Glauben, Handeln, Verstehen: Studien zur Auslegung des Neuen Testaments. Band II 9783161516832, 9783161518607, 3161516834

In den in diesem Band enthaltenen vierzehn Studien fragt Andreas Lindemann nach dem Verhältnis des Urchristentums zu Isr

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Table of contents :
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Widmung
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I Israel – Jesus – Paulus
Einleitung
Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche. Historische Beobachtungen am Neuen Testament
I. Jesus als »Prophet« der nahen Gottesherrschaft
II. Die Anfänge der »Kirche«
III. Jesus als der von Gott auferweckte Kyrios
IV. Die »Gemeinde aus Juden und Heiden«
V. Paulus als Apostel für »alle Völker«
VI. Jesus aus Nazareth als der Christus Gottes
VII. Folgerungen
Paulus – Pharisäer und Apostel
I. Historische Nachrichten über die Pharisäer
II. Paulus als Pharisäer
III. Zum Verständnis der »Gerechtigkeit« bei Paulus und in den Psalmen Salomos
IV. Paulus, der Apostel Jesu Christi
V. Ein Ergebnis
Paulus und die Jesustradition
I. Zur Forschungsgeschichte
II. Erwägungen zu einer möglichen persönlichen Beziehung zwischen Paulus und Jesus
III. Hinweise auf den irdischen Jesus in den paulinischen Briefen:
1. Die Funktion der »Herrenworte« im Ersten Korintherbrief
2. Mögliche Anspielungen auf »Herrenworte«
3. Erzählende Jesusüberlieferung bei Paulus
3. Ergebnis
IV. Mögliche Wege von Jesus zu Paulus
1. Beobachtungen in den paulinischen Briefen
2. Erwägungen hinsichtlich der Darstellung in der Apostelgeschichte
V. Zur historischen Frage nach dem Ausgangspunkt der Jesustradition
VI. Zur historischen und theologischen Relevanz der Fragestellung
Jesus als ›der Kyrios‹ bei Paulus und bei Lukas. Erwägungen zum Verhältnis von Bekenntnis und historischer Erkenntnis in der neutestamentlichen Christologie
I. Die historische Frage nach Jesus
II. Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu im Neuen Testament
1. Das Bekenntnis zu Jesus als dem (хύριος) bei Paulus in Röm 10,9
2. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus bei Lukas
3. Ein Zwischenergebnis
III. Zum historischen und theologischen Problem neutestamentlicher Christologie
Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament
I. ›Israel‹ in der lukanischen Apostelgeschichte
II. ›Israel‹ bei Paulus
III. ›Israel‹ in den Evangelien, im Epheserbrief und im Hebräerbrief
IV. Das ›Land Israel‹ in der jüdischen Tradition und im Neuen Testament
V. Zusammenfassung
II Aspekte neutestamentlicher Ethik
Einleitung
»… und trieb alle aus dem Tempel hinaus« (Joh 2,15). Gewalt und Gewaltlosigkeit im Jesusbild der Evangelien
I. Problemanzeige
II. Markusevangelium
III. Lukasevangelium
IV. Matthäusevangelium
V. Johannesevangelium
VI. Zusammenfassung
»Juden, Griechen und die Kirche Gottes«. Die paulinische Ekklesiologie und die Lebenswirklichkeit der εххλησία in Korinth
Vorbemerkungen
I. Methodologische Überlegungen zum Umgang mit den Quellen
II. Die Lebenswirklichkeit der Kirche in Korinth
1. Juden und »Griechen«
2. Soziale Schichtung
III. »Christen« und »Heiden« in Korinth
IV. Die Argumentationsrichtung der Korintherbriefe im ganzen
1. Der Erste Korintherbrief
2. Der Zweite Korintherbrief
V. Zusammenfassung
Hilfe für die Armen. Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als »diakonisches Unternehmen«
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
»Du sollst ein Kind nicht im Leib der Mutter töten«. Schwangerschaftsabbruch als ethisches Problem im antiken Judentum und im frühen Christentum
I.
II.
III.
IV.
V.
III Studien zur Auslegungs- und Theologiegeschichte
Einleitung
Eigentum und Reich Gottes. Die Erzählung »Jesus und der Reiche« im Neuen Testament und bei Klemens von Alexandria
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
»… erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt«. Zum Verständnis der Prädestination im Römerbrief, im Epheserbrief und bei Johannes Calvin
I. Biblische Bezüge in Calvins Entfaltung der Prädestinationslehre
II. Exegetische Hinweise zu Röm 8,28–30 und Röm 9–11 sowie zu Eph 1,4
III. Paulus, der Epheserbrief und Calvin
Johannes Calvin als Exeget
I. Zu Calvins Biographie
II. Zu Calvins Hermeneutik nach der ›Institutio‹
III. Beispiele für Calvins Exegese
1. Zur Exegese neutestamentlicher Schriften
2. Zur Exegese alttestamentlicher Schriften
IV. Zusammenfassende Anmerkungen zu Calvins Schriftauslegung
Zur neutestamentlichen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Von der Tübinger Schule bis zu Rudolf Bultmann und in die Gegenwart
Vorbemerkung
I. Neutestamentliche Wissenschaft bis Ferdinand Christian Baur
II. Ferdinand Christian Baur: Historie und Theologie
III. William Wrede: Neutestamentliche Theologie und urchristliche Religionsgeschichte
IV. Rudolf Bultmann: Theologische Exegese des Neuen Testaments
V. Aspekte der gegenwärtigen Diskussion zur »Theologie des Neuen Testaments«
VI. Zusammenfassung und Ausblick
Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozialismus: Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Register
Stellen
1. Altes Testament
2. Jüdische Schriften außerhalb des Alten Testaments
3. Jüdisch-hellenistische Literatur
4. Neues Testament
5. Altkirchliche Literatur
Autoren
Sachen und Themen
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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)

282

Andreas Lindemann

Glauben, Handeln, Verstehen Studien zur Auslegung des Neuen Testaments – Band II

Mohr Siebeck

Andreas Lindemann, geboren 1943 in Leer (Ostfriesland); Studium der Ev. Theologie in Tübingen und Göttingen; 1973/1974 Vikariat; 1975 Promotion; 1977 Habilitation; 1978–2009 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel; seit 2009 im Ruhestand. Seit 2007 Direktor der Evangelischen Forschungsakademie; seit 2008 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

e-ISBN PDF 978-3-16-151860-7 ISBN 978-3-16-151683-2 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http: / /dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Stempel Garamond und der OdysseaU gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Für Erdmute

Vorwort Welche Bedeutung hat die wissenschaftliche Auslegung der neutestamentlichen Texte? Geht es nur darum, die Schriften eines antiken Textcorpus, das in der Weltgeschichte freilich große Wirkung entfaltet hat, als historische Dokumente der Vergangenheit zu lesen und zu verstehen? Oder ist die Auslegung des Neuen Testaments ein primär textwissenschaftliches Unternehmen, so dass diese Schriften bzw. das Neue Testament als ganzes in erster Linie als »Literatur« zu beschreiben wären, weithin unabhängig vom Inhalt? Der den hier vorliegenden Studien zugrunde liegende Ansatz versteht die Arbeit der neutestamentlichen Wissenschaft als Teil der christlichen Theologie – Theologie verstanden als wissenschaftlich verantwortete Rede vom christlichen Bekenntnis, das von Gott spricht. Die neutestamentlichen Texte sind diejenigen Dokumente, in denen dieses Bekenntnis ursprünglich bezeugt ist. Zugleich wird die Beziehung der neutestamentlichen Texte zur gegenwärtig existierenden Kirche mitbedacht, und insofern ist Exegese eine »kirchliche Wissenschaft« – natürlich nicht in dem Sinne, dass sie sich die Inhalte oder gar die Ergebnisse ihres Arbeitens von kirchlichen Instanzen vorgegeben sein ließe, wohl aber in dem Sinne, dass sie den unmittelbaren Bezug ihrer Texte zur gegenwärtigen Kirche erkennt und beachtet. Die vierzehn Aufsätze in diesem Band beziehen sich auf unterschiedliche Arbeits- und Themenfelder, die mir wichtig sind. Die fünf Beiträge des ersten Kapitels verdanken sich dem jüdisch-christlichen Dialog; ich versuche, neutestamentliche Aspekte in das Gespräch einzubringen, ohne an falschen Positionen festzuhalten oder umgekehrt aus vermeintlich aktuell notwendigen Gründen vielleicht Wünschenswertes ins Neue Testament zurückzuverlegen. Die vier Beiträge des zweiten Kapitels wenden sich unterschiedlichen Aspekten und Positionen neutestamentlicher Ethik zu, die nach wie vor grundsätzlich bedeutsam sind  – vom Problem womöglich religiös motivierter Gewaltanwendung über die Stellung der Kirche in einer säkularen Gesellschaft bis zur Frage nach dem Schutz des werdenden Lebens. Die fünf Studien im dritten Kapitel schließlich gehen auf Aspekte der Auslegungs- und Theologiegeschichte ein  – beginnend bei Klemens’ Exegese der Erzählung vom »reichen Jüngling« über Aspekte der Schriftauslegung Calvins bis zur Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert.

VIII

Vorwort

Die Studien, entstanden in den Jahren 1987 bis 2011, verdanken sich vielfach der Mitarbeit in kirchlichen Gremien oder gehen auf Einladungen zu Vorträgen und zur Mitarbeit an Festschriften zurück. Für die vorliegende Veröffentlichung habe ich sie sämtlich vollständig überarbeitet und dabei insbesondere die Auseinandersetzung mit der Forschung weitergeführt. Der Erscheinungsort der jeweils ursprünglichen Fassung ist in den Einleitungen zu den drei Kapiteln bibliographisch vollständig genannt. Herr Kollege Jörg Frey (Zürich) war dazu bereit, auch diese Studien ebenso wie schon den im Jahre 2009 erschienenen Band »Die Evangelien und die Apostelgeschichte« in die von ihm herausgebene Reihe aufzunehmen; ihm und auch Dr. Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck danke ich dafür herzlich. Mein Freund und Kollege David du Toit (München) hat mich auch diesmal bei der Auswahl kritisch beraten, wofür ich ihm ganz besonders dankbar bin. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Mohr Siebeck danke ich für die – mir seit langem vertraute – gute Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt dabei auch an dieser Stelle Frau Tanja Idler, die mit großer Sorgfalt und Geduld für die Herstellung des Buches Sorge trug. Herrn Martin Fischer danke ich für die umsichtige Arbeit beim Satz des Buches. Gewidmet ist der Band meiner Frau. Bethel, im Oktober 2011

Andreas Lindemann

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

I Israel – Jesus – Paulus Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche. Historische Beobachtungen am Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . .

4

Paulus – Pharisäer und Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Paulus und die Jesustradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Jesus als ›der Kyrios‹ bei Paulus und bei Lukas. Erwägungen zum Verhältnis von Bekenntnis und historischer Erkenntnis in der neutestamentlichen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

II Aspekte neutestamentlicher Ethik Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 »… und trieb alle aus dem Tempel hinaus« (Joh 2,15). Gewalt und Gewaltlosigkeit im Jesusbild der Evangelien . . . . . . . . . . . 194 »Juden, Griechen und die Kirche Gottes«. Die paulinische Ekklesiologie und die Lebenswirklichkeit der őĔĔĕđĝưċ in Korinth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

X

Inhaltsverzeichnis

Hilfe für die Armen. Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als »diakonisches Unternehmen«

253

»Du sollst ein Kind nicht im Leib der Mutter töten«. Schwangerschaftsabbruch als ethisches Problem im antiken Judentum und im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

III Studien zur Auslegungs- und Theologiegeschichte Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Eigentum und Reich Gottes. Die Erzählung »Jesus und der Reiche« im Neuen Testament und bei Klemens von Alexandria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 »… erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt«. Zum Verständnis der Prädestination im Römerbrief, im Epheserbrief und bei Johannes Calvin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Johannes Calvin als Exeget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Zur neutestamentlichen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Von der Tübinger Schule bis zu Rudolf Bultmann und in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozialismus: Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg . . . . . . . . . . . . . . . 450

Register Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Sachen und Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

I Israel – Jesus – Paulus

Einleitung Die fünf in diesem Kapitel enthaltenen Aufsätze verdanken sich dem jüdisch-christlichen Dialog und dabei vor allem auch dem innerhalb der Kirche auf unterschiedlichen Ebenen geführten Gespräch zum Thema »Kirche und Israel«. In den Beiträgen wird versucht, neutestamentliche Aspekte in dieses Gespräch einzubringen, ohne dass an offensichtlich überholten bzw. falschen Positionen festgehalten wird; aber es soll auch vermieden werden, aus aktuellen theologischen Gründen für wünschenswert gehaltene Positionen ohne Textbasis im Neuen Testament wiederzufinden. Der Aufsatz Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche. Historische Beobachtungen am Neuen Testament geht zurück auf einen Vortrag, den ich auf Einladung der Herausgeber der Zeitschrift »Evangelische Theologie« während einer Tagung dieses Kreises im Mai 1994 in Erfurt hielt. Anlaß für diese Tagung unter dem Thema »Jesus Christus – das Verbindende und Trennende zwischen Judentum und Christen« war eine Kontroverse, die in den Jahren 1991 und 1992 in Beiträgen in der »Evangelischen Theologie« ausgetragen worden war. Ernst Käsemann und Helmut Traub hatten in scharfem Widerspruch gegen eine Aussage von Jürgen Seim betont, dass Jesus Christus nicht eine, sondern die einzige Offenbarung Gottes ist. Es ging in Erfurt »um die christlich-theologische Frage, was Grundlage christlicher Identität sei.«1 Der Vortrag wurde nicht zuletzt auf Grund der sich anschließenden Diskussion überarbeitet und im folgenden Jahr veröffentlicht.2 Für den vorliegenden Band wurde der Aufsatz grundlegend bearbeitet und erweitert. Den ersten Anstoß zu dem Aufsatz Paulus – Pharisäer und Apostel verdankte ich der Einladung zu einer Tagung der Evangelischen Akademikerschaft in Bielefeld, deren Thema das Verhältnis von Juden und Christen war; ich war gebeten worden, die Problematik anhand der Person des Paulus darzustellen. In erheblich veränderter Fassung wurde der Beitrag dann an1 So U. Luz, Zu diesem Heft, EvTh 55 (1995) 1. Angaben zu den betreffenden Aussagen von Seim, Käsemann und Traub ebd. 2 Der Aufsatz erschien unter dem jetzt beibehaltenen Titel in: EvTh 55 (1995) 28–49. Alle während jener Tagung gehaltenen Vorträge sind in diesem Heft dokumentiert (aaO., 1–102), dazu O. Wassmuth, Konsens, Dissens und offene Fragen. Zum Diskussionsstand nach der Erfurter Tagung der »Evangelischen Theologie«, aaO., 102–107.

2

I Israel – Jesus – Paulus

läßlich der Festveranstaltung zum 70. Geburtstag von Jürgen Becker in Kiel vorgetragen und in dem dazu dann erschienenen Sammelband veröffentlicht.3 Für den jetzt vorliegenden Band wurde der Text abermals vollständig überarbeitet und nicht zuletzt auch durch die Diskussion mit neuerer Literatur ergänzt. Der Aufsatz Paulus und die Jesustradition geht zurück auf ein Referat, das ich im Rahmen des von Ithamar Gruenwald und Petr Pokorný geleiteten SNTS-Seminars »Shaping Traditions about Jesus« unter dem Titel »JesusTraditionen in den paulinischen Briefen« während der 62. Jahrestagung der SNTS in Sibiu / Hermannstadt 2007 zur Diskussion gestellt habe. Dieser Vortrag wurde für die Henk Jan de Jonge (Leiden) zum 65. Geburtstag gewidmete Festschrift zu einem größeren Aufsatz erweitert.4 Für den vorliegenden Band wurde der ganze Aufsatz kritisch durchgesehen und durch neuere Literatur ergänzt. Der Beitrag Jesus als ›der Kyrios‹ bei Paulus und Lukas. Erwägungen zum Verhältnis von Bekenntnis und historischer Erkenntnis in der neutestamentlichen Christologie geht zurück auf die Einladung zu der Januartagung 2001 der Evangelischen Forschungsakademie, die unter dem Thema »Jesus Christus als Grund und Maß des christlichen Glaubens im 3. Jahrtausend« stand. Der Vortrag trug den Titel »Die Erkenntnis- und Bekenntnisstruktur der neutestamentlichen Christologie«.5 In überarbeiteter Form wurde mein Vortrag in den von Jens Schröter und Ralph Brucker herausgegebenen Sammelband »Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung« aufgenommen6; die jetzt vorliegende Fassung bietet einen vollständig überarbeiteten und durch neuere Literatur ergänzten Text. Die Studie Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament geht zum einen zurück auf ein Referat, das ich im Jahre 1997 im Rahmen der Lehrgespräche »Kirche und Israel« in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE; bis 2002: Leuenberger Kirchengemeinschaft) zur Diskussion gestellt habe.7 Er verdankt sich zum andern der Arbeit in dem »Gemeinsamen 3 Paulus  – Pharisäer und Apostel, in: D. Sänger / U. Mell (Hgg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Literatur und Theologie, WUNT 198, Mohr Siebeck, Tübingen 2006, 311–351. 4 Paulus und die Jesustradition, in: R. Buitenwerf/H. W. Hollander/J. Tromp (eds), Jesus, Paul, and Early Christianity. Studies in Honour of Henk Jan de Jonge, Supplements to Novum Testamentum 130, Brill, Leiden / Boston 2008, 281–316. 5 Während der Tagung wurden insgesamt sieben Vorträge aus den Bereichen Kunstgeschichte, Ethik, Politik und Medien gehalten; gesondert veröffentlicht wurde der Beitrag der in Katowice tätigen Kunsthistorikerin Ewa Chojecka, Christusbilder als Spiegel des 20. Jahrhunderts, Evangelische Forschungsakademie Berlin 2001 (48 S.). 6 BZNW 114, Berlin 2002, 429–461. J. Schröter hielt auf der oben erwähnten Tagung einen Vortrag unter dem Thema »Der historische Jesus – eine kritische Bestandsaufnahme«. 7 Das Ergebnis der Arbeit der Lehrgesprächsgruppe wurde nach umfangreichen innerkirchlichen Diskussionen bei der Vollversammlung der GEKE im Sommer 2001 in Belfast

Einleitung

3

Ausschuss ›Kirche und Judentum‹ der EKD, der VELKD und der UEK« an einem Votum zu der Frage, ob der besonderen Rolle des ›Landes‹ für Israel in der christlichen Theologie unmittelbare Bedeutung zukommt; kirchliche Erklärungen zum Thema »Kirche und Israel« weisen in der Regel auf die besondere Problematik hin, treffen aber keine Entscheidung. Im Rahmen der Vorbereitung des Votums wurde mir das Gewicht der Frage für das in neutestamentlichen Texten sichtbare Israelverständnis deutlich. Der im Rahmen der erwähnten Leuenberger Lehrgespräche entstandene Vortrag wurde unter dem Titel »Israel im Neuen Testament« in veränderter Form im Juni 1998 vor der Theologischen Fakultät Paderborn im Rahmen des regelmäßigen Vorlesungsaustauschs zwischen Bethel und Paderborn als Gastvorlesung vorgetragen und dann veröffentlicht.8 Die im Zusammenhang der Arbeit im Ausschuß »Kirche und Judentum« gewonnenen Einsichten sind Bestandteil des jetzt vorliegenden, umfassend neu formulierten Aufsatzes geworden.

einstimmig verabschiedet. Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden. Church and Israel. A Contribution from the Reformation Churches in Europe to the Relationship between Christians and Jews, hg. von H. Schwier, Leuenberger Texte 6, Frankfurt am Main 2001. Dankbar erinnere ich mich der intensiven Mitarbeit der 2008 verstorbenen Jerusalemer Professorin Dr. Chana Safrai, die mir viele Einsichten und historische Informationen vermittelte. 8 WuD 25 (1999) 167–192. Meinem Betheler Kollegen Hans-Peter Stähli danke ich auch an dieser Stelle für zahlreiche Gespräche und insbesondere auch für einige gemeinsame Lehrveranstaltungen zum antiken Judentum, die mir wesentlich geholfen haben, Eigenart und Vielfalt jüdischen Denkens zu erkennen und besser zu verstehen.

Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche Historische Beobachtungen am Neuen Testament Die christliche Kirche beruft sich auf Jesus von Nazareth, d.h. sie gewinnt von ihm her ihre Identität. Dabei weiß die Kirche, dass Jesus kein »Christ« war und dass er auch nicht beabsichtigte, die christliche Kirche oder auch nur eine ähnliche Gruppe zu schaffen1; Jesus war kein Religionsstifter. Der aus Galiläa stammende und, soweit wir wissen, überwiegend dort lebende Jesus war Jude, und nichts deutet darauf hin, dass er sein Judesein jemals in Frage gestellt hätte. Gleichwohl nahm Jesus – nach allem, was wir historisch erkennen können – innerhalb des palästinischen Judentums seiner Zeit in gewisser Weise durchaus eine Sonderstellung ein, vergleichbar vielleicht mit der Johannes des Täufers. Jesus verstand sich offenbar – zumindest in dem Abschnitt seines Lebens, den wir historisch einigermaßen deutlich zu erkennen vermögen – als ein Mensch, der die Vollmacht besaß, verbindlich von Gott und insbesondere von Gottes kommender Herrschaft sprechen zu dürfen. Möglicherweise ist es deshalb zulässig, Jesus als einen Propheten zu bezeichnen2, sofern man nicht darauf verzichten will, ihn mit einem »Etikett« zu versehen.3 1

Es genügt, hier auf die lapidare Feststellung Bultmanns zu verweisen, dass Jesu Verkündigung »zu den Voraussetzungen der Theologie des NT« gehört und nicht ein Teil dieser selbst ist; R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41961, 1. Vgl. dazu die Hinweise in meinem Aufsatz: Zur neutestamentlichen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Von der Tübinger Schule bis zu Rudolf Bultmann und in die Gegenwart (s. S. 411–449, hier: 432). 2 Es kommt bei dieser Erwägung nicht darauf an, ob sich bei Jesus der Gebrauch des Wortes ĚěęĠƮĞđĜ bzw. eines semitischen Äquivalents bezogen auf seine eigene Person historisch zuverlässig belegen läßt oder nicht. 3 Immer wieder diskutiert wird die Frage, ob Jesus sich als »der Menschensohn« verstanden hat. Auch im Falle der Bejahung dieser Frage bliebe aber zu klären, in welchem Sinne er diese Bezeichnung dann als Bezeichnung für seine eigene Person gebraucht hätte. Kritisch dazu A. Vögtle, Die »Gretchenfrage« des Menschensohnproblems. Bilanz und Perspektive (QD 152), Freiburg usw. 1994. Chr. M. Tuckett, The Son of Man and Daniel 7: Q and Jesus, in: A. Lindemann (ed.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 371–394 nimmt an, dass es sich um eine Selbstbezeichnung Jesu gehandelt haben könnte, mit der er zum einen einfach das »Ich« ausgesagen konnte, das aber zum andern im Licht von Dan 7 einen besonderen Akzent erhielt: »In doing so he may then have been giving expression to his conviction that he, like others before him,

Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche

5

I. Jesus als »Prophet« der nahen Gottesherrschaft Fragen wir historisch danach, was Jesus, abseits aller späteren »Übermalungen« durch die christliche Überlieferung, tatsächlich predigte, so ist vorab ein methodischer Hinweis nach wie vor unumgänglich: Als mit hoher Wahrscheinlichkeit authentisch »jesuanische« Verkündigung kann zunächst einmal nur gelten, was zum einen nicht ohne weiteres mit Aussagen im zeitgenössischen Judentum übereinstimmt und zum andern nicht als Lehre des nachösterlichen Christentums zu erklären ist.4 Während der zweite Teil dieses methodischen Prinzips unmittelbar einleuchtend ist, wird gegen die zuerst genannte Feststellung eingewandt, damit werde Jesu Stellung von vornherein als am Rande oder sogar jenseits des Judentums stehend definiert; die Feststellung, dass Jesus Jude war, werde in Wahrheit faktisch nicht ernstgenommen. In der Tat wäre es unsachgemäß, ausschließlich nach solchen Jesusworten zu suchen, die sonst im Judentum nicht belegt sind, und hieraus allein dann Jesu Selbstverständnis und Jesu Lehre zu rekonstruieren. Dieses – freilich so auch von niemandem angewandte5 – Verfahren würde zweifellos in Apologetik bzw. Polemik führen; denn einerseits würde eine historisch so nicht belegbare Unvergleichlichkeit des Auftretens Jesu behauptet, und andererseits wäre die Breite und Vielfalt im Denken des Judentums der hellenistisch-römischen Zeit, auch in Palästina, nicht erkannt.6 Dennoch ist der als »Differenzkriterium« bezeichnete methodische Grundsatz als Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion von Leben und Lehre Jesu unverzichtbar, weil andernfalls jede methodisch kontrollierbare Basis für eine solche Rekonstruktion fehlen würde.7 Die Aufgabe besteht ja darin, was detined to suffer rejection, hostility and violence because if his commitment to God, but that he would be subsequently vindicated in the heavenly court« (394). U. B. Müller, Jesus als »der Menschensohn«, in: D. Sänger (Hg.), Gottessohn und Menschensohn. Exegetische Studien zu zwei Paradigmen biblischer Intertextualität, BThSt 67, NeukirchenVluyn 2004, 91–129. Auch Müller nimmt an, dass »Menschensohn« kein geprägter Titel war; die Gemeinde übernahm eine für Jesus charakteristische Selbstbezeichnung und konnte »alsbald sehr unterschiedliche christologische Inhalte mit ihr verbinden, weil sie inhaltlich wenig vorgeprägt war« (129). Vgl. auch J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Biblische Gestalten 15, Leipzig 2006, 244–254. 4 Vgl. dazu F. Hahn, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus (QD 63), Freiburg usw. 1974, 11–77, insbesondere 33 f., außerdem D. Lührmann, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J. Dupont (Hg.), Jésus aux origines de la christologie (BEThL 40), Leuven 1975, 59–72. 5 Vgl. dazu A. Lindemann, Zur Einführung: Die Frage nach dem historischen Jesus als historisches und theologisches Problem, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 1–21. 6 Vgl. etwa J. Neusner, Judentum in frühchristlicher Zeit, Stuttgart 1988, 31 f. 7 S. dazu die klaren Ausführungen von J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin 1996, 17–20.

