riegl selbst als Kunstwollen begreift: »Riegl’s leitendes Ziel ist zunächst nicht, die ganze Weltanschauung einer Epoche, sondern nur das Kunstwollen, wie es in den vier Gattungen der bildenden Kunst sich dokumentiert, zu erfassen. […] An diesem gewaltigen Wurf interessieren uns zwei Momente, 1. das strenge Streben nach ‚Rationalisierung‘ und 2. das Trachten, die geistig inhaltreichen Differenzierungen aus geistigen Vorformen abzuleiten«. 11 Riegl, Alois (1893): Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Berlin: Siemens. 12 Riegl, Alois (1901): Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in ÖsterreichUngarn im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern. Wien: Verl. der Kaiserlich-Königlichen Hof- und Staatsdruckerei (Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn / Alois Riegl. Österr. Archäologisches Institut, T. 1).

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»Die späteste Phase der antiken Kunst ist eben der dunkle Welttheil auf der Karte der kunstgeschichtlichen Forschung. Nicht einmal ihr Name und ihre Grenzen stehen auf eine Weise fest, die auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben könnte. Die Ursache dieser Erscheinung hat man keineswegs in einer äußeren Unzugänglichkeit des Gebietes zu suchen, dieses liegt vielmehr nach allen Seiten hin offen da und bietet eine reiche Fülle an Beobachtungsmaterial, das sogar zu einem ansehnlichen Theile publiciert vorliegt. Aber es fehlte bisher die Lust, sich darein zu versenken; man versprach sich von solcher Entdeckungsreise weder hinreichende persönliche Befriedigung noch entgegenkommendes Verständnis beim Publicum. Es offenbart sich darin die nicht mehr zu übersehende Thatsache, dass selbst die Wissenschaft trotz aller anscheinenden Selbständigkeit und Objectivität ihre Richtung im letzten Grunde doch von den jeweilig führenden geistigen Neigungen erhält und auch der Kunsthistoriker über die Eigenart des Kunstbegehrens seiner Zeitgenossen nicht wesentlich hinauskann.« (1901: 2)

Kunstgeschichtlicher Stil sollte nicht mehr einzig dem normativen Blick ästhetischer Werturteile unterworfen bleiben, sondern als eine Wahrnehmungsform neben anderen betrachtet werden, als ein Kunstwollen neben vielen weiteren. Das künstlerische Erbe einer blühenden Epoche wie etwa der antiken Kunstindustrie lebte demnach nicht erst in der Renaissance auf, sondern wurde ebenfalls in der spätrömischen nach-constantinischen Zeit weitertradiert und fand in der Symbiose mit den germanischen Völkern den Übergang zur mittelalterlichen Kunst: »Im Gegensatze zu dieser mechanistischen Auffassung vom Wesen des Kunstwerkes habe ich – soviel ich sehe als Erster – in den ‚Stilfragen‘ eine teleologische vertreten, indem ich im Kunstwerke das Resultat eines bestimmten und zweckbewussten Kunstwollens erblickte, das sich im Kampfe mit Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik durchsetzt. Diesen drei letzteren Factoren kommt somit nicht mehr jene positiv-schöpferische Rolle zu, […] sondern vielmehr eine hemmende negative: Sie bilden gleichsam die Reibungscoëffizienten innerhalb des Gesamtproductes«. (1901: 5)

Riegls Ansatz zielte nicht so sehr auf die Publikation von Einzeldenkmälern, als vielmehr auf die Aufdeckung aller leitenden Gesetze der Entwicklung in der spätrömischen Kunstindustrie, an deren Entfaltung die neu eingetretenen »nordischen Barbarenvölker« (1) maßgeblich Anteil hatten. Das »bildende Kunstwollen« (215) regelt das Verhältnis des Menschen zur sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung der Dinge. Es ist Ausdruck der Art und Weise, wie Menschen ihre Welt gestalten und gefärbt sehen wollen. Hier nimmt der Mensch eine aktive Haltung ein, denn in der Gestaltung wirkt gleichzeitig die Ausdeutung von ihr mit hinein – als Ausdruck einer phantasievollen Befreiung: Kunstwollen ist in jeder Epoche und Gesellschaft

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vorzufinden. Schmuckbedürfnis und Kunstwollen treten bei Riegl an die Stelle einer Entwicklungsgeschichte, wenn er beispielsweise angesichts eines Dolches mit einem aus Rentierknochen gestalteten Griff einen geometrischen Kommunikationsstil feststellt, der sich zunächst an die Gesetzmäßigkeiten des ihm vorgegebenen Gewebes hält: »Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern von dem bestimmten Kunstwollen aus. Man wollte das Abbild eines Naturwesens in todtem Material schaffen, und erfand sich hierzu die nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens war die Rundfigur eines Rennthiers als Dolchgriff gewiss nicht nothwendig. Ein immanenter künstlerischer Trieb, der im Menschen rege und nach Durchbruch ringend vorhanden war vor aller Erfindung textiler Schutzwehren für den Körper, musste ihn dazu geführt haben den beinernen Griff in Form eines Rennthieres zu bilden« (Riegl 1893:20).

In einem weiteren Beispiel entfernt sich Riegl von der Vorstellung einer Natur nachahmenden Kunst zugunsten eines im Menschen angelegten künstlerischen Triebs. Bei der spiralförmigen Anordnung von Lotusblüten in ägyptischen Kunstdenkmälern (vgl. ebd. 70 ff.) falle auf, dass sich die spiralförmigen Zwischenräume der Lotusblüten aus der Schichtung konzentrischer Kreise entwickelten und schließlich mit Tangenten verbunden wurden. Mit Riegl zitiert Mannheim einen Kunsthistoriker, der in seinen Schriften die Künste über ihr Raumverhältnis zu beschreiben versucht und ihre Entwicklungsgeschichte an das Modell der menschlichen Wahrnehmung anlehnt. Ob als Skulpturen oder in der Malerei – Kunstwerke erzeugen auf vielfältige Weise eine spezifische Räumlichkeit. Diese formbetonende Analyse ist gleichzeitig eine Antwort auf die tief sitzende Skepsis gegen vergleichende Geschichtskonzepte, die den Glauben an Aufstieg und Fall von Kunst vertreten. Die Kanonisierung historischer Objekte ist insofern von der Krux rückwärts gewandter Prophetie belastet, als dass die Wissenschaft durch die Stimmen ihrer Väter auf die Ahnen blickt. Das ‚Kunstwollen‘ räumt der schöpferischen Handlung vergangener Tage den ihr gebührenden Raum ein und versteht sich somit als eine wissenschaftliche Haltung der Offenheit fremden oder fremdartigen Objekten gegenüber. Riegl spitzt dieses Verständnis von Kunstwollen pointiert zu in seiner Schrift Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst (1899: 30ff.)13, der zufolge das Vertrauen in Gott in allen Stadien der Kulturgeschichte als gegeben angesehen werden konnte. Gott schützt dich, wenn der Blitz einschlägt. Aber was passiert mit Gott, wenn der 13 Riegl, Alois (1899): Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst. In: Artur Rosenauer (Hg.) (1996): Alois Riegl. Gesammelte Aufsätze. Wien: WUV-Universitätsverlag (Klassische Texte der Wiener Schule der Kunstgeschichte. I. Abt, Bd. 5), S. 27-37.

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Blitzableiter ihn ersetzt? Gewiss mindert das nicht seinen Einfluss auf seine Kunstschöpfung vergangener Epochen. So beschreibt Riegl die spätrömische Kunstform in der Zeit des Kaisers Constantins und später Karls des Großen durch das perpetuierende Moment im Rhythmus (1901: 209) neben- und untereinander bei gleichzeitiger Herausbildung dreidimensionaler »Einzelformen«, worin Riegl eine sukzessive »Emancipation der Intervalle« erkennt: War der antike Mensch noch eingegliedert in einem atomistischen Impuls »reihenmäßiger Verkettungen« (vgl. 219), bestünde nun das Kunstwollen des spätrömischen Menschen in der poetisch gesteigerten Nachahmung von Natur unter Beibehaltung des Schönen im Antlitz Gottes (vgl. 211f.). Nach der Beschreibung der Grundzüge spätrömischer Architektur, Malerei sowie Skulptur beruft sich Riegl auf die Schönheitslehre Augustins (ebd.) und stellt Objekt und Kunstwollen in Beziehung zueinander. Der erkenntnistheoretische Mehrwert einer vergleichenden Kunstwissenschaft wie dieser liegt im Problembewusstsein einer wertenden Geschichtsschreibung, die historiographisch folgenschwere Verzerrungen nach sich ziehen könnte; nicht zuletzt in der deutschsprachigen Literaturgeschichte, wo beispielsweise die von Gotthold Ephraim Lessings berühmte Aussage der Welt auf der Bühne als »Schattenriss des Ganzen« (vgl. Berghahn 1990: 405)14 die »kalte Tugend« der frühaufklärerischen Literatur – vertreten durch die Gottsched-Schule – ablehnte und den historiographischen Blick auf sie nachhaltig trüben sollte15. Riegl verschiebt nun seinen Fokus zuerst auf das vorwissenschaftliche Erlebnis und gibt ihm durch Herbeiziehung zeitgenössischer Quellen einen Namen. Somit wird die vorwissenschaftliche Totalität des Erlebniszusammenhanges nicht verlassen, sondern als Erfahrung in der wissenschaftlichen Benennung terminologisch erweitert und gewürdigt.

14 Berghahn, Klaus L. (Hg.) (1990): Gotthold Ephraim Lessing. Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart: Reclam, 7738.

15 Viele Wertungen der Aufklärungskritik sind schon in den polemischen Debatten zwischen Aufklärern, Romantikern und Idealisten um 1800 angelegt. Einen Überblick hierzu liefern D’Aprile, Iwan-Michelangelo; Siebers, Winfried (2008): Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin: Akademie Verlag (Akademie Studienbücher Literaturwissenschaft). S. 205-216.

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6.3 Z USAMMENFASSUNG : ‚M ETHODIK II‘ ‚D IE L EHRE DER DREI S INNE ‘

UND

Die seinsgebundene Erfassbarkeit von Wissen, so Mannheim (1964 [1921-22]: 114), findet ihren Ausdruck darin, dass »jedes beliebige Bruchstück einer Statue, eine Flächenbearbeitung, eine Bewegung usw. […] einen scharf unterschiedlichen visuellen Sinn« enthält. Innerhalb der objektiven reinen Sichtbarkeit gibt es mehrere Möglichkeiten der Raumauffassung, die durch ihre immanente Geschlossenheit als »Systeme derselben auffassbar sind«. Die Gemeinsamkeit aller möglichen, konjunktiven Eindrücke sei nun, dass sie »als Abwandlung der bildnerischen Raumgestaltung überhaupt auffassbar sind«. Darin liege zugleich die überhistorische Einheit von Interpretationen, wobei Mannheim dem Subjekt eine überzeitliche Fähigkeit im Erkennen abspricht: »Geist kann nur aus Geist verstanden werden, die eine Substanz nur aus der anderen heraus. Das eine Zeitalter kann in größerer Substanznähe zu einem gewissen Zeitalter stehen als das andere; Recht behalten wird immer dasjenige, bei dem diese Verwandtschaft inniger ist. Dass beim historischen Verstehen das historisch-erkennende Subjekt konstitutiv in das Resultat der Erkenntnis hineinragt, dass gewisse Seiten des zu verstehenden Geistes sich nur gewissen Geistigkeiten offenbaren, folgt eben daraus, dass das Verstehen nicht zeitlos ist wie das mathematisch naturwissenschaftliche Erkennen, sondern geschichtsphilosophisch bedingt.« (126)

Auf die Forschungsarbeit der IKLW übertragen bedeutet dies, dass ‚der/die/das Fremde‘ nicht als Bedeutungsträger oder Interpretament zugewiesener Attribuierungen ‚den Kopf hinhalten muss‘, sondern aufgrund des Modells von Mannheim seine Stimme gleichberechtigt auftritt in der vielstimmigen und verzeitlichten Diskussion um ‚Interkulturalität‘. Über das Werk treten Ausdruck und Dokumentation des Fremden in den Dialog, wobei beide Sinne zusammengehalten werden durch das Objekt. Das Werk des Schöpfers enthält Ausdruckshaftes ebenso wie Dokumentarisches, da es als Spiegel seines Zeitalters mit vorherrschenden Denkstilen bricht, konformgeht, spielt, sie unterwandert oder gar neu begründet. Es muss aber auch beachtet werden, dass der aus »Geist verstandene Geist« immer in den Prozess der Erkenntnis hineinragt und somit Interpretation als zeitlich gebundenes Verstehen zu begreifen ist. Die von Mannheim herausgearbeitete wissenssoziologische Rekonstruktion beschreibt Gegenstände unter Beibehaltung ihrer Komplexität. Dieses Potenzial ist vor allem im ideengeschichtlichen Kontext zu Georg Simmel und Max Weber (vgl. 5.2.1., 5.2.2) zu setzen: Verfolgte Weber einen diachron-kausalen Ansatz,

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der den Entstehungsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten von Idealtypen nachging, vertrat Simmel einen synchronen Ansatz der sozialen Interaktion von Inhalten und Formen. Die anhand der Beispiel von Simmel und Weber skizzierten Fragen zu Angemessenheit oder Beliebigkeit von Interpretationsansätzen sind für die Literaturwissenschaft von besonderem Belange. Es sein an dieser Stelle nur an die Beiträge des Ersten Internationalen Hamburger Kolloquiums »Zu Problemen der Literaturinterpretation und Literaturgeschichtsschreibung«16 erinnert, das im März 1989 in Hamburg stattgefunden hat. Lutz Danneberg kommt für die Grundlagendiskussionen in den textinterpretierenden Wissenschaften zum Ergebnis, dass die grundsätzliche Unabschließbarkeit konkurrierender Theoriediskussionen keineswegs eine Beliebigkeit unterschiedlicher Interpretationsansätze nach sich ziehen müsse. Vielmehr gerate die Beliebigkeit der Interpretation erst dann in eine Krise, wenn sie mit bestimmten Werthaltungen und Zielsetzungen des Interpreten in Konflikt gerate, denn das Problem der Beliebigkeit betrifft die Anerkennung oder Ablehnung der Interpretation. Das Problem sieht Danneberg (1992: 15) weniger in der Gestalt der Interpretation als in deren Bewertung: Die Beliebigkeit der Interpretation ist auf einen Mangel der Bewertungskriterien zurückzuführen. Hieraus ist das Plädoyer zu Mannheims dokumentarischer Interpretation zu formulieren, das nichts Geringerem als der Forderung nach Rekonstruktion gesellschaftlicher Interpretationspraktiken gerecht wird. Keineswegs wird die Aussage kontrolliert, durchaus aber deren Interpretationsoptionen; ideologische Denkgebäude sollen nicht zum Einsturz gebracht, sondern durchschaubar; ihr Entstehungskontext bleibt nachvollziehbar für eine Forschung, die nicht selbstgenügsam ausgerichtet ist, sondern Wissen und Handeln als verwobene sich gegenseitig bedingende Größen versteht, so wie auch Form und Inhalt eines Kunstwerkes ineinandergreifen und den Denkstrukturen zukünftiger Gesellschaften ihr Gepräge aufsetzen sowie durch Typenbildung Stile zu generieren vermögen. Der Beitrag Mannheims liest sich als ein kunsthistorisches Dokument, denn unter Rückgriff auf Einstein und Riegl wird deutlich, wie stark das Bedürfnis ausgeprägt war, über den Umweg in und aus der Fremde heraus – seien es die afrikanische Kunst oder die spätrömische – alternative Konzepte von Kunst und umwälzende Gedanken einer neuen Kunstkritik zu formulieren, deren weltanschauliche Antonymien in den europäisch, konventionellen Ideologien der ‚Hochklassik‘

16 Danneberg, Lutz (1992): Interpretation und Argumentation. Fragestellungen der Interpretationstheorie. In: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ‚Theoriedebatte‘. Stuttgart: Metzler, S. 13-25.

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oder des ‚Impressionismus‘ zu suchen ist. Die daraus sich ergebende weltanschauliche Konstellation könnte beispielsweise unter Stilbeschreibungen des ‚Eskapistischen‘ oder ‚Fortschrittsskeptischen‘ näher beschrieben werden. Es ist außerdem hervorzuheben, dass beide Kunstkritiker, ungeachtet ihrer doch so unterschiedlichen Gegenstände, das Dreidimensionale als innovatives Moment der Kunstdarstellung betonen. Die Relevanz und der Leistungscharakter dieser Methode wird unterstrichen durch die Theorieverwandtschaft weiterer prominenter Ansätze, deren Untersuchung aufzeigen kann, mit welchen Formen und Inhalten die kultursoziologischen Stilanalysen Mannheims – beabsichtigt oder nicht – korrespondieren.

7. Forschungsansätze im Ausgang der Weltanschauungs-Interpretation

Im folgenden Kapitel soll die Frage nach der Bedeutung der objektiven Sinnebene im triadischen Analysemodell beantwortet werden. Würde man der Dissertationsschrift Mannheims folgen, müssten die objektive Ebene und die subjektive Wahrnehmung ineinanderfallen, da sich die Erfahrung des erkennenden Subjekts immer nur mit dem bereits Vorgefundenen in Verbindung bringen lässt; also der Prozess des Sehens immer nur durch die Brille des bereits Erkannten erfolgt. Dann wäre aber die Perspektive des objektiven Sinnes eine Variable, die mit einer dritten Beobachterinstanz besetzt werden könnte, was aber nach dem Almosen-Beispiel Mannheims bereits dem dokumentarischen Sinn vorbehalten ist. Der folgende Exkurs in die ‚Wirkungsgeschichte‘ der Weltanschauungs-Interpretation geht der Frage des objektiven Sinnes nach und zeigt auf, dass das Ringen um Synthese des Objektes mit dem Selbstverständnis des jeweiligen Fachbereiches – hier der Kunstgeschichte – verwoben ist.

7.1 I KONOGRAPHIE UND I KONOLOGIE : E RWIN P ANOFSKY Mannheims Modell der Weltanschauungs-Interpretation wurde besonders durch die Forschungsarbeiten innerhalb der Kunstgeschichte erhalten und weitergegeben. Ihr ist es vorwiegend zu verdanken, dass die in den 1920er Jahren entwickelte Methode nicht im Museum sozialwissenschaftlicher Modelle verstaubte, sondern dank anwendungsorientier Forschungsarbeiten ihren Anspruch auf Operationalisierbarkeit einlöste. Es soll deshalb die Rezeptionsgeschichte nachgezeichnet werden anhand der Frage, unter welchen Fragestellungen die drei Sinne der Weltan-

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schauung zur Anwendung kamen und wie die Sinne des Objektiven, Ausdrücklichen und Dokumentarischen verstanden und je nach Gegenstand umgedeutet wurden. Eines der einflussreichsten Modelle zur Bildinterpretation erarbeitete der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892-1968) unter expliziter Anlehnung an Mannheims Modell der Weltanschauungs-Interpretation (vgl. Panofsky 1934: 1074)1. Sein Werk wird heute als kritischer Beitrag interdisziplinärer Kunstwissenschaft gelesen: »Panofsky’s most important contribution to art history as a discipline was undoubtedly his concern to incorporate a discussion of the content of the work of art within the parameters of art theory« (Moxey 1986: 265)2. Albin Hänselroth (1979: 183)3 zählt ihn zu den Klassikern und Vordenkern der Kunstsoziologie, obgleich sein Werk erst zehn Jahre nach seinem Ableben breite Beachtung fand: Die 1955 von Panofsky zusammengestellte Aufsatzsammlung Meaning in the Visual Arts wurde erst 1975 in Deutschland veröffentlicht. Sein Jahrhundertwerk der Kunstgeschichte, Albrecht Dürer (1943), brauchte zweiundzwanzig Jahre bis zu seiner Übersetzung ins Deutsche. Inwieweit Geschichtsbewusstsein und historisch geleitete Dokumentation Anteil an Panofskys Forschungshaltung haben, zeigt dessen Aussage zur Beziehung von Vergangenheit und Wirklichkeit: »Warum sollten wir uns für die Vergangenheit interessieren? Die Antwort ist …: Weil wir uns für die Wirklichkeit interessieren. Es gibt nichts, was weniger wirklich wäre als die Gegenwart« (Panofsky 1940: 26)4. Panofsky wurde im Alter von 22 Jahren zum Thema Die theoretische Kunstlehre Albrecht Dürers promoviert; es war der Beginn seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Maler. Nachdem er im Jahre 1921 Privatdozent an der Universität

1

Panofsky, Erwin (1934): Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Bruno Reudenbach (Hg.) (1998): Deutschsprachige Aufsätze. Berlin: Akad.-Verl. (Studien aus dem Warburg-Haus, 2), S. 1064-1078.

2

Moxey, Keith (1986): Panofsky’s Concept of Iconology and the Problem of Interpretation in the History of Art. In: New Literary History 17, 2. Vgl. Auch Levi, Albert William (1986): Kunstgeschichte als Geistesgeschichte: The Lesson of Panofsky. In: Journal of Aesthetic Education 20, 4, S. 79-83 und Bialostocki, Jan (1970): Erwin Panofsky (1892-1968): Thinker, Historian, Human Being. In: Simiolus. Netherlands Quarterly for the History of Art 4, 2, S. 68-89.

3

Hänseroth, Albin (1979): Erwin Panofsky (1892-1968). In: Alphons Silbermann (Hg.): Klassiker der Kunstsoziologie. München: Beck, 197, S. 183-199.

4

Panofsky, Erwin (1940): Einführung. Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin. In: Erwin Panofsky (1975): Sinn und Deutung in der bildenden Kunst Meaning in the visual arts, [dt.] (Aus d. Engl. v. Wilhelm Höck). Köln, S. 26.

F ORSCHUNGSANSÄTZE IM A USGANG DER W ELTANSCHAUUNGS-I NTERPRETATION | 151

Hamburg wurde und dort 1926 auch zum ordentlichen Professor für Kunstgeschichte berufen wurde, folgten Jahre der internationalen Vernetzung, insbesondere mit der New York University, an der er regelmäßig lehrte. Nach der Machtübernahme Hitlers wurden 1933 alle jüdischen Beamten ihrer Ämter enthoben, Panofsky emigrierte nach New York, wo er bis zu seinem Tode am 14. März 1968 an den Universitäten New York und Princeton lehrte.5 Neben seinem Einsatz für eine historisch geleitete Vorgehensweise in der Wertschätzung von Kunstobjekten steht die Überzeugung, dass die Kunstgeschichte ohne die Mitwirkung anderer Disziplinen in der grundlegenden Methodenarbeit keine besonderen Fortschritte machen werde. Insbesondere die Vereinigung einer erklärenden Naturwissenschaft und verstehenden Geisteswissenschaft unter dem Dach gemeinsamer Probleme der Begriffsbildung, Klassifizierung sowie historischen Wandelbarkeit des Bezeichneten wurde angestrebt. »Wenn ich sagte, dass der Mensch, der von einem Automobil überfahren wird, von Mathematik, Physik und Chemie überfahren wird, hätte ich genausogut sagen können, er werde von Euklid, Archimedes und Lavoisier überfahren. Um Wirklichkeit zu erfassen, müssen wir uns von der Gegenwart lösen. Philosophie und Mathematik tun dies, indem sie Systeme in einem Medium errichten, das per definitionem nicht der Zeit unterworfen ist. Die Naturund Geisteswissenschaften tun es, indem sie jene raumzeitlichen Strukturen schaffen, die ich den ‚Naturkosmos‘ und den ‚Kulturkosmos‘ genannt habe.« (Panofsky 1940: 27)

Auch wenn an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass die Widersprüchlichkeit einer Verschränkung beider wissenschaftlicher Sphären durch einen Begriff wie den des Kosmos fraglich ist – die Sphäre des Kosmos schließt andere in sich oder um sich kategorisch aus (vgl. Zaunschirm 1975: 148-149)6, so wird anhand dieses Beispiels dennoch deutlich, wie naturwissenschaftliche Phänomene durch ihre kulturhistorische Einbettung einer steten Verzeitlichung unterworfen sind. Das zur Deutung von Kunstwerken entwickelte Interpretationsmodell7 ist in drei Untersuchungsphasen geteilt, jene der ‚Vorikonographischen Beschreibung‘, der ‚Ikonographischen Analyse‘ und der ‚Ikonologischen Interpretation‘.

5

Vgl. Heckscher, William S. (1969): Erwin Panofsky: A Curriculum Vitae. In: Record of the Art Museum, Princeton University 28, 1, S. 4-21.

6

Zaunschirm, Thomas (1975): Systeme der Kunstgeschichte. Wien: Verban der wissenscahftlichen Gesellschaften Österreichs (Dissertationen der Universität Salzburg).

7

Panofsky, Erwin (1998 [1934]): Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Bruno Reudenbach (Hg.): Deutschsprachige Aufsätze. Berlin: Akad.-Verl. (Studien aus dem Warburg-Haus, 2), S. 1064-1078.

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Ein Bekannter zieht den Hut, um zu grüßen. Die » … um zu …«-Struktur verknüpfe den Bekannten als Objekt mit dem Ereignis des Hut-Ziehens. Das Ereignis ist eine körperliche Handlung, die konsensual durch Akteur und Ziel als »Gruß« identifiziert wird. Die » … um zu …«-Struktur bildet sprachlich das reziproke Verhältnis von Form und Inhalt ab, die es dem Akteur möglich macht, durch Anwendung praktischer Erfahrung bestimmte Handlungen zu identifizieren und nachzuahmen. Diese primäre Ebene nennt Panofsky die »Tatsachenhafte Bedeutung« (36). Sie wird erfasst, indem der Mensch einfach bestimmte sichtbare Formen mit bestimmten Gegenständen, Handlungen oder Ereignissen identifiziert. Nun könnten solche Ereignisse eine bestimmte Reaktion hervorrufen. Es sei beispielsweise erkennbar, in welcher Stimmung sich der Grüßende befindet, je nach Art und Weise, wie er seine Hand zum Gruß hebt. Diese psychologischen Merkmale füllen die Gebärden des Menschen mit einer weiteren Bedeutung innerhalb der primären Ebene, der ‚ausdruckshaften‘. Nun spannt sich um das Grüßen jedoch ein weiterer größerer Interpretationskreis, denn die Formen des Grüßens und Handhebens sind auch Überreste der ritterlich mittelalterlichen Etikette. Die Gemeinsamkeit zu Mannheims Almosen-Beispiel ist in der parabolesken Struktur zu suchen, mit welcher die seinsgebundene Perspektivität von Bedeutungsinvestitionen veranschaulicht wird, wobei Mannheims Beispiel sicher aus gesellschaftspolitischen Umständen an Aktualität überdauern wird: Wir sehen für gewöhnlich öfters Bettler nach Geld flehen, als Herren den Hut ziehen. Joan Hart8 erkennt bei Mannheim vor allem die Intention, Ungerechtigkeit zwischen den sozialen Klassen darzustellen. Bei Panofsky dagegen stünde vielmehr die Absicht im Vordergrund, die historische Bedingtheit einer kulturell konnotierten Gebärde aufzuzeigen, nämlich das Kunstwollen einer jeden intersubjektiv stabilen Handlung durch regelgeleitetes Wissen zu betonen: Bewaffnete pflegten die Helme abzunehmen, um ihre friedlichen Absichten anderen gegenüber kundzutun. Um diese Bedeutung in all ihrer Spannweite zu erfassen, muss der Interpret neben der praktischen tatsachenhaften Bedeutung auch den kulturhistorischen Kontext kennen, seine Bräuche und Traditionen – kurzum alle Faktoren, welche die nähere Bestimmung der Gebärde »Gruß« zulassen. Ein Reiter auf einem Pferd, besonders ein Kavallerist in Uniform oder ein Jockey würden in ihrer charakteristischen Kleidung eine bereits sehr deutliche Gestalt vermitteln. Wenn wir aber einen Jockey ohne Pferd sähen, würde etwas fehlen. Ein Reiter sei eine sehr bekannte Gestalt, die man oft-

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Vgl.Hart, Joan (1993): Panofsky and Mannheim. A Dialogue on Interpretation. Chicago: The University of Chicago Press, 19, 3, S. 534-566.

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mals gesehen und über die man vor allem viel gelesen und gehört habe: »Die Gestalt ist nicht aus objektiven physikalischen Elementen aufgebaut, sondern aus kulturellen und historischen Motiven« (ebd. 1998 [1937]: 397). Wenn also das Hutziehen als höfliches Grüßen interpretierbar ist, wird hier die sekundäre Bedeutung deutlich, die intellektuell vermittelt wird statt sinnlich. Darüber hinaus vermittelt sich ein Eindruck von der Persönlichkeit des Grüßenden, von seiner nationalen, sozialen und bildungsmäßigen Herkunft. Eine große Anzahl ähnlicher Beobachtungen könnte aneinandergereiht werden, um zu prüfen, ob sich hier ein repräsentatives Merkmal für eine ganze Epoche feststellen lässt. Wenn man nun die Resultate dieser Analyse aus dem Alltagsleben auf die eines Kunstwerkes überträgt, sind drei Schichten zu unterscheiden: Das 1.) primäre oder natürliche Sujet lässt sich unterteilen in ‚tatsachenhaftes‘ oder ‚ausdruckshaftes‘. Man erfasst es, indem man reine Formen identifiziert, nämlich gewisse Konfigurationen von Linie und Farbe oder gewisse eigentümlich geformte Gebilde, ausdruckshafte Eigenschaften wie »den schmerzlichen Charakter« (39) einer Geste wahrnimmt. Eine Aufzählung dieser Motive wäre eine »vorikonographische Beschreibung des Kunstwerkes« (ebd.). Im 2.) ‚sekundären‘ oder ‚konventionalen Sujet‘ wird dann die Erkenntnis erfasst, dass eine männliche Gestalt »mit einem Messer des heiligen Bartholomäus« (39) repräsentiert wird, dass eine »weibliche Gestalt mit einem Pfirsich in der Hand« eine Personifikation der Wahrhaftigkeit ist oder dass eine Gruppe »von Personen, die in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Posen um eine Speisetafel sitzen«, das Letzte Abendmahl darstellt. Künstlerische Motive werden mit Themen verknüpft, ihre Identifizierung ist der Bereich dessen, was mit der Bezeichnung »Ikonographie« (39) gemeint ist. Es wird natürlich vorausgesetzt, dass eine korrekte ikonographische Analyse eine korrekte Identifizierung der Motive voraussetzt. Die 3.) »eigentliche Bedeutung« des Bildes wird erfasst, »indem man jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, welche die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse« (40) modifiziert und durch eine Persönlichkeit in einem Kunstwerk verdichtet wird. Solange der Interpret sich auf die Aussage beschränkt, Leonardo da Vincis berühmtes Fresko zeige eine Gruppe von 13 Männern um eine Speisetafel und diese stelle das letzte Abendmahl dar, befassen wir uns mit dem Kunstwerk als solchem und interpretieren seine ikonographischen Züge als Eigenschaften. »Suchen wir jedoch das Fresko als ein Dokument der Persönlichkeit Leonardos oder der Kultur der italienischen Hochrenaissance« (41) zu verstehen, beschäftigen wir uns mit dem Kunstwerk als einem Symptom von etwas anderem. Die Interpretation dieser symbolischen Werte ist der Gegenstand der ‚Ikonologie‘.

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Die Unterscheidung zwischen der zweiten und dritten Ebene lässt sich am einfachsten durch das Suffix »-graphie« erklären. Es impliziert ein reines Beschreiben, häufig gar eine statistische Methode. »Die [Ikonographie] ist eine begrenzte und gewissermaßen dienende Disziplin, die uns darüber informiert, wann und wo bestimmte Themen durch bestimmte Motive sichtbar gemacht wurden« (41). Die Ikonographie versucht keine Interpretation von sich aus zu vollziehen, sondern sammelt und klassifiziert das Material. Es werden also nur all jene Elemente erörtert, die in das Kunstwerk, in seine eigentliche Gestalt eingehen, aber nicht die Einflüsse von außen in Form theologischer, philosophischer oder politischer Ideen. Der Begriff der ‚Ikonologie‘ aber setze dort ein, wo andere Methoden – historisch, psychologisch oder kritisch – in die Bildanalyse hineinragen und die Ikonographie »aus ihrer Isolierung« holen. »Ikonologie [ist zu verstehen] als eine ins Interpretatorische gewandte Ikonographie, die damit zum integralen Bestandteil der Kunstwissenschaft wird, statt auf die Rolle eines vorbereitenden statistischen Überblicks beschränkt zu sein« (42). Nun setzt die Analyse von Bildern weit mehr voraus als eine individuelle Vertrautheit mit Gegenständen und Ereignissen. Es wird eine Vertrautheit vorausgesetzt, welche es vermag, künstlerische Motive mit philologischen Quellen in Bezug zu setzen (vgl. 45), sei es durch ein intensives Studium der Quellenlage oder durch mündliche Überlieferung. Würde man Panofskys Modell weiterdenken, führt dies zu der paradoxen Situation, dass zur Beschreibung eines fremden Gegenstandes seine kulturhistorische, stilgeschichtliche Einordnung vorauszusetzen wäre. Somit löst sich für Panofsky auch die Frage nach der Standort- und Perspektivengebundenheit insofern auf, als dass Bildung eine unerlässliche Grundlage für die ikonographische Analyse darstellte: »Unser australischer Buschmann wäre außerstande, das Sujet des letzten Abendmahls zu erkennen; ihm würde es nur die Vorstellung einer erregten Tischgesellschaft vermitteln. Um die ikonographische Bedeutung des Bildes zu verstehen, müsste er sich mit dem Inhalt der Evangelien vertraut machen. Wenn es sich um Darstellungen anderer Themen als biblischer Geschichten oder historischer und mythologischer Szenen handelt, die dem durchschnittlichen ‚Gebildeten‘ zufällig bekannt sind, sind wir alle australische Buschleute.« (45)

Das Korrektiv verifizierender Quellen und die Kontrolle drücke sich umso mehr auf, als es sich um eine subjektive Deutung ikonographischer Analysen handle, die einem intuitiven Denken Vorschub leistet. Für die erste Ebene der ‚vorikonographischen Analyse‘ müsste hierbei die Bilderfahrung durch Kenntnisse der »Stilgeschichte« (48) gelenkt werden, die literarische Kenntnis durch das Korrektiv der »Typengeschichte« (ebd.). Die synthetische, ikonologische sei in die Art

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und Weise zu korrigieren, wie unter wechselnden historischen Bedingungen neue Weltanschauungen in neuen Formen Ausdruck fänden. Panofsky führt eine exemplarische Analyse durch anhand des um 1650 von Francesco Maffei gemalten Bildes Judith mit dem Kopf des Holofernes9. Zu sehen ist eine junge, hübsche Frau mit einem Schwert in ihrer Linken und einer Schale in der Rechten, auf der der Kopf eines Enthaupteten liegt. Ursprünglich als Bild der Salome mit dem Kopf Johannes des Täufers veröffentlicht, schleichen sich nun widersprüchliche Informationen in die Bildinterpretation mit ein: Tatsächlich erklärt die Bibel, der Kopf sei der Salome auf einer Schüssel gebracht worden, doch Salome enthauptete Johannes nicht eigenhändig, dennoch trägt sie auf dem Bild ein Schwert. Nun berichtet die Bibel von einer anderen Frau in Zusammenhang mit der Enthauptung eines Mannes, nämlich der Judith. Es stellt sich eine umgekehrte Situation dar: Judith enthauptete den Mann zwar eigenhändig, steckte ihn jedoch dann in einen Sack, anstatt ihn – wie auf dem Bild dargestellt – auf eine Schüssel zu legen. Egal, für welche literarische Quelle man sich nun bei der ikonographischen Analyse entscheidet, es bleibt das Dilemma, mit beiden Entscheidungen einen Fehler in der philologischen Kontextualisierung zu begehen. Hier kommt nun das Korrektiv ins Spiel, welches bei der Gliederung der drei Analyseebenen in diesem Fallbeispiel die vergleichende Typengeschichte wäre. Tatsächlich finden sich in Deutschland und Norditalien mehrere Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, welche die Judith mit einer Schüssel darstellten, aber nicht die Salome mit Schwert, was auf die historische gesicherte Existenz des ersteren Typus hinweist. Darüber hinaus argumentiert Panofsky, dass das Schwert ein »feststehendes und ehrenvolles Attribut« (47) der Judith, vieler Märtyrer und tugendhafter Allegorien wie der ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Standhaftigkeit‘ war. Schicklicherweise könne man es nicht auf ein wollüstiges Mädchen übertragen. Der andere Grund ist, »dass während des 14. und 15. Jahrhunderts die Schüssel mit dem Kopf des Täufers Johannes ein selbstständiges Andachtsbild geworden und besonders in den nördlichen Ländern und in Norditalien populär war« (ebd.) Mit dem Konzept der ‚Ikonologischen Interpretation‘ hat Panofsky die gesellschaftswissenschaftliche und kunstgeschichtliche Forschung näher aneinandergerückt. Die nachbarschaftliche Nähe sieht Hänseroth (1979: 196) vor allem in der Existenz und Entfaltung des Kunstwerkes im Ausgang des Rezeptiven: »Deskription war für [Panofsky] lediglich eine Vorstufe, ein Hilfsmittel zur Interpretation eines Kunstwerks (= Ikonologie), ebenso wie für den Soziologen empirische Erhebungen und Datensammlung keinen Zweck in sich haben«. Verknüpft werden müsse die Erforschung des Kunsterlebnisses immer mit einem konkreten Anlass,

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Abgebildet in der vorliegenden Arbeit auf S. 291.

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»Kunstwerk in seiner ästhetischen und sozialen Bedeutungsvielfalt« (ebd.). Zaunschirm (1975: 162) sieht in der raum-zeitlichen Betrachtung von Kunst eine innovative Leistung Panofskys, kritisiert »jedoch durch die Rückführung auf Außerkünstlerisches« kausalistische Verschleierung künstlerischer Einmaligkeit. Darüber hinaus bleibt zu diskutieren, in welchem Verhältnis die drei Stufen der Erkenntnis zueinanderstehen. Bauten sie aufeinander auf, wäre eine Hierarchisierung wissenschaftlicher Erkenntnissysteme die Folge: Auf der Basis der deskriptiven Ebene folgte dann die philologische und an der Spitze stünde die ideengeschichtliche. Dem widerspricht Hasenmueller (1978: 289)10, die anstelle einer Sequenz für ein kreisförmiges Modell plädiert. Eine Stilgeschichte könne nicht ohne die Eindrücke individueller Arbeiten geschrieben werden, wohingegen neue Werke immer auch als Derivate ihrer Schulen neue Akzente in der Kunstgeschichtsschreibung setzten.

7.2 M AX I MDAHLS I KONIK Max Imdahl 11 (1925-1988) war von 1965 bis zu seinem Tode Ordinarius für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und zählt zu den Wegbereitern einer Kunstgeschichte der Moderne. Für Imdahl war Kunstgeschichte mehr als eine rein theoretisch begründete Wissenschaft. Er begriff sie als eine Forschung der unmittelbaren Anschauung, der Erfahrung von Kunst. Ein weiteres Anliegen war ihm die Befreiung der modernen Kunst aus einer rein fachtheoretischen Diskussion und ihre verständliche Vermittlung an ein »fachfremdes« breit gefächertes Publikum. Vor diesem Hintergrund entwickelte Imdahl die Methode der ‚Ikonik‘. Sie entstand in Auseinandersetzung mit den von Panofsky entwickelten Instrumentarien der ‚Ikonographie‘ und ‚Ikonologie‘, die zwar für die Sinnbestimmung eines Bildes »unverzichtbar« (1996 [1995]: 308) seien, jedoch der »spezifischen Vergegenwärtigung von Bildlichkeit« (310) als Erfahrung beim Anblick von Bildern alleine nicht gerecht würden. Der Anspruch der ‚Ikonik‘ besteht darin, den der Kunst eigenen Qualitäten Ausdruck zu verleihen. Einer ikonischen Betrachtung erschließe sich nach Imdahl der ästhetische Gehalt in einer Anschauung des einzelnen Kunstwerkes, einer »spezifisch ikonischen Anschauungsweise« (300),

10 Hasenmueller, Christine (1978): Panofsky, Iconography, and Semiotics. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 36, 3. 11 Imdahl, Max (1995 [1996]): Giotto, Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. 3. Aufl. München: Fink (Bild und Text). In: Gottfried Böhm (Hg.): Was ist ein Bild? 2. Aufl. München: W. Fink (Bild und Text).

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welche sich von der textuellen, chronologisch voranschreitenden Bedeutungserzeugung abhebt durch die Simultanität der Ereignisse im Bild: »In der Anschauung der Miniatur erweist sich jedwede szenische Chronologie als irrelevant, vielmehr ist die textgegebene Sukzession in evidente szenische Simultaneität transformiert. Es wäre sinnlos, die verbildlichte Szene sozusagen narrationslogisch nach sukzedierenden Ereignismomenten differenzieren zu wollen – zuerst die Umarmung, alsdann die Ergreifung, alsdann Jesu Hinwendung zu Petrus oder auch umgekehrt diese noch vor der Ergreifung –, sogar müsste eine solche Differenzierung das Sinnganze des Bildes zerstören.« (308)

In der Rezeption eines Textes, sei es Literatur oder Film, verlaufen Informationsvergabe und ihre Wirkung auf der zeitlichen Ebene. Erst wenn der Buttler komplett alkoholisiert zum hundertsten Mal über den ausgestopften Kopf des Tigerteppichs stolpert, bricht das Publikum durch die stetige Wiederholung des Missgeschicks in schallendes Gelächter aus, wohingegen man als Zuschauer beim einmaligen ersten Stolpern dem armen Buttler noch auf die Beine helfen möchte. Der komische Kunstgriff der ‚Wiederholung‘ in der Neujahrskomödie Dinner for one entwickelt sich beispielsweise wirkungsästhetisch diachron, wohingegen bei der Betrachtung eines Gemäldes oder einer Plastik der Sinn sich konstituiert über die Fokusbildung auf einen prägnanten Punkt des Kunstwerkes. Nun konzediert auch Imdahl, dass Ereignisbilder einer Konnotation bedürfen, da jedes Ereignis – sei es die alltägliche oder ästhetische Erfahrung – als Sprache ihre Benennung im narrativen Text wiederfinde (Imdahl 1996: 7), also auf der denotativen Ebene die Kenntnis vom Gegenstand miteinschließe. Jedoch sei die von Panofsky geforderte Heranziehung philologischer Texte zur Deutung von Bildern dem Problem unterworfen, dass Bilder reduziert werden auf »eine Veranlassung eines wiedererkennenden identifizierenden Sehens« (89), was dem ikonischen Bildsinn nicht gerecht werde. Imdahls theoretische Fundierung der ‚Ikonik‘ ist insofern auch keine historisch geleitete, sondern eine ästhetisch-synchrone Betrachtungsweise: »Während aber Ikonographie und Ikonologie dasjenige aus den Bildern erschließen, was ihnen als Wissensinhalte vorgegeben ist, was vom Beschauer gewußt werden muß und sich durch Wissensvermittlung mitteilen läßt, sucht die Ikonik eine Erkenntnis in den Blick zu rücken, die ausschließlich dem Medium des Bildes zugehört und grundsätzlich nur dort zu gewinnen ist. Ikonographie und Ikonologie reduzieren das an Bildern Erkennbare auf das Nur-Wißbare, die Ikonik will dagegen zeigen, daß das Bild seine ihm vorgegebenen Wissensinhalte in einer Weise überbietet, der durch Wissensvermittlung alleine nicht mehr entsprochen werden kann.« (Imdahl 1996: 97)

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Man könnte an dieser Stelle spekulieren und streiten, ob methodische Neupositionierungen dieser Form ihre Motivation nicht auch in hochschulpolitisch motiviert sind. Fakt ist aber auch, dass die medientheoretische Debatte um die Wertigkeit von unterschiedlichen Kunstformen nicht erst heute begonnen hat. Die Anschauung von und auf Kunst vollzieht sich je nach Medium unterschiedlich und bildet den Ausgangspunkt einer historisch sich stetig neu belebenden Debatte um die Wertigkeiten von Medien und ihrer gesellschaftsformenden Wirkkraft. Was die Sprache nicht vermag zu beschreiben, leistet der ikonische Bildsinn. Dies stellt Imdahl exemplarisch dar anhand der szenischen Dichte in Giottos Fresko der Gefangennahme Christi (1305; Padua, Arenakapelle, S. 292 [in dieser Arbeit]). Auf der ‚vorikonographischen Verständnisebene‘ ist eine Ansammlung von Figuren zu erkennen. Helme, Lanzen, Fackeln und Keulen schwingen in der Luft und zwei Parteien stehen sich gegenüber. Fast in der Mitte ist ein Mann Zentrum des Geschehens. Er umarmt einen zweiten Mann, um ihn zu küssen, sein Mantel umgibt seine volle Gestalt. Der umarmte Mann ist nimbiert und rechts ist ein weiterer, in Erschrockenheit zurückweichender dritter Mann zu sehen, der auf den Umarmten zeigt. Ein vierter Mann im Vordergrund ist links im Bildrand zu erkennen. Er umklammert den Stoff eines schlaff herabhängenden Gewandes. Der Mann links ist eine Rückenfigur, der umarmte und umarmende nahe der Bildmitte sind beide in Seitenansicht gegeben und der Mann rechts im Dreiviertelprofil. Das Bild referiert auf der ikonographischen Verständnisebene auf Texte der Bibel, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Verse des Markus- und Lukas-Evangeliums, in denen vom Judaskuss berichtet wird, und ist auf der ikonologischen Ebene zu verstehen als ein Ausdruck der franziskanischen, vor allem das Gefühl der Heilsverkündung zu verstehen, als Symptom eines damals herrschenden allgemeinen Anthropozentrismus: »In Giottos Bild der Gefangennahme besteht die ikonische Qualität in der Konzentration des Ereignisses auf einen aktuellen und hochdramatischen Augenblick. Man sieht: Judas ist offensichtlich im Begriffe – sein Mund zeigt es unverkennbar – Jesus zu küssen, aber er bemerkt, eben jetzt im Anblick des Blickes von Jesus, seine prinzipielle Machtlosigkeit. In Giottos Bild ist der momentane durch den Blick Jesu bewirkte Stillstand in der Aktion des Judas die dramatische Essenz der Szene der Gefangennahme, gerade auch im Kontrast zu den Aktivitäten der Schergen, des Pharisäers oder auch des Hornbläsers zum Beispiel« (Imdahl 1996: 94).

Bereits hier entdecken wir eine Verquickung von Beschreibung und Interpretation, indem der Versuch des Judaskusses mit einer Haltung der Machtlosigkeit

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identifiziert wird. Darüber hinaus hat der Blick Jesu eine lähmende Wirkung auf die sonst so plastische und dynamische Szene im Gemälde zur Folge, welche nun in der Deutung des ikonischen Bildsinnes zu suchen ist. Denn »unterschiedlich zur ikonographisch-ikonologischen Interpretationsmethode nimmt die Ikonik der natürlich-gegenständlichen, das heißt wiedererkennbaren figürlichen und dinglichen Bildwerte, formale Relationen sowie bloße Linien und Richtungen jenseits des mitgebrachten Sinns aller gegenständlichen Trägerschaften wahr« (92). Bezeichnend für die ikonische Qualität sei hier nun eine »Schräge« (93), die von einer Keule zur Linken durch die Köpfe von Jesus und Judas hindurch auf den Zeigegestus des Pharisäers zur Rechten hinführt. Diese Schräge erstreckt sich nicht nur über die gesamte Bildbreite, sie bezieht auch die verschiedenen Figuren und Gruppen aufeinander. Hierin ist nun die »semantische Komplexität« (ebd.) der Bildkomposition zu finden, da Jesus zum einen in durchaus passiver und unterlegener Rolle von Judas umfangen und von einer Gruppe Soldaten umzingelt ist und überdies der Pharisäer im engagiertesten Gestus auf ihn als den Gesuchten zeigt – andererseits Jesus aber den Judas an Körpergröße deutlich überragt und in einer überlegenen Rolle auf ihn herabblickt. »Die Schräge«, so Imdahl, »ist eine der wichtigsten szenischen Sinn ergebenden Erfindungen in Giottos Bild der Gefangennahme, denn in ihr sind offensichtliche Daten der Unterlegenheit und der Überlegenheit Jesu wechselseitig ineinander transformiert« (93). Was hier geschieht, ist das Ineinanderfallen von Über- und Unterlegenheit in Form von Bedeutung, welche auf sprachlich narrativer Ebene keine adäquate Übersetzung findet, sofern man die simultane Qualität ihrer Semantik berücksichtigt. Imdahl spricht von einer eigenen Bildsprache, welche Formwerte in einer Praxis des »sehenden Sehens« (92) dem Betrachter übermittelt und ihre eigenständige Phänomenalität anerkennt, die »über jene Bedeutungen hinaus Bedeutung hat« (94). Es ist zusammenfassend zu sagen, dass die Leistung ikonischer Sinndichte in einem syntaktisch sinnvollen System inhaltliche Anschauungsmöglichkeiten eröffnet, in der die Ohnmacht Jesu ineinander fällt mit seiner Unbezwingbarkeit.

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7.3 R ALF B OHNSACKS D OKUMENTARISCHE M ETHODE Aktuell wird die Lehre der drei Sinne v.a. durch die Forschungsarbeiten des Sozialwissenschaftlers Ralf Bohnsack 12 vertreten. Darunter fallen die Arbeitsfelder der rekonstruktiven Sozialforschung, der Gesprächs- und Interaktionsanalyse mit Schwerpunkt auf Gruppendiskussionsverfahren13, die Bildinterpretation mit Bezug zur Ikonologie und Ikonik 14 sowie die Evaluationsforschung. Die theoretischen Bezüge zu Mannheim sollen in diesem Teilkapitel vorgestellt werden anhand der Frage, worin Bohnsack die Bedeutung einer praxeologischen Wissenssoziologie sieht. Nach Bohnsack erarbeitete Mannheim einen »Zugang zum handlungsleitenden Wissen« (2007b: 180) durch die systematische Rekonstruktion umfangreicher Forschungserfahrungen im Felde der qualitativen Forschung: Sucht die Forschung in der Gewohnheit, nach dem Was des Seienden zu fragen und damit in der immanenten Einstellung der Beschreibung zu verbleiben, dreht die wissenssoziologische Forschung die Frage um vom Was zum Wie. Nicht mehr die Kriterien einer vermeintlich faktischen Wahrheit oder Richtigkeit stünden dann im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Frage, wie Denkstile, Ideologien, Weltanschauungen im interaktiven und sozialgeschichtlichen Herstellungsprozess als wahrheitsfähige im Alltag hergestellt werden. Kernanliegen sei hierbei die Rekonstruktion

12 Bohnsack, Ralf (2007b): Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (Erfahrung, Wissen, Imagination, Bd. 15), S. 180-191. Bohnsack, Ralf (2006b): Mannheims Wissenssoziologie als Methode. In: Dirk Tänzler; Hubert Knoblauch; Hans-Georg Soeffner (Hg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: UVK Universitätsverlag (Erfahrung, Wissen, Imagination, Bd. 8), S. 271-292. Bohnsack, Ralf (1997): Dokumentarische Methode. In: Ronald Hitzler; Anne Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 191-212. 13 Bohnsack, Ralf (2006a): Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis. Opladen: Budrich. 14 Vgl. Bohnsack, Ralf (2007a): Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation. In: Ralf Bohnsack, Iris Nentwig-Gesemann; Arnd-Michael Nohl (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 2., erw. und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss, S. 67-89.