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I Israel – Jesus – Paulus

das innerhalb der ausschließlich christlichen Jesus-Überlieferung mit einiger Sicherheit als »authentisch« anzusehende Material zu identifizieren und die Geschichte Jesu innerhalb des Judentums seiner Zeit so weit wie möglich historisch verständlich zu machen. Die Forderung, dabei zunächst auf wahrnehmbare Differenzen insbesondere auch zum Judentum zu achten, verdankt sich nicht dem Wunsch, Jesus vom übrigen Judentum zu trennen, sondern dahinter steht die Erkenntnis, dass allgemein-jüdische Aussagen im Bereich von theologischer Lehre und Ethik eben auch von der nachösterlichen christlichen Gemeinde rezipiert bzw. richtiger: selbstverständlich weiter tradiert wurden, insofern die ersten »Christen« ja ebenso wie Jesus selber Juden waren und dies auch bleiben wollten. Aus diesem Grund kann der Zugang zur authentischen Predigt Jesu nicht dort beginnen, wo seine Verkündigung mit der des übrigen Judentum übereinstimmt, sondern er muß dort einsetzen, wo Differenzen sichtbar sind. Gerd Theißen und Dagmar Winter haben in ihrer Untersuchung zur Kriterienfrage in der Jesusforschung das »Plausibilitätskriterium« in die Debatte eingeführt; methodische Basis seien »nicht allein Unterschiede und Differenzen zum Judentum und Urchristentum«, sondern »ihr historisch ›plausibler‹ Zusammenhang, der sowohl Kontinuität wie Diskontinuität, Analogie wie Differenz, Übereinstimmung wie Gegensatz umfassen kann«.8 In einer Zusammenfassung ihrer Kritik am Differenzkriterium stellen Theißen und Winter u.a. fest, dieses Kriterium konfligiere per se »mit der Doppelforderung nach einer geschichtlichen Einordnung Jesu in das Judentum und nach einer wirkungsgeschichtlichen Einordnung an den Beginn des Christentums«9; aber das ist m. E. ein Mißverständnis, denn die geforderte »Einordnung« setzt doch voraus, dass zunächst einmal diejenige Person »identifiziert« werden muß, um deren »Einordnung« es geht. Der kritisierte Begriff der »Einzigartigkeit« impliziert nicht den Aspekt der Überlegenheit oder Unableitbarkeit, sondern gefragt wird einfach nach unverwechselbaren Eigenschaften, die eine historische Person überhaupt erst als solche erkennbar machen.10 Es ist eine Verzeichnung des methodischen Ansatzes des »Differenzkriteriums«, wenn Theißen und Winter vom »zweiseitigen Differenzkriterium« sprechen und dann übergangslos einfügen: »mit einer einseitigen Abgrenzung Jesu zum Judentum hin«.11 Im übrigen nennen Theißen und Winter eine »Tendenzwidrigkeit« als ersten Aspekt historischer »Wirkungsplausibilität«, womit der Widerspruch zum Differenzkriterium bereits deutlich relativiert wird.12 8 G. Theissen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg/Schweiz und Göttingen 1997, 27. 9 Theissen / Winter, Kriterienfrage (s. die vorige Anm.), 139. 10 Nach Theissen / Winter, Kriterienfrage, 175 ordnet der »Third Quest« in der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung Jesus »entschieden ins Judentum« ein und löst »die historische Jesusforschung methodologisch von den Legitimationsproblemen christlicher Theologie«. Aber läßt es sich wirklich zeigen, dass die von E. Käsemann, G. Bornkamm und H. Conzelmann gestellte »Neue Frage« nach dem historischen Jesus sich solchen theologischen Legitimationsproblemen verdankt? 11 So Theissen / Winter, Kriterienfrage, 176. 12 Theissen / Winter, Kriterienfrage, 177–180. AaO., 211 sprechen die Autoren von »Tendenzsprödigkeit« und stellen fest: »Was ›jüdisch‹ plausibel ist, genießt für die Rück-

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Als historisch gesicherte Erkenntnis wird gelten dürfen, dass Jesus die als nahe bevorstehend erwartete Herrschaft Gottes verkündigte. Damit steht ein Aspekt der Theologie und der eschatologischen Erwartung im Zentrum, der im übrigen zeitgenössischen Judentum eher am Rande Bedeutung hat.13 Umgekehrt fällt auf, dass in Jesu Verkündigung die Tora und insbesondere das Problem ihrer richtigen Auslegung eine vergleichsweise geringe Rolle spielt.14 Im eigentlichen Sinne thematisiert werden die Praxis des Sabbatgebotes und Reinheitsvorschriften15, und hier zeigt die spätere Fassung der Überlieferungen im Matthäusevangelium ein deutlich stärkeres Interesse an halachischer Diskussion als etwa deren Fassung im Markusevangelium. Auch das »Land Israel«, also Gottes besondere Gabe an sein Volk, scheint in Jesu Predigt kaum ein Thema gewesen zu sein.16 Beide Beobachtungen sind angesichts der aktuellen Verhältnisse vor allem in Judäa erstaunlich.17 Die Differenzen zum übrigen Judentum werden deutlich bei einem Vergleich zwischen dem in seiner Grundtendenz doch wohl auf Jesus zurückgehenden Vaterunser-Gebet (Lk 11,2–4 Q) und dem Achtzehn-Gebet: Im Vaterunser, einem zweifellos jüdischen Gebet, finführung auf Jesus hohe historische Plausibilität. Zumindest muß ›echtes‹ Jesusgut mit dem vielfältigen Erscheinungsbild des Judentums seiner Tage im weitesten Sinne vereinbar sein. Dies nennen wir jüdische Kontextplausibilität. Aufgrund der ›christlichen‹ Überlieferung ist es nicht möglich, eine darin enthaltene jüdisch geprägte Äußerung einem jüdischen Zeitgenossen Jesu zuzusprechen und dem Juden Jesus abzusprechen.« Aber auch die Träger zumindest der frühen »›christlichen‹ Überlieferung« waren Juden; die von Theißen und Winter an dieser Stelle vorausgesetzte Unterscheidbarkeit von »christlich« und »jüdisch« ist in dieser Form wenig plausibel. 13 Vgl. A. Lindemann, Art. Herrschaft Gottes / Reich Gottes IV, TRE XV, Berlin 1986, 196–218, hier: 207. Helmut Merkel, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: M. Hengel / A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991, 119–161, hier vor allem die Zusammenfassung. Ferner Schröter, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 196–213. 14 Vgl. dazu F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums (UTB 1733), Tübingen 1993, 47–54. J.-W. Taeger, Der grundsätzliche oder ungrundsätzliche Unterschied. Anmerkungen zur gegenwärtigen Debatte um das Gesetzesverständnis Jesu, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart usw. 1992, 13–35, vor allem 19 f. Die Monographie von W. R. G. Loader, Jesus’ Attitude towards the Law. A Study of the Gospels, WUNT II/97, Tübingen 1997 hat die Evangelien in ihrer Endgestalt im Blick. Die historische Frage nach Jesu Gesetzesverständnis wird nur am Ende kurz gestreift; »one of the problems in approaching the traditions is that they do not portray Jesus as a formal interpreter of the Law, despite what the Matthean antitheses suggest« (521). 15 Vgl. Schröter, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 231–243. 16 Anders vor allem J. Laaksonen, Jesus und das Land. Das Gelobte Land in der Verkündigung Jesu, Åbo 2002. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament (in diesem Band S. 149–189, hier: 180–184). 17 Judäa war römische (Teil-)Provinz. In dem weitgehend autonomen Galiläa dürfte sich zur Zeit Jesu die Frage nach dem »Land« kaum gestellt haben; vgl. K.-H. Ostmeyer, Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005) 147–170.

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det weder die Tora noch das »Land« Erwähnung; dass sich die in der erweiterten Fassung in Mt 6,9–13 überlieferte Bitte um das Geschehen des Gotteswillens ƚĜőėęƉěċėȦĔċƯőĚƯčǻĜ auf die Geltung der Tora bezieht, ist denkbar, aber keineswegs sicher.18 Dagegen wird im Achtzehn-Gebet die Tora ausdrücklich erwähnt19, und dieses Gebet enthält auch die kaum verschlüsselte Bitte um das Ende der Fremdherrschaft im »Land«.20 Jesu Gottesverkündigung und sein aus diesem Gottesverständnis resultierendes Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen waren natürlich nicht analogielos. Gleichwohl muß Jesus durch beides Anstoß erregt haben, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es dem Synedrium geraten schien, Jesus während seines Aufenthalts in Jerusalem festnehmen zu lassen und bei dem für Judäa zuständigen römischen Präfekten Pontius Pilatus zu verklagen.21 Das Synedrium – oder möglicherweise auch nur eine einflußreiche Gruppe innerhalb desselben – erhob die Anklage vermutlich mit Argumenten, die Pilatus dazu veranlaßten, Jesus zum Kreuzestod zu verurteilen.22 Dabei braucht man das Ausmaß der vorausgesetzten und angewandten römischen »Rechtsstaatlichkeit« nicht unbedingt allzu hoch anzusetzen; nach allem, was wir auch und gerade aus nichtchristlichen Quellen über Pilatus wissen, wird er die Frage, ob Jesus nach den Normen des geltenden römischen Strafrechts wirklich den Tod verdient hatte, nicht übertrieben

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Vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband Mt 1–7, EKK I/1, Düsseldorf und Neukirchen-Vluyn 52002, 448 f. 19 In der 5. Benediktion (babylon. Rezension) heißt es: »Bringe uns zurück, unser Vater, zu deiner Tora und laß uns nahen, unser König, zu deinem Dienst …«, zitiert nach: (H. L. Strack) / P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Band IV: Exkurse zu einzelnen Stellen des Neuen Testaments. Erster Teil, München 51969, 211. 20 In der 10. Benediktion heißt es: »Stoße in die große Posaune zu unsrer Freiheit und erhebe ein Panier, alle unsre Verbannten zu sammeln von den vier Flügeln der Erde hin nach unsrem Lande …«, zitiert nach Billerbeck, Kommentar (s. die vorige Anm.), 212. Vgl. auch die 14. Benediktion mit der Erwähnung Jerusalems. 21 Vgl. dazu Becker, Jesus (s. Anm. 7), 424 f. Ferner K. Müller, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozeß gegen Jesus von Nazaret, in: K. Kertelge (Hg.), Der Prozeß gegen Jess. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg u.a. 1988, 41–83. Dass die in Mk 11.15–17 dargestellte Aktion Jesu gegen die Händler im Tempel Auslöser für das Handeln des Synedriums war, ist historisch aber höchst unwahrscheinlich; die Historizität der »Tempelreinigung« läßt sich nicht belegen (vgl. Becker, Jesus [s. Anm. 7], 407–410). 22 Wenn, wofür einiges spricht, die Johannes-Passion alte, historisch zuverlässige Überlieferung bewahrt haben sollte, dann könnte dazu vielleicht auch die Szene in 19,12 (»… dann bist du des Kaisers Freund nicht«) gehört haben; in diesem Fall hätte sich Pilatus geradezu dazu gezwungen gesehen, Jesus zu verurteilen. Kritisch zu einer solchen Sicht allerdings M. Sabbe, The Trial of Jesus Before Pilate in John and its Relation to the Synoptic Gospels, in: A. Denaux (ed.), John and the Synoptics, BEThL 101, Leuven 1992, 341–385, vor allem 345 f.

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sorgfältig geprüft haben.23 Ob tatsächlich unmittelbar und ausdrücklich die Verhängung der in der Tora nicht vorgesehenen und im Judentum nicht angewandten Kreuzigungsstrafe gefordert wurde, wie es die Evangelien darstellen, oder ob Pilatus diese für den Delinquenten in besonderer Weise grausame und entehrende Todesart von sich aus verfügte, läßt sich nicht ermitteln. Jedenfalls kann kein Zweifel sein, dass die eigentliche Entscheidung zur Hinrichtung Jesu vom römischen Präfekten getroffen wurde; das in der christlichen Passionsüberlieferung sich zeigende Interesse, den Anteil seines aktiven Handelns zu vermindern, steht sehr wahrscheinlich im Widerspruch zur historischen Realität, auch wenn eine Beteiligung des Synedriums zumindest bei der Einleitung des Verfahrens gegen Jesus sehr wahrscheinlich ist.24 Die Tendenz, die jeweiligen Verantwortlichkeiten entgegen den historischen Tatsachen zu verschieben, wird sich allerdings nicht allein der politischen Apologetik der Christen Rom gegenüber verdanken; sie wird auch nicht primär auf eine wachsende antijüdische Stimmung unter den Jesusgläubigen zurückzuführen sein. Vielmehr ist diese Tendenz auch und vielleicht sogar in erster Linie als eine Folge der theologischen Interpretation des Todes Jesu durch die an Jesu Auferweckung durch Gott glaubenden (Juden-)»Christen« anzusehen: Wollte man Jesu Kreuzestod nicht als bloßen Justizmord deuten oder gar als einen geschichtlich zufälligen Justizirrtum, sondern sollte sein Tod einen »Sinn« haben, dann mußte dieser Tod religiös motiviert gewesen sein, und dann konnte letztlich nicht der heidnische Statthalter diese so bedeutsame Entscheidung von sich aus getroffen haben.25 Darum stellt der (vor-)synoptische Passionsbericht, wie wir ihn hinter Mk 14 f. vermuten dürfen, die Vorgänge so dar, als sei Jesus von der höchsten jüdischen Instanz als Gotteslästerer verurteilt worden, und zwar deshalb, weil er beanspruchte, Gottes Sohn zu sein. Die theologische Reflexion über Ursache und Sinn des Todes Jesu führte schließlich bis zu der Überzeugung, dass es letzten Endes überhaupt nicht die Entscheidung eines irdischen Gerichts gewesen war, aufgrund derer Jesus getötet wurde, sondern dass dies dem Willen Gottes entsprach26 und der Voraussage der Heiligen Schrift, der Christus werde »dies alles leiden müssen und dann 23 Zum historischen Pontius Pilatus s. R. Metzner, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, NTOA / StUNT 66, Göttingen 2008, 96–123. 24 Vgl. meinen Aufsatz: Jesus als der ›Kyrios‹ bei Paulus und Lukas. Erwägungen zum Verhältnis von Bekenntnis und historischer Erkenntnis in der neutestamentlichen Christologie (in diesem Band S. 116–148, hier: 123 f.). 25 Vgl. M. Wolter, Der Heilstod Jesu als theologisches Argument, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 297–313. 26 Vgl. G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 1992, 25–28.

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hineingehen in seine Herrlichkeit« (Lk 24,26). Schon das ĚċěďĎưĎďĞę in der frühen von Paulus in 1 Kor 11,23–25 zitierten Abendmahlsüberlieferung besagt, dass Jesus von Gott »ausgeliefert« worden war.

II. Die Anfänge der »Kirche« Jesu Hinrichtung wird – soweit wir historisch zu erkennen vermögen – zunächst wahrscheinlich nicht nur von seinen Gegnern, sondern auch von denen, die man Jesu »Jünger« zu nennen pflegt, als sein völliges Scheitern gedeutet worden sein: Wer die Nähe des Beginns einer als Heil verstandenen Gottesherrschaft vollmächtig anzusagen beansprucht und dann am Kreuz den schmählichsten Tod erleidet, der mußte sich rückwirkend betrachtet in seiner Verkündigung und damit auch in dem mit dieser Verkündigung offenbar verbundenen Anspruch geirrt haben. Möglicherweise hätten Jesu Anhänger seinen Tod als das Geschick eines frommen jüdischen Märtyrers verstanden haben können; aber ein solches Verständnis des Todes Jesu ist nicht belegt.27 Die Deutung seines Todes als Sterben des »leidenden Gerechten« setzt bereits den Glauben an Jesu Auferweckung voraus.28 Über das Verhalten der Jünger und der zur Gruppe um Jesus gehörenden Frauen unmittelbar nach Jesu Tod können wir historisch Sicheres nicht sagen. Blieben sie in Jerusalem, ohne an die Öffentlichkeit zu treten? Kehrte zumindest ein Teil von ihnen nach Galiläa zurück? Die Erzählungen über die in Jerusalem bzw. in Galiläa geschehenen Erscheinungen des als von Gott auferweckt geglaubten Jesus lassen beide Antworten zu. Wie lange währte die Zeit bis zum Beginn des Glaubens an die Auferweckung? Die Angabe über die Erscheinung Jesu vor Simon Petrus (Lk 24,34; 1 Kor 15,4) bzw. in vermutlich späterer Überlieferung über die Auffindung des leeren Grabes durch die Frauen (Mk 16,1 parr) »am dritten Tage« nach Jesu Tod geht vermutlich auf schriftgelehrte Auslegung zurück; in der Formel des ďƉċččƬĕēęėin 1 Kor 15,4 wird das ausdrücklich gesagt (ĔċĞƩĞƩĜčěċĠƪĜ).29 27 Dass die Passionserzählung(en) literarische Züge der Märtyrererzählungen aufnehmen, bleibt davon unberührt. Vgl. J. W. van Henten, Jewish Martyrdom and Jesus’ Death, in: Frey / Schröter, Deutungen (s. die vorige Anm.), 139–168. 28 Vgl. Barth, Tod Jesu (s. Anm. 26), 28–32. Zur möglichen jüdischen Interpretation des Kreuzestodes Jesu vgl. D. Sänger, »Verflucht ist jeder, der am Holze hängt« (Gal 3,13b). Zur Rezeption einer frühen antichristlichen Polemik, in: Ders., Von der Bestimmtheit des Anfangs. Studien zu Jesus, Paulus und zum frühchristlichen Schriftverständnis, Neukirchen-Vluyn 2007, 99–106. 29 Als Bezugstext käme, sofern überhaupt an eine bestimmte Stelle gedacht ist, nur Hos 6,2 in Frage: »Er wird uns aufrichten nach zwei Tagen, am dritten Tage wird er uns aufrichten« (íčċðĔò“ ĆƝóĆĉòžÖāïĊìئÐĊƒċîúØċòíčؐĄï“ Ć); in der LXX heißt es: ƊčēƪĝďēŞĖǬĜĖďĞƩĎƴęŞĖƬěċĜ őėĞǼŞĖƬěǪĞǼĞěưĞǹŁėċĝĞđĝƲĖďĒċ…

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Diese Zeitangabe ist jedenfalls kein historisch auswertbares Datum; deshalb ist der gegen eine ursprüngliche galiläische Ostertradition gelegentlich vorgebrachte Einwand, die Jünger könnten nicht innerhalb von nur zwei Tagen und überdies während der Sabbatruhe von Jerusalem nach Galiläa geeilt sein, nicht als Argument gegen diese Überlieferung gelten. Entscheidend ist: Menschen, die zu der Gruppe um Jesus gehört hatten, behaupten in nicht allzu großem zeitlichen Abstand nach Jesu Tod, der Gekreuzigte sei von Gott auferweckt worden.30 Vermutlich verband sich mit dieser Behauptung von Anfang an der Gedanke, der von den Toten auferweckte Jesus sei von Gott »erhöht« worden. Jedenfalls besagt der Glaube an Jesu Auferweckung durch Gott nicht, der verstorbene Jesus sei »wieder lebendig« geworden, etwa entsprechend den Totenerweckungsgeschichten in der Wundertradition der Evangelien.31 Jesus war auch nicht in den Himmel »entrückt« worden, wie es die HenochÜberlieferung oder die Elia-Erzählung schildert. Nach dem Glauben der Jünger hatte der gestorbene und begrabene Jesus durch Gottes »österliches« Handeln eine neue, unvergleichliche Stellung erhalten: Er ist »der Lebendige«, er ist erhöht worden in den Himmel »zur Rechten Gottes«. Die breite Streuung der Bezugnahmen auf Ps 110,1 macht es wahrscheinlich, dass die explizite Erhöhungsvorstellung sehr früh entstand, auch wenn die direkte Anknüpfung an den Psalm doch wohl erst später und jedenfalls nachträglich erfolgte.32 Wie und warum es zu diesen Vorstellungen und Glaubensaussagen kam, wissen wir nicht. Weder durch den Versuch einer Rekonstruktion der den Texten vorausgehenden historischen Fakten noch mit allgemeinen psychologischen Vermutungen können wir sagen, welche »objektive« Realität der Aussage »Jesus ist auferweckt worden und dem Simon erschienen« zugrunde gelegen haben könnte. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil wir – mit der einen Ausnahme des Paulus, bei dem der Fall aber ganz anders liegt33 – keine direkten Zeugnisse der Empfänger der Erscheinungen Jesu haben, sondern nur nachträglich entstandene Formeln und vermutlich in noch späterer Zeit verfaßte literarische Notizen und Berichte.34 30

Vgl. A. Lindemann, Auferstehung. Gedanken zur biblischen Überlieferung, Göttingen 2009, 9–43. 31 Vgl. vor allem die Erzählung von der Auferweckung des toten Jünglings zu Nain (Lk 7,11–17); die Erzählung im Mk 5,21–43 über die Tochter des Jairus läßt offen, ob das Mädchen »schläft«, wie Jesus behauptet, oder ob es tatsächlich tot ist, wie die Leute sagen. 32 Vgl J. Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament. Ostererfahrung und Osterverständnis im Urchristentum, Tübingen 2007, 118–132. 33 1 Kor 15,8 zeigt, dass die »Erscheinung« des auferstandenen Christus vor Paulus dessen Wissen um den Glauben an Jesu Auferweckung voraussetzt. 34 Psychologische Erwägungen, wie sie etwa G. Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, in: H. Verweyen (Hg.), Osterglaube ohne Auferstehung? Diskussion mit Gerd

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Das entscheidende Problem, um das es bei der Frage nach der Bestimmung der Identität der an Jesu Auferweckung Glaubenden geht, ist an eben dieser Stelle zu finden: Angehörige der Gruppe um Jesus, Juden wie Jesus selbst, behaupten bzw. bekennen bald nach dessen Tod, Gott habe den am Kreuz Gestorbenen von den Toten auferweckt und in den Himmel »zu seiner Rechten« erhöht. Damit sagen sie nicht nur, der irdische Jesus sei entgegen dem Augenschein von Gott ins Recht gesetzt worden und damit habe Gott die Predigt Jesu gleichsam bestätigt; sondern sie sagen zugleich, dass Gott in diesem Handeln an Jesus sein eigentliches Wesen und seinen Willen geoffenbart hat. Zugespitzt gesagt: Gott wird nun vom Jesus-Geschehen her definiert; und so kann jetzt ein Gottesprädikat geradezu formelhaft lauten: »der, der Jesus von den Toten auferweckt hat« (Röm 4,24; 8,11).35 Aus diesem Grunde mußte nun aber ein fundamentaler Dissens zwischen den Angehörigen der Gruppe um Jesus auf der einen Seite und den übrigen Juden auf der anderen Seite aufbrechen: Wenn die Aussage des Osterbekenntnisses wahr ist, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, dann kann nicht gleichzeitig auch die entgegengesetzte Aussage wahr sein, Gott habe dies nicht getan. Ob die Konsequenzen, die sich aus diesem fundamentalen Dissens ergeben, von Anfang an in vollem Umfang gesehen worden sind, läßt sich kaum sagen. Das jüdische Gottesverständnis war keineswegs monolithisch, und es mochte also das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu innerjüdisch vielleicht toleriert werden können, auch wenn wir dafür keine direkten Belege haben; aber umgekehrt konnte für die an Jesu Auferweckung glaubenden Juden die Frage, ob Gott an Jesus so gehandelt hatte oder nicht, kaum zur Disposition gestanden haben. Die an Jesu Auferweckung Glaubenden haben offenbar sofort mit der »Mission« begonnen, d.h. sie haben versucht, Lüdemann, QD 155, Freiburg usw. 2995, 13–46, vor allem 33–41, angestellt hat, entbehren jeder Grundlage in den Quellen, denn wir haben keinerlei Selbstzeugnisse der Empfängerinnen und Empfänger der Erscheinung des Auferstandenen. Zum Selbstzeugnis des Paulus vgl. A. Lindemann, Paulus als Zeuge der Auferstehung Jesu Christi, in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 27–36. Zur Debatte mit Lüdemann vgl. auch B. Oberdorfer, »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« Überlegungen zur Realität der Auferstehung in Auseinandersetzung mit Gerd Lüdemann, in: H.-J. Eckstein / M. Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, NeukirchenVluyn 2001 (32007), 165–182. 35 Es ist kein Zufall, dass die ältesten Osteraussagen vom Auferweckungshandeln Gottes sprechen und nicht von Jesu Auferstehung; vgl. P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 114 f. Ferner Chr. Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont, AJEC 69, Leiden 2007, 427–531. Sie stellt abschließend fest: »Mit der Bezeichnung ›Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat‹ haben wir die im eigentlichen Sinne ›christliche‹ Gottesbezeichnung vor uns, die ebenso wie der ›Vater‹ das besondere Verhältnis Gottes zu Jesus beschreibt, wobei jedoch die Bezeichnung ›Vater‹ einerseits in frühjüdischer Tradition steht, andererseits auch das Verhältnis zu den Glaubenden beschreibt« (531).

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andere Juden von der Wahrheit der Auferweckungsbotschaft zu überzeugen. Dem widerspricht nicht, dass die Jerusalemer Jünger Jesu offenbar auch nach »Ostern« im Rahmen des übrigen Judentums verblieben und ganz selbstverständlich am Tempelkult teilnahmen. Allerdings gibt Lukas in der Apostelgeschichte nur einmal einen solchen Hinweis (3,1); es ist zumindest nicht undenkbar, dass dies zu der lukanischen Tendenz gehört, die nachösterliche Jesus-Gruppe, also das »Christentum«, als »das wahre Judentum« darzustellen. Diese Tendenz zeigt sich jedenfalls ganz unmißverständlich daran, wie Lukas in der Apostelgeschichte die Person und das Wirken des Paulus gezeichnet hat.36 Nach der Darstellung der Apostelgeschichte haben die offiziellen Vertreter des Judentums die besondere Rolle der nachösterlichen Anhänger Jesu früh erkannt. Offenbar war diese Gruppe nicht eine der jüdischen »Sekten« oder »Parteien«, vergleichbar den Pharisäern oder den Sadduzäern oder den Essenern; denn zumindest ein Teil der Angehörigen dieser Gruppe vertrat eine Lehre und daraus resultierend eine Lebenspraxis, die als innerhalb des Judentums nicht tolerierbar galt. Indizien dafür sind zum einen die historisch doch wohl tatsächlich erfolgte Verfolgung des Stephanus und seines Kreises, zum andern aber vor allem auch die Verfolgertätigkeit des Paulus, die – wie immer auch die Einzelheiten und die rechtlichen Voraussetzungen ausgesehen haben mögen37 – jedenfalls nicht einfach als Privataktion eines einzelnen bewertet werden kann. Wenn Paulus, wie er in Gal 1,13 im Rückblick schreibt, darum bemüht war, die őĔĔĕđĝưċ ĞęȘ ĒďęȘ zu vernichten, so setzt dieses Handeln voraus, dass die verfolgten Jesus-Gläubigen eine identifizierbare Gruppe waren, die Paulus als solche hoffte vollständig beseitigen zu können.38 Dass sich der »Eifer« des Paulus jedenfalls nicht gegen Heiden(»Christen«) richtete39, sondern gegen Juden(»Christen«), bedarf keiner besonderen Erwähnung.40 Ob diese Judenchristen sich bereits explizit als őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ verstanden und diesen Begriff selber verwendeten, ist schwer zu sagen; die Übereinstimmung im Sprachgebrauch in Gal 1,13; 1 Kor 15,9 einerseits und in Apg 8,1 andererseits macht eine entsprechende Annahme aber wohl doch überwiegend wahrscheinlich. 36

Vgl. zur lk Darstellung der Gesetzestreue des Paulus D. Marguerat, Paul et la Torah dans les Actes des apôtres, in: Ders. (ed.), Reception of Paulinism in Acts. Réception du Paulinisme dans les Actes des Apôtres, BEThL 219, Leuven 2009. 81–100. 37 Das in Apg 9,1 gezeichnete Bild ist jedenfalls anachronistisch; aber daran, dass Jesusgläubige durch Paulus verfolgt wurden, kann historisch ja kein Zweifel sein. 38 Die Formulierungen des Paulus in Gal 1,13 (ĔċĒdzƊĚďěČęĕƭėőĎưģĔęėĞƭėőĔĔĕđĝưċė ĞęȘĒďęȘĔċƯőĚƲěĒęğėċƉĞƮė) sind in dieser Hinsicht eindeutig. 39 Ob es »Heidenchristen« zur Zeit der Verfolgertätigkeit des Paulus bereits gab, läßt sich kaum sagen (s.u.). 40 Vgl. meinen Aufsatz: Paulus – Pharisäer und Apostel (in diesem Band S. 33–72, hier: 47–50).

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Aus Apg 8,1.3 scheint hervorzugehen, dass sich die Bezeichnung őĔĔĕđĝưċ auf die »Hellenisten«, also auf die Griechisch sprechende Gruppe der Judenchristen in Jerusalem bezog.41 Möglicherweise besaß die toratreue Gruppe um »die Zwölf« bzw. später um den Herrenbruder Jakobus noch für einen längeren Zeitraum keine feste Organisationsform und Selbstbezeichnung; in ihrer eigenen Perspektive waren sie ja nicht im Begriff, sich von ›Israel‹ zu trennen, sondern sie waren im Gegenteil davon überzeugt, sie seien in Wahrheit ›Israel‹. Dort, wo die Logienquelle Q entstand, könnte so gedacht worden sein.42

Als Kernpunkt des Konflikts zwischen den an Jesu Auferweckung glaubenden Juden»christen« und den übrigen Juden wird oft die Frage der Geltung der Tora angesehen. Das ist sicher zutreffend, wie vor allem Gal 1,14 erkennen läßt: Mit den »väterlichen ĚċěċĎƲĝďēĜ« meint Paulus die halachische Tradition, an der er als Pharisäer in besonderer Weise festhielt. darin eingeschlossen natürlich auch die Tora selber.43 Gleichwohl besteht kein Widerspruch zu der oben vertretenen These, der entscheidende Differenzpunkt sei die Gottesfrage gewesen. Denn zwar verkündigten die Juden»christen« selbstverständlich nicht einen »anderen« Gott als die übrigen Juden; aber sie machten über das Handeln Gottes eine Aussage, die für sie selber identitätsstiftend war, während umgekehrt eben diese Aussage von den anderen Juden grundsätzlich verworfen wurde. Darüber hinaus zogen einige der Juden»christen«  – jedenfalls die Angehörigen des Stephanus-Kreises  – aus ihrem Bekenntnis zum Auferweckungshandeln Gottes an dem gekreuzigten Jesus Folgerungen, die auch den weiten Bereich dessen betrafen, was durch die Tora geregelt wurde. Dazu gehörte vor allem die Unterscheidung zwischen Israel als dem von Gott erwählten »Volk« und den »Völkern«, die Gott nicht kennen. Verhältnismäßig früh muß zumindest ein Teil des vom übrigen Judentum zunehmend ausgegrenzten, dann sich selber abgrenzenden und schließlich verfolgten Stephanus-Kreises auf den Gedanken gekommen sein, dass die Botschaft von Gott und seinem Handeln am gekreuzigten Jesus nicht allein innerhalb des Volkes Israel zu verkündigen sei, sondern auch bei den »Völkern« – und zwar ohne dass diese ihren Status als von Israel unterschiedene »Heiden« aufzugeben hätten. Spätestens jetzt muß allen Beteiligten bewußt geworden sein, dass zumindest der so denkende und handelnde Teil der Gruppe der an Jesu Auferweckung Glaubenden den an sich ja sehr weit gesteckten Rahmen 41 Der Begriff őĔĔĕđĝưċ begegnet in der Apg zuvor in 5,11, wo möglicherweise nicht die »christliche« Gemeinde, sondern die Jerusalemer »Gemeinschaft« als ganze gemeint ist, und in der Stephanusrede in 7,38, wo das biblische Israel gemeint ist. 42 Zur möglichen Entstehung von Q in Jerusalem s. M. Frenschkowski, Galiläa oder Jerusalem? Die topographischen und politischen Hintergründe der Logienquelle, in: Lindemann (ed.), The Sayings Source Q (s. Anm. 3), 535–559. 43 Siehe H. D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 138 Anm. 106.

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des innerhalb des Judentums Möglichen verlassen hatte: Wenn innerhalb der őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ die Unterscheidung zwischen Israel und den »Völkern«, zwischen Juden und Heiden, nicht mehr anerkannt wurde, dann hatte sich diese őĔĔĕđĝưċ damit selbst aus Israel ausgeschlossen. Ob die Hinwendung zu den »Heiden« ausschließlich theologische Gründe hatte, wie es die Darstellung in Apg 8–10 nahelegt44, oder ob womöglich nur Mißerfolge bei der Mission innerhalb des Volkes Israel dazu den Anstoß gaben, läßt sich nicht sagen; in jedem Fall aber bedeutete der Weg über die Grenzen Israels hinaus für die (Juden-)»Christen« einen Schritt, der theologisch reflektiert und vor dem eigenen Glauben verantwortet werden mußte. So dürfte die Trennung von »Kirche« und »Synagoge« verhältnismäßig früh erfolgt sein. Sie begann nicht erst mit dem Jahre 70, und sie stand sicher auch nicht im Zusammenhang mit dem allein im Johannesevangelium belegten Vorgang, der als ŁĚęĝğėƪčģčęēčưėďĝĒċē bezeichnet wird, dessen Rechtsbasis wir aber nicht kennen. Vielleicht wird man sinnvollerweise überhaupt nicht von einer »Trennung« sprechen, als hätte es irgendwo und irgendwann einen definitiven Beschluß hierzu gegeben. Wahrscheinlich gab es einen Prozeß der Entfremdung, der sich in den verschiedenen geographischen Gebieten auf unterschiedliche Weise und auch unterschiedlich rasch vollzog45; die Situation wird in Rom eine durchaus andere gewesen sein als beispielsweise in Antiochia. Die von Paulus gegründeten Gemeinden, zumindest diejenigen in Makedonien und in Achaja, werden vermutlich von Anfang an organisatorisch unabhängig von den örtlichen Synagogen existiert haben; das in der Apostelgeschichte gezeichnete Bild, wonach die Mission in Kleinasien und in Europa stets in der Synagoge begonnen habe, ist von den Briefen des Paulus her jedenfalls nicht zu verifizieren. Die frühen őĔĔĕđĝưċē in Judäa, deren Existenz durch Gal 1,23 bezeugt ist, werden sich nach ihrem Selbstverständnis zweifellos als Teil ›Israels‹ verstanden haben; möglicherweise sahen sie sich als so etwas wie das ›wahre Israel‹46; später mögen sie die paulinische Heidenmission verstanden haben 44 Vgl. A. Lindemann, Der »äthiopische Eunuch« und die Anfänge der Mission unter den Völkern nach Apg 8–11, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 231–251. 45 Vgl. A. Lindemann, Art. Judentum und Christentum III. Neues Testament und ältestes Christentum, RGG4 Band 4, Tübingen 2001, 630–632 und die dort genannte Literatur. – D. Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums. Aus dem Amerikanischen von Gesine Palmer, ANTZ 10/ABU 1, Berlin und Dortmund 2009 sieht die Trennung als künstlich geschaffen an und betrachtet als ihren Urheber im Grunde erst Justin in seinem »Dialog mit dem Juden Tryphon«. Allerdings spielt der in den neutestamentlichen Schriften erkennbare Befund (ausgenommen der als Midrasch zu Gen 1 gedeutete Text Joh 1,1–18) bei Boyarin ebensowenig eine Rolle wie die Darstellungen der Verfolgungen in Rom bei Tacitus und Sueton. 46 Dass einzelne Gruppen innerhalb des Judentums den Anspruch erhoben, ›wahres Israel‹ bzw. eben allein ›Israel‹ zu sein, war nicht ungewöhnlich; vgl. H. Stegemann,

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als Beginn der Erfüllung der Verheißungen in Jes 66,18–23 und anderen biblischen Texten.47 Über den Status und über das Selbstverständnis der nach der Vertreibung des Stephanus-Kreises in Jerusalem verbliebenen Gruppe um den Herrenbruder Jakobus läßt sich wenig sagen. Vielleicht war man hier bestrebt, die jüdische Tradition und jedenfalls die Bestimmungen der Tora uneingeschränkt zu bewahren, womöglich auch, um die eigene Stellung in Jerusalem nicht zu gefährden; das lassen die aus Gal 2,12 zu erschließende religiöse Position des Jakobus und auch die lukanische Darstellung in Apg 21,18–25 einigermaßen deutlich erkennen. Allerdings erlaubt die Quellenlage im Neuen Testament keine historisch zuverlässige Beschreibung des theologischen Denkens dieser Gruppe.48

III. Jesus als der von Gott auferweckte Kyrios Wer war Jesus für diejenigen Juden, die von Paulus und möglicherweise auch von anderen verfolgt wurden? Für ihr Jesus-Verständnis wird die aus Galiläa stammende bei Markus und in der Logienquelle bewahrte Überlieferung vom Wirken und der Lehre Jesu eine wesentliche Rolle gespielt haben. Das läßt sich nicht im strengen Sinne nachweisen, aber es muß als wahrscheinlich angesehen werden; wer sonst sollte daran interessiert gewesen sein, diese Jesus-Überlieferung zu bewahren? Sehr schnell dürfte sich aber vor allem auch die Vorstellung einer unmittelbaren Beziehung der Glaubenden zu dem als auferweckt und erhöht geglaubten, gegenwärtigen Jesus entwickelt haben. Vermutlich war »Herr« der zuerst auf Jesus bezogene »Hoheitstitel«, aramäisch ýĕċ bzw. griechisch ĔƴěēęĜ. Das von Paulus in aramäischer Sprache zitierte Ėċěƪėċ Ēƪ (1 Kor 16,22) und dessen griechisches Analogon in Apk 22,20 (ŕěġęğĔƴěēďŵđĝęȘ) sowie der Beleg in der Mahl-Liturgie in Did 10,6 lassen sich am einfachsten mit der Annahme erklären, dass die nachösterliche Gruppe um Jesus in Jerusalem – sei es die Gruppe um die »Zwölf«, sei es der Griechisch sprechende Kreis um Stephanus, seien es beide gleichermaßen – in ihren Versammlungen den als von Gott auferweckt und erhöht geglaubten Jesus schon früh als ihren »Herrn« bezeichnet und ihn im Gebet zur Parusie (oder zur Gegenwart Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, HerBü 4128, Freiburg usw. 1993, 229–231. 47 Das in Gal 1,23 zitierte Wort žĎēƶĔģėŞĖǬĜĚęĞďėȘėďƉċččďĕưĐďĞċēĞƭėĚưĝĞēėŢė ĚęĞďőĚƲěĒďē setzt offenbar voraus, dass die judäischen Gemeinden von der Tätigkeit des Paulus unter den ŕĒėđ gehört hatten. 48 Vgl. G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Bd. II: Antipaulinismus im frühen Christentum, FRLANT 130, Göttingen 1983, 67–102; W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987, 49–102.

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beim »Herrenmahl«?) herbeigerufen hat.49 Jesus als der »Herr« wurde nicht im Sinne des biblischen ČĂĀý oder gar āĂāĆ verstanden; die direkte Analogie zur biblischen Gottesbezeichnung dürfte erst zustande gekommen sein, als man den auf Jesus bezogenen Titel ĔƴěēęĜ mit der Verwendung desselben Begriffs als Äquivalent für das Tetragramm in der LXX in Beziehung setzte.50 Der Gebrauch der weiteren im Neuen Testament begegnenden auf Jesus bezogenen Hoheitstitel dürfte gegenüber dem Titel »Herr« sekundär sein und aus ihm abgeleitet werden können: Wenn der von Gott auferweckte und erhöhte Jesus »der Herr« ist, dann erfüllt er auch alles das, was in Israel eschatologisch erhofft wurde. Er ist – und er war es dann auch schon als irdisch Lebender – der Messias, also der ġěēĝĞƲĜ und als solcher der »Sohn Davids«; er ist (und war immer schon) der »Sohn Gottes«, zunächst im Sinne des metaphorischen Sprachgebrauchs, wie er biblisch etwa in Ps 2,7 belegt ist (vgl. etwa Mk 1,11), dann auch in einem weitergehenden Sinn bis hin zu dem im Neuen Testament allerdings nur am Rande begegnenden Gedanken, Jesus sei geradezu im physischen Sinne der »Sohn Gottes« (Lk 1,30–35; Mt 1,18–23): Jesus ist und war irdisch der »Menschensohn«, der als der Richter »kommen wird mit den Wolken des Himmels«.51 Eine »Entwicklungsgeschichte« der christologischen Begriffsbildung bzw. -findung läßt sich wohl nicht aufweisen; aber die Annahme, der als auferweckt und erhöht geglaubte Jesus sei zuerst als »der Herr« angerufen worden, scheint mir eine plausible Erklärung des Textbefundes innerhalb der im Neuen Testament wahrnehmbaren Christologie zu sein. Insbesondere läßt sich so auch erklären, warum es zu der eigenartigen Diskrepanz kam zwischen den traditionsgeschichtlichen jüdischen Voraussetzungen dieser Hoheitstitel und ihrem Gebrauch in der kirchlichen Christologie. Denn diese durchweg in der jüdischen Tradition verankerten Hoheitstitel erhielten durch die Verbindung mit der Jesus-Überlieferung bzw. durch das Jesus-Geschehen eine neue inhaltliche Füllung, und erst so dienten sie dazu, 49 Ob Ps 110,1 dazu den Anstoß gegeben hatte oder ob man – was m. E. wahrscheinlicher ist – diese Stelle als »Schriftbeweis« erst nachträglich entdeckte, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. 50 Vgl. dazu D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 84–88. M. Rösel, Adonaj – warum Gott ›Herr‹ genannt wird, FAT 29, Tübingen 2000, 225 meint, »wenn der als Messias verehrte Jesus ausweislich der ältesten erreichbaren Formeln als »(unser) Herr« bekannt wurde«, sei dies »nicht ohne den für ĆčĀý gesicherten Verstehenshorizont zu erklären«; beide Begriffe gehörten in die »institutionalisierte Gebetssprache«. Zu Gott und Christus als »Herr« im NT vgl. den ganzen Abschnitt aaO., 222–226. 51 Selbst wenn Jesus von sich als »Menschensohn« in einem nicht-titularen Sinn gesprochen haben sollte (s. oben S. 4 f.), so zeigen jedenfalls Texte wie Mk 8,38 parr und Mk 14,62 parr, dass ğŮƱĜĞęȘŁėĒěƶĚęğ später als Hoheitstitel verstanden wurde.

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ihrerseits Jesus zu interpretieren. Jesus wird als der »Messias« bezeichnet, obwohl der irdische Jesus die mit der Messiaserwartung üblicherweise verbundenen Hoffnungen52 nicht erfüllt hatte und die christliche Gemeinde auch nicht erwartete, das werde im Zusammenhang der Parusie geschehen. Jesus hat sich offenbar nicht als »Messias« im Sinne des endzeitlichen davidischen Heilskönigs verstanden53, und auch die nachösterliche Überlieferung hat das Jesusbild nicht so (um)gestaltet, dass es nun jüdischen Messiasvorstellungen entsprochen hätte. Dennoch wird die Messiasbezeichnung (āěēĝĞƲĜ) zu dem am selbstverständlichsten gebrauchten Titel, ja zum eigentlichen »Namen« Jesu, von dem dann sogar die Bezeichnung der an Jesus Glaubenden als āěēĝĞēċėęư abgeleitet wird (Apg 11,29). Zwar werden in den Evangelien »messianische« Züge in die Jesus-Darstellung eingebracht, am deutlichsten in der Schilderung des Einzugs Jesu in Jerusalem (Mk 11,9 f. parr), aber Jesu Wirken entspricht nicht dem, was in dem Jubelruf der Jesus begleitenden Menge gesagt wird. Bei Matthäus und bei Lukas wird Jesus zum Davididen, indem Jesu Vater Joseph als Davidide bezeichnet54 und Jesu Geburtsort der biblischen Verheißung entsprechend nach Bethlehem gelegt wird; aber die Überlieferung in Mk 12,35–37 parr läßt erkennen, dass der Titel »Sohn Davids« in seiner Wertigkeit zumindest umstritten war.

IV. Die »Gemeinde aus Juden und Heiden« Die Verkündigung der Auferweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott wendet sich faktisch spätestens seit der Entstehung der antiochenischen Gemeinde55 und theologisch reflektiert mit dem Beginn der Missionstätigkeit des Paulus56 nicht mehr allein an Menschen aus dem Volk Israel, sondern auch an Nichtjuden. Paulus hat die ihm widerfahrene Offenbarung des 52

Vgl. G. S. Oegema, Der Gesalbte und sein Volk. Untersuchungen zum Konzeptualisierungsprozeß der messianischen Erwartungen von den Makkabäern bis Bar Koziba, SIJD 2, Göttingen 1994. 53 Oegema, Der Gesalbte (s. die vorige Anm.), 28 setzt als »Arbeitsdefinition« für seine Untersuchung voraus: »Ein Messias ist eine priesterliche, königliche oder andersartige Gestalt, die eine befreiende Rolle in der Endzeit spielt« (Hervorhebung im Orig.). Er meint dann aber (aaO., 148): »Die jahrelangen Forschungen von de Jonge, Flusser und Charlesworth (um nur einige zu nennen) lassen erkennen, daß Jesus sich wahrscheinlich als Messias verstanden hat.« Welches Messiasverständnis Jesus dabei zugrundegelegt haben könnte, wird freilich nicht recht deutlich. 54 Den Widerspruch zur Jungfrauengeburtslegende scheinen sie nicht bemerkt bzw. hingenommen zu haben. 55 Siehe dazu W. A. Meeks / R. L. Wilken, Jews and Christians in Antioch in the First Four Centuries of the Common Era, SBL SBibSt 13, Missoula 1978, 13–18. 56 Welche Rolle dabei Barnabas spielte, der zunächst während der »ersten Missionsreise« in Apg 13–14 im Vordergrund zu stehen scheint, läßt sich kaum sagen. Vgl. M. Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT

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Sohnes Gottes bei Damaskus jedenfalls aus späterer Sicht so gedeutet, dass er sich von Anfang an als zum ďƉċččďĕưĐďĝĒċē unter den »Völkern« gesandt sah (Gal 1,16).57 Diese »Völkermission« erhält bald das Übergewicht; nach der Darstellung in der Apostelgeschichte ist das verursacht durch die Weigerung der (Mehrheit der) Juden, die Verkündigung des Evangeliums anzunehmen, nach den theologischen Ausführungen des Paulus in Röm 9–11 ist es die Folge des »Ungehorsams« Israels gegenüber der sowohl Israel als auch den Völkern als Gnade angebotenen »Gerechtigkeit Gottes«.58 Über Inhalt und Methode der frühen Heidenmission wissen wir wenig. Die uns erhaltenen Briefe des »Völkerapostels« Paulus sind keine Missionstexte, sondern sie wenden sich ausschließlich an Menschen, die bereits christusgläubig geworden sind. Die Apostelgeschichte enthält zwar Missionspredigten, doch diese spiegeln lukanisches Denken und haben auf der Erzählebene fast ausschließlich Juden als Adressaten. Die einzige literarisch ausgearbeitete Heidenmissionspredigt, die Areopagrede (Apg 17,16–34), scheint nach dem lukanischen Konzept gerade nicht »typisch« zu sein, sondern soll im Gegenteil bei den Lesern den Eindruck erwecken, in Athen habe ein christlicher Philosoph zu seinen Kollegen aus den Schulen der Stoiker und Epikuräer gesprochen.59 Ein einigermaßen verläßliches Zeugnis für den Inhalt der paulinischen Heidenmissionspredigt ist in 1 Thess 1,9 f. die Erinnerung an das in Thessalonich verkündigte Kerygma. Paulus schreibt, die Thessalonicher hätten sich bei seinem Kommen »abgewandt« von den »Götzen, um zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu erwarten dessen Sohn vom Himmel her, welchen er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns rettet vor dem kommenden Gericht«. Christliche Verkündigung unter den »Völkern« ist danach also zuerst Rede von Gott, der dabei von vornherein gesehen wird in der Beziehung zu seinem »Sohn«, der als der Erhöhte geglaubt60und dessen Parusie im Zusammenhang des endzeitlichen Gerichts erwartet wird. Von daher legt sich die Vermutung nahe, dass schon zur Zeit des hier referierten Missionskerygmas in den Beziehungen zwischen »Christen« und Juden 156, Tübingen 2003; zum historischen Barnabas s. 478–486, zum Bild des Barnabas in Apg 13 f. s. 377–389. 57 Ob Paulus das »Damaskuserlebnis« sofort als Berufung zur »Heidenmission« verstanden hat, ist umstritten; seine eigene Darstellung in Gal 1,15–17 läßt sich freilich kaum anders deuten. 58 Vgl. meinen Aufsatz: Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament (in diesem Band S. 149–189, hier: 159–172). 59 Vgl. A. Lindemann, Paulus in Athen (Apg 17,16–34). Zur Begegnung zwischen Theologie und Philosophie im Neuen Testament, in: Zugänge zur Wirklichkeit. Theologie und Philosophie im Dialog. Festschrift für Hermann Braun zum 65. Geburtstag, hg. von T. Holzmüller und K.-N. Ihmig, Bielefeld 1997, 65–79. 60 Von der Erhöhung ist nicht ausdrücklich die Rede; aber mit der Formulierung ŁėċĖƬėďēė … őĔĞȥėęƉěċėȥė ist sie natürlich vorausgesetzt.