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des atheoretischen oder vorreflexiven Prozesses, zu dem ein geistiges oder materielles Gebilde hergestellt würde (vgl. ebd.). Der Kerngedanke einer praxeologischen Wissenssoziologie liege in der methodischen Absicht, als nicht nur einseitig auf die Enthüllung der Motivlage für das alltagspraktische Handeln abgezielt wird, sondern vielmehr gemeinsam mit der Frage nach der handlungspraktischen Herstellung von Realität das Problem in den Fokus rückt, »wie denn nun das alltagspraktische Handeln selbst in adäquater Weise zu beschreiben und zu erklären sei« (182). Bohnsack greift hier das von Mannheim (vgl. 1980 [1922-25]b: 73) gezeichnete Bild des Knotens auf, der erst dann vom Menschen in seiner Gänze erfasst werden kann, sobald dieser in die Lage versetzt wird, selbst einen Knoten aus Strick und Seil zu bilden. Dieser Prozess einer Modellierung materieller Gebilde auf der Basis geistiger Schaffensprozesse jedoch vollzieht sich intuitiv, auf der Ebene des vortheoretischen Sinnes. »Wenn wir dieses Modell auf den Herstellungsprozess geistiger Gebilde zu übertragen suchen, so führt uns die Rekonstruktion des Herstellungsprozesses, des gesellschaftlichen, des interaktiven Prozesses, in dem der Handelnde zum Zeitpunkt des Handelns aufgeht, in dem er lebt, existiert, zum Erfassen jener Funktionalität, die dem Gebilde, der Handlung, der Äußerung, dem Begriff innerhalb dieses Handlungs- und Interaktionszusammenhanges zukommt. […] Die Bedeutung einer Handlung […] erfasse ich dann, wenn ich jenen existentiellen sozialen Zusammenhang, jene Handlungspraxis mir rekonstruktiv vergegenwärtige, für welche diese Äußerung einerseits Ausdruck ist, deren Bestandteil sie andererseits aber zugleich darstellt. […] Ein derartiges Erfassen von Bedeutungszusammenhängen von ihrer sozialen oder existentiellen Genese her nennt Mannheim auch genetische Interpretation.« (Bohnsack: 2007b: 181)

So erläutert Mannheim in seinen Schriften zur Kultursoziologie (1980 [22-25]: 89b), dass die Diskrepanz zwischen genetischer und immanenter Interpretation als eine Beziehung des Ambivalenten und Doppelten zu verstehen ist. Wenn beispielsweise einen Vorposten im Wald eine Kugel trifft, schreit er vor Schmerz laut auf. Dieser Schrei ist weder Ausdruck noch Kundgabe, sondern eine Fortsetzung der psychophysischen Einstellung, die durch die Verwundung und das Auftreten von Blut hervorgerufen wird. Ist also die erste Phase eine Naturerscheinung, folgt ihr unmittelbar die »bewusstseinsmäßige Erscheinung« des Schreis, die mit der Hinwendung und Kundgabe an einen Adressaten verknüpft ist mit der Aussage »ich brauche Hilfe«. Überträgt man dieses Bild einer individuellen Erfahrung auf die geistigen Gebilde, kann man beispielsweise das Werk Platons so verstehen wollen, wie er sich

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selbst verstand. Ein philosophisches System wird somit immanent erfasst (vgl. ebd. 85). Genetisch wird eine Interpretation dann, wenn sie den in sich geschlossenen Kreis des besonderen Systems verlässt und auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Gesetze arbeitet anhand einer »kausal-genetisch-psychologischen Erklärung« (87) oder sozio-genetisch die weltanschauliche Konstellation in den Blick nimmt. Die Methode gliedert Bohnsack in die drei Schritte (vgl. 2007b: 185187) der 1.) formulierenden und der 2.) reflektierenden Interpretation sowie, als dritten Schritt, der Typenbildung und Generalisierung. 1.) ‚Formulierende Interpretation‘ meint gemäß Bohnsack die »Rekonstruktion kommunikativer Sinngehalte« (ebd.). Das, was wörtlich mitgeteilt wurde, soll auf der Textebene re-formuliert werden. Im Bereich der Textinterpretation bedeutet das die Entschlüsselung der »thematischen Struktur der Texte«. Dabei müsse man das, was thematisch ist unterscheiden vom Wie des Themas, d.h. »in welchem Rahmen oder in welchem modus operandi es behandelt wird« (ebd., Herv.i.Orig.). 2.) Die ‚reflektierende Interpretation‘ geht der Frage nach, wie und durch welchen Rahmen eines Milieus, einer Generation, Gesellschaft oder Weltanschauung das Mitgeteilte hergestellt wird. Die Praxis folgt einer Sequenzanalyse, anhand derer alle empirisch beobachtbaren Aussagen dokumentiert und mit den Anschlussäußerungen verglichen werden. Die sich daraus ergebenden Regelmäßigkeiten werden als für die jeweilige Fragestellung signifikante Kriterien dokumentiert und anhand eines »Vergleichshorizontes« (186) von möglichen Anschlussaussagen anderer Milieus, kurz Repräsentanten anderer konjunktiver Erfahrungsräume verglichen. 3.) Die ‚Typenbildung und Generalisierung‘ zielt auf die Erschließung von Erfahrungswelt, die sich aus den Überlappungen unterschiedlicher Dimensionen ergibt, seien es geschlechtsspezifische, bildungs- oder generationentypische. Diese Fragestellung lässt sich nur dann beantworten, wenn eine Komparatistik des Ausschlusses eine Generalisierung dieser Typik ausgeschlossen werden kann. So wurden z.B. Orientierungsmuster junger Menschen mit Migrationshintergrund als i.d.S. typische eingestuft, nachdem man ihre Aussagen mit den Neigungen junger Menschen ohne Migrationshintergrund verglichen hatte15. Die sich daraus ergebenden Differenzen verneinten die Annahme einer generalisierbaren Charakteristik.

15 Bohnsack, Ralf (2007c): Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse. Grundprinzipien der dokumentarischen Methode. In: Ralf Bohnsack, Iris Nentwig-Gesemann und Arnd-Michael Nohl (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 2., erw. und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss, S. 326-345.

8. Das Triadische Modell nach Mannheim und Panofsky

Mannheim sieht in Begriffen wie jenen der ‚Ideologie‘, ‚Weltanschauung‘, ‚Konstellation‘ und ‚Relationalität‘ wesentliche Komponenten zur Beschreibung seiner Kultursoziologie. Keineswegs beschränken sich diese auf eine politisch werthafte Enthüllungswissenschaft von Herrschaftsstrukturen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer »Forschungsabsicht, die der Frage nachgehen will, wann und wo in Aussagestrukturen historisch-soziale Strukturen hineinragen« (1995 [1929]: 229). Nach Mannheim ist jegliches Fühlen, Wahrnehmen und Verstehen an unseren Standort gebunden. Die Landschaft, die sich vor dem Betrachter darstellt, erlaubt nur den Einblick in einen Aspekt ihres Ganzen, denn ihre Wahrnehmung vollzieht sich immer von einem Aussichtspunkt und einer Perspektive. Die Landschaft als Ganzes ist als solche nicht zu erkennen. Menschen bewegen sich in unterschiedlichen Wissenssphären, Mannheim nennt sie auch »konjunktive Erfahrungsräume« (Mannheim 1980 [1922-25]b: 212, 218, 220), die sich dadurch auszeichnen, dass Menschen wesentliche Aspekte einer Weltanschauung teilen. Die konjunktiv geteilte Erfahrung wiederum formt und fördert die Herausbildung einer gemeinsamen Sprache, die als Ausdruck eines geteilten Denkstils oder Common Sense den Überschuss an Bedeutungsinvestitionen und -zuweisungen bündelt, aber gewiss nicht reduziert. Denn konjunktive Erfahrung heißt zunächst, »dass sie vom Gegenüber, vom anderen […] nur eine Seite, nur eine Perspektive abgewinnt und zwar eine Perspektive, die eingebettet ist« (212). Deshalb sei auch die Grundform der Mitteilung geschehener Dinge die Erzählung, hinter welcher der Erzähler steht. Diese »Urform« der Perspektivität bleibe bis in die »exaktest getriebene Historie« (213) bestehen. Außerdem könne der Mensch sich selbst nur soweit erkennen, als er in

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existentielle Beziehungen zu anderen gerate1. In der Beziehung ‚bekannt-unbekannt‘, oder ‚eigen-fremd‘ ist als Vorbedingung der Selbsterkenntnis die soziale Existenz zu nennen: »[E]rstens, weil wir uns nur durch diese in menschlich existentielle Beziehungen versetzen können; zweitens, weil jeder Mensch eine andere Seite unseres Selbst in Aktualität bringt; drittens, weil wir uns leichter durch die Augen und in der Perspektive eines anderen als von uns selbst her zu sehen imstande sind. All dies sei als Beispiel dafür angeführt, daß diese Art der Erkenntnis stets in weitgreifenden existentiellen Fundamenten verankert ist und das Erkenntnisresultate dieser Art nur für jene Kreise […] in die existentiellen Verbundenheiten in einer bestimmten Form gelten« (215).

Diese Art der Erkenntnis habe demnach keine allgemeine, sondern nur konjunktive Gültigkeit, getragen von einem Milieu, einer Gemeinschaft oder einer Generation. Bohnsack (2007b: 183f.) nennt das Beispiel der »Familie«, dessen überindividuelle, wörtliche Bedeutung allen Menschen gegeben und verständlich ist. Diese Ebene des Wissens heißt deshalb kommunikativ-generalisierend, das einem Eintrag im Lexikon ähnelt. Jedoch erlaubt es uns noch keinen Zugang zum konkreten Erfahrungsraum milieuspezifischer Vorstellungen dessen, was Families sein kann; eben dadurch zeichnet sich das konjunktive Wissen aus. Die von Mannheim als bedeutungskonstituierende Größen definierten Sinne des Ausdrucks, Objekts und Dokuments kreisen um dieses Verhältnis des Konjunktiven und ermöglichen es dem Betrachter, eine Momentaufnahme von Weltanschauung auf den Gegenstand einzufangen und innerhalb eines terminologisch-begrifflich festgesetzten Bereiches für die Forschung zu dokumentieren. Die problematische Frage, ob die Methode der drei Sinne operationalisierbar sei, konnte durch den Exkurs in die kunstgeschichtliche Methodik teilweise beantwortet werden: Über die Simultanität von Bild und Wort hat Imdahl den ‚ikonischen Sinn‘ eines Gemäldes erklärt, zuvor jedoch nähern sich beide – Panofsky wie Imdahl – auf der deskriptiven Ebene ihrem Gegenstand. Womit an erster Stelle der folgenden Analyse der objektive Sinn den Gehalt des Objektes reformulieren soll, schließlich ist gemäß Mannheim der objektive Sinn unabhängig von

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Eine historische Studie zur Frage nach dem Ursprung und der Verarbeitung von Wissen um das Jahr 1830 findet sich bei Borgard, Thomas (1999): Immanentismus und konjunktives Denken. Die Entstehung eines modernen Weltverständnisses aus dem strategischen Einsatz einer ‚psychologia prima‘ (1830 - 1880). Tübingen: Niemeyer (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 63).

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Ausdruck und Dokument zeitungebunden gegeben. Die beiden historisch sich veränderenden Größen des Ausdrucks und des Dokuments verhalten sich dagegen immer zum Objekt. Dennoch bleibt die Frage offen: Wo ist die Grenze zwischen unvermittelter und vermittelter Sinnebene innerhalb des Objektes? Schließlich bleibt bei universellen Theorieanwendungen immer die Gefahr, ein erkanntes Dreieck in ein Kreismodell reindrücken zu wollen. Und genauso verhält es sich auch mit der Weltanschauungs-Lehre Mannheims, wenn man den Begriff des Objektes mit einer objektiven Beobachterhaltung missverständlich vermengt und als eine positivistische Tatsachenforschung auslegt. Panofsky (1998: 1065) benennt das Problem beim Namen: »Jede Deskription wird – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen.« Eine wirklich rein formale Beschreibung – wenn es sie denn gäbe – dürfte nicht einmal Ausdrücke wie »Stein«, »Mensch« oder »Felsen« gebrauchen, sondern müsste sich grundsätzlich darauf beschränken »die Farben, die sich in mannigfacher Nuancierung gegeneinander absetzen« (ebd.) als mehrdeutige Sinnelemente zu beschreiben: »Schon wenn wir die dunkle Fläche da oben als ‚Nachthimmel‘ oder die merkwürdig differenzierten Helligkeiten da in der Mitte als einen ‚menschlichen Körper‘ bezeichnen würden, und vollends wenn wir sagen würden, dass dieser Körper ‚vor‘ jenem Nachthimmel stehe, würden wir etwas Darstellendes als etwas Dargestelltes, eine räumlich mehrdeutige Formgegebenheit auf einen präzis dreidimensionalen Vorstellungsinhalt bezogen haben. Nun bedarf es keiner Erörterung, dass eine in diesem Sinne formale Beschreibung praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist« (ebd.).

Damit folgt Panofsky Mannheim, für den die übliche Unterscheidung in Form und Inhalt »völlig flüssig« ([1921-22]: 110) ist. Bereits im Bildinhalt sei zu beobachten, dass alle diese Momente zugleich einen Ausdruckscharakter mitenthalten. Genauso gäbe es »kaum eine Art der Erzählung, die nicht zugleich einen Ausdruckcharakter aufweise« (111). So sei man im Mittelalter auch nur eine gewisse biblische Erzählweise gewohnt, welche die für die eigenen Zwecke dienlichen Gefühle transportiere. Erst mit der Kanonisierung dieser Erzählmuster wurde der Eindruck bei den Zeitgenossen erweckt, es handle sich um einen objektiven inhärenten Sinn. Imdahl erweitert das von Panofsky entwickelte Modell ikonographischer und ikonologischer Deutung durch den ikonischen Bildsinn. Somit ist ein Angebot geschaffen für die im Werk immanente Darstellung von Fremdheit; ein Sinn, der die Kontextualisierung des Werkes mit dem dokumentarischen Kommentar und dem intentionalen Akt nicht ersetzen, sondern erweitern soll. Und genau hier müsste

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das Verhältnis von Form und Inhalt noch feiner ausdifferenziert werden mit einer Forschungshaltung – oder einem Eingeständnis des Beobachters –, selbst als Stimme und Repräsentant eines Denkstils und einer bestimmten Weltanschauung auf die Fremde zu blicken: Auch die eigene Beobachterhaltung ist bereits eine Deutung und somit neben den zwei Ebenen des ‚Ausdrucks‘ und ‚Dokumentes‘ die dritte Perspektive auf den Gegenstand, der objektive Sinn. Oftmals wird Erkenntnis als ein Vorgang charakterisiert, der sich zwischen der wahrnehmenden, erfahrenden Person und dem Gegenstand abspielt. Aber die wissenssoziologische Perspektivik unterscheidet sich an diesem Punkt grundsätzlich davon: »Sie sieht die erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht« (Knoblauch 2010: 18). Daran anschließend findet sich auch bei Bohnsack (2007b: 185) zur Standortgebundenheit des Beobachters folgende Erklärung: »Die dokumentarische Methode eröffnet also mit der Kategorie des ‚atheoretischen Wissens den Blick auf eine Sinnstruktur, die – und dies ist entscheidend – bei den Akteuren selbst wissensmäßig repräsentiert ist, ohne aber Gegenstand begrifflich-theoretischer Reflexion zu sein. Somit gehen die Beobachter nicht davon aus, dass sie mehr wissen als die Akteure oder Akteurinnen, sondern davon, dass letztere selbst nicht wissen, was sie da eigentlich wissen. Somit muss nicht […] ein privilegierter Zugang zur gesellschaftlichen Realität in Anspruch genommen und die Perspektive des Beobachters auf die objektiven Strukturmerkmale und somit das Wissen des Beobachters mehr oder weniger absolut gesetzt werden.«

Die objektive Sinnebene bleibt eben nicht – wie bei der Darstellung Panofskys – auf der vorikonographischen Ebene ein deskriptives Hilfsmittel zur Erklärung des ikonographischen Sinnes, sondern ist ein unabhängiger, den beiden anderen Sinnebenen an Relevanz in nichts nachstehender Blick auf das Werk – eine Trias entsteht zwischen der Sprache und dem Inhalt, der Literaturgeschichte sowie der Poetik. Der methodische Mehrwert dieses Triadischen Modells nach Mannheim liegt in der Beibehaltung der heute viel beschworenen Prämisse der intersubjektiven Stabilität und im gleichzeitigen Potenzial der Selbsterkenntnis (Mannheim 1964 [1921-22]: 109): »Es ist zugleich etwas Eigentümliches, dass wir unter Umständen in dieser Art der Interpretation auch uns selbst gegenüberstehen können. Die intentionale Ausdrucksinterpretation unserer eigenen Objektivationen bildet für uns kein Problem. Was wir durch einen Ausdruckssinn bekunden wollten, das war uns im Vollzuge in Selbstgegenwart originär gegeben, wir können es uns […] stets vergegenwärtigen. Was aber eine unserer Handlungen dokumentarisch bedeutet, das kann uns genauso zum Problem werden, als stünde uns in

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unseren Objektivationen ein Fremder gegenüber. Kaum heben sich irgendwo die Ausdrucks- und die Dokumentarinterpretation so scharf voneinander ab wie in diesem Grenzfalle der ‚Selbsterkenntnis‘«.

Gewinnbringend beugt diese Methode außerdem einem synthetisierenden Blick auf den Gegenstand vor, da durch die polyvalente Betrachtungsweise die Vielfalt interdisziplinärer Forschungsdiskussionen nicht vorweggenommen, sondern vielmehr vorbereitet wird, denn in der Heranziehung unvermittelter (Objekt) und vermittelter Sinnebenen (Intention und Dokument) werden sowohl empirisch als auch hermeneutisch geleitete Weltanschauungen gleichermaßen berücksichtigt. Diese polyvalente Perspektive auf den Gegenstand der Fremdheitswahrnehmung in der Literatur ist gerade deshalb so notwendig, als auch die Wahrnehmung des Fremden sich immer im relationalen Blick zwischen Eigenem und Fremdem vollzieht. Andererseits erlaubt es die wissenssoziologisch geleitete Methode die um den Gegenstand kreisenden Stimmen aus den Ausgangs- und Zielkulturen in einer gleichberechtigten Gegenüberstellung zu dokumentieren, ohne den Anspruch zu erheben, eine allgemeine Theorie der Kulturinterpretation zu leisten. Vielmehr sollen »interpretationsoffene Generalisierungen im Rahmen des Einzelfalls« (Bachmann-Medick 2006: 86)2 ermöglicht werden, geleitet durch das individuelle Forschungsinteresse. Für die IKLW bietet das Modell Mannheims darüber hinaus ein Instrument, das die immanente Analyse der Sprache als Abbild gesellschaftlicher Wissenszusammenhänge gleichermaßen berücksichtigt wie die literaturhistorische, hermeneutisch verfahrende Analyse. Es soll an dieser Stelle auch noch einmal betont werden, dass hier keineswegs einem literaturwissenschaftlichen Theoriemodell das Wort geredet wird, dem jegliche Bindung an den Gegenstand fehlte. Im Gegenteil: Die Sinne der Weltanschauungs-Interpretation bilden die Gefäße für eine Bündelung und Lenkung von Interpretationsmöglichkeiten, die eine induktive, erkenntnisgeleitete Literaturwissenschaft auf der Basis historisch gesicherten Materials erst möglich machen. Bezug nehmend auf Mannheim findet sich in der 1932 veröffentlichten Schrift Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst3 eine aufschlussreiche Textstelle von Erwin Panofsky, die die Notwendigkeit einer regelgeleiteten, den zeithistorischen Denkstil und Geist immer berücksichtigenden Interpretation verdeutlicht. Erwin Panofsky gibt in seinem Artikel 2

Bachmann-Medick, Doris (2009): Cultural turns Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften.

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Panofsky (1998 [1934]): Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, S. 1064-1078.

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den Gedankengang Martin Heideggers wieder, der sich seinerseits auf Immanuel Kant beruft4. Der Vortrag wurde am 20. Mai 1931 vor der Kieler Ortsgruppe der Kantgesellschaft gehalten. Ziel war die Diskussion um all die Grundsätze von Deutung, die einen Kunsthistoriker leiten sollten. »In Heideggers Kantbuch finden sich einige bemerkenswerte Sätze über das Wesen der Interpretation – Sätze, die sich zunächst nur auf die Auslegung philosophischer Schriften beziehen, die aber im Grunde das Problem jeglicher Interpretation bezeichnen: ‚Gibt nun eine Interpretation das wieder, was Kant ausdrücklich gesagt hat, dann ist sie von vornherein keine Auslegung, sofern einer solchen die Aufgabe gestellt bleibt, dasjenige eigens sichtbar zu machen, was Kant über die ausdrückliche Formulierung hinaus in seiner Grundlegung ans Licht gebracht hat; dieses aber vermochte Kant nicht mehr zu sagen, wie denn überhaupt in jeder philosophischen Erkenntnis nicht das entscheidend werden muss, was sie in den ausgesprochenen Sätzen sagt, sondern was sie als noch Ungesagtes durch das Gesagte vor Augen legt [...] Um freilich dem, was die Worte sagen, dasjenige abzuringen, was sie sagen wollen, muss jede Interpretation Gewalt brauchen. Wir werden einsehen müssen, dass auch unsere bescheidenen Bildbeschreibungen und Inhaltsdeutungen, insofern sie eben nicht einfache Konstatierungen, sondern auch schon Interpretationen sind, durch diese Sätze getroffen werden. Auch sie, sogar das scheinbar unproblematische Aufzeigen eines bloßen Phänomensinns, legen im Grunde ‚Ungesagtes vor Augen‘, auch sie brauchen daher, mit Heidegger zu reden, ‚Gewalt‘. Und damit erhebt sich die schicksalsschwere Frage: wer oder was setzt dieser Gewalt eine Grenze? Zunächst gibt es natürlich eine äußere Grenze, nämlich den rein empirischen Sachverhalt: eine Bildbeschreibung oder Inhaltsdeutung ist in dem Augenblicke ‚falsch‘, indem sie etwa einen Schlagschatten für eine Frucht, oder einen Elch für einen Hirschen ansieht[.] [...] Aber über diese äußere Grenze hinaus muss es auch Schranken geben, die der interpretativen Tätigkeit von innen her gesetzt sind, und Heidegger selbst sagt etwas später: ‚Solche Gewalt kann aber nicht schweifende Willkür sein, die Kraft einer vorausleuchtenden Idee muss die Auslegung treiben und leiten‘.« (1998 [1932]: 1072)

Entscheidend ist in diesem Zitat die Erkenntnisabsicht hinter einer Interpretation, »dasjenige den Worten abzuringen, was sie sagen wollen«. So ist dann auch die »Gewalt« der Interpretation zu verstehen, die bereits beim »Phänomensinn«, nämlich im Erkennen von reiner Form, beginnt. Nun stellt Panofsky die Frage, inwieweit einer Aussage, Gestalt oder grundsätzlichem Phänomenen Gewalt in Form von Interpretation angetan werden darf. Panofsky geht diesem Problem ideengeschichtlich nicht näher nach, aber zeichnet für die methodologische Praxeologie 4

Vgl. Ferretti, Silvia (1989): Cassirer, Panofsky, and Warburg. Symbol, art, and history. New Haven: Yale University Press, besonders S. 221-237.

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seines Faches entscheidende Konturen, die auch für die literaturwissenschaftliche Analyse operationalisierbar sind: »Für unser Gebiet aber gilt das Folgende: Die Quelle der Interpretation (zu der, um es noch einmal zu sagen, auch die bloße Beschreibung gehört) ist allemal das Erkenntnisvermögen und der Erkenntnisbesitz des interpretierenden Subjekts, nämlich unsere vitale Daseinserfahrung, wenn nur der Phänomensinn aufgedeckt werden soll, und unser literarisches Wissen, wenn es sich um Bedeutungssinn handelt. Und nun möchte ich glauben, dass das, was in diesen subjektiven Erkenntnisquellen als objektives Korrektiv gegenübertritt – und eben dadurch ihr Ergebnis ‚sichert‘ – nichts anderes ist als etwas, was wir ‚Überlieferungsgeschichte‘ nennen können, und was uns im Fall des Phänomensinns als ‚Gestaltungsgeschichte‘, im Fall des Bedeutungssinns als ‚Typengeschichte‘ begegnet ist. Diese Überlieferungsgeschichte zeigt uns in der Tat die Grenze, bis zu der unsere Gewaltanwendung gehen darf; denn wenn wir berechtigt, ja geradezu genötigt sind, von uns aus das ans Licht zu ziehen, was in den Dingen selbst tatsächlich nicht gesagt worden ist, so zeigt uns die Überlieferungsgeschichte, was auch nicht hätte gesagt werden können, weil es im Hinblick auf Zeit und Ort entweder nicht darstellungsmöglich oder nicht vorstellungsmöglich gewesen wäre« (ebd.: 1073).

Indem Panofsky die Zweiteilung von Gestaltungs- und Typengeschichte vollzieht, setzt er einer interpretatorischen Regellosigkeit einen Riegel vor, denn literarisches Wissen wirkt in die Konstruktion von Bedeutung ebenso mit ein wie das reine Erkenntnisvermögen des interpretierenden Subjekts. Das Modell ist auch eine Antwort auf die verstärkt skeptische Haltung gegenüber dem scheinbar gesicherten Wissen in Fragen um Methodologie in der Geschichtsschreibung. So konstatiert der Münchener Theaterwissenschaftler Hans-Peter Bayerdörfer, dass »[…] geschichtliche Orientierung von irgendeinem Grad von Verbindlichkeit insgesamt fraglich und Geschichtsbewusstsein gänzlich beliebig geworden [scheint]. Nicht viel verbindlicher klingt eine teils wissenschaftlich, teils modisch verwendete Vokabel wie ‚Posthistorie‘, die im wissenschaftlichen Bereich universelle Freizügigkeit verheißt oder verlangt [und] Geschichte kaum mehr als Regulativ in den Text- und Kunstwissenschaften zulässt. Dieser Überdruss und diese Unsicherheit müssen selbst als historisches Phänomen verstanden werden.« (1990: 41)5

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Bayerdörfer, Hans-Peter (1990): Probleme der Theatergeschichtsschreibung. In: Renate Möhrmann; Matthias Müller (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Berlin: D. Reimer, S. 41-63.

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Somit wäre im o.g. triadischen Modell auch das erkennende Subjekt als Forscher und Historiograph im Feld des ‚objektiven Sinnes‘ mitberücksichtigt und die Probe auf diskursive Reliabilität durch die Ko-Präsenz der weiteren Sinne in Gegenstandes und Dokument gesichert.

9. Interkulturalitätsdiskurse am Beispiel von Yōko Tawada

Der folgende Abschnitt untersucht die in der Einleitung genannten Werke im Ausgang der Mannheim’schen Weltanschauungs-Interpretation. Um die literarischen Werke kreisen die Sinne auf der objektiven, intentionalen und dokumentarischen Ebene. Da es sich bei der objektiven Ebene um die zeitlich ungebundene, immer vorfindbare und unvermittelte Ebene handelt, steht die Wiedergabe der Texte auf dieser Ebene auch immer an erster Stelle. Es wird dann auf der intentional-autorenpoetischen Ebene der Inhalt von Seiten der Schriftstellerin kommentiert. Die im Schulunterricht oftmals erhobene, ungeliebte Frage, »Was will uns der Autor hiermit sagen?« ist an dieser Stelle nicht falsch. Jedoch ist dieses Wort lediglich ein Teil eines literarischen Gespräches, denn den Ansichten der Autorin stellt sich nun die Ebene der dokumentarischen Weltanschauung gegenüber, die ihre Perspektive auf das zu verhandelnde Themenfeld äußert. Hierbei wurden einerseits die Stimmen der Literaturkritik gewählt, andererseits Stimmen der japanologischen sowie germanistischen Forschung, da sich die wissenssoziologische Forschung immer auch als wissenschaftsreflexiv ausgerichtete versteht. Nun bleibt noch die entscheidende Frage unbeantwortet, worauf sich all diese Stimmen eigentlich beziehen. Die Arbeiten zu Yōko Tawada gliedern sich, wie in der Einleitung schon vorweggenommen, in vier Themenfelder: ‚Grenzen und Räume‘,‚literarische Mehrsprachigkeit‘, der Frage nach der ‚Übersetzbarkeit von Kultur‘ sowie der Rolle ihres Werkes im institutionellen Kontext der Adelbertvon-Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger. Bei diesen Kriterien der Untersuchung handelt es sich nicht um eine thematische Vorwegnahme der (gemäß Mannheim) empirischen Messung, sondern um thematische Schnittmengen, die sich aus dem literarischen Gespräch zwischen den drei Sinnesebenen ergaben. Die Ergebnisse werden dann im Fazit der Arbeit noch einmal zusammengefasst.

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9.1 G RENZ - UND R AUMFIGURATIONEN

DES

F REMDEN

Das Verhältnis zwischen dem Eigenen und Fremden nimmt in Tawadas Arbeiten einen zentralen Platz ein. Führen wir uns noch einmal Mannheims ‚Almosen-Beispiel‘ (vgl. Kap.6) vor Augen, dann interpretiert die dritte, den Akt der Almosenübergabe beobachtende Instanz eine aus ihrer Sicht kulturell überholte Geste. Weltanschauungen sind demnach wandelbar und korrespondieren nicht zwangsläufig mit dem intentionalen Akt. Somit sind auch illokutionäre Ansprüche auf alles, was ‚fremd sei‘ unter den Bedingungen der Zeit und des Ortes neu zu bewerten. Dass die im Westen mit einer Selbstverständlichkeit vertretene Idee des ‚Indvidualismus‘ als Grundbedingung für alle modernen Gesellschaften vorausgesetzt wird, zeigen die Zerwürfnisse interkulturellen Handelns, wie in einer Untersuchung der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Lydia Liu (1995)1 besonders deutlich hervorgehoben wurde. So konnte sie nachweisen, dass die Idee des ‚Individualismus‘, welche die chinesische Literatur der Moderne charakterisiere, in China zuvor nicht exisitierte. Individualismus sei hier vielmehr eine »eine neologistische Lehnwortübersetzung einer früheren japanischen Übersetzung eines europäischen Konzeptes« (Liu 1995, S. XIX). Nun argumentiert Liu, dass sich die westliche Forschung immer noch unreflektiert der Kategorie ‚des Eigenen‘ bediene, die aber in anderen Kulturen gar nicht vorzufinden sei, woraus gravierende methodologische Probleme entstünden (ebd. 8). Es soll nun untersucht werden, inwieweit Tawadas literarische Werke zu ‚Fremdheit‘ in weltanschaulichen Traditionen verschiedener Denkstile verortbar sind, wobei zwei wissenschaftshistorische Ansätze sowohl die ‚westliche‘ als auch ‚östliche‘ Perspektiven berücksichtigen. Zuvor jedoch werden auf der objektiven Ebene literarischen Quellen für Modelle von Grenzfigurationen vorgestellt. Dabei wird sich zeigen, dass der Statik einer Grenze, sei es beispielsweise die nationalstaatliche, ein utopisches Konzept der Grenzüberschreitung entgegengesetzt wird. Die Motivation hierfür, also der Innenweltbezug zwischen Text und Autorin, wird dann auf der intentionalen Ebene vorgestellt.

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Liu, Lydia He (1995): Translingual practice. Literature, national culture, and translated modernity – China, 1900-1937. Stanford: Stanford University Press.

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9.1.1 Objektiver Sinn 9.1.1.1 Wo Europa anfängt Bei den Erzählungen Wo Europa anfängt (1991b) handelt es sich um den ersten ursprünglich auf Deutsch geschriebenen Text, der zwar im Jahre 1988 verfasst, aber erst drei Jahre später auf dem deutschen Literaturmarkt veröffentlicht wurde. Die titelgebende Erzählung des gleichnamigen Bandes bildet den Abschluss einer Illustration von vierzehn Gedichten, welche sowohl auf Deutsch, in der Übersetzung von Peter Pörtner, als auch auf Japanisch gedruckt zu lesen sind. Wir finden also bereits in der formalen Komposition des Werkes eine Vermischung der literarischen Gattungen vor. Auch anhand der titelgebenden Erzählung lässt sich schnell ersehen, wie die Autorin mehrere Textsorten kombiniert, um die Erwartungen des Lesers zu zerstören, es handle sich bloß um reinen Reisebericht. Die Erzählung Wo Europa anfängt (65-87) ist selbst in 20 Abschnitte geteilt, wobei dem Leser Ausschnitte eines Reiseberichts (V, IX, XII, XVIII) ebenso präsentiert werden wie Tagebucheinträge (III, VII, VIII, XI, XV), ein Brief (XVII), mündliche Erzählungen über die Reise (VI, X) sowie Märchen (I, XIII, XIV, XIX). Die Erzählung beginnt mit einem Märchen und der Aussage der Großmutter der Erzählerin, worin das Wasser als Grenzlinie zwischen dem Eigenen und Fremden erörtert wird: »Reisen hieß für meine Großmutter, fremdes Wasser zu trinken. Andere Orte, anderes Wasser. Vor einer fremden Landschaft müsse man sich nicht fürchten, aber fremdes Wasser könne gefährlich sein.« (66). Die Geschichte handelt von einem Mädchen, dessen Mutter an einer unheilbaren Krankheit litt. Sie wurde Tag für Tag schwächer und ihre Brüder bereiteten sich schon heimlich auf ihre Beerdigung vor. Nun besuchte eine weiße Schlange das Mädchen und sagte, sie solle mit ihrer Mutter zum Feuervogel gehen und sich von dessen flammenden Federn berühren lassen, dann würde die Mutter wieder gesund werden. Auf dem langen Weg dorthin solle das Mädchen nicht vom fremden Wasser trinken, was das Mädchen jedoch letztendlich kurz vor ihrem Ziel tut: Mit einem Schlag wird das Mädchen 99 Jahre alt, die Reise dauerte 99 Tage. Nun aber erfährt der Erzählstrang einen Bruch und durch das Einfügen des Pronomen »ich« (67) tritt die Erzählerin aus dem Hintergrund heraus, reflektiert das bisherige Geschehen und vor allem die Rolle, Funktion und Bedeutung des fremden Wassers in einem klassischen Verfremdungseffekt2: 2

Bertolt Brechts Kritik an der psychologischen Einfühlung des Zuschauers in das Spiel des dramatischen Theaters äußert sich vor allem in der unkritischen Nachahmung. Zur Auswahl der Mittel des Epischen Theater gibt Brechts Kleines Organon für das Theater mit einem Regelapparat von 77 Paragraphen Auskunft. Erstens: Für den Erkenntnisgewinn zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation müsse man diese vom Standpunkt

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»Ich, als kleines Mädchen, glaubte nicht daran, dass es fremdes Wasser gebe, denn ich dachte immer, der Globus sei eine Wasserkugel, auf der viele kleine und große Inseln schwimmen, das Wasser müsse überall gleich sein. Im Schlaf hörte ich manchmal das Rauschen des Wassers, das unter der Hauptinsel Japans floss. Die Grenze, die die Insel umschloss, bestand auch aus Wasser, das als Welle ununterbrochen ans Ufer schlug. Wie kann man wissen, wo der Ort des fremden Wassers anfängt, wenn die Grenze selbst aus Wasser besteht?« (67).

Der fließende Strom des Wassers ist ein Symbol für das Ineinanderfallen und die Vermischung von Grenzen. Dichotomische, durch eine Statik der Grenze verursachte Oppositionen werden im Konzept eines fremden und zugleich eigenen Wassers abgelehnt. So wird auch die Debatte um die Finalität des Kulturgebildes ‚Europas‘ in der Erzählung neu entzündet, wenn die Reisegefährtin Mascha Europa »hinter dem Ural« verortet, aber der einzige Ausländer neben der Erzählerin, ein Franzose, nur erwidert, dass »Moskau nicht Europa« sei (82-83). In Moskau angekommen, trinkt die Erzählerin nun vom fremden Wasser und bekommt starke Bauchschmerzen. Das Wasser bildete eine »eine Wasserkugel, auf der tausende von Stadtnamen standen« (86). Die Kugel dreht sich und die Namen verschwinden. Was bleibt, ist die Stimme, die der Erzählerin zuflüstert, zu ihnen zu kommen. Der durch die Vermischung der Textgattungen – hier des märchenhaften Rahmens eines anderen Gesellschaftssystems aus betrachten. Gemeint ist hier eine distanzierte Betrachtungsweise, welche durch die Historisierung der Szene (§35-41) erzielt werde. Zweitens: Der Zuschauer soll der Illusion des Theaters beraubt werden und so über das Dargestellte reflektieren. Der V-Effekt (§41-46) finde in der praktischen Theaterarbeit verschiedene Anwendungsmöglichkeiten: So könne man durch direkte Zuschauer-ansprache oder Inhaltsangaben denn dramatischen Verlauf einer Inszenierung brechen. Der dramatische Verlauf könne außerdem durch Kommentare eines Erzählers oder Songeinlagen ergänzt werden. Die dramaturgische Brechung durch V-Effekte äußert sich auch in Bühnenbild und Requisite: Die Theatermaschinerie ist sichtbar und die Umbauten finden auf offener Bühne statt. Eine entscheidende Rolle komme dem Schauspieler und dem Gestus des Zeigens (§47-63) zu: der Schauspieler dürfe sich nicht in die Rolle hineinversetzen, sondern habe sie vor sich her zu tragen und ihre Entwicklung kritisch zu bewerten. Die Fabel (§64-69) sei auch beim epischen Theater das Herzstück der Inszenierung. Der lineare Handlungsverlauf werde aufgehoben. Die einzelnen Teile seien nun austauschbar. Die daraus resultierenden Widersprüche aber müssen für den Zuschauer immer nachvollziehbar sein. Vgl. Brecht, Bertold 1968 [1949]: Kleines Organon. in Ders., Gesammelte Werke 16, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 50-81 und Brecht, Bertold (1978 [1954]): Vergnügungstheater oder Lehrtheater? In: Ders. (Hg.): DieStücke von Bertold Brecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 985-998.

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zu Beginn und Schluss mit der Essayistik – erzeugte Kunstgriff Tawadas dahingehend, dass sich der Text einer Genrezuweisung verweigert und auch die Autorin somit geschützt bleibt vor allen Identitätszuschreibungen, die das immanent literarische Kunstwerk wieder schnell auf eine auf Ausßschließlichkeit abzielende Debatte des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ verkürzen. Die formale Komposition ist in Tawadas Erzählung Wo Europa anfängt gekennzeichnet durch eine Verwebung verschiedener Textformen. Diesen Kombinationen schließt sich auf der zeitlichen Erzählfolge der Verzicht einer chronologischen Erzählstruktur an. So räumt die Erzählinstanz ein, den Reisebericht vor Antritt ihrer Reise angefertigt zu haben, da sie während der Reise dazu nicht imstande sei: »Ich schrieb immer einen Reisebericht vor der Reise, damit ich während der Reise etwas daraus zitieren konnte. Denn als Reisende war ich oft sprachlos. Dieses Mal war es besonders günstig, dass ich meinen Bericht vor der Reise geschrieben hatte. Ich hätte sonst nicht gewusst, was ich von Sibirien hätte erzählen können. Ich könnte natürlich auch aus meinem Tagebuch zitieren, aber um ehrlich zu sein: das erfand ich nach der Reise, weil ich unterwegs keines geschrieben hatte« (70).

Dieser Absatz verunsichert den Leser insofern, als dass die Glaubwürdigkeit des Reiseberichtes nicht nur in Frage gestellt, sondern durch die Erzählinstanz selbst in Gänze abgelehnt wird. Dieses auf der Ebene des objektiven Sinnes zunächst verstörende Moment im Erzählfluss ist ebenso als Spiel mit den Literaturgattungen zu sehen und stellt auf der kulturwissenschaftlichen Ebene den Anspruch objektiver Xenographie in Zweifel. Der Reisebericht ist textintern an die Reise gebunden und hat somit einen Realitätsbezug einzuhalten. Dieser bindet das Objekt der Reise eng an die Sozialgeschichte der Reiseform sowie des Reisenden. Der Bericht muss aufgrund der objektiven Bindung von Erzählung und Reise glaubwürdig sein, also einen Authentizitätsanspruch erfüllen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist hierbei die Frage nach Wahrheit oder Lüge weniger relevant als die Untersuchung der literarischen Figuren, welche den Effekt der Authentizität herstellen. Es wäre nun ein Irrtum, zu glauben, dass Tawada mit ihrem eigenen Text die Erwartungshaltung des Lesers völlig bricht. Vielmehr ertappt sie ihn und hält ihm den Spiegel vor das Gesicht, da sich besonders die literarische Gattung des Reiseberichtes in einem historisch spannungsreichen Konflikt zwischen Informationsvergabe und Unterhaltung befindet und schon immer befunden hat, wobei in der Beschreibung des Fremden immer auch mentalitätshistorische Dispositionen des Eigenen zutage treten.

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Auf der objektiven Ebene des Erzählens tritt bei Tawada ein Umgang mit dem Fremden zutage, der durch die formale Komposition und dem Kunstgriff der Genrevermischung dem Fremden eben nicht das eigene Gepräge aufdrückt, sondern sich ihm durch eigene Distanzierung nähert. Darüber hinaus rückt sie durch ihr Geständnis, vor der Reise den eigentlichen Reisebericht zu schreiben, die Rolle des Kulturforschers in eine schwierige Situation; so ist doch jeder die Fremde Beobachtende in der eigenen Seinsgebundenheit durch Bildung, Tradition und Erziehung befangen und Tawdas Einwurf ist somit auch als Ausdruck einer grundlegenden Skepsis gegenüber schnellen Konzepten interkulturellen Verstehens zu verstehen. Denn nachdem die Erzählerin vom fremden Wasser in Moskau getrunken hat, wird sie in eine fantastische Welt entrückt, in das Märchen vom Mädchen und dem fremden Wasser, jedoch mit umgekehrten Bezügen: Zu Beginn der Erzählung trat eine weiße Schlange auf (66), die das Mädchen zur Suche nach dem Feuervogel motivierte. Außerdem gab die Schlange dem Mädchen die Warnung mit, vom fremden Wasser nicht zu trinken, was es dann aber dennoch tat. Auf Deck feierten dann die Gäste die Abreise und warfen Luftschlangen in verschiedenen Farben zum Kai hinüber. Die Erzählerin selbst warf eine weiße in die Luft (68), welche zum Gedächtnis der Erzählerin wurde. Nachdem die Erzählerin aber in Europa ankam, verwandelte sich der Buchstabe »a« im Wort »Moskau« in einen Apfel; harmloses Obst, vor dem die weiße Schlange nie eine Warnung ausgesprochen hatte. Die Erzählerin biss in den Apfel und »[e]s wurde still und kalt« (87). Somit ist die Schlange als Figuration des Übersetzens zu verstehen, einem Prozess der Bedeutungs-, aber vor allem der Werteverschiebung von Bedeutung je nach Standort und kultureller Prägung. War sie zu Beginn in Asien noch als Freund und Ratgeber des Menschen aufgetreten, erscheint sie nun in Moskau in ihrer europäischen, christlichen Perspektive als Verführer und falscher Freund, der über die gefährliche Wirkung des Apfels nicht ein Wort verloren hatte. Es kann also an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Erzählung Tawadas durchaus nicht auf eine beliebige Montage verschiedener Textgattungen zu reduzieren ist, sondern vielmehr die semantische Figuration symbolischer Objekte von Ost nach West eine Art symbolische Kohärenz des Textes gewährleistet. Nicht die Grenze erzeugt Identität, sondern unsere Bedeutungsinvestition in die Wirklichkeit diesseits und jenseits von ihr.

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9.1.1.2 Eigentlich darf man es nicht sagen, aber Europa gibt es nicht Ein weiterer Europadiskurs findet sich in Tawadas Erzählung Eigentlich darf man es nicht sagen, aber Europa gibt es nicht, abgedruckt in der Essaysammlung Talisman (2011b: 46-58). Die Erzählung selbst ist eine siebenteilige Aneinanderreihung verschiedener Beobachtungen zum Selbstverortungsprozess Europas und den verschiedenen Möglichkeiten und Ansätzen, eine Art Finalität des Kontinentes zu begründen. Die zu Beginn auftretende literarische Figur Xander stellt die Behauptung auf, dass die weiße Hautfarbe ein »Bestandteil des Körpers« (46) sei. Die Ich-Erzählerin widerspricht, da Haut ebenso wenig farbig sein könne, wie das darunterliegende Fleisch. Die Farbe entstehe durch das Spiel des Lichtes auf der Hautoberfläche. »In uns gibt es keine Farbe« (ebd.). Ohne Licht gebe es keine Farbe und es spiele bei allen Menschen anders. Dennoch seien die Menschen faul und begnügten sich allein mit der optischen Wahrnehmung. In der zweiten Beobachtung stellt die Ich-Erzählerin fest, dass ein europäischer Körper bei Tageslicht immer nach einem Blick suche: »Nicht nur das Gesicht, sondern auch die Finger oder der Rücken verlangen nach einem Blick. Deshalb ist jeder Mensch verpflichtet, auf den Körper eines anderen Menschen immer wieder einen Blick zu werfen. Nicht nur das: Die Augen sind auch verpflichtet, eine Reaktion darauf zu zeigen« (48). Die Ich-Erzählerin sah sich nun gezwungen, in der S-Bahn oder U-Bahn die Augen zu schließen, weil diese Aufgabe für sie zu viel sei. Würde sie dieses Spiel mitmachen, würde ihr Körper im umgekehrten Prozess auch nur im Blick des anderen existent bleiben oder ansonsten verschwinden. So kommt die Ich-Erzählerin zu dem Schluss, dass der Körper, der gesehen werden will und muss, ein europäischer Körper sei. Dabei müsse nicht einmal Narzissmus eine Rolle spielen, sondern vielmehr die Angst, dass etwas verschwinde, sobald es nicht mehr wahrgenommen werden würde. Sprachbilder beherrschten oder trübten in beiden Erzählungen unseren Blick auf die Welt, mehr als wir glauben möchten. So komme es uns auch schnell über die Lippen, einen ‚Neger‘ gesehen zu haben, da uns das Gehirn vorschreibt. Seine wahre Haut würden wir dann nicht mehr wahrnehmen. Man könne Hautfarbe eben nicht nicht sehen – mit einer solchen Behauptung konstruiert sich der Raum ‚Europa‘ in einem Bestandteil des Westens gegenüber dem Osten und auch in diesem kleinen fiktiven Dialog schlägt sich der Verdacht Bahn, dass die Last der Tradition und das kollektive Gedächtnis – im Text verkörpert durch das »Gehirn« – unseren Blick auf die Wirklichkeit mehr bestimmen als der nüchterne und naive Blick. Die Inszenierungsformen ‚Europas‘ vollziehe sich in der dritten und vierten Beobachtung der Erzählung in zwei Hälften, einer männlichen und einer weiblichen (49-50). Die männliche Figur ‚Europa‘ wünsche sich vor allem, dass sie vom

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Publikum betrachtet werde. Gerne könne man sie kritisieren, denn das tue sie ununterbrochen auch. Sie kritisiere auch sich selbst und jeden der versuche, sie nachzuahmen. Ihre Kritik laute in diesem Fall: »Warum bleibst du nicht du selbst? Warum ahmst du mich nach? Ich bin doch schlecht« (49). Die Kritik sei für ‚Europa‘ überlebenswichtig, denn Kritik sei der Grundform des Denkens und ohne Denken verschwinde Europa. Die weibliche Figur der ‚Europa‘ sei diejenige, die in der »mythischen Zeit verloren gegangen sein soll« (50). So sah die Ich-Erzählerin in der Kneipe einen Stammtisch von als Ritter verkleideten Europäern, die alle miteinander um die gute alte Zeit trauerten als es noch das gute Europa gab. Hinterher gingen alle friedlich nach Hause. Die Ich-Erzählerin vermutet, dass hier mehr die Geselligkeit als das wirklich Suchen nach dem wahren Europa der Anlass des Stammtisches war. Das ideale Europa sei ihrer Meinung nach von Anfang an ein Verlustgeschäft gewesen, eine »idealisierte Figur ohne Körper« (ebd.). In der fünften Beobachtung gesteht sich die Ich-Erzählerin selbst ein, europäisch zu denken, wenn sie die japanische Brille aufsetze (51). Denn für viele Japaner sei die europäische Musik die beste und weltweit einzig richtige. Für viele Japaner sei es kein Problem, die Welt eurozentrisch zu betrachten. Ganz im Gegenteil: Indem sie Europa nachahmten, blieben sie in ihrem Selbstverständnis japanisch und Europa höre auf, ein Eigentum der Europäer zu sein. Es wird das interessante Verfahren beschrieben, dass durch Nachahmung sich eine umgekehrte Akkulturation vollziehe mit der Auflösung Europas. Europa gibt es nicht. Vielmehr handelt es sich um »eine Summe von Bildern« (ebd.), aus denen man eine imaginierte Welt erstellen könne. 9.1.1.3 Das deutsche Mittelalter: Rothenburg ob der Tauber In der Essay- und Kurzgeschichtensammlung Talisman (2011) taucht die Ich-Erzählerin in die Welt des deutschen Mittelalters ein. Die Kurzgeschichte Rothenburg ob der Tauber: Ein deutsches Rätsel (2011: 29-40b) zeichnet die Inszenierungsverfahren einer Stadt nach, wodurch Etiketten wie die des ‚Typisch Deutschen‘ und ‚Romantisch-Märchenhaften‘ ihre räumliche Semantik entfalten. In der Erzählung schließt sich die Ich-Erzählerin einer Touristenführung an und die Fremdenführerin vergleicht die Stadt mit einem »Bühnenbild, das das Mittelalter darstellt« (29). Als vierte Wand fungierten zwischen Publikum und Bühne die Stadttore. Diese Schwelle zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt der Ich-Erzählerin das Gefühl, ein Museum oder Theater zu betreten. Aus dem Blick der Fremde durchlaufen die Symbole der Stadt zahlreiche Metamorphosen. So ähnelt die Pflastersteinstraße Rothenburgs dem Rücken einer Eidechse. Beim Anblick eines Ladenschildes und dem Symbol einer Brezel – das Wort klingt in

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den Ohren der Ich-Erzählerin wie »B-rätsel« (31) –, werden Assoziationen wach an Zahlenkombinationen spiegelverkehrt angeordneter Sechsen. Zunehmend hat die aus Japan stammende Ich-Erzählerin Mühe, mit nüchtern stabilem Blicke die Stadt zu betrachten, insbesondere die Architektur: »In Tokyo bezeichnet man ein Haus als ‚alt‘, wenn es über dreißig Jahre alt ist. Viele Häuser werden abgerissen, bevor sie zwanzig Jahre alt werden. Die Architektur ist in Japan eine der vergänglichsten Formen der Kunst. Vielleicht war das der Grund, warum es mir so schwerfiel zu glauben, dass diese alten Fachwerkhäuser tatsächlich dort standen. Mir kam es vor, als würden sie schwanken, verschwimmen und meinem Blickfeld entgleiten. Erst durch die Linse meines Fotoapparates konnte ich die Stadt richtig betrachten, die auf einmal klein wie die Bühne eines Puppentheaters aussah. Sie war eingerahmt und wirkte weiter entfernt von mir als vorher« (33).

Besonders der letzte Satz zeigt auf, wie instabil das Gerüst und die Facette des romantischen Mittelalters tatsächlich ist, sobald man sich ihm nicht durch die Brille oder Linse des eigenen Fotoapparates nähert. Denn erst die Distanz zum Objekt der Betrachtung verschafft der städtischen Atmosphäre das Etikett des Mittelalterlichen. Die historische Statik eines Familienalbums mit seinen Einrahmungen und Bildverteilungen wäre ein guter Vergleich zum Eindruck der Ich-Erzählerin. Beim Blick durch die Kamera fühlt sich die Ich-Erzählerin an die japanische Sage vom Fuchsfenster erinnert (33). Sobald der Mensch alleine im tiefen Gebirge unterwegs war, lief er Gefahr, seinen Verstand an die Natur zu verlieren. Aus diesem Grund soll er bei den ersten Anzeichen der Verwirrung mit den Händen einen Kreis formen und die Natur durch das dadurch entstandene Loch betrachten. Ähnlich verhält es sich mit dem Fotoapparat: »Der Fotoapparat ist das Fuchsfenster für die Reisenden im Ausland. Während die alten Häuser durch die Kameralinse wie Puppenhäuser aussahen, wirkten die krummen Gassen frech und gefährlich auf mich. Sie waren Riesenschlangen mit grauen Schuppen. Schon bevor man die Häuser baute, hatten sich diese Schlangen vermutlich überall kreuz und quer hingelegt. Anscheinend durften die Menschen beim Bauen die schlafenden Schlangen nicht wecken« (34).

Allgemein verbindet man mit Tourismus den oberflächlichen Umgang mit der fremden Kultur; einen Umgang, den man oftmals auch nicht ernst nimmt. So versteht der Tourist die Welt – wenn überhaupt – nur mithilfe der spärlichen Informationen des Reiseführers. Interessant ist nun an der Erzählung, dass die Ich-Erzählerin als Touristin den Blick auf die Stadt wendet wie in einem Zuschauersaal

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im Theater. Die vierte Wand verhindert ein Eintauchen in die Fremde, erlaubt aber gleichzeitig eine Beziehung des Vertrautwerdens. Die Analogie zum japanischen Märchen vom Fuchsfenster zeigt außerdem, dass der Mensch als historisch und kulturell geprägtes Wesen die mediale Rolle eines Kommunikationsraums einnimmt, in der kulturspezifische Merkmale in einer Oszillation zwischen dem Eigenen und Fremden miteinander korrespondieren, sich aber nicht ineinander auflösen. In der Begegnung mit dem Neuen tritt das Alte in Erscheinung. 9.1.1.4 Im Bauch des Gotthards | Gottoharuto Tetsudō Der Gotthardtunnel, oder auch Gotthard Eisenbahntunnel und Gotthard Scheiteltunnel genannt, entstand in einer beachtlichen Bauzeit zwischen 1871 bis 1881. Als Eisenbahnstrecke verläuft der Tunnel unter dem Sankt-Gotthardt-Pass durch das Gotthardmassiv und bildet mit 15 Kilometern Länge einen zentralen Transitknoten zwischen den Kantonen Uri und Tessin, und somit zwischen der deutschsprachigen und italienischen Schweiz. Am 2. Juni 2016 soll dann der Neat-Basistunnel3 eröffnet werden. Sobald der Tunnel für den Verkehr freigegeben wird, soll sich die Fahrtzeit für rund 300 Züge von Zürich nach Mailand um eine Stunde verkürzen. Dem Projekt liegt eine politische Überzeugung zugrunde, denn die Schaffung eines Transitraums dient nicht nur dem Warenaustausch, sondern auch dem Gedanken der europäischen Integration. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der bipolaren Blockkonfrontation suchte die Schweiz »nach ihrem Platz auf dem zusammenrückenden Kontinent« (Daum 2015). Tawadas Eindrücke zu ihrer Fahrt Im Bauch Gotthards (1996) wurden auch in der Zeitschrift NZZFolio abgedruckt mit dem Titelzusatz Mit fremdem Blick. Eine Fahrt durch den Tunnel (1995b) 4 sowie als Kurzgeschichte in der Sammlung Gottoharuto Tetsudō (1995a). Die in Talisman abgedruckte Fassung vergleicht den Berg mit dem Körper eines Mannes, dessen Barthaare »hart wie Stahldraht« (Tawada 1996: 96) seien und dessen Lippen in der Farbe von Blut pausenlos zitterten. Gleichzeitig drückt der massive Berg aber auch den Schmerz und die Verwundung aus, die er in jahrzehntelanger Bebauung im Dienste des zivilisatorischen Fortschrittes erlitt; seine Augen seien wie »Glaskugeln, die man gleich zerschlagen wird« (ebd.). Die Autorin ist fasziniert von dem Gedanken, sich im Innenraum eines väterlichen Körpers zu befinden, anstatt nur – wie es sich für anständige Intellektuelle gehöre – 3

Daum, Matthias (2015): Ein Loch für Europa. Zeit Online. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2015/22/gotthard-tunnel-schweiz, zuletzt geprüft am 14.12.2015.

4

Tawada, Yoko (1995b): Im Bauch des Bergs. Mit fremdem Blick: Eine Fahrt durch den Tunnel. NZZFolio, 7. Online verfügbar unter http://folio.nzz.ch/1995/juli/im-bauchdes-bergs, zuletzt geprüft am 14.12.2015.