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nicht die Vorstellung herrschte, in der Gottesfrage bestehe eine Übereinstimmung und erst die Christologie führe zur Trennung. Vielmehr bildeten in »christlicher« Perspektive die Rede von Gott und der Hinweis auf Gottes Sohn eine offenkundig unauflösliche Einheit. Gott wird geradezu definiert über die Aussage, er habe »seinen Sohn auferweckt von den Toten«, und zugleich wird dieser Sohn verstanden als »Retter aus dem künftigen Gericht«, bei welchem Gott als der Richter vorgestellt ist. 1 Thess 1,9 f. enthält keinen christologischen »Hoheitstitel«, sondern die »Christologie« ist hier im Grunde eine Funktion der »Theo-logie«, insofern die Worte ğŮƱĜċƉĞęȘ und žȗğƲĖďėęĜŞĖǬĜ Aussagen über Jesu Beziehung zu Gott (und zu »uns«) sind und jedenfalls keine »Titel« im eigentlichen Sinne.61 Marlene Crüsemann62 nimmt an, 1 Thess sei kein authentischer Paulusbrief, sondern ein pseudepigraphischer Text, in dem die drei im Präskript genannten Personen »Paulus, Silvanus und Timotheus« bewußt als Autoren fiktiv dargestellt sind, womit auch die fast durchgängig gebrauchte 1. Pers. Plural (»wir«) erklärt wäre. Der Brief solle den apostolischen Ursprung der bewußt als »heidenchristlich» dargestellten Gemeinde fingieren; das in 1,9 f. Gesagte sei »durch die Gesamtkonstruktion des Kontextes in erster Linie als rühmenswerte Eigenschaft der Gemeinde dargestellt«, als »Teil des Glauben und somit des Verhaltens der vorbildlichen Gemeinde«.63 Für den pseudepigraphen Charakter spreche u.a. die Bezeichnung der Adressaten als őĔĔĕđĝưċóďĝĝċĕęėēĔƬģė, insofern mit dieser im Corpus Paulinum nur hier begegnenden Verwendung der politischen Bezeichnung beansprucht werde, dass »die Gemeinde, die anscheinend aus sämtlichen EinwohnerInnen Thessalonikis besteht«, in Gott und in Christus existiert. »Ein schärferer Affront gegen die römisch orientierte Leitung, Verwaltung und die damit verbundene kultisch-religiöse Struktur der Stadt ist kaum zu denken.«64 Auch mit der die römische Propagandaformel pax et securitas aufnehmenden Wendung ďŭěƮėđĔċƯŁĝĠƪĕďēċ (5,3) wende sich 1 Thess »gegen die konkreten Repräsentanten der Verehrung der römischen ›Wohltäter‹« und wünsche ihnen »Verderben und Untergang«.65 Dagegen ließe sich einwenden, dass die ungewöhnliche Adresse in 1,1 jedenfalls nicht von vornherein polemisch verstanden 61 Vgl. M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin 2003, 39–73. Er betont, 1 Thess 1,9 f. sei »der Form nach nicht als Wiederholung der wesentlichen Inhalte der Missionsverkündigung gestaltet«, sondern Paulus blicke »auf das positive Resultat seines Auftretens in Thessalonich« zurück (41). In 1,9 f. seien die wichtigsten Themen des Briefes »gebündelt« (55). 62 M. Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte, BWANT 191, Stuttgart 2010. 63 Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. die vorige Anm.), 154. 64 Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. Anm. 62), 236. Allerdings ist die Wendung őĔĔĕđĝĉċ Ğȥė ó. für Paulus offenbar nicht so ungewöhnlich, wenn man berücksichtigt, dass er in Röm 15,26 von ÷ċĔďĎęėĉċĔċƯʼnġċëċ spricht und natürlich nur die dortigen christlichen Gemeinden und nicht die gesamte Einwohnerschaft jener Provinzen meint. Vgl. 2 Kor 8,1 und Gal 2,1. 65 Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. Anm. 62), 239.

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werden muß66, und dass in 5,3 nicht unbedingt eine Polemik gegen Rom intendiert ist.67 Eine eingehende Auseinandersetzung mit der von Marlene Crüsemann vorgetragenen These ist aber an dieser Stelle leider nicht möglich.

Die in 1 Thess 1,9 f. erkennbare Charakterisierung der Verkündigung unter »Heiden« als Forderung einer Abkehr von den »Götzen« (ďűĎģĕċ) kann auf die Verkündigung unter Juden so natürlich nicht zutreffen.68 Aber die Frage, wer Gott ist, dürfte gegenüber Juden in der Evangeliumsverkündigung etwa des Petrus oder auch des Paulus69 ebenfalls gestellt und jedenfalls nicht grundsätzlich anders beantwortet worden sein als in der Heidenmission: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt – den Gekreuzigten, auf dessen Kommen als eschatologischer Retter wir jetzt warten, der aber bereits gegenwärtig »unser Herr« ist. Die in 1 Thess 1,9b.10 gebrauchte Sprache gehört ganz in den Kontext jüdischen Denkens; das gilt für das Gottesprädikat ĐȥėĔċƯŁĕđĒēėƲĜ70 und für die Vorstellung, der Retter werde kommen őĔ ĞȥėęƉěċėȥė71, und es gilt in besonderer Weise für die Aussage, Jesus werde retten aus der künftigen ŽěčƮ – hier ist die jüdische Apokalyptik die gedankliche und begriffliche Basis.72 Wir brauchen mithin nicht anzunehmen, dass sich die christliche Verkündigung unter Juden in diesen Punkten wesentlich von derjenigen unter Heiden unterschieden hat. Im übrigen bestätigt der Erste Thessalonicherbrief, dass zwischen »Kirche« und »Synagoge« eine besondere Verbindung nicht (mehr) bestand; denn nichts läßt erkennen, dass die von Paulus angeredete őĔĔĕđĝưċ óďĝĝċĕęėēĔƬģėőėĒďȦĚċĞěƯĔċƯĔğěưȣŵđĝęȘāěēĝĞȦ in irgendeiner Weise 66 Vgl. E. von Dobschütz, Die Thessalonicher-Briefe, KEK 10. Nachdruck der Ausgabe von 1909, hg. von F. Hahn, Göttingen 1974, 58: »Für griechische Ohren ist damit das Christenhäuflein in kühner Zuversicht aufmunternd der ganzen Stadtgemeinde gleichgesetzt«, und deshalb füge Paulus die Näherbestimmung őėĒďȦĔĞĕ. hinzu. 67 Konradt, Gericht und Gemeinde (s. Anm. 61), 144–146 sieht die römische Formel, aber auch Texte wie Jer 6,14 als »Assoziationshorizont«. Angeführt werde ďŭěƮėđ ĔċƯ ŁĝĠƪĕďēċ »als Ausdruck einer sich zur christlichen Erwartung des nahen Weltendes konträr verhaltenden Einschätzung der Zeitsignaturen, eben der ġěƲėęēĔċƯĔċēěęư« (146, vgl. ebd. Anm. 679). 68 In Apg 17,1–9 wird die Mission in Thessalonich nach dem üblichen lk Muster so geschildert, dass Paulus in der Synagoge beginnt und an drei Sabbaten dort predigt; einige Juden und viele griechische ĝďČƲĖďėęē hätten sich überzeugen lassen. Zur Differenz zwischen den Aussagen des Paulus und der Schilderung des Lukas s. D. Lührmann, The Beginnings of the Church at Thessalonica, in: D. L. Balch / E. Ferguson / W. A. Meeks (eds.), Greeks, Romans, and Christians. Essays in Honor of Abraham J. Malherbe, Minneapolis 1990, 237–249. 69 Dass Paulus auch Juden das Evangelium gepredigt hat, ist trotz der in Gal 2,9 zitierten Vereinbarung sicher; vgl. 1 Kor 9,20; Röm 11,14. 70 Vgl. vor allem JosAs 11,10: »Ich habe gehört viele sagend, daß der Gott der Hebräer wahrer Gott ist und lebender Gott« (Übers. Chr. Burchard, JSHRZ II/4, 1983, 660). 71 Vgl. H. Traub, Art. ęƉěċėƱĜĔĞĕ,, ThWNT V, Stuttgart 1954, 511. 72 Vgl. E. Sjöberg / G. Stählin, Art. ŽěčƭĔĞĕ., ThWNT V, Stuttgart 1954, 415 Z 5–24.

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der Synagoge zugeordnet gewesen wäre.73 Das zeigt sich besonders deutlich in 2,14–16, wo aus offenbar aktuellem Anlaß Verfolgungen erwähnt werden, die Judenchristen in Judäa durch Juden erlitten hatten. Die Formulierung zeigt, dass es eigenständige Gemeinden sind, die verfolgt werden, nicht etwa einzelne Christen, die sich womöglich noch innerhalb des Verbandes der Synagoge befinden. Nur hier wird zu der Bezeichnung őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ zusätzlich die Näherbezeichnung őėāěēĝĞȦŵđĝęȘ hinzugefügt; offenbar sollte bewußt der auf Christus bezogene Charakter dieser őĔĔĕđĝưċ betont werden. Natürlich müssen nicht sämtliche »Christen« in Judäa zu solchen őĔĔĕđĝưċēgehört haben; es können durchaus sowohl in Jerusalem wie auch im übrigen Judäa Menschen an Jesu Auferweckung von den Toten geglaubt und sich gleichwohl zur Synagoge gehalten haben, doch der Regelfall scheint dies nicht gewesen zu sein.74 Innerhalb des Abschnitts 1 Thess 2,14–16 enthalten die Aussagen in V. 15 f. eine scharfe Polemik gegen Juden, so dass in der Exegese bisweilen vermutet wird, Paulus könne dies nicht formuliert haben, sondern es liege eine spätere Glosse vor.75 Tatsächlich finden sich hier massive Klischees, so die Aufnahme der antijüdischen heidnischen Polemik, die Juden seien »allen Menschen feind« und die Aussage über (Gottes) ŽěčƭďŭĜĞƬĕęĜ.76 Allerdings schreibt Paulus – wenn er tatsächlich der Autor ist – hier nicht kühl analysierend, sondern hinter den Formulierungen stehen konkrete Erfahrungen offenbar auch sehr persönlicher Art.77 Indem diese Juden christliche 73 Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. Anm. 62) sieht in der antijüdischen Tendenz des 1 Thess gerade ein Indiz für die nachpaulinische Abfassung; sie sieht vor allem in 2,16 einen Zusammenhang mit der Tempelzerstörung im Jahre 70 (aaO., 240). 74 Die Formulierung hier in 1 Thess 2,14 wie auch in Gal 1,23 läßt fragen, wieviele őĔĔĕđĝưċē es in Judäa gegeben haben könnte und wieviele Mitglieder sie hatten; aber hier ist überhaupt keine Antwort möglich. 75 Vgl. die bei T. Holtz, Der Erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1986, 97 und 109 f. dargestellte Diskussion und vor allem Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. Anm. 62), 29–77 (zur Forschungsgeschichte 32–45). Crüsemann sieht 2,14–16 als integrierenden Bestandteil des (pseudepigraphen) Textes. 76 Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. Anm. 62), 76 erklärt dies damit, dass das angesagte »Gericht über jüdische Menschen … als Trost für eine ›heidenchristliche‹ Gemeinde« diene. »Hier wird eine als endgültig verstandene ›christliche‹ Trennung vom Geschick des jüdischen Volkes, ›der Juden‹ an sich, formuliert.« Zu 2,14–16 kommt sie zu dem Ergebnis, »vor dem Hintergrund der gefährlichen Denunziationspraktiken im römischen Reich des 1. Jh.« sei der Abschnitt »wie eine ausgefeilte Anklageschrift, die aufgrund der Schwere der Vorwürfe von Menschenfeindlichkeit und Gottlosigkeit an die Adresse des Judentums eigentlich nur zur juristischen Verurteilung, in letzter Konsequenz zur Todesstrafe führen kann« (240). Das Judentum werde »als geschlagene Größe sachlich mit dem imperialen Staat und seinen Strukturen gleichgesetzt, in der Hoffnung, dass dieser alsbald ebenso am Boden liegen möge, wie das jüdische Volk [sc. nach der Tempelzerstörung im Jahre 70], das nach Meinung der Verfasser von Gott gerichtet worden sei« (ebd.). 77 In 2,18 heißt es explizit őčƵ … ûċȘĕęĜ, d.h. der in 2,13 beginnende Gedankengang scheint stark von seiner persönlichen Perspektive her formuliert zu sein.

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őĔĔĕđĝưċē verfolgen und die paulinische Mission behindern78, handeln sie bewußt im Widerspruch zum Willen Gottes, und deshalb, so die Schlußfolgerung, ist das Gericht über sie ein endgültiges (2,16). Wird in 1 Thess 2,15 f. von einer Verwerfung (ganz) Israels und vom Gericht über »die (= alle) Juden«.gesprochen?79 Wenn der Text auf Paulus selber zurückgeht, so ist diese Auslegung schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil Paulus stets gehofft hat, er könne durch seine Mission direkt (1 Kor 9,19–23) oder indirekt (Röm 11,13–15) auch Juden für Christus gewinnen. Möglich ist natürlich die Annahme einer »Entwicklung« im Denken des Paulus; aber selbst bei einer sehr frühen Datierung des 1 Thess liegen die Abfassungszeiten der betreffenden Briefe nicht so weit auseinander, dass mit einer massiven Selbstkorrektur des Apostels in dieser fundamentalen Frage gerechnet werden sollte. Mit ęŮ ŵęğĎċȉęē in 2,14 f. dürften diejenigen Juden in Judäa bzw. vor allem in Jerusalem gemeint sein, die Paulus als für Jesu Tod verantwortlich ansieht; dafür spricht der unmittelbar angeschlossene Hinweis auf das gewaltsame Sterben »der Propheten«  – ein deuteronomistisches Theologumenon, das auch in Lk 13,34/Mt 23,37 Q verwendet wird. Insofern liegt in 1 Thess 2,15.16 kein »antijüdischer« Topos vor, sondern eine innerjüdisch mögliche Polemik.80

V. Paulus als Apostel für »alle Völker« Paulus hat seine ihm von Gott anvertraute Aufgabe darin gesehen, den ŕĒėđ, also den Nichtjuden, das Evangelium zu verkündigen (Gal 1,15 f.); er Die Aussage, die Juden (in Judäa?) versuchten, die paulinische Predigt bei den ŕĒėđ zu verhindern (2,16a), ist schwer zu erklären. Wie könnten derartige Versuche konkret ausgesehen haben? Zwei Interpretationen sind denkbar: Entweder spricht Paulus doch nicht allein von den »Judäern«, sondern ganz unspezifisch von Juden in aller Welt und denkt womöglich daran, dass er selbst von ihnen bei den römischen Behörden als »Aufrührer« oder als »Lehrer fremder Götter« angezeigt wurde, wie es die Apostelgeschichte an einigen Stellen schildert und wie es der Peristasenkatalog in 2 Kor 11,24 f. nahelegen könnte. Oder Paulus bezieht sich – was dem Kontext besser entsprechen würde – allein auf Juden in Jerusalem, und dann könnte im Hintergrund die Erfahrung stehen, dass Jerusalemer Juden die dortigen Judenchristen dahingehend zu beeinflussen versuchten, die gesetzesfreie Heidenmission zu verwerfen. Gal 2,4 f. und Apg 15,1 könnten Indiz dafür sein, dass es solche Bestrebungen tatsächlich gegeben hat. 79 So Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe (s. Anm. 62), 56–62, die den Text freilich stark von späteren judenfeindlichen Formulierungen her interpretiert. Sie betont, im NT gebe es die Aussage, »die Juden« hätten Jesus getötet, sonst nicht; selbst das JohEv müsse »einräumen, dass ›die Juden‹ vor Pilatus selbst sagen: ›Wir dürfen niemand töten‹ (18,31)«, so dass dann Pilatus das Urteil fällt und seine Soldaten es vollstrecken. 80 Dass eine derart aggressiv formulierte Polemik nach Sprache und Inhalt nicht unserem Denken entspricht, nicht entsprechen darf, ist keine Frage; aber in ähnlicher Weise werden wir uns auch von etlichen anderen Aussagen der Bibel Alten wie Neuen Testaments zu distanzieren haben. 78

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hat aber auch Juden – und er spricht in diesem Zusammenhang stets von ęŮ ŵęğĎċȉęē, nicht von ›Israel‹ – als Adressaten seiner Predigt immer mit im Blick gehabt. Die Gründe dafür sind theologischer, nicht etwa missionstaktischer Art. Das vielzitierte ĖƭčƬėęēĞę in Röm 11,1, mit dem Paulus die Frage »Hat Gott sein Volk etwa verstoßen?« beantwortet, wird von ihm ja ausdrücklich begründet mit dem Hinweis darauf, dass er selber »Israelit« ist; hätte Gott sein Volk verstoßen, so gäbe es – so die paulinische Argumentation  – gar keine Judenchristen.81 Gerade die Existenz der zu Israel gehörenden Christusgläubigen ist für den aus Israel stammenden Völkerapostel der Beweis, dass Gott sein Volk nicht verstoßen haben kann, obwohl dieses in seiner Mehrheit die Gottesoffenbarung in Christus verwirft. Paulus sagt in Röm 11 nicht, dass das empirische Israel als solches nach wie vor das Volk Gottes ist, zumal nach Röm 9,6 für ihn fest steht: »Nicht alle aus Israel sind Israel.« Aber von einer Verwerfung ganz Israels kann nicht die Rede sein; denn es gibt, wie Paulus in einem außerordentlich kühnen Gedankengang in Röm 11,2–6 ausführt, eine Analogie zu jenen »siebentausend Männern, die [zur Zeit des Elia] ihre Knie nicht gebeugt hatten vor der Baal«.82 In dem Bild vom Ölbaum führt Paulus in 11,17–24 aus, dass die nicht an Christus glaubenden Juden zwar gegenwärtig die aufgrund ihrer ŁĚēĝĞưċ von Gott »ausgerissenen Zweige« sind, dass aber Gott die Macht hat, sie wieder in den Ölbaum einzupfropfen (11,23); die Formulierung in 11,24 scheint anzudeuten, dass Paulus dies nicht als eine vage Möglichkeit ansieht, sondern darauf hofft. Paulus hatte die Erfahrung gemacht, dass er durch seine Mission allenfalls »einige« derer, die er »mein Fleisch« nennt, zu »retten« vermag (Röm 11,14). Für ihn ergibt sich daraus die Frage, was mit der großen Mehrheit geschehen wird, die zwar die Predigt hört, sich ihr aber verweigert (10,14–21). Paulus war offensichtlich nicht der Meinung, es gebe für dieses Israel einen »Sonderweg« zur Rettung, gleichsam an Christus vorbei. Aber er verkündet den judenchristlichen wie heidenchristlichen Adressaten des Römerbriefes ein ĖğĝĞƮěēęė (11,25), das – weit davon entfernt, Ausfluß einer Geschichtsspekulation zu sein83 – unmittelbar aus dem paulinischen Gottesverständnis 81

Vgl. dazu unten S. 165. Vgl. dazu A. Lindemann, Paulus und Elia. Zur Argumentation in Röm 11,1–12, in: V. A. Lehnert / U. Rüsen-Weinhold (Hg.), Logos-Logik-Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes. Festschrift für Klaus Haacker, ABG 27, Leipzig 2007, 201–218. 83 Bultmann, Theologie des NT (s. Anm. 1), 484 meint, in der bei Paulus erkennbaren »Weisheit« seien »Phantasie und spekulierendes Denken ebenso wie die Motive apokalyptischer und mythologischer Tradition wirksam«; auf solche Tradition gingen Röm 8,20 ff. und »das eschatologische ĖğĝĞƮěēęė« in 1 Kor 15,51 ff. zurück, »während das heilsgeschichtliche ĖğĝĞƮěēęė Rm 11,25 ff. der spekulierenden Phantasie entspringt«. Das ist sicher eine Fehlinterpretation dessen, was Paulus in Röm 11,25–32 schreibt. 82

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resultiert: Die »Verstockung« eines Teils von Israel ist befristet ŅġěēęƐĞƱ ĚĕƮěģĖċ Ğȥė őĒėȥė ďŭĝƬĕĒǹ, und so (ęƎĞģĜ) wird »ganz Israel« gerettet werden, »wie geschrieben steht«, dass »aus Zion der Retter kommen und die Gottlosigkeit von Jakob wegnehmen wird« (Röm 11,26 im Zitat aus Jes 59,20 f.). Die Wendung ŢĘďēőĔýēƵėžȗğƲĖďėęĜŁĚęĝĞěƬĢďēŁĝďČďưċĜŁĚƱ ŵċĔƶČ84 bezieht sich im Kontext von Röm 11 auf die Parusie Christi, der ebenso wie in 1 Thess 1,10 der »kommende Retter« ist. Christus wird, wie Paulus abschließend in 11,32 sagt, Gottes Erbarmen umfassend verwirklichen. Es ist für Paulus also selbstverständlich, dass auch für Israel eine »Rettung« ohne Jesus Christus nicht möglich ist; aber der Apostel war offensichtlich nicht der Meinung, das empirische Israel, also die Gesamtzahl der Juden, müsse im Verlauf der Geschichte zum Glauben an Jesus Christus kommen, sich womöglich der »Kirche« eingliedern, weil anders Gottes Erbarmen nicht erlangt werden könne. Für Paulus ist Israel (in seiner Mehrheit) gegenwärtig »ungehorsam«, so wie das einst auch für die Menschen aus den Völkern galt (11,30 f.), und deshalb muß der ȗğƲĖďėęĜ die »Gottlosigkeit« von Jakob wegnehmen; aber Paulus erwartet dies als ein eschatologisches, nicht als ein (womöglich kirchen-)geschichtlich zu verwirklichendes Ereignis.85 Verbindet man das mit der im einzelnen allerdings schwer zu erklärenden Rede vom ĚĕƮěģĖċĞȥėőĒėȥė (11,25)86, so legt sich der Schluß nahe, dass Paulus hier den Gedanken einer »Allversöhnung« vertritt: Die ĚƪėĞďĜ, von denen er in 11,32 spricht, sind offenbar tatsächlich »alle« Menschen, ohne Zum Problem der von Jes 59,20 LXX abweichenden Lesart őĔ ýēƶė anstelle von ŖėďĔďėýēƶė s. Koch, Schrift, 175–177. B. Schaller, òùðôðõýôăøúüĂú÷ðøúý. Zur Textgestalt von Jes 59:20 f. in Röm 11:26 f., in: Ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament (hg. L. Doering / A. Steudel), StUNT 25, Göttingen 2001, 162–166 hält die Annahme einer Verschreibung für möglich, durch die aus einem ursprünglichen ðøýôăø das ðõýôăø geworden wäre, das Paulus dann als korrekte Textfassung ansieht. Der Text in Jes 59,20 LXX lautet ĔċƯŢĘďēŖėďĔďė ýēģėžȗğƲĖďėęĜ. 85 Diese theologisch begründete Absage an eine christliche »Judenmission« kann keinesfalls besagen, dass es in der Kirche keine Juden geben dürfe. Vgl. zum ganzen Thema U. H. J. Körtner, Volk Gottes  – Kirche  – Israel. Das Verhältnis der Kirchen zum Judentum als Thema ökumenischer Kirchenkunde und ökumenischer Theologie, ZThK 91 (1994) 50–79, vor allem 73. Problematisch ist allerdings Körtners Feststellung, die Rettung aller geschehe nach Paulus »vermittels des Glaubens«; Röm 11,23, worauf Körtner sich beruft, gibt dies nicht her, denn dort ist nicht vom »Glauben« der bisher »ungläubigen« ausgerissenen Zweige die Rede, sondern allein von Gottes Macht. 86 Der Begriff ĚĕƮěģĖċ bezeichnet die »Vollzahl«, also offensichtlich nicht eine Auswahl; K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHKNT 6, Leipzig 1999, 237 meint, es gehe nicht um eine festgelegte Zahl von Nichtjuden, sondern es sei »an die Vollzahl der Völker zu denken, die erreicht werden soll«, was der Aussage in Röm 15,20 f. entspreche. Aber schon durch die Analogie zu ĚǬĜŵĝěċƮĕ in 11,26 dürfte eine Deutung ausgeschlossen sein, die ĚĕƮěģĖċ im Sinne einer Teilgröße versteht. Vgl. G. Delling, Art. ĚĕƮěđĜĔĞĕ., ThWNT VI, Stuttgart 1959, 300. 84

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Ausnahme.87 Der Unterschied liegt dann darin, dass die einen im Glauben schon gegenwärtig vom umfassenden Erbarmen Gottes wissen und aus diesem Wissen leben, die anderen dagegen nicht.