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in der Sehnsucht nach Italien zu schwelgen. Als eine väterliche Mutterfigur wird der Berg beschrieben, aus dessen Gebirgsbauch wahrscheinlich die Schweiz »geboren wurde« (97). Mit Blick auf die Landkarte berühren seine Fußspitzen Italien, seine beiden Augen waren Basel und Zürich, »sein Herz hieß Schwyz« (ebd.). Die Fahrt durch das Gebirge wird zur Reise in das Innere eines Körpers: »Der Zug fuhr los. Kurz nach Arth-Goldau fuhr der Zug in einen engen, einspurigen Tunnel, der einer Speiseröhre ähnelte. Irgendwann werden wir uns in Gotthards Magen befinden, dachte ich mir« (99). Während der Fahrt liest die Autorin Felix Moeschlins Wir durchbohren den Gotthard (1957), wonach die nationale Souveränität der Schweiz zum obersten Ziel bei der Arbeit mit dem Gebirgsstein erklärt wird. Aus der Lektüre revidiert die Autorin nun ihre Vorstellung vom Gotthard: »Ich war entsetzt von meinem Fehler, mit den Gotthard als einen männlichen Körper vorzustellen. Der Tunnel sollte ein Loch an dem Busen der Mutter Helvetia sein« (100). In der literarischen Reise durch den Gotthard äußern sich Gedanken zur Bedeutung nationaler Grenzen und der Frage nach Besitz und Zugehörigkeit des Gotthards. Die Farbe Rot wird in Verbindung gebracht mit den Leiden der durch rund hundert Jahre andauernden Bohrungen, die der Gotthard erlitt. Das Nationalwappen der Schweiz erscheint der Autorin als Bild fließenden Blutes, das entgegen der Erwartung eines Europas fließender Grenzen sein ihm zugeschriebenes Territorium des Kreuzes nicht überschritt. Die Gemeinsamkeit zur japanischen Flagge liege darin, dass sich beide Symbole, Kreuz und Sonne, in den Mittelpunkt der politischen Karte setzten (99). Die Reise führt die Autorin an geschichtsträchtige Orte. Aus dem Urnersee erhebt sich ein mit »goldener Schrift bekleideter Stein« (ebd.), der Schiller-Stein als Andenken an Wilhelm Tells Apfelschuss. Beim Anblick der Ortschaft »Airolo« bemerkt die Autorin die im Wort zweimal vorkommenden Buchstaben »o«, die in der Vorstellung der Autorin die beiden Tunnelausgänge darstellen, ebenso bei den Ortschaften Lavorgo, Gionico oder Bodio (101). In Göschenen angekommen sind die harten Kieselsteine im »G« des Wortes zu hören. Sie rutschen den Hang hinunter bei der Aussprache von »ÖSCHE« und werden feucht und lehmig in »NEN« (102). Es tritt das literarische Verfahren in Kraft, durch die Beschreibung einer Zielkultur anhand der Zielsprache eine Perspektive des Fremden einzunehmen, die zuvörderst anhand gedanklicher Analogien und sprachlicher Assoziationen aus der Herkunftskultur alltägliche Lesarten durchbricht und somit ihren Gegenstand selbst verfremdet. So durchlaufen Buchstaben wie das »o« aufgrund ihrer geometrischen Form eine Transformation zum Materiellen. Natürliche Landschaften verwandeln sich durch den literarischen, national-diskursiven und geopolitischen Zugriff zum Verhandlungsort kultureller Macht- und Grenzprodukte.

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Eine ausführlichere Beschreibung findet sich in der japanischen Erzählung Gottoharuto Tetsudō (1995a [dt. Die Gotthard-Eisenbahn]), in der eine neue Erfahrung von Zeit-Raum-Verdichtung 5 im Transit zwischen dem Eigenen und Fremdem literarisch bebildert wird.Während der Fahrt durch den Gotthard taucht die Ich-Erzählerin immer tiefer in eine Welt des Schweigens und der Einsamkeit. Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Fahrer des Zuges, der in der Rolle eines Fährmanns oder Schwellenhüters in der Welt des Nichts auch die Sprache als Mitteilungsmedium hinter sich gelassen hat, »denn die Welt der Fahrer war nicht aus Worten gemacht. Mein Leben war aus Worten gemacht. Leute wie wir können diese Schaffner und Fahrer nicht verstehen« (Tawada 1995: 16, übers. d. Verf.). Die hier beschriebene Fahrt zeichnet sich durch eine Statik der Zirkulation aus, die durch die künstliche Erzeugung von Distanz ein Wechselspiel von Dunkelheit und Helligkeit erzeugt. »Der Zug fuhr in einen Wendetunnel. Bevor er den langen Tunnel des Gotthards betrat, kamen etliche Wendetunnel. Im Berg machte er eine Drehung und kam an fast der gleichen Stelle wieder heraus. Da er keine steilen Anstiege bewältigen konnte, erhöhte der Zug seine Position durch die Drehung, indem er selbst Umwege erzeugte und somit Entfernung gewann. Vom Fahrersitz aus konnte man sehen, wie die Gleise sich verbogen. Und dann wieder nicht, sobald man inmitten der Dunkelheit nicht bemerkte, dass man selbst gedreht wurde. Der menschliche Orientierungssinn ist sehr fragwürdig. Die weiße Kreuzung auf der Schweizer Flagge drehte sich im Kopf wie eine Windmühle. Und die Wassener Kirche erschien jedes Mal von einer anderen Position, sobald man einen Tunnel verlässt; einmal rechts, einmal links.« (26, Übers.d.Verf.)

Inmitten dieses temporeichen Stillstandes wird sich das Bewusstsein der Ich-Erzählerin gewahr, dass sie sich – gegebenenfalls als Repräsentantin der modernen Technologie – nicht selbst bewegt, sondern von der Maschine bewegt wird. Besonders deutlich wird hierbei das Sprachspiel, mit dem sowohl passive als auch aktive Vorstellungen von Räumlichkeit und Raum insofern aktiviert werden, als Erfahrungen des Begrenzten in einem dichotomischen Verhältnis zum unendlich Möglichen stehen. Denn im Lidschlag des Augenblicks fallen zwei Nationen diesseits und jenseits der Grenze wie eine in der Mitte gefaltete Landkarte ineinander. Dass dabei der Orientierungssinn, als Ausdruck systemischen Denkens oder Instrument zur Sortierung von Gegensätzen, verloren geht, steht Pate für den Verlust 5

Der Begriff der »Zeit-Raum-Verdichtung« wurde von dem Geographen David Harvey stark gemacht und meint das mit der Globalisierung zunehmende Phänomen der erdumspannenden, schnellen Erreichbarkeit. Harvey, David (1989): The condition of postmodernity. An enquiry into the origins of cultural change. Malden: Blackwell.

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einer Vorstellung von Identität, die Weltbilder in binären Oppositionen zu denken gewohnt ist und mit ihr sämtliche Vorstellungen von Differenz. Wenn die Welt der Fremde vom Eigenen durchzogen wird, ist auch Fremdes in den vertrauten Räumen anwesend. Mit der Dunkelheit kommt, anders als bei der Ich-Erzählerin, das Unbehagen vieler Fahrgäste auf, die den Verlust topographischer Orientierung als bedrückend empfinden. »Der Fahrersitz war dunkel. Wenn auch die Gästesitze so dunkel wären, würden die Gäste ihre Geldbeutel unter der Brust verschließen und mit einem Gesicht wie Natriumkarbonat auf den Ausgang warten. Die Dunkelheit war so weich wie Samt und roch nur ein bisschen nach Zigaretten. Ich mag die Abwesenheit des Lichtes. Von rechts und links rückte die Dunkelheit heran und wickelte die Haut ein. […] Meine Augen gewöhnten sich etwas an die Dunkelheit.« (27., Übers.d.Verf.)

Eindrucksvoll ist hier die Verbindung zweier Ausdrücke aus verschiedenen Bildbereichen zu bewerten, nämlich die »Haut einwickelnde Dunkelheit«, die einen Bruch mit der Sichtbarkeit von Rolle, Identität und Rasse vollzieht. Nun drosselt der Zug seine Geschwindigkeit und stoppt nach einer Weile »wie eine melancholische Schaukel« (28). Der Schaffner selbst wirkt starr und eingefroren wie alles Leben im Zug, bis das Bewusstsein selbst »einfriert« (28). 9.1.2 Intentionaler Sinn Motivation für Tawadas schriftstellerisches Werk ist vorranging nicht die Auflösung von Differenzen, vielmehr gehe es der Autorin um ein analytisches, diagnostizierendes Schreiben: »Das Thema ‚Grenzüberschreitung‘ oder ‚Aufhebung der Grenzen‘ interessiert mich eigentlich nicht. Ich finde Grenzen wichtig, um sich selber zu spüren. Die Grenzen einer Kultur oder eines Körpers beispielsweise. Ich schreibe, um Grenzen sichtbar zu machen« (Kunisch: 1996)6. Sehr aufschlussreich ist hierbei ihre nur einseitige Kolumne Zwischenraum (2004)7, in der das holistische Denken vom Eigenen und Fremden problematisiert

6

Kunisch, Hans-Peter (1996): Sprachmutter statt Muttersprache. Schriftstellerin Yoko Tawada bekommt den Chamisso-Preis. In: Süddeutsche Zeitung, 22.02.1996, S. 13. Oder auch Ronner, Markus (2000): ‚Sagen Sie mal, warum schreiben Sie eigentlich?‘. In: Welt am Sonntag, 15.10.2000.

7

Tawada, Yoko (2004): Kolumne: Zwischenraum. In: Verlegergemeinschaft Werk, Bauen + Wohnen 91, 11, S. 54-55.

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wird durch die Relativierung radikalerer Interpretationen. Als Beispiel führt Tawada das japanische Wort »tekitō« an, das im positiven Sinne »angemessen«, aber im negativen auch »nicht ernst nehmen« oder »nicht genau nehmen« bedeutet, je nach Kontext und Situation. Mit der Modernisierung während der Jahrhundertwende habe das Prinzip der Alternative dem der Ausschließlichkeit schnell Platz gemacht: Wer Christ sei, sei kein Buddhist und was nicht zur Öffentlichkeit gehöre, sei automatisch Teil des Privatlebens (vgl. ebd.). Diese Logik, die Tawada als eine sehr »westliche« charakterisiert, überlagere heute das Leben vieler Menschen. Die Poetik Tawadas ist also durchaus als eine normative zu verstehen: Fest gefahrene, als selbstverständlich geltende Vorstellungen von Eigen und Fremd sollen offengelegt und in Frage gestellt werden und anstelle dessen ein offenes Bewusstsein geschaffen werden für die polyvalente Bedeutungsvielfalt und Vermischung beider Variablen, womit auch Tawada mit ihrer Mehrsprachigkeit eine Vorbildfunktion übernimmt. Im Fokus liegt dann hierbei nicht das, was für die muttersprachliche Zunge oder das Auge als evident zu betrachten ist, sonders das, was vielleicht auch hätte alternativ gesehen oder gesagt werden können. Ihre Karriere als international gefeierte Schriftstellerin begann mit einer langen Zugfahrt: Mit 19 Jahren reiste Tawada mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Europa quer durch die gesamte damalige Sowjetunion. Die Reise war für die junge Japanerin nicht nur die erste Erfahrung einer kontinentalen Grenzüberschreitung, sondern auch die erste Konfrontation des in Japanern vorherrschenden, an Klischees nicht gerade armen Bildes eines Europas der Bücher mit der der echten, sinnlich-geographischen Europa-Erfahrung. Eine Konfrontation, die durch die Geschichte und Erzählungen der Menschen konstruiert wird, aber nichts mit der unmittelbaren Realität zu tun habe, wie Tawada herausfand: »Bevor die Transsibirische Eisenbahn gebaut wurde, reisten die Japaner mit dem Schiff nach Europa. Sie besaßen ein relativ umfangreiches Vorwissen aus Büchern; Europa war als imaginäres Kulturland immer präsent. Lebende Europäer kannte man dagegen kaum. Auch ich hatte, abgesehen von meinen Lehrern, bis dahin nie mit Europäern gesprochen. Bis in die siebziger Jahre lebten in Japan wenig Ausländer. Wenn man mit der Eisenbahn kommt, sieht man mitten im Ural ein Schild, da steht links ‚Europa‘ und rechts ‚Asien‘. Das soll die geographische Grenze markieren. Aber da ist weder von Asien noch von Europa etwas zu sehen, sondern einfach nur Grasland. Asien und Europa sind kulturelle Begriffe. Das Grasfragt nicht danach, wo es wächst« (Tawada 2009: 8)8.

8

Tawada, Yoko (2009): Vom Schreiben in der Fremde. Interview mit Stefan Schomann. Robert Bosch Stiftung (Chamisso Viele Kulturen - eine Sprache, 2). Online verfügbar unter http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/CH_Magazin_2.pdf.

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Europa ist nach der Darstellung Tawadas demnach auch eine Konstruktion oder ein Symbolfeld für die gesellschaftliche Bildungssozialisation desjenigen, der nach Fleck (vgl. Kap. 3.2 [in dieser Arbeit]) nur das sehen kann, was er gelernt habe zu sehen. Ein Beleg hierfür findet sich im o.g. Zitat mit dem Verweis auf das »Kulturland Europa«, das den meisten Japanern nur aus Büchern, aber nicht in seiner natürlichen Gestalt bekannt gewesen sei, wobei die Frage nach der natürlichen Gestalt von der Autorin nicht einmal diskutiert wird. Im Gegenteil: die politisch hoch brisante Frage nach der Finalität Europas verpufft in der Darstellung eines friedlich zwischen den Winden schaukelnden Graslandes, woraufhin Tawada zum Schluss kommt, ‚Europa‘ und ‚Asien‘ seien kulturelle Begriffe9; Gefäße, deren Inhalte interkulturelles Oppositionsdenken fördere und neue Grenzen durch bewusste Exklusionsbemühungen konstruiere: »Eine Unterscheidung zwischen Tradition und Moderne oder zwischen japanischer Kultur und europäischer existierte für mich nicht. Das erste Theaterstück, das ich als Kind in Tokyo sah, war von Jean-Paul Sartre, dann sah ich viele Kabuki-Stücke, zwischendurch auch Anton Tschechov. Das NO-Theater begeisterte mich viel später, eigentlich nachdem ich Heiner Müller kennen gelernt hatte. So existierten verschiedene Theaterformen für mich von Anfang an auf einer Ebene, und ich kam nie auf die Idee zu sagen, dass einige Stücke zu der ‚eigenen‘ Kultur gehören würden.« (Tawada 2004b: 55)

Somit ist der Blick auf die Fremde – hier als Kulturraum ‚Europa‘ dargestellt – eine durch den Denkstil einer Gruppe oder Gesellschaft vorgeprägte und imaginierte Ansammlung von Gedanken und Merkmalen, die sich mit der Veränderung, Dynamik und auch physischen Mobilität seiner Vertreter immer wieder neu konfiguriert. 9

Vgl. auch Tawada in einem Beitrag des Goethe Instituts zur Beschreibungskategorie Exophonie: »Im Mittelalter galt es wegen der launischen Strömung als lebensgefährlich, das Meer zwischen China und Japan zu überqueren. In meiner Kindheit kam uns das Nachbarland China weiter entfernt vor als Europa. Der Grund für die Unerreichbarkeit Chinas lag aber nicht an den gewaltigen Wellen, sondern an der Haltung der japanischen Politiker, die nicht zugeben wollten, dass die rote Sonne auf der japanischen Nationalflagge in Wirklichkeit ein Blutfleck ist. Die alte chinesische Literatur war in Japan ein Pflichtfach. Die Gegenwart der Volksrepublik blieb mir fern, während mir die chinesischen Texte, die schon 1300, zum Teil 2500 Jahre alt waren, immer vertrauter wurden«. Lughofer, Johann Georg (2011): Exophonie. Schreiben in anderen Sprachen.

Hg.

v.

Goethe

Institut.

Online

verfügbar

unter

http://www.goe-

the.de/ins/si/pro/10j/publikationen/Exo-01-04-web.pdf, zuletzt geprüft am 08.12.2014. S.7.

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Ab der vierten Klasse der japanischen Oberschule habe Tawada (2009) unzählige Kinder- und Jugendbücher verschlungen, darunter auch viele europäische. Nun wusste sie, wie schwedische Kinder spielten und wovon englische Kinder träumten. »Aber als ich 1982 das erste Mal nach Europa kam, habe ich es doch als fremd empfunden. In den Büchern fehlen die körperlichen Empfindungen – wie Deutschland riecht, das stand nicht drin. Es schmeckt auch alles anders hier« (ebd.: 4). Tawada jobbt in Hamburg und studiert Literaturwissenschaft bei Sigrid Weigel, beginnt zu schreiben und wird dann 1986 dank der Herausgabe und Übersetzung ihre ersten zehn Gedichte im Konkursbuch 16/17 veröffentlicht10. Die sowohl physische als auch sprachliche Grenzüberschreitung ist auf der autorenpoetologischen Ebene ein immer wiederkehrendes Motiv für das literarische Schaffen Tawadas: »Wer mit einer fremden Zunge spricht, ist ein Ornithologe und ein Vogel in einer Person« (Tawada 1998: 22). Diese im Rahmen der Tübinger PoetikVorlesung unter dem Titel Verwandlungen entworfene Metapher umrahmt die Grenzgängerpoetik Tawadas wie ein Leitmotiv. Denn ein Ornithologe beobachtet und studiert die Vögel; in seiner Beobachterhaltung bleibt die Distanz zwischen ihm und seinem Objekt gewahrt und jede Veränderung des Vogelzwitscherns wird in Rhythmus, Tonfall, Prosodie und Länge exakt dokumentiert. Doch wer in einem fremden Land lebt und seine Sprache spricht, muss auch selbst zum Vogel werden, ihn nachahmen, obwohl seine Artikuationsorgane anders gebaut sind als die seiner Zielsprache. Einfühlung und Distanzierung oszillieren um ihren Gegenstand, hier die Zielkultur, und das Gefühl der eigenen Fremdheit gehört zum Wesen ihrer Poetik, die einerseits dezidiert die eigene Migrationsbiographie mitberücksichtigt, sie aber andererseits nicht zur Conditio sine qua non für literarische Werke von Adelbert-von-Chamisso-Preisträgern11 erhebt: »Man spricht von der ‚Konjunktur des exotischen Blicks‘. Ein Autor muss allerdings nicht unbedingt Auslaender sein, um einen ‚exotischen Blick‘ zu haben. Aber wenn man zufaellig Auslaender ist, so kann man diesen Vorteil im Leben und im Schreiben ausnutzen. Es hat nicht jeder eingewanderte Autor einen exotischen Blick, denn der Blick auf eine Kultur oder auf eine Gesellschaft ist nichts Natuerliches. Vielmehr ist der Blick vergleichbar mit einer Brille. Ich muss mir, um Europa sehen zu koennen, eine japanische Brille aufsetzen. Da es so etwas wie eine ‚japanische Sicht‘ nicht gibt – und fuer mich ist das keine bedauerliche Tatsache –, ist diese Brille zwangslaeufig fiktiv und muss staendig neu hergestellt werden. Meine japanische Sicht ist insofern keinesfalls authentisch, trotz des Faktums, dass ich in 10 Pörtner, Peter (Hg.) (1986): Japan. Ein Lesebuch. Tübingen: Konkursbuchverlag C. Gehrke (Konkursbuch, 16/17). 11 Zur Gattungs- und Kriterienproblematik des Begriffs ‚Chamisso-Literatur‘ vgl. Kap. 9.7 in dieser Arbeit.

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Japan geboren und aufgewachsen bin. Meine japanische Brille ist aber kein Instrument, das man einfach in einem Laden kaufen kann. Ich kann sie auch nicht nach Laune aufsetzen oder abnehmen. Diese Brille ist durch meine Augenschmerzen entstanden und wuchs in mein Fleisch hinein, so wie mein Fleisch in die Brille hineinwuchs. Ich bin auch eine ‚eingewanderte Autorin deutscher Sprache‘, das heisst, ich bin eine Autorin, in deren Koerper die deutsche Sprache eingewandert ist. Die eingewanderte Sprache hat in mir einige neue Menschen wachgerufen. Seitdem habe ich in mir verschiedene Wesen, die sehr unterschiedlich sind. Beim Schreiben versuche ich oft, Differenzen differenzierter wahrzunehmen. Dafür ist es gut, dass ein Mensch gleichzeitig aus mehreren Menschen besteht und nicht einer Kultur zuzuordnen ist. Ich hoffe doch sehr, dass ‚im naechsten Jahrtausend‘ noch die Literatur der Eingewanderten existiert«12.

Fremd sein ist somit nicht nur eine Künstlerhaltung, sondern auch eine Handlungsprämisse für Künstler. In einem Interview mit der Heinrich Böll Stiftung (2009: 84)13 erklärt Tawada die Notwendigkeit einer distanzierten Haltung zum eigenen Gegenstand folgendermaßen: »Fremdsein ist dann sozusagen positiv gemeint oder die Haltung, die man dann behält, bewusst einnimmt. Sonst heißt fremd bleiben ja oft, jemand hat es nicht geschafft, sich zu integrieren. Das meine ich nicht. Fremd sein ist eine Kunst. Man ist ja nicht unbedingt fremd, eigentlich fühle ich mich ganz zu Hause hier. (lacht) Aber das Fremdsein braucht der Autor immer, auch im eigenen Land, dass man nicht ein blinder Teil von einem Ganzen ist, dass man Distanz hat, dass man nicht einverstanden sein kann oder selbstverständlich empfindet, dass man immer denken kann, es könnte anders sein, das ist fremd sein«.

Auf der Ebene des Ausdrucks findet sich der Hinweis, dass das Leben in der Fremdsprache dem Beruf eines Ornithologen ähnelte. Er müsste gleichzeitig beobachten und an der Sprache der Fremde partizipieren, sie nachahmen und erlernen. Somit ist das Schreiben in der Fremde innerhalb eines Pendelschwungs zwischen Einfühlung und Distanzierung zu verorten, das nun auch auf der objektiven Ebene nachzuweisen ist.

12 Tawada, Yoko (2000): Gegen die Verortung ins Reservat Migrationsliteratur – eingewanderte Autoren aeussern sich zu Deutschland, ihrer Literatur und ihren Perspektiven. Drei Fragen, zehn unterschiedliche Antworten und Selbstbewertungen. In: TAZ, S. 1415. 13 Heinrich Böll Stiftung (2009): Migrationsliteratur – Eine neue deutsche Literatur? Online verfügbar unter https://heimatkunde.boell.de/sites/default/files/dossier_migrationsliteratur .pdf., zuletzt geprüft am 14.03. 2015.

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9.1.3 Dokumentarischer Sinn 9.1.3.1 Konjunktive Erfahrungsräume: westlich-‚deutsche‘ Perspektiven auf die Fremde ‚Fremdheit‘ hat in aktuellen akademischen Diskussionen fächerübergreifend Hochkonjunktur. Klaus Lösch (2012: 26)14 sieht Gründe für das gesteigerte Interesse im Bemühen der global führenden Industrienationen, die ‚koloniale‘ Vergangenheit aufzuarbeiten und die Fremdbeschreibung vom inhärenten politischen Machtanspruch der Deutungshoheit zu befreien. Gleichzeitig verwiesen all die zahlreichen Arbeiten zu den verschiedensten Facetten von ‚Fremdheit‘ auf ein tief sitzendes Gefühl von Unsicherheit oder ein Bedürfnis nach Selbstverortung des eigenen Subjekts, nachdem historische und kulturalistisch kollektive Entwürfe gescheitert sind. Möglicherweise aber konzentriert sich das wissenschaftliche Interesse auf Fremdheitserscheinungen nur deshalb, weil sie in der globalisierten Welt und der fortschreitenden ‚McDonaldisierung‘ zu verschwinden drohen. Vor diesem Hintergrund ist ‚Interkulturalität‘ als Vermischung, Unterwanderung oder Grenzüberschreitungsprozess zwischen Eigenem und Fremden zu problematisieren, wissenschaftstheoretisch wie gesellschaftspolitisch. Zwischen den Eckpunkten eines triadischen Beziehungsgeflechts von Mensch-Werk-Gesellschaft ist das Phänomen der ‚Fremdheit‘ insofern als eine relationale Größe der Selbstverortung zu sehen, als dass die Fremde in unserem Sprachgebrauch ihren Standort in ferner Distanz eingenommen hat, ihre Nähe aber dann im hohen Maße spürbar wird, wenn der wesenshafte Kern eigener Identitäten Benennung findet, wie Bernhard Waldenfels (1990: 59) erklärt: »Das Fremde im Kontrast zum Eigenen betrifft Erfahrungsgehalte und Erfahrungsbereiche. Fremd ist, was jenseits der Grenzen dessen liegt, was man […] Eigenheitssphäre nennen könnte. Eigenheit ist hierbei im weiteren Sinne zu verstehen als Zugehörigkeit, Vertrautheit, Verfügbarkeit, sei es die Eigenheit des Leibes, der Kleider, des Bettes, der Wohnung, der Freunde, der Kinder, der Generation, des Heimatlandes, des Berufes oder wessen auch immer.«

Die Erfahrung von ‚Fremdheit‘ ist immer in Abhängigkeit zu sehen zur jeweiligen Ordnung, dem Diskurs- oder dem Gravitationsfeld, das sich um das Fremdartige gruppiert. Dies gilt für die Sprache und das Unbekannte oder Unverständliche. Es gilt für das Fremdartige, das die Grenzen bestimmter Ordnungen überschreitet, 14 Lösch, Klaus (2012): Das Fremde und seine Beschreibung. In: Simone Broders (Hg.): Phänomene der Fremdheit. Fremdheit als Phänomen. Würzburg: Königshausen & Neumann (Focus, 1), S. 25-51.

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denn dies ist nur möglich, wenn eine gewisse Form von Normalität vorausgesetzt wird, welche oft mit der eigenen Identität vermengt wird. Die Fremdheit kann auftreten als Kindheit gegenüber dem Status des Erwachsenen oder kollektivgeschichtlich als Primitivität gegenüber dem Status des Menschen in Form der Wilden, Irren oder Narren. Egal für welche Abstufung man sich entscheiden möchte, die Fremdheit ist weder eine Eigenschaft noch ein irgendwie messbares, objektives Verhältnis zweier Menschen oder Gruppen, sondern »die Definition einer Beziehung« (Hahn 1997: 140)15. Fremde sind anders; und die zahlreichen Versuche, das Fremde durch das Eigene zu erklären, sind wohl als eine Universalie zu verstehen wie das Phänomen der ‚Fremdheit‘ selbst. Dies gilt nicht nur für die vielfach bekannten Versuche in der Menschheitsgeschichte, politische Macht mit evolutionärem Vorsprung und Überlegenheit zu begründen, wie etwa der diskriminierende Umgang gegen Migranten, Juden und andere Minderheiten zeigt. Bereits im Grossen vollständigen Universal-Lexikon (1735) finden sich klare Vorstellungen zum Umgang mit dem Fremden, der als Gast »nur mit einer Nachtherberge vorlieb nimmt, hernach seines Weges wieder fortgehet« (1994 [1735]: 1811)16. Der Fremdling trage das leidvolle Kreuz mit sich, außerhalb seines Vaterlandes die einzige Heimat im »Himmel« als sein eigen nennen zu dürfen. Das Beispiel zeigt nicht nur den Anspruch auf, der Fremdheit ein universelles Korsett anzulegen, sondern auch die akademische Bemühung, mit einem normativen Regelwerk – hier der Lexikographie – einen epistemischen Zugang zur ‚Fremdheit‘ zu erlangen. Darüber hinaus zeigt das Beispiel, dass ‚Fremdheit‘ als soziale Bestimmung vor allem ein Etikett oder Label darstellt, das erst durch seine Institutionalisierung einen Grad des Gefährlichen oder Alternativlosen erfahren. »Der Grund dafür liegt eben darin, dass die Etikettierungen mit Unterscheidungen arbeiten, deren Urheber sie selbst sind: ohne Moral keine Sünder, ohne Gesetze keine Verbrecher; ohne die Definition eines Unterschiedes zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘ keine Fremden.« (Hahn 1994: 141) Bemerkenswert ist außerdem an diesem Beispiel, dass die integrative Versöhnung des Eigenen und Fremden verschoben wird auf das Jenseitige im Himmel, während die Ort- und Heimatlosigkeit dem Fremdling ein wesenhafter Bestandteil

15 Hahn, Alois (1994): Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Walter M. Sprondel und Thomas Luckmann (Hg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1140), S. 140-163. 16 Zedler, Johann Heinrich (Hg.) (1994 [1735]): Grosses vollständiges Universal-Lexikon. 2. vollst. photomechanischer Nachdr. [der Ausg.] Halle und Leipzig, 1735. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 9), S. 1811.

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diesseits des Grabes bleibt. Besonders die zeitliche Vorgabe für die Schwellenüberschreitung vom freundlichen zum feindlichen Fremden regelt das friedliche Zusammenleben von Gesellschaften, wie hier durch die Bedingung »einer Nachtherberge« besonders deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Es fällt weiterhin auf, dass in den Hochkulturen der antiken Welt immer mindestens zwei, oftmals aber auch drei Statusbezeichnungen des inneren, vorüberziehenden und äußeren Fremden deutlich voneinander unterschieden werden17. Bemerkenswert ist auch, dass die Grenzen zwischen dem Fremden als exotischem Reiz und gefährlicher Bedrohung oft fließend sind, wie die Wortverwandtschaft zwischen dem lateinischen ‚hospes‘ und ‚hostis‘ wohl am deutlichsten aufzeigt. Die ‚Fremdheit‘ als Erfahrung beinhaltet ferner innerhalb ihrer Bedeutung weitere semantische Steigerungsgrade, welche Bernhard Waldenfels (1997: 35-36) in die alltägliche, strukturelle und radikale einordnet. Somit sind auch ‚Die Fremdheit‘, ‚der/die/das Fremde‘ oder ‚Der Fremdling‘ immer relational zum Eigenen zu betrachten, das Werk als ein Medium dieses Kommunikationsverhältnisses. Belässt man diese Ausführung mit dem Ergebnis, dass die Formgebung von Objekten maßgeblich mit der Stammes-, Blutsverwandtschaft oder Vergesellschaftung zusammenhängen, ist nun auch die die Relation zwischen Mensch und Werk näher zu bestimmen, auf welche im ersten sozialwissenschaftlichen Diskurs über Fremdheit Bezug genommen wird, Georg Simmels Grundlageschrift Exkurs über den Fremden (1908)18. In der Raumverortung vereint nach Simmel die Form des Fremden die Zustände des Wanderns und der Statik oder stellt die Einheit beider

17 Rudolf Stichweh (1994: 30-34) nennt hierfür den ‚ger‘ (im Land siedelnd) und den ‚nokhri‘(vorüberziehend) im israelitischen Fall, den ‚metoikos‘ (im Land siedelnd), ‚xenos‘ (Fremder als Gast) und ‚barbaros‘ (fremd in Sprache und Ritus) in Griechenland und den ‚hospes‘ (Gast einer Familie) sowie den ‚hostis‘ (Gast einer politischen Gemeinschaft, später dominant der Feind) in Rom. In der Darstellung von Stichweh wird die Relationalität zwischen Eigenem und Fremdem deutlich in der vertikalen Gegenüberstellung zwischen Dies-und Jenseitigem, in der der Begriff des Menschen immer in der Mittellage anzusiedeln ist zwischen dem Tierischen, Wilden und Bestialischen einerseits und dem Transzendentalen, Erlösenden und Göttlichen andererseits. Vgl. Stichweh, Rudolf (1994): Fremde, Barbaren und Menschen. Vorüberlegungen zu einer Soziologie der ›Menschheit‹. In: Ders. (2010): Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbücher Wissenschaft, 1924). 18 Simmel, Georg (2001 [1908]): Exkurs über den Fremden. In: Otthein Rammstedt (Hg): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 811), S. 764-771.

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Bestimmungen dar: »Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.« (Simmel 2001[1908]: 764). Simmel charakterisiert den Fremden als Subjekt, das sich im Pendelschwung zwischen lokaler Gelöstheit und temporärer Fixiertheit im Raum zum Eindringling in das Territorium einer anderen Gruppe macht. Nachdem der Fremde die Schwelle zur neuen Sphäre übertritt, wird er im Zustand der momentanen Bewegungslosigkeit zu einem Teil des Anderen, ohne dabei in ihm aufzugehen. Mit den Qualitäten aus der Fremde wird ein Verhältnis der Distanz erzeugt, in dem der Nahe fern und der Ferne nah ist (vgl. 765). Mit seinen abweichenden Attributen wird der Fremde zum Teil der Gruppe und die Gruppe definiert sich in ihren Gemeinsamkeiten als Gruppe wiederum durch die Spiegelung zum Fremden. Simmel benennt für die Geschichte der Wirtschaft den »Händler« als Prototypen des Fremden, denn »ein Händler kommt nur für diejenigen Produkte in Frage, die ganz außerhalb des Kreises erzeugt werden« (ebd.). In seiner Vermittlung zwischen außen und innen vereint sich in ihm die »Synthese von Nähe und Ferne« (766), seine Nichtfixierbarkeit auf lokale Verortung macht ihn zum schlechthin Beweglichen zwischen Dies- und Jenseits. Ein weiteres Kriterium zur Beschreibung des Fremden sieht Simmel in seiner »Objektivität« (ebd.), obgleich hier nicht von einem objektivierbaren Existenzial ausgegangen wird, sondern von einer Zuschreibung der Gruppe, die den Fremden für einen kühlen außenstehenden Beobachter hält. Seine Distanz zu den Vorgängen innerhalb der Gruppe bescheinigt ihm nüchternen Abstand und emotionale Teilnahmslosigkeit, weshalb es in vielen Regionen Praxis gewesen sei, Richter von auswärts zu berufen, um die Eingeborenen zu befragen. Die Distanz einer theoretischen Beobachtung mache den Fremden sogar zur freieren Person, denn aus der Vogelperspektive könne man nicht in den Konflikt zweier Parteien hineingezogen werden. Der Fremde blicke vorurteilslos auf die Geschehnisse innerhalb der Gruppe und kann somit, gerade aufgrund seiner Distanz, zur Vertrauensperson anderer werden. Hier also zeichnet sich das zweite Kriterium zur Beschreibung des Fremden bei Simmel ab: Über den Umweg seiner ökonomischen Funktion wird hier der prinzipielle Unterschied zwischen »Beziehungen und Bindungen« (Reuter 2001: 83)19 deutlich, da der Fremde zwar über die Funktion des Handels mit der autochthonen, einheimischen Gruppe in Berührung kommt, aber mit keinem der Gruppenmitglieder eine soziale Beziehung eingeht. 19 Reuter, Julia (2002): Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: Transcript (Sozialtheorie).

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Die Relation von Nähe und Ferne werde vor allem durch die Qualität ihrer Verbundenheit bestimmt. Hat ein Wesen mit dem Fremden nur allgemeine Qualitäten gemein, bestimmt sich eine persönliche Beziehung durch ganz spezifische Differenzen zum Allgemeinen. So habe ein Mensch nur deshalb eine Nähe zum Fremden beispielsweise in der Nationalität, Hautfarbe oder Religion, weil sie einfach vielen Menschen gemein ist. Die Einzigartigkeit einer Verbindung – Simmel nennt die erotische Liebe (vgl. 1908: 769) – schafft zwischen zwei Menschen ein Gefühl des Vertrauens und grenzt sie vom Rest der Allgemeinheit ab. Diese Verbindung der Vertrautheit zerbricht aber, sobald ihr Einzigartigkeitsgefühl verschwindet und der Wert der Verbindung eine Relativierung erfährt. Auf der anderen Seite wird die Fremdheit auf dem Boden der Allgemeinheit aufgebaut, wenn eine Nicht-Beziehung zu einer anderen Gruppe aufgebaut wird. Simmels Exkurs über den Fremden findet sich im Rahmen des Kapitels Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft in seiner Soziologie (Rammstedt [Hg.] 2001: 687-790) und fragt nach der Beziehung zwischen der räumlichen Eigenschaft und ihrem dynamischen Potenzial, das Verhältnis – oder präziser – das Ineinanderwirken von Raum und Gesellschaft auf die Herausbildung von Persönlichkeitstypen: »Diese Form liegt z.B. einem so speziellen Fall wie der mittelalterlichen Judensteuer, wie sie in Frankfurt, aber auch sonst gefordert wurde, zu Grunde. Während die von den christlichen Bürgern gezahlte Beede nach dem jedesmaligen Stande des Vermögens wechselte, war die Steuer für jeden einzelnen Juden ein für allemal festgesetzt. Diese Fixiertheit beruhte darauf, dass der Jude seine soziale Position als Jude hatte, nicht als Träger bestimmter sachlicher Inhalte.« (770)

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9.1.3.2 Konjunktive Erfahrungsräume: fernöstlich ‚japanische‘ Perspektiven auf die Fremde Aus Begriffen werden Zitate, diese verdichten sich zu interkulturell verhandelten Aussageblöcken und verfestigen sich dann zu einer diskursiven Formation20.Wo diese Traditionslinie zur Beschreibung europäisch-japanischer Differenzkonstruktionen ihren genauen Anfang nimmt, ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu beantworten. Das Reflektieren und Schreiben Tawadas kann jedoch als Dokument gelesen werden für eine Traditionslinie von Denkstilen, welche auf die japanische Jahrhundertwende und die berühmten Debatten der historischen Moderne zurückreichen, welche »nicht als schon immer gegebene Einheiten betrachtet werden können« (Shimada 1998: 228)21. Die Geburt des, plakativ gesprochen, ‚modernen Japans‘ geht auf den Zusammenprall asiatischer Zivilisation und westlicher Moderne zurück. Gesicht und Namen verdankt die nach dem Epochenmodell hier zu nennende Meiji-Periode (dt., Zeit der erleuchteten Regierung des Kaisers) einerseits ihrem Kaiser Mutsuhito, der während seiner Regentschaft von 1868 bis 1912 Japan mithilfe zahlreicher umfassender Reformen auf den Weg der

20 Vgl. hierzu M. Foucaults Grundlagenwerk Archäologie des Wissens (1981: 42), das sich mit seiner Beschreibung von Wissensproduktionen sehr plausibel in die Denktradition Mannheims einfügt: »Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguisitschen Sequenzen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahllos sein, sie können durch ihre Masse jegliche Aufnahme-, Gedächtnis- oder Lesekapazität übersteigen: sie konstituieren dennoch eine endliche Menge. Die von der Sprachanalyse hinsichtlich eines beliebigen diskursiven Faktums gestellte Frage ist stets: gemäß welchen Regeln ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Regeln könnten andere ähnliche Aussagen konstruiert werden?« Während in Gesellschaft und Wahnsinn (1969) Literatur und Wissenschaft in ein Oppostionsverhältnis gesetzt wurden, treten in Archäologie des Wissens Regulierungsprozesse auf mit dem Ziel, die begriffliche Bestimmung von Wissen und Wissenschaften mit Blick auf die historisch variante Bedingung zu überprüfen (vgl. Borgards 2013:10). Zum methodischen Zusammenhang im Werk Foucaults und Mannheims vgl. Srubar, Ilja (2007): Mannheims Diskursanalyse. In: Balla (Hg.): Karl Mannheim. S. 79-95. 21 Shimada, Shingo (1998): Schlüsselbegriffe im westlichen und japanischen Selbstverständigungsdiskurs. ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘. In: Beate Hammerschmid und Hermann Krapoth (Hg.): Übersetzung als kultureller Prozess Rezeption, Projektion und Konstruktion des Fremden. Berlin: Schmidt (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung), S. 228-255.

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Modernisierung führte.22 Nun ist der Begriff der ‚Modernisierung‘ zwangsläufig auch mit der ‚Verwestlichung‘ des Landes in Verbindung zu setzen; eine aus Sicht der politischen Elite notwendige Aufgabe, um den Fortbestand des Staates sichern zu können. Somit bilanziert Ohashi (1993: 286), dass »die japanische Moderne als das Problem einer Übersetzung zu begreifen ist – als eine Übersetzung der europäischen Moderne«. Politik, Militär, Wirtschaft und Gesellschaft sollten nach westlichem Vorbild neu geordnet und der für Japans Eliten deplorablen Selbstwahrnehmung der eigenen Unterlegenheit nach jahrelanger Isolation ein Ende gesetzt werden. Die Meiji-Zeit leitete eine der nachhaltigsten, für das kulturelle Selbstverständnis des japanischen Volkes aber auch herausforderndsten Zäsuren in ihrer Geschichte ein, indem sie die 250 Jahre lang währende Feudalherrschaft der Tokugawa-Dynastie ablöste; ein durch den Kriegeradel getragenes Vasallensystem, das die Gesellschaft in vier erbliche Stände einteilte und die Insel vor jedem ausländischen Einfluss rigide abschottete. Den zweiten Titel der Restauration verdankt die Epoche dem Selbstverständnis ihrer Regierung, das Land in die politischen Verhältnisse des Altertums zurückzuführen, in denen der japanische Kaiser die absolute Macht innehatte. Die Dichotomie des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ ist also bereits in dem selbst auferlegten Regierungsprogramm der japanischen Politik insofern erkennbar, als der Import westlicher Staats- und Denkstrukturen sich unter dem Korrektiv eines japanischen Absolutismus vollziehen sollte, der seine Legitimationskraft dank seiner Geschichte und Tradition erhält und bis heute im Erscheinungsbild der großen Metropolen Japans sichtbar ist23. Es soll nun nicht länger auf politische Geschichte des Landes eingegangen werden, sondern der mit der Restaurationsphase eng verbundene Diskurs um das Oppositionspaar ‚Individuum-Kollektivismus‘ anhand eines wissenschaftshistorischen Ansatzes vorgestellt werden. Exemplarische Beispiele für die Etablierung utopischer Gesellschaftskonzepte zu strukturstabiliseriende Ideologien könnten hierbei viele genannt werden. Die Übersetzungsschwierigkeiten des Begriffes ‚Philosophie‘ und der philosophischen Grundbegriffe ins Japanische soll in diesem Zusammenhang vorgestellt werden, denn »es 22 Vgl. Ohashi, Ryōsuke (1993): Übersetzung als Problem der japanischen Moderne. In: Armin Paul Frank, Kurt-Jürgen Maaß, Fritz Paul und Horst Turk (Hg.): Übersetzen, verstehen, Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch. Berlin: Schmidt, S. 286-294, hier S. 286-287. 23 Von einem zentralen Motiv der Akkulturationsprozesse durch ‚Japonisierung‘ westlicher Güter und geistiger Denkstile geht aus Antoni, Klaus (1995): Japan und das Fremde. In: Michiko Mae; Klaus Müller (Hg.): Aspekte der japanischen Alltagsstruktur. Düsseldorf: Ostasien-Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Düsseldorfer Studien zur Ostasienforschung, 2), S. 65-79.

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handelt sich dort nicht bloß um ein Einzelphänomen von Kulturübersetzung, sondern auch um Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit der europäischen Geistestradition überhaupt ins Japanische« (1993: 288). Die bewusste Zitation westlicher Denkweisen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war innerhalb der japanischen Intellektuellenkreise der Ansicht geschuldet, dass eine bürgerliche Zivilisierung nach westlichem Vorbild auch wirtschaftliche Prosperität und technischen Fortschritt mit sich bringe. Für den Wissenstransfer war übrigens auch die Übersetzung westlicher Standardwerke aus der Philosophie und den Sozialwissenschaften besonders ausschlaggebend für die ersten Gehversuche interkultureller Kommunikation nach der langen selbst gewählten Isolation des Inselreiches. Zu nennen sei hier die 1874 gegründete sozialwissenschaftliche Vereinigung Meirokusha (明 六社 , dt. Gesellschaft des Jahres Meiji 6), die sich die Verbreitung von bunmeikaika (文明開化, dt. Zivilisation und Aufklärung) zur obersten Aufgabe gemacht hatte (vgl. Zöllner 2013: 212ff.). Allen voran die Frage um das Verhältnis wirtschaftlicher, politischer und individueller Freiheit war der Anlass für eine breit angelegte Übersetzungsarbeit der Werke von John Stewart Mill, u.a. 1871 von On Liberty (1859), 1875 der Considerations on Representative Government (1861) und Principlesof Political Economy (1848), 1877 Utillitarianism (1963)24. In einer eigenen Zeitschrift, der 1874 bis 1875 herausgegebenen Meirokuzasshi, stellten die Mitglieder ihre kontrovers diskutierten Standpunkte vor. Als einer der ersten Übersetzer und Philosophen reiste FukuzawaYukichi (福沢諭吉, 1834-1910) 1860 in die USA und 1862 als Mitglied einer Regierungsdelegation nach Europa. Fukuzawa Yukichi setzte sich unter anderem für die Einführung des westlichen Kalenders ein und stand als Holländisch-Lehrer an vorderster Linie der japanischen Aufklärungsbewegung. Nach seinen Reisen durch Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Deutschland, Russland und Portugal verfasste er einen Bestseller mit dem Titel Seiyōjijō (西洋事情, ‚Die Zustände im Westen‘). Fukuzawa Yukichi folgte den Ideen u.a. von Adam Smith, dass Freiheit ein jedem Menschen verliehenes Menschenrecht sei, das aber mit der Zivilisation gesichert werden müsse. Nur selbständige Individuen könnten auf der Grundlage von Gleichberechtigung eine starke Nation herausbilden und gestalten25. 24 Vgl für einen tiefer gehenden Überblick auch Miyakawa, Tōru (1963): Kindai Nihon no tetsugaku. Zōhoban. Tōkyō: Keisō Shobō, S. 51ff. 25 Ein für den Fortschrittsoptimismus der japanischen Aufklärer repräsentatives Zitat stammt von FukuzawaYukichi selbst: »Manche glauben, dass im Vergleich zum Leben in der Gesellschaft, die den einzelnen in seinen Neigungen eher einschränkt, das Leben der Barbaren, die noch ein Nomadenleben führten und demzufolge durch nichts eingeschränkt wurden, die höchste Freiheit des Menschen bedeutete. Aber dies ist nur ein

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Die Meirokusha wurde 1875 aufgelöst, aus ihm ging dann 1879 der Gelehrtenverein Tōkyō gakushi kaiin ( 東京学士会院 ) hervor (vgl. Ohashi 1993: 288ff.). Die Rezeption europäischer Geistesgeschichte verlagerte sich zunehmend auf das Werk Herbert Spencers (1820-1903). Zwischen 1877 und 1896 wurden fast sämtliche Werke, unter anderem 1877 Social Statics (1850) und 1882 Principles of Sociology, vol.1 (1876). Parallel entstand die Jiyū minken undō (自由民 権運動、dt. liberale Demokratiebewegung), die sich auf Jean-Jacques Rousseau berief.26 Versuche einer Übersetzung des Begriffes der ‚Philosophie‘ wurden von Nishi Amane (1829-1897) unternommen. Dem Mitbegrüder der Meiroku-sha ist die bis heute anerkannte Übersetzung wissenschaftlicher Termini zu verdanken, seine Mauskripte finden sich in den drei Bänden seines Gesamtwerkes27. Für die ‚Philosophie‘ wurden mehrere Varianten erstellt (vgl. Ohashi 1993: 289) mit ‚kitetsugaku‘ (希哲学, Wissenschaft der Wissenssuche) oder ‚seiri no gaku‘ (性理ノ学) bzw. ‚seirigaku‘ (性理学, Wissenschaft des ‚ri‘, d.h. des Logos im konfuzianischen Sinne bzgl. des ‚sei‘, d.h. der inneren Natur des Menschen). Die bis heute übliche Übersetzung ‚tetsugaku‘ (Weisheitswissenschaft) wurde erst im 1871 erschienenen Tōei mondō (Dialog bei Lampenlicht) von Nishi Amane gebraucht, aber nie offiziel verwendet28. Dies passierte erst durch die Etablierung des Faches ‚Philosophie‘ an der neu gegründeten Universität Tōkyō seit 1877, mit der Nishi Amae nicht assoziiert war. Die zahlreichen Varianten der Übersetzung sind gemäß Ohashi (1993: 290) Ausdruck einer grundsätzlichen Unentschlossenheit, da der japanischen Sprache schlicht und ergreifend die Worte fehlten, die philosophischen Gebieten wie ‚Ethik‘ oder ‚Onthologie‘29 entsprachen. Eine wesentliche »Differenz zwischen den östlichen, quasi-philosophischen Gedanken und der westlichen Philosophie« sieht Ohashi (ebd.) im »Stellenwert des Denkens« dahingehend, dass in der westlichen Philosophie das Denken die erste und letzte »Instanz« einnimmt, wohingegen in der fernöstlichen »das Vergessen und Lassen des Denkens« im Vordergrund steht. Zwei Schichten sind demnach in den Teil der Wahrheit, denn die Freiheit der Barbaren ist eine Freiheit, in der man vor Hunger stirbt.« (zitiert nach Schad-Seifert 1999:103) 26 Einen Überblick zur Entstehung einer modernen städtischen Gesellschaft und Kultur in Japan bieten auch Blümmel, Maria-Verena; Kreiner, Josef (Hg.) (2010): Kleine Geschichte Japans. Stuttgart: Reclam, S. 332-378. 27 Nishi, Amane (1960): Nishi Amane zenshū. 3 Bände. Hg.v.: Toshikane Ohkubo. Tōkyō: Munetaka Shobō. 28 Ders. (1960): zenshū. Bd. 1.29 ff. 29 Für zweiteres wurde einmal übersetzt ‚kyotaigaku‘ (虚体学 Wissenschaft des Nichtseienden) und andermal mit ‚ritaigaku‘ (理体学 Wissenschaft des Logos des Seienden).

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Übersetzungen Nishis enthalte; die der konfuzianisch-buddhistischen Innenschicht und der europäischen Oberschicht, denn wenn im Wort ‚seirigaku‘ (性理 学) das ‚sei‘ das im Menschen abgespiegelte ‚ri‘ als kosmologisches Prinzip abbildet, erscheint die japanische Übersetzung von ‚Philosophie‘ als eine Wissenschaft der metaphysischen Natur des Menschen. Das wohl denkwürdigste Moment in der Modernisierung Japans und der Rezeption westlicher Ideengeschichte ist der einerseits stark auffallende Konsum westlicher Philosophie, andererseits wird innerhalb dieses Prozesses auch eine Abkehr vom Westen hin zu eigenen Identitätsmustern deutlich. Das hybride Moment einer Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremden oszilliert zwischen der Beibehaltung von Unterschieden und ihrer Auflösung, einzelne Kulturen sind unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt, die Mehrfachcodierung in der Charakterisierung von Gesellschaften definiert sich durch ihre Uneindeutigkeit. In dem 1905 erschienenen Klassiker von Nitobe Inazō (1862-1933) Bushidō. The soul of Japan wird eine deutliche Trennlinie gezogen zwischen dem westlichen Individualismus (西洋の個人主) einerseits und dem für die japanische Gesellschaft bezeichnenden Primat der Gruppe, dem sich jede persönliche Neigung unterzuordnen habe (Nitobe 2008 [1905]: 148). Anlass zur Erstellung von Bushidō war eine Diskussion mit einem europäischen Priester um die Frage, wie eine Gesellschaft ohne Gott und Religion überhaupt überlebensfähig sei. Die Antwort konnte für den Autor nur im ethischen System der Samurai liegen: »About ten years ago, while spending a few days under the hospitable roof of the distinguished Belgian jurist, the lamented M. de Laveleye, our conversation turned during one of our rambles, to the subject of religion. Do you mean to say, asked the venerable professor, that you have no religious instructions in your schools? On my replying in the negative, he suddenly halted in astonishment, and in a voice which I shall not easily forget, he repeated No religion! How do you impart moral education? The question stunned me at the time. I could give no ready answer, for the moral precepts I learned in my childhood days were not given in schools; and not until I began to analyse the different elements that formed my notions of right and wrong, did I find that it was Bushido that breathed them into my nostrils« (19).

Insbesondere die Richtlinien für Moral und Ethik seien vor allem durch den japanischen Schwertadel, der Samurai geprägt. Ihren Ehrenkodex zeichnete Inazō in seinem Werk nach: »The indvidual oft he West, which recognises separate interests for father and son, husband and wife, necessarily brings into strong relief the duties owed by one tot he other; but Bushidō held that the interest of the family and oft he members thereof is intact, one and inseparable. This interest it bound

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up with affection – natural, instinctive, irresistible[.]« Der damals amtierende amerikanische Präsident Theodore Roosevelt sei von der Lektüre des Werkes so begeistertgewesen, dass er zum ersten Mal die ‚Moral des japanischen Charakters‘ (ebd. 11) verstand und verordnete seinen fünf Kindern prompt die sofortigeLektüre des Werkes, damit die selbstlose Disziplin der alten Samurai auch auf sie übergehe. Über den Stellenwert des Menschen innerhalb der Sprache, seine physikalische Präsens und nicht zuletzt Heimat- und Fremdverortung reflektiert Tawada ebenfalls in ihrem Werk und das Verhältnis zwischen Subjekt und Sprache schafft auch bei der Schriftstellerin, änhlich wie bei Inazō, zwei durch eine bewusste Grenzziehung entstandene Räume, wie Y. Tawada in Talisman (2011: 14) anmerkt: »Die zweite Figur, die mir [am Deutschen] damals stark auffiel, war ‚es’. Man sagte ‚es regnet’, ‚es geht mir nicht gut’, ‚Es ist kalt’. Im Lehrbuch stand, dass dieses ‚es’ gar nichts bedeute. Dieses Wort fülle nur die grammatikalische Lücke. Ohne ‚es’ würde nämlich das Subjekt des Satzes fehlen, und das ginge auf gar keinen Fall, denn das Subjekt müsse sein. Ich sah es aber nicht ein, dass ein Satz ein Subjekt haben musste.«

Das obligatorische es-Pronomen im Nominativ wirkt auf die Deutsch lernende Japanerin befremdlich und nicht relevant für die kommunikative Informationsvergabe. Dem Unverständnis schließt sich auch noch eine Verweigerungshaltung der Schriftstellerin an, da ihre eigene Muttersprache ohne Probleme auf das Subjekt im Aussagesatz verzichten kann. Sowohl bei Tawada als auch bei Inazō ist das Verhältnis zwischen Subjekt und Gruppe das Drehkreuz zwischen asiatischer und europäischer Kultur. Indem Grenzziehungen entstehen, sind sie auch immer ein Dokument eigener Konstruktionsleistungen des Hier und Dort.