VI. Jesus aus Nazareth als der Christus Gottes Ist der kommende »Retter aus Zion«, ist der Christus, an den Paulus glaubt und dessen Kreuzestod und Auferweckung durch Gott er verkündigt, der Jude Jesus aus dem galiläischen Städtchen Nazareth? Dass Jesus Jude war, steht für Paulus natürlich außer jeder Frage; explizit sagt er es in Röm 9,5 und Röm 15,8, und er setzt es in Gal 4,4 voraus in der Aussage, der von Gott gesandte Sohn sei »getan worden ƊĚƱėƲĖęė«. Unmißverständlich ist Röm 1,3b, denn wenn der Sohn Gottes »ĔċĞƩ ĝƪěĔċ aus dem Samen Davids« ist, dann ist er natürlich ein geborener Jude. Allerdings verwendet Paulus hier offenbar eine Formel, in der die Wendung őĔĝĚƬěĖċĞęĜïċğưĎ nicht einfach die abstammungsmäßige Herkunft des irdischen Jesus bezeichnet, sondern vor allem dessen Messianität.88 Der irdische Jesus war Jude; doch sein Sterben »für uns« bzw. »für Gottlose« bzw. »für Sünder« (Röm 5,6.8 u.ö.) geschah für alle Menschen, Juden wie Nichtjuden; dem entspricht es, dass die Mission unter den ŕĒėđ für Paulus kein kirchengeschichtlich sekundäres Ereignis ist, sondern immer schon dem Willen Gottes entsprach, wie vor allem die Argumentation in Röm 3,29 zeigt. Dass der historisch unbestreitbare Sachverhalt, dass Jesus Jude war, von Paulus offensichtlich nicht theologisch reflektiert wird, ist im Grunde nicht erstaunlich; es gilt doch, dass »in Christus« die Unterscheidung von »Jude« und »Grieche« aufgehoben ist, wie die auf die Taufe bezogene Aussage in Gal 3,28 zeigt, die Paulus leicht modifiziert auch in 1 Kor 12,13 verwendet. Dem widerspricht nicht das ŵęğĎċưȣĞďĚěȥĞęėĔċƯŜĕĕđėē in Röm 1,16 und dessen zweimalige Wiederholung in Röm 2,9 f.; dann anders als in der Konzeption der Apostelgeschichte, wo das ĚěȥĞęė in 13,46 einen historischen und damit doch wohl auch heilsgeschichtlichen Vorrang der Judenvor der Heidenmission anzeigt, dem sich die Juden freilich widersetzen, beschreibt Paulus mit dem ĚěȥĞęė weder die historische Entwicklung des 87

E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 303 meint, die Aussage könne nicht mit Gewißheit »paulinisch genannt werden«, sondern »die Formelhaftigkeit der Wendung und das absolut gebrauchte ďŭĝƬěġďĝĒċē für den Eingang in die Gottesherrschaft« sprächen »eher für vorpaulinische Tradition«. 88 Wichtige Beobachtungen dazu bietet Eung-Bong Lee, Das Verständnis der Funktion des Präskripts im Römerbrief, Diss. Bethel 2007, 40–44. Die Wendung őĔĝĚƬěĖċĞęĜ ïċğƯĎĔċĞƩĝƪěĔċ ist kein typisches Attribut des Messias, sondern durch sie wollte Paulus »die Beziehung des Gottessohnes zu Israel bzw. den Juden in seinem irdischen Leben betonen« (43).

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Missionsprogramms noch behauptet er einen bleibenden »Vorrang« der Juden. Die Differenzierung zwischen ŵęğĎċȉęĜ und Ŝĕĕđė dient gerade dazu, ein jedesmal vorangegangenes betontes ĚǬĜ zu explizieren: Die von Paulus verkündigte Botschaft nimmt auf den auch für Paulus natürlich nach wie vor bestehenden faktischen Unterschied von »Jude« einerseits und »Heide« bzw. »Grieche« andererseits89 keine Rücksicht mehr.90 Das Jesusbild der als Erzähltexte konzipierten neutestamentlichen Evangelien ist ein anderes. Hier ist die Tatsache, dass der irdische Jesus ein Jude war, in den Texten jederzeit wahrnehmbar, wobei sich vom Markus- hin zum Lukas- bzw. zum Matthäus-Evangelium sogar eine gewisse Steigerung der Intensität dieses Bildes erkennen läßt.91 Lukas und in anderer Weise auch Matthäus machen aber dabei allerdings auch deutlich, dass es ihnen nicht in erster Linie um die Erinnerung an ein historisches Faktum geht. Ihr heilsgeschichtlicher Ansatz soll in erster Linie zeigen, dass das JesusGeschehen den Verheißungen Gottes entspricht. In Jesus – und das meint exklusiv: nur in ihm – hat sich erfüllt, was in der Schrift angesagt worden war. Um so unbegreiflicher ist es dann jedoch in den Augen der Evangelisten, dass das Volk Israel diese Erfüllung der göttlichen Verheißungen nicht erkannte und dass seine führenden Repräsentanten dazu bereit waren, Jesus, den Sohn Gottes, den Messias, den »König«, durch Pilatus hinrichten zu lassen. Das ändert aber für die Verfasser der synoptischen Evangelien nichts an der historischen und zugleich heilsgeschichtlich relevanten Tatsache, dass Jesus zum Gottesvolk Israel gesandt worden war; die Perspektive einer die Grenzen zu den Völkern überschreitenden Wirksamkeit Jesu deutet sich allenfalls ganz am Rande an. Bei Markus ist die Tendenz, Jesus mit »Heiden« in Berührung kommen zu lassen, noch am ausgeprägtesten. Bei Lukas wird dieser Aspekt zurückgedrängt, was natürlich auch mit der Gesamtanlage seines Doppel89 Dass dieser Unterschied besteht, ist ja auch in der Formel von Gal 3,28 vorausgesetzt bzw. sogar explizit gesagt; verneint wird die theologische Relevanz dieses Unterschieds. 90 Vgl. zur Auslegung des ĚěȥĞęė U. Wilckens, Der Brief an die Römer, 1. Teilband. Röm 1–5, EKK VI/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 85: »Das Evangelium negiert nicht nur den gesellschaftlichen Unterschied zwischen Griechen und Barbaren (1,14), sondern, für den jüdischen Aspekt noch ungleich radikaler, auch die heilsgeschichtliche ĎēċĝĞęĕƭŵęğĎċưęğ Ğď ĔċƯ ȐðĕĕđėęĜ (10,12).« Wilckens zitiert dann zustimmend die Aussage Käsemanns, Paulus habe durch das ĚěȥĞęė »um der Kontinuität des Heilsplanes willen dem Judentum eine Prävalenz eingeräumt« (Käsemann, An die Römer [s. Anm. 87], 21). Aber Paulus spricht in Röm 1,16 vom Evangelium als der Gottesmacht, die »dem Juden zuerst« gilt; es ist nicht in einem geschichtstheologischen Sinn an die Gottesoffenbarung in der Tora vom Sinai gedacht. Bei Käsemann bleibt auch im größeren Kontext seiner Ausführungen undeutlich, was genau er mit dem Begriff »Prävalenz« meint. 91 Vgl. A. Lindemann, Jesus, Israel und die Völker. Zum Jesusbild der neutestamentlichen Evangelien, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte (s. Anm. 44), 368–405.

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werks zusammenhängt: »Heidenmission« wird nach Lk 24,47 erst vom auferweckten Christus angeordnet und ist ein bewußt erst im Ablauf der Kirchengeschichte beginnendes Geschehen. Im Matthäus-Evangelium weist der auferstandene und bereits erhöhte Christus92 die Jünger an, ĚƪėĞċĞƩ ŕĒėđ zu Jüngern zu machen, sie zu taufen und sie das von Jesus Gebotene zu lehren (Mt 28,18–20).93 Alle drei Evangelisten schreiben zu einer Zeit, in der es längst ein zahlenmäßig starkes, vielleicht sogar zahlenmäßig überlegenes Heidenchristentum gibt; aber es ist für sie klar, dass sich der irdische Jesus so gut wie ausschließlich an Menschen des Volkes Israel gewandt hatte.94 Am klarsten wird die Spannung zwischen der traditionellen Messianologie und dem Wirken Jesu im Johannes-Evangelium sichtbar. Das Vierte Evangelium95 weiß und spricht ganz offen aus, dass Jesus nicht in der Weise der Messias ist, wie Israel den Messias erwartet hatte; die Frage des Nathanael »Was kann aus Nazareth Gutes kommen?« (1,46) markiert schon zu Beginn einen der entscheidenden Anstöße, nämlich seine Herkunft aus Galiläa, sehr deutlich.96 Trotzdem ist Jesus der sichtbar von Gott Gesandte, denn  – wie Nikodemus feststellt  – »niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm« (Joh 3,2). Aber Israel  – oder, wie der Evangelist in der Regel schreibt: »die Juden« – verwirft ihn mehrheitlich; ja, indem einige sogar versuchen, ihn zu töten, zeigen sie, dass nicht Gott, sondern der Teufel ihr Vater ist (8,44).97 Die bereits erfolgte Erhöhung Christi wird durch die Wendung őĎƲĒđ Ėęē ĚǬĝċ őĘęğĝưċőėęƉěċėȦĔċƯőĚƯĞǻĜčǻĜ ausgesagt. 93 Zum Verständnis von Heilsgeschichte bei Matthäus vgl. A.-J. Levine, The Social and Ethnic Dimensions of Matthean Salvation History. »Go nowhere among the Gentiles …« (Matt. 10:5b), SBEC 14, New York 1988; zu Lukas vgl. J. A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke (I–IX). Introduction, Translation and Notes, AncB 28, Garden City 1981, vor allem 179–192. 94 Die Wendung ĚƪėĞċĞƩŕĒėđ in Mt 28,19 bezieht sich nach dem mt Sprachgebrauch auf alle Völker, einschließlich Israels; Matthäus unterscheidet zwischen ĞƩŕĒėđ und ĚƪėĞċ ĞƩŕĒėđ. 95 Auf dessen höchst umstrittene literarische und historische Probleme kann hier nicht eingegangen werden. 96 Vgl. ferner Joh 6,42, 7,27 und 7,40–44. Es ist denkbar, dass das Johannesevangelium hier gegen Elemente der Christologie der synoptischen Evangelien polemisiert; vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 360: »Daß sie [die Juden] hier [in 6,42] Jesus zunächst als den ›Sohn Josephs‹ identifizieren … ist für einen Leser, der die ›Vorgeschichten‹ Jesu bei Matthäus und Lukas kennt, nicht ohne Ironie.« Anders M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12, RNT, Regensburg 2009, 76–81, der annimmt, Joh sei von den synoptischen Evangelien unabhängig. 97 Vgl. hierzu immer noch E. Grässer, Die Juden als Teufelssöhne in Joh 8,37–47, in: Ders., Der Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, WUNT 35, Tübingen 1985, 154–167. K. Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10, ThKNT 4,1, Stuttgart 2000, 339: »Man kann so V. 44 aus seiner Entstehungssituation heraus verstehen, aber seine Aussagen werden damit nicht zu unschuldigen. Sie sind es erst recht nicht, wenn sie in der Auslegungsgeschichte nachgesprochen werden« 92

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Deutlicher als die synoptischen Evangelien läßt das Johannesevangelium zumindest an einigen Stellen die aktuelle Lage, in der es verfaßt wurde, erkennen. In der Beschreibung seines Verhältnisses zur nicht an Jesus glaubenden Mehrheit Israels ist das Evangelium vor allem bestimmt durch die Erfahrung dessen, was hier als ŁĚęĝğėƪčģčęē čưėďĝĒċē bezeichnet wird: Die Gruppe, in der das Vierte Evangelium entstand, hatte offensichtlich innerhalb der synagogalen Gemeinde verbleiben wollen; die Reaktion der jüdischen Mehrheit war jedoch ein offenbar massiver Akt der Verwerfung, wobei wir allerdings nicht wissen, was genau organisatorisch geschah.98 Jedenfalls wird nun umgekehrt die Abwendung der auf diese Weise »Ausgeschlossenen« vom übrigen Judentum besonders scharf formuliert: Diejenigen, auf die das Johannesevangelium zurückgeht, hatten den als ŁĚęĝğėƪčģčęēčưėďĝĒċē bezeichneten Vorgang erlebt, mit dem ihnen – unter welchem Rechtstitel auch immer – gegen ihren Willen ihre Zugehörigkeit zu Israel abgesprochen wurde, weil sie sich zu Jesus als dem von Gott Gesandten bekannten (Joh 9,22b). Die Reaktion ist jene für das Johannesevangelium charakteristische Mischung von massiver und pauschaler Polemik einerseits und dem andererseits immer wieder begegnenden Hinweis, dass »viele von den Juden« an Jesus glaubten (2,23; 7,31 u.ö.). Jesus geht regelmäßig zu den großen jüdischen Festen nach Jerusalem; zwar hält er sich einmal in Samaria auf99, aber er besucht niemals heidnisches Gebiet. Vor allem kommt es zu keiner Begegnung zwischen Jesus und nicht-jüdischen Menschen: Der Wunsch der – möglicherweise als Gottesfürchtige zu denkenden – »Griechen«, Jesus zu »sehen« (12,20 ff.), erfüllt sich nicht; und selbst aus dem heidnischen Hauptmann von Kafarnaum (Lk 7,1–10/ Mt 8,5–13 Q) ist in Joh 4,46–54 ein jüdischer ČċĝēĕēĔƲĜ geworden. Jesus ist »das Licht der Welt« (8,12), aber »die Welt« außerhalb Israels erfährt in der Zeit des irdischen Jesus davon nichts. Das Johannesevangelium schildert (Hervorhebung von mir). Die Aufgabe der Interpretation besteht aber doch in jedem Fall darin, einen Text  – gleich welchen Inhalts  – nicht einfach »nachzusprechen«; die »Wirkungsgeschichte« eines Textes kann sich unter Umständen weit vom ursprünglichen Sinn entfernen, ohne dass dafür der Autor verantwortlich zu machen wäre. 98 Über den Vorgang wissen wir nichts, mit Ausnahme der im Johannesevangelium selbst enthaltenen Nachrichten; enigermaßen deutlich erkennbar wird der Vorgang im Zusammenhang der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen (vgl. Joh 9,20–23.33 f.). Es kann sich nicht um eine »weltweite« Maßnahme gehandelt haben, und möglicherweise war es überhaupt nicht ein »offiziell« von einer übergeordneten Instanz angeordneter bzw. beschlossener Schritt. Es besteht insbesondere kein Zusammenhang mit der »Ketzerverfluchung« in der zwölften Berakha des Achtzehn-Gebets. Vgl. dazu J. Maier, Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike, EdF 177, Darmstadt 1982, 136–141. 99 In Joh 4 wird die Differenz zwischen Juden und Samaritanern auffallend stark betont; vgl. A. Lindemann, Samaria und Samaritaner im Neuen Testament, WuD22 (1993) 51–76, hier: 67–75.

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Jesus als Juden unter Juden – und doch sind die ŁěġēďěďȉĜ eher dazu bereit, die Messiashoffnung Israels vollständig preiszugeben als in dem von Gott gesandten Jesus den »König« zu erkennen (19,15).

VII. Folgerungen Welche Konsequenzen haben diese sich auf das Historische beschränkenden Beobachtungen am Neuen Testament für die Frage nach der christlichen Identität im Gegenüber zu Israel? Das Judentum scheint in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung das neu entstandene Christentum und auch die Person des Jesus von Nazareth kaum zur Kenntnis genommen zu haben. Das gilt für das griechisch-sprechende Judentum etwa des Flavius Josephus100 nicht anders als für die jüdische Apokalyptik.101 Es gilt offenbar auch für das rabbinische Judentum in Palästina und Babylon.102 Demgegenüber haben sich die Autoren der urchristlichen Schriften, die »Apostolischen Väter« und vor allem auch die Apologeten z. T. sehr intensiv sowohl mit der jüdischen Tradition wie auch mit der Tatsache des gegenwärtig existierenden Judentums auseinander gesetzt, und sie haben sich dabei auch darum bemüht, Jesus trotz der sich rasch entwickelnden, teilweise stark spekulativen kirchlichen Christologie dem Judentum zuzuordnen. Ein charakteristisches Beispiel ist Justins »Dialog mit dem Juden Tryphon«. Für das Judentum der ersten beiden Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung war die Kirche dagegen offensichtlich keine Größe, mit der in besonderer Weise ein Gespräch zu führen sich gelohnt hätte; die »Judenchristen«, die es ja wei-

100

Ob Flavius Josephus von Jesus und von »Christen« weiß, ist umstritten; die Textpassage in Ant XVIII 63 f. gilt im allgemeinen als zumindest »christlich überarbeitet«; vgl. Becker, Jesus (s. Anm. 7), 10 f. und die dort genannte Literatur. Schröter, Jesus von Nazareth (s. Anm. 3), 60–62 folgt einer Rekonstruktion des authentischen Josephus-Textes, derzufolge zum einen Jesus als Wundertäter und Lehrer beschrieben und vermutlich auch als »Christus« bezeichnet wurde und zum andern auch »das Volk der Christen« (ďŭĜŕĞēĞď ėȘėĞȥėāěēĝĞēċėȥėŁĚƱĞęȘĎďƙėęĖċĝĖƬėęėęƉĔőĚƬĕēĚďĞƱĠȘĕęė) erwähnt worden sei. Jedenfalls würde auch der so rekonstruierte Text kein besonderes Interesse des Josephus an Jesus und den »Christen« erkennen lassen. 101 Eine Ausnahme könnte ApkAbr 29,3–11 sein (so F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, UTB 1733, Tübingen 1994, 170 f.). Nach R. Rubinkiewicz, Apocalypse ofAbraham, in: J. H. Charlesworth (ed.), The Old Testament Apocrypha Vol. I, London 1983, 684 ist ApkAbr 29,3–13 Interpolation eines christlichen Herausgebers. 102 Vgl. Maier, Auseinandersetzung (s. Anm. 98); ders., Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, EdF 82, Darmstadt 1978. Anders P. Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 2007, 191: »Die Jesus-Passagen der rabbinischen Literatur, vor allem im babylonischen Talmud, bieten ein farbenprächtiges Kaleidoskop aus vielen – oft als Hirngespinste abqualifizierten – Fragmenten vom Leben Jesu, seinen Lehren und nicht zuletzt von seinem Tod.«

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terhin gab103, waren aus rabbinischer Perspektive vermutlich »Häretiker«, und die »Heidenchristen« waren eben einfach Heiden.104 Die Gründe für diese unterschiedlichen Perspektiven liegen auf der Hand: Das Christentum war schon aufgrund der Tatsache, dass der irdische Jesus ein jüdischer Mensch gewesen war105, und insbesondere auch aufgrund der Übernahme der jüdischen Heiligen Schriften als Teil des sich entwickelnden christlichen Kanons verbindlicher Schriften zu einer zumindest impliziten Auseinandersetzung mit dem Judentum gezwungen.106 So gewann das Christentum seine Identität auch im Zuge der Abgrenzung vom Judentum, eben weil die Christen davon überzeugt waren, dass die nicht an Gottes Offenbarung in Jesus Christus glaubenden Juden ihre eigene Geschichte mißverstanden, weil sie nicht sahen, dass diese Geschichte zu Jesus hinführte. Das Judentum sah sich demgegenüber ganz selbstverständlich in einer ungebrochenen historischen und sachlichen Kontinuität zum Israel der biblischen Zeit; es unterstrich dies nicht zuletzt auch dadurch, dass es die griechischsprachige (»hellenistische«) Überlieferung – einschließlich der immer mehr zu einer »christlichen« Schriftensammlung werdenden Septuaginta107  – als Fehlentwicklung verwarf108, mit der Folge, dass aus jüdischer Perspektive das christliche »Alte Testament« und die jüdischen Heiligen Schriften nicht mehr identisch waren. Eine Notwendigkeit, sich mit dem Christentum auseinanderzusetzen, entstand für die Juden erst, als die Christen  – in Verkennung ihrer eigenen Geschichte und Theologie  – Judenhaß und Judenverfolgung auf ihre Fahnen zu schreiben begannen.109 Ernst Ludwig Ehrlich schließt seinen TRE-Beitrag über Jesus im Judentum mit zwei thesenartigen Sätzen: »Der historische Jesus, soweit man ihn 103 Siehe G. Strecker, Art. Judenchristentum, TRE XVII, Berlin 1988, 310–325, besonders 319 ff. 104 S. dazu C. Thoma, Die Christen in rabbinischer Optik: Heiden, Häretiker oder Fromme?, in: H. Frohnhofer (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Ihre Motive und Hintergründe in den ersten drei Jahrhunderten, Hamburger Theologische Studien 3, Hamburg 1990, 23–49, hier: 26. 105 Möglicherweise könnte die Tendenz zu einem christologischen Doketismus, die besonders in der christlichen Gnosis virulent wird, auch dadurch mitverursacht worden sein, dass Jesu Judesein bestritten werden sollte. 106 Das gilt selbst für den Barnabasbrief, der die AT-Schriften »christlich« liest, aber dabei voraussetzt, dass die Propheten in Israel auf Christus hin geweissagt haben (5,6–8). 107 Vgl. dazu M. Hengel (unter Mitarbeit von R. Deines), Die Septuaginta als »christliche Schriftensammlung«, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons, in: M. Hengel/ A. M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72, Tübingen 1994, 182–284, hier: 205–209. 108 Vgl. dazu M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, 113–121. Die Ablehnung der LXX bedeutete keine grundsätzliche Verwerfung einer griechischen Bibelübersetzung, wie vor allem das Werk Aquilas zeigt (aaO., 87 f.). 109 Vgl. dazu H.-P. Stähli, Judenfeindschaft. Zum Verhältnis zwischen Christen und Juden in der Vergangenheit, WuD NF 19 (1987) 137–175.

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erschließen kann, ist heute Teil jüdischer Religionsgeschichte. Die Trennung zwischen Judentum und Christentum erfolgt nicht bei dem Juden Jesus, sondern angesichts der nach ihm entwickelten Christologie.«110 Diesen Feststellungen ist zuzustimmen, sofern klar ist, dass diese »Christologie« nicht ein Spätprodukt ist, womöglich Ergebnis des oft beschworenen »griechischen« bzw. »hellenistischen« Einflusses auf das Christentum. Die Juden und Christen voneinander trennende »Christologie« beginnt vielmehr mit dem Satz »Gott hat Jesus von den Toten auf erweckt«; dieser Satz meint nicht die Wiederbelebung eines Verstorbenen, sondern die Erhöhung des Auferweckten zum »Herrn«. Dieses Bekenntnis trennt »Christen« und »Juden« von allem Anfang an, auch wenn die »Christen« in den ersten Jahren nach Ostern ausschließlich aus dem Judentum kamen. Jüdischer Glaube kann um der eigenen Identität willen die Rede von Gottes Handeln an dem gekreuzigten Jesus nicht akzeptieren111, und christlicher Glaube kann aus eben demselben Grunde nicht auf ihn verzichten. Nicht Leben und Wirken des irdischen Jesus ist Grund und Inhalt des christlichen Glaubens, sondern Gottes »österliches« Handeln an dem Gekreuzigten.

110 E. L. Ehrlich, Art. Jesus Christus, IX. Judentum, TRE XVII, Berlin 1988, 68–71, hier: 70. 111 Das wird sehr klar sichtbar, wenn D. Flusser sein Buch »Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten« (RoMo 140, Reinbek 1968) betont schließt mit dem Satz: »Und Jesus verschied« (133).

Paulus – Pharisäer und Apostel Paulus war von Geburt an Jude, und er verstand sich ausweislich der uns erhaltenen Quellen während seines ganzen Lebens als Jude, d.h. als Angehöriger des Volkes Israel. Vor seiner Berufung zum Apostel Jesu Christi war er Pharisäer gewesen, und es besteht »überhaupt keine Veranlassung, an seiner Selbstbezeichnung als einem ehemaligen Pharisäer zu zweifeln«.1 In drei seiner uns erhaltenen Briefe verweist Paulus auf seine Zugehörigkeit zum Volk Israel.2 In Phil 3,5 bezeichnet er sich als »Pharisäer entsprechend dem Gesetz« (ĔċĞƩėƲĖęėĀċěēĝċȉęĜ), fügt aber in V. 7 sofort hinzu, dass dies mittlerweile Vergangenheit ist. Jürgen Becker fragt in seinem Paulusbuch unter der Überschrift »Paulus als Pharisäer der Diaspora« nach den für uns als pharisäisch zu identifizierenden Spuren im Denken des (Apostels) Paulus3; er widerspricht indirekt der bisweilen vertretenen These, dass Paulus lediglich ein Zerrbild des zeitgenössischen Judentums biete. Es müsse »als unwahrscheinlich gelten, daß Paulus sich erst nach seiner Wende eine Anschauung vom Judentum bildete«, vielmehr sei es »wahrscheinlich, daß sein christliches Urteil über das Judentum, seine christliche Beschreibung desselben und seine Aufnahme jüdischer Materialien ihre Wurzeln in der jüdischen Zeit des Apostels haben«.4 Im folgenden soll versucht werden, das Verhältnis des »christlichen« Apostels Paulus zum einstigen Pharisäer Paulus zu erörtern.

I. Historische Nachrichten über die Pharisäer Der Begriff ĀċěēĝċȉęĜ ist literarisch vorneutestamentlich nicht belegt.5 Paulus und Flavius Josephus sind die einzigen Autoren, von denen wir ein 1

J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 42. Becker betont sofort , dass angesichts der Quellenlage eine genaue Beschreibung des für Paulus zeitgenössischen Pharisäismus schwierig ist. 2 Er verwendet allerdings nicht die Selbstbezeichnung ŵęğĎċȉęĜ, sondern er spricht von sich als ŵĝěċđĕưĞđĜ (Röm 11,1; 2 Kor 11,22, vgl. Phil 3,5; Röm 9,4). Vgl. dazu meinen Aufsatz: Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament (s.u. S. 149–189, hier: 156 f.). 3 Becker, Paulus (s. Anm. 1), 42–53. 4 Becker, Paulus (s. Anm. 1), 44. 5 Zum Sprachgebrauch vgl. K. Weiss, Art. ĀċěēĝċȉęĜ, ThWNT IX, Stuttgart 1973, 12 f.

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Selbstzeugnis über ihre zumindest zeitweilige Zugehörigkeit zum Pharisäismus besitzen.6 Josephus schreibt (Vit 9–11), er habe dank sehr guter Erziehung und Begabung schon im Alter von etwa 14 Jahren über herausragende Gesetzeskenntnis verfügt; mit etwa 16 Jahren habe er die drei jüdischen »Schulrichtungen« (ċŮěƬĝďēĜ) durch eigene Erfahrung intensiv kennengelernt und sich schließlich dem asketischen Wüstenbewohner Bannus angeschlossen. Im Alter von 19 Jahren habe er dann begonnen »am öffentlichen Leben teilzunehmen« (ĚęĕēĞďƴďĝĒċē), indem er sich »an der Sondergruppe der Pharisäer orientierte«7 bzw. sich »der Richtung der Pharisäer anschloß«.8 Zwar wird darauf hingewiesen, »eine regelrechte Zugehörigkeit … zu den Pharisäern« sei »angesichts der weithin kritischen Pharisäerdarstellungen in B[ellum Iudaicum] und A[ntiquitates Iudaicae] … in Zweifel zu ziehen«9; aber auch wenn Josephus »nicht unbedingt als der Parteigänger der Pharisäer zu betrachten ist, als den man ihn meist sieht«, so ändert das »nicht viel an der Bewertung seiner direkten Kenntnis der Pharisäer«.10 Weder Pharisäer noch auch Sadduzäer dürfe man sich allerdings als »eigentliche Parteien mit einer streng geformten Dogmatik und mit einem eigentlichen Zweckparagraphen« vorstellen11; gleichwohl muß es sich doch um nach außen wie nach innen identifizierbare Gruppen gehandelt haben.12 6

Vgl. K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, WUNT 62, Tübingen 1992, 49. 7 So lautet die Übersetzung der Wendung ĞǼĀċěēĝċưģėċŮěƬĝďēĔċĞċĔęĕęğĒȥė (Vit 12) in der Ausgabe: Flavius Josephus, Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar von F. Siegert / H. Schreckenberg / M. Vogel und dem Josephus-Arbeitskreis des Institutum Judaicum Delitzschianum Münster, 2001, 27. 8 So die Übersetzung bei G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991, 10. 9 So die Anmerkung zu Vit 12 (in der oben genannten Ausgabe, 163). 10 Stemberger, Pharisäer (s. Anm. 8), 11. 11 S. Holm-Nielsen, Erwägungen zu dem Verhältnis zwischen den Hodajot und den Psalmen Salomos, in: S. Wagner (Hg.), Bibel und Qumran. Beiträge zur Erforschung der Beziehungen zwischen Bibel- und Qumranwissenschaft (FS Hans Bardtke), Berlin 1968, 112–131, hier: 119. »Man ist nahe daran sich vorzustellen, daß Mitgliedskarte und Beitrag gefordert wurden, damit ein Jude sich Pharisäer oder Sadduzäer nennen konnte!« 12 Vgl. A. J. Saldarini, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society, Edinburgh 1989, vor allem 277–297. Zur Frage der »Definition« vgl. R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997: »Der Begriff ›Pharisäer‹ ist nicht scharf eingrenzbar, weil er in den Quellen nicht definiert ist. Pharisäer ist, wer sich selbst als Pharisäer bezeichnet, oder von anderen als solcher bezeichnet wird.« »Die Selbstbezeichnung dient eindeutig dem Nachweis der engen Zugehörigkeit zum Judentum in seiner ›besten‹ Gestalt, der offenbar vor allem dann nötig war, wenn eine Person sich innerjüdisch rechtfertigen mußte.« Insbesondere bezeichnet der Begriff »ein bestimmtes Verhältnis zum Gesetz«, wobei das Bild der Pharisäer »als Tradenten, Bewahrer und Ausgestalter der gesetzlichen Tradition in seiner schriftlichen und seiner herkömmlichen Gestalt (›Sitte‹) … schlechterdings nicht zu negieren« ist (540.541, Hervorhebungen im Orig.).

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Pharisäer13 lebten in Judäa, insbesondere in Jerusalem, und vermutlich auch in Galiläa.14 Die Frage, ob es Pharisäer in der Diaspora gab, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet.15 J. Becker bezeichnet Paulus als einen »Pharisäer aus Tarsus«16 und setzt dabei voraus, es habe in der Diaspora »einige Pharisäer« gegeben, die eine Art Missionstätigkeit betrieben, indem sie »die Randsiedler der Synagoge, d.h. die sog. Gottesfürchtigen, die dem jüdischen Monotheismus anhingen, jedoch die Beschneidung scheuten, und die Proselyten vermehrt« hätten.17 In diesem Sinne könnte Paulus ein 13 Zur Entstehung und Geschichte des Pharisäismus bis zum Jahre 70 n. Chr. s. Weiss, Art. ĀċěēĝċȉęĜ (s. Anm. 5), 13–31. Ferner A. I. Baumgarten, Art. Pharisäer, RGG4 6, Tübingen 2003, 1262–1264 und die dort genannte Lit. 14 Saldarini, Pharisees (s. Anm. 12), 291–297. S. Freyne, Jesus, a Jewish Galilean. A New Reading of the Jesus-Story. London 2004, 83: »If there were Pharisees in Galilee the more likely locations in which to find them would be either in the Herodian cities or in medium-sized places such as Jotapata, Gamla, Gischala, Meiron and Khirbet Shema – all sites in which evidence of a more observant form of Jewish identity have been uncovered for the first century – and not in the small rural hamlets dotted throughout the countryside.« Die neutestamentlichen Evangelien setzen ohne weiteres voraus, dass Jesus in Galiläa Pharisäern begegnet. 15 G. Strecker/T. Nolting, Der vorchristliche Paulus. Überlegungen zum biographischen Kontext biblischer Überlieferung – zugleich eine Antwort an Martin Hengel, in: T. Fornberg / D. Hellholm (eds.), Texts and Contexts. Biblical Texts in Their Textual and Situational Contexts (FS Lars Hartman), Oslo 1995, 713–741 meinen, Pharisäer seien »zwar nahezu ausschließlich für den palästinischen Raum nachzuweisen«, doch setze eine Aussage wie Mt 23,15 »die Wirksamkeit der Pharisäer in der Diaspora« voraus (732). Strecker kommt es vor allem darauf an, dass Paulus durchaus »in der Diaspora Anschluß an den Pharisäismus gefunden und dort auch als Pharisäer gelebt haben« könnte (733; s. dazu unten). M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: M. Hengel / U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, 177–291, hier: 230 f. betont hingegen, dass Pharisäer schon um der kultischen Reinheit willen möglichst im Heiligen Land leben wollten und mußten; eine Flucht in die Fremde etwa aus politischen Gründen bedeutete »für die Betroffenen eine religiöse Katastrophe«. Stemberger, Pharisäer (s. Anm. 8), 112 meint, aus dem »zufälligen Schweigen der Quellen« über Pharisäer in der Diaspora dürfe nicht gefolgert werden, es habe sie nicht gegeben, »auch wenn die Einhaltung verschiedener religiöser Gesetze, v.a. im Bereich der Reinheit, in der Diaspora sicher sehr schwierig gewesen sein muß«. J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexander des Grossen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert, Berlin 1972, 76 spricht von einem »eindeutig nachweisbar[en] … pharisäischen Interesse an der Diaspora«, wozu »auch die Proselytenwerbung« gehört habe; konkret verweist Maier auf die babylonische Diaspora. 16 So lautet bei Becker, Paulus (s. Anm. 1) die Überschrift zu Teil 3 (34–59). Ähnlich U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin / New York 2003, 49–56 (»Der Diasporapharisäer Paulus«). 17 Becker, Paulus (s. Anm. 1), 43 bezieht sich als Beleg auf Mt 23,15 (ęƉċƯ ƊĖȉė čěċĖĖċĞďȉĜ ĔċƯ Āċěēĝċȉęē ƊĚęĔěēĞċư ƂĞē ĚďěēƪčďĞď Ğƭė Ēƪĕċĝĝċė ĔċƯ Ğƭė ĘđěƩė ĚęēǻĝċēŖėċĚěęĝƮĕğĞęėĔċƯƂĞċėčƬėđĞċēĚęēďȉĞďċƉĞƱėğŮƱėčďƬėėđĜĎēĚĕƲĞďěęėƊĖȥė), aber hier handelt es sich, wie der Kontext wahrscheinlich macht, wohl eher um einen polemisch übersteigerten Vorwurf, aus dem man konkrete Folgerungen für ein missionarisches Handeln von Pharisäern nicht ableiten sollte. Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband. Mt 18–25, EKK I/3, Neukirchen-Vluyn und Zürich 1997,

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»missionierender« Pharisäer gewesen sein.18 Wenn hingegen aufgrund der Quellenlage die Existenz eines außerpalästinischen Pharisäismus verneint wird, so ergibt sich daraus für die Darstellung des Pharisäers Paulus meist die Konsequenz, die Aussagen der Apostelgeschichte über die schriftgelehrte Ausbildung des Paulus in Jerusalem für historisch zuverlässig zu halten.19 Zweifelsfrei dem Pharisäismus zuzuweisende Texte sind uns offenbar nicht erhalten20; eine Ausnahme bilden offenbar nur die Psalmen Salo324: »Es gibt keine Belege dafür, daß Schriftgelehrte oder Pharisäer damals ähnlich wie die urchristlichen Apostel große Missionsreisen gemacht haben«; so sei die »biblische Wendung ›Meer und Festland‹ als ein rhetorisch geschliffenes hyperbolisches Bild für eine riesige Anstrengung« zu deuten. Etwas anders W. D. Davies / D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew. Vol. III. Commentary on Matthew XIX–XXVIII, ICC, Edinburgh 1997, 288 f.: »Certainly our verse, which is hyperbolic invective, can scarcely be turned into good ›evidence of intense Jewish missionary activity‹« (mit Bezug auf E. Schweizer). Das betonte Ŗėċ »simply implies extraordinary determination: even for just one convert great effort will be expended. Whether composed before or after AD 70, 23.15 probably had in view attempts to turn into full converts the so-called ›God-fearers‹«, wobei etwa an das »Judaizing of the Galatians« zu denken sei. E. Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 21 meint, aus Mt 23,15 sei nicht zu folgern, »es habe auch in der Diaspora pharisäische Gemeinschaften gegeben«, aber einzelne Pharisäer könnten »sich auf Reisen begeben haben und dabei missionarisch tätig geworden sein«. 18 Dazu wird gelegentlich auf Gal 5,11 verwiesen; aber ob die in der rhetorischen Frage ĚďěēĞęĖƭėŕĞēĔđěƴĝĝģĞưŕĞēĎēƶĔęĖċē enthaltene Aussage tatsächlich auf eine einstige Missionstätigkeit des Paulus verweist, ist fraglich. Nach G. Bornkamm, Paulus, UB 119, Stuttgart 1969, 35 gibt es »gute Gründe für die Annahme …, daß sich der Diasporajude Paulus mit seiner Entscheidung für den Pharisäismus zugleich für die jüdische Heidenmission nach den strengsten Grundsätzen entschied und vor seiner Christwerdnung sie auch tatsächlich betrieben hat«; ebenso H. Hübner, Gal 3,10 und die Herkunft des Paulus, KuD 19 (1973) 215–231, hier: 222. Becker, Paulus (s. Anm. 1), 41 meint dagegen, der Versuch, durch die Kombination von Gal 5,11 und Mt 23,15 »aus dem jüdischen Paulus einen synagogalen Missionar für das Gesetz« zu machen, sei »weder zwingend, noch relativ gesichert, noch durch andere Beobachtungen zu stützen. Der Kampf des Paulus gegen getaufte Randsiedler der Synagoge in Damaskus spricht eher dafür, daß Paulus zwischen Heilsvolk und Heiden hart trennte.« Zu den unterschiedlichen Auslegungen von Gal 5,11 s. J. D. G. Dunn, A Commentary on the Epistle to the Galatians, BNTC, London 1993, 278–280. 19 Vgl. Schnelle, Paulus (s. Anm. 16), 54 f.: Möglicherweise konnte Paulus außerhalb Jerusalems gar keine pharisäische Ausbildung absolvieren, auch wenn »das Schweigen der Quellen in diesem Punkt nicht überbewertet werden« dürfe; auffällig sei jedenfalls, »dass Paulus selbst Jerusalem nicht erwähnt, wenn er auf seine Vergangenheit als Pharisäer zu sprechen kommt!« 20 A. I. Baumgarten, The Pharisaic Paradosis, HThR 80 (1987) 63–77: »Virtually no documents have survived that come from the Pharisees themselves« (63); aber Baumgarten spricht dann (67) vom »old Pharisaic document at the core of the first chapter of m. ’Abot«. Auch Becker, Paulus (s. Anm. 1), 43–53 bezieht sich zur Beschreibung pharisäischen Denkens vielfach auf den Mischna-Traktat Abot. Vorsichtig dagegen G. Stemberger, Qumran, die Pharisäer und das Rabbinat, in: B. Kollmann / W. Reinbold / A. Steudel (Hgg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS Hartmut Stegemann), BZNW 97, Berlin / New York 1999, 210–224, hier: 210: Rabbinische Positionen kann man »nur dann als pharisäisch bezeichnen, wenn sich dies klar begründen läßt, am besten durch Texte aus

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mos.21 Die wichtigsten Quellen für unser Wissen über die Pharisäer sind die Werke des Flavius Josephus sowie die neutestamentlichen Evangelien und die Apostelgeschichte22, die jedoch nicht als »objektive« oder gar »zuverlässige« Zeugen zu betrachten sind; der Befund in den Qumranschriften ist zumindet nicht eindeutig.23 Flavius Josephus informiert seine Leser mehrfach über die unterschiedlichen jüdischen ċŮěƬĝďēĜ24; er erwähnt die Pharisäer außerdem gelegentlich im Kontext der Darstellung geschichtlicher Ereignisse.25 Die Pharisäer seien die »erste«, d.h. die zahlenmäßig größte ċŲěďĝēĜ (Bell II 162 f.), ihre Zahl habe »mehr als sechstausend« betragen (Ant XVII 42).26 Beim Volk stünden sie in hohem Ansehen, und sie fänden sofort Zustimmung (ďƉĒƳĜ ĚēĝĞďƴďĝĒċē), selbst wenn sie etwas gegen den König oder gegen den Hohenpriester sagten (Ant XIII 288).27 Die Bestimmungen des Gesetzes (ĞƩ ėƲĖēĖċ) legten sie sehr genau aus; und vor allem hätten sie dem Volk auch Gesetzesvorschriften aus »der Überlieferung der Väter« aufbewahrt, die in der Zeit vor 70«, auch wenn dann »viel genuin pharisäisches Gut in rabbinischen Quellen unentdeckt« bleibt. »Auch einzelne Texte wie etwa den Traktat Abot sollte man nicht ungeprüft als zumindest im Kern pharisäische Schrift betrachten«, denn dieser Traktat sei spät. »Eventuelles pharisäisches Erbe ist kaum nachzuweisen.« (ebd. Anm. 1) Vgl. auch G. Stemberger, Mischna Avot. Frühe Weisheitsschrift, pharisäisches Erbe oder spätrabbinische Bildung?, ZNW 96 (2005) 243–258; die Redaktion des Traktats sei jedenfalls spät, wie schon das weitgehende Fehlen von Zitaten aus Avot in der rabbinischen Literatur zeige. 21 S. unten. 22 Vgl. S. Mason, Flavius Josephus und das Neue Testament, UTB 2130, Tübingen / Basel 2000, 222–227. 23 Möglicherweise richtet sich die Polemik in 4 Q pNah I,1–II,9 gegen ėĂĔĉĄā ĆóĕĂĀ (»diejenigen, die nach glatten Dingen suchen«, so die Übersetzung von E. Lohse) gegen Pharisäer; J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Band II: Die Texte der Höhle 4, UTB 1863, München 1995, 89 übersetzt: Die, »die ›glatte‹ Anweisungen geben«. Eine sachliche Information über die Pharisäer ist mit dieser polemischen Formulierung nicht verbunden. Vgl. Luz, Matthäus III (s. Anm. 17), 359: Die Aussagen in den Qumrantexten setzen voraus, »daß ihren Lesern bekannt ist, wovon sie sprechen«. Dass jedenfalls in etlichen der bei Qumran gefundenen Texte der Pharisäismus abgelehnt wird, ergibt sich schon aus der gegensätzlichen Bewertung des Jerusalemer Tempels. 24 Ant XIII 171–173; XVIII 11–15. Sehr ausführlich ist das Referat in Bell II 119–166, wobei freilich der Bericht über die Essener den weitaus größten Raum einnimmt (119– 162). 25 Vor allem Ant XIII 296 f. 26 Vgl. dazu B. Schaller, 4000 Essener – 6000 Pharisäer. Zum Hintergrund und Wert antiker Zahlenangaben, in: Antikes Judentum und frühes Christentum (s. Anm. 20), 172–182, der betont, dass es falsch wäre, die Angabe des Josephus »historisch auch nur annähernd für bare Münze zu nehmen«; gerade Zahlen wie 6000 oder auch 4000 seien in antiker Historiographie »bloße Fiktionen und damit nahezu ohne jeden historischen Wert« (181 f.). 27 Ant XIII 298: … Ğȥė Ďƫ Āċěēĝċưģė ĞƱ ĚĕƮĒęĜ ĝƴĖĖċġęė őġƲėĞģė. Die Aussagen in XIII 288.297 f. stehen im Zusammenhang der Darstellung des Wechsels des Hohenpriesters Hyrkan von den Pharisäern zu den Sadduzäern.

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den Gesetzen des Mose nicht aufgeschrieben seien.28 An anderer Stelle (Ant XVII 41) schreibt Josephus mit deutlich polemischem Akzent, die Pharisäer hätten gemeint, dass sie sich dank ihrer sorgfältigen Beachtung der Tradition und der Gesetze (őĚdzőĘċĔěēČƶĝďēĖƬčċĠěęėęȘėĞęȘĚċĞěưęğĔċƯėƲĖģė) des besonderen Wohlwollens Gottes (ĞƱĒďȉęė) erfreuen dürfen. In Ant XVIII 12–15 heißt es dann aber anerkennend, die Pharisäer ehrten die Vorfahren (ĞēĖǻĜčďĞęȉĜŞĕēĔưǪĚěęƮĔęğĝēėĚċěċġģěęȘĝēė), und lehnten es ab, deren Anordnungen zu widersprechen. Sämtliche gottesdienstlichen Handlungen würden nach den pharisäischen Anordnungen durchgeführt, denn man sei davon überzeugt, dass die Pharisäer in der Praxis des Lebens und in ihren Worten alle übertreffen. Nach pharisäischer Überzeugung hänge die Fähigkeit, das Gerechte zu tun oder nicht (ĞƱĖƫėĚěƪĞĞďēėĞƩĎưĔċēċĔċƯĖƮ), vor allem vom Menschen selber ab, doch helfe auch das Schicksal (ďŮĖċěĖƬėđ). Die Pharisäer halten, wie Josephus hellenistischem Denken entsprechend formuliert, jede Seele für unsterblich (ĢğġƮė Ğď ĚǬĝċė Ėƫė ŅĠĒċěĞęė), aber es gehen »nur die [Seelen] der Guten in einen anderen Leib über (ĖďĞċČċưėďēė), die der Schlechten jedoch würden durch ewige Bestrafung gezüchtigt (ŁēĎưȦ ĞēĖģěưǪĔęĕƪĐďĝĒċē)« (Bell II 163).29 Diese Angaben werden, wenn auch in anderer Terminologie, durch die aus dem Neuen Testament zu gewinnenden Informationen, weitgehend bestätigt. Nach der Darstellung im Markusevangelium praktizieren die Pharisäer ein im Judentum sonst nicht übliches regelmäßiges Fasten (2,18)30; in der Erzählung vom Ährenraufen (2,23–28) erscheinen sie als Verfechter einer strikten Sabbatobservanz, und diese Tendenz wird in der dann folgenden Heilungs-Szene (3,1–6) nochmals polemisch übersteigert dargestellt.31 In 7,3 erfahren die Leser, dass sich die Pharisäer, wie »alle Juden«32, vor dem Essen rituell reinigen. Nach 3,6; 12,13 (vgl. 8,15) stehen die Pharisäer in VerAnt XIII 297: ėƲĖēĖƪĞēėċĚċěƬĎęĝċėĞȦĎƮĖȣęŮĀċěēĝċȉęēőĔĚċĞƬěģėĎēċĎęġǻĜ ņĚďěęƉĔŁėċčƬčěċĚĞċēőėĞęȉĜ÷ģğĝƬģĜėƲĖęēĜ. Die Sadduzäer hingegen hätten gelehrt, man müsse nur die geschriebenen Gesetze halten, nicht aber die Gebote aus der Überlieferung der Väter (ĞƩĎdzőĔĚċěċĎƲĝďģĜĞȥėĚċĞƬěģė), worüber es heftige Streitigkeiten gegeben habe. 29 Text und Übersetzung zitiert nach: O. Michel / O. Bauernfeind, Flavius Josephus De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, Band I: Buch I–III, Darmstadt 31977. 30 Dass das Fasten für die Pharisäer offenbar besonders bedeutsam war, folgert D. Lührmann, Paul and the Pharisaic Tradition, JSNT 36 (1989) 75–94, hier: 80–84 aus den entsprechenden Aussagen in PsSal 3. 31 M. E. liegt in 3,1–6, anders als innerhalb von 2,23–28, keine Tradition vor, sondern eine redaktionell von Markus geschaffene (Über–)Zeichnung pharisäischer Gesetzesstrenge; vgl. A. Lindemann, Jesus und der Sabbat. Zum literarischen Charakter der Erzählung Mk 3,1–6 (1999), in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 40–54. 32 Die Aussage in 7,3 f. wendet sich erkennbar an nicht-jüdische Adressaten. 28