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9.2 Z WISCHENFAZIT Die Untersuchung auf der objektiven Sinnebene hat gezeigt, dass der essentialistische Blick auf das Eigene und Fremde bei Tawada nicht nur unaufgelöst, sondern produktiv für die literarische Themenfindung genutzt und inszeniert wird. Binäre Begriffspaare wie etwa ‚Tradition/Moderne‘ u.a. standen gemäß der dokumentarischen Untersuchung bereits in zahlreichen Geschichten Pate für den Selbstverortungsdiskurs von Gesellschaften und ragen als Wissenstraditionen in das Wirken der Schriftstellerin hinein. Entscheidend ist aber – und dies zeigt die intentionale Sinnebene –, dass sich die Autorin dieser kulturellen Geworfenheit durchaus bewusst ist und Grenzen sowie Fremdorte in Form eines diagnostizierenden Schreibens sichtbar macht.

9.3 L ITERARISCHE M EHRSPRACHIGKEIT Die ‚literarische Mehrsprachigkeit‘ wurde im Zuge der Globalisierung und anwachsenden Migrationsbewegungen als Forschungsparadigma wiederentdeckt. Das »Wieder-« erklärt sich durch die Tatsache, dass Mehrsprachigkeit in vielen Teilen unserer Welt ein absoluter Normalfall war und ist für Kulturkontakte, -konflikte und symbolischen Formen der Kommunikation wie innerhalb der Kunst. Es ist eher das Phänomen der ‚Einsprachigkeit‘ als ein Sonderfall zu nennen, die im Zuge der Nationalstaatenbildung zu einer politischen Ordnung im Sinne des Mannheim’schen Ideologiekonzepts wurde und die ‚Einsprachigkeit‘ als Identifikationsmodell für nationale Selbstverortungsdiskurse zur Prämisse der Gouvermentalität erhob30. Ganz im Sinne von Mannheims Ideologie und Utopie-Konzept zeichnet sich aber seit zwei bis drei Jahrzehnten ein Umwälzen in der Forschung insofern ab, als deren Augenmerk sich nun auf »Formen der Inkorporierung der Erstsprache in die Literatursprache«31 richtet, wobei sie zugleich auf die Präsenz sowie den kreativen Umgang mit sprach- und kulturwechselnden Besonderheiten aufmerksam

30 Ein historischer Exkurs über den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit in Literatur und Erziehung findet sich bei Takeda, Arata (2016): Spiel mit Sprachen und Identitäten. Eine Vision für die mehrsprachige Literatur- und Kulturdidaktik. In: Hess-Lüttich (Hg.): Gesellschaften in Bewegung. S. 321-335. 31 Blum-Barth, Natalia (2016): Einige Überlegungen zur literarischen Mehrsprachigkeit, ihrer Form und Erforschung – eine Einleitung. In: Dieter Heimböckel, Georg Mein,

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macht. Hierbei war kein wissenschaftliches Aufbrechen Initialzündung dieser noch jungen Forschungsrichtung, sondern das Wirken und Schaffen zahlreicher Schriftstellerinnen und Schriftsteller: »Die Texte von Autorinnen und Autoren wie Herta Müller, José F.A. Oliver, Emine Sevgi Özdamar und Yōko Tawada stehen trotzdem am Ausgang dieses Heftes, insofern sie in mancherlei Hinsicht der germanistischen Literaturwissenschaft die Augen für mehrsprachige Schreibverfahren erst geöffnet haben. Ausgehend von den Verschiebungen, die die interkulturelle Anlage ihrer Texte in der deutschen Literaturlandschaft vornimmt, verschiebt sich auch der Blick auf frühere Texte.« (Kilchmann 2012: 11)32

9.3.1 Objektiver Sinn 9.3.1.1 Das Bad In dem von Peter Pörtner ins Deutsche übersetzten Roman Das Bad (1993) lernt die aus Japan stammende Ich-Erzählerin den Deutschlehrer Xander kennen, der auch als Fotograph arbeitet. Er vermittelt die Sprache durch ein behavioristisches ‚pattern-drill-Verfahren‘, wodurch der Ort der Schule nicht mehr als Bildungsinstitution, sondern vielmehr die Konturen eines Konditionierungslagers annimmt: »[Xander] gab Anfängern an einer Privatschule Einzelunterricht. Die Lehrmethode dieser Schule bestand darin, keine Erklärungen zu geben. Der Schüler muss alles, was der Lehrer sagt, so lange wiederholen, bis er es auswendig weiß« (28). Die Ich-Erzählerin stand für Xander auch Modell, indem sie ihr exotisches Dasein als ausländische Frau weiterleben und veräußern sollte. »Ich möchte die Aufnahme für ein Plakat verwenden.«, so Xander, »können Sie nicht ein bisschen japanischer dreinschauen« (10)? Mit diesem Befehl, welcher die Identitätszuschreibung in eine Bildansammlung von Fremdheitskonstruktionen und nationalen Rollenfächern objektiviert, raubt Xander der Ich-Erzählerin jedes selbstbewusste Gefühl von Subjektivität. Überdies verstärkt die Personifikation der Filmkamera die Überlegenheit des fremden Blickes auf die Ich-Erzählerin. »Die Kamera versuchte mich zu behandeln; sie versuchte, meinen Körper dem Tod zu entziehen, indem sie ihn in Papier einbrannte« (11). Es ist ein entblößendes Moment der Hilflosig-

Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg (Hg.): Zeitschrift für interkulturelle Germanistik. 6. Jahrgang, 2015 2. Schwerpunktthema: Literarische Mehrsprachigkeit. 1. Aufl. Bielefeld: transcript (Zeitschrift für interkulturelle Germanistik), S. 11-16, hier S. 12. 32 Kilchmann, Esther (2012): Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3, 2. S. 11-18.

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keit, indem das Instrument der Kamera versucht, die Ich-Erzählerin »einzufangen«; ihre »Augen wurden zu Fischen aus Licht und versuchten, in die Luft zu fliehen« (10). Bei Betrachtung der Abzüge ist die Ich-Erzählerin auf den Fotos nicht sichtbar, da ihr natürliches Aussehen Xanders westlich-stereotypen Vorstellungen einer Japanerin entsprach und den Innen-Bezug herstellt, sie würde im Moment der Fotographie nicht japanisch genug empfinden (ebd.). Deshalb schminkt er ihr Gesicht mit weißer Farbe, die Lippen rot und färbte die ohnehin schwarzen Haare noch schwärzer, sodass die Ich-Erzählerin ein in den Augen des westlichen Mannes japanisches Gesicht erhält – durch die Entpersonalisierung zur Vorstellung einer japanischen Frau. Um seine Kreation auch noch entsprechend zu signieren, malte er auf ihre Wange ein großes X auf. Es folgt eine Diskussion zwischen der Ich-Erzählerin und dem Fotographen über wesentliche Unterschiede zwischen Europäern und Asiaten. Hierbei vertritt der Fotograph die Meinung, dass innere Identität und äußere Körpermerkmale wie Hautfarbe oder Körpergröße in Beziehung stehen und einander insofern bedingen, als die inneren Eigenschaften konstituierend für Identitäten stünden. »‚Glauben Sie wirklich, dass die Haut eine Farbe hat?‘ Xander lachte. ‚Was für eine Frage. Oder glauben Sie vielleicht, dass die Farbe von Ihrem Fleisch kommt?‘ ‚Das Fleisch hat auch keine Farbe. Die Farbe entsteht durch das Spiel des Lichts auf der Hautoberfläche. In uns gibt es keine Farbe.’ Xander antwortete: ‚Aber das Licht spielt auf eurer Haut anders als auf unserer.‘ ‚Das Licht spielt auf jeder Haut anders; bei jedem Menschen, in jedem Monat und an jedem Tag.‘ ‚Aber dafür hat jeder eine eigene Stimme in sich. In uns …‘ ‚In uns gibt es keine Stimme. Nur die Luft außerhalb unseres Körpers vibriert‘« (12).

Die Ich-Erzählerin widerspricht Xander. Für sie sind äußere Identitätsmerkmale nicht mehr, als eine Ansammlung sinnlicher Eindrücke, womit ein Innenweltbezug verneint wird; Wahrnehmung von außen investiert Bedeutung in Formen von Identitäten. Das Element des Wassers nimmt als fließend dynamisches Element in der Diskussion um Identitätssuche einen wesentlichen Stellenwert ein. »Der Weltball soll zu siebzig Prozent mit Meer überzogen sein, es ist daher kaum verwunderlich, dass die Erdoberfläche jeden Tag ein anderes Muster zeigt. Das unterirdische Wasser bewegt die Erde von unten, die Wellen des Meeres nagen an der Küste, oben sprengen die Menschen Felsen und legen in den Tälern Felder an und graben das Meer um. So verändert sich die Gestalt der Erde. Ich breite eine Weltkarte aus. Auf der Karte hat das Wasser seine Bewegung eingestellt, daher scheinen die Städte immer an derselben Stelle zu liegen.

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Die zahllosen roten Linien, die von Stadt zu Stadt gezogen sind, bezeichnen Flugrouten und Fangnetze. Das in den Netzen gefangene Gesicht der Erde wird von den Menschen jeden Tag nach dem Modell der Karte geschminkt« (54).

Gezeichnet werden hier zwei Perspektiven von Oberfläche – oder auch der Performanzen von Identitäten. Gestaltet das Wasser in der ersten das Gesicht der Welt in einem nicht endenden Prozess der Metamorphosen, erzeugt die kulturelle, im Sinne einer vom Menschen erzeugten Abbildung von Welt als Fotographie oder Karte eine Statik mit festen Grenzen und klar abgetrennten Lebensräumen. Auch im letzten Satz entdecken wir wieder die Metapher des Netzes und dem darin gefangenen Gesicht; eine Kosmetik von Identitätssuche durch das von der Autorin in Frage gestellte Bedürfnis des Menschen, Systeme und Kategorien zu bilden. Die Erzählung Das Bad kann als eine Poetik der sich wandelnden Identitäten gelesen werden, denn das Element des Wassers als Metapher für die wandelbare, perspektivgebundene Konstruktion von Identitäten schließt nicht nur, sondern eröffnet auch den Roman: »Der menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen, es ist daher auch kaum verwunderlich, dass sich jeden morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt. Die Haut an Stirn und Wangen verändert sich von Augenblick zu Augenblick wie der Schlamm in einem Sumpf, je nach der Bewegung der Menschen, die auf ihm ihre Fußspuren hinterlassen.« (3) Das Gesicht der Ich-Erzählerin besteht aus Wasser und verändert sich täglich; das Thema der Verwandlung steht im Mittelpunkt der Erzählung, da die Rolle der Erzählerin sich vom Fotomodell über die Dolmetscherin zur Typistin, einem Medium für eine tote Frau figuriert, bis ihr Körper sich zuletzt in einen transparenten Sarg verwandelt. In dieser von männlichen Kräften beherrschten Welt durchlebt die Erzählerin mehrere Phasen existentieller Krisen, da sie in einer Gesellschaft der starren Oppositionen zwischen den Polen zerrieben wird. Was hat es nun mit diesem oppositionellen Denken auf sich? Das Selbstverständnis einer zwischen den Welten reisenden Schriftstellerin sowie das gesamte Konzept von transkultureller Sprach- und Kulturmittlung wird auf eine harte Probe gestellt, denn die ungeprüfte Übersetzerin wurde von einer japanischen Firma zu einem Geschäftsessen mit deutschen Geschäftspartnern eingeladen. Nachdem das Grußwort des Abends noch von den blühenden Geschäftsbeziehungen beider Länder schwärmte und beide Seiten auch für die Zukunft an einer erfolgreichen Kooperation festhalten wollen, trifft die Erzählerin der scharfe Blick eines Japaners mit Goldrandbrille: »Eine Dolmetscherin ist wie eine Prostituierte, die sich an Besatzungssoldaten verkauft; von den einheimischen Männern wird sie gehasst. Offenbar glauben sie, dass die deutschen Worte, die sich in meine

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Ohren ergießen, eine Art Sperma seien. Das Sprichwort sagt, es gibt keine zufälligen Begegnungen.« (15) Die Funktion des Dolmetschens wird hier als Verrat gewertet, obgleich natürlich zu fragen wäre, inwieweit die sexuelle Auslieferung auch auf die Beschreibung eines männlichen Dolmetschers zuträfe. Feststeht, dass in den Augen des Japaners die Wortübermittlung von der Zunge zur Ohr eine Analogie zum Geschlechtsverkehr bildet, nicht zuletzt, da es sich bei beiden Sinnen um Körperöffnungen handelt und sich der »sexuelle Akt« durch ein geschäftliches Abkommen vollzieht. Hinzu kommt nun aber auch, dass der Vergleich mit »Besatzungssoldaten« historische Referenzen auf die amerikanische Besatzung Japans nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubt, nicht zuletzt durch weitere Verweise im Text: Bei einem Besuch in Japan war die Mutter der Erzählerin nicht zum Flughafen gekommen, »weil der Lärm der Flugzeuge sie an den großen Bombenangriff auf Tokyo erinnere. Sie hatte bei diesem Angriff ihre ganze Familie verloren« (44). Von entscheidender Relevanz ist hier aber die Frage, inwieweit das interkulturelle Potenzial von Sprach- und Kulturmittlung nicht nur als kommunikative Notwendigkeit, sondern auch als Bedrohung von einem machttaktischen Kalkül unterwandert wird. Schließlich übersetzt die Dolmetscherin bewusst obszöne Bemerkungen einiger Angestellten über die weiblichen Angestellten falsch und befindet sich somit in einer herausragenden, nur schwer angreifbaren Stellung. Auf der anderen Seite ist die Dolmetscherin von der Gunst ihrer Auftraggeber abhängig, was dem Goldrandbrille tragenden Japaner durchaus bewusst ist. Der japanische Firmenpräsident fragt die Dolmetscherin mit jovialem Unterton, ob sie verheiratet sei, denn ansonsten müsste sie nach Japan zurückkehren und sich von ihren Eltern aushalten lassen (17), als ob der Weg einer Frau stets in der Hochzeit oder im ‚Hotel-Mama‘ zu enden habe. Hier wird nicht nur der prekäre Berufsstand der Dolmetscherin in Frage gestellt, sondern auch die Lebensform der Person selbst, da sie als berufstätige und zwischen den Welten vermittelnde Frau kleingehalten und die Wertigkeit ihrer Arbeit auf einen bestenfalls zeitlich limitierten Projektcharakter reduziert wird. Besonders fragwürdig erscheint das Firmenessen vor allem dann, wenn die offizielle Rede den internationalen Dialog noch als wegweisend für den ökonomischen Erfolg bestimmt, gleichzeitig aber das west-östliche Oppositionsdenken aus dem Pazifikkrieg wieder aufs Tapet gebracht wird, sobald alternative Denkweisen jenseits holistischer Dichotomien des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ die Ordnung der Oppositionen stören. Gewiss kann man argumentieren, dass Oppositionen auch positiv gewendet für eine Balance widerstreitender Kräfte interpretiert werden können. Bei Tawadas Erzählung jedoch zeigt sich eine intolerante Facette von Statik, die das Denken in Optionen und Alternativen nicht zulassen möchte.

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9.3.1.2 Eine leere Flasche Literarischen Anschluss finden die Aussagen Tawadas zu Identitätskonstruktionen mittels Sprache auch in der Erzählung Eine leere Flasche (2002: 53-57), wenn auch die Tonalität der Sprache und die Rollenkonfiguration der Protagonisten bei weitem nicht so aggressiv und deutlich hervortreten wie in Das Bad. Die noch junge Ich-Erzählerin lebt in Tōkyō und hat in ihrer Nachbarschaft eine Freundin, die sich selbst wie ein Junge als »boku« (dt. »ich«) bezeichnet. Die meisten Mädchen nennen sich selbst »atashi«, frühreife Mädchen als »watashi«. Die meisten Jungen nannten sich dagegen »boku«, manche besonders wilde sogar »ore«. Die Ich-Erzählerin räumt auch gleich ein, dass es sehr »lächerlich« geklungen hätte, wenn manche Jungs sich »atashi« bezeichnet hätten, sagt aber auch gleich, dass sie sich mit dieser geschlechtlichen Identifikation sehr unwohl gefühlt habe. Erst Erwachsenen sei es erlaubt, sich in das geschlechtsneutrale »watashi« zu flüchten. Aber solange das noch nicht gegeben ist, waren Kinder gezwungen, entweder Jungs oder Mädchen zu sein. Das Mädchen, das sich selbst »boku« nannte, verfügte über überragende Talente. So konnte sie problemlos vom Balkon im ersten Stock herunterspringen und auch Klavier spielen. Wurde sie gefragt, warum sie sich »boku« nannte, antwortete sie, sie fühle sich wie »boku« (55). Als die Ich-Erzählerin später studierte, erzählte ihr ein Freund, dass er sich grundsätzlich als »boku« bezeichne, aber sich jederzeit in einen Mann verlieben könne, der sich selbst als »ore« bezeichne, obwohl er keine homosexuellen Neigungen habe. Sich als »ore« bezeichnende Männer seien im Besitz von Eigenschaften, die er selbst nicht habe; zumindest dachte er das von sich (56). Darüber hinaus hätten die »ore«-Männer einen ganz anderen Status in der Gesellschaft als die »boku«-Männer. Somit gebe es unter Erwachsenen mindestens vier Geschlechter, »watashi«, »boku«, »ore« und »atashi«. Als die Ich-Erzählerin nun nach Europa zog, erlebte sie Folgendes: »[I]ch zog nach Europa und fand das Wort ‚ich‘, bei dem man sich keine solchen Gedanken mehr machen musste. Ein Ich muss kein bestimmtes Geschlecht haben, kein Alter, keinen Status, keine Geschichte, keine Haltung, keinen Charakter. Jeder kann sich einfach »ich« nennen. Dieses Wort besteht nur aus dem, was ich spreche, oder genauer gesagt aus der Tatsache, dass ich überhaupt spreche« (57). Das »ich« verweise lediglich auf den Sprechenden, ohne eine weitere Information, über sich zu preiszugeben. Dazu gesellt sich nun das »bin«, das im Japanischen »eine Flasche« bedeutet. »Wenn ich mit den beiden Wörtern ‚Ich bin’ eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz und die Flasche ist leer« (57). Es wird hier das Bild eines Sprachgefäßes gezeichnet, mit dem die Menschen sich selbst in Kategorien einordnen. Die paraboleske Erzählstruktur von Eine leere Flasche stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit mit dem

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Ergebnis, dass beide Größen sich gegenseitig bedingen und zumindest in ihrer Performanz, also der Zur-Schau-Stellung von Identitäten, ein zumindest partizipatorisches Begriffspaar bilden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass ein Mädchen mit dem Selbstverständnis eines Jungen plötzlich zu sportlichen Höchstleistungen fähig ist. Selbst jede Form von Zuneigung, die man anderen Menschen entgegenbringt, – sei es freundschaftlich, sexuell oder auf der Ebene der Liebe – ist nach Tawadas Erzählung abhängig vom Selbstverständnis der beiden Menschen. Je nach dem Kleid, mit dem das Subjekt, das »ich« gekleidet ist, werden Status, Charakter und Geschichte einer Zuschreibung unterzogen. Auch in der deutschen Sprache finden sich zahlreiche Beispiele für die Gestaltungskraft von Sprache auf ihre Umwelt. Eine solche Überlappung von Sprache und Identität löst sich nicht in Harmonie auf, sondern mündet in einen zerstörerischen Konflikt, aus dem man nicht mehr fliehen kann? So ergeht es der Hauptfigur der Erzählung der Erzählung Ein Gast (1993): »Seit langer Zeit habe ich keinen Roman mehr gelesen, dessen Buchstaben ich zum Verschwinden bringen konnte. Es liegt wahrscheinlich nicht an mir, sondern an der Stadt. Es gibt nämlich hier nur Bücher in einer mir fremden Schrift. Seitdem ich hier lebe, ist es mir noch nie gelungen, in einen Roman hineinzutreten. Ich lese und lese, aber das Alphabet verschwindet nie vor meinen Augen, sondern es bleibt wie ein Gitter oder wie Sand im Salat oder wie die Wiedergabe meines Gesichtes im Fensterglas eines Nachtzuges« (29).

Das Zitat veranschaulicht die Schwierigkeit für chinesische und japanische Leserinnen und Leser, aus Buchstaben Wörter mit einer Bedeutung zu formen. Die aufeinander folgende Aneinanderreihung von Buchstaben müsse bei trainierten Augen eine Verschmelzung zur Folge haben, eine Metamorphose von Worten zur Bedeutung. Anders als bei japanischen Piktogrammen, wo jedes Bild eine Bedeutung transportiert und in der sino-japanischen Lesung in Kombination mit anderen Kanjis diese nicht selten beibehält, ist ein Buchstabe erst einmal leer wie die Flasche (»bin«) ohne Inhalt. Dieses Problem ist nun so virulent, dass der Zugang zur Sprache wie ein »Gitter oder wie Sand im Salat« versperrt bleibt. Für Tawada werden die Identitätssuche und sprachliche Obdachlosigkeit zu einem Kampf um die eigene Identität, der sogar die körperliche Zersetzung nach sich zieht, wie es sich in der Erzählung Die Leere Tafel (1994)33ereignet: »Wörter, die die Luft müde machen, vermehren sich täglich um mich herum. Ich muss ein Wort an ein anderes stoßen lassen, damit sie sich gegenseitig vernichten. Im Moment des

33 Tawada, Yoko (1994): Die leere Tafel. In: Sinn und Form 3, S. 466-471.

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Zusammenstoßes blitzt es im Raum. Dieser Blitz ist das einzige sprachliche Produkt, das mich interessiert. […] Die meisten Wörter haben schon den Sicherheitsvertrag geschlossen, damit sie nicht unter sich, sondern gegen die anderen kämpfen können. […] In dem Moment wird die Luft fester und schwerer: Es passiert nichts, es blitzt nicht, und sie bleiben das, was sie immer gewesen zu sein glauben: Bedeutungsträger. […] Es ist fast traurig zu sehen, welches Wort mit Stolz welches Wort zu unterstützen versucht. […] Meister und Literatur, Stimme und Demokratie, Freizeit und Natur. (469)«

Zu oft verwendete Wortpaare müssen mit einem Zusammenstoß wie in einem Blitzschlag vernichtet werden, ansonsten machen sie die Luft »müde«. Nun erfahren wir aber auch, dass es Wortpaare gibt, die eine Art Waffenstillstand ausgehandelt haben und gegen andere Wortpaare konkurrieren. Was nun entsteht, ist ein Wettlauf um das nackte Überleben, in dem die Ich-Erzählerin sicher nicht selbstverständlich die Macht über das Wort hat, denn auch ihr wird die Luft zum Atmen knapp. Die Aussageformationen der Wortpaare rennen gegen alle Versuche der Ich-Erzählerin an, es zwischen den etablierten Wortpaaren blitzen zu lassen: »Bei jeder ermüdenden Kombination verlieren meine Lungen an Kraft und es gibt immer weniger Luft zum Atmen. Um weiter einatmen zu können, muss ich mir einen neuen Zusammenstoß ausdenken, damit es wieder blitzt: Meister und Floh, Stimme und Gabel, Freizeit und Bildtafel. Es gibt leider keine Kombination, die auf Dauer ein Blitzlicht erzeugen kann. Daher muss man jeden Tag eine neue Idee haben. Meister und Maisbrei, Stimme und Stummel, Freizeit und Eiszeit« (469 f.).

Wortpaare sollen zerschlagen werden. Der »Sicherheitsvertrag« stellt für das Leben der anderen Wortpaare eine Gefahr dar. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, semantische Felder zwischen Worten entstehen zu lassen. Sie können einer inhaltlichen Logik folgen wie beim Wortpaar Freizeit-Natur, aber auch einer klanglichen, durch Erzeugung einer Asonanz wie bei Freizeit-Eiszeit. Tawada sträubt sich gegen die konventionellen Wortpaare, die vor allem einer inhaltlichen Logik folgen.

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9.3.1.3 Ein Chinesisches Wörterbuch Ein utopischer Gegenentwurf literarischer Mehrsprachigkeit in der Einsprachigkeit findet sich in dem an künstlerischen Mitteln schlichten, aber in der Wirkung weitreichenden Text Ein chinesisches Wörterbuch (Überseezungen 2002: 31). Bei diesem Gebilde handelt es sich formal um ein einsprachiges, deutsches Wortglossar, das jedoch unter Berücksichtigung chinesischer Wörterbücher entstanden ist. Dem auf der linken Seite stehenden Wort steht die in deutsche Sprache übersetzte Bedeutung der chinesischen Zeichen gegenüber, womit es sich hierbei um eine nach Themenbereichen geordnete Übersetzung handelt. »Pandabär: Große Bärkatze Seehund: Seeleopard Meerschweinchen: Schweinmaus Delphin: Meerschwein Tintenfisch: Tintenfisch Computer: elektrisches Gehirn Kino: Institut für elektrische Schatten schwindelerregend: in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht Ohnmacht: Abenddämmerung der Vergangenheit«

In dieser auf den ersten Blick rein deutschen Übersetzung ist das Chinesische ‚dazwischengekommen‘; sie nimmt somit Abstand von einer interlinearen Entsprechung oder wörtlichen Analogie zwischen Wörtern aus verschiedenen Kulturräumen. Indem sich der Pandabär in eine »große Bärkatze« verwandelt oder der Seehund in einen »Seeleoparden«, entsteht ein Konzept mehrsprachiger Verwandtschaftsbeziehungen. Das Alltagssprachliche wird metaphorisiert und für eine neue Qualität ästhetischer Erfahrung zugänglich gemacht, wie vor allem das letzte Beispiel für »Ohnmacht« zeigt. Ungeachtet seines didaktischen Potenzials für den mehrsprachigen Literaturunterricht liest sich der Text wie eine Karte der Mehrsprachigkeit, denn im Zentrum – oder dem ‚Reich der Mitte‘, befindet sich der Tintenfisch. Gesellt sich dieser Fisch prototypensemantisch noch zu den ersten vier Zeilen der animalischen, lebenden Kategorie, ist die Tinte ihrem Wesen nach ein Teil der gegenständlichen Welt des Computers oder des Kinos. Auf der horizontalen Ebene wiederum erkennt der Leser eine Transformation von der Welt des Gegenständlichen (»Kino«) in die Welt des Organisch-Lebendigen (»Gehirn«). Die Kette an mehrsprachigen Assoziationen ließe sich bis in »schwindelerregende« Tiefen fortführen.

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9.3.2 Intentionaler Sinn Es bleibt nun der sprechenden Person selbst überlassen, ob man die eigene Stimme der Umgebung anpasst oder sich verweigert: »Die Stimme hat oft die Funktion, einen Menschen an die Gesellschaft festzubinden. Zu diesem Zweck muss die Stimme unsichtbar werden. Sie wirkt dann wie ein chemischer Klebstoff. Dagegen bleibt eine fremde Stimme undurchsichtig und unterbricht die Melodie des gemeinsamen Gesprächs, öffnet eine Lücke, die peinlich oder erfrischend sein kann.« (Tawada 1998: 8) Insofern steht für Tawada die Frage nach dem Fremdsprachenerwerb durchaus in Verbindung mit der politischen identitätsstiftenden Macht von Sprache, Kommunikation als Unterdrückungsmittel zur Uniformierung einer Gesellschaft ist in der Poetik Tawadas ein Thema, das nicht zuletzt vor der Entfremdung sich selbst gegenüber warnt. Der »Sprachrhythmus« (9) beispielsweise, der in einer Fremdsprache weiterlebt und oftmals in despektierlichem Tonfall als »Akzent« bezeichnet werde, enthalte die Erinnerung an den Leib der Muttersprache und sobald er dem Mund des Sprechenden entflieht, verleihe er auch dem Sprechenden einen Körper. Aber wenn man nur langsam sprechen könne, unnötige Pausen machte, käme sofort derjenige mit »einem uniformierten Gehirn« (11) und gäbe pädagogische Ratschläge oder humanistisches Mitgefühl dazu. Dennoch ist und bleibt die Muttersprache ein Teil der eigenen Identität, was die Autorin mit einer Metapher zur Körperlichkeit von Sprache begründet: Die Fremdsprache tritt als zweite Haut auf, womit die kulturelle Sphäre der Kommunikation auf die physische Leiblichkeit trifft: »Ich war ins Japanische hinein geboren, wie man in einen Sack hineingeworfen wird. Deshalb wurde diese Sprache für mich meine äußere Haut. Die deutsche Sprache jedoch wurde von mir hinuntergeschluckt, seitdem sitzt sie in meinem Bauch« (Tawada 2002a: 103). Eine Haut könne man nicht einfach von seinem Körper abstreifen, zumindest nicht, ohne sich selbst zu verletzen. Sie ist Teil des eigenen Körpers und weitgehend für uns selbst als Trägerinnen und Träger unsichtbar. Die Fremdsprache jedoch wird von uns gegessen, ihre Wörter betreten unseren Körper, sind zunächst aber kein Teil davon. Der Ornithologe der Sprache wird also für seine Umgebung sensibilisiert, ein Bewusstmachen des Anderen verschiebt als Wahrnehmungsprozess den Blick auf das, was dem Muttersprachler nur allzu oft verborgen bleibe. Dieser Blick auf das Fremde bilde eine Quelle für Kreativität, der man sich als Schriftstellerin bedienen kann: »Die Muttersprache wird für einen normalen Menschen unsichtbar, zu einem Werkzeug, das man zwar benutzt, das aber keinen Wert hat. Wir, Dichter oder schreibende Menschen oder alle, die mit der Sprache zu tun haben, vergessen

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dieses Gefühl nicht. Wenn man diese Basis hat, kann man auch mit der Fremdsprache interessanter umgehen.« (Heinrich Böll Stiftung 2009) Durch die Erweiterung semantischer Erschließungstechniken wird demnach der Fremde in seiner künstlerischen Produktivität nicht nur inspiriert, sondern sieht sich gegenüber dem Muttersprachler sogar im Vorteil, da man mit einer schönen Sprache zwar zeitgenössischen Stilempfehlungen entsprächen kann, aber die Innovation im Schreiben nur durch das Neue entfaltet werden könne. Als ein Beispiel nennt Tawada die Kategorisierung der deutschen Sprache nach Geschlechtern, die in ihren Augen einem grundsätzlichen europäischen Schemadenken in Dichotomien entsprächen, wie man auch dem Personalpronomen »ich« entnehmen kann. Während im japanischen »ich« die Beziehung zwischen zwei Personen entscheidend sei, konzentriere sich das deutsche »ich« auf den Status des Sprechenden: »Wenn jemand der Chef einer großen Firma in Japan ist und der andere nur ein ‚armer Mensch‘, aber dieser etwas kaufen möchte, dann steht er als Kunde höher da. In dem Text Die leere Flasche ist das europäische »Ich« ganz leer, das mit einer Identität gefüllt werden muss. Es muss jeden Tag, in jedem Moment, bei jedem Sprechen gefüllt werden. Das ist ein Zwang. Das ist keine Befreiung für die Europäer, sondern eher eine Lebensform, die allerdings zu einem Druck werden kann. Ich habe das umgekehrt gedeutet, d.h. in dem Sinne, dass diese Leere gut ist, weil sie auch eine Freiheit bedeutet. Das empfinden die europäischen Leser nicht so. Niemand zu sein, ist das Schrecklichste für dieses ‚Ich‘, aber ‚Ich‘ ist ja niemand. Egal, was man tut, das ‚Ich’ bleibt leer. Das ist das Rätsel dieses Werkes« (Koiran 2004: 380).

Auch der Gebrauch der Adjektive werde durch Gegensatzpaare bestimmt, welche die Welt in ‚heiß-kalt‘, ‚groß-klein‘ sowie ‚dick-dünn‘ einteilten, nicht zuletzt in der Frage nach den Geschlechtern: Hier sieht die Autorin eine direkte Verbindung zwischen Geschlechterrollen und Sprache, wobei die ausländische Migrantin zunächst einen doppelten Malus in ihrer gesellschaftlichen Position erfahre: »Ich glaube, das Frausein verdoppelt diese Position als Ausländerin, also der Fremden. Aber wenn man die Sprache kann, ist Fremdsein wiederum eine Rettung, glaube ich, weil man dann nicht als Frau in einer Gesellschaft gefangen ist. Innerhalb einer Monokultur gibt es nur Mann und Frau (lacht), aber wenn man dann eine Fremdsprache kann, gibt es Ausweichmöglichkeiten, dann gibt es tatsächlich ‚mehr Geschlechter‘. Es ist dann nicht mehr ‚Frau‘, das ist dann irgendwas anderes, das finde ich faszinierend« (ebd.).

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Und in einem weiteren Interview (Heinrich Böll Stiftung 2009) stellt die Autorin die Vermutung an, ob mit der Dichotomisierung von Sprache nicht auch ein Merkmal europäischen Denkens seine Ausdruck findet. »Dass die Gruppierung männlich und weiblich so wichtig geworden ist, hängt vermutlich mit dem europäischen Denken zusammen. Aber ich müsste mich noch länger mit der Frage beschäftigen, bis ich etwas dazu sagen kann. Ich erinnere mich an etwas, das ein Bekannter von mir gesagt hat. Es ging um die Ablehnung der Homosexualität. Er sagte, es gebe ja Mann und Frau, das sei etwas Grundsätzliches, so wie es den Tod und das Leben gebe. Und es gebe das Gute und das Böse. So seien die Dinge gemacht, und deshalb ginge es nicht anders. Und in dem Moment dachte ich, das ist ja Quatsch, also den Tod als Gegenteil des Lebens zu beschreiben, das in zwei zu teilen. Manche denken, dass auch die Sprache aus Gegensatzpaaren besteht, besonders die Adjektive, klein und groß, hell und dunkel usw. Aber die japanische mittelalterliche Literatur, wie zum Beispiel das Kopfkissenbuch ist voll mit Adjektiven, die kein Gegensatzpaar bilden. Im heutigen Deutschen gibt es auch viele Adjektive wie ‚unheimlich‘ oder ‚magisch‘, die keinen wirklichen Gegensatz haben. Es sind gerade die Adjektive, die für mich wichtig sind.«

Tatsächlich finden sich in den Büchern Tawadas immer wieder Frauenfiguren, die vor allem traditionellen Rollenzuschreibungen entfliehen wie etwa in den Erzählbänden Opium für Ovid oder Das nackte Auge. Es wird das Schicksal von Menschen thematisiert, die unfreiwillig der Identitätszuweisung ‚von außen‘ ausgeliefert seien. Die Macht- und Sprachlosigkeit sei ein doppeltes Los vieler Frauen aus dem Ausland. Durchaus gestaltet sich Poetik Tawadas als eine politisch engagierte, die sich den öffentlichen Debatten um Migration, Einwanderung und der Geschlechterdiskussion nicht verschließt. In dem vom Goethe Institut veröffentlichten Sammelband Exophonie. Schreiben in anderen Sprachen (2011: 8) stellt Tawada zum Beispiel verwundert fest, wie auf zahlreichen Wissenschaftstagungen das Attribut »international« voller Stolz und unbedacht verwendet wird, während alle Vortragenden Englisch als Lingua franca sprechen und sich selbst oder die anderen nicht einmal vollständig verstehen können. »Die Menschen, die alles unter Kontrolle halten wollen, haben Angst vor der Sprache, die sie nicht verstehen. Sie entwickeln sogar Hass gegen alles, was sie nicht sofort einordnen können oder womit sie sich nicht identifizieren können. Ein Diktator hat Angst vor Ideen, die in seinem Territorium heimlich wachsen. Jede Idee, die er nicht sofort verstehen kann, ist potenziell gegen ihn gerichtet. Er erlaubt keine Kritik, keine Alternative. Ich rede hier nicht von einem politischen Diktator, den jeder sofort als solchen erkennt, sondern von einem Diktator in jedem Individuum, das in der Demokratie lebt.« (ebd.)

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Diese auf der autorenpoetologischen Ebene des Ausdrucks formulierte These einer politisierenden Wirkmacht von Sprache wird im Werk der Autorin mehrfach thematisiert, wobei in der folgenden Untersuchung auf der Ebene des Objektes immer auch die Körperlichkeit von Sprache betont wird oder genauer gesagt, ihre gefährdete Existenz, durch externe Kräfte unterworfen zu werden, sobald sie sich alleine in einer neuen Umwelt wiederfindet. Einen utopischen Entwurf der Überwindung von Sprachbarrieren legt Tawada auf formaler Ebene in ihrem 2008 erschienenen Roman Schwager in Bordeaux vor. Es findet sich über jedem Absatz ein japanisches Schriftzeichen, das eine isotopische Funktion insofern erfüllt, als es in seiner ikonischen Bedeutung vorwegnimmt, was als Sprache im deutschen Text durch die Erzählung entwickelt wird. So nimmt Tawada in einem weiteren Interview34 hierzu Stellung: »Jedes Zeichen hat eine oder mehrere Bedeutungen, genau wie ein Wort. Die Ideogramme haben eine Form, die man mit dem Text, der darauf folgt, in Verbindung bringen kann. Die Assoziationen, die durch die Zeichen entstehen, beeinflussen den Text. Dennoch gibt es keinen direkten Zusammenhang, es entsteht ein Spielraum. Das ist wie bei einem Traumbild: Man weiß nicht, was es genau bedeutet, mehrere Deutungen sind möglich. Das ist mit den Ideogrammen ähnlich. Man versteht manchmal den eigenen Traum nicht. Ich erwarte nicht, dass der Leser das Ideogramm versteht. Aber er sieht trotzdem die Form. Auch in einem Text, der in einer Sprache geschrieben ist, die man versteht, gibt es Teile, die so ähnlich bleiben wie Bilder. Wenn man nicht jeden Teil, jeden Satz komplett versteht, erhält.«

9.3.3 Dokumentarischer Sinn Die bisherigen Lektüren zu den Werken Das Bad, Eine Leere Flasche und Ein Chinesisches Wörterbuch zeigen in den zwei ersten Titeln auf, inwieweit die gewollte Unterdrückung mehrsprachiger Ausdrucksfähigkeit als Machtdemonstration einer Mehrheitsgesellschaft lebensgefährdende Konsequenzen für das Objekt der Unterdrückung mit sich bringt. Besonders die in Das Bad geschilderte Analogie zwischen einer Dolmetscherin und Prostituierten, veranschaulicht die große Skepsis und Angst vor Menschen, die zwischen den Orten des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ zu wandern befähigt sind. Im dritten Titel wird dann ein utopisches Konzept – das eigentlich als sprachistorisch triviale Tatsache gelten sollte – entfaltet, demzufolge auch in einsprachigen ästhetischen Texten immer eine orches-

34 Klook, Carsten (2008): Die Wortreisende. In: Zeit Online, 16.09.2008. Online verfügbar unter http://pdf.zeit.de/online/2008/38/yoko-tawada.pdf.

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trierte, mehrkulturelle Redevielfalt zu entdecken ist. Die Lektüren zeigen außerdem, dass Fragen rund um Mehrsprachigkeit oftmals auch die beiden Komponenten des Sprachkontaktes und -konfliktes in sich tragen. Somit ist auch die Frage nach dem dokumentarischen Denkstil gestellt, welche nach den Traditionslinien der literarischen Mehrsprachigkeit sucht. Hierfür soll das innerhalb der IKLW viel zitierte Werk von Michail Bachtins Die Ästhetik des Wortes35 vorgestellt werden und durch die Verknüpfung mit aktuellen Fragestellungen innerhalb der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung eine Brücke gebaut werden zwischen dem Wirken und Formulieren einer Wissenstradition.36 »Ein Wort in sich selbst zu untersuchen, ohne seine Orientierung nach außen zu beachten, ist ebenso sinnlos, wie ein psychisches Erlebnis außerhalb derjenigen Realität zu untersuchen, auf die es gerichtet ist und durch die es bestimmt wird« (Bachtin 1979: 184) – Das Werk des in Moskau geborenen und unter Stalins Gewaltherrschaft 1929 nach Kasachstan verbannten37 Literaturwissenschaftlers Mi-

35 Bachtin, Michail (1979): Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 967). 36 Dass sich hierbei keine Typologie der literarischen Mehrsprachigkeit entwickeln lässt, ist evident. Jedoch formuliert Kremnitz (2015: 29) zwei grundsätzliche Ausrichtungen in der Funktion literarischer Mehrsprachigkeit: Neben einer eher kommunikativen Sprachkonzeption tritt eine stärker an der Form orientierte hinzu. Es wäre ein wichtiges Desiderat, diese Ansätze am Beispiel weiterer Adelbert-von-Chamisso-Preisträger/-innen zu überprüfen. Kremnitz, Georg (2015): Mehrsprachige Autoren und ihre Sprachen. Einige Überlegungen zu einem komplexen Verhältnis. In: Heimböckel (Hg.): Zeitschrift für interkulturelle Germanistik. S. 17-33. 37 Mehrsprachigkeit unter der Exilerfahrung sind zentrale Säulen in der Beforschung des Sprachwechsels, obgleich der Überblick zeigt, dass die Exilerfahrung vor allem im europäischen Kontext berücksichtigt wird. Vgl. Lamping, Dieter (1996): Haben Schriftsteller nur eine Sprache? Über den Sprachwechsel in der Exilliteratur. In: Ders. (Hg.): Literatur und Theorie. Über poetologische Probleme der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Sammlung Vandenhoeck), S. 33-48. Kliems, Alfrun; Trepte, HansChristian (2004): Der Sprachwechsel. Existentielle Grunderfahrungen des Scheiterns und des Gelingens. In: Eva Behring, Alfrun Kliems und Hans-Christian Trepte (Hg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945-1989. Ein Beitrag zur Systematisierung und Typologisierung. Stuttgart: Steiner (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 20), S. 349-392. Wittbrodt, Andreas (2001): Mehrsprachige jüdische Exilliteratur. Autoren des deutschen Sprachraums. Problemaufriß und Auswahlbibliographie. Aachen: Shaker (Berichte aus der Literaturwissenschaft).

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chail M. Bachtin (1896-1975) wird heute vor allem unter dem Leitbegriff der Redevielfalt als Strukturprinzip des Romans studiert. Erste Überlegungen zur Ausarbeitung seiner Theorie wurden bereits in seinem 1929 erschienenen Buch Probleme der Poetik Dostojewskis herausgearbeitet. Es soll nun auf der dokumentarischen Sinnebene untersucht werden, wie Tawadas Ansatz zur Überwindung festgefahrener Sprachsehgewohnheiten unter dem Gesichtspunkt einer Polyphonie der Stimmen erklärt bzw. in diese Denktradition eingebettet werden kann, die gemäß Blum-Bart (2015: 13) zur Bachtin’schen »Erhellung durch ein anderes Sprachbewußsein« (Bachtin 1979: 247) führen kann. Es ist vielleicht hilfreich, sich ein Wortpaar als Landschaft vorzustellen. Die Eckpunkte, oder den Rahmen, bilden dann die beiden Wörter und erzeugen ein semantisch aufgeladenes Kontextfeld, das sein Gesicht je nach Kombination der Wortpaare ändert. Interessanterweise wählte Tawada als Beispiel für zu bekämpfende Wortpaare das Feld ‚Stimme-Demokratie‘. Beide Endpunkte dieser Landschaft ziehen weitere Wörter nach sich, die sich je nach Gebrauch und Sehgewohnheit des Sprechenden den beiden Eckpunkten annähern oder auch nicht. Um beispielsweise die Stimme näher zu bestimmen, könnte man das Kontextfeld durch verschiedene Verben erweitern, also seine Stimme ‚erheben‘, ‚gebrauchen‘, ‚abgeben‘ oder ‚verschweigen‘. Aus diesem Verbangebot werden wohl die meisten das Verb ‚verschweigen‘ aus dem Katalog streichen, da es sich trotz der geläufigen Nomen-Verb-Verbindung nicht mit unseren Vorstellungen einer Demokratie deckt. Denn nach westlichen Vorstellungen lebt eine Demokratie vom Engagement ihrer Bürger und sicher nicht vom Wegducken und Schweigen. Also schränkt bereits das Wortpaar die Bedeutungsmöglichkeiten um ein Vielfaches ein. Tatsächlich sind diese Eckpunkte als ‚Grenzpfosten‘ zu verstehen, die das leere Feld dazwischen zwar nicht füllen, aber auch nicht der beliebigen Bedeutungsinvestition überlassen. Hier ist nun das Adjektiv ‚leer‘ ins Spiel gekommen. Eine unglückliche Wortwahl, wenn man bedenkt, dass die Begriffe ‚Demokratie‘ und ‚Stimme‘ als Wortpaar eine Vielzahl an Assoziationen hervorrufen. Nun belehren aber Jakob und Wilhelm Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch38 auch, dass das Adjektiv ‚leer‘ zur Wurzel ‚las‘ gehört und ‚zusammenlesen‘, ‚auflesen‘ und ‚sammeln‘ bedeutet. Darüber hinaus geht seine Bedeutung auf einen Behälter, ein Gefäß oder einen Raum zurück, der noch ‚inhaltslos‘ ist. Bei der Lektüre von Bachtins Überlegungen wird deutlich, dass die Komposition und Satzstruktur eines literarischen Textes einem Schwingen ambivalenter Kräfte ähnelt: Man gewinnt den Eindruck, dass jede Struktur einem Prinzip folgt, 38 Kompetenzzentrum Trier (2014): Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961 (Online-Version vom 21.10.2014, Bd. 12, Sp. 508).

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einer Harmonie der Kontraste, die im folgenden berühmten Zitat deutlich zum Ausdruck kommt: »Der Roman ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt. Die innere Aufspaltung der einheitlichen Nationalsprache in soziale Dialekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Gattungssprachen (...), bis hin zu Sprachen sozialpolitischer Aktualität (...) – diese innere Aufspaltung dieser Sprache im je einzelnen Moment ihres geschichtlichen Daseins ist die notwendige Voraussetzung für die Romangattung: der Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutungen mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt.« (Bachtin 1979: 157)

Es ist hierin ein Ansatz zu finden, der in der aktuellen Mehrsprachigkeitsforschung unter dem Begriff der internen Mehrsprachigkeit39 zahlreiche Forschungsdesiderate eröffnet und diskutiert40. Das Wort eines Textes führt über seine Grenze hinaus und es sollte die vornehme Aufgabe der oder des Forschenden sein, das äußere 39 Vgl. Definition von Kilchmann (2012: 11): »[Textinterne Mehrsprachigkeit meint] das Vorkommen fremder, anderer, Sprachen im deutschen Text in Form einzelner Wörter und Sätze oder an andere Sprachen angelehnter grammatischer Strukturen. Es interessiert, wo und warum sich im deutschen Text gezielte Einfügungen aus anderen sogenannten ‚Nationalsprachen‘ finden bzw. aus vom Standard der Schriftsprache abweichenden Dialekten oder Soziolekten. Dabei können Mehrsprachigkeit, ‚Nationalsprachen‘, ‚natürliche‘ versus ‚künstliche‘ Sprachen hier keine unmissverständlich definierbaren Kategorien sein. Vielmehr verweist gerade die literarische Repräsentation und Reflexion von Mehrsprachigkeit immer wieder auf die grundlegende Problematik dieser Trennungen und Einteilungen.« 40 Vgl. Blödorn, Andreas (2004): Zwischen den Sprachen. Modelle transkultureller Literatur bei Christian Levin Sander und Adam Oehlenschläger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Palaestra, 322). Dahmen, Wolfgang (Hg.) (2000): Schreiben in einer anderen Sprache. Zur Internationalität romanischer Sprachen und Literaturen; Romanistisches Kolloquium XIII. Romanistisches Kolloquium. Tübingen: Narr (Tübinger Beiträge zur Linguistik, 448). Gutjahr, Ortrud (2010): Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft. Von den Theoriedebatten zur Analyse kultureller Tiefensemantiken. In: Dieter Heimböckel, Irmgard Honnef-Becker, Georg Mein und Heinz Sieburg (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München: Fink, S. 17-41. Heimböckel, Dieter; Honnef-Becker, Irmgard; Mein, Georg; Sieburg, Heinz (Hg.) (2010): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München: Fink. Hein-Khatib, Simone (1998):

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Milieu, das auf die sprechende Persönlichkeit immer einwirkt, selbst zum Sprechen zu bringen, denn die Erscheinungsformen literarischer Mehrsprachigkeit »zeichnen sich eben nicht durch die Parallelität der Sprachen aus, sondern durch ihre Überlappung, Verschränkung und Inkorporierung, abhängig von […] den literarischen Traditionen und der Intention des Autors sowie der Subtilität seiner literarischen Ästhetik« (Blum-Barth 2015: 13). Hinter jeder literarischen Gattungsart und jedem sprechenden Individuum verberge sich ein ganzes Kontextuum an Tönen und Wörtern, die auf die Bedeutungsgenese von Kulturobjekten maßgeblichen Einfluss nehmen. Am Roman sei nun besonders auffällig die Kombination von vielfältigen »Redestilen«, welche nun nicht die Sprache des Romans forme, sondern ein ganzes System von Sprachen (vgl. S. 156f.), einzeln oder kombiniert erscheinend, wie etwa das direkte literarisch-künstlerische Erzählen des Autors, das literarische Verweben von mündlichen alltäglichen Erzählformen und -sorten, »halbliterarische« Erzählformen wie etwa Tagebücher und Briefe oder die literarische, nicht-künstlerische Autorenrede in Form von moralischen, philosophischen, wissenschaftlichen Erörterungen, rhetorischen Deklamationen oder protokollarischen Informationen41. Die Welthaltigkeit des Romans verlange nach methodischen Konsequenzen in Wissenschaft und Forschung, was aber bislang aufgrund disziplinärer Aufspaltungen in zahlreiche opponierende Schulen ausgeblieben sei:

Sprachmigration und literarische Kreativität. Erfahrungen mehrsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller bei ihren sprachlichen Grenzüberschreitungen. Univ., Magisterarbeit. Oldenburg. Frankfurt a.M.: Lang (Europäische Hochschulschriften Reihe 21, Linguistik, 203). Kellman, Steven G. (Hg.) (2003): Switching languages. Translingual writers reflect on their craft. Lincoln: Univ. of Nebraska Press. 41 Neben den beiden thematischen Säulen der ‚Exilerfahrung‘ und der ‚textinternen Mehrsprachigkeit‘ äußert sich hier ein dritter Aspekt der Mehrsprachigkeit als Poetik künstlerischer Innovation, die über die Gründe des Sprachwechsels hinaus nach ihrem interkulturell, literarästhetischen Gehalt sucht. Zu nennen sind beispiesweise: Bürger-Koftis, Michaela (Hg.) (2010): Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Workshop zum Thema ‚Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität‘. Wien: Praesens (Praesens Literatur). Chiellino, Carmine; Blum-Barth, Natalia (Hg.) (2014): Bewegte Sprache. Vom ‚Gastarbeiterdeutsch‘ zum interkulturellen Schreiben. Dresden: Thelem (Arbeiten zur neueren deutschen Literatur, 27). Kilchmann, Esther (2012): Poetik des fremden Worts. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3, 2, S. 109-129. Yeşilada, Karin E. (2012): Poesie der dritten Sprache. Türkisch-deutsche Lyrik der zweiten Generation. Univ., Diss. Tübingen: Stauffenburg (Stauffenburg discussion, 29).

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»Alle Versuche, die Romanprosa konkret stilistisch zu analysieren, erschöpften sich entweder in einer linguistischen Beschreibung der Sprache des Romanciers oder beschränkten sich auf die Hervorhebung einzelner Stilelemente des Romans, die in den traditionellen Kategorien der Stilistik unterzubringen (oder scheinbar unterzubringen) waren. In dem einen wie in dem anderen Fall entzieht sich dem Gelehrten das stilistische Ganze des Romans und des Romanwortes« (ebd.).

Tatsächlich aber ließe sich das Romanwort nicht im Rahmen gängiger Beschreibungsmuster wiedergeben, denn ehe ein Instrumentarium anerkannt worden sei, habe die Zeit ihm die Aktualität geraubt. Die Konzeption eines »poetischen Wortes« orientiere sich im Prozess ihrer historischen Entwicklung an bestimmten historischen Tendenzen des »ideologischen Lebens« (162f.) oder der »Weltanschauung« (164). Sie bleibe aber dennoch nicht mehr als ein Projekt, das der Realität der tatsächlichen »Redevielfalt« gegenüberstehe. Die Einheitssprache bringe die Kräfte einer Vereinheitlichung des ideologischen Wortes zum Ausdruck, die »in einem untrennbaren Zusammenhang mit den Prozessen der sozialpolitischen und kulturellen Zentralisation stehen« (ebd.). Nun bewege jede Äußerung zwischen der zentripetalen Kraft der »Einheitssprache« einerseits und der sozialen Redevielfalt andererseits (166). In diesem Pendelschwung ist auch der Ausdruck als Akt der Weltenbenennung zu suchen. Die elastischen, nur schwer zu überwindenden Sphären der anderen fremden Wörter verweben die Beziehung zwischen Wort und Gegenstand sowie der sprechenden Person, oder mit anderen Worten: »Jede Äußerung findet seinen Gegenstand bereits besprochen« (169). Für den Prosaschriftsteller sei der Gegenstand nun nicht mehr die Sprache, sondern die Konzentration von in der Sprache differenzierten Stimmen (171), die er für seine Arbeit nicht nur schöpferisch nutzbar machen möchte, sondern auch versucht, den Modus der eigenen Sprache zu wechseln in eine fremde Sprache, beispielsweise der unilateralistischen Sprache des Erzählers, des Repräsentanten einer bestimmten sozioideologischen Gruppe. Nicht selten, so Bachtin, misst der Autor eines Romans gar die eigene Welt mit fremden sprachlichen Maßstäben (180): »In den meisten (…) poetischen Gattungen wird die innere Dialogizität des Wortes nicht künstlerisch genutzt, sie findet in das ‚ästhetische Objekt’ des Werkes keinen Eingang, wird im poetischen Wort unter gewissen Bedingungen gelöscht. Im Roman dagegen ist die innere Dialogizität ein wesentliches Moment des Prosastils und wird hier einer künstlerischen Bearbeitung unterworfen.« (177) Wenn das Fremde wie ein Oberton im eigenen Wort des Romans mitschwingt, sind die schwerwiegenden Konsequenzen für das Interpretieren sowie für die Produktion von Texten nicht außer Acht zu lassen, denn das zu verstehende Fremde ist nun nicht das Jen-

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seitige, von sämtlicher Bedeutungsinvestition diesseits freizusprechen und arbiträr, sondern relational anzusiedeln zwischen der »Innen- und Außenpolitik« des Romanstils (176). Die Sprache des Künstlers sei aber auch nicht einheitlich referenziell, sondern weise Bezüge auf zu konkreten Sprachwelten: »Eine Stilistik, die dieser Besonderheit der Romangattung adäquat ist, kann nur eine soziologische Stilistik sein. Die innere soziale Dialogizität des Romanwortes macht es erforderlich, den konkreten sozialen Kontext des Wortes aufzuschließen, der seine gesamte stilistische Struktur, seine ‚Form’ und seinen ‚Inhalt’ nicht etwa äußerlich, sondern von innen her bestimmt; dieser soziale Dialog erklingt ja im Wort selbst, in allen seinen Momenten, in den ‚inhaltlichen’ ebenso wie in den ‚formalen’.« (Bachtin 1979a, S. 191) Die soziale Dialogizität – Bachtin nennt sie an anderer Stelle auch »hybride Konstruktion« (Bachtin 1979a: 195) – ist von eminenter Bedeutung, unterteilt sie doch die Vielstimmigkeit innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes oder Wortes, bei gleichzeitigem ‚In-Bezug-Setzen‘ zu seiner sozialen Kontextualisierung. ‚Hybridisierung‘ definiert Bachtin als die »Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung […] geschiedener sprachlicher Bewusstseine in der Arena dieser Äußerung« (244). Der sprechende Mensch des Romans sei im Wesentlichen ein »gesellschaftlicher Mensch, ein historisch konkreter und bestimmter Mensch, und sein Wort ist eine soziale Sprache« (ebd. 221).

9.4 Z WISCHENFAZIT Die Einzelanalysen auf allen drei Sinnebenen haben gezeigt, dass mehrsprachige Identitäten im Kontext von Machtausübung, Repräsentation und Exotisierung eine politische Dimension erhalten. Wer für wen sprechen darf, ist hierbei eng verknüpft mit der Frage, wer über wen bestimmen darf. Die in den literarischen Texten dargestellten Figuren sind entweder nicht in der Lage oder müssen sich das Recht zu sprechen erkämpfen. Bereits das Wort ‚ich‘ mit seinen lexikalischen Ausdrucksmöglichkeiten in der japanischen Sprache legt dem sprechenden Subjekt eine neue soziale Rolle mit veränderten körperlichen Fähigkeiten an. Den künstlerischen Mehrwert von Mehrsprachigkeit begründet die Autorin auf der intentionalen Ebene mit der sprachlichen Varianz alternierender Sehgewohnheiten. Die Verfremdung des alltäglichen Sprachgebrauchs ist hierbei als ein künstlerisches Verfahren sprachlicher Normabweichung zu verstehen.

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9.5 E KUSOFONĪ | E XOPHONIE – K ULTUR ALS Ü BERSETZUNG Konzepte in den literarischen Werken Tawadas werden einerseits in Form ihrer Abwesenheit und somit als Machtgefälle und Konflikt verhandelt sowie andererseits als Utopie interner Mehrsprachigkeit, einer im Text orchestrierten Redevielfalt. Im folgenden Themendiskurs geht es nun um die Frage, wie das literarisch geformte Wissen zu Mehrsprachigkeit in andere Wissenskulturen transportiert wird und welche Konzepte von Übersetzung zugrunde gelegt werden. Gegenstand der Untersuchung sind auf der objektiven Ebene die 2012 veröffentlichte Essaysammlung Ekusofonī. Bogo no soto e deru tabi (2012) und die 2002 erschienenen Überseezungen (2002c). Es werden ferner vorgestellt das in japanischer Sprache erschienene Tagebuch Kotoba to aruku nikki (2013) sowie der 2009 veröffentlichte Roman Schwager in Bordeaux (2008). Übersetzen bedeute für die Autorin weniger das Übertragen von Bedeutung, sondern vielmehr das »Weiterdenken eines Originals« (Eshel 2009:00:35: 20)42, wobei die Gedanken Walter Benjamins besonders einflussreich gewesen seien, allen voran die 1923 geschriebenen Aufgaben des Übersetzers43, die auch Gegenstand der weltanschaulichen Kontextualisierung auf der dokumentarischen darstellen. Dem geht zuvor eine wissenschaftsreflexive Betrachtung auf die Frage zur Übersetzbarkeit von Kulturen. 9.5.1 Objektiver Sinn 9.5.1.1 Überseezungen Der Titel des Werkes Überseezungen (2002c) versteht sich als eine Zusammensetzung der Wörter ‚Übersee‘ und ‚Zungen‘, die nun entweder Übersetzungen aus Übersee nahelegen oder Zungen im Sinne von Sprachen, wie in den romanischen Sprachen die Wörter ‚langue‘ oder ‚lingua‘. Es ist aber nicht nur das semantische Spiel zwischen der Mobilität des Übersetzens in Kombination mit der gleich lautenden Transferleistung zwischen zweier Sprachen, womit das Wandern zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ auch auf der sprachlichen Ebene Ausdruck findet und durch den Verweis auf die Zungen

42 Eshel, Amir (2009): A Conversation with Yoko Tawada. Stanford University DLCL. Online verfügbar unter http://www.chamisso.daf.uni-muenchen.de/mediathek/yoko-tawada/yoko-tawada-stanford/index.html, zuletzt geprüft am 02.03.2016. 43 Benjamin, Walter (1911): Die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Gesammelte Schriften.Frankfurt a.M. S.206-224.

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auch noch eine körperliche Dimension hinzugewinnt. Die phonetische Verfremdung durch das Einschieben des zweiten Buchstaben »e« behält darüber hinaus die Spannung aufrecht mit dem deutschen, dem Muttersprachler bekannten Wort des ‚Übersetzens‘. Somit lässt sich die zu untersuchende Ausgangsthese formulieren, dass die literarische Übersetzung im Werk Tawadas auf einer sprachlichen, körperlichen sowie kulturreflektierenden Ebene vollzogen wird. Man schreibt in der Sprache, die implizit von der eigenen Muttersprache aus beobachtet wird wie etwa in der Erzählung Wörter, die in der Asche schlafen (Tawada 2002c: 18-31). Hier wird die Ich-Erzählerin Opfer einer Spuckattacke und versucht die Tat mit einem angemessenen Schimpfwort zu quittieren, jedoch fällt ihr keines ein, das der aggressiven Tat eine noch aggressivere Reaktion im Kleide des Wortes gegeben hätte (vgl. 22). So existierten zwar im Deutschen Schimpfwörter wie ‚Ziege‘ oder ‚dumme Kuh‘, jedoch fehle der Ich-Erzählerin bei der Aussage das negativ-beleidigende Moment, da sie für Weidetiere grundsätzlich ein starkes Gefühl der Sympathie hege (24). »Ein Schimpfwort musste vor allem direkt aus dem Bauch kommen. Dafür war es zunächst einmal notwendig, es in diesem Bauch zu haben. Wenn jemand, der immer Rindfleisch isst, das Wort ‚Kuh’ ausspricht, kommt das Wort aus seinem Magen. Ich esse zu selten Rindfleisch, um das Wort Kuh mit meinem Gefühl verbinden zu können. Da ich außerdem kaum Schweinefleisch esse, kann ich auch nicht ‚Schweinerei‘ sagen. […] Weil man in Japan lange Zeit kein Fleisch aß, gibt es dort kein Schimpfwort, das mit der Viehzucht zu tun hat. Stattdessen gibt es Schimpfwörter, die aus dem Gemüseanbau stammen. Man kann zum Beispiel zu einem dummen Menschen ‚Aubergine!‘ sagen. Ein schlechter Schauspieler wird ‚Rettich-Schauspieler‘ genannt. Wenn man jemanden, der auf dem Dorf lebt, beschimpfen will, sagt man ‚Kartoffel‘. ‚Was der neue Lehrer so redet, ist nur eine Paprika‘, sagten wir, wenn wir den Lehrer nicht verstanden.« (25)

Dieses Beispiel verdeutlicht das Verfahren exophonen Schreibens durch die Perspektivierung und Verfremdung innerhalb der deutschen Sprache anhand der deutschen (Fremd-)Sprache. Ihre verschiedenen Dimensionen – hier die der Bedeutung – werden durch alternative, kulturell geprägte Aspekte des Sprachgebrauchs verdeutlicht, indem die Ich-Erzählerin zwischen beiden Sprachwelten hin- und über-setzt. Ein weiteres Beispiel findet sich in der ebenfalls in den Überseezungen abgedruckten Erzählung Die Ohrenzeugin (2002c: 95-115). Hierbei handelt es sich um eine Reflektion über den Wert von Sprache in Zeiten zunehmender Globalisierung anhand der Frage, inwieweit man beim Schlagwort ‚internationale Mehrsprachigkeit‘ von Vernetzung sprechen könne. Auch der Herrschaftsanspruch auf eine

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Sprache, der sich in der Nomen-Verb-Kombination »eine Sprache beherrschen« (110) äußert, wird von der Ich-Erzählerin in Frage gestellt. »Entweder man hat eine Beziehung zu ihr oder keine« (ebd.). Dass der im Titel Überseezungen artikulierte Anspruch zum einen auf das Überqueren der Ozeane hinweist, aber gleichzeitig betont, dass Sprache unmittelbar auch eine körperliche Komponente aufweist, zeigt folgendes Beispiel: »Andere sagen, nur in der Muttersprache könne man authentisch seine Gefühle ausdrücken, in einer Fremdsprache lüge man unwillkürlich. Sie fühlen sich bei ihrer Suche nach dem authentischen Gefühl gestört, wenn sie ihre Sprache auf fremden Zungen sehen. Es gibt auch Menschen, die behaupten, in einer Fremdsprache ist die Kindheit abwesend. Aber ich fand nirgendwo so viel Kindheit wie in der deutschen Sprache. Schmatzen, schnaufen, schluchzen, schlürfen: Viele deutsche Wörter klingen wie Onomatopoesie. Für die Neugeborenen klingt vielleicht jede Sprache so wie Deutsch für mich.« (ebd.)

Die Begegnung mit einer Fremdsprache nimmt ihre Körperlichkeit auch anhand der Schrift an. Ob man sie hierbei erkennt, hängt, anders als bei den Ideogrammen des Chinesischen oder Japanischen, nicht von der Bildbedeutung, sondern von Buchstabenkombinationen ab. Das im Erfassen von Buchstaben untrainierte Auge der Deutsch Lernenden findet in der Erzählung Musik der Buchstaben (2002c: 3235) Ausdruck in der folgenden Feststellung: »Eine Sprache, die man nicht gelernt hat, ist eine durchsichtige Wand. Man kann bis in die Ferne hindurchschauen, weil einem keine Bedeutung im Weg steht. Jedes Wort ist unendlich offen, es kann alles bedeuten.« Nachdem die Ich-Erzählerin einen aus Frankreich zugestellten Brief geöffnet hat (32), fällt ihr auf, dass sie nicht ein Wort versteht. Auch wenn sie nie Französisch lernte, sollte es doch möglich sein, ein oder zwei Wörter zu verstehen, was aufgrund der Schriftverwandtschaft des Chinesischen und Japanischen möglich ist. Obgleich sie sofort den Buchstaben »d« erkennt, kann sie die Bedeutung des Wortes nicht verstehen, obgleich er genau die Hälfte des Wortes abbildet. Buchstaben »sind Reisende, sie werden unterwegs immer wieder anders verstanden, je nachdem, in welcher Sprache sie übernachten. Ihre Körper bleiben aber dieselben, nämlich ein ‚d‘, ein Halbkreis mit einer erhobenen Hand, und ein ‚u‘, ein leeres Gefäß« (33). In der Erzählung Eine Scheibengeschichte (115-117) befindet sich die Ich-Erzählerin auf einem Flug in die USA und wird, unter starken Rückenschmerzen leidend, von ihrem Gastgeber mit der Bemerkung empfangen, dass die »disks« in der Wirbelsäule ihre Schmerzen verursachten. In den Disketten der Wirbelsäule seien alle Körperhaltungen gespeichert, die man im Leben eingenommen hat, auch die schmerzhaften. Somit nimmt aus der Perspektive der Ich-Erzählerin auch der

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Name »Toronto« neue Konturen an und verwandelt sich zur Stadt mit den »drei Scheiben« (117): »Ich kam in Toronto an und sprach genussvoll den Ortsnamen aus: Toronto. Wie außergewöhnlich, dass in einem Ortsnamen dreimal der Laut O vorkam! Ich war schon von solchen Ortsnamen begeistert, in denen der Laut O nur zweimal vorkommt. Aber dreimal war noch besser. Genau gesagt war es nicht der Laut O, sondern der Buchstabe O, der mich faszinierte. O war eine ovale Scheibe.« (115)

9.5.1.2 Ekusofonī. Bogo no soto e deru tabi Die Texte aus Ekusofonī liegen bisher nur auf Japanisch vor; es sind kurze Skizzen, die sich in 20 Stadtporträts auf außerhalb Japans liegende Orte wie Dakar, Berlin, Los Angeles, Paris oder Kapstadt beziehen (3-153). Es folgt darauf ein zweites großes Teilkapitel doitsugo no bōken (161-205). Hier werden in 10 Unterkapiteln die Besonderheiten und nicht zu übersetzenden Facetten der deutschen Sprache vorgestellt, wobei die Autorin eindeutig ein Konzept entfaltet, nach dem die Sprache die Unübersetzbarkeit und somit auch Quelle für die Einzigartigkeit von Sprachkulturen sei. Eine Besonderheit liegt hierbei sicher im Verfahren, die deutsche Sprache aus dem Blickfeld der japanischen Muttersprache zu beschreiben. Somit baut die Autorin eine Distanz zum Gegenstand auf, die gleichzeitig unterwandert oder in Frage gestellt wird, da die Autorin selbst in Deutschland wohnhaft ist und seit langer Zeit auf Deutsch veröffentlicht übersetzt. So ist dann auch der Titel der Essaysammlung Exophonie zu verstehen (vgl. Ivanović 2010: 172): Der Terminus stammt ursprünglich aus der Ortsnamenskunde, wo er fremdsprachige Ortsbezeichnungen klassifiziert (z.B. »Munich« für »München«). Als kulturwissenschaftliche Beschreibungskategorie erscheint er dann in den neunziger Jahren zunächst in der Diskussion um die Sprachproblematik anglo- oder frankophoner afrikanischer Autoren, wo sie auch erstmals 2002 in einer vom Goethe Institut organisierten Veranstaltung als Beschreibungskategorie stark gemacht wurde. Mit dem Begriff wird ausgedrückt, dass der Autor, indem er eine andere Sprache adaptiert, zugleich die Distanz zu der Literaturgemeinschaft, innerhalb derer er sich mit ihr bewegt, zum Ausdruck zu bringen versucht. Exophone Texte seien durch »Sekundarität im Verhältnis zwischen Sprache und Sprecher« (ebd.) bestimmt, was in der Schreibweise »selbst bewusst« gemacht gemacht werde; sie artikulierten ein anderes Sprechen, und zwar – in Analogie zum Konzept der Mehrstimmigkeit (Polyphonie) nach Bachtin – »das Heraustreten der Stimme (phonê) aus der Schrift«. Ulfried Reichart (2010: 165)44 sieht in 44 Reichardt, Ulfried (2010): Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin: Akad.-Verl. (Akademie-Studienbücher - Kulturwissenschaften).

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der Kategorie ‚Exopohonie‘ »eine formale Möglichkeit«, indem die monokulturelle Sichtweise durch das Schreiben in einer Fremdsprache aufgebrochen wird. In ihren Betrachtungen auf die deutsche Sprache nimmt das Wort »Raum« (Tawada 2012: 162) einen wichtigen Platz zur Beschreibung des Deutschen ein. Die Besonderheit im deutschen Wort »Raum« liege in der geistesgeschichtlichen Tradition, die dieses Wort als Gefäß in sich trage – als abstrakter Begriff umfasst der Raum sowohl die Kategorien Zeit als auch Dichte –, gleichzeitig aber mit dem Ort des »profan Alltäglichen« in Verbindung gebracht werden könne, was die hohe Kompositumsdichte wie »Raumpfleger«, »Abstellraum«, »Raumschiff« usw. beweise. Im Wort »Spielraum« treffen sich die Sphären des Abstrakten und Profanen besonders deutlich, da sinngemäß deutlich gemacht wird, dass »ohne Raum keine Handlung möglich ist« (164). Auch dem an verschiedenen Bedeutungsebenen nicht armen Verb »spielen« kommt hier ein neuer Aspekt der Flexibilität hinzu. Zu ihren Lieblingswörtern zähle vor allem das Wort »Zwischenraum« und bezeichne einen Platz zwischen zwei Dingen. Das Besondere daran sei nun der Aspekt, dass diese, wenn man so will, deutsche Perspektive des Wortes nicht ins Japanische übersetzt werden könne, denn im japanischen Wort »Raum« (kūkan, 空間) ist im zweiten Piktogramm »間« das »zwischen« bereits enthalten. Somit nimmt das Bild in der japanischen Sprache bereits vorweg, was in der deutschen Sprache auf der syntagmatischen Ebene erst durch Wortkomposition zu leisten ist. Darüber hinaus determiniert die Präposition »zwischen« erst ihre Basis, den »Raum«, wohingegen in der japanischen Sprache der »Raum« sich nicht durch die Leere im Inneren, sondern durch die Grenzen nach außen definiert und das Moment des »zwischen« bereits in der Semantik des »Raums« inkorporiert haben. Die interkulturellen Lesarten zwischen der deutschen und japanischen Sprache unterscheiden sich anhand dieses Beispiels vor allem durch die Schrift, aber auch durch die ikonische Referenzbildung der einzelnen Kanji, wie folgendes Beispiel zeigt. So drückt das Sprichwort »Erzähl mir keine Märchen« (171) eine ablehnende Haltung aus, wenn man sich von einem Witz oder einer Fantasiererei auf den Arm genommen fühlt. Auch im Japanischen gebe es ein Wort für die Kritik oder Geringschätzung von Aussagen oder Dingen, die man für unrealistisch hält: »esoragoto« (絵画). Dieses im Deutschen als »Schönfärberei« noch am ehesten zu übersetzende Wort bezeichne ein unangenehmes Gespräch, in dem die Kanji »Gemälde« (絵画) als eine Metapher der Lüge hervorgehoben würden. Nun ist eine Lüge als die Verzerrung oder Umdrehung von Realität und Wahrheit zu verstehen, wobei es nur dem Denkstil oder der Sprachkonvention einer Gesellschaft geschuldet sein kann, warum die bildende Kunst als Metapher der Lüge im Japanischen gebraucht wird, aber die Fotographie von dieser Konnotation unberührt bleibt. Dass Sprachkonventionen das semantische Kontextfeld jenseits der

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reinen Bedeutungslehre mit beeinflussen, zeigt auch die dritte Beschreibung zum Gebrauch deutscher Redepartikel (166ff.): »Nehmen wir folgendes Beispiel: ‚Dieser Mann beschäftigt sich ausschließlich mit deutscher Literatur.‘ Hier handelt es sich um sein Fachgebiet und da kann man nichts daran ändern. Aber beim Satz ‚Dieser Mann beschäftigt sich nur mit deutscher Literatur’ schwingt der Vorwurf mit, er müsse auch andere Sachen machen.« In einem anderen Beispiel berichtet Tawada von einem Gespräch über altjapanisches Theater in einem Stadtcafé in Graz. Im Nō- oder Kabuki-Theater rezitierten die Schauspieler ihren Text gänzlich auf Altjapanisch. Da das moderne Standardjapanisch unpassend sei, müsse man den Text entsprechend ins Altjapanische übertragen. Im entscheidenden Moment gebrauchte die Autorin das Wort »nur« und der Gesprächspartner erwiderte sofort, dass wohl »ausschließlich« passender sei. Die Autorin beschreibt in einer literarischen Collage aus persönlichen Erinnerungen die Tücken und Gefahren im Einsatz der deutschen Redepartikel, wie z.B. des Wortes »nur«. Das semantisch aufgeladene Kontextfeld führt nicht selten zu ungewollten Missverständnissen: »Ich erinnere mich noch heute ganz genau an ein Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk, nach dem ich ein junges Mädchen, das zu einem Kulturkanal passte, fragte, ob sie nur für den NDR arbeite. Sie antwortete mir mit verstimmter Miene: ‚Wieso? Das reicht doch!‘ und ich blieb verblüfft stehen. Da die deutschen Fernsehsender überall wegen finanzieller Schwierigkeiten Personalkürzungen vornahmen, wusste ich, dass auch die Zahl der frei beschäftigten Mitarbeiter zugenommen hatte, die nicht nur bei einem, sondern bei verschiedenen Sendern ihrer Arbeit nachgingen. Dies war auch der Anlass meiner Frage, aber sie fühlte sich wohl gekränkt.« (Tawada 2012: 166/Übers.d.Verf.)

Tawadas Absicht, auf eine betrieblich unbefriedigende Personalsituation hinzuweisen, entzündet zwischen beiden Gesprächspartnerinnen einen Konflikt, da sich die Journalistin durch das »nur« persönlich gekränkt und herabgesetzt fühlte.

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9.5.1.3 Kotoba to aruku nikki Eine gespiegelte Variante exophonen Schreibens nimmt das in japanischer Sprache erschienene Werk Kotoba to aruku nikki (2013) (dt., Ein mit den Wörtern spazieren gehendes Tagebuch) Die während zahlreicher Lesereisen und Auslandsaufenthalte gesammelten Eindrücke über die Mehrdeutlichkeiten und semantischen Leerstellen von Wörtern, Sätzen und kulturspezifischen Aspekten sowohl in der japanischen als auch deutschen Sprache werden von Tawada in Form eines Tagebuches dokumentiert. Dem japanischen Lesepublikum wird dabei der allzu selbstverständlich geglaubte Nutzen von Sprache vor Augen geführt und in einem Verfahren der Spiegelung mit dem Deutschen als fremde Sprache entautomatisiert. Charakteristisch für das Werk ist außerdem, dass hier nicht einseitig auf die deutschsprachige Fremde eingegangen wird, sondern aufgrund ihrer Darstellung wiederum Rückschlüsse auf die in der japanischen Sprache und Kultur verankerten ‚Eigenheiten‘ eigegangen wird. Das Tagebuch ist aber nicht als eine sprachwissenschaftliche Abhandlung zu verstehen (vgl. Tawada 2013: 12); vielmehr handelt es sich um ein sinnliches Dokument zur grenzüberschreitenden Sprachund Kulturerfahrung des Deutschen und Japanischen. In ihrem Nachwort formuliert die Autorin einen weniger sprachwissenschaftlichen als ethnographischen Anspruch des Tagebuches: »Ich fühle auch jetzt, dass die Beziehung zwischen dem Deutschen und Japanischen in mir sich von Tag zu Tag verändert, aber mir fehlt die freie Zeit, über das zu schreiben, was ich über Worte nachgedacht und gefühlt habe, was sich zwischen beiden Polen des Deutschen und Japanischen konkret ereignet hat. Ich erinnere mich, dass ich in der Grundschule während der Sommerferien ein Tagebuch führte mit dem Titel Das beobachtende Tagebuch der Trichterwinde. Hierauf Bezug nehmend beobachtete ich mich selbst […] und versuchte, eine solche Art des beobachtenden Tagebuchs zu verfassen.« (231)

Ein Beispiel findet sich gleich zu Beginn des Buches im Eintrag zum 1. Januar, wo die metaphorische Mehrdeutigkeit des Verbes ‚rutschen‘ pünktlich zum Jahreswechsel erörtert wird. »Aus meiner japanischen Wahrnehmung mag ich das Wort ‚rutschen‘ nicht. In Japan ist ‚rutschen‘ für Leute im harten Kampf um bestandene Aufnahmeprüfungen kein schlechtes Wort. Ich las später im Lexikon […] nach und fand für das Verb ‚rutschen‘ die Erklärung ‚schlüpfrige Bewegung, ohne anzuhalten’ oder ‚seinen Rang verlassen‘. Zwar habe ich keinen Rang, aber es ist ein zu schlimmes Vorzeichen, das neue Jahr rutschend zu empfangen. […] Wenn ich aber versuche, mir das Wort auf Deutsch vorzustellen, entsteht vielleicht ein positives Vorzeichen. Vor der Silvesternacht grüßt man sich in Deutschland mit ‚Guten Rutsch!‘; also, ich wünsche jemandem einen guten Rutsch ins neue

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Jahr.« (Tawada 2013: 3-4, Übers.d.Verf.). Ferner habe das Wort »Rutsch« ursprünglich die Bedeutung von »Reise« (ebd.) und sobald man das neue Jahr empfange, könnte man auch »Gute Reise!« sagen. Die Autorin befindet sich im Eintrag zum 4. Januar (10ff.) in der Schweiz und wird von Freunden eingeladen, gemeinsam an die frische Luft, nach draußen zu gehen. Die folgenden Ausführungen sind besonders unter den Aspekten von Sprache und Emotion von Interesse: Das »Draußen« repräsentiert für die japanische Autorin ebenfalls eine Sphäre des Fremden, denn in Japan höre man diese Form der Einladung weniger, bis auf die in Grundschulen von Kindern oft geäußerte Frage, ob man draußen spielen wolle. In Deutschland verhalte sich das umgekehrt. Hier will jeder gleich sofort rausgehen und in der Schweiz erzeuge der Raum des Wortes »draußen« (vgl. ebd.) ein Gefühl der Weite, das sich kreuz und quer überall ausbreite. Die Autorin stellt auf der Basis ihrer Beobachtung die Überlegung an, ob nicht in der Ermangelung an Zeit unter freiem Himmel auch ein Grund für die hohe Selbstmordrate in Japan zu suchen sei (ebd.). Mittlerweile vermittle das japanische Wort für »draußen« (jap. »soto«) ein Gefühl der »Angst«. »Von der UV-Strahlung ganz zu schweigen fliegen kreuz und quer Schadstoffe wie etwa die radioaktiven Strahlen und erschaffen einen gefährlichen Raum, den Japaner im Unbewussten spüren. Auch während meiner Kindheit in den 60er Jahren gab es in Tokio Warnungen vor dem chemischen Smog und Tage, an denen wir draußen nicht spielen konnten, aber seit dem 11 März 2011 müssen die Mütter in vielen Regionen aufgrund der Reaktorkatastrophe achtgeben, wann die Kinder draußen spielen« (10, Übers.d.Verf.).

Mit positiven Gefühlen der Freude hingegen sei das aus dem Englischen »Outdoor« entlehnte Fremdwort »Autodoa« besetzt, »jedoch haftet diesem Fremdwort der Fingerabdruck des Kommerziellen an, als ob man die Natur nicht berühren dürfe, solange man keine Ski- oder Campingausrüstung gekauft hätte« (11). Dass sich Sprache wandelt und die Bewertung dieses Wandels auch historisch bedingt ist, zeigt der Eintrag vom 21. Januar (42). Hier geht die Autorin auf das Phänomen des Kiezdeutschen ein und, unter Bezugnahme auf die Arbeiten Heike Wiesers45, auf die Frage, ob es sich hierbei um eine Verrohung der deutschen Sprache handele oder um einen ganz normalen Prozess des Sprachwandels. Dieser Übersetzung kulturspezifischer Diskurse über Sprache gesellt sich dann der Eintrag zum 24. März (188) hinzu, in dem die Autorin feststellt, dass die japanische Sprache im mündlichen Ausdruck die satzstrukturierenden Redepartikel für Satzthema und Objekt oftmals weglässt. 45 Wiese, Heike (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. Originalausg. München: Beck (6034).

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9.5.1.4 Schwager in Bordeaux Der Roman Schwager in Bordeaux (2008) setzt sich aus den einzelnen, von der japanischen Erzählerin Yuna aufgeschriebenen Fragmenten ihres Notizbuches zusammen, in dem sie die tagtäglichen Ereignisse festhält. Die Geschichte handelt von Yunas Reise von Hamburg nach Bordeaux. Sie will Französisch lernen, ein Vorhaben, das schon mehrfach misslang. Als sie in Hamburg die Romanistin Renée kennenlernt, erhält Yuna die Gelegenheit, in Bordeaux zu wohnen, bei Renées Schwager Maurice. In akustischen Übersetzungen ist nicht der Sinn, sondern der Klang ausschlaggebend für den Sprachübergang; Klangformen werden in der Zielsprache umsemantisiert. So erzählt Yuna Renée etwas über japanische Familienbeziehungen mit der Wirkung, dass sich in Renées Gesicht »Schatten« (151) zeigen. Eine ebenso wichtige Rolle spielt im Roman die visuelle Übersetzung. So hat die Hauptfigur Yuna die Gewohnheit entwickelt, Ideogramme in ihr Schreibheft zu malen (26), womit eine diegetische Brücke gebaut ist zwischen der erzählenden und erzählten Welt. Der gesamte Roman besteht aus 275 Textsequenzen, denen jeweils ein japanisches Ideogramm vorangestellt ist. Bei dieser Aneinanderreihung von Texten handelt es sich nicht um eine historisch lineare Narration, vielmehrspringt die erzählte Zeit zwischen Ort und Zeit. Dass die Bedeutung der Ideogramme hierbei den meisten Lesenden fremd bleibt, ist wohl ein intentionaler Aspekt in der formalen Komposition des Romans, denn ein Hinweis findet sich in einem Gespräch zwischen Yuna und einer Freundin über die klangliche und visuelle Übersetzbarkeit. Dem Text ist das Ideogramm 韓 (»Kan«) vorangestellt, das als Kompositum mit dem Ideogramm 国 (»koku«) »Kankoku« (dt., Südkorea) bedeutet. »Yuna sah früher oft Containerschiffe mit chinesischen Namen, die in der Art einer Pinselschrift auf der Seite geschrieben waren. Wie lange musste ein Pinsel des industriellen Kalligraphie-Meisters gewesen sein, um den Namen so groß schreiben zu können? Fünf Meter lang oder sogar noch länger? Irgendwann entdeckte Yuna immer mehr koreanische Firmennamen auf den Schiffen. Drei Sterne, die Gegenwart. Die Namen der koreanischen Unternehmer waren weder in der koreanischen Schrift noch in Ideogrammen, sondern in der lateinischen Schrift geschrieben, aber in Yunas Kopf verwandelten sie sich automatisch in die Ideogramme zurück, und Yuna sprach nicht die Namen, sondern die Bedeutung auf Deutsch aus. – Da fährt wieder die Gegenwart vorbei, sagte Yuna, während Nancy verwundert aufs Schiff starrte. Wie? Die Gegenwart?« Wo steht es? – Da! – Hyundai? Hast du mir nicht gestern gesagt, dass der Name drei Sterne bedeutet? – Nein, das wäre Samsung. – Rede bitte nicht von etwas, das ich nicht sehe. – Ich weiß ja nicht, was die anderen Menschen sehen.« (117f.)

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Nicht zwingend jedoch bildet das Ideogramm eine thematische Ouvertüre auf den folgenden Textabschnitt. Manche Ideogramme bilden die Ähnlichkeit zum Text auch über den ikonischen Bildsinn, wie etwa das Ideogramm für »Tor« 門, dem folgende Textpassage (80) nachgeht: »Wie der vergessene Hut eines Riesen stand ein Tor isoliert in einer Lücke zwischen zwei Häuserreihen. […] Yuna blickte noch einmal auf das Schriftzeichen. […] Dabei fiel ihr das Bild jenes fiktiven Tors ein, das auf einem der Euroscheine abgebildet war.« 9.5.2 Intentionaler Sinn Oftmals ertappt sich Tawada selbst bei der Schwierigkeit, sich in einen deutschen Text hineinzuversetzen, ihn aus dem Inneren heraus zu verstehen. Das Problem ist mit dem Alphabet verbunden, insbesondere mit der phonetischen Schwierigkeit, die Wortlaute in Wortsinn umzusetzen (vgl. Tawada 1998: 25). Um diesen Prozess zu trainieren, wäre eine Übung im »Sprachrhythmus« (ebd.) empfehlenswert; so hört die Schriftstellerin gerne Lesungen im Radio, in denen die Radiostimme die Funktion eines über den Text hinwegfahrenden »Fahrzeugs« übernimmt. Die Bild-Schrift-Relation war auf der objektiven Sinnebene in den Analysen zu Schwager in Bordeaux von entscheidender Wichtigkeit, welche die Autorin in ihrer Poetikvoreslung nun weiter ausführt: »Irgendwann bemerkte ich […], dass sich Leser der phonetischen Schrift in einem Museum ganz anders verhalten als ich. Auch Gemälde nehmen sie scheinbar wie eine phonetische Schrift wahr. Das heißt, sie betrachten die Gemälde nicht stumm, sondern übersetzen sie eilig in die gesprochene Sprache. Sie fragen sich ständig: Was sehe ich im Bild? Was ist dort abgebildet? Was ist das Konzept des Künstlers? Die Bilder verwandeln sich in Wörter und bilden Sätze. Ich dagegen stehe oft vor einem Bild und merke, wie die Sprache sich auflöst. Dabei ähnele ich einer Musikerin, die keine Klänge aus ihrem Instrument hervorbringen kann, weil sie die Musiknoten wie Kalligraphie betrachtet.« (26)

An der deutschen Sprache gefalle Tawada immer das Ineinanderfallen von Laut und Bedeutung, wie sie in einem Interview mit Prof. Amir Eshel (2009) an der Stanford University erklärt. Fasziniert sei Tawada zum Beispiel von dem Wort ‚Wasser‘, dessen Aussprache ihr jedes Mal die energetische Kraft dieses Rohstoffes vor Augen halte oder dem Wort ‚Zug‘, das in seiner Verwandtschaft mit dem Verb ‚ziehen‘ die Diskrepanz zwischen Mobilität und gleichzeitiger Passivität des modernen Menschen ausdrücke, wenn er von A nach B gezogen werde. Diesen Worten sei eine kulturspezifische Bedeutung immanent, die man nicht so einfach in eine andere Sprache übersetzen könne (ebd. 00:19:20). Deshalb sei

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es für die Schriftstellerin auch grundsätzlich fraglich, ob man das Übersetzen als Informationstransfer bezeichnen könne oder doch nicht eher als mittelndes Weiterdenken einer Idee46. Tawada verschiebt den Akt oder die Handlung des Übersetzens auf einen Prozess, der den gesamten Körper und Geist betrifft. Nicht mehr der Text oder Gegenstand, sondern der oder die Übersetzende begibt sich auf eine Reise des Über-setzens. Seine Wörter bilden Orte oder einen Transitraum, einen momentanen Zustand des Übergangs. Wenn man bei diesem Bild bleiben möchte, fällt der Sprache somit eine kulturmittelnde Brückenfunktion vor, die in einer Momentaufnahme das Ineinandergreifen zweier geistiger Welten einfängt. Eine Übersetzung im Verständnis einer reinen sprachlichen Übertragung des eigenen Werkes schließt die Autorin zumindest für sich selbst aus: »Auf Japanisch sind einundzwanzig Bücher erschienen, auf Deutsch achtzehn. Die Bücher, die ich auf Deutsch geschrieben hatte, habe ich nicht ins Japanische übersetzt außer Opium für Ovid und Schwager in Bordeaux. Meine japanischen Bücher habe ich nie ins Deutsche übersetzt. Die deutschen Leser wissen also nicht, was in meinen japanischen Büchern steht, und umgekehrt. Auf Englisch und auf Französisch liegen jeweils vier Bücher vor, sie sind aus beiden Sprachen übersetzt. In einer dritten Sprache werde ich zu einer Autorin« (Tawada 2009: 8).

Ausgehend von den Ausgangssprachen Japanisch und Deutsch besteht ihr Werk aus folgenden Konstellationen (vgl. Koiran 2011: 15): Es gibt Texte, die auf Japanisch geschrieben wurden und nur in Japan veröffentlicht worden sind, wie Die Alphabetswunde (1993) oder Exophonie (2003). Es gibt weiterhin Texte, die auf Japanisch geschrieben, ins Deutsche übersetzt und nur in Deutschland veröffentlicht wurden, wie Nur da wo du bist da ist nichts (1987) oder Das Bad (1989). Außerdem existieren Texte, die auf Japanisch geschrieben und in eine andere Sprache als Deutsch übersetzt und veröffentlicht worden sind, wie zum Beispiel ins Französische bei Train de nuit avec suspects (J 2002, F2005). Auf der anderen Seite wurden Texte auf Deutsch geschrieben und nur auf Deutsch veröffentlicht,

46 Feststeht jedoch für Tawada, dass Mehrsprachigkeit ein entscheidenders Kriterium für das literarische Schaffen darstellt: »Es muss nicht Deutsch sein. Für mich ist es aber wichtig, dass ich in der Muttersprache und gleichzeitig in einer anderen Sprache schreibe. Dadurch, dass ich in zwei Sprachen schreibe, entdecke ich ständig schwarze Löcher im Gewebe der Sprachen. Aus diesen sprachlosen Löchern entsteht Literatur.« Zitiert nach Tanigawa, Michiko (2010): Performative Über-setzungen/über-setzende Performance. Zur Topologie der Sprache von Yoko Tawada. In: Ivanović (Hg.): Yoko Tawada. S. 351-367, hier S. 351.

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wie Wo Europa anfängt (1991) oder Ein Gast (1993). Und dann gibt es noch Texte, die auf Deutsch geschrieben und ins Japanische übersetzt, sowohl in Deutschland als auch in Japan veröffentlicht worden sind, wie Das nackte Auge (2004), Opium für Ovid (D 2000, J 2001) sowie Schwager in Bordeaux (D 2008, J 2009). Die Mehrsprachigkeit und internationale Verzweigung des Gesamtwerkes stellt die Vorstellung eines einheitlichen Werkbaumes in Frage wie auch sämtliche Grenz- und Verortungsversuche, die von außen an die Schriftstellerin herangetragen werden. Bereits aus der Werkgestalt lässt sich erkennen, dass jede Frage nach einem nationalen Literaturkanon oder der Sesshaftigkeit ihrer Literatur nicht greift, da ihre Werke einem offenen Kanon mit wechselseitigen Kommunikationskanälen entsprechen. Daher sei auch das Interesse Autorin an der Beschreibung von Sprachsystemen zu erklären (Heinrich Böll Stiftung 2009: 81). »Das habe ich zum Beispiel in meinem Text Von der Muttersprache zur Sprachmutter beschrieben. In der japanischen Sprache gibt es keine grammatikalischen Geschlechter, es gibt Gruppen der Gegenstände, Menschen oder Häuser. Für jede Gruppe gibt es eine bestimmte Bezeichnung, die nach der Zahl kommt. Man kann nicht sagen: ‚zwei Häuser’, sondern ‚zwei hmhm Häuser’. Von außen gesehen scheint das überflüssig, wie etwa die Artikel im Deutschen. Aber andererseits sind das die Dinge, die gerade etwas vermitteln über die Kultur, dass die Dinge in Kategorien sortiert werden oder dass die Dinge Geschlechter haben. Das hat einen Grund, in der Geschichte, in der Mythologie.«47

9.5.3 Dokumentarischer Sinn Übersetzungen vermitteln seit jeher zwischen den Völkern. Diese Erkenntnis, die vielen bereits als Binsenweisheit daherkommen mag, hat zwar immer wieder Fragen zur Beschreibung und Methodik aufgeworfen, doch die theoretische Erfassung des Übersetzens »als eine spezifische Sprachverwendung«48 blieb bislang aus. Die zahlreichen Überlegungen zum Übersetzen diskutieren zuvörderst den grundsätzlichen Streit, ob denn nun eine abbildend-wörtliche, treue oder die sinngemäß-übertragende Übersetzung von Wert ist. 47 So antwortet die Schriftstellerin auf die Frage nach der Standortgebundenheit von Schreiben und Sprache: »Ich sehe die japanische Sprache, die historischen Probleme und die Möglichkeiten, was man aus ihnen machen kann, von außen. Dabei ist die deutsche Sprache mein Standpunkt. Von dort aus kann ich anders beobachten.« Vgl. Klook, Carsten (2008): Die Wortreisende. In: Zeit Online, 16.09.2008. Online verfügbar unter http://pdf.zeit.de/online/2008/38/yoko-tawada.pdf. 48 Stolze, Radegundis (2011): Übersetzungstheorien. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, S. 21.

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Die folgende Diskussion legt ihren Fokus auf die Frage, worin sich Anschlüsse zwischen Tawadas Ausführungen und aktuellen Forschungsansätzen der Übersetzungswissenschaften auftun. Die historische Dimension der Diskussion zwischen »treuer« und »freier« Übersetzung – hier vertreten vor allem durch Horaz (65 v. Chr.-8 n. Chr.), Martin Luther (1483-1546), Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Friedrich Schleiermacher (1768-1834) – bliebt ausgeklammert, findet sich aber in der Einführung von Stolze (2011: 13-37) und ausführlich bei Albrecht49. Die Weglassung wird vor allem mit der für die literarische Übersetzung relevanten Feststellung Joachim Renns (2002: 15)50 begründet, nach der es »schon lange kein Geheimnis mehr [ist], dass die Übersetzung in vielen Fällen vollständig und in jedem Fall teilweise eher einer kreativen Neudichtung entspricht als einer bloßen Übertragung ‚desselben‘ von einer Sprache in die andere«. Die auf der Ebene des Ausdrucks erhobene Vorstellung Tawadas einer Übersetzung als weiterzudenkendes Original soll aufgegriffen und ihr Wert als Medium des interkulturellen Dialoges im Lichte ihrer Beforschung herausgearbeitet werden. 9.5.3.1 Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Übersetzungswissenschaft Hierbei kristallisiert sich folgende Frage heraus: Ist es überhaupt möglich, die fremde Art des Meinens in seiner reinen Fremdheit in eine Zielsprache und -kultur zu übertragen, sie dem ungewohnten Auge zu präsentierten, ohne sie einem voreiligen Akt der Akkulturation zu unterwerfen? In der Tat würde dann Übersetzen mehr und mehr aus dem linguistisch textlichen Paradigma herausgelöst und als eine unverzichtbare Sprachmittlungsfunktion in einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeiten und Vernetzungen erkannt; denn wenn die übersetzte Fremdheit im Auge des Betrachters neue Sprachsehgewohnheiten erlaubt, ist Übersetzung auch als Mittlerin interkultureller Kommunikationsräume zu verstehen. Dies unterstreicht die zunehmende Wichtigkeit der Übersetzung als wissenschaftliches Paradigma zur Analyse der Kontakt- und Transferprozesse, die u.a. auch zur Diskussion führte, ob Übersetzungen nicht gar als eigenständige literarische Gattung anzusehen sind51. 49 Albrecht, Jörn (1998): Literarische Übersetzung. Geschichte – Theorie – kulturelle Wirkung. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. S. 23-154. 50 Renn, Joachim (2002): Einleitung: Übersetzen, Verstehen, Erklären. Soziales und sozialwissenschaftliches Übersetzen zwischen Erkennen und Anerkennen. In: Joachim Renn, Jürgen Straub und Shimada Shingo (Hg.): Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration. Frankfurt/Main: Campus-Verl., S. 13-38. 51 Lamping, Dieter (1988): Ist die literarische Übersetzung eine Gattung? In: arcadia. International Journal for Literary Studies 23, 3, S. 225-230.

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Nun gibt es in der Figuration von Grenzen alternative Beschreibungsweisen, welche der Übersetzungswissenschaftlicher Anthony Pym (2001)52 darstellt. So könnte man sich die vertikale Linie auch als einen Punkt vorstellen, der sich als Text auf einer Grenzlinie bewegt, welche horizontal verläuft. Die Grenze verläuft hingegen vertikal. Dort, wo sich Linie und Punkt treffen, entsteht Übersetzung (vgl. 453). Eine weitere Alternative wäre es, sich den Punkt – bleiben wir bei dem der Französischen Revolution – nur auf einer horizontalen Linie ohne vertikale vorzustellen. Auf dieser wandert der Text weg von der höchsten Form der Verständlichkeit hin zu den Ausläufern verklausulierter Zeit und Raumperipherien. Das Moment der Übersetzung wird dann verstanden als eine Unterbrechung, welche auf den sukzessiven Abbau von Bedeutung antwortet und eine Verständlichkeit im ausreichenden Maße wiederherstellt. Anthony Pym sieht die Vorstellung einer bereits vor der Übersetzung existierenden Grenze nicht gegeben. Die Grenze ist nicht Teil in der Geometrie der Übersetzung, sie ist ihr Ergebnis. Mit Blick auf die Emotionsforschung unterstreicht Gesine Lenore Schiewer (2014: 185)53 die Wichtigkeit der Komponenten »Emotion« und »Konflikt« aus der Perspektive des Übersetzens und macht sich für ein »Bewusstsein für die soziologischen Implikationen der Translation« stark. Ein Beispiel dafür findet sich bei Tanigawa (2010: 352) mit ihrer Beobachtung einer »Übersetzungsperformance« Tawadas in Deutschland. Diese werde, anders als in Japan, durch das Fortbestehen einer »Hörkultur« gefördert, seien es die hohe Nachfrage an Hörspielen und insbesondere Lesungen. Der Forderung nach einer interdisziplinären Kontextualisierung von einem Begriff zum Paradigma der ‚Übersetzung‘ folgt Renn (2012: 16) und hebt ihren pragmatischen Wert hervor: »Es setzt sich die sprachpragmatische Auffassung durch, dass sprachliche Bedeutung keine rein semantische Angelegenheit ist, die Bedeutung von Sätzen sich nicht in den Wahrheitsbedingungen von deskriptiven Aussagen erschöpft, sondern stattdessen vom holistischen Hintergrund der kulturellen Gewissheiten einer Sprachgemeinschaft abhängen. Das Verständnis sprachlicher Handlungen ist auf die Vertrautheit mit Konventionen und praktischen Routinen angewiesen. In der Theorie und Analyse der ‚konventionalen Implikaturen’ geht es deshalb um die indirekt mitgeteilte und verständliche Bedeutung von Äußerungen, die sich von der Bedeutung, die den in einem Satz verbundenen Ausdrücken inhärent ist, unterscheidet, durch dieses wörtlich Gesagte aber ‚impliziert‘ wird. […] [Diese Interferenzen] 52 Pym, Anthony (2001): Alternatives to Borders in Translation Theory. Online verfügbar unter http://usuaris.tinet.cat/apym/on-line/intercultures/alternatives.pdf, zuletzt geprüft am 16.06.2015. 53 Schiewer, Gesine (2014): Studienbuch Emotionsforschung. Theorie, Anwendungsfelder, Perspektiven. Darmstadt: WBG. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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sind vom Einzelkontext und den besonderen etablierten sprachlichen Praktiken einer Sprachgemeinschaft abhängig.«

Doris Bachmann Medick sieht in der Übersetzung auch einen neuen Grundbegriff der »Sozial- und Kulturwissenschaften« (2009: 238) und konstatiert innerhalb der Kulturwissenschaften einen Boom der Translation als diskursive Methode und kulturhistoriographische Praxis. Anschluss an den noch zu diskutierenden Überlegungen Walter Benjamins finden sich im dem Ansatz, dass Übersetzung a) von dem textzentrierten, philologischen Zugriff losgelöst wird und b) – zu einem erweiterten, kulturwissenschaftlichen Paradigma erhoben – als Über-setzung von Kultur verstanden werden kann: »Die vertrauten textzentrierten Kategorien literarischer Übersetzung wie Original, Äquivalenz, ‚Treue’ sind dabei zunehmend ergänzt oder gar ersetzt worden durch neue Leitkategorien kultureller Übersetzung wie kulturelle Repräsentation und Transformation, Fremdheit und Alterität, Deplatzierung, kulturelle Differenzen und Macht. Mit Hilfe dieser Kategorien löst sich die kulturwissenschaftliche Erweiterung der Übersetzungsforschung vom philologischen Vorzeichen der traditionellen Übersetzungswissenschaft. Sie bringt ein Übersetzungsverständnis zur Geltung, das den Blick erweitert auf umfassendere KulturÜbersetzung, ohne jedoch die Text-, Sprach- und Repräsentationsdimension auszublenden« (239f.).

Es ist dies auch ein wichtiges Moment für das fächerübergreifende Interesse an Tawadas Arbeiten mit Blick auf das übersetzende Potenzial54. Ein zweites, stark politisches Moment in der Herausbildung eines Translational Turns sei die Einsicht in der Übersetzung als Organon des interkulturellen Dialoges, gerade dank ihrer wechselseitigen Kommunikationsmöglichkeiten in der Erschließung von fremden Anredeformen, Zusammenhängen, Konventionen und Denkmustern. Somit beuge sie einem Rückfall in eurozentristische Deutungsweisen vor (vgl. ebd.

54 »Das Leben und Schreiben in zwei unterschiedlichen Kulturen und Sprachen hat Tawadas Blick für die Unterschiede geschärft, aber fast noch wichtiger ist ihre Sensibilität für den inneren Zusammenhang zwischen einer Sprache und einem Schriftsystem einerseits und einer kulturellen Ordnung mit bestimmten Verhaltensweisen, Normen, Gesten, Bedeutungen etc. andererseits. Das führt bei ihr zu interessanten und überraschenden Sprachreflexionen und zu einer Art kindlichem Staunen, das die fremden Erscheinungen nicht nach bestimmten Mustern erklären will, sondern sie als Material für phantasievolle Assoziationen benutzt.« vgl. Mae, Michiko (2010): Tawada Yokos Literatur, S. 368-383, hier S. 369.

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241). Deren Universalansprüche würden jedenfalls besonders von außerhalb Europas immer vehementer in Frage gestellt, spätestens mit dem Verdacht, dass Übersetzung auch immer eine Repräsentationsform asymmetrischer Machtkonstellationen war und bleibt. »Während im europäischen humanwissenschaftlichen Kontext«, so Shimada55(1997: 261), »von der Übersetzung im Sinne von Aneignung der fremden Wirklichkeit die Rede ist, wird in den außereuropäischen Kulturen die Übersetzung als ein grundlegender Veränderungsprozess des Eigenen aufgefasst«. Dreh- und Angelpunkt in der Diskussion um einen erweiterten Übersetzungsbegriff sind die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen den europäischen und außereuropäischen Bezugskulturen sowie die damit eng verbundene Frage um den Wert und Einflussbereich der Repräsentation von Kulturen: »Das Problem der Repräsentation kommt einerseits als Problem der Darstellung ins Spiel, ausgehend von Texten wie Reisebeschreibungen, Romanen, Erzählungen, Lyriksammlungen usw., dann aber auch als zusätzliche Brechungen als Problem der Weiterübersetzung in andere Sprachen. Andererseits wird die Frage der Repräsentation aus dem Blickwinkel der ethnographischen Reflexion des Übersetzungsproblems behandelt – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund konkreter Feldforschungserfahrungen […] Nicht nur das Übersetzte, sondern auch das Übersetzen selbst ist in einen konkreten Handlungsrahmen eingebunden.« (Bachmann-Medick 1997: 4)

Die Verlagerung des Forschungsinteresses auf die Verschiedenartigkeit der Repräsentationsweisen sowie auf ihre unterschiedlichen Verwendungskontexte verlangte eine Rückführung der Übersetzung auf kulturspezifische Differenzen. Bereits unter der Definition von »Repräsentation« sieht Wagner (2008: 618) den Begriff, »als einen Prozess der Sinnkonstituierung, in dessen Verlauf die Komponenten Referenz und Performanz insofern eine eminente Rolle spielen, als sie Ambiguität und Neues schaffen«. Bereits in der Begriffsdefinition bleibt die Leerstelle, die Abweichung oder die Differenz ein entscheidendes Kriterium in der Konturierung des Verhältnispaares ‚Original‘ und ‚Übersetzung‘. Entscheidend für die Translationsforschung sei nach Bachmann-Medick (1997: 4) dabei nicht nur, dass in den gegenwärtigen Debatten die Frage der Repräsentation über die Ebene wissenschaftlicher Inhalte hinaus verstärkt als ein Kernproblem wissenschaftlichen Darstellens in den Blick gerückt wird. Virulenter sei das »politisch-pragmatische Vorzeichen einer neuen Kritik der Repräsentation« (ebd.), die problemorientierte 55 Shimada, Shingo (1997): Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen. Das Beispiel des Minakata-Schlegel-Übersetzungsdisput 1897. In: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: Schmidt (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung), S. 260-275.

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Betrachtung der Repräsentation in einer von Dominanz- und Machtverhältnissen bestimmten sozialen wie interkulturellen Übersetzungspraxis. »Übersetzung«, so Bachmann-Medick (1997: 2), »heißt nicht zuletzt im Gefolge der kolonialen Verstrickungen der Ethnologie: für andere sprechen und damit Herrschaft ausüben. Dem entspricht im epistemologischen Zusammenhang der Dichotomisierung von Eigenem und Fremdem«. Da auch jede Textübersetzung als Form der Repräsentation fremder Kulturen aufzufassen ist und somit ihre »philologischen Unschuld« (ebd.) verloren ging, sei eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Übersetzungsforschung unvermeidlich. Dass die machtpolitische Asymmetrie der Übersetzungskulturen von öffentlichkeitsformender Relevanz werden kann, zeigt Asad (1993: 323)56 auf anhand des arabischen Sprachenraums auf: »Man nehme als Beispiel das moderne Arabisch. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gibt es eine wachsende Sammlung von Texten, die aus europäischen Sprachen – besonders Französisch und Englisch – ins Arabische übersetzt wurden. […] Das Resultat ist, dass das Arabische seit dem 19. Jahrhundert einen Wandlungsprozess durchzumachen begann (lexikalisch, grammatikalisch, semantisch), der bedeutend radikaler ist als irgendetwas, was man in europäischen Sprachen festgestellt hat – eine Transformation, die das Arabische den europäischen Sprachen weitaus näher gerückt hat, als es in der Vergangenheit der Fall war«.