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bindung mit Parteigängern des Herodes Antipas; hier besteht eine gewisse Spannung zu der Aussage des Josephus, die Pharisäer seien königskritisch.33 Das Auftreten von Pharisäern in Galiläa (2,16.24; 3,6; 7,1; 8,11; 10,2) und in Jerusalem (12,13) bestätigt das Bild des relativ weit verbreiteten und auch einflußreichen Pharisäismus; Sadduzäern begegnet Jesus ausschließlich in Jerusalem (12,18). Jesu Jünger weisen in 9,11 darauf hin, dass die Pharisäer Vertreter einer eschatologischen Hoffnung sind, die die Erwartung des Kommens des Elia einschließt.34 Mit ihrer Zeichenforderung (8,11) erscheinen die Pharisäer als Kritiker Jesu; und wenn Jesus in 10,2 mit der vom Erzähler ausdrücklich als ĚďēěƪĐďēė charakterisierten Frage der Pharisäer konfrontiert wird, ob ein Mann seine Frau »entlassen« dürfe, wird eine spezifische Gegnerschaft sichtbar, da Jesus eines offenen Widerspruchs gegen die Tora überführt werden soll.35 Eine ähnliche Tendenz verfolgt die in 12,13–17 dargestellte Szene: Jesus soll sich bei seiner Antwort auf die Frage nach der Legitimität der Steuerzahlung entweder als politischer Feind Roms oder aber umgekehrt als »Kollaborateur« erweisen; der Erzähler sagt zu Beginn (V.  13) ausdrücklich, die Fragesteller hätten die Absicht gehabt, Jesus »in einem Wort zu fangen«.36 Es ist kein Zufall, dass diese Szene in Jerusalem spielt; im Galiläa des Herodes Antipas begegnet Jesus dieser Problematik offenbar nicht.37 Die Logienquelle erwähnt Pharisäer lediglich innerhalb der Gerichtsrede Lk 11,39–52 par Mt 23.38 Lukas leitet die Szene in 11,37 f. redaktionell ein mit der Schilderung eines Reinheitskonflikts zwischen Jesus und einem 33 Ant XVII 41: ČċĝēĕďȉĎğėċĖƬėȣĖƪĕēĝĞċĚěƪĝĝďēėĚěęĖđĒďȉĜĔŁĔĞęȘĚěęƍĚĞęğďŭĜ ĞƱĚęĕďĖďȉėĞďĔċƯČĕƪĚĞďēėőĚđěĖƬėęē. Allerdings bezieht sich diese Notiz auf die Zeit Herodes’ des Großen. 34 Indirekt wird dies auch sichtbar in der Abfolge der Apophthegmata 12,13–17.18– 27.28–34; es sind speziell die Sadduzäer, die die Erwartung der ŁėƪĝĞċĝēĜ ėďĔěȥė ausdrücklich verneinen. Bei Mt wird dies deutlicher hervorgehoben durch die gegenüber Mk 12,28 (ĔċƯĚěęĝďĕĒƵėďŴĜĞȥėčěċĖĖċĞƬģėŁĔęƴĝċĜċƉĞȥėĝğĐđĞęƴėĞģėŭĎƵėƂĞēĔċĕȥĜ ŁĚďĔěưĒđ ċƉĞęȉĜ) stark veränderte Einleitung der Szene in Mt 22,34 (ęŮ Ďƫ Āċěēĝċȉęē ŁĔęƴĝċėĞďĜƂĞēőĠưĖģĝďėĞęƳĜýċĎĎęğĔċưęğĜ …). 35 In dem Wissen, dass die Frage halachisch so nicht gestellt worden sein kann, nimmt Mt in 19,3 eine Korrektur vor:ďŭŕĘďĝĞēėŁėĒěƶĚȣŁĚęĕȘĝċēĞƭėčğėċȉĔċċƉĞęȘĔċĞƩ ĚǬĝċė ċŭĞưċė Vgl. den knappen, aber inhaltsreichen Exkurs zu den Pharisäern bei D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 60 f. Lührmann betont, dass Mk zwischen den Schriftgelehrten und den Pharisäern deutlich unterscheidet; vgl. Ders., Die Pharisäer und die Schriftgelehrten im Markusevangelium, ZNW 78 (1987) 169–185. 36 Vgl. die Gegenfrage Jesu in V. 15: ĞưĖďĚďēěƪĐďĞď. 37 S. dazu K.-H. Ostmeyer, Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005) 147–170. 38 Vgl. dazu D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle. Anhang; Zur weiteren Überlieferung der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen-Vluyn 1969, 43–48.  – Die übrigen in der Konkordanz von P. Hoffmann/Chr. Heil, Die Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch, Darmstadt 2002, 173 genannten Belegstellen (Lk 7,30;

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Pharisäer, von dem Jesus zum Mahl eingeladen worden war. In der darauf folgenden aus Q übernommenen Rede erhebt Jesus den Vorwurf, die Pharisäer beachteten zwar penibel die Reinheitsvorschriften und verzehnteten selbst sehr geringwertige Güter, sie seien aber innerlich voll Bosheit und mißachteten das Urteil Gottes. Jesus behauptet außerdem, sie liebten den Ehrenplatz in den Synagogen und ebenso die öffentlichen Begrüßungen auf den Łčęěċư.39 Die polemische Tendenz dieser Aussagen ist deutlich. Im Matthäusevangelium sind die relativ zahlreichen Aussagen über Pharisäer weithin polemischer Natur40; das wird vor allem auch in der mt Überarbeitung der aus Mk übernommenen Sabbatperikopen sichtbar. In Mt 12,2 kritisieren die Pharisäer die Jünger, die die Ähren nicht einfach abreißen (so Mk 2,23), sondern regelrecht »ernten«, da sie am Sabbat hungern (!) und dementsprechend die Körner auch essen (Mt 12,1); der mt Jesus kann den Pharisäern zu Recht vorwerfen, dass sie die Gottesrede aus Hos 6,6 (ŕĕďęĜ ĒƬĕģĔċƯęƉĒğĝưċė) nicht »kennen« und Unschuldige verurteilen. In Mt 12,9–14 fragen die Pharisäer, anders als in Mk 3,1–5, Jesus ganz grundsätzlich, »ob es erlaubt ist, am Sabbat zu heilen«; dabei halten sie, wie Jesu Antwort zeigt, eine Tierrettung am Sabbat für selbstverständlich zulässig.41 Es handelt sich hier aber nicht um »christliche« Polemik gegen »Juden«, vielmehr ist diese Kritik Ausfluß innerjüdischer Konflikte und Differenzen, insofern ja gerade Matthäus dem pharisäischen Denken nahe steht.42 Vermutlich repräsentieren »die Pharisäer« bei Mt eher das zeitgenössische Judentum aus der Sicht des Evangelisten als dass sich aus den betreffenden Texten historische Informationen über die Pharisäer zur Zeit Jesu gewinnen ließen.43 11,16; 11,44) sind als Q-Texte eher unsicher und können hier jedenfalls außer Betracht bleiben. 39 Lk orientiert sich in 11,37–52 insofern offensichtlich an Mk 7,1 ff. (vgl. Lk 11,37–41 mit Mk 7,1.2a.5.8.9.), obwohl er Mk 7 ansonsten ja übergeht (»große Lücke«). 40 Der Vorwurf, die Pharisäer seien »Heuchler« (ƊĚęĔěēĞċư), begegnet in Mk 7,6 und in Lk 11,44 (vgl. 12,1), sonst aber nur bei Mt, vor allem in Mt 23. 41 Vgl. A. Lindemann, »Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden …« Historische und theologische Erwägungen zur Traditionsgeschichte der Sabbatperikope Mk 2,23–28 parr., in: Die Evangelien und die Apostelgeschichte (s. Anm. 31), 15–39. 42 Luz, Matthäus III (s. Anm. 17), 365: Mt »spiegelt den Konflikt und den Bruch einer nicht pharisäischen judenchristlichen Jesusgemeinde mit einem von den Pharisäern stark geprägten Mehrheitsjudentum«; der Konflikt ist deshalb besonders heftig, weil beide »in manchem verwandt waren: Beiden ging es um das ganze Volk Israel, beiden ging es um Frömmigkeit im Alltag« (vgl. aaO., 399 f.). 43 Saldarini, Pharisees (s. Anm. 12), 173 stellt fest, Mt übertrage nicht »the late first century situation back into the life of Jesus in a grand scale« (173); aber Saldarini betont an anderer Stelle auch: »Matthew’s polemics are directed against rival leaders and their competing programs for understanding and living Judaism. Matthew and his group are in a struggle for the hearts and minds of their fellow Jews« (A. J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community, Chicago 1994, 67).

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Im Johannesevangelium erscheinen Pharisäer in 1,24–28 und in 3,1 (am Beispiel des Nikodemus) als religiös »interessiert«, indem sie sich mit Fragen an Johannes den Täufer bzw. an Jesus wenden. Mehrfach, so in 7,32.45–52, treten sie aber auch in geradezu »amtlicher« Funktion neben den ŁěġēďěďȉĜ als feste Gruppe auf44, wobei Nikodemus eine Ausnahme darstellt (vgl. 19,39). In 12,42 erscheinen sie geradezu als »Kontrollinstanz«, auf die die Entscheidung zurückgeht, jeden, der sich zu Jesus bekennt, »aus der Synagoge auszuschließen«; selbst viele der ŅěġęėĞďĜ fürchten sich vor den Pharisäern. Bisweilen scheint zwischen ęŮŵęğĎċȉęē und ęŮĀċěēĝċȉęē gar kein Unterschied zu bestehen (8,13.22; 9,13.18); es gibt bei ihnen aber auch unterschiedliche Meinungen (9,16). Ähnlich wie im Matthäusevangelium ist auch hier eher die gegenwärtige Erfahrung der johanneischen Gemeinde als die historische Situation zur Zeit Jesu im Blick. Das Lukasevangelium weist hinsichtlich der Aussagen über die Pharisäer einige Besonderheiten auf. In der Erzählung von der Heilung des Gelähmten werden in Lk 5,17–26 (par Mk 2,1–12) nicht čěċĖĖċĞďȉĜ als Kritiker Jesu eingeführt (so Mk 2,6), sondern Āċěēĝċȉęē ĔċƯėęĖęĎēĎƪĝĔċĕęē (Lk 5,17)45 konstatieren als Reaktion auf Jesu Sündenvergebungswort dessen »Lästerungen« (V.  21: ĕċĕďȉ ČĕċĝĠđĖưċĜ). In der gegenüber Mk 14,3–8 stark modifizierten lk Fassung der Salbungserzählung Lk 7,36–50 hatte zwar »einer der Pharisäer« Jesus zum Mahl eingeladen (7,36), er begegnet Jesus dann aber ganz ablehnend.46 In 13,31 warnen Pharisäer Jesus in Galiläa vor den Nachstellungen des Herodes Antipas; sie tun dies aber in Unkenntnis dessen, dass Jesus in Jerusalem sterben muß (13,33). In 15,2 empören sich »die Pharisäer und die Schriftgelehrten« (čěċĖĖċĞďȉĜ) über Jesu gemeinsames Essen mit Sündern47, worauf Jesus mit den Gleichnissen »vom Verlorenen« reagiert. In Lk 16,14 f. (Sondergut) werden die Pharisäer als geldgierig bezeichnet; sie hatten sich gegen Jesu Aussage gewehrt, man könne nicht »Gott und dem Mammon« zugleich dienen (16,13 Q).48 In 17,20 f. bilden die von »den Pharisäern« gestellte Frage nach dem Kommen des Gottesreiches und Jesu Antwort die Einleitung zu der aus der Logienquelle Q stammenden apokalyptischen Rede vom kommenden Menschensohn (17,22–37). Mit seiner Erzählung vom Pharisäer und vom Zöllner (Lk 18,10–14) wendet sich der lk Jesus der Einleitung in V. 9 zufolge gegen 44

So auch in Joh 11,46 f.57; 12,19.42; 18,3. In 5,21 dann: čěċĖĖċĞďȉĜĔċƯĀċěēĝċȉęē. 46 Ähnlich Lk 14,1–6 Sondergut, wo offenkundig eine redaktionell lk Dublette zu 6,6–11 (Mk 3,1–6) vorliegt. 47 Es liegt eine Dublette zu 5,30 vor. 48 Mason, Flavius Josephus (s. Anm. 22), 226: Die lk Angabe »paßt nicht zu dem Bild, das uns Josephus vermittelt«, demzufolge die Pharisäer ein einfaches Leben führen (Jos Ant XVIII 12); »der Vorwurf der Geldgier gehörte in der Antike zum Standard polemischer Taktik«. 45

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»die, die von sich überzeugt waren, gerecht zu sein und für die anderen nur Verachtung übrig hatten« (ĞēėċĜ ĞęƳĜ ĚďĚęēĒƲĞċĜ őĠdz ŒċğĞęȉĜ ƂĞē ďŭĝƯė ĎưĔċēęēĔċƯőĘęğĒďėęȘėĞċĜĞęƳĜĕęēĚęƴĜ); offensichtlich sieht Lukas in dem Pharisäer das Modell für die in V. 9 genannte Personengruppe.49 In Lk 19,39 sind es »einige der Pharisäer«, die von Jesus verlangen, er solle den Jubelruf der Jünger50 beim Einzug Jesu in Jerusalem unterbinden.51 Andererseits wird in Lk 20,20–26 die Debatte über die Zahlung der Kaisersteuer nicht von »einigen der Pharisäer und der Herodianer« eröffnet (so Mk 12,13–17), sondern die zuvor in 20,19 erwähnten čěċĖĖċĞďȉĜ und ŁěġēďěďȉĜ schicken nicht näher bezeichnete Personen, um Jesus die Fangfrage zum Thema »Steuer« zu stellen.52 Zwei »Pharisäer-Texte« aus dem Markusevangelium hat Lukas gar nicht übernommen  – die Zeichenforderungsperikope Mk 8,11–13 und die Debatte über die Ehescheidung Mk 10,1–12. In der Apostelgeschichte ist außer im Zusammenhang mit der Biographie des Paulus53 von Pharisäern nur zweimal die Rede: Gamaliel, der im Synedrium dazu rät, die von Jesus predigenden Männer gewähren zu lassen, wird in 5,34 als Pharisäer und als ėęĖęĎēĎƪĝĔċĕęĜĞưĖēęĜĚċėĞƯĞȦĕċȦ vorgestellt. Und nach Apg 15,5 geht die von dem »Apostelkonzil« dann abgelehnte Forderung, die Heidenchristen müßten beschnitten werden, zurück auf ĞēėďĜĞȥėŁĚƱĞǻĜċŮěƬĝďģĜĞȥėĀċěēĝċưģėĚďĚēĝĞďğĔƲĞďĜ, d.h. nach lk Darstellung sind es explizit pharisäische Judenchristen, die als Gegner des innergemeindlichen Friedens in Erscheinung treten.

II. Paulus als Pharisäer Wie verhalten sich diese Informationen zum Bild des Paulus als eines Pharisäers? Dieser Frage soll anhand der eigenen Aussagen des Paulus und mit Blick auf dasPaulusbild in der Apostelgeschichte nachgegangen werden. Paulus verwendet lediglich in Phil 3,5 den Begriff »Pharisäer« als Selbstbezeichnung; er gibt dazu keine weitere Erläuterung, nimmt also offenbar an, dass der Begriff in Philippi verstanden wird. Die Näherbestimmung ĔċĞƩ ėƲĖęė verweist immerhin auf den sachlichen Zusammenhang mit der Tora.54 49

Vgl. die vorige Anm. Vgl. Lk 19,37: ĞƱĚĕǻĒęĜĞȥėĖċĒđĞȥė … In Mk 11,9 heißt es ĔċƯęŮĚěęƪčęėĞďĜĔċƯ ęŮŁĔęĕęğĒęȘėĞďĜŕĔěċĐęė. 51 Hier liegt eine gewisse Parallele zu Mt 21,15 f. vor. 52 Die Einleitungswendung in Lk 20,20 erinnert an Lk 18,9; vgl. auch 10,29; 16,15. 53 Dazu s.u. 54 E. Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon, KEK IX, Göttingen 111956, 130 folgert aus der Wendung ĔċĞƩėƲĖęė, dass Pharisäer »nicht der Name einer bestimmten Partei, sondern ein religiöser Würdetitel« sei; hier zeige sich der 50

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In der Apostelgeschichte wird die Zugehörigkeit des Paulus zur Gruppe der Pharisäer erstmals indirekt erwähnt in der Rede, die Paulus nach seiner Festnahme in Jerusalem ȭðČěċȈĎēĎēċĕƬĔĞȣ hält (22,1–21); er bezeichnet sich als Schüler des Gamaliel (22,3; vgl. 5,34), »ausgebildet nach der genauen Norm des väterlichen Gesetzes (ĔċĞƩŁĔěưČďēċėĞęȘĚċĞěȤęğėƲĖęğ), ein Eiferer (ĐđĕģĞƮĜ) für Gott, wie ihr es alle heute seid«.55 In der später vor dem Synedrium gehaltenen Verteidigungsrede (23,1 ff.) provoziert der lk Paulus  – wissend, dass zu seinem Auditorium sowohl Sadduzäer als auch Pharisäer gehören (23,6) – eine ĝĞƪĝēĜ, indem er sich als Pharisäer (őčƵĀċěēĝċȉƲĜ ďŭĖēğŮƱĜĀċěēĝċưģė) zu seiner Auferstehungshoffnung bekennt und dann behauptet, (nur) um dieser Hoffnung willen angeklagt zu sein. Daraufhin entsteht eine Spaltung unter den Anklägern (ĔċƯőĝġưĝĒđĞƱĚĕǻĒęĜ). Lukas sagt in 23,8 ausdrücklich, diese Hoffnung werde von den Sadduzäern abgelehnt56; einige der Schriftgelehrten aus der »Partei« (ĖƬěęĜ) der Pharisäer plädieren für einen Freispruch wegen erwiesener Schuldlosigkeit (V. 9). In seiner in Caesarea vor Agrippa, Berenike und Festus gehaltenen Rede (Apg 26,2–23) erinnert Paulus, ähnlich wie zuvor in 22,3 ff., an sein Leben als Jude őĔėďƲĞđĞęĜ in Jerusalem (26,4); davon wüßten»alle Juden«, die ihn von früher her kennen (V. 5a), und sie könnten bezeugen (V. 5b), dass er »entsprechend der strengsten Richtung unserer Religion« (ĔċĞƩĞƭėŁĔěēČďĝĞƪĞđė ċŲěďĝēėĞǻĜŞĖďĞƬěċĜĒěđĝĔďưċĜ) gelebt habe57, nämlich als Pharisäer.58 Das erinnert deutlich an die eigene Aussage des Paulus im Galaterbrief (1,14), den Lukas vermutlich nicht gekannt hat.59 Auch in dieser Rede betont der lk Paulus, die gegen ihn gerichtete Anklage beziehe sich (allein) auf seine Hoffnung ďŭĜĞęƳĜĚċĞƬěċĜŞĖȥėőĚċččďĕưċĜčďėęĖƬėđĜƊĚƱĞęȘĒďęȘ (26,6). Die Schilderungen in der Apostelgeschichte bestätigen das aus anderen Quellen gewonnene Bild des toratreuen, eschatologische Hoffnung predigenden, vor allem in Jerusalem beheimateten Pharisäismus. Aber wie groß »Anspruch, daß das pharisäische Ideal des frommen Lebens allein ›nach dem Gesetz‹ sei, d.h. dessen Buchstaben und Geist rein auspräge«. 55 Übers. H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 21972, 134. In der Formulierung erinnert die Aussage an Gal 1,14 (ĚďěēĝĝęĞƬěģĜĐđĕģĞƭĜƊĚƪěġģėĞȥė ĚċĞěēĔȥėĖęğĚċěċĎƲĝďģė). 56 ýċĎĎęğĔċȉęē Ėƫė čƩě ĕƬčęğĝēė Ėƭ ďųėċē ŁėƪĝĞċĝēė ĖƮĞď Ņččďĕęė ĖƮĞď ĚėďȘĖċ ĀċěēĝċȉęēĎƫžĖęĕęčęȘĝēėĞƩŁĖĠƲĞďěċ. Dieser Hinweis berührt sich deutlich mit den Angaben bei Josephus, und dazu paßt umgekehrt die von den Pharisäern fragend vorgetragene Erwägung: ďŭĎƫĚėďȘĖċőĕƪĕđĝďėċƉĞȦşŅččďĕęĜ. 57 Conzelmann, Apostelgeschichte (s. Anm. 55), 147: »Lk läßt Paulus ›gebildet‹ sprechen; klassische Formen, die sonst außer Gebrauch gekommen sind, treten auf: der Superlativ ŁĔěēČƬĝĞċĞęĜ und ›attisches‹ űĝċĝēė«. 58 ŕĐđĝċĀċěēĝċȉęĜ ist rhetorisch betont nachgestellt. 59 Vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, BHTh 58, Tübingen 1979, 171.

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ist der unmittelbare Quellenwert der Angaben für unser Wissen über den »historischen« Pharisäer Paulus?60 Nach Apg 7,58 f. hatte sich Paulus zur Zeit der Steinigung des Stephanus als »Jüngling« in Jerusalem aufgehalten; nach 22,3 (vgl. 21,39) stammte er aber aus der kilikischen Stadt Tarsus. Seine Briefe, unabhängig von der m. E. nicht beantwortbaren Frage, ob Tarsus tatsächlich der Geburtsort des Paulus war61, sprechen tatsächlich für die Herkunft aus dem griechischsprechenden Diasporajudentum. Paulus bezeichnet sich in Phil 3,5 sowie in 2 Kor 11,22 als »Hebräer« (Phil 3,5: ȭðČěċȉęĜőĘȭðČěċưģė); Martin Hengel sieht darin ein Indiz für die Herkunft des Paulus aus Palästina bzw. für das Aramäische als Muttersprache.62 Das ist zumindest fraglich.63 Zwar bezieht sich ȭðČěċȉęĜ in 2 Kor 11,22 vermutlich nicht einfach auf die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, wie das zu ȭðČěċȉęē parallele ŵĝěċđĕȉĞċē anzeigt; aber dass Paulus an dieser Stelle die korinthischen Christen in besonderer Weise

60 Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 178 f. meint unter Hinweis vor allem auf die Apg-Kommentare von Haenchen, Conzelmann und Schille, die Nachrichten der Apg würden »heute gerne als weitgehend oder völlig unzuverlässig geschmäht [!]«; tatsächlich aber ergänzten sie die authentischen Angaben des Apostels zu seiner Biographie »in wertvoller Weise«. Den Versuch einer »Verbindung zwischen radikaler Kritik und Eruierung historisch zuverlässiger Traditionen« stellen nach Hengel die Arbeiten G. Lüdemanns zur Apg dar. 61 Die Aussage in 21,39, Tarsus sei eine »nicht unbedeutende« Stadt, ist zutreffend, aber zugleich tendenziös. L. J. Lietaert Peerbolte, Paul the Missionary, CBET 34, Leuven 2003, 157 verweist darauf, dass Tarsus ansonsten in der Apg keine Rolle spielt und keine Gründe erkennbar sind, weshalb Lukas diesen Geburtsort erfunden haben sollte. Es ist methodisch freilich nicht unproblematisch, wenn im Anschluß an die Vermutung, dass Paulus wirklich aus Tarsus stammt, bereits die Folgerung gezogen wird: »Tarsus must have influenced Paul to a high degree.« 62 Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 220 meint, ȭðČěċȉęĜ könne »kaum etwas anderes heißen als ein ȭðČěċĤĝĞư, d.h. ein die Heilige Sprache bzw. Aramäisch sprechender Palästinajude oder ein Diasporajude, der in seiner Herkunft und Bildung aufs engste mit dem Mutterland verbunden ist«. Diese These übernimmt Niebuhr, Heidenapostel (s. Anm. 5), 106 f., wobei seine Argumentation aber eher darauf zielt, das őĘ ŘČěċưģė auf die »Bewahrung von Eigenart und Traditionen des jüdischen Mutterlandes in der Diaspora« zu beziehen, wobei die Komponente der Sprachbeherrschung »nicht die vorherrschende, wohl aber ein notwendiger Bestandteil« sei (107 unter Verweis auf W. Gutbrod, Art. ȭðČěċȉęĜĔĞĕ., ThWNT III, Stuttgart 1938, 393). 63 Kritik an dieser Auslegung üben Strecker / Nolting, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 720: Dass sich ȭðČěċȉęĜ auf die Sprache bezieht, sei in Apg 6,1 wahrscheinlich; im übrigen aber sei der Begriff »im hellenistischen Judentum wie auch im paganen Griechentum weithin eine Bezeichnung für das jüdische Volk in alter Zeit, so daß dem Ausdruck eine archaisierende Färbung eigen ist«. In Phil 3,5 liege der Schwerpunkt der Wendung »sicherlich in ihrem zweiten Teil: Paulus ist nicht nur selbst Hebräer, sondern auch Abkömmling von Hebräern«. Vgl. Niebuhr (s. die vorige Anm ebd.): Paulus weise die besondere Traditionshaltung »nicht nur sich selbst, sondern bereits seinem Elternhaus« zu; der Hinweis őĘȭðČěċưģė sei »das Ziel der Klimax Volk – Stamm – Familie«.