Shimada (1997: 272) nennt drei Aspekte der Kulturrepräsentation durch Übersetzung. Sie bedeute 1.) die Gleichsetzung eines fremden Begriffs mit einem der eigenen Sprache, wobei angenommen wird, dass dadurch die Bedeutungsebene unberührt bliebe. Nach diesem Konzept bedeutete »Tisch« auf Englisch »table«, eine Wirklichkeit, auf die gezeigt werden kann. Durch die Übersetzung werde 2.) ein neuer Begriff mit der Intention geschöpft, die Referenz des Zeichens, die in der aufnehmenden Kultur noch nicht einmal als Idee existierte, durch die Übernahme des Zeichens aus einer anderen Sprache hervortreten zu lassen. Mit der Übersetzung als einer Wortneuschöpfung werde 3.) zugleich ihre Referenz eingeführt. Beispielhaft sind dafür institutionelle Einrichtungen, die es zuvor in der Zielkultur nicht gegeben hat. Besonders Punkt 2.) scheint als Aspekt der Kulturrepräsentation von Fremdheit bei Tawada aufschlussreich, denn es sind die dialogischen Kommunikationsräume der Übersetzung, die das bisher noch unbekannte der Rezeption zugänglich machen. Besonders die auf der objektiven Sinnebene vorge-

56 Asad, Talal (1993): Übersetzen zwischen den Kulturen. Ein Konzept der britischen Sozialanthropologie. In: Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1051), S. 300-334.

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stellten Abhandlungen über das japanische Raumverständnis (Kūkan) in Abgrenzung zum deutschen (vgl. S.118) führen exemplarisch vor, wie Sprachsehgewohnheiten immer auch Einblicke in Aspekte kultureller Differenzen erlauben. Die bild-sprachliche Metaphorik der Bilder ist ein Indiz ihrer langen kulturgeschichtlichen Bindung, die – aus Gründen mangelnder Objektivität oft bestritten – letztendlich aber immer eine unumgängliche Grundlage interkultureller Fremdheitserfahrungen bleibt. 9.5.3.2 Walter Benjamins Aufgabe des Übersetzers Die Schrift Die Aufgabe des Übersetzers von Walter Benjamin57 ist 1923 entstanden und im Oktober 1923 als Aufsatz in dem Band Charles Baudelaire. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers veröffentlicht worden58. Die Diskussion um die Richtigkeit einer Übersetzung – sei es die sinngemäße, wortgenaue oder inhaltsorientierte Übertragung – ist auch Gegenstand bei Benjamin und bewegt sich zwischen den sprachphilosophisch opponierenden Ansätzen der Treue und Freiheit; »Freiheit der sinngemäßen Wiedergabe und in ihrem Dienst Treue gegen das Wort« (17). Beide Pole seien aber auch »althergebrachte Begriffe«, die sich nur um die möglichst Sinnwiedergabe eines Textes sorgten, jedoch die Treue in der Übersetzung es nicht vollbringe, den Sinn eines einzelnen Wortes in seiner Gänze wiederzugeben, den es im Original hat. Die Prämissen der Übersetzertätigkeit bestünden nicht in dem Vorhaben, einen fremdsprachlichen Originaltext verständlich zu machen, sondern vielmehr die innere Verwandtschaft von Sprachen zu veranschaulichen. »Übersetzung«, so Benjamin, »ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugreifen auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen« (9). Interessant an dieser Definition ist, dass Benjamin von der Übersetzung als Form spricht und Begriffe wie ‚Sinn‘ oder ‚Bedeutung‘ darin erst gar nicht vorkommen. Vielmehr ist die Form wie ein Mantel oder eine Verkleidung zu verstehen, welche die Sprache umrahmt. Es fällt außerdem auf, dass ‚Übersetzung‘ und ‚Original‘ in einem Verhältnis zueinanderstehen und im Original das Wesen der Übersetzung zu suchen ist, seine 57 Walter Benjamin (1892-1940) studierte in Freiburg, München, Berlin und Bern Philosophie und arbeitete nach seiner Promotion als Übersetzer in Berlin. Nach seiner Emigration nach Frankreich wurde er 1933 Mitglied des nach Paris verlegten Instituts für Sozialforschung. Am 27. September 1940 nahm er sich auf der Flucht vor der Gestapo in Spanien das Leben. 58 Benjamin, Walter (1972 [1923]): Die Aufgabe des Übersetzers. Charles Baudelaire, Tableux parisiens. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Tillmann Rexroth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Wissenschaft, 931-937), S. 9-21.

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‚Übersetzbarkeit‘. Dieser Begriff meint nun nicht den potenziellen Inhalt, der übersetzt werden kann, sondern übernimmt hier die Funktion eines Attributs, statt die einer Wortart. Denn nicht die Übersetzung ist wesentlich für die übersetzbaren Werke, sondern ein gewisser Aspekt innerhalb des Originals, der sich in seiner Übersetzbarkeit auszeichne (10). Wenn aber die Übersetzbarkeit zu einem wesentlichen Kriterium des Originals erhoben wird, schließt sich auch ein neues Verständnis von Original und Übersetzung an, in dem das Werk dem Original vorausgeht, ja es geradezu bedingt. Man könnte auch zugespitzt formulieren, dass es ohne das übersetzte Werk kein Original geben kann. Mit diesen Überlegungen schließt Benjamin an seine sprachphilosophischen Überlegungen seines Frühwerkes an, insbesondere an die 1916 veröffentlichte Schrift Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen59. Sprache sei demnach die Mitteilung »geistiger Inhalte« (140), wobei diese Regel als universell zu verstehen sei, denn weder in der belebten noch unbelebten Welt existiere ein Ding oder ein Lebewesen, das nicht in irgendeiner Art und Weise an der Sprache teilhätte. In der grundsätzlichsten sprachtheoretischen Fragestellung – nämlich der Unterscheidung und Beziehung zwischen der Welt der Ideen und der sprachlichen Welt – komme der Sprache eine Brückenfunktion insofern zu, als sie dasjenige mitteilt, was an der Sprache der geistigen Welt auch mitteilbar ist: »Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, dass dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. […] Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen. Die Sprache teilt also das jeweilige sprachliche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es unmittelbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mittelbar ist« (150).

Durch das Wort sei der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden, das menschliche Wort würde zum Namen der Dinge werden. Benjamin widerspricht der »bürgerlichen Ansicht« (150), dass die Beziehung zwischen Wort und Sache im Grunde arbiträr und nur durch irgendwelche Konventionen zustande käme. Im Irrtum würde aber auch die »mystische Sprachtheorie« (ebd.) liegen, nach der das Wort schlechthin das Wesen der Sache sei. Sachen tragen keine Worte in sich, sondern würden erkannt durch das Menschenwort. »Diese Erkenntnis der Sache

59 Benjamin, Walter (1982 [1916]): Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Walter Benjamin und Rolf Tiedemann (Hg.): Gesammelte Schriften, II.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 140-157.

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ist aber nicht spontane Schöpfung, sie geschieht nicht aus der Sprache absolut uneingeschränkt und unendlich wie diese; sondern es beruht der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie ihm sich mitteilt« (ebd.). Benjamin entwirft in diesem entscheidenden Zitat eine Art Kommunikationsmodell für das Übersetzen von Idee und Erkenntnis mittels Sprache oder genauer gesagt, des »Namens«. Der Akt der Benennung aber wiederum erfolgt über die Art und Weise, wie sich der Gegenstand dem Menschen mitteilt. Es ist ein Zwischenraum, entfaltet zwischen der Welt der geistigen Inhalte und jener der Sprache. Hier nun ist auf die ‚Übersetzbarkeit‘ als Wesen der Übersetzung zurückzuführen, als einen Raum, der nicht nur Ideen ganz oder teilweise abbildet, sondern einen Bezugspunkt zum Original eröffnet, einen Raum, durch den sich das Original auch innerhalb anderer Epochen oder Kultursphären mitteilen kann60. Dass somit der Übersetzung eine exponiertere Stellung als die der bloßen Mitteilung zukommt, ist evident: »Es ist notwendig, den Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen, denn er ist viel zu weittragend und gewaltig, um in irgendeiner Hinsicht nachträglich, wie bisweilen gemeint wird, abgehandelt werden zu können. […] Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist nicht nur Übersetzung des Stummen in das Lauthafte, sie ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen. Das ist also die Übersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkommenere, sie kann nicht anders, als etwas dazu tun, nämlich die Erkenntnis« (151).

Benjamin spannt einen Bogen zur Bibel, in der die Sprache des Paradieses vollkommen erkennend gewesen sei. Dies konnte nicht einmal der Baum der Erkenntnis in Abrede stellen. Auch wenn seine Äpfel Erkenntnis zum Guten und Bösen verleihen konnten, so war diese Fähigkeit doch obsolet geworden, denn Gott selbst habe am siebenten Tag der Schöpfung erkannt, dass alles gut war. Insofern entpuppte sich die Fähigkeit einer Erkenntnis um Gut als Böse als nichtig, da sie nicht der geistigen reinen Idee, sondern einem Abbild dieser entstammte. Es soll nun weniger die Notwendigkeit einer religiösen Analogiebildung zum Wert der Übersetzung konstruiert werden, als vielmehr auf die für das Verständnis so wichtige 60 Vgl. auch Mae (2010: 370) in ihrer Charakterisierung zu Tawadas Übersetzungsarbeit: »[Entscheidend ist], dass die Erfahrung des kulturell Fremden und die literarischen Verfremdungsstrategien in Tawadas Texten eine Distanz und Freiheit schaffen, die bewirken, dass kulturelle Ordnungen außer Kraft gesetzt werden können. Und dann tritt nicht nur das Neue und Außergewöhnliche hervor – wie es für Tawadas Literatur charakteristisch ist –, sondern die Fremdheit und Alterität wird als Teil eines Ganzen gesehen, das sich in permanenter Veränderung befindet und das Leben selbst wird als Transformationsprozess verstanden.«

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Aussage verwiesen werden, dass Übersetzung die geistigen Gegenstände benennt, so wie sie sich ihr mitteilen. Durch die Übersetzung wird deshalb weder eine Hierarchie zwischen Ausgangs- und Zielkultur geschaffen noch ein opponierendes Verhältnis – wie man es so oft in Übersetzerdiskussionen mitbekommt – zwischen der Treue und Freiheit einer Übersetzung. Tatsächlich aber verschieben sich Aspekte der Subjekt-Objekt-Relation insofern, als der Agens der Übersetzung nun nicht mehr beim Mittler, sondern im eigentlich passiven Vermittelnden liegt. Beide Sphären der geistigen und sprachlichen Welt bedingen sich gegenseitig. Die Übersetzung überträgt oder befruchtet vielmehr durch die Schaffung eines neuen Namens die Welt des Symbolisierenden, in der das Symbolisierte Ausdruck findet. Für diesen Ansatz einer progressiven, Sinn erweiternden Funktion von Übersetzung findet sich außerdem im Werk Benjamins ein wichtiger Bezugspunkt in seiner Dissertationsschrift Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik61, insbesondere in den Ausführungen zur Reflexion und Selbsterkenntnis (vgl. 14-48), welche die für die Frühromantiker so »eigentümliche Unendlichkeit« (17) von Erkenntnisprozessen garantierten. Unter Berufung auf Johann Gottlieb Fichtes Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie (1794) 62 beginnt Benjamin seine Ausführungen zum Gegenstand der Kunstkritik mit folgendem Gedankengang (16) Die Wissenschaftslehre habe nicht nur »Gehalt«, sondern auch eine »Form« und sei immer die Wissenschaft von etwas, aber nicht dieses etwas selbst. Nun stelle die zum Bewusstsein gebrachte »Handlung der Intelligenz« den Gegenstand als reine Form dar. Unter Reflexion wird hier das »umformende – und nichts als umformende – Reflektieren auf eine Form verstanden«. Eine »Grundtatsache« dieses Prozesses sei hierbei »das im Selbstbewusstsein über sich selbst reflektierende Denken« (14), womit Benjamin auf den häufigsten Typus im Denken der Frühromantiker verweist, die selbstreferenzielle Wendung als Kunstgriff. Auch bei der Kunst handele es sich um ein Medium der Reflexion und Erkenntnis, innerhalb dessen der Kunstkritik folgende Aufgabe übertragen ist: »Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, welche dieses nicht, wie es im Sinn der romantischen Kunstkritik liegt, wesentlich alterieren könnte, sondern in der Entfaltung der Reflexion, d.h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde« (60). 61 Benjamin, Walter (1973 [1920]): Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 4. 62 Fichte, Johann Gottlieb (1794): Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar. In: Deutsches Textarchiv , zuletzt geprüft am 16.11.2014.

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Diese Entfaltung führe dann zu einem höheren Bewusstseinsgrad und könne als Prozess »prinzipiell unendlich« fortgeführt werden. Somit vermag in den Augen der Frühromantiker die Kritik, das Werk methodisch auf die »Unendlichkeit der Kunst« (62) nicht nur zu beziehen, sondern auch zu übersetzen. Der wahre Leser nimmt somit die Funktion des erweiterten Autors ein. Für die Romantiker sei nach Benjamin die Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die »Methode seiner Vollendung« (ebd.). Der kurze Exkurs in die Dissertationsschrift Benjamins hat aufgezeigt, dass Kritik nach der Vorstellung der Frühromantiker eine progressiv narrative Funktion erfüllt, die Dichtung nicht reaktiv zu kommentieren, sondern kritisch bejahend weiterzudenken; ein Ansatz der auch der Geschichtsschreibung der Kunstphilosophie einen neuen Stellenwert verleiht und diese aufwertet. Aufgabe müsse es sein, die Übersetzung »von der Absicht, etwas mitzuteilen« (1972 [1923]: 18) zu befreien, denn Mitteilung und Sinn eines Textest seien endlich. »Ist doch die Übersetzung später als das Original, und bezeichnet sie doch bei den bedeutenden Werken, die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung finden, das Stadium ihres Fortlebens« (10). Und in seinem »Fortleben« ändert sich das Original, das der Wandlung und Erneuerung des Lebendigen entspricht. Somit befinde sich eine jede Übersetzung im Dilemma, nichts zu vermitteln »als die Mitteilung« (9). Auch von Prämissen wie der Ähnlichkeit oder Genauigkeit sei abzusehen, da sich hieraus keine Kriterien zur dem finden lassen, was an einer Übersetzung wesentlich sei. Das die eigene Lebenszeit überdauernde Dichterwort ist immer dazu bestimmt, im Wachstum seiner eigenen Sprache wieder unterzugehen. Wenn sich in der Übersetzung eine Verwandtschaft der Sprachen ankündige, so geschehe es sicher nicht durch die »vage Ähnlichkeit von Nachbildung und Original« (13). Nun muss sich die Übersetzung auf Unähnlichkeiten und sich widersprechende Elemente konzentrieren. Benjamin wählt hierfür eine Methode, die den nicht mitteilbaren Raum zwischen zwei Sprachen freilegt durch die »Art des Meinens« (ebd.) und exemplifiziert wie folgt: Beide Worte »pain« und »Brot« sind dem Franzosen und Deutschen je etwas Verschiedenes und nicht vertauschbar. In der Art des Meinens schließen sich beide Wörter sogar gegenseitig aus; am Gemeinten aber kann man entnehmen, dass sie »absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten« (14). Nun sind die beiden Begriffe nicht den Verhältnispaaren ‚Ausdruck-Inhalt‘ oder ‚Bezeichnendes‘ und ‚Bezeichnetes‘ gleichzusetzen, denn nach Benjamin ergänzen sich die Arten des Meinens beider Sprachen miteinander insofern, als das jeweils Gemeinte durch die Art des Meinens erweitert wird. Und so ist das Gemeinte keineswegs als relative Selbständigkeit aufweisbar. So wie jede Sprache ist auch das Gemeinte in

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einem stetigen Wandel begriffen, aber durch diese gegenseitige Bedeutungsbefruchtung tritt automatisch eine Erstarrung hervor, dass das einst noch bekannte Wort einer Sprache durch die Ergänzung einer neuen Art des Meinens verfremdet. Erst dann ließe sich sicherstellen, dass die Fremdheit des Originals in seiner »reinen Sprache« (19) auch in der Zielsprache Gehör findet. Die »reine Sprache« ist die für Menschen verständliche, grenzüberschreitende Übersprache. Sie garantiert die Übersetzbarkeit als ein Bedürfnis aller literarischen Texte nach Ergänzungen und erfüllt eine geradezu religiöse Aufgabe, wenn Benjamin schreibt: »Jene reine Sprache, die in Fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers« (ebd.).63 Die Qualität seiner Arbeit definiere sich dabei nicht anhand der Konservierung oder Rehabilitierung des Originals, sondern anhand des Grades, nach dem »das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung« (11) erlangt.64 Wie bereits erwähnt, existiert eine Beziehung zwischen den beiden Sprachen, jedoch liegt nun der Fokus des Übersetzens nicht auf der Ebene der Mitteilung, sondern in der Freilegung seiner fremden Art des Meinens. Nach Benjamin entstehen Übersetzungen im Fortleben eines Werkes mit nachhaltigen Konsequenzen für das Übersetzerprofil. Denn er ist nicht mehr der Übersender einer sprachlichen Botschaft, sondern ein Mittler zwischen den Zeiten, Objekten und Medien oder, kurzum, Kommunikationsräumen. Man könnte auch sagen, dass alle Lesenden bereits im Akt des Lesens Übersetzer sind, da sie das Nachleben des

63 Vgl. Tawada: Ekusofonī (2012: 139): »Vielleicht suche ich eine Sprache, die von Bedeutung befreit ist. Warum ich aus der Muttersprache herausgetreten bin und immer weiter eine Welt suche, in der sich vielfältige Kulturen überschneiden, das könnte daran gelegen haben, dass ich bis an die Grenze des Zustandes gehen wollte, in dem sich die einzelnen Sprachen auflösen, von der Bedeutung befreit werden und fast verschwinden.« 64 In der Benjamin-Forschung wird diese Passage als problematischste bewertet, denn es kann einfach nicht begründet, geschweige denn empirisch belegt werden, inwieweit nun Sprache eine religöse, auf eine Utopie verweisende Form darstellt. Dennoch wurden Kriterien der praktischen Übersetzung anhand Benjamins Prämissen erarbeitet in Krapoth, Hermann (1997): Perspektivverschiebung in Walter Benjamins BaudelaireÜbersetzung. In: Willi Huntemann und Lutz Rühling (Hg.): Fremdheit als Problem und Programm. Die literarische Übersetzung zwischen Tradition und Moderne. Berlin: E. Schmidt (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung, Bd. 14), S. 269-296. Vgl. auch Keck, Thomas (1997): Der Begriff der Sprache und ihre Behandlung in Benjamins übersetzerischer Baudelaire-Rezeption. In: Huntemann; Rühling. (Hg.): Fremdheit. S. 240-268.

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Dichterischen formulieren und es somit am Leben halten, also der Akt der Übersetzung gleichzeitig Produkt und Produktion in einem umschließt.

9.6 Z WISCHENFAZIT Die auf der dokumentarischen Ebene dargestellte Konzeption einer kulturwissenschaftlichen Translationswissenschaft korrespondiert mit dem Übersetzungsverständnis Tawadas einer Sprachergänzung und Erkenntniserweiterung vermittels Übersetzung. Nicht nur im mehrsprachigen Kontext setzt dieses Potenzial neue Perspektiven für eine interkulturelle Literaturvermittlung; insbesondere das implizit fremdkulturelle Schreiben über eine Zielkultur, das ‚exophone Über-setzen‘, kommentiert auf der objektiven Sinnebene vermittels interner Mehrsprachigkeit Denkstile, Weltanschauungen und Lebenspraktiken einer fremden Gesellschaft. Somit ist die literarische ‚Über-setzung‘ Tawadas auch als ein Beitrag des interkulturellen Wissenstransfers zu verstehen.

9.7 ‚M IGRATIONSLITERATUR ‘ – I NNENANSICHTEN UND W AHRNEHMUNGEN Der 2014 erschienene Roman Etüden im Schnee schildert das Leben dreier Eisbärengenerationen, von denen der Repräsentant der letzten wohl auch der bekannteste ist: Die Geschichte des Eisbären Knut, der als Medienstar im Berliner Zoo von der ganzen Welt gefeiert und geliebt wurde, bildet die letzte der drei Teile im Roman. Zuvor wird die Geschichte seiner Großmutter und Mutter erzählt. Überraschend an diesem Roman ist gewiss die Idee, dass drei Eisbären, weit vom Nordpol entfernt, in einer für ihre Lebensgewohnheiten ungewohnten, wenn nicht sogar ungesunden Umgebung heranwachsen. Sie genießen die Erziehung durch den Menschen und partizipieren an ihrer Gesellschaft oder – für Eisbären noch gefährlicher – der des Kulturbetriebs. Gemeinsam ist ihnen ebenfalls die Karriere im Showbusiness, wobei die Großmutter schon rasch die Schattenseiten des Erfolges kennenlernt, als sie mit ihrer Autobiographie Applaussturm für meine Tränen berühmt wird. Zwischen die politischen Fronten geraten, entschließt sie sich mit ihrem Mann zur Flucht von Moskau nach Kanada, kurz darauf dann weiter in die DDR. Die Tochter Toska, eine Balletttänzerin, hätte gerne eine Rolle im Schwanensee bekommen, landet aber im Zirkus, wo sie sich einer Zwangsdressur unterziehen muss, nachdem sie vom Hochkulturtempel des Balletts verstoßen wurde und gegen Ende des zweiten Buches sogar in den Zoo gesteckt werden soll. Der

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Dritte im Bunde heißt Knut, der weder schriftstellerisches noch schauspielerisches Talent besitzt und sich in Gegenwart der Weltpresse in seinem Käfig um seine eigene Mitte dreht wie es Rilkes Panther (1902) schon hundert Jahre zuvortat. Die folgende Lektüre des Romans Etüden im Schnee verfolgt eine Lesart der kritischen, fabelhaften, aber auch elegischen Mischform aus Erzählung und Essay. Im Fokus der Überlegungen steht hierbei die Rolle des Außenseiters im transitorischen Raum des Dazwischens, wobei das kritische Moment mit Blick auf die gattungsreflexiven Fragen zur Begriffsdebatte um ‚Chamisso-‘ oder ‚Migrationsliteratur‘ zu suchen ist. Denn mit der fortschreitenden Lektüre wird auch die sukzessive Destruktion autonomer Handlungsmöglichkeiten für die drei Repräsentanten ihrer Generation deutlich; vor allem in der räumlichen Dimension, beginnend mit der grenzüberschreitenden Wanderung der Großmutter über den Zirkus bis zum Käfig: Fremde – so die Bilanz des Romans – werden in der Welt des Eigenen so lange bejubelt und toleriert, so lange sie sich in dem ihnen zugeschriebenen Raum bewegen – aber nicht darüber hinaus. Ausgehend von dieser im Roman entwickelten Perspektive um die Stellung des sowohl gesellschaftlichen als auch ästhetischen Fremden innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft soll der Blick der intentionalen Ebene auf den Selbstverortungdiskurs um die viel diskutierte Literatur von Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und -Preiträgern gelenkt werden mit der Frage, worin preisstiftende, die Produktionsseite vertretende Größen wie z.B. die Robert Bosch Stiftung oder Repräsentanten der Preisträgerinnen und Preisträger die Merkmale des Adelbertvon-Chamisso-Preises festmachen65. Ob dieser intentionale Anspruch mit Blick auf Yōko Tawada von der literarischen Öffentlichkeit – hier die Literaturkritik – geteilt und anerkannt wird, soll Gegenstand der dokumentarischen Analyse sein.

65 Diese Frage wird womöglich in der Forschung noch weite Kreise nach sich ziehen, schließlich erklärte die Robert Bosch Stiftung ihr Ziel mit dem Adelbert-von-ChamissoPreis als erreicht. Eine Fortführung der Preisvergabe von Seiten der Stiftung sei nicht mehr notwendig, da Autorinnen und Autoren mit Migrationsgeschichte im deutschen Literaturbetrieb angekommen seien. Viele dieser Autoren wollten heute nur für ihre literarische Leistung gewürdigt werden, und nicht wegen ihres biografischen Hintergrundes. Vgl. Robert Bosch Stiftung (2016): Ziel erreicht. Robert Bosch Stiftung beendet Chamisso-Preis. Stuttgart. Online verfügbar unter http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/70274.asp, zuletzt geprüft am 19.10.2016.

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9.7.1 Objektiver Sinn 9.7.1.1 Etüden im Schnee: erstes Buch Begonnen wird mit fragmentarischen Kindheitserinnerungen, welche auch deutlich die Machtdistanz zwischen Mensch und gezähmtem Tier zum Thema machen. Es wird eine »Spielstunde« (6) geschildert, in der einem Eisbären »merkwürdige Gegenstände« (ebd.) an die Füße gebunden werden, sodass er das Balancieren auf zwei Beinen erlernt. Dann ereignet sich ein Bruch in der Erzählung und die Erzählinstanz macht auf einer zweiten Metaebene kenntlich, dass die bisherigen Ausführungen zu ihrer Kindheit, Zeugnisse einer Literatur in der Literatur sind. »Schreiben«, so die Erzählerin auf der zweiten Stufe, »ist eine unheimliche Tätigkeit. Als ich auf den Satz starrte, den ich gerade niedergeschrieben hatte, wurde mir schwindelig. Wo bin ich gerade? Ich bin in meine Geschichte eingetreten und von hier verschwunden. Um hierher zurückzukommen, riss ich meinen Blick vom Manuskript, ließ ihn in Richtung Fenster treiben, bis ich endlich hierher, in die Gegenwart, zurückkam. Aber wo ist hier, und wann ist jetzt« (6-7)? Das »hierher« bezeichnet anders als die Lokaldeixis »hier« nicht nur einen Ort, sondern die Bewegung zu diesem Ort hin, also das Verhältnis zwischen der erzählten dichterischen Welt und der Welt des Erzählenden. Das Zitat räumt außerdem ein, dass die Welt des Erzählenden in Ort und Zeit nicht erkennbar ist, bis die Erzählinstanz an einem Kongress teilnimmt, den sie mit einem »Bärendurst« (7) verlies und anschließend im Hotel die Sprungfedern des Sofas unter ihrem »Bärengewicht« (ebd.) quietschten ließ. Das Schreiben erfüllt im ersten Buch die Funktion der Selbstreflexion gleichermaßen wie jene der äußeren Handlungsbeschreibung; eine erzähltheoretische Schwierigkeit, die mit einem Drahtseilakt verglichen wird: »Mein Leben ist allein dadurch anders geworden, dass ich aus mir eine Autorin gemacht hatte. Genauer gesagt machte ich nichts aus mir, sondern die Sätze, die ich geschrieben hatte, machten mich zu einer Autorin, und das war noch nicht das Ende der Geschichte: Ein Resultat, und ich wurde zu einem Ort hingeschoben, von dem ich vorher keine Ahnung hatte. Die Schriftstellerei war eine Akrobatik, die gefährlicher war als der Tanz auf einem dahinrollenden Ball. Es war zwar eine Knochenarbeit, auf einem Ball zu tanzen, und in der Tat hatte ich mir während der Probe die Knochen gebrochen, aber am Ende hatte ich doch mein Ziel erreicht. Ich war am Ende sicher, dass ich auf einem rollenden Gegenstand balancieren konnte, und etwas Ähnliches konnte ich nicht von der Schriftstellerei behaupten. Wohin rollt der Ball des Schreibens? Er durfte nicht geradeaus rollen, sonst würde ich von der Bühne fallen. Mein Ball sollte sich um seine eigene Achse drehen und gleichzeitig um den Mittelpunkt der Bühne. Wie die Erdkugel um die Sonne« (40).

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Die Großmutter hatte eine aufregende Karriere als Zirkusbär hinter sich gelassen, um sich nun als politische Aktivistin und Schriftstellerin zu betätigen. Als Leuchtstern der Zirkuswelt verliebte sich die Großmutter in die lateinamerikanische Art des Tanzens so sehr, dass sie sich beide Knie kaputttanzte. »Ich war unbrauchbar für den Zirkus. Normalerweise hätte man mich erschossen, aber zum Glück versetzte man mich als Bürokrat in die Verwaltung« (20). Besonders deutlich wird hier das fremdbestimmte Dasein der prominenten Eisbärin, welche immer wieder in die Erinnerung an ihre Kindheit zurückgerissen wird (18) und schwermütig zum Alkohol greifen will. Die Zurichtung war im Zirkus ein fester Bestandteil ihres Lebens und die Eisbärin folgte diesem Weg zwischen Zuckerbrot und Peitsche: »Eines Tages erschien Iwan auf einem seltsamen Fahrzeug. Er fuhr einige Male im Kreis, stieg aus und drückte das Ding, das er ‚Dreirad’ nannte, zwischen meine Beine. Ich biss in den Griff des neuen Fahrzeugs, dessen Materie noch härter war als ein Stück graues Brot, das Iwan mir manchmal zuwarf. Ich setzte mich auf den Fußboden und untersuchte das Dreirad. Iwan ließ mich eine Weile spielen, dann steckte er das Rad wieder zwischen meine Beine. Dieses Mal blieb ich auf dem Sattel sitzen und bekam ein Stück Würfelzucker als Belohnung. Am nächsten Tag setzte Iwan meine Füße auf die Tretkurbel. Ich trat, wie er mir mit seinen Händen zeigte, und das Fahrzeug rollte ein bisschen nach vorne. Anschließend bekam ich ein Stück Würfelzucker. (…) Mit meinem Dreirad habe ich aber eine abscheuliche Erfahrung gemacht. An einem Morgen stank Iwan, es war eine ekelerregende Mischung aus Parfüm und Wodka. Ich fühlte mich betrogen und zertreten, warf das Dreirad gegen Iwan, der ihm geschickt auswich und mich anschrie, während sich seine Arme wie verselbstständigte Räder in der Luft drehten. Dieses Mal gab es keinen Zucker, sondern eine Peitsche. Es dauerte noch lange, bis ich endlich verstand, dass es drei Kategorien von Tätigkeiten gab. Durch die Tätigkeiten, die zur ersten Kategorie gehörten, bekam ich Zucker. Die zweite Kategorie brachte mir nichts: weder Zucker noch Peitschenschläge. Für die Tätigkeiten aus der dritten Kategorie belohnte man mich ausführlich mit Peitschenschlägen. Ich sortierte neue Tätigkeiten in die drei Kategorien, so wie ein Postbeamter die Postsendungen« (28).

Ihre Hausmeisterin, der sie von ihren Erinnerungen erzählt, warnt sie; durch Trinken könne man nicht vergessen. Stattdessen solle die Eisbärin lieber ein Tagebuch führen, um die Erlebnisse niederzuschreiben und damit zu bewältigen. Den Unterschied zwischen Tagebuch und Autobiographie erklärt die Eisbärin wie folgt: »[I]ns Tagebuch schreibt man das Tagesgeschehen. Ich möchte etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern kann, durchs Schreiben zurückrufen« (19). Das Schreiben ist demnach nicht das Verarbeiten von Erinnerung, sondern ruft sie hervor und

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erschafft die Welt der Erinnerung. Darüber hinaus stellt sich mit dem Akt des autobiographischen Schreibens auch die Frage nach der Autonomie des schreibenden Subjekts. So vergleicht die Eisbärin das autobiographische Schreiben mit dem exhibitionistischen Akt des Sich-Veräußerns, wobei die Gefahr und Scham sich umwandeln in ein Gefühl von Stolz, Unabhängigkeit und Autonomie: »Es fühlte sich seltsam an, eine Autobiografie zu schreiben. Bis dahin hatte ich die Sprache hauptsächlich dafür verwendet, um eine Meinung nach außen zu transportieren. Jetzt blieb die Sprache bei mir und berührte weiche Stellen in mir. Es war, als würde ich etwas Verbotenes treiben. Ich schämte mich dafür, wollte nicht, dass jemand meine Lebensgeschichte liest. Aber als ich sah, wie die Buchstaben das Papier überwucherten, spürte ich den Drang, sie jemandem zu zeigen. Vielleicht war es vergleichbar mit dem Stolz eines kleinen Kindes, das sein stinkendes Produkt exhibierte. Einmal betrat ich die Wohnung der Hausmeisterin, als ihre Enkeltochter den Erwachsenen gerade ihren frisch produzierten, braunen Knödel präsentierte. Er dampfte noch. Ich war damals bestürzt, aber jetzt kann ich den Stolz des Kindes verstehen. Das Exkrement war die erste Leistung, die das Kind ohne fremde Hilfe zustande gebracht hatte, und es gab keinen Grund, ihm seinen Stolz übel zu nehmen.« (23)

Umso virulenter erscheint die Problematik der Künstlerautonomie in der Darstellung von Machtverhältnissen zwischen Verlag und Autor. Die Eisbärin macht Bekanntschaft mit einem Mann, der »Seelöwe« (24) genannt wurde und Herausgeber einer Literaturzeitschrift war. Seine anfängliche Begeisterung für das literarische Wirken und Schaffen der Eisbärin verwandelt sich rasch in ein dominantes Herrschaftsverhältnis zwischen Verleger und Autorin. Der Seelöwe verfügt über die Texte und veröffentlicht sie ohne Absprache, fügt dem Text selbstgewählte Titel hinzu und kündigt im Namen der Autorin auch Fortsetzungen an (vgl. 33). Ganz eindeutig diktiert Seelöwe der Eisbärin, was und wie zu schreiben angemessen und korrekt ist. Von Politik und Kritik sei Abstand zu nehmen, Philosophie als Thema viel zu langweilig. Dabei hat Seelöwe immer das Interesse des Publikums im Auge und weiß genau, was es lesen will: »Deine Leser wollen lieber wissen, wie du die hohe Bühnenkunst beherrscht hast, ohne das Wilde in dir zu verlieren, und wie du dich dabei gefühlt hast. Wichtig sind deine Erfahrungen, nicht deine Gedanken« (42). Eine Bühne – ganz gleich, ob im Theater, Konzert oder Zirkus – ist gekennzeichnet durch eine vierte Wand zwischen Publikum und Akteur. Selbst wenn es Versuche gibt, diese aufzuheben – man denke an das epische Theater Bertolt Brechts oder die Performance-Bewegung der 1960er Jahre –, setzen auch diese Reformbemühungen die Existenz einer vierten Wand voraus, selbst wenn sie dem

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Ziel ihrer Überwindung folgen. Nun stellt Seelöwe das natürliche Wilde in Opposition zur hohen Bühnenkunst und räumt der Autorin zugleich das Talent ein, beide Fähigkeiten in sich zu vereinigen. Somit repräsentiert die Bühne den Ort der Zivilisation oder der Kultur. Das natürlich Wilde verkümmert darin zu einer inszenierten, gebändigten Form; einem Abbild der Wildheit, nur dass wir uns bei diesem Diskurs von Tawada nicht mehr im Zirkus, sondern im Literaturbetrieb befinden, einem Ort, in dem ‚der/die/das Fremde‘ importiert, erzogen, gebändigt, gemaßregelt, bestraft und zivilisiert wird. Von der Eisbärin ist außer kurzem Protest kein Widerstand bemerkbar. Im Gegenteil: Zwar machte sie die Meinung des Seelöwen wütend, jedoch folgte sie dem Befehl und nahm Abstand vom politischen Schreiben. Der Verlust an Autonomie und Selbstbestimmtheit wird noch deutlicher, als die Eisbärin in dieselben tierisch-gebändigten Handlungsmechanismen zurückverfällt, welche ihr im Zirkus anerzogen wurden. Denn auf dem Rückweg kaufte sie sich in der staatlichen Markthalle ein Glas Honig und isst es auf einen Schlag auf. Seelöwe maßregelt die Eisbärin, ihre Erfahrungen seien wichtig, nicht ihre Gedanken. Es präsentiert sich hier die Vorstellung eines autobiographischen Schreibens als Berichtsform: Die Fremdheit als ein exotisches und kurioses Faszinosum wird wie in einem Zoo dargestellt, Konsequenzen für ein kritisches Denken über den eigenen Standort aber werden ausgeklammert. Gedanken – man könnte sie als Zukunftsperspektiven auf der Grundlage eigener Erfahrungen bezeichnen – bleiben außen vor, da sie auch die Ordnung des Normalen gefährden können. Man könnte den Verlag des Seelöwen als einen ordnenden Filter im System eines ganzen Kunstregimes verstehen, der eindeutig die Bedarfslage eines Marktes bedient und die Produkte demnach anpasst. Die Eisbärin unterwandert jedoch diese Vorstellung, indem sie selbst eine Poetik des Schreibens entwickelt, welche die Leerstellen in der Welt der Erfahrung durch poetisch überhöhte Bilder auffüllen möchte: »Eine Autobiografie zu schreiben bedeutete, alles, was man nicht mehr weiß, zu erraten oder zu erfinden. Ich dachte, ich hätte die Figur Iwan schon ausreichend beschrieben. In Wirklichkeit konnte ich mich gar nicht mehr an ihn erinnern. Oder besser: Mittlerweile konnte ich mich zu deutlich an ihn erinnern, und das kann nur daran liegen, dass dieser Iwan nichts anderes als meine Kreation ist.« (80)

Ähnlich wie die Institution des Verlages übernimmt auch die Übersetzung eine Filterfunktion, denn als Applaussturm für meine Tränen ins Deutsche übertragen werden soll, entsteht zwischen den Sprachen des Ausgangs- und Zieltextes eine

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unüberbrückbare Kluft, welche es der Autorin unmöglich macht, die im deutschsprachigen Raum geführten Literaturdebatten noch zu verstehen: »Es bedeutete ein großes Unglück für mich, dass Herr Eisberg ein begabter Übersetzer war. Er machte aus meinen Bärensätzen kunstvolle Literatur, die bald von einer renommierten Westzeitung hoch gelobt wurde. Allerdings lobte kein Literaturkritiker die poetische Qualität meiner Autobiografie. Es ging beim Lob um ganz andere Kriterien, von denen ich keine Ahnung hatte.« (45) Es wird bereits nach der Lektüre des ersten Teils deutlich, dass der Raum für Minderheiten wie Literatur schaffende Eisbären nur solange von der Mehrheit zugestanden wird, wie die Minderheit nach der Pfeife oder Peitsche der Mehrheit tanzt. Differenz soll inszeniert werden – dies ist die vornehme Aufgabe der Minderheit. Die öffentlich-rechtlichen Debatten jedoch über die Konsequenzen und Fragen nach dem gesellschaftlichen Zusammenleben führen die betrieblich legitimierten Filterinstanzen wie Verlage, Presse oder Universitäten. Wie nahe Tawada sich damit im Debattenfeld um interkulturelle Literatur bewegt, wird vor allem deutlich, als sich die Eisbärin entschließt, Deutsch zu lernen. Bei einem Buchhändler (65ff.) kauft sie sich ein Lehrwerk für angewandte Grammatik. Das Konzept des Buches war es, durch literarische Kurzgeschichten integrierte Grammatik erfahrbar zu machen; kontextbezogen und nicht losgelöst im behavioristischen ‚pattern-drill‘-Verfahren. Erzählt wird die Geschichte der Maus Josefine. Obwohl sie eine Maus ist, kann sie singen und ist somit auf jedem Konzert eine Attraktion für das Publikum. Beim zweiten Besuch, gesteht die Eisbärin dem Buchhändler, die Geschichte sei hervorragend, aber die Grammatik habe sie nicht verstanden. »Meine Antwort brachte ihn zum Lachen. ‚Die Grammatik ist überflüssig, wenn Sie die Erzählung verstanden haben.‘ Er holte mir ein neues Buch aus dem Regal. ‚Das ist ein Buch vom selben Autor. Er hat unter anderem aus der Sicht der Tiere einige Erzählungen geschrieben.‘ Als unsere Blicke aufeinandertrafen, fiel ihm scheinbar etwas ein, was ihn irritierte. Er ergänzte in aller Eile: ‚Ich meinte, dass diese Literatur als Literatur wertvoll ist, und natürlich nicht, weil sie aus der Sicht der Minderheit geschrieben wurde. Eigentlich ist die Hauptfigur nie ein Tier. Im Prozess, in dem sich ein Tier in ein Nichttier verwandelt oder ein Mensch sich in einen Nichtmenschen, geht das Gedächtnis verloren, und dieser Verlust ist die Hauptfigur.‘ Sein Vortrag war mir zu viel Salat als Beilage ohne Hauptgericht.« (65)

Zwischen der Welt der Erzählenden und der erzählten Welt existiert eine Differenz, welche hier als Verlust des Gedächtnisses den Platz der Hauptfigur einnimmt. Die Hauptfigur ist somit in der Autobiographie das Bindeglied zwischen

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der wahrhaftigen und wahrheitsfähigen Erzählung; der Erfahrung und der Idee oder dem Chamisso-Autor und dem Eisbären. 9.7.1.2 Etüden im Schnee: zweites Buch Inmitten von tosendem Beifall befindet sich die Eisbärin und Mutter von Knut, Toska im Zirkus. Das Ensemble von neun Eisbären – die Attraktion des Berliner Zoos – bewegt sich nach dem Rhythmus der Lederpeitsche einer Tierdompteurin, die zunächst als Erzählinstanz des zweiten Buches fungiert. Erfahrung hat die kleinwüchsige Frau mit Raubtieren zur Genüge und für ihr Talent wird sie vom Zirkusdirektor Herrn Pankov hochgeschätzt. Umso wichtiger war es auch, die neun Eisbären trainiert und konditioniert auf die Bühne zu bringen, denn sie waren als ein politisches Geschenk der großen Schwester Sowjetunion an die DDR (vgl. 105) überbracht worden. Dennoch überfallen Barbara immer wieder Zweifel an der Form der Inszenierung: »Ich liebe alle Säugetiere, hasste aber die weit verbreitete Zirkusnummer mit gemischten Raubtieren. Genauer gesagt verabscheute ich die Dummheit und die Eitelkeit der Menschen, die darauf stolz sind, dass sie Tiger, Löwen und Leoparden dazu zwingen können, dicht beieinander zu sitzen. Das erinnert mich an die staatliche Choreografie, die bunt gekleidete Minderheiten in einer Parade zeigt. Ihnen wird politische Autonomie zugesprochen, dafür sind sie verpflichtet, die kulturelle Vielfalt ihres Landes optisch vorzutäuschen. Anders als bei den Menschen ist bei den Raubtieren die Gruppierung nach Arten eine Lebenshilfe. Sie gehen gegenseitig auf Distanz, damit sie nicht sinnlos kämpfen und töten müssen. Die Menschen sperren die Tiere zusammen auf engstem Raum ein, damit das wie eine Buchseite eines Tierlexikons aussieht. Ich schämte mich oft, als eine Vertreterin der dummen Spezies Homo sapiens auf der Bühne zu stehen« (100).

Auch hier artikuliert sich, wie schon zuvor im ersten Buch, die Kritik an der Sprachlosigkeit der zur Schau gestellten Fremde, welche wie in einer Tourismusbroschüre nicht die Vielfalt einer Gesellschaft, sondern vielmehr die Herrschaftssphäre einer Majorität präsentiert. Der Zirkus mutiert an dieser Stelle von einem Unterhaltungsunternehmen zu einem politisch aufgeladenen Raum, zumal es weder im Interesse der Zirkusdirektion noch des Publikums lag, friedliche Tiere als Symbol einer fortschrittlichen sozialistischen Gesellschaft vorzuführen. Wildheit und Bestialität mussten unter dem Diktat der menschlichen Lederpeitsche zur Schau gestellt werden (vgl. 101). Zivilisation und Modernisierung erlauben somit dem Publikum ein romantisches, momentanes Eintauchen in die Welt der Natur und Fremde.

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Die Eisbären waren aber keine Anschauungsobjekte, sondern ausgebildete Tänzer der Kunstakademie in Leningrad mit hervorragenden Zeugnissen und an die Verhaltensformen der Menschen angepasster, als es der Zirkusdirektion lieb war: »Zu unserer Überraschung gründeten die neun Eisbären schon eine Woche nach der Ankunft eine Gewerkschaft. Sie waren mit ihren Forderungen, die sie Pankov stellten, nicht zimperlich, und als er sie ignorierte, begannen sie einen stürmischen Streik. Die Eisbären konnten politische Reden fließend auf Deutsch halten. Aus ihren Mündern hörte ich neue Fachwörter, die wahrscheinlich aus der Arbeiterbewegung kamen. An ihren Forderungen gab es nichts, wovon man sagen konnte, es sei typisch Bär. Der Überstundenzuschlag; der monatliche Urlaub für Frauen; eine Kantine, wo täglich frisches Fleisch und Seetang aus der Nordsee angeboten wird; ein Duschraum mit eiskaltem Wasser; eine Klimaanlage und eine Leihbibliothek für die Zirkusangestellten« (107).

In der Erzählung des Romans bildet dieses Ereignis eine wichtige Zäsur in der Frage um Selbstbestimmung und Autonomie des Fremden, denn innerhalb des ihm zugestandenen Raums der Manege regt sich ein Widerstand mit demokratischen Mitteln, dem Tarifrecht. Hatte Toskas Mutter auf Machtdemonstrationen noch mit beleidigt ausgestreckter Zunge reagiert, bevor sie ihren Frust im Honigkonsum ertränkte, organisiert sich die vermeintliche Minderheit und bedient sich der Waffen, welche ihre Herrscher selbst zum Zwecke der Revolution einst beanspruchten. Die Arbeiterbewegung indes war für die Mitarbeiter im DDR-Zirkus ein Novum. Sie waren es gewohnt, für ihren Direktor alles zu erarbeiten, sodass sie bereits den Inhalt ihres Arbeitsvertrages vergessen hatten (108). Mit Empörung reagierte Intendant Pankov auf den Streik, denn dies sei das Land der Arbeiter, deshalb gäbe es auch keinen Streik. Interessant ist, dass die sowjetischen Eisbären sich selbst wiederum für die Majorität halten, da ein so großes Land wie das ihre keine Kompromisse mit einem kleinen zu schließen brauche. Hier kommt nun Toska ins Spiel, welche bei Barbara während ihres Auftritts in einem Kindertheater einen nachhaltig positiven Eindruck hinterließ; sie sollte in einer Solonummer den Streik der neun kompensieren und eine russische Besucherdelegation damit zufrieden stellen. Im Zuge der Vorbereitungen entsteht zwischen Toska und Barbara ein inniges Gefühl der Verbundenheit. Die sich kreuzenden Blicke verwischen die Welten unterschiedlicher Grammatiken und lassen Mensch und Tier eine gemeinsame Sprache sprechen, jedoch ist dies eine Gabe, die nur Barbara besitzt (128). Der Zirkus selbst ist ein Ort der politischen Repräsentation und Machtdemonstration, zugleich aber auch der Destruktion von Gewohnheit, Alltag und Normierung. Nichts, was real und vernünftig erscheint, bleibt im Zirkus unberührt. Im

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Gegenteil: Das Verrückte wird in jeder Darstellung zur Prämisse der Normalität erhoben, wie in den Kindheitserinnerungen Barbaras beschrieben wird: »Der Zirkus entwickelte seine eigenen Naturgesetze: Wer beim Gehen ungeschickt wirkte, war sportlich. Wer das Publikum zum Lachen brachte, war seriös« (183). In den Traumgesprächen mit Toska erfährt Barbara, dass Toskas Mutter eine große Schriftstellerin gewesen sei und die Geschichte ihrer Tochter bereits vorgeschrieben habe. Somit nahm Barbara ihr nun das Versprechen ab, Toskas Autobiographie weiterzuschreiben, damit die Tochter nicht mehr in den vorgeschriebenen Fußstapfen ihrer Mutter zu wandern hat. Gegen Ende des zweiten Buches – der Auftritt Toskas und Barbaras steht kurz bevor – wechselt die Erzählinstanz von Barbara zu Toska (196). Das Spektakel erreichte mit dem »Todeskuss« (198) seinen Höhepunkt, als Barbara einen Würfelzucker in den Mund nahm und ihm Toska entgegenstreckte. Toska verbeugt sich, streckt die Zunge aus und nimmt den Würfelzucker in den Mund. Mit dieser Choreographie machen beide Karriere und ihr Zirkus wird weltweit bekannt, bis die Wiedervereinigung das Ende der bipolaren Blockkonfrontation einläutet und der Zirkus 1999 geschlossen wird (203). Barbara wird entlassen und Toska soll an einen Zoo verkauft werden. Barbara stirbt 2010 und Toska macht es sich nun zur Aufgabe, von ihrem Leben zu erzählen. Mit dem Todeskuss verbinden sich zwei eigentlich unüberbrückbare Sphären zwischen Mensch und Tier. Die Ebene des Traums erlaubte es Toska und Barbara, miteinander zu kommunizieren und die Choreographie des »Todeskusses« einzuüben. Toska beschreibt die menschliche Seele als »nicht so romantisch. (…) Sie bestand hauptsächlich aus Sprachen, nicht nur aus gewöhnlichen, verständlichen Sprachen, sondern aus vielen kaputten Sprachscherben, den Schatten der Sprachen und den Bildern, die nicht Wörter werden konnten« (203). Das Unvermögen des Menschen, diese Bilder zu kommunizieren, führt auch zum gewaltsamen Tode von Barbaras Ehemann Markus durch einen wild gewordenen Kodiakbären (ebd.). 9.7.1.3 Etüden im Schnee: drittes Buch An ihren Sohn Knut, den Hauptprotagonisten des dritten Buches, erinnert sich Toska mit Stolz. Auch wenn es ihr nicht leicht fiel, Knut in Pflege zu geben – auch Toska widmete sich aktiv der Schriftstellerei –, so tröstet sie sich doch mit historischen Vergleichen über die Trennung hinweg, denn auch die Brüder, die das Römische Reich gründeten, waren von der Muttermilch eines anderen Säugetiers, einer Wölfin gestillt worden (vgl. 204). Und sie behielt recht: Knut wuchs nicht nur zu einem berühmten Aktivisten heran, der sich für den globalen Umweltschutz einsetzte. Er zeigte auch, »dass wir [die Eisbären] keine Zirkusnummer mehr

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brauchten, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf uns zu ziehen, das Menschenherz zu bewegen und die Zuneigung und die Verehrung zu erwecken« (ebd.). Toska konstatiert eine Perspektivenverschiebung auf den Umgang mit der Fremde. So sei es Knut zu verdanken, dass die vom Publikum abverlangte admiratio für das Fremde nicht mehr durch eine dressierte Parade evoziert, sondern bereits im natürlichen Verhalten ganz ohne Zirkusnummer angelegt werde. Bei der Großmutter und Toska war es noch notwendig anhand von Kunstfertigkeiten wie Fahrradfahren oder dem Stehen auf einem Bein die Assimilation des Fremden in der Mehrheitsgesellschaft zu dokumentieren. Bei Knut jedoch wird das tierisch Fremde keiner assimilierenden Kosmetik unterzogen. So lacht das Publikum im Einklang (vgl. 249), wenn er in seiner tollpatschigen Art mit einer Stoffdecke kämpft und dabei bemerkt, dass er dadurch die »Menschen zusammenbringt« (ebd.). Im Konflikt steht er dabei mit seinen Ahnen, die ihm im Traum in Gestalt einer Schneekönigin begegnen. Hierbei entfaltet sich der Disput um die kathartische Wirkung von Kunst aufs Neue: »‚Du kannst gar nichts! Das bereitet mir Kopfschmerzen. Als ich so alt war wie du ...‘ Wann war es, dass jemand Knut in einem Traum diese Moralpredigt gehalten hatte? Damals konnte Knut der Predigt nicht zuhören. Er war außer sich, denn vor ihm stand eine riesige Schneekönigin. Sie war uralt, und zwar so alt, dass es nichts mehr mit dem Alter zu tun hatte. […] ‚Du weißt wirklich gar nichts! Kein Wissen, keine Fähigkeit, keine Kunst. Nicht einmal Fahrrad kannst du fahren. Dein einziger Vorteil ist, dass du süß aussiehst.‘. […] ‚Wozu soll ich Fahrrad fahren? Was ist die Kunst, die Sie meinen?‘ Die Alte antwortete ruhig: ‚Mit der Kunst meinte ich etwas, was die Zuschauer lebendig macht.‘ – ‚Aber die Leute werden sich freuen, wenn sie mich einfach so sehen. Ich muss ihnen nichts vorspielen‘ […] Knut erinnerte sich an diesen Traum, wurde noch nervöser. Er kam nicht mehr um die Tatsache herum: Das Debüt bedeutete seinen ersten Auftritt als Künstler, und er war kunstlos« (241f.).

Hier nun eröffnet sich in der Lektüre eine folgenschwere Leerstelle im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, dem oder der Fremden zur Mehrheitsgesellschaft. Es kann festgehalten werden, dass über drei Generationen hinweg die Eisbären sukzessive mehr Handlungsfreiheit erhalten, jedoch weiterhin als Derivate der ihnen zugeschriebenen Handlungsräume Gefangene ihrer eigenen Symbolfelder bleiben. Auch bei Knut, der sich nicht ohne Zufall mit dem Attribut »kunstlos« von jeglicher Verpflichtung losspricht, die Zirkustradition seiner Ahnen fortzuführen, bleibt ein sich selbst und seine soziale Umwelt vermittelndes Bindeglied, ein Repräsentant für die Relationierungs- und Kommunikationsprozesse zur Vermittlung des Fremden. Und dennoch findet eine Entwicklung statt,

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welche Knut im Verhältnis zu seiner Mutter und Großmutter eine gewisse Handlungsautonomie einräumt. Stand die Großmutter noch unter dem lektorierenden Diktat des Seelöwen und war die Mutter Toska noch ein Spielbär der Berliner Zirkusdirektion, bleibt Knut die Macht der Menschendressur erspart, ja dreht sich ins Gegenteil um, indem er lernt, den Zuschauer emotional zu kontrollieren: »Knut stellte bald fest, dass seine eigene Körperbewegung den Jubelruf der Zuschauer verursachte. Durch einige Experimente wurde ihm klar, welche Posen das Publikum besonders begeistern konnten und welche nicht. Die rohe Begeisterung der Menschen war ihm nicht angenehm. Vom dröhnenden Brüllen bekam er Ohrenschmerzen. Deshalb lernte er die Aufmerksamkeit des Publikums zu manipulieren. Er zog die Stimmung langsam in die Höhe und kurz, bevor der Höhepunkt erreicht wurde, ließ er sie fallen, sodass das Geschrei aufgeschoben wurde. Dann baute er stufenweise von unten die Stimmung auf. Der kleine Bär begann die göttliche Allmacht zu genießen.« (251)

Das Emanzipationsstreben des Eisbären Knut erreicht seinen Höhepunkt mit der Entdeckung des eigenen Ichs. In einem Gespräch macht ihn der Malaienbär darauf aufmerksam, dass Knut von sich selbst nie in der ersten Person spricht, sondern von »Knut«. Eine inkonsequente Auffassung von Weltbeziehungen, so doch auch Knuts Pfleger Matthias und Christian, sich selbst nicht beim Namen nannten. Beide sprachen nicht in der dritten Person von sich selbst, als würden die Namen nichts mit der Person zu tun haben, sondern überließen sie den anderen Menschen. Sich selbst nannten sie »Ich«. Diese Entdeckung zeigt Knut auf, dass die Grenze zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ bereits im in einem selbst angelegt ist, genauso wie die Grenze zwischen dem Einzelnen und der Sozialwelt. Jeder, der »Ich« sagt, schließt den anderen aus, jedoch gehört es zur Gemeinsamkeit aller, »Ich« zu sein. Zum einen handelt es sich für Knut um einen eindeutigen Erkenntnisgewinn, spricht er doch im weiteren Roman nur noch in der Ich-Person von sich selbst. Auf der anderen Seite werden die Grenzen des erkennenden Subjekts aufgezeigt, da das »Ich« immer wieder auf die eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen zurückverwiesen wird. Jeder selbstreflektierende, existentielle Zweifel an der Gewissheit und Natürlichkeit seiner Umwelt stößt unweigerlich auf die Tatsache, dass Knut ein süßer Eisbär inmitten eines umzäunten Zoogeheges ist und bleibt. Die Entdeckung des Individuums wird nur solange zugelassen – und somit werden Räume wie Zoo, Zirkus und Theater zur kulturhistorisch wirkmächtigen Metapher –, wie sie die strukturell vorgegebenen Erfahrungsräume der gebändigten Freiheit nicht verletzen. Knut bleibt zum Ende des Romans verunsichert über die Ungewissheit, mit der Außenstehende in einer Welt außerhalb ihrer Sinneswahrnehmung mit seiner Identität ein ökonomisches Produkt vermarkten, indem

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»Knutwaren« (288) verkauft werden. Juristische Konflikte entzünden sich, da einige Tierrechtler vehement die Meinung vertreten, Knut müsse eingeschläfert werden, da einem von Menschenhand großgezogenen Bären die Fähigkeit fehle, in einer Bärengesellschaft zurechtzukommen (303). Die Ambivalenz des Zirkus als Zur-Schau-Stellung gezähmter Fremdheit und letztendlich auch Individualität wird von Knut als ein Ort begriffen, in der das scheinbar Unnatürliche, Anormale, Fremde und nicht Akzeptierte ihr letztes Reservat gefunden haben: »Der Zirkus protestiert gegen jede Ungerechtigkeit der Natur. Der Magier lässt seine Melonen die Tauben gebären. Der Akrobat springt von einem Ast zum nächsten, obwohl er nicht als Affe geboren wurde. Der Raubtierdresseur zwingt die Tiere, die das Feuer scheuen, durch einen flammenden Ring zu springen. Und Matthias ließ aus seinen Fingern Milch fließen. Irgendwann sah ich die Aufführung eines ostasiatischen Zirkus im Fernseher. Aus den Fingerspitzen der Frauen, die als Fasane verkleidet waren, spritzte Wasser wie aus einer Fontäne. Eine glänzende Bühnenleistung« (284).

Über drei Generationen vollzieht sich im Roman die sukzessive Entfaltung eines für Eisbären natürlichen Handelns im Rahmen des ihnen vorgeschriebenen Raums. In ihrem Essay Erzähler ohne Seelen (in Talisman 2011: 16-28) geht Tawada der Frage nach, ob und anhand welcher Medien die Stimmen der Toten hörbar gemacht werden können. Innerhalb der Fremdheitstypologie handle es sich bei den Toten um »Menschen, die viel weiterreisen als die Seeleute oder viel länger an einem Ort bleiben als der älteste Ackerbauer« (23). Neben Theaterbühnen gäbe es auch das Völkerkundemuseum als Ort der Totenerzählung, in dem jede Figur ein Volk verkörpere: »Die als Puppen dargestellten Völker sind alle einmal in der Geschichte von anderen kulturell oder wirtschaftlich erobert und zum Teil vernichtet worden. Wie auch in anderen Museen wird hier ein Machtverhältnis sichtbar, dass nämlich das Dargestellte immer zugleich das Eroberte ist. In einem zoologischen Museum z.B. wird ein ausgestopfter Wolf ausgestellt, während umgekehrt kein Wolf einen Menschen ausstellen kann. In einem historischen Museum herrscht auch ein hierarchisches Verhältnis zwischen der Gegenwart und Vergangenheit.« (25)

Tritt der Fremde bedrohlich auf, wird er vernichtet, um darauf in liebevoller Kleidung als Puppe ausgestellt zu werden. So erfährt der Zuschauer einiges über dessen Riten, Lebensgewohnheiten und Sprache; jedoch wäre es nach Tawada wesentlich interessanter, nach einer umgedrehten Perspektive zu suchen, indem »unsere« Welt aus dem Blick eines fiktiven Betrachters beschrieben würde (vgl. ebd.).

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Diesen Versuch, nach dem nicht das Beschriebene, sondern der Beschreibende fiktiv ist, nennt Tawada »fiktive Ethnologie« (ebd.). 9.7.2 Intentionaler Sinn Die Robert Bosch Stiftung ehrt mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, »deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist«66. Darüber hinaus verbindet die Preisträgerinnen und Preisträger »ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache. Damit ist der Preis der einzige seiner Art in Deutschland«. Somit sind Inhalt und Alleinstellungsmerkmal dieser Literatur umrissen: Verhandelt wird in dieser Literatur die Verwebung oder das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, woraus dann auch ein Gewinn für die deutsche Sprache erwachse. Die sprachkünstlerische Gestaltung interkultureller Existenz beeinflusse maßgeblich die deutsche Öffentlichkeit, denn die Chamisso-Autorinnen und -Autoren erfüllten auch einen pädagogischen Auftrag, indem sie als Grenzgänger und Weltenwandler eine Vorbildund Vermittlerfunktion innehätten: Mit Begleitförderungen besuchen sie Schulen, geben Lesungen und Workshops, durch welche der vielstimmige Reichtum der deutschen Sprache auch jungen Menschen zugänglich wird 67. Wie der Kulturwechsel aber literarisch vollzogen oder verarbeitet wird, ist auf der Website der 66 Robert Bosch Stiftung: Über den Adelbert-von-Chamisso-Preis. http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp 19.07.2014. 67 Zur Forschungsschnittstelle Chamisso-Literatur und -Didaktik vgl.: Belgrad, Jürgen (Hg.) (1996): Literarisches Verstehen – literarisches Schreiben Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag. Retzlaff, Hartmut (Hg.) (1992): Gino Chiellino [eine Publikation des Goethe-Instituts München, Referat: Spracharbeit Kulturinstitute]. München: Iudicium-Verl (Werkheft Literatur). Cumart, Nevfel A. (1995): Vom Schreiben in der Fremde. Einblicke in die Migrantenliteratur in Deutschland. In: Diskussion Deutsch 26 (143), S. 165-176. Deutsche Lesegesellschaft e.V. (Hg.) (1986): Jugendbücher zum Thema Ausländer. Primarstufe/Sekundarstufe. Mainz: Deutsche Lesegesellschaft e.V. Horn, Dieter (1990): Ein Tag im Leben des Bekir Ucal. Zu Aras Örens Erzählung Manege. In: Lernen in Deutschland 10, 2, S. 47-51. Klatt, Ank (1991): Aras Ören. Die Fremde ist auch ein Haus. In: Lernen in Deutschland 11, 2, S. 147-154. Klettenhammer, Sieglinde (1994): Brücke zwischen den Kulturen. Migrantenliteratur als Beitrag zur Friedenserziehung. In: die 18, 1, S. 64-77. Krechel, Rüdiger; Reeg, Ulrike (Hg.) (1989): Franco Biondi [e. Publikation d. Goethe-Inst. München, Referat: Spracharbeit Kulturinstitute]. München: Iudicium-Verl (Werkheft Literatur). Luchtenberg, Sigrid: Zweisprachigkeit und interkultureller Unterricht. Mit Beispielen aus der Migrantenliteratur. In: Interkulturell 2, 2-3, S. 208-226. Meç, Ilyas

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Robert Bosch Stiftung nicht näher erklärt, was wohl auch nicht wünschenswert ist. Schließlich ergibt sich aus dieser Leerstelle das individuelle, künstlerische Potenzial der nun über 70 Preisträgerinnen und Preisträgern. Fest steht aber auch, dass sich die Preisstatuten heute dezidiert von dem alleinigen Erkennungsmerkmal eines Integrationspreises für ausländische Literatur distanzieren. Ein Blick auf die historische Profilentwicklung des Preises, vor allem in der Website-Beschreibung, gibt Aufschluss: Während heute der durch die literarische Leistung erzeugte Kulturwechsel als Kriterium interkultureller Literatur genannt wird, lag dem Literaturpreis bis 2012 noch der Leitgedanke der einseitigen Migration zugrunde: »Der Adelbert-von-Chamisso-Preis ist ein Literaturpreis, mit dem die Robert Bosch Stiftung seit 1985 deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache auszeichnet und der im deutschsprachigen Raum in seiner Ausrichtung einzigartig ist. Die ausgezeichneten Autoren haben ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe und sind durch Arbeitsmigration, Asyl, Exil oder Studium nach Deutschland gekommen. Eines aber verbindet sie: Die deutsche Sprache, in die sie eingewandert sind und die sie zu ihrer eigenen und wichtigsten Ausdrucksform gemacht haben. Dieser Wechsel in die deutsche Sprache geht dabei weit über deren Alltagsgebrauch hinaus. Er vollzieht sich in künstlerischer und literarischer Aneignung und macht das Werk der Adelbert-von-Chamisso-Preisträger zu einem selbstverständlichen Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«.68

(1995): Wider die tribalistische Einfalt. Die zweite Generation. In: Diskussion Deutsch 26, 143, S. 176-185. Rösch, Heidi (1995): Befremdendes Deutsch. In: Praxis Deutsch Heft 22, 132, S. 28-30. Dies (1997): Bilderbücher zum interkulturellen Lernen. Baltmannsweiler: Schneider. Steffen, Jeannette (1993): Eleni Torossis Geschichten. Eine Chance für interkulturelles Lernen? In: Lernen in Deutschland 13, 1, S. 30-39. Wenderott, Claus (Hg.) (1991): Ein Tintenfisch will schreiben lernen. Geschichten von Eleni Torossi im interkulturellen Kontext. Universität Essen: Arbeitsstelle Migrantenliteratur. Wenderott, Claus (Hg.) (1992): Der Orient wohnt in meinem Wort. Geschichten von Rafik Schami für deutsche und ausländische Schüler. Universität GHS: FB 3, Arbeitsstelle Migrantenliteratur. Wenderott, Claus (Hg.) (1993): Ates Ali. Der kluge Ali von Fakir Baykurt als Text und Schattenspiel für deutsche und ausländische Schüler. Universität Essen: Arbeitsstelle für Migrantenliteratur. Zielke-Nadkarni, Andrea (1992): Migrantenliteratur im Unterricht. Der Beitrag der Migrantenliteratur zum Kulturdialog zwischen deutschen und ausländischen Schülern. Hamburg: Kovac. ZielkeNadkarni, Andrea (1993): Satiren der Migrantenliteratur im Deutschunterricht. In: Der Deutschunterricht 45, 5, S. 74-88. 68 Vgl. Robert Bosch Stiftung: Über den Chamisso-Preis, 28.03.2015.

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Als Gemeinsamkeit aller Chamisso-Autorinnen und -Autoren wird die deutsche Sprache genannt, in die sie einwanderten. Die einseitige Bewegung in die deutschsprachige Gesellschaft hat den Autorinnen und Autoren also automatisch einen Platz neben oder außerhalb eingeräumt, genuin aus ihr heraus kam sie nicht. Brisanter wird dann der nächste Satz auf der Site, wo es heißt: »Die im deutschen Sprachraum tätigen Preisträger sind Beispiele dafür, wie die Kultur derjenigen, die hier eine neue oder zweite Heimat gefunden haben, mit der unseren zusammenfindet« (ebd.). Auch hier werden kulturelle oder nationale Grenzen nicht überschritten – geschweige denn aufgelöst –, sondern aufrechterhalten durch eine dichotomische Beziehung des Eigenen und Fremden. In einem Interview beschreibt die damalige Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung, Dr. Ingrid Hamm, das Profil des Adelbert-von-Chamisso-Preises wie folgt: »In erster Linie ehren wir mit dem Chamisso-Preis wichtige Beiträge zur deutschen Gegenwartsliteratur, das ist die Grundlage. Die Jury entscheidet hier wie bei anderen Literaturpreisen auch anhand inhaltlicher und künstlerischer Kriterien. Dass wir bei der Auswahl der Autoren das Augenmerk außerdem auf Gesellschaftliches richten, unterscheidet den Chamisso-Preis von anderen Auszeichnungen. Damit wollen wir zeigen, dass in unserer Einwanderungsgesellschaft Autoren mit Migrationserfahrung ein prägender und selbstverständlicher Teil der deutschen Gegenwartsliteratur sind. Eine Schutzzone schaffen wir damit keineswegs, denn die Autoren müssen sich auch als Chamisso-Preisträger auf einem sehr harten Markt behaupten. Dass übrigens viele von ihnen zuvor, aber natürlich vor allem hinterher mit weiteren, oft namhaften Literaturpreisen ausgezeichnet und einem breiteren Publikum bekannt werden, bestätigt nur die hohe literarische Qualität ihres Werkes. Die Jury des Chamisso-Preises hat den Ehrgeiz, Talente früh zu entdecken« (Schleider 2014: 6)69.

Aus diesem Zitat sticht wohl besonders prägend hervor, dass sich im Gegensatz zu anderen deutschen Literaturpreisen besonders der Adelbert-von-ChamissoPreis durch ihre enge Beziehung zu den aktuellen gesellschaftsrelevanten Debatten auszeichne. Dies sei nach Hamm das wichtigste Unterscheidungsmerkmal. Außerdem sei die Qualitätszusicherung der ‚Adelbert-von-Chamisso-Literatur‘ durch Verweis auf andere Literaturpreise gegeben, welche dieselben Autorinnen und Autoren ebenfalls ehrten, weshalb es somit doch keinen Zweifel an der ästhetischen Qualität dieser Werke geben dürfte. Das Zitat steht insofern Pate für Diskussionen um diese auf einen Literaturpreis Bezug nehmende Gattung, als ihre 69 Schleider, Tim (2014): »Der Chamisso-Preis ist aus der deutschen Literaturszene nicht mehr wegzudenken«. Interview mit Dr. Ingrid Hamm, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung. In: Chamisso-Magazin (11).

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Performanz dezidiert politisch ist, gleichzeitig aber das autonome Selbstverständnis einer Literatur jenseits von Nation und Reisepass aufrechterhalten wird. Dieser seit seiner Gründung 1985 immer wiederkehrende Pendelschwung zwischen zwei Stühlen bildet den so interessanten Grundstock zur Beforschung und Dokumentation. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis geht auf eine Initiative Harald Weinrichs zurück und feierte 1985 seine Einrichtung dank der frühen Initiative des Instituts für Deutsch als Fremdsprache der LMU, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München sowie der Robert Bosch Stiftung. Damals wurde der Preis definiert als »Auszeichnung für deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache.« Es handelte sich um ein Signal, ein klares Votum für ein weltoffenes, liberales und ausländerfreundliches Deutschland, das bereit sei, als Kulturnation mit seinen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf beiderseitiger Augenhöhe über Literatur zu debattieren und sie gemeinsam zu gestalten, wie Harald Weinrich (1986: 11)70 schrieb: »Die Schaffung des Adelbert-von-Chamisso-Preises und des mit ihm verbundenen Förderpreises für Autoren nichtdeutscher Muttersprache soll ein Zeichen dafür sein, dass uns Deutschen diese Literatur, die von außen kommt, willkommen ist und dass wir sie als Bereicherung unserer eigenen Literatur und als ein konkretes Stück Weltliteratur zu schätzen wissen. Und wenn wir auch manchmal im Zweifel sind, wie wir diese halb ausländischen, halb inländischen Autoren nennen sollen, die manchmal keinen Pass, aber eine deutsche Feder haben, so sind wir augenblicklich aller Wortverlegenheit enthoben, wenn wir sie Chamissos Enkel nennen.«

Im Wesentlichen reagiert damit der Adelbert-von-Chamisso-Preis auf eine seit den 1960er Jahren entstehende deutschsprachige Literatur von Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache, die zunächst als Gastarbeiter aus Italien, Griechenland oder der Türkei in die Bundesrepublik gekommen waren (vgl. Esselborn 1997: 47-75)71. Diese damals als »Gastarbeiterliteratur« bezeichnete Gattung erhielt ihre Stimmen durch italienische Autoren wie Carmine Chiellino und Franco Biondi. Ihre Themen waren die sprachliche und kulturelle Entwurzelung, Isolation sowie die politische und soziale Diskriminierung, die Einwanderer von

70 Weinrich, Harald (1986): Der Adelbert-von-Chamisso-Preis. In: Heinz Friedrich, Aras Ören und Rafik Schami (Hg.) (1986: 11-14). 71 Esselborn, Karl (1997): Von der Gastarbeiterliteratur zur Literatur der Interkulturalität. Zum Wandel des Blicks auf die Literatur kultureller Minderheiten in Deutschland. In: Wierlacher (Hg.): Intercultural German studies, S. 47-75.

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Teilen der deutschen Bevölkerung erfuhren. Es entstanden kulturelle Gegenüberstellungen zwischen den Deutschen und Ausländern; Fremdes und Eigenes wurde zum literarischen Motiv einer ganzen Generation und der schriftstellerische Impetus, Vorurteile abzubauen, rief auch auf Seiten der muttersprachlichen Autorinnen und Autoren Kräfte wach, über Wissensvermittlung und Information das im Westen geläufige Bild einer von Elend und Diktaturen gezeichneten Dritten Welt zu korrigieren. Im Mittelpunkt stand als literarische Figur vor allem der türkische »Gastarbeiter« als Opfer gesellschaftlicher Distanzierungsprozesse und figurierte zum Repräsentanten einer sowohl sozial als auch ökonomisch diskriminierten Gruppe von Zuwanderern, wie in Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame (1971) oder Siegfried Lenz’ Kurzgeschichte Wie bei Gogol (1973). Mit schonungsloser Deutlichkeit griff die Reportageliteratur die verheerenden Arbeitsbedingungen von Zuwanderern auf und machte das Thema kurzzeitig zu einem ‚main item‘der bundesdeutschen Diskussionslandschaft. Im Rahmen seiner Industriereportagen Neue Reportagen, Untersuchungen und Lehrbeispiele (1972) griff Günter Wallraff das Thema auf und veröffentlichte seine am eigenen Leib erprobten Erfahrungen als Gastarbeiter Ali in seinem sozialkritischen Bericht Ganz unten (1985). Der Wissensdurst auf Seiten der deutschen (muttersprachlichen) Öffentlichkeit war also durchaus gegeben und für die ästhetische Verarbeitung der Gastarbeiterthematik erhielt der aus Türkei stammende Schriftsteller Aras Ören 1985 als erster Autor den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Im Laufe der Zeit änderten sich die Preisstatuten als Reaktion auf die gesellschaftspolitischen Umbrüche, die der Fall des Eisernen Vorhangs mit sich brachte, sowie auf die damit verbundenen Migrationsbewegungen innerhalb der BRD. Inzwischen hatte sich bei vielen Autorinnen und Autoren das Deutsche zur Muttersprache bzw. die Herkunftssprache zur Fremdsprache gewandelt, was eine Erweiterung der Preisstatuten um den Hinweis auf die »Einwandererfamilie« oder den »nicht-deutschen Sprach- und Kulturraum« zur Folge hatte (vgl. Esselborn 1997: 320). Nach 25 Jahren durchlief der Preis verschiedene Stadien, die Zeugnis ablegen über die sich verändernden öffentlichen Debatten zu Deutschland als Land der Migration, Globalisierung und Transitraum verschiedener Sprachen und Kulturen. Dabei sieht sich der Preis auch immer wieder Kritik ausgesetzt: Vor allem die Frage, ob der Preis ein Türöffner für die interkulturelle Avantgarde des deutschen Literaturlebens sei oder mit seiner Etablierung eine rein bestätigende Funktion

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ausübe, ja Vertreterinnen und Vertreter mehrsprachiger Literaturen geradezu gettoisiere, bleibt Gegenstand kontroverser Diskussionen (vgl. Kegelmann 2010: 1228)72. Hierbei erklingt noch heute wie ein Echo die 1982 erhobene Frage Harald Weinrichs (Ackermann 1982: 9) im Vorwort der Anthologie Als Fremder in Deutschland, ob es eine deutsche Literatur gebe, oder »ebenso viele deutsche Literaturen […], wie man deutsche Staaten und Staaten deutscher Zunge aufzählen kann«. Dieses Zitat steht Pate für die nun langjährig – vor allem auf wissenschaftlichen Tagungen – geführte Debatte um den Ort der interkulturellen Literatur, allen voran seine Gattungsbezeichnung für diese deutschsprachige Literatur von Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Herkunft. Die Bemühungen vieler Literaturwissenschaftler, einen Gattungsnamen zu finden, mündeten je nach thematischer, biographischer, kulturwissenschaftlich oder ästhetisch ausgerichteter Schwerpunktsetzung in zahlreiche Titel wie ‚Gastarbeiter-‘, ‚Ausländer-‘, ‚Minderheiten-‘, ‚Migranten-‘ und ‚Migrationsliteratur‘ sowie ‚inter-‘, oder gar ‚transkultureller Literatur‘, von denen sich bisher auch keiner wirklich durchsetzen konnte (vgl. Blioumi 2000)73. Gewiss schlägt hier nicht zuletzt das Problem zutage, mit monokulturellen Kategorien eine Begriffsdebatte zu führen, welche der heterogenen Vielfalt dieser Literaturen nicht gerecht wird. Mit dieser Einsicht und dem Unbehagen schlossen sich die prominentesten Vertreter – darunter Rafik Schami, Franco Biondi, Suleman Taufiq Jusuf Naoum und Yüksel Pazarkaya – in den 80er Jahren zusammen und meldeten sich im Ringen um eine angemessene Gattungsdebatte zu Wort (vgl. Seibert 1984; Teraoka 1989). In Frankfurt wurde schon 1980 der Polynationale Literatur- und Kunstverein gegründet und ganz bewusst verstand man sich als eine Literatur der Opposition, die sich mit dem Titel »Gastarbeiterliteratur« ihres zeitlich limitierten Daseinsrechts durchaus bewusst war, aber mit dem literarischen Text den Status des Geduldet-Werdens unterwanderte und ein dauerhaftes Erbe in der bundesdeutschen Gesellschaft hinterließ74.

72 Kegelmann, René (2010): Türöffner oder Etikettierung? Der Adelbert-von-ChamissoPreis und dessen Wirkung in der Öffentlichkeit. In: Sylvie Grimm-Hamen u.a.: Die Kunst geht auch nach Brot! Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur. Berlin: Frank &Timme (Literaturwissenschaft (Frank &Timme), Bd. 17), S. 12-28. 73 Blioumi, Aglaia (2000): ‚Migrationsliteratur‘, ‚interkulturelle Literatur‘ und ‚Generationen von Schriftstellern‘. Ein Problemaufriss über umstrittene Begriffe. In: Weimarer Beiträge, 4, S. 595-601. 74 Eine kritische Auseinandersetzung zur Gattung der Gastarbeiterliteratur findet sich in Ackermann, Irmgard (1983): Gastarbeiterliteratur als Herausforderung. In: Frankfurter Hefte, 1, S. 56-64. Dies. (1984): Integrationsvorstellungen und Integrationsdarstellun-

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Die Begriffsdiskussion findet kein Ende. Aus Anlass der 25. Chamisso-Preisverleihung versammelten sich vom 25. bis 27. November 2009 Vertreterinnen und Vertreter des Literaturbetriebes sowie der Wissenschaft im Literaturarchiv Marbach und gingen der Frage nach, ob die Aufspaltung in eine fremde, interkulturelle Literatur und eine deutsche Muttersprachenliteratur überhaupt noch haltbar sei. Hierbei tat sich der 1965 in Sofia geborene, und in Deutschland sowie in Kenia aufgewachsene Schriftsteller Ilija Trojanow hervor, der mit den akademischen Begriffsdebatten um die richtige Gattungsbezeichnung so gar nicht warm werden gen in der Ausländerliteratur. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 56, S. 23-59. Amodeo, Immacolata (1985/86): La ‚Gastarbeiterliteratur‘ cometipo di ‚Minderheitenliteratur‘. La letteratura dell’ emigrazionenella Repubblica Federale Tedesca. In: Studi Linguistico-Letterari XXIII, S. 6-34. Amodeo, Immacolata (1988): Gastarbeiterliteratur – Literatur einer Minderheit. In: Buch und Bibliothek, 5, S. 468476. Hamm, Horst (1988): Fremdgegangen, freigeschrieben. Eine Einführung in die deutschsprachige Gastarbeiterliteratur: Königshausen & Neumann. Kreuzer, Helmut (Hg.) (1984): Gastarbeiterliteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 56, 14). Lindhorst, Monika (1988): Literatur der Gespaltenheit – Gastarbeiterliteratur. Zum Kulturschock als Auslöser einer literarischen Gattung. In: Rolf Ehnert und Norbert Hopster (Hg.): Die emigrierte Kultur. Bd. 1. Wie lernen wir von der neuen Ausländerkultur in der Bundesrepublik Deutschland? Ein Lese- und Arbeitsbuch. Frankfurt a.M.: Lang (Werkstattreihe Deutsch als Fremdsprache, 23), S. 115-128. Luchtenberg, Sigrid (1997): Zum Thema Sprache in der deutschsprachigen Migrantenliteratur. In: Materialien Deutsch als Fremdsprache (Regensburg), 46, S. 367-373. Reeg, Ulrike (1988): Schreiben in der Fremde. Literatur nationaler Minderheiten in d. Bundesrepublik Deutschland. Zugl.: Freiburg i.Br., Univ., Diss., 1987. Schenk, Klaus (2007): Autofiktionale Aspekte in der gegenwärtigen Migrationsliteratur. In: Jean-Marie Valentin und Pesnel, Stéphane et. al. (Hg.): ‚Germanistik im Konflikt der Kulturen‘, Band VI: Migrations-, Emigrations- und Remigrationskulturen; Multikulturalität in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Bern, Switzerland: Peter Lang (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A: Kongressberichte (JIGA), 82), S. 355-362. Schierloh, Heimke (1984): Das alles für ein Stück Brot. Migrantenliteratur als Objektivierung des ‚Gastarbeiterdaseins‘; mit einer Textsammlung. Frankfurt a.M.: Lang (Sprache in der Gesellschaft, 4). Seibert, Peter (1984): Zur ‚Rettung der Zungen‘. Ausländer-Literatur in ihren konzeptionellen Ansätzen. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 56, S. 40-61. Ders. (1985): ‚Gastarbeiterliteratur‘ – und was darunter verstanden wird. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache, 3, S. 198-207. Tonfeld, Michael (1983): Sehnsucht im Koffer? ‚Gast‘arbeiterschriftsteller berichten Sprachlos, 9, S. 94-97. Weinrich, Harald (1983): Um eine deutsche Literatur von außen bittend. In: Merkur, 8, S. 911-920.

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konnte. Ihm sei schon immer klar gewesen, dass er auf allen Bühnen der Welt arbeiten und sprechen könne, nicht nur »im Migrantenstadl« (Hillgruber 01.12.)75 und die Literaturkritikerin Lerke von Saalfeld schließt sich dieser Kritik im Chamisso Magazin 2 (2009: 26-27) an76. In einem Beitrag der Zeit (20. Februar 2014)77 geht der Literaturkritiker Maxim Biller mit den Statuten der Preisvergabe hart ins Gericht. Eine Vorbildfunktion würden die Chamisso-Autorinnen und -Autoren nur in ihrer »Anpassung« und »Selbstverleugnung« erfüllen, während jeder Rapper die Realität von NichtDeutschen authentischer und ergreifender darstellte als die »Jungen und Mädchen der Chamisso-Besserungsanstalt«. Inhalts- und Themenlosigkeit wird hier in einem polemischen Rundumschlag der Adelbert-von-Chamisso-Literatur unterstellt. Die Chamisso-Autorinnen und -Autoren sollten sich nun mit vereinter Stimme gegen den vom Konsens einer Einheitsgesellschaft vorgegebenen Duktus wehren und sich zum »Chor der vielen nicht-deutschen Schriftsteller« vereinigen. Also zurück in das Schubladendenken von gestern? Dies erwiderte kein Geringerer als der Präsident des Goethe-Institutes, Klaus Dieter Lehmann, der in einem weiteren Beitrag in der Zeit (27.02.2014)78 auf Billers Attacke reagierte und das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Schriftstellers betonte, die eigene Migrationsgeschichte in eigener Regie zu thematisieren »oder eben auch nicht«.

75 Hillgruber, Katrin (2009): Raus aus dem Migrantenstadl. In: Der Tagesspiegel 2009, 01.12, S. 21. 76 »[Die Chamisso-Autorinnen und -Autoren] fühlten sich in einer wohl geordneten Schublade verstaut, die ihrem Anspruch und ihrer Wirkung nicht genügte, sondern eher wie ein Makel in ihr Werk eingebrannt war. Sie sind eben doch die Anderen, die Fremden, kommen von außen und nicht von innen. Sie sind nicht mehr Gastarbeiter, das hat sich historisch überholt; jetzt hat sich der Sprachgebrauch scheinbar verfeinert – auch in einem Teil der literarischen Öffentlichkeit. Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprache mutieren in jüngster Zeit zu Menschen mit »Migrationshintergrund«, so als ob sie gerade den Sprachtest erfolgreich bestanden hätten.« Saalfeld, Lerke von (2009): Schluss mit dem Schubladen-Denken. Eine Unmutsäußerung. In: Chamisso-Magazin, 2, S. 26-27. 77 Biller, Maxim (2014): Letzte Ausfahrt Uckermark. Zeit. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2014/09/deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller, zuletzt geprüft am 19.07.2014, 17.30 Uhr. 78 Lehmann, Klaus-Dieter (2014): Bitte keine Vorschriften und Etiketten! Maxim Biller treibt einen Keil zwischen Migranten und Deutsche. Zeit. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2014/10/chamisso-preis, zuletzt geprüft am 19.07.2014.

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Der Adelbert-von-Chamisso-Preis bleibt im Spiegel der Öffentlichkeit und des literarischen Lebens ein kontrovers diskutiertes Thema. Im Mittelpunkt stehen dabei neben dem Werk auch die Autorin und der Autor; oder besser gesagt das Konzept, das er oder sie entwerfen und vermitteln. Das literaturschaffende Subjekt hat in den wissenschaftlichen Analysen einen neuen Stellewert erhalten, den man durchaus mit einer plakativen Etikette wie der Renaissance des Autors79 charakterisieren darf, wobei hier nicht mehr von einem autonomen Subjektzentrum ausgegangen wird, sondern die soziale Praxis, die Bedeutungskonstitution vom Konzept des Autors in Gesellschaften sowie seine Geschichtlichkeit im Vordergrund stehen80. Darüber hinaus haben Fragen der Vermittlung, der öffentlichen Inszenierung des Autors von der klassischen Dichterlesung bis zur Homepage im Internet zunehmend an Relevanz gewonnen81: Die Biographie der Chamisso-Autorinnen und -Autoren, ihre Herkunft und nationale Identität ist mit dem literarischen Schaffen auf das Engste verknüpft, womit der Adelbert-von-Chamisso-Preis auch auf das Selbstverständnis der deutschen Öffentlichkeit und ihrer internationalen Position antwortet, wie die Journalistin Elisabeth Endres (1998: 20)82 in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung zur Preisverleihung 1998 vermutet: »Warum kommen im Allgemeinen die sehr fremden Ausländer mit der deutschen Sprache so viel schwerer zurecht als ihre Glaubensgenossen in England oder Frankreich. Man muss nicht die Grammatik befragen, sondern die Mentalität. Bei unseren Nachbarn gibt es ebenfalls Rassenunruhen. Aber hierzulande hegt selbst der mehr oder minder liberale Durchschnittsbürger die Vorstellung, dass Fremde, wenn auch auf deutschem Boden geboren, Fremde sind und bleiben. Man ist nett zu ihnen, aber man weiß, sie haben ein anderes Blut. 79 Zur Debatte um Autor und Autorenschaftskonzepte: Jannidis, Fotis; Winko, Simone; Lauer, Gerhard; Martinez, Matias (Hg.) (2008): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung Eines Umstrittenen Begriffs. Berlin: De Gruyter (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, v.71); Detering, Heinrich (Hg.) (2002): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart: Metzler (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 24). 80 Das interdisziplinäre DFG-Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« besteht seit dem 1. Oktober 2010 an der Universität Oldenburg. Vgl.: http://www.uni-oldenburg.de/graduiertenkolleg-selbst-bildungen/, zuletzt geprüft am 19.08.2014. 81 Künzel, Christine; Schönert, Jörg (Hg.) (2007): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg: Königshausen & Neumann; Grimm, Gunter; Schärf, Christian (Hg.) (2008): Schriftsteller Inszenierungen. Bielefeld: Aisthesis. 82 Endres, Elisabeth (1998): Die Dichtung der Migranten. Zur Verleihung des Adelbertvon-Chamisso-Preises. In: Süddeutsche Zeitung, 16.02.1998 (Feuilleton), S. 20.

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Und diese Tatsache, macht allen Einwänden zum Trotz den Adelbert-von-Chamisso-Preis notwendig.«

Fremde kommen nach Deutschland und bleiben Fremde. Diese durchaus bedauernswerte Analyse zur Migrationsgesellschaft Deutschland eröffne die Relevanz eines solchen Preises, nämlich den fremden Blick auf die deutsche Sprache, das gesellschaftliche Zusammenleben und kulturpolitische Schaffen dieser Literatursowie mit seiner bereichernden Wirkkraft auf unsere Öffentlichkeit ein Forum für gesellschaftspolitische Debatten zu eröffnen83. Also handelt es sich doch um einen Integrationspreis? Es muss eingeräumt werden, dass dieses aus dem Jahre 1998 stammende Zitat nicht wirklich das Selbstverständnis der neuesten Preisstatuten widerspiegelt. Man sollte aber auch nicht außer Acht lassen, dass von den mittlerweile 73 auf der Homepage der Robert Bosch Stiftung heute aufgeführten Preisträgerinnen und Preisträgern immerhin nur 13 die akademische Weihe im deutschsprachigen Raum nicht erhalten haben. Alle anderen studierten ungeachtet der jeweiligen Herkunft in den Metropo-

83 Thomas Steinfeld (2004:15) kritisierte auf das Schärfste die Preisverleihung an AsfaWossenAsserate 2004, insbesondere die Laudatio und die damit verbundenene Mythologisierung höfischer Benimmregeln sowie das intellektuelle Debakel, wenn gestandene Mitglieder der Akademie »Unterwerfungsfantasien beklatschten.« Vgl. Steinfeld, Thomas (2004): Knieübung. Stilsicher: Die Bayerische Akademie und der Prinz. In: Süddeutsche Zeitung, 21.02.2004 (Feuilleton), S. 15. vgl. hierzu auch Vögele, Wolfgang (2007): Manieren. In: Ders.: Weltgestaltung und Gewissheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie. Berlin: Lit (Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche, Bd. 4), S. 73-91. Hans-Peter Kunisch (2000) rühmt den selbstbewussten Auftritt der »neuen Ausländer in der deutschsprachigen Literatur« wie folgt: »Das deutsche Publikum begrüßte die drei Preisträger mit großem Interesse. Schon die Lebens-Geschichten der beiden Frauen hatten eine romantisch-exotische Schlagseite: die ZirkusHerkunft der in Zürich aufgewachsenen Rumänin AglajaVeteranyi so gut wie der selbständige Aufbruch der neunzehn Jahre jungen Ungarin Terézia Mora, die aus einem kleinen Dorf an der österreichisch-ungarischen Grenze nach Berlin kam, um dort ihren Weg zu machen. Als das Leben des Hauptpreisträgers Ilija Trojanow erzählt wurde (1965 in Sofia geboren, Flucht über Italien nach Deutschland, zehn Jahre in Afrika, dann zehn Jahre in Deutschland, vor einem Jahr nach Bombay umgezogen), ging erst recht ein Raunen durch die Menge. Trojanow hatte noch keine Zeile vorgelesen«. Vgl. Kunisch, Hans-Peter (2000): Eine Ankunftsliteratur anderer Art. Der selbstbewusste Auftritt der neuen Ausländer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Süddeutsche Zeitung, 22.03.2000 (Literatur).

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len Zürich, Wien, München, Hamburg oder Berlin. Und insofern – um etwas ketzerisch zu sein – greift die Kritik Billers nicht ganz so ins Leere: Die Autorenbiographien von Chamisso-Autorinnen und -Autoren haben in mehrheitlicher Tendenz ein integratives Moment vom Ausland nach Deutschland aufzuweisen, nämlich über den Weg der Bildung. Bevor oder während die Autorinnen und Autoren zu schreiben begannen, befleißigten sie sich der deutschsprachigen Literaturgeschichte, übten sich in der europäischen Methodologie und wandten diese unzählige Male in (inter-)kulturwissenschaftlichen Analysen an. Dieter Lamping verwies auf die begrifflichen Unzulänglichkeiten des Begriffes ‚Chamisso-Literatur‘ und fordert die Ablösung dieser unglücklichen Kategorie, die in erster Linie immer unterstellte, dass Adelbert von Chamisso am Anfang dieser deutschen Literatur zweisprachiger Schriftsteller und Schriftstellerinnen stehe (Lamping 2011: 18)84. So weckt der Begriff in seiner historischen Dimension das Unbehagen vieler, erfährt aber auch in seinem inhaltlichen Potenzial viel Zuspruch; wie etwa durch die Chamisso-Preisträgerin Yōko Tawada (Heinrich Böll Stiftung 2009: 83), welche die Begriffe um ‚Migrations-‘ und ‚Ausländerliteratur‘ in einem Interview ablehnt und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten preisgekrönter Chamisso-Autorinnen und -Autoren sieht: »Ich denke, diese Bezeichnungen [wie Migrationsliteratur] beschreiben eigentlich nicht das, was ich mache. Was ich wirklich mache, wissen nur Leute, die meine Bücher lesen. Und das ist sowieso nicht mit einem Wort zu beschreiben. Es gibt aber viele positive Dinge, zum Beispiel die Chamisso-Preis-AutorInnen. Die meisten kommen ja aus dem osteuropäischen oder islamischen Kulturkreis. Mit denen wäre ich nie zusammengekommen, wenn es nicht diese Kategorie gegeben hätte. Ich habe viel mit ihnen gesprochen und wir haben eine Gemeinsamkeit: Wir arbeiten mit der deutschen Sprache, und wir haben Distanz zu der deutschen Sprache. Es gibt andere Hintergründe, aber diese Gemeinsamkeit ist wichtig. Das ist wie ein runder Tisch, die deutsche Sprache, und wir wissen: Ich kann mitreden, und das ist eigentlich eine tolle Sache. Ich denke nicht, dass man als Migranten-Literaten diskriminiert oder an den Rand gedrückt wird. Vielmehr gibt es eine andere Einteilung, die mich stört: die in Bestseller- und Nicht-Bestseller-AutorInnen; in was sich gut verkauft und was sich nicht gut verkauft. Und unter den gut verkauften AutorInnen sind auch MigrantInnen heutzutage. Daher ist es kein Nachteil und auch kein Vorteil. Obwohl, ich sagen muss, wenn es in meinen Texten etwas gibt, das mit Japan zu tun hat, dann fällt es den Rezensenten leicht darüber zu schreiben, das können sie sofort einordnen. Aha, eine japanische Autorin hat mit

84 Lamping, Dieter (2011): Deutsche Literatur von nicht-deutschen Autoren. Anmerkungen zum Begriff der ‚Chamisso-Literatur‘. In: Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache. Robert Bosch Stiftung, März 2011/5, S. 18-21, S. S. 18.

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dem japanischen Auge Deutschland beschrieben. Solche Dinge kommen sehr schnell, sie werden schneller verstanden als alles andere. Das könnte stören, aber das ist sowieso nicht nur bei den so genannten Migranten-AutorInnen so. Heute muss alles schnell und leicht verständlich sein.«

Diese Überlegungen sind insofern interessant, als sie nicht mehr den Körper der Autorin oder des Autors verfremden, sondern den Ort der Literatur. Es figuriert sich zu einem Transitraum der Sprachen und Kulturen, einem Vehikel für Kommunikation und Grenzüberschreitungen. 9.7.3 Dokumentarischer Sinn Angesichts der Vielzahl an literarischen Neuerscheinungen, die jährlich auf den Buchmessen wie in Frankfurt und Leipzig präsentiert werden, wird deutlich, dass nur ein Bruchteil aller Veröffentlichungen tatsächlich besprochen werden kann. Dabei erweist sich die eigentliche Macht des Kritikers in der Möglichkeit zur Selektion. Er kann beeinflussen, welche Texte von einem breiteren Publikum überhaupt wahrgenommen werden und legt fest, was auf dem literarischen Markt existiert und was nicht. Die Verbindung von Literaturkritik und Buchwerbung ist dabei evident. Unter Literaturkritik wird heute im deutschsprachigen Raum meist die »informierende, interpretierende und wertende Auseinandersetzung mit vorrangig neu erschienener Literatur und zeitgenössischen Autoren in Massenmedien« (Anz 2004: 194)85 verstanden. Zu ihren Funktionen zählen zum einen »die informierende Orientierungsfunktion« und daran anschließend die »Selektionsfunktion«, eine Entscheidungshilfe zum Kauf von Literatur. Literaturkritik arbeite darüber hinaus didaktisch »vermittelnd« oder »sanktionierend« und übt eine »kommunikations- und reflexionsstimulierende Funktion« aus, die auch dezidiert unterhaltend und sprachlich stimulierend den Leser anzusprechen habe (195f.). Die Unterhaltungsfunktion von Literaturkritik entspricht einer »allgemeinen Funktion des Journalismus und speziell des Feuilletons« Sie übernehme damit auch eine Funktion, die ihr Gegenstand, die Literatur selbst habe. Wer urteilt – so das Verständnis zum kritischen Beobachter seit dem 17. Jahrhundert –, unterscheidet das Gute vom Schlechten, wobei das deutschsprachige Selbstverständnis des Kritikers in einem wesentlichen Gesichtspunkt von seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen zu unterscheiden ist (vgl. ebd.): Die englischen und französischen Varianten des literary criticism oder der critique littéraire umfassen auch 85 Anz, Thomas (2004): Theorien und Analysen zur Literaturkritik. In: Thomas Anz und Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. Originalausg. München: C.H. Beck (Beck’sche Reihe, 1588), S. 194-219.

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noch die Literaturtheorie und Poetik. Die früheste kritische Überlieferung zu den Aufgaben und Funktionen der Literaturkritik als Sache und des Kritikers in Person findet sich mit Francis Bacons Advancement of Learning (1605)86 sowie in John Drydens Vorwort zu State of Innocence and Fall of Man (1677)87. Die für den deutschsprachigen Literaturraum doch charakteristische Aufspaltung von Kritik und Wissenschaft liegt im Fokus des folgenden Exkurses um das Selbstverständnis des Literaturkritikers als dokumentarischer Sinnstifter. Karl Mannheims Beiträge zur Theorie einer Weltanschauungs-Interpretation (192122: 129) machen es sich unter Rückgriff auf Alois Riegls Begriff des ‚Kunstwollens‘ zur Aufgabe, die »vortheoretische Struktur der Kulturgebilde« zu erschließen. Sujet, Darstellungsform, Ausdruck und Dokumentgehalt eines Werkes seien auf einmal und zugleich da: »Töne und Intervalle in einem Musikstück sind mit einem Schlage ästhetisch gegliedert, sind zugleich ‚stimmungsbeladen’ (Ausdruckssinn) und verraten insgesamt die eigenartige ‚Musikalität, Geistigkeit’ (Dokumentsinn) des Tondichters«. Die Perspektivik dieser Geistigkeit ist aber sowohl im Denkstil als auch in der Wahrnehmung von Generation zu Generation zeitgebunden. Begreift man die Literaturkritik als Dokument eines Zeitgeistes, der das Kunstwollen einer Gesellschaft in einer Momentaufnahme abbildet, wäre somit auch ein Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Gegenwartserforschung erbracht. Überdies ist die Literaturkritik als Vertreterin eines repräsentativen, vortheoretischen Denkstils insofern interessant, als sich mit Literaturinteressierten und nicht notwendigerweise -experten ein ganz neuer Adressatenkreis bildet. Dass dabei das für den deutschsprachigen Kulturraum doch prägnante dialektische Selbstverständnis des Literaturkritikers als Fürsprecher und Pädagoge des Publikums seine exponierte Rolle in der Frage um das Kunstwollen einer Gesellschaft unterstreicht, soll im Folgenden begriffshistorischen Exkurs aufgezeigt werden.

86 Bacon, Francis (2001 [1605]): The advancement of learning. Modern Library pbk.ed. New York: Modern Library (Modern Library science series). 87 Dryden, John (2011[1677]): State of innocence, and fall of man. London: British Library, Historic.

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9.7.3.1 Dokumente vortheoretischer Wahrnehmung Zwar hat es Formen des literaturkritischen Schreibens in der gesamten Frühen Neuzeit gegeben, dennoch galt es bis in die 1980er Jahre noch als Konsens innerhalb der Literaturwissenschaft, dass die moderne Literaturkritik in der Aufklärung entstanden sei (vgl. Berghahn 1985: 10)88. Die begrifflich-geschärfte Annäherung an den Berufsstand des Literaturkritikers ging auch Hand in Hand mit einer Reduktion der Genrevielfalt literaturkritischen Schreibens; eine These, die beispielsweise vom Literaturhistoriker Herbert Jaumann (1995: 23, 298)89 vertreten wird. Die frühneuzeitliche »Vielfalt literaturkritischer Schreibweisen, Schreibgenres« sei zum Zwecke reduziert, konzentriert und »zumindest neu formiert« worden. Iwan-Michelangelo D’Aprile und Winfried Siebers (2008: 200) schließen sich insofern dem Ergebnis Herbert Jaumanns an, als dass die Buchbesprechung der Aufklärung innerhalb der periodischen Presse zu einer »festen, medial verankerten Institution« wurde. Die Berichterstattung wurde auf eine aktuelle und regelmäßig erscheinende Begleitung »der neuen Literaturproduktion« umgestellt und »die ehemalige Vielseitigkeit der Schreibweisen durch die Vielfältigkeit des Rezensionsangebots in den Zeitschriften abgelöst« (ebd.). Rita Klauser erklärt dies mit der zunehmenden Ökonomisierung der Öffentlichkeit. Unter der Entfaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse entstand eine Form der Buchkritik, »die mit weitaus geringerem theoretischen und ästhetischen Anspruch als Tageskritik« (1992: 29)90 den durchschnittlich gebildeten Bürger informierte und unterhielt. Während die frühaufklärerische Literaturkritik noch den Vorgaben einer normativen Regelpoetik folgte, setzte sich seit Gotthold Ephraim Lessing mehr und mehr ein immanentes Kritikkonzept durch, das den jeweiligen Text nach einer ihm eigenen inhärenten Logik zu beurteilen suchte (vgl. Simonis 2008: 437)91. Im Kritikdiskurs der Spätaufklärung vollzog sich zudem eine entscheidende Verschiebung von einem Kriterium des Wissens hin zu einem ästhetischen Gesichtspunkt. Lessing, bekannt als Begründer der neueren deutschsprachigen Literaturkritik und 88 Berghahn, Klaus (1985): Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik. In: Klaus L. Berghahn und Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Stuttgart: J.B. Metzler, S. 10-75. 89 Jaumann, Herbert (1995): Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York: E. J. Brill, 62. 90 Klauser, Rita (1992): Die Fachsprache der Literaturkritik. Dargestellt an den Textsorten Essay und Rezension. Frankfurt a.M., New York: P. Lang (Leipziger FachsprachenStudien, 3). 91 Simonis, Linda (2008): Literaturkritik. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen -- Grundbegriffe. 4., aktualisierte und erweiterte Aufl. Weimar: J.B. Metzler, S. 436-437.

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Mitherausgeber der Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters92, vertrat in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767-1769) die Ansicht, die Kriterien der Kritik hätten sich aus dem Werk selbst zu ergeben: Der wahre Kunstkritiker folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert: »In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für den unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mussten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben, wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein, wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten« (Lessing (1981 [1767-1769]): 361)93.

Dass sich auf der Basis dieses anthropologischen Verständnisses von Urteil und Bewertung in der Wahrnehmung von Welt unterschiedliche Schlussfolgerungen über den Gegenstand bilden können, liegt auf der Hand. So sagt auch Lessing im 70. Brief, »ein kritischer Schriftsteller« richte seine Methode darauf aus, sich einen Streitpartner zu suchen. Nach einer kleinen Verbeugung hieße es dann, »nur darauf zu!« (362). Dieses literatur- und besonders theatergeschichtlich relevante Plädoyer für eine öffentliche streitbare Diskussionskultur steht Pate für das von Jürgen Habermas benannte Phänomen des Strukturwandels der Öffentlichkeit. Die Erforschung der deutschen Literatursozialgeschichte des 18. Jahrhunderts erhielt durch ihn entscheidende Impulse für ein schlüssiges Erklärungskonzept der ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘ in Abgrenzung zur »repräsentativen Öffentlichkeit« des 17. Jahrhunderts (vgl. Habermas 1981: 86-106)94. Zur Sphäre der bürgerlichen 92 Lessing, Gotthold Ephraim; Mylius, Christlob (Hg.) (1750): Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Online-Ressource der Bayerischen Staatsbibliothek. 93 Lessing, Gotthold Ephraim; Berghahn, Klaus L. (1981 [1767-1769]): Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart: Philipp Reclam (Universal-Bibliothek, Nr. 7738). 94 Habermas, Jürgen (1981): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. unveränd. [12.] Nachdr. der Ausg. 1962, ergänzt um ein Vorw. zur Neuaufl. 1990. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 891). Mittlerweile ist die von Jürgen Habermas erhobene Theorie der ‚Bürgerlichen Öffentlichkeit‘ aber auch mehrfach bestritten worden. Der Sprachhistoriker Jürgen Schiewe (2004) beispielsweise kommt zu dem Schluss, dass die von

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Öffentlichkeit zählten Autoren, Kaffeehäuser, Salons, literarische und geheime Gesellschaften, kunstkritische Journale und ein vom Hof unabhängiges Theaterwesen: »In den Institutionen der Kunstkritik, Literatur-, Theater- und Musikkritik einbegriffen, organisiert sich das Laienurteil des mündigen oder zur Mündigkeit sich verstehenden Publikums. Die neue Profession, die dem entspricht erhält im zeitgenössischen Jargon den Namen des Kunstrichters. Dieser übernimmt eine eigentümliche dialektische Aufgabe: er versteht sich als Mandatar des Publikums und als dessen Pädagoge zugleich. Die Kunstrichter können sich […] als Sprecher des Publikums verstehen, weil sie sich keiner Autorität außer der des Arguments bewusst sind und sich mit allen, die sich mit Argumenten überzeugen lassen, eins fühlen. Gleichzeitig können sie sich gegen das Publikum selber wenden, wenn sie als Experten gegen das Dogma und Mode an die Urteilsfähigkeit der schlecht Unterrichtenden appellieren. […] Der Kunstrichter behält etwas vom Amateur; seine Expertise gilt auf Widerruf, in ihr organisiert sich das Laienurteil, ohne jedoch durch Spezialisierung anderes zu werden als das Urteil eines Privatmannes unter allen übrigen Privatleuten, die in letzter Instanz niemandes Urteil außer ihrem eigenen gelten lassen dürfen. […] Die Zeitschrift wird zum publizistischen Instrument dieser Kritik« (103).

Der Kritiker vertritt mit seinem Geschmacksurteil in erster Linie sich selbst – und gerade damit auch das Laienurteil des Publikums, er hebt sich ab und bleibt dabei gleichzeitig ein Teil der Rezeptionskultur. Der Kritiker versteht sich als »Anwalt«

Habermas aufgestellten Kategorien zwar auf England und Frankreich weitgehend nachvollziehbar seien, jedoch für Deutschland »leer und unanschaulich« (2004: 266) blieben. Vgl. Schiewe, Jürgen (2004): Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland. Paderborn: F. Schöningh (UTB, 2440). Die Philosophiehistorikerin Ursula Goldenbaum (2004) entwickelte ein Debattenkonzept, nach dem sich Ereignisse als literaturhistoriographisch relevant auszeichnen, an die sich eine wahrnehmbare, und in ihrem Wirken nachhaltige öffentliche Debatte anschloss. In einem Netzwerk aus einzelnen verdichteten Kristallisationspunkten konfiguriert sich dann das Bild einer Debattenkultur des 18. Jahrhunderts, woraus sich wiederum Kriterien eines Epochenbegriffs ableiten ließen. Auch Goldenbaum hat festgestellt, dass die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit keineswegs ihren Weg über die Kunst und Literatur ging, wie zuvor lange in der Literaturgeschichtsforschung behauptet. Vgl. Goldenbaum, Ursula; Grunert, Frank (2004): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796. Berlin: Akademie, S. 4ff.

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(Anz: 1990: 196)95, der den Rezipienten das letzte Urteil nicht vorwegnimmt, sondern überlässt. Er erhebt nicht den dogmatischen Anspruch auf absolute Deutungshoheit, sondern trägt »mit polemischer Energie zur Auflösung verfestigter Vorurteile und zur Dynamisierung der literarischen Debatte« bei. Für die historiographische Gegenwartsforschung nimmt die Literaturkritik somit einen entscheidenden Stellenwert ein. Denn im Ringen um die Deutungshoheit von Kunst, Kreativität und Neuem filtert die Kritik die Leser-, Hör- und Publikumswahrnehmung weniger als intellektuelles Reflektieren über, sondern als sinnliches Wahrnehmen von Kunst. Rita Klauser beschreibt die Institution der Literaturkritik ebenfalls als entscheidendes Drehkreuz oder »Regulator« zwischen literarischer Produktion und Rezeption. Jedoch erweitert sie die Definition um das wichtige Kriterium der Zeitgebundenheit kritischen Wertens. Zwischen dem Kritiker und dem literarischen Werk erwächst ein Verhältnis, das durch die Fachkompetenz des Kritikers sowie durch gesellschaftliche Normen und Werte gleichermaßen determiniert wird. Somit bricht sich in seiner individuellen Wertung auch immer das in einer konkret-historischen Gesellschaft wirkende Weltbild Bahn. »Ihr gesellschaftlicher Stellenwert und ihr Aufgabenbereich sind jeweils historisch-konkret, das heißt durch die jeweilige Gesellschaftsformation und deren Entwicklungsstand begründet. Die Literaturkritik als Instrument und Methode, die ästhetische Qualität literarischer Kunstwerke zu bestimmen, orientiert sich in ihrem Wirken an den Aufgaben von Kunst und Kunstkritik innerhalb einer Gesellschaft. Sie fungiert als Regulator der Beziehung zwischen künstlerischer Konsumtion und Produktion, als ein Mechanismus der Rückkopplung im Kunstleben der Gesellschaft. Mit dieser regulierenden Funktion übernimmt die Literaturkritik auch einen Teil der Verantwortung für die Entfaltung des literarischen Lebens in der Gesellschaft, für die Rezeption des literarischen Erbes sowie für die Entwicklung und Ausprägung ästhetischer, moralischer u.a. Wertvorstellungen« (Klauser 1992: 32).

Anschluss finden die bisherigen Lektüren rund um Profil und Aufgabe des Kritikers auch bei Andreas Reckwitz. In seinem Aufsatz Die Erfindung der Kreativität (2013) 96 bilanziert der Kultursoziologe für das vergangene Viertel des letzten

95 Anz, Thomas (1990): Literaturkritisches Argumentationsverhalten. Ansätze zu einer Analyse am Beispiel des Streits um Peter Handke und Botho Strauß. in: Wilfried Barner (Hg.): Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Stuttgart: Metzler (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 12), S. 415-430. 96 Reckwitz, Andreas (2013): Die Erfindung der Kreativität. Kulturpolitische Gesellschaft (Kulturpolitische Mitteilungen, 141). Online verfügbar unter http://www.ku-

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Jahrhunderts bilanziert die Herausbildung eines heterogenen und wirkungsmächtigen »Kreativitätsdispositivs« (24) über verschiedenste gesellschaftliche Faktoren von der Erziehung bis zum Konsum, über den Sport bis zum Beruf oder zur Sexualität. »Kreativität«, so Andreas Reckwitz, »enthält in einem ersten Zugriff eine doppelte Bedeutung: Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen« (23). Kreativität bevorzuge das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard. Zum anderen impliziere Kreativität ein Modell des ‚Schöpferischen’, welches diese Tätigkeit des Neuen an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische zurückbindet«. Der Wert des Neuen besteht dabei nicht in einer Fortschrittsgeschichte, in der jede Revolution ihre vorhergehende überbieten will, sondern in einem »momenthaften Reiz«, der stets von einer folgenden sinnlichen Qualität abgelöst wird. Das Neue »bestimmt sich hier im Wesentlichen über seine Differenz zum vorhergehenden […] als vollkommene Abweichung vom Üblichen« (25). Hierbei nimmt das Kreativitätsdispositiv die Rolle eines »sozialen Regimes« ein, das sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in vielfältige Elemente versammelt, die sich selbst als künstlerisch verstehen. Auf den Literaturmarkt übertragen, schließt es die Praktiken der Herstellung, die Verbreitung, Ausstellung sowie die Verarbeitung durch den Rezipienten ein (vgl. Reckwitz 2011: 60). Somit werden nach Andreas Reckwitz vier Größen als »spezifische Instanzen« (2013: 26) des Regimes identifiziert, nämlich 1. Subjekte als Kreateure, 2. ein ästhetisches Publikum, 3. ästhetische Objekte und 4. eine institutionalisierte Regulierung von Aufmerksamkeiten. »Dies ist das tragende Gerüst des Kreativitätsdispositivs und damit für große Teile des Sozialen der Spätmoderne« (26). Für den Dokumentarischen Sinn dieser vorliegenden Arbeit, nimmt dabei in Anschluss an Andreas Reckwitz das literarische Publikum insofern eine entscheidende Rolle ein, als dass es eine responsive Funktion in der Medialisierung von Kunst übernimmt. Das Publikum übernimmt das aus dem zweckentbundenen Kunstprozess Wahrgenommene und bindet diese Eindrücke in zweckrationale Normen für die Gestaltung von Öffentlichkeit ein. Andreas Reckwitz begründet diesen Prozess, wie auch schon Jürgen Habermas, mit einem historischen Ansatz: Der frühneuzeitliche Künstler war im höfischen Patronage- und Mäzenensystem im Wesentlichen ein »Auftragskünstler« (2011: 66) für adlige oder klerikale Klienten. Ein Originalitätsanspruch konnte somit nur begrenzt erhoben werden, da seine primäre Funktion darin bestand, den Ruhm seiner Herren zu mehren. »Der moderne Künstler

poge.de/kumi/pdf/kumi141/kumi141_23-34.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2015. Reckwitz, Andreas (2011): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft, 1995).

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kann hingegen erst dadurch zum Originalgenie werden, dass er sich an einen öffentlichen Kreis anonymer Rezipienten richtet, die mit unberechenbaren, vom Künstler aus eigenem Antrieb entworfenen Werken konfrontiert werden« (ebd.). Wie Thomas Anz definiert auch Andreas Reckwitz das ästhetische Publikum als eine »kollektive Instanz der Beobachtung und Bewertung von Werken und Künstlern« (67), das Aufmerksamkeit stiftet, die sich kurz- oder langfristig auf bestimmte Werke richtet und damit zugleich anderen entzogen bleibe. In enger Verzahnung gesellt sich zur Gruppe des ästhetischen Publikums auch die vierte Gruppe der institutionalisierten Aufmerksamkeitsregulierung hinzu, die der Kritik. Durch sie werde der Korpus der Kunstwerke systematisiert und die Bewertung erfolgt nach der Ablösung der Nachahmungsästhetik durch das »Kriterium der Originalität«. Dabei richtet sich aber die Aufmerksamkeit nicht allein auf das Werk, sondern auch auf die Künstler, ihrer öffentlichen Wahrnehmung und Biographie, was mit der an Popularität gewinnenden Textsorte der Künstlerbiographie begründet wird. Keinesfalls müssen dabei Anspruch und Wahrnehmung von Kunst korrespondieren, Im Gegenteil: Der strukturelle Kern des Regimes ist geprägt von einer Paradoxie, nach der das Publikum »zertifiziert« (Reckwitz 2011: 71), was originale Kunst ist. Zugleich wird ihm diese Kompetenz oder Autorität vom Künstler selbst abgesprochen. Die Konkurrenzsituation, die sich nicht selten zwischen Produzenten- und Rezipientenlogik auftut, zeigt den dialogisch-prozessualen Charakter, der dem Ringen zwischen den Ideologemen Karl Mannheims durchaus nahesteht. Innerhalb des Triadischen Modells literarischer Öffentlichkeit kommt der Leserschaft eine bestätigende und der Kritik eine zertifizierende Rolle zu. Letztere äußert sich aber gerade im deutschsprachigen Raum auf der Basis des Geschmacksurteils und ist somit einem vortheoretischen Anspruch, dem Kunstwollen einer Gesellschaft, zuzuordnen; eine These, die auch von der Literaturwissenschaft gestützt wird: Die Fachsprachenforschung (vgl. Klauser 1992: 37) verortet die Wirkungssphäre der Literaturkritik von der Peripherie des »Kommunikationsbereiches der Literaturwissenschaft« bis zum »populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Journalismus«. Nur im geringen Maße ist die Literaturkritik darüber hinaus an der Theoriebildung innerhalb der Literaturwissenschaft beteiligt. Jedoch könne sie – und genau hierin ist ihr Mehrwert für die Wissenssoziologie zu finden – durch die solide Anwendung theoretischer Aussagen der Literaturwissenschaft zur »empirischen Untermauerung und Verifizierung literaturwissenschaftlichen Wissens« beitragen.

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9.7.3.2 Analyse der dokumentarischen Struktur: Inhaltskomponenten Die überwiegende Mehrheit aller Besprechungen sieht auf der textinhaltlichen Ebene neben der inhaltlichen Wiedergabe des zu besprechenden Werkes das literarästhetische Potenzial nicht nur im biographischen Feld begründet, sondern vor allem auch in der daraus sich ergebenden Expertise für Interkulturelle Kommunikation. 25 Rezensionen sehen im literarischen Schaffen der Autorin ein Vehikel oder einen ästhetischen Kommunikationsraum, wobei das Wissen über die Fremde, hier das Japanische, weniger auf einer landeskundlichen, also faktenorientierten Ebene, sondern auf einer im Wortschatz der Rezensionen stark sinnlich-deskriptiven Ebene konfiguriert wird. Die Vermittlung des Fremden wird auch anhand sprachlicher Kulturspezifika exemplifiziert und von der Kritik gewürdigt wie bei Tanja Buss (2007: 5): »Nach der Lesung stellt sich Tawada den Fragen und erzählt, dass die deutsche Sprache auch ihr Schreiben auf Japanisch beeinflusst habe. Seitdem sie beispielsweise wisse, dass Haut- und Nebensätze sowie Kausalität in der deutschen Sprache sehr wichtig seien, habe sie bewusster damit ‚gespielt”, weil das in Japan nicht so wesentlich sei. Ein weiterer Unterschied sei, dass man in Japan unendlich lange Sätze bilden könne, ohne dass sie kompliziert würden. Und so kommt einem eine Frage aus ihrem neuen Buch in den Sinn: ‚Hat die japanische Sprache auch Grammatik oder sprechen die Leute ohne Regeln?” Die Antwort folgt in Form einer Gegenfrage: ‚Gibt es Botanik in Japan oder wachsen die Pflanzen ohne Regeln?«

Unter dem Schlagwort einer »poetischen Nachbarschaft« 97 zeichnet Natalia Shchyhlevska (2011) das Bild einer literarischen »Röntgenaufnahme«, in der sich die für den deutschen Muttersprachler so selbstverständlichen Mechanismen der Sprache abgebaut und neu gelesen werden. Die folgende Tabelle illustriert die thematischen Argumente, derer sich die Rezensenten bei der Besprechung und Beurteilung bedienen.

97 Shchyhlevska, Natalia (2011): ‚ich pistole / du angst‘. Zu Yoko Tawadas neuem Gedichtband Abenteuer der deutschen Grammatik. Literaturkritik.de. Online verfügbar unter http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15401, zuletzt geprüft am 02.05.2015.

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Übersicht zur Vorkommenshäufigkeit thematischer Literaturwertungen Inhaltliche Bestandteile Biographische Angaben zur Autorin Kulturspezifika anhand Sprachvergleich Vergleich mit anderen Schriftstellern Zusammenhang zwischen Werk und den historischen, politischen Verhältnissen in Japan Handlungsstoff/-strang des Werkes Bewertung literarischer Übersetzung Beschreibung der Erzähltradition

Häufigkeit 15 10 6

2 26 0 3

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9.7.3.3 Argumentation Auf der Argumentationslinie fällt besonders stark auf, dass die Aussagen im höchsten Maße objektbezogen verlaufen, d.h. den Fokus auf die Person betonen, und einem Vergleich mit anderen Texten (Quantifizierende Werte nach Anz [5]) aus dem Weg gehen. Es werden weder Analogien zu anderen Chamisso-Autorinnen und -Autoren gezogen noch Hinweise auf andere zeitgenössische japanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegeben. Sämtliche attributiven Werte werden in Verbindung gebracht mit der Lebenserfahrung und der interkulturellen Mehrperspektivik der Autorin; betont wird ihr Vermögen in zwei Sprachen nicht nur zu sprechen, sondern auch zu schreiben und als akademisch promovierte Autorin die kulturelle Fremde den Lesern in Japan und Deutschland zu vermitteln. Mehr noch wird gerade der Fremdsprachenerwerb, also der Lernprozess, zur ausschlaggebenden Komponente des literarischen Schaffens erklärt. Denn durch die fremde Brille nehme man das Deutsche anders wahr, dies wiederum erlaube es den muttersprachlichen Lesern einen alternativen Blick auf die eigene Sprache zu entwickeln. Diese Argumentationsform einer stark objektbezogenen, den ästhetischen Wert auf der Grundlage der Biographie und Fremdsprache verortenden Literaturkritik prägt den Denkstil über das poetologisch-interkulturelle Potenzial Yōko Tawadas maßgeblich, zumal sich diese Argumentationslinie nun fast 15 Jahre gehalten hat. Exemplarisch sollen einige Beispiele herangezogen werden. Im Textaufbau entfaltet oftmals ein Einstiegsbild die Verknüpfung von Autorin und Werk: »Wenn Yoko Tawada Tee kocht, guckt sie mit ihrer Katze aus dem Fenster ihres winzigen Lotsenhäuschens am Hamburger Elb-Hafen und sieht die Spaziergänger gegen den Wind ankämpfen. Manchmal geht sie dann hinaus, malt japanische Schriftzeichen in den Sand, fährt mit dem Schiff zu den Landungsbrücken oder nach Finkenwerder, aber meistens hockt sie sich wieder hin, den Rücken zum Fenster, rollt sich ein und schreibt. Über Tintenfische auf Reisen, Hundebräutigame und Kakteen, die mit pickligen Zungen an der Balkontür lecken« (Surkus 2000: 20).

Dieser Einstieg vermittelt den sinnlichen Eindruck einer zwischen den Welten wandernden, in neue Regionen, hier den Elbhafen, übersetzenden Künstlerin, welche das Oszillieren einer nahen Ferne in ihrem »winzigen Lotsenhäuschen« zum Lebensgefühl eines ganzen Alltages macht. Wie auch im nächsten Beispiel von Jähningen (2012: 17), wenn »Akibare«, die schönen Tage im Herbst zum Ort der Sehnsucht erklärt werden und immer wieder die »japanischen Schriftzeichen« zitiert werden, die entgegen allen europäischen Konzepten, eine gänzlich neue Vor-

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stellung von Bild und Bedeutung entfalten. Das künstlerische Schaffen der Autorin entspringt der eigenen Erfahrung des Spracherwerbs und dem Leben in der Fremde – nun wird das eingangs als Eindruck vermittelte Bild mit den harten Fakten unterstrichen: »Erst als sie anfängt, Deutsch zu lernen, beginnt Tawada, sich im Dazwischen einzurichten, um sich fortan vom Ort zwischen den Welten zu melden: ‚Für mich ist Literatur eine Chance, das Unsagbare in Worte zu bringen.‘ Hat sie zunächst noch die eigene Sprache benutzt, ist es immer öfter die fremde. ‚Deutsch klingt plastisch, wie Architektur, bekommt beim Sprechen einen Körper.‘ Japanisch sei wie Wasser, ohne bestimmte Form. ‚Weil man die Schriftzeichen nicht sieht, verschwindet es beim Vorlesen. In Japan ist Verschwinden schön: Nur eine Teetasse, die im nächsten Moment kaputt geht, gilt als schön.‘ Nach dem Literatur-Studium mit 19 dann der Aufbruch. Auf einem Plakat sieht sie die transsibirische Eisenbahn. ‚Was hätte mich noch abhalten können, nach Europa zu fahren?‘ Einen Monat dauert die Reise, die sie später in ihrer verwobenen Erzählung ‚Wo Europa anfängt’ verarbeitet. Irgendwo unterwegs – in Moskau, Warschau, Ost- oder Westberlin – verliert sie ihre Seele. ‚Als ich dann mit der Bahn wieder zurückfuhr, war meine Seele noch in Richtung Europa unterwegs. Ich konnte sie nicht fangen. Als ich erneut nach Europa fuhr, war sie auf dem Weg nach Japan. Danach bin ich so oft hin- und hergeflogen, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wo meine Seele gerade ist. Auf jeden Fall ist das ein Grund dafür, warum einem Reisenden meist die Seele fehlt.‘« (ebd.)

Ihre Motivation für das Schreiben sieht Oesterle (1996) im »Schürfen« nach dem »Traumland«, während sie selbst im »aufregenden Niemandsland zwischen ihren beiden Ländern« verweilt. Paul Michael Lützeler (2011: 28) macht zur Grundlage seiner Bewertung die »Einzigartigkeit«, mit der sich die Autorin innerhalb der interkulturellen Szene in Deutschland bewegt. Tawada, so der Journalist, gehöre keiner Gruppe an. Man spreche nicht von einer japanisch-deutschen Literatur, wie von einer türkisch-deutschen Dichtung. »Tawada ist in ihrer Art einzigartig« (ebd.). Keller (2013: 48) essentialisiert die literarische Symbolik des »fremden Wassers« mit den kulturellen Unterschieden und Lebenserfahrungen der Autorin, ja führt sie auf ein naturalistisches Ursprungskonzept zurück, so doch die Insel Japan auch durch den Ozean umschlossen sei und den Übertritt in die Fremde als natürliche Grenze erschwert. Jähningen (2013) zählt alle europäischen Elemente zusammen, welche Yōko Tawada in ihrer Kindheit aufsog und somit die Fremdheit zum Teil ihrer eigenen Identität machte. Wie Puzzlesteine werden diese zusammengetragen:

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»Deutschland, Frankreich, Japan, China, Weißrussland, Israel, Australien, Afrika, die USA: Rund um den Globus führen Lesereisen die Autorin. ‚Ich gehe von einem Land zum nächsten, das sind viele Kulturen, aber in den Gesprächen merke ich: Wir haben eine gemeinsame Gegenwart’, sagt Yoko Tawada. Als Tochter eines Kommunisten lernte sie früh die europäische Literatur kennen. 'Ich hatte russische und tschechische Bilderbücher', sagt sie und dass das Kinderbuch in Osteuropa eine Kunstgattung gewesen sei. Später las sie Hermann Hesse. Mit erst 19 Jahren mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Europa zu fahren sei dann trotzdem eine verrückte Entscheidung gewesen. Yoko Tawada blieb. Sie lebte in Hamburg und Zürich, später in Berlin.«

Elisabeth Endres (1996: 10) kommentiert die Preisverleihung an Yōko Tawada und zitiert auch hier die Erfahrung des Reisens und des Über-setzens als Motiv des Schreibens. So habe die Autorin ihren eigenen Weg ins Land der deutschen Sprache thematisiert, auf dem sie Westliches in Moskau erlebte, »also in der Stadt, in der für Westeuropäer Asien beginnt«. Von ihrer Lehrerin Sigrid Weigel liebevoll an die Hand genommen gab sie hinterher »hübsche Betrachtungen wieder, über die Liebe der Deutschen zum Weihnachtsbaum und zu den Holzgöttern« (ebd.). Elke Bruens (1995: 15) lobt Yōko Tawadas Tintenfisch auf Reisen als eine literarische Welt, in der sich Sprache »schwerelos« und fließend bewegt, »Bilderstrudel erzeugt und weitergeleitet« werden. Wie schafft die Autorin das? Die Japanerin Yōko Tawada sei selbst 1980 mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Deutschland gekommen und lebe seit 1982 in Hamburg, wo sie Germanistik und Romanistik studierte; seit 1987 veröffentlicht sie in Deutschland und Japan. Ihre Sprachwelt – Tawada schreibt Japanisch und Deutsch – habe die Schrift zur Fremdsprache gemacht und setzte die bekannte Welt, »mit der man fersenfest auf vertrautem Fusse stehe, mit surrealen Bildern und Sprachströmen außer Kraft«. Marina Neubert (2008) konstatiert die Unmöglichkeit das literarische Schaffen Yōko Tawadas gattungstypologisch einzuordnen, was wohl auf die Tatsache zurückzuführen sei, dass sich die Autorin sowie ihr Werk auf einer poetischen »Dauerfahrt« befänden. Rolf Spinnler (2009: 26) bleibt bei seiner Buchbesprechung zu Schwager in Bordeaux ebenfalls auf der informierenden Funktion: »Was erwartet den Leser also auf den folgenden zweihundert Seiten: ein Reiseabenteuer, eine Familien- oder gar eine Liebesgeschichte? Nichts von alledem, nicht im konventionellen Sinn einer fortlaufend erzählten Story. Das Buch besteht vielmehr aus lauter Prosaminiaturen, die selten länger als eine Buchseite sind und statt einer Kapitelüberschrift jeweils von einem japanischen Schriftzeichen gekrönt werden. Wie fotografische Schnappschüsse halten sie im erinnernden Rückblick Momente aus Yunas Leben in Japan und Hamburg fest oder verdichten ihre Eindrücke nach der Ankunft in Bordeaux«.

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Dann zeichnet der Journalist die Reise der Schriftstellerin mit der Transsibirischen Eisenbahn im Rückwärtsgang anhand des rezensierten Textes nach, indem er einen Hinweis auf Dostojewski aufgreift und sie in ein Geflecht der »Polyphonie« einbettet, »ohne dass diese zu einer Grundtonart vereinheitlicht« wird. Im nächsten Schritt geht der Rezensent weiter von Russland nach Japan und konserviert diese »polyphone« Sicht als literarischen Stil bei einer Autorin, die ihre Erzählung keiner Zentralperspektive opfere, über bikulturelle Erfahrung verfüge und somit eine Brücke geschlagen werde zur japanischen Hofdamenliteratur. 9.7.3.4 Textstil Stil bezeichnet die »Abweichung beobachteter Phänomene von einer definierten Charakteristik« (vgl. Rommel 2008: 680). In der Bedingung der Abweichung definiert sich die Stilistik durch Konsistenz innerhalb und Divergenz außerhalb im Verhältnis zu weiteren Textgruppen. Kennzeichnend für Gruppenstile sind »Einzelmerkmale« von der Schrift, Buchstaben, Silben, Morpheme, Wörter oder Phrasen. Bei den Rezensenten werden folgende Merkmale festgestellt: Mit der Wortwahl in Titel und Text zeichnen die Journalisten ein auffallend antimodernes, surrealistisches Bild der Schriftstellerin. Gekennzeichnet ist dabei ihr Leben und Schreiben von einer Wanderschaft zwischen zwei Sphären, welche in verschiedenen Ausdrücken und Formen eine Welt der Binäroppositionen beschreibt. Inmitten dieser Sphären, welche sowohl geographische als auch sprachliche und transzendentale Horizonte abdecken, gelingt es der Autorin in der Wahrnehmung der Kritiker immer wieder, diese in Gegensätzen determinierte Welt durch synästhetische Stilfiguren, Textpassagen oder Redemittel zu durchbrechen und somit Sprachsehgewohnheiten zu hinterfragen. Daniela Tan (2012) 98 beschreibt zum Beispiel die Autorin als »stille Reisende zwischen zwei Welten«, Funk (2002) nennt sie die »Pendlerin zwischen Ost und West« und Bruens (1995) sieht im Schreiben der Autorin eine Kraft, die gewohnten »Sprachströme« mit »surrealen Bildern außer Kraft zu setzen«. Ohnehin erhält Sprache durch das hinzugefügte Kompositum »-welt« bei vielen Journalisten (ebd.) eine topographische Dimension, die Schreiben und Mobilität vereint und zur Bedingung literarischer Kreativität erklärt, wie auch im folgenden Beispiel: »Yoko Tawada, die 1979 mit der transsibirischen Eisenbahn aus Japan nach Deutschland kam, schreibt schon lange auf Deutsch und zählt längst zu den anerkannten Autorinnen 98 Tan, Daniela (2012): Im Meer der Mehrsprachigkeit. «Vielleicht sind wir alle zusammen nur ein grosses Tier» – ein Gespräch mit der japanisch-deutschen Schriftstellerin Yoko Tawada. NZZ. Online verfügbar unter http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/im-meer-der-mehrsprachigkeit-1.17842399, zuletzt geprüft am 02.05.2015.

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hierzulande. Trotzdem ist ihr Werk schwer einzuordnen. Denn ihre Prosa und Gedichte sind halb real, halb mystisch, sie lassen sich nicht verorten und befinden sich eher in einer Art sprachlicher Dauerfahrt, die den Leser in poetische Zwischenwelten führt, die zugleich ganz alltäglich erscheinen.« (Neubert 2008)

Hinzu kommt in diesem Beispiel, dass sich das literarische Schaffen Tawadas jeglichem terminologischen Zugriff – oder einer Verortung – entzieht, gleichzeitig aber ganz klar ex negativo definiert ist; durch das, was es eben nicht ist. Das Pendeln zwischen Binäroppositionen, seien es die der Mystik und der Realität oder die der Poesie und Alltäglichkeit verortet das Werk der Schriftstellerin ganz deutlich im Dazwischen, dem transitorischen, instabilen Erlebnis. Die Uneindeutigkeit von Identitätszuschreibungen lädt die Rezensenten zuweilen auch zu homophonen Sprachspielen ein, wie bei Tans Porträt Im Meer der Mehrsprachigkeit (2012) oder zur bewussten Worttrennung bei Martin (2009) Ver-rückt in Bordeaux99, welche auf den Geisteszustand einerseits und den Ortswechsel andererseits hinweist. Der Einsatz synästhetischer Stilmittel ist besonders hinsichtlich der Beschreibung und Verbindung unterschiedlicher Kunstgattungen bei Yōko Tawada vorzufinden, welche eine Grenzüberschreitung beabsichtige, sobald von »Wortcollagen« und »Erzählrhythmen« (Red. 2008) die Rede ist. Wiederkehrende Wortkomposita wie »Traumerzählungen« (Patzer 2004: 9) oder »Sprachmagie« (Buss 2007: 10) zeichnen in Verbindung mit der sich stets auf Wanderung befindenden Schriftstellerin die semantische Struktur eines antimodernen, eskapistischen Denkstils, der in das Wirken und Schaffen der Schriftstellerin projiziert wird, aber zugleich auch responsiv an die literatur- und kunsthistorische Tradition des Westens im Umgang mit der asiatischen allgemein und der japanischen Fremde besonders anschließt.

99 Martin, Marko (2009): Ver-rückt in Bordeaux. Deutschlandradio Kultur. Online verfügbar

unter

http://www.deutschlandradiokultur.de/ver-rueckt-in-bordeaux.950.de.

html?dram:article_id=137090, zuletzt geprüft am 05.05.2015.

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9.8 Z WISCHENFAZIT Die Inszenierung und Exotisierung des Fremden und Wilden ist Ausdruck eines kulturellen Überlegenheitsgefühls, gleichzeitig aber auch einer Angst, dem Fremden jenseits der ‚Zirkusmanege‘ zu begegnen. Wurde die Mehrsprachigkeit in den vorangehenden Teiluntersuchungen als Thema von Machtausübung und Konflikt in den Vordergrund gerückt, bewegt sich der Roman Etüden im Schnee im thematischen Rhythmus zwischen der Öffnung und Schließung von Räumen sowie der Autonomie und Fremdbestimmung. Dass dabei die literarische Fähigkeit, sprachkünstlerisch über Fremdheit und Kulturwechsel zu schreiben, durch den öffentlichen Blick mit der Migrationsbiographie der Autorinnen vermengt wird, ist auch den Eisbären im Roman ein bekanntes Problem. Diese ungenaue Unterscheidung zwischen Leib und Feder im Ausgang literaturöffentlicher Debatten steht als Fazit der dokumentarischen Untersuchung. Die literarische Öffentlichkeit korrespondiert somit nicht mit dem intentionalen Anspruch seitens der Robert Bosch Stiftung und es sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob die Einstellung des Adelbert-von-Chamisso-Preises zum aktuellen Zeitpunkt wirklich glücklich gewählt war.

10. Fazit: Yōko Tawada im Ausgang einer wissenssoziologischen Literaturwissenschaft

Die literaturwissenschaftliche Annäherung vermittels wissenssoziologischer Konzepte sieht in der Interpretation literarischer Einzelwerke nachwievor einen zur Erkenntnisgewinnung grundlegenden Bestandteil, obgleich diese Interpretationen von ganz unterschiedlichen Wissensbeständen und entsprechenden kulturellen und ideologischen Implikationen geleitet werden können. Damit wird keiner methodischen Beliebigkeit das Wort geredet, vielmehr der Einsicht Rechnung getragen, dass literaturwissenschaftliches Arbeiten immer eine kognitive und soziale Praxis gleichermaßen darstellt. Es konnte durch die dreifache Distinktion von Bedeutung eine methodologische Brücke hergestellt werden zwischen dem historischen Einzelereignis und seiner historisch, weltanschaulichen Kontextualisierung, womit der Prämisse der IKLW dahingehend Rechnung getragen wird, dass Perspektivenwechsel zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ das offene Bewusstsein für die relative Standortgebundenheit der eigenen Denkschule voraussetzt. Begreift man Mannheims Lehre der drei Sinne als eine Metapher für ein historiographisches, ideologiekritisches Modell, eröffnen sich fruchtbare Perspektiven für eine Gegenwartsforschung innerhalb der IKLW. So könnte eine diachrone Ausweitung dieser Arbeit neue Erkenntnisse zur Entwicklung der interkulturellen Literaturgeschichte gewinnen, indem nun weniger nach Kriterien als nach historisch repräsentativen Verhandlungsmustern gesucht wird: Wie verhalten sich Schriftstellerinnen, -Schriftsteller, preisfördernde Institutionen und die literarische Öffentlichkeit am Beispiel von drei repräsentativen Momentaufnahmen der ‚Migrationsgeschichte‘ im deutschsprachigen Raum? Welche Erkenntnisse werden dadurch mit Blick auf Selbstinterpretationsstrategien einer Gesellschaft gewonnen? Diese Fragen könnten in Analogie weltanschaulich wirkmächtiger Zeitkerne beispielweise der ‚Nach-

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kriegszeit‘, der ‚Literatur von 1968‘ und der ‚Wendezeit um und nach 1989‘ untersucht werden. Die sich daraus ergebenden diskursiven Themenfelder erlauben eine Bilanz zur Frage, ob interkulturelle Literaturgeschichte im deutschsprachigen Raum eine Tradition der Kontinuitätoder der Zäsuren erzählt. Das Triadische Modell nach Karl Mannheim führte in Anwendung auf den Gegenstand zu vier Ergebnissen, die nun vorgestellt werden. Ad. 9.1) Grenz- und Raumtransformationen des Fremden Die Analysen auf den objektiven und intentionalen Ebenen haben gezeigt, dass Tawadas literarischer Blick die Differenz zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ nicht auflöst, sondern ihre relationale Ambivalenz beibehält. Dieses Verhältnis – seien es Oppositionen wie ‚Hell-Dunkel‘, ‚Distanz-Annäherung‘, ‚Tradition-Moderne‘, ‚Beschleunigung-Stillstand‘ – wird in Form stets wechselnder Begriffsgefäße immer wieder von Neuem verhandelt und gleichzeitig als kulturell verzeitlicht relativiert, wenn beispielsweise das Gras als Symbol des Natürlichen nicht danach fragt, wo es wächst. a.) Bei der vergleichenden Lektüre von Eigentlich darf man es nicht sagen, aber Europa gibt es nicht ist der mit Xander geführte Streit um die Hautfarbe ein wesentliches Kriterium für Differenz. Eine Utopie der Identitätslosigkeit bildet dann der Zwischenraum im Gotthart, in dem die Dunkelheit die Haut der Ich-Erzählerin umschlingt und sie dabei in einen wohltuenden Zustand des Nichts bringt. Insbesondere die Schilderungen durch den Gotthart-Tunnel können verstanden werden als eine individualisierte Wahrnehmung einer als ‚Globalisierung‘ bezeichneten Erfahrung. Eine breit angelegte Dokumentation literarischer Zeugnisse und Stimmungen dessen, was Menschen aktuell mit ‚Globalisierung‘ verbinden, könnte wertvolle Einsichten bringen zum weltanschaulichen, mit Riegl gesprochenen Wollen für die Zukunft. b.) Insbesondere die Analysen auf der Ebene des dokumentarischen Sinnes zeigen, dass Eigen- und Fremdbilder sowohl im ‚westlichen‘ als auch ‚japanischen‘ Rahmen relativ stabile, durch Oppositionspaare aufrecht erhaltene Alteritätsrahmen aufweisen, die als historische Repräsentationsformen des unterscheidenden Denkens in die aktuellen Diskussionen um ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘ hineinwirken und sich auch als literarische Experimentierfelder den Erwartungshaltungen der Rezeption zuwenden. Allein die Vorstellung von ‚Denken‘ hat je nach westlichen oder fernöstlichen Konzeptionen einen ganz anderen Stellenwert sowie die scheinbare Abwesenheit einer Religion im japanischen Erziehungssystems, an dessen Platz die Ethik der Samurai eine vornehme Rolle übernahm. c.) Aber auch die westlichen Wissenschaften bemühen sich um eine Klassifikation des ‚Fremden‘, binden es in ihr Vokabular ein und setzen es mit genau

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denselben Beschreibungsstrategien in terminologische Klassifikationsmodelle. So nehme der ‚Fremdling‘ nur mit einer Nachtherberge vorlieb oder sei aufgrund seiner personalen Nähe und gleichzeitig lokalen Gelöstheit ein Vermittler zwischen den Produkten außerhalb des Eigenen und den Konsumenten innerhalb der bekannten Sphäre. Die auf der dokumentarischen Ebene vorgeführten Weltanschauungen zur ‚Fremdheit‘ ragen als Wissenskulturen in das Werk Tawadas hinein, werden jedoch dann anhand einer Übung im Ortswechsel des Denkens inszeniert und gestatten durch die Distanznahme zu den Voraussetzungen und Bedingungen des eigenen Denkens eine vergleichende, reflexive Haltung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass es innerhalb einer Welt viele Weltbilder gibt. d.) Die Schärfung eines alternativen Blickes auf die eigene Muttersprache führt den Leser zurück in ein unbefangenes, nüchternes und unvoreingenommenes Lesen, das sich den verschiedenen Möglichkeiten der Begriffswahl nicht versperrt, sondern sie vielmehr willkommen heißt. Auf der intentionalen Ebene findet sich die Aussage von Tawada, dass Kategorien wie ‚Tradition‘ oder ‚Moderne‘ keine stabilen Differenzkriterien zwischen Japan und Europa seien. Und es ist die Autorin selbst, die mit diesem Blickwechsel zwischen den Kulturen eine Vorbildrolle übernimmt, womit dann nicht mehr der ‚Ortswechsel‘, sondern ‚Zwei-‘ bzw. ‚Mehrschichtigkeit von Traditionen‘ anzuerkennen ist. e.) Ein großes Desiderat wäre es in diesem Themenfeld, die Fragestellung wissenssoziologisch expandieren zu lassen: Wie stellen sich innerhalb der zeitgenössischen japanischen Wissenschaftskultur die Debatten um ‚Interkulturalität‘ und ‚Fremdheit‘ dar und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die deutschsprachige Selbstverortung in dieser Frage ziehen? Ad. 9.3) Literarische Mehrsprachigkeit und Identität Die mehrsprachige Dimension im Korpus konstruiert ‚Identität‘ einerseits als Konzept auf der dokumentarischen Ebene und andererseits als literarisches Thema auf der objektiven. Diese noch recht nüchterne Darstellung von Identitätskonstruktionen erhält ihre politisch brisante und literarisch motivreiche Komponente durch die konfliktreiche Frage, wer für wen sprechen darf und inwieweit das ‚Eigene‘ eine repräsentative Funktion für das ‚Fremde‘ einnimmt. So wie sich der Schlafende gegenüber dem über ihn sprechenden Wachen nicht behaupten kann, ist Sprachlosigkeit ein Ausweis von Machtlosigkeit, umgekehrt ist die Mehrsprachigkeit am anderen Ende der Skala ein Potenzial, für viele aber auch eine Gefahr. Diese soziale Unterscheidung geht so weit, dass sie die körperlichen, scheinbar biologischen Ausdrucksformen der literarischen Figuren prägen. a.) Tawada entfaltet ein Konzept um ‚Identität‘, das in einem Konflikt steht zwischen dem Selbstverständnis als ‚ich‘ und seiner sozialen Determination in

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Formen wie ‚ore‘, ‚atashi‘, ‚boku‘ oder ‚watashi‘. Dieses Konzept wird verhandelt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum mit weitreichenden Konsequenzen für das eigene Verhalten: Ein Mädchen, das sich selbst mit dem japanischen »boku« identifiziert ist sogar zu sportlichen Höchstleistungen fähig und die sexuelle Zuneigung zu einem Mann hängt je nach Pronomen maßgeblich vom IchKonzept des Partners ab. b.) Die Lektüre zu Das Bad hat gezeigt, dass Mehrsprachigkeit nicht nur ein wissenschaftliches Konzept, sondern vor allem als ein politisch zu erkämpfendes Recht formuliert wird, das mit der leiblichen und somit unmittelbarsten Form von Identität in Berührung kommt. Dies kommt zum Ausdruck, wenn der Deutschlehrer Xander die sprachlich unterlegene Japanerin zur korporalen Spiegelung exotischer Vorstellungen dessen erzieht, was allgemein als weiblich japanisch angesehen wird. Auch der Vergleich einer Dolmetscherin mit einer Prostituierten durch einen japanischen Firmenangestellten zeigt, wie Ängste vor Mehrsprachigkeit in Versuche münden, die von der eigenen Identität abweichende Instanz der Vermittlung in ein Machtverhältnis unterzuordnen. c.) Auf der intentionalen Ebene begründet die Autorin ihre Position eindeutig durch einen künstlerischen Anspruch, nämlich – anders als bei Muttersprachlern der Fall wäre – durch den fremdsprachlichen Gebrauch eine kreative Distanz zur Sprache beizubehalten, welche einen alternativen Blick auf die Welt erlaubt. Nun hat die Schriftstellerin aber auch die durch Konventionen Identitäten normierende Nomenpaar- und Nomen-Verb-Bildung auf der objektiven Ebene als lebensbedrohlich beschrieben und dieser Sinn wird auf der Ebene des Ausdrucks erweitert durch den Kommentar, dass die doppelte Kombination von ‚Frau‘ und ‚Ausländerin‘ auch zu einem doppelten Malus für den gesellschaftlichen Status führt. d.) Die durch Bachtin und die Mehrsprachigkeitsforschung in Frage gestellte Geschlossenheit von monokulturellen und -lingualen Weltentwürfen lebt als Denkkollektiv im literarischen Schaffen Tawadas insofern weiter, als das 1.) Mehrsprachigkeit als gesellschaftliches Konfliktpotenzial inszeniert wird und 2.) die sprachliche Normabweichung eine Verflechtung fremder Stimmen freilegt, womit die mehrheitsfähige Ordnung der Einsprachigkeit als eine oberflächliche Ordnung entlarvt wird. Es kann darüber hinaus festgehalten werden, dass literarische ‚Mehrsprachigkeit‘ bei Tawada in inhaltlicher und formaler Hinsicht einerseits, aber auch in Dimensionen von ‚Zeit‘ und ‚Ort‘ anzutreffen ist. ‚Mehrsprachigkeit‘ ist darüber hinaus an Menschen gebunden. Die letzte, scheinbar banalselbstverständliche Feststellung eröffnet dahingehend Forschungsperspektiven, als Personen in Beziehungsgeflechten – seien es familiäre, autobiographische, berufs- oder bildungsvermittelnde – zu Repräsentanten weltanschaulicher Lebens-

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formen werden, welche die Utopie oder Metapher einer wie im Gedicht Ein Chinesisches Wörterbuch dargestellten ‚Mehrsprachigkeit‘ in die Lebenspraxis umsetzen. Bildungsinstitutionen sind als Wissensträger und -vermittler erste Instanzen, wenn es um die curriculare Einbettung theoriegeleiteter Wissenskonzepte geht. Die pädagogische Einsicht in die Notwendigkeit einer mehrsprachigen Lehrplangestaltung wäre eine weitere anwendungsorientierte Forschungsperspektive. Ad. 9.5) Kultur als Übersetzung Die wohl deutlichste Parallele zwischen Tawada und Benjamin ist der gemeinsame Blick auf das Konzept von ‚Übersetzung‘ als ein kultur- und sprachphilosophisches Programm; einem Medium, dessen Zweck nicht in der »Mitteilung«, sondern im »Ausdruck« des Originals liegt und die Verschiedenheit der Sprachen im Sinne einer Sprachergänzung der Art des »Meinens« zum »Gemeinten« aufrecht. Dieses stark mit Benjamin’schem Vokabular gesprochene Verhältnis setzt sich bei Tawada insofern um, als dass Konvergenzen von Wissen, Fühlen und Sprache einerseits als standortgebunden vorausgesetzt werden, aber dann durch den Übersetzungstransfer neue Horizonte innerhalb des jeweiligen Alteritätsrahmens zu bilden, womit eine Brücke geschlagen wäre zu kulturwissenschaftlichen Paradigmen von ‚Übersetzung‘ als ‚Kultursoziologie‘. Als Ergebnisse hierzu können folgende festgehalten werden: a.) Paradoxerweise wendet sich die Benjamin’sche Auffassung gegen eine Mittlerfunktion von Sprache und erzeugt dabei am praktischen Beispiel Tawadas eine dynamisierte Rolle des übersetzten Objektes als Agens der Erkenntniserweiterung. Dies lässt sich besonders anhand der Ausführungen zu Kotoba to aruku nikki erklären, wenn Worte wie »kreativ« oder »soto« (dt. »draußen«) Einblicke in den jeweiligen kulturell geprägten Erfahrungsraum erlauben. Umgekehrt zeigen Erzählungen wie Wörter, die in der Asche schlafen, dass Schimpfworte im Kontext der hinter ihr stehenden Wissenskultur verstanden und – gerade bei Schimpfwörtern sehr wichtig – authentisch gefühlt werden müssen. Der soziale Kontext der Sprache ist von entscheidender Bedeutung, was die Autorin in Die Ohrenzeugin auch zur Aussage bringt, dass Sprachen nicht beherrscht werden, sondern durch den Sprechenden eine Beziehung zu ihr aufegebaut werde. b.) In Ekusofonī. Bogonosoto e deru tabi eröffnet sich eine formale Möglichkeit anhand ‚interner Mehrsprachigkeit‘ monokulturelle Sichtweisen auf Sprache durch das sekundäre, implizit fremdkultur-gebundene Schreiben zu überdenken. Das Mittel könnte man in die methodische Nähe eines Kommentares rücken. Der Kommentar löst Begriffe wie ‚Raum‘ oder Redewendungen wie ‚Ins neue Jahr

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rutschen‘ aus ihrer weltanschaulichen Tradition und erzeugt durch ihre Einbettung in die japanische Sprache eine Konvergenz verschiedener Denkstile. c.) Inwieweit die Sprachergänzung mit auch einfachen Kunstgriffen auf der Ebene der Form erreicht werden kann, hat die rhythmisierte, sich zwischen Bild und Text abwechselnde Komposition in Schwager in Bordeaux gezeigt. Nicht nur der zwischen den Sprachen wechselnde Pendelschwung ist dabei ausschlaggebend, sondern vor allem auch der intersemiotische, zwischen dem im Ideogramm enthaltenen ikonischen Bildsinn und dem Text. Es handelt sich hierbei um ein ästhetisches Spiel, das gemäß Tawada eine grundsätzliche Schwierigkeit im Übersetzen von japanischen bzw. chinesischen Ideogrammen in europäische Wortlaute darstellt. Diese auf der intentionalen Sinnebene erhobene Behauptung sieht eine Möglichkeit zur Überwindung dieser Problematik im Sprachrhythmus, was aber – möchte man dieser Perspektive mit forschungsrelevanten Desideraten folgen – die Spracherwerbsforschung erst noch verifizieren müsste. d.) Auf der dokumentarischen Ebene werden solche Kontexte sozialwissenschaftlicher Implikationen des Übersetzens in Verbindung gebracht mit dem kulturellen Hintergrund der Sprachgemeinschaft. Bedeutung ist demnach keine rein semantische Angelegenheit mehr, sondern eine pragmatische Einheit. Dies wird oftmals mit der machtausübenden Funktion von Übersetzen in Verbindung gebracht, die im Sinne einer Überdeckung des Gegenstandes immer repräsentativ wirkt und somit auch verschleiern kann. Dies erfordert außerdem eine grundlegende Begriffsarbeit zu der oftmals vermengten und methodisch nicht immer sauber abgrenzbaren Trias von Dialog‚ Komparatistik und Übersetzung. Eine weitere Forschungsperspektive eröffnet sich somit anhand der Frage, inwieweit das Konzept des ‚exophonen Schreibens‘ ein 1.) wesentliches Kriterium der Interkulturellen Literatur darstellt und – wenn dem so wäre – 2.) in welchem Verhältnis dabei kulturpolitische Erwägungen und ästhetisch-immanente Kriterien zueinanderstehen. Ad. 9.7) Migrationsliteratur: Innenansichten und Wahrnehmungen a.) Das diegetische Verhältnis zwischen der in Etüden im Schnee entfalteten Welt und den gesellschaftlichen Debatten um Profil, Finalität und Gattungszuordnungen rund um den Adelbert-von-Chamisso-Preis läuft im sowohl politisch aufgeheizten als auch ästhetisch wirkungsreichen Feld des Zirkus’ und Zoos zusammen. Die machtpolitische Demonstration durch die Bändigung und Zähmung des wilden, scheinbar unkontrollierbaren Fremden manifestiert sich in einem Raum, der eigentlich mit der Normierung des Alltags brechen will. Hierfür gehen Menschen eigentlich in den Zirkus. Das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit durchläuft

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in dieser Inszenierung des Fremden verschiedene Etappen durch von der artistischen Attraktion zur verspielten Darbietung des Knuts. Zwar ist Knut anders als seine Vorfahren vom Regime des Zirkus‘ freigesprochen. Jedoch wird seine scheinbar natürliche Fremdheit dann im Zoo vorgeführt, womit die öffentlich zertifizierte Autonomie auch weiterhin dem Regime der Mehrheit unterworfen bleibt. Knut als Repräsentant der neuen Fremde bleibt die Attraktion einer möglicherweise tierfreundlicheren und ökologisch reflektierteren, aber keineswegs weniger voyeuristischen Öffentlichkeit. Der Roman verhandelt anhand des Raumes in der Kunst die Dialektik zwischen Schließung und Öffnung, obgleich die mitfühlende, humanistische Entgrenzung immer auf begrenzbare Ordnungen angewiesen bleibt. Die zur Schau gestellte Offenheit der Mehrheitsgesellschaft schließt die inszenierte Infantilisierung des Fremden mit ein. b.) Inwieweit nun Parallelen zwischen dem Roman und der literarischen Öffentlichkeit gezogen werden dürfen, ist natürlich fraglich und bliebe auf der Ebene dieser Forschungsarbeit rein spekulative Polemik. Keineswegs fraglich ist jedoch die Erkenntnis, dass der Roman als ein historischer Zeitzeugenbericht gelesen werden darf zu den aktuell geführten Debatten um ‚Migrationsliteratur‘ und literaturfördernden Institutionen wie z.B. den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Es handelt sich um ein Ringen der Weltanschauungen um wahrheitsfähige Konzepte, wobei auf der intentionalen Ebene der Anspruch der Literaturproduktion erhoben wird, eine Literatur zu vertreten, die den qualitativen Sprung vom Leib des Schriftstellers zu seiner Feder mit jedem Werk betont. Mit Blick auf Yōko Tawada jedoch bleibt für die deutschsprachige Literaturkritik das partiell notwendige Kriterium der Migrationserfahrung beibehalten. c.) Ein weiteres großes Desiderat ist es, auf diesen deutschsprachigen Rezensionen aufbauend nun die japanischen anhand ähnlicher Kriterien zu dokumentieren und auszuwerten. Es verdichtet sich bereits im ‚Überfliegen‘ des WorldWideWeb der Verdacht, dass die Weltanschauung auf der japanischen Seite ähnlich, wenn nicht gar spiegelverkehrt verläuft: Die Redaktion der Kōbunsha Classics1 begleitet die Schriftstellerin zu einer Fachtagung an der Universität Tōkyō mit dem Titel 世界は文学でできている/母語の外に出る旅 (dt. Aus Literatur gemachte Welten/ Aus der Muttersprache führende Reisen). Die Verwebung der deutschen und japanischen Sprache bei Tawada wird hierbei zum Beweis erhoben, wie Literatur grenzüberschreitend neue Perspektiven auf Weltenentwürfe

1

Red. (2013): Ein Gespräch zwischen Mitsuyoshi Numano und Yōko Tawada an der Universität von Tōkyō. Kōbunsha Classics. Online verfügbar unter http://www.kotensinyaku.jp/archives/2013/03/006136.html, zuletzt geprüft am 10.02.2016.

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erlaubt, was die Autorin wiederum selbst zu einer »einzigartigen« Vertreterin einer Welt von vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten mache2. Das Motiv des Reisens und der Mehrsprachigkeit als Erweiterung der literarischen Stoff- und Ausdruckswahl findet sich auch in der akademischen Literaturempfehlung wieder3. Auch auf der Ebene der Stilistik werden der deutschen Wahrnehmung entsprechend, »Seelenwanderungen«4 von Wörtern beschrieben, die sich »flockig und weich« wie Wolken auf Wanderschaft begeben. Darüber hinaus verbindet Tawada mit ihrer Mehrsprachigkeit und Mobilität verschiedene Denktraditionen im Umgang mit Kunst. So weist Matsunaga darauf hin, dass es im deutschsprachigen Raum eine lange und weit verbreitete Tradition im Vorlesen von Literatur gibt, womit die Grenzen zwischen Literatur und Performance oftmals verschwimmen. Die Stimme wird somit zu einem wichtigen Organ der Literatur und gestattet den Künstlern, anders als in Japan, ein breites Forum der Selbstinszenierung5. Nun aber erreicht die Diskussion um Tawadas Sprachkunst eine neue Komponente. Seit dem Erscheinen der Dystopie Kentōshi6 zeichnen die Rezensenten in Japan vermehrt das Bild einer weniger sprachverspielt-romantischen, sondern gesellschaftskritischen Schriftstellerin. Die im Roman enthaltene Schilderung eines nach einer Erdbebenkatastrophe isolierten Japans, in dem weder Internet noch der mehrsprachige Kontakt zur Außenwelt erlaubt ist, weckt natürlich Erinnerungen an die Dreifachkatastrophe in Fukushima vom 11. März 2011. Noch verzerrter, aber keineswegs realitätsfern sorgt der Roman dahingehend für Diskussionen, dass in der fiktiven Welt nun die alten Menschen sich um köperlich schwächelnde, zum selbstständigen Überleben nicht befähigte Kinder und Jugendliche kümmern

2

Vgl. Red. (2016): Buch- und Musikempfehlungen. DoitsuNewsDigest. Online verfügbar

unter

http://www.newsdigest.de/newsde/entertainment/book-cd-review/703-

678.html, zuletzt geprüft am 10.02.2016. 3

Red. (2009): Lesestoff für den Sommer. Tawada Yōko. Universität Kyoto, Universitätspresse. Online verfügbar unter http://www.kyoto-up.org/archives/772, zuletzt geprüft am 10.02.2016.

4

Red. (2012): Wolken packende Gespräche. Yōko Tawada. Nihon Keizai Shinbun. Online

verfügbar

unter

http://www.nikkei.com/article/DGXDZO42407580Z00C12

A6MZB001/, zuletzt geprüft am 10.02.2016. 5

Miho, Matsunaga (2016): Über Performance und Workshop. Yomiuri Online. Online verfügbar unter http://www.yomiuri.co.jp/adv/wol/culture/130116.html, zuletzt geprüft am 10.02.2016.

6

Tawada, Yōko (2014): Kentōshi. Tōkyō: Kōdansha.

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müssen, womit das zweite große, in Japan an Brisanz nicht arme Diskursfeld der Generationenfrage und Demographieentwicklung eröffnet wird7. d.) Wenn im Mittelpunkt interkultureller Literatur Preistatuten und wissenschaftliche Diskussionen den die deutsche Sprache bereichernden »Kulturwechsel« betonen und man sich aber gleichzeitig die Bildungsgeschichte der Autorinnen und Autoren vor Augen führt, deren Schaffen nach Ansicht der literarischen Rezeption nachwievor biographisch geleitet ist, entsteht eine gewisse Deutungsreibung. Es ist ein produktiver Konflikt, der die vielstimmigen Blickrichtungen auf den Adelbert-von-Chamisso-Preis deutlich macht und die literarische Grenzüberschreitung sowie die Konfrontation mit kultureller Fremdheit je nach Autor in ein anderes Licht rücken lässt. Umso wichtiger ist es, in weiterführenden Forschungsprojekten zu literarischen Fremdheitsinszenierungen möglichst alle quellenbindenden Perspektiven zu berücksichtigen, die zur Konstruktion des historischen Archivs beitragen. Es sollte der Rechnung getragen werden, sowohl das Gemeinte als auch das aus der Quelle Gesagte zu dokumentieren. Im Kaleidoskop konkurrierender Ideen bleibt der ungarische Krug zersprengt und seine hundert Scherben auf der ganzen Welt zerstreut. Die relative Einsicht in Karl Mannheims Arbeiten drückt sich durch diese Metapher der partiellen Geworfenheit von Erkenntnis aus; die relationale Innovation in den Ausführungen zur Weltanschhauungs-Interpretation begründet sich durch die bewusste Gegenüberstellung von gesellschaftlich-empirisch messbaren und hermeneutisch erfassbaren inneren Erlebniswelten.

7

Red. (2014): Kentōshi. Neuveröffentlichung von Yoko Tawada. Online verfügbar unter http://www.sankei.com/life/news/141112/lif1411120015-n3.html, zuletzt aktualisiert am 10.02.2016.

11. Abbildungen

Abbildung 1 Francesco Maffei (1650): Judith mit dem Haupt des Holofernes. Faenza: Pinacoteca.

Quelle: https://www.pinterest.de/pin/539517230335197268/, zuletzt geprüft am 14.07.2017

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Abbildung 2 Giotto di Bondone (1304-1306): Die Gefangennahme Christi. Padua: Arenakapelle. Einmal ohne und mit Schräglinie.

Quelle: https://www.kunstgeschichte-in-einzelwerken.de/die-buchreihe/blog-archivlekt%C3%BCre-blog/max-imdahl-ikonik-giottos-fresken-in-padua/, zuletzt geprüft am 14.7.2017.

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Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

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Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

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Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

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