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darüber informieren will, er stamme von Hebräisch sprechenden Juden ab64, ist wenig wahrscheinlich.65 Bei den in Phil 3,5 und in Röm 11,1 gegebenen Hinweisen auf die Herkunft aus dem Volk Israel66, und zwar speziell aus dem Stamm Benjamin (őĔ … ĠğĕǻĜ íďėēċĖưė), bildet offenbar »die römische Daseinsform die Folie«, wie Peter Pilhofer wahrscheinlich gemacht hat: »Die Erwähnung der ĠğĕƮ des Paulus in Phil 3,5 ist eine Folge der Konfrontation des Paulus mit der tribus Voltinia«67, in der sich das römische Bürgerrecht der Bürger von Philippi konkretisierte.68 Aus der Tatsache, dass Paulus sich nicht auch noch als čěċĖĖċĞďƴĜ bezeichnet, folgert Dietrich-Alex Koch, der Apostel habe tatsächlich keine entsprechende Ausbildung genossen.69 Der Einwand Hengels, dass der Begriff čěċĖĖċĞďƴĜ in Philippi vermutlich im Sinne von »Schreiber« mißverstanden worden wäre70, ist zwar wohl nicht falsch; aber immerhin setzt Paulus voraus, die Adressaten in Philippi wüßten, was ein ĀċěēĝċȉęĜ ist. Wenn Paulus gerade im Gegenüber zu möglicherweise in Philippi auftretenden antipaulinischen Missionaren auf eine theologische Ausbildung in Jerusalem hätte verweisen wollen, so wäre anstelle des tat64 Das wäre ja der spezifische Sinn der Wendung ȭðČěċȉęĜőĘȭðČěċưģė. Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 220 verweist auf Philo VitMos II 31 f., »wo ȭðČěċȉęē aus Judäa diejenigen sind, die das AT ins Griechische übersetzen können«. Das trifft dort tatsächlich zu, aber der Bezug auf die Sprache ergibt sich aus dem Zusammenhang: Der ägyptische König Ptolemaios Philadelphos will »unsere Gesetzgebung« aus der chaldäischen in die griechische Sprache übersetzen lassen, und daraufhin schickt ihm der Hohepriester die »hervorragendsten der Hebräer«, die neben der »väterlichen« auch die hellenische Bildung besitzen. Hengel verweist außerdem auf Philo ConfLing 68 sowie 129; doch in ConfLing 68 ist explizit von der »Sprache der Hebräer« (ȭðČěċưģėčĕƶĞĞđ) im Unterschied zu der der Griechen die Rede, in 129 wird von einem Turm gesprochen, den »Hebräer als ›Phanuel‹ bezeichnen, wir dagegen ›Gottesentfremdung‹« nennen (ŕĝĞē ĎƫƚĜĖƫėȭðČěċȉęēĕƬčęğĝēĀċėęğƮĕƚĜĎƫŞĖďȉĜŁĚęĝĞěęĠƭĞęȘĒďęȘ). 65 Ausführlich dazu M. E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians. Volume II. Commentary on II Corinthians VIII–XIII, Edinburgh 2000, 723–730. Sie kommt zu dem Ergebnis, das Stichwort ȭðČěċȉęē zeige im Blick auf die »rival missionaries« in Korinth, dass sie »have a more direct link than Paul seems to have with the original disciples of Jesus, who are the first tradents of his teaching, given in the Aramaic language«. Paulus erhebe dann denselben Anspruch, aber »it is not necessary that he should attach to ȭðČěċȉęĜ precisely the meaning intended by his rivals. He may simply be making the basic claim that he is fully a Jew by birth and ancestry, as he does in Phil 3.5«. 66 Zu čƬėęĜ vgl. 2 Kor 11,26, wo dieser Begriff offensichtlich schon für sich genommen für das eigene Volk des Paulus im Unterschied zu den ŕĒėđ steht (ĔēėĎƴėęēĜőĔčƬėęğĜ ĔēėĎƴėęēĜőĘőĒėȥė). 67 P. Pilhofer, Philippi. Band I. Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995, 124. 68 Pilhofer, Philippi (s. die vorige Anm.), 122 f. 69 D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 93. 70 Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 236.

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sächlich erläuterungsbedürftigen Begriffs čěċĖĖċĞďƴĜ eine Bezeichnung wie etwa ĎēĎƪĝĔċĕęĜĞęȘėƲĖęğ möglich gewesen. In der Apostelgeschichte wird Paulus zunächst unter dem Namen ›Saulus‹ in die Handlung eingeführt; erst in 13,9 wird gesagt, dass dieser Saulus »auch Paulus« heißt (ýċȘĕęĜĎƬžĔċƯûċȘĕęĜ …). Er trägt nach lk Darstellung also offenbar sowohl den griechisch-lateinischen Namen ûċȘĕęĜ bzw. Paulus als auch den Namen des ersten israelitischen Königs ĉĂýó bzw. ýċęƴĕ, möglicherweise in gräzisierter bzw. latinisierter Form (ýċȘĕęĜ bzw. Saulus). Die Frage, ob dies historisch zuverlässig ist, scheint kaum beantwortbar zu sein: Zum einen findet sich in den paulinischen Briefen kein entsprechender Hinweis71; zum andern bedürfte es einer Erklärung, warum auch in der Apg die Namensform ›Saul‹ ausschließlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Berufung begegnet.72 Überdies fällt auf, dass ›Saulus‹ in der Apg insofern doch »zum ›Paulus‹ wird«, als vor 13,9 ausschließlich der Name ýċȘĕęĜ, nach 13,9 dagegen ebenso ausschließlich der Namen ûċȘĕęĜ verwendet wird. Ein »Doppelname« begegnet also auch in der Apg nicht. Auf die Frage, ob Paulus ein civis Romanus war, ist hier nicht näher einzugehen73; die im Peristasenkatalog 2 Kor 11,23 ff. gegebene Schilderung der persönlichen Widerfahrnisse spricht jedenfalls eher gegen als für ein römisches Bürgerrecht des Paulus.74 Zwar wird oft darauf verwiesen, dass eine Mißachtung der Privilegien römischer Bürger durch Provinzbehörden häufig belegt ist. Aber gerade in der Apg, der einzigen Quelle, die überhaupt vom Bürgerrecht des Paulus spricht, führt der von diesem gegebene Hinweis auf sein Bürgerrecht sofort zu seiner rechtlich einwandfreien Behandlung durch die jeweilige Behörde75; es ist methodisch problematisch, 71

Nach Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 197 besagt »der Einwand, daß Paulus nirgendwo seinen vollen dreiteiligen römischen Namen nennt … gar nichts«, da die römische Namensgebung bei Christen auch sonst oft fehle. Aber wenn Paulus einen solchen »vollen« römischen Namen tatsächlich besessen haben sollte, so wäre die Verwendung doch zumindest in Röm 1,1 naheliegend gewesen. Außerdem wird ja nicht der »volle römische Name« vermißt, sondern gerade der jüdische Name des Paulus. – Zum römischen Namensrecht vgl. H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin / New York 2002, 39–42. 72 Sowohl in der Anrede, die Christus an Paulus richtet (Apg 9,4; vgl. 22,7; 26,14) als auch in der Anrede des Ananias an Paulus (Apg 9,17; vgl. 22,13). 73 Vgl. W. Stegemann, War der Apostel Paulus römischer Bürger?, ZNW 78 (1987) 200–229; anders R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994, 129. Zu 2 Kor 11,25 vgl. den Exkurs bei Thrall, Second Corinthians (s. Anm. 65), 739–742; sie kommt zu der Annahme, dass die Darstellung des Paulus nicht gegen ein römisches Bürgerrecht spricht. 74 Vgl. M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus, fzb 66, Würzburg 1991, 93–172 (zum Problem der gegen römische Bürger rechtswidrig angewandten Prügelstrafe aaO., 136). 75 Der Hinweis auf das römische Bürgerrecht des Paulus wird von Lukas in Apg 16,21 ff. und in 22,25 ff. auf sehr unterschiedliche Weise literarisch in die Handlung eingeführt.

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die Angaben der Apg zum römischen Bürgerrecht des Paulus in sich widersprüchlich auszuwerten – entweder war er römischer Bürger, wie es (allein) die Apg darstellt, und dann wurde er auch korrekt behandelt, oder er war kein civis Romanus, und dann kann es entsprechend 2 Kor 11,25 mehrfach zur verberatio gekommen sein.

Paulus hat zweifellos Juden verfolgt, die an Jesus als den Messias glaubten. Die Motive für diese Verfolgertätigkeit sind deutlich: Nach Phil 3,5 f. war sie für Paulus eine unmittelbare Konsequenz seines Pharisäismus, und sie verband sich mit seiner »Untadeligkeit« hinsichtlich der »Gesetzesgerechtigkeit«; ähnlich betont er in Gal 1,13 f., er habe als ein »Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen« (ĐđĕģĞƭĜ ƊĚƪěġģė Ğȥė ĚċĞěēĔȥė ĖęğĚċěċĎƲĝďģė) die Kirche verfolgt und zu zerstören versucht.76 Wo das geschah, sagt Paulus nicht; aber Gal 1,23 läßt immerhin erkennen, dass die Verfolgertätigkeit zumindest auch in Judäa77 bekannt war, denn die dortigen Gemeinden registrierten ausdrücklich, dass der, welcher »uns früher verfolgte, jetzt den Glauben predigt, den er früher zu zerstören suchte«. Die Frage, ob sich Paulus vor seiner Berufung und damit auch wohl vor seiner Begegnung mit Petrus und Jakobus jemals in Jerusalem bzw. in Judäa aufgehalten hatte, läßt sich aber von Gal 1,22 f. her nicht beantworten.78 76 Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 240 betont m. R., die in Gal 1,13 f. gegebene Schilderung könne »sich nur auf das Gesetzesstudium pharisäischer Prägung beziehen«. Darüber, dass, wie Hengel meint, »sein Studieneifer nur dort Erfüllung finden konnte, wo die berühmtesten Autoritäten lehrten und wo nach Gottes Gebot die Tora zu Hause war: in Jerusalem«, sagt Paulus allerdings nichts. – Zu den »väterlichen Überlieferungen« s. B. Schröder, Die ›väterlichen Gesetze‹. Flavius Josephus als Vermittler von Halachah an Griechen und Römer, TSAJ 53, Tübingen 1996, 243–246. AaO., 244 f.: Dass Paulus von ĚċěċĎƲĝďēĜ spricht, zeige nicht, dass es ihm »um präzise Bezeichnung seiner innerjüdischen Position« geht, ›sondern nur darum, die Ernsthaftigkeit und den umfassenden Charakter seines Lebens als Jude darzustellen«. »Daß Paulus in früheren Zeiten die väterlichen Überlieferungen befolgt hat, gerät, indem es der Leitthese V. 12 zugeordnet wird, zum Paradigma des Befolgens menschlicher Tradition und wird als solches dem Leben aus der Offenbarung Gottes in Jesus Christus gegenübergestellt. Somit ist es negativ konnotiert als Gegenbild.« Vgl. auch Baumgarten, Art. Pharisäer (s. Anm. 13), 1262: Möglicherweise bestand für die Pharisäer »eine wichtige Beziehung zw[ischen] dem Streben nach akríbeia und dem Anspruch, in der Tradition der parádosis zu stehen«. 77 Nach Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 277 bezeichnet ŵęğĎċưċ nicht speziell Judäa, sondern »einem verbreiteten Sprachgebrauch zufolge das ganze jüdische Palästina«; diesen Sprachgebrauch zeige »häufig auch Lukas«. Aber zum einen kann auch Lukas zwischen ŵęğĎċưċ und îċĕēĕċưċ genau unterscheiden (Lk 2,4; 3,1; 5,17; 21,21; Apg 1,8; 8,1; 9,31), und zum andern ist zumindest in Röm 15,31 und 2 Kor 1,16 mit ŵęğĎċưċ tatsächlich Judäa bzw. Jerusalem gemeint. Schlußfolgerungen für Gal 1,22 (und 1 Thess 2,14) lassen sich daraus natürlich nicht ziehen. 78 Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 276–283 sieht Gal 1,22 f. als Beleg für eine Jerusalemer Verfolgertätigkeit des Paulus an. Er hält es für möglich, dass Paulus sich »in Jerusalem noch zurückhielt, dann aber nach Damaskus geschickt wurde, um sich dort ganz der Verfolgung der gewiß noch kleinen, erst im Werden begriffenen Gemeinde zu widmen«. Nach R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie,

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Die paulinische Verfolgertätigkeit richtete sich natürlich gegen Angehörige der őĔĔĕđĝưċ ĞęȘ ĒďęȘ79, die Glieder des jüdischen Volkes waren, also gegen »Judenchristen«80; Jesusgläubige aus den Völkern, sofern es sie überhaupt schon gab, wären für den Pharisäer Paulus einfach »Heiden« gewesen, an deren Verfolgung ein Interesse wie das in Gal 1,13 f. beschriebene gar nicht bestehen konnte. Die von Paulus Verfolgten standen vermutlich nicht nur dem spezifisch pharisäischen Tora-Verständnis kritisch gegenüber, sondern überhaupt dem traditionellem Verständnis des biblischen Gesetzes.81 Die lukanische Darstellung, Paulus habe die Steinigung des tora- und tempelkritischen Stephanus gebilligt (Apg 8,1), ist insofern grundsätzlich plausibel, ohne dass sie deshalb historisch zutreffend sein müßte. Michael Wolter betont, dass es Paulus bei seiner Verfolgertätigkeit um die Heiligkeit Israels gegangen war. »Er wendet sich gegen andere Juden, durch deren Verhalten er die einzigartige Gemeinschaft Israels mit seinem Gott für bedroht hielt«; der Glaube an den gekreuzigten Jesus als Messias und die damit möglicherweise verbundene Kritik an Tempel und Tora habe zur Konsequenz gehabt, dass »der Heilsorientierung an Jesus von Nazareth eine theologische Qualität zukommt, die den Unterschied zwischen Israel und den Völkern letztlich aufhebt«. Den ersten jüdischen Anhängern Jesu müsse dies noch gar nicht bewußt gewesen sein, aber der Pharisäer Paulus habe begriffen, »dass die primäre Loyalität solcher Juden de facto nicht mehr der Heiligkeit Israels und seiner Erwählung aus den Völkern gehörte, sondern von einer anderen Bindung dominiert war«. Dementsprechend sei es »eine christologische Erkenntnis« gewesen, die Paulus »zu einer radikalen Neuorientierung seines Lebens« führte.82 Als Kennzeichnung der Theologie des Apostels scheint mir diese Beschreibung richtig zu sein; ob der pharisäische Paulus diese Konsequenzen schon von Anfang an sah und deshalb zum Verfolger wurde, läßt sich m. E. kaum sagen. WUNT II/179, Tübingen 2004, 156 will Paulus in 1,22 sagen, dass er weder in Jerusalem »noch überhaupt irgendwo in Palästina … die Grundsätze seiner Evangeliumsverkündigung übernommen« habe. Aber der Kontext spricht eher dafür, dass Paulus hier auf seine Verfolgertätigkeit Bezug nimmt. 79 Die Aussage des Paulus, er habe die őĔĔĕđĝưċ ĞęȘ ĒďęȘ verfolgt, ist aus der Perspektive des Apostels formuliert; aber őĔĔĕđĝưċ könnte tatsächlich schon sehr früh Selbstbezeichnung (zumindest der griechischsprechenden Gemeinde) gewesen sein, vgl. Apg 8,1. 80 Der Begriff ist insofern natürlich anachronistisch, als die von Paulus verfolgten Jesusgläubigen jedenfalls noch nicht als »Christen« (āěēĝĞēċėęĉ) bezeichnet wurden oder sich gar selbst so nannten. 81 Vermutlich beriefen sie sich für ihre Position auch auf Jesus bzw. auf bestimmte torakritische Jesusüberlieferung. Anders Peerbolte, Paul (s. Anm. 61), 141 (unter Berufung auf A. J. Hultgren): »Paul persecuted the earliest church because it confessed the crucified Jesus as the Anointed One, a confession that according to Gal 3,13 was totally incompatible with the Mosaic Law.« Aber die Gruppe um Petrus und Jakobus, die ja ebenfalls den Gekreuzigten als den Messias bekannte, war von der Verfolgung offenbar nicht betroffen. 82 M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 21–23 (Hervorhebungen im Orig.).

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In welcher Weise und wie lange Paulus seine Verfolgertätigkeit ausgeübt hat, braucht hier nicht näher diskutiert zu werden. Sein Ziel dürfte es jedenfalls gewesen sein, das Entstehen eines innerhalb des Synagogenverbandes organisierten torakritischen »Judenchristentums« zu verhindern.83 Um dieses Ziel zu erreichen, könnte er beispielsweise für die Verhängung von Synagogenstrafen gegen jesusgläubige, torakritische Gemeindeangehörige plädiert haben, um sie auf diese Weise entweder zur Abkehr von ihrer Überzeugung oder aber zum Verlassen der synagogalen Gemeinschaft zu zwingen.84 Ob Paulus bei seiner Verfolgertätigkeit unmittelbar Gewalt angewandt hat oder ob er eher als ein »Schreibtischtäter« anzusehen ist, läßt sich nicht sagen.85 Das Handeln des Paulus zeigt, dass er fest davon überzeugt war, sein Verständnis der Tora sei das (allein) richtige. Dementsprechend sagt er in Phil 3,6 von sich, er sei als »Pharisäer nach dem Gesetz« (ĔċĞƩėƲĖęėĀċěēĝċȉęĜ) und als eifernder Verfolger der Kirche (ĔċĞƩĐǻĕęĜĎēƶĔģėĞƭėőĔĔĕđĝưċė) hinsichtlich der »Gerechtigkeit, die im Gesetz erlangt werden kann« (ĔċĞƩ ĎēĔċēęĝƴėđėĞƭėőėėƲĖȣ), »untadelig« (ŅĖďĖĚĞęĜ) gewesen. Im Fortgang der Argumentation bezeichnet er dann die so aus dem Tun des Gesetzes gewonnene Gerechtigkeit als »meine Gerechtigkeit« (őĖƭĎēĔċēęĝƴėđ), die im Widerspruch stehe zu der durch den Glauben an Christus zu gewinnenden »Gerechtigkeit aus Gott«; sie sei deshalb von ihm verworfen worden (3,7 f.). Der Apostel Paulus meint also jetzt, anders als zuvor der Pharisäer Paulus, dass der Mensch die Gerechtigkeit, die ihren Ursprung in Gott hat (ĎēċĔċēęĝƴėđőĔĒďęȘ), nicht durch das Tun der Forderungen der Tora erlangt, sondern allein durch den Glauben an Christus.86 Sollte der Philipper83 Vgl. Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 283–289. Dass Paulus nur eine einzelne Gemeinde verfolgte (so R. Schäfer, Paulus [s. Anm. 78], 82–86, vgl. 336 f.), ist historisch natürlich nicht ausgeschlossen; aber intendiert war jedenfalls die Zerstörung »der Kirche«, nicht das Ende einer einzelnen Gemeinde; vgl. die entsprechenden Aussagen in Phil 3,6 und 1 Kor 15,9, die sich kaum als auf eine Gemeinde bezogen verstehen lassen. 84 S. Krauter, Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum, BZNW 127, Berlin / New York 2004, 332 f.: »Der ĐǻĕęĜ richtet sich zuerst gegen Juden, die sich nicht an religiöse Vorschriften (bzw. deren von den Eiferern vertretene Interpretation) halten. Darüber hinaus richtet er sich gegen Nichtjuden, die als Anstifter zu solchen Übertretungen angesehen werden, und in einigen Fällen überhaupt gegen nichtjüdischen Kult.« 85 Nach Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 15), 275 deutet das Verb ĚęěĒďȉė »auf ein recht gewaltsames Vorgehen hin«. Anders Peerbolte, Paul (s. Anm. 61), 144 f.: »Paul merely speaks of an aggressive attempt to eradicate the church’s views … Paul presents himself here not as one who tried to exterminate Christians by using violence, but rather as one who fiercely opposed the church of God … The violence is an element of the narrative portrayal of Paul in Acts 9,1–3, and cannot be found in Paul’s letters.« 86 Vgl. Phil 3,9. Die Genitivverbindung ĚưĝĞēĜāěēĝĞęȘ bezeichnet den »Glauben an Christus«, nicht etwa den »Glauben Christi«, wie schon Phil 1,29 zeigt (ĞƱ ďŭĜ ċƉĞƱė ĚēĝĞďƴďēė). Vgl. dazu K. F. Ulrichs, Christusglaube. Studien zum Syntagma ĚưĝĞēĜ āěēĝĞęȘ und zum paulinischen Verständnis von Glaube und Rechtfertigung, WUNT II/227, Tübingen 2007, 222–247.

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brief bereits während einer Gefangenschaft in Ephesus verfaßt worden sein87, dann würde dies zeigen, dass die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus bereits relativ früh auch begrifflich ausgearbeitet vorlag, also geradezu als »Rechtfertigungslehre«.88

III. Zum Verständnis der »Gerechtigkeit« bei Paulus und in den Psalmen Salomos 1. Durch sein »Damaskus-Erlebnis« war Paulus davon überzeugt worden, dass gerade die von ihm verfolgten Juden(-Christen) verstanden hatten, was »Gottes Gerechtigkeit« bedeutet. Paulus braucht nicht von Anfang an die entsprechende Begrifflichkeit verwendet zu haben; aber die Aussagen in Gal 1,16a über den Auftrag zur Völkermission und die Formulierungen in Phil 3,6–9 sprechen dafür, das sich die Grundzüge der paulinischen Theologie jedenfalls nicht erst allmählich in einem langen Prozeß herausgebildet haben. Wenn Paulus erkannte, dass es nicht mehr darum gehen konnte, nach der »eigenen Gerechtigkeit« zu streben, dann war damit zugleich klar, dass die Tora nicht der Weg war, um zu »Gottes Gerechtigkeit« zu gelangen. Paulus bringt das in Phil 3,7 f. in einer zunächst überaus drastischen Sprache zum Ausdruck: ʼnĕĕƩņĞēėċţėĖęēĔƬěĎđĞċȘĞċŢčđĖċēĎēƩĞƱėāěēĝĞƱė ĐđĖưċė. Ja, »ich sehe es alles als Schaden an und betrachte es um Christi willen sogar als ĝĔƴČċĕċ«. Die hier verwendete Terminologie zeigt, dass man die Bekehrung / Berufung des Paulus zwar sicher nicht im Sinne eines Religionswechsels deuten darf; aber es handelte sich offensichtlich um mehr als eine »Kurskorrektur«. Nach Ruth Schäfer hatte sich Paulus nicht »vom Judentum zum Christentum bekehrt, sondern von einer jüdischen Lebens87

1 Kor 15,32 und 2 Kor 1,8 blicken auf eine für Paulus lebensbedrohliche Situation in Ephesus zurück; das macht es wahrscheinlich, dass die Gefangenschaftsbriefe an die Philipper (und an Philemon) vor den Korintherbriefen geschrieben wurden; in der Schilderung der lebensbedrohlichen Situation in Ephesus (Apg 19,23–40) ist zwar nicht von einer Gefangenschaft die Rede, aber die Angaben passen jedenfalls zu dem, was Paulus in den Korintherbriefen scheibt . Anders Becker, Paulus (s. Anm. 1), 32.327 f., der den eigentlichen »Gefangenschaftsbrief« innerhalb des jetzt vorliegenden Briefes (Phil 1,1–3,1; 4,1–7.10.23) zwar ebenfalls als in Ephesus verfaßt ansieht, aber zeitlich nach den Korintherbriefen. Dagegen meint Schnelle, Paulus (s. Anm. 16), 408–411, Phil sei in Rom verfaßt worden und also der letzte erhaltene Paulusbrief. Paulus teile in 2 Kor 1,8 »nur das Faktum der Todesgefahr, nicht aber die näheren Umstände« mit, und auch 1 Kor 15,32 sei »kein Beleg für eine längere Haft des Paulus in Ephesus« (409, Hervorhebung von mir). An der Tatsache einer Gefangenschaft des Paulus in Ephesus besteht also offenbar auch für Schnelle kein Zweifel. 88 Zur begrifflichen Unterscheidung von »Rechtfertigungslehre«, »Rechtfertigungstheologie« und »Rechtfertigungsbotschaft« s. M. Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt, Tübingen 1998, 2.

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form zu einer anderen Weise jüdischen Lebens«89; aber in der Perspektive jedenfalls der großen Mehrheit des jüdischen Volkes war der Glaube an Jesus und wohl auch die daraus resultierende Lebenspraxis des Paulus keine ohne weiteres mögliche »jüdische Lebensform«, wie aus Röm 9–11 deutlich wird.90 Paulus bezeichnet die Gerechtigkeit őĔėƲĖęğ als »meine Gerechtigkeit«, und er sieht die »Gerechtigkeit aus Gott« (őĔĒďęȘőĚƯĞǼĚưĝĞďē) als dazu im Widerspruch stehend an (3,9); damit ist klar, dass die ĎēĔċēęĝƴėđĒďęȘ nicht etwa durch den Menschen festgestellt wird, sondern dass der Mensch seinerseits die ĎēĔċēęĝƴėđ von Gott empfängt (… őĔĒďęȘ). Das bedeutet implizit zugleich, dass die auf die Tora und deren Gerechtigkeit sich gründende Unterscheidung zwischen Israel und den »Völkern« keinen Bestand mehr hat91, was Paulus später ausdrücklich in Röm 9,30–33 sagt. Die darauf folgende Argumentation in Röm 10,1–3 weist eine ganz ähnliche Begrifflichkeit wie Phil 3,9 auf. Hier wird deutlich, dass sich die Unterscheidung zwischen der »eigenen Gerechtigkeit« (ŭĎưċĎēĔċēęĝƴėđ) und der »Gerechtigkeit Gottes« nicht nur auf die möglicherweise subjektiv-individuelle Perspektive der in Phil 3 beschriebenen Erfahrung des Paulus bezieht; Paulus spricht in Röm 10,2 f. von dem auf die ŭĎưċĎēĔċēęĝƴėđ gerichtete Streben der Israeliten, die zwar »Eifer um Gott« haben (ĐǻĕęėĒďęȘŕġęğĝēė), die aber nicht erkennen, dass eben dieses Streben »Unkenntnis der ĎēĔċēęĝƴėđ ĒďęȘ« und zugleich Ungehorsam ihr gegenüber ist.92 Die besondere theologische Bedeutung der mit dem Stamm ĎēĔ- verbundenen Begrifflichkeit wird sich für Paulus nicht erst in seiner Zeit als Apostel Jesu Christi und schon gar nicht erst im Zusammenhang seiner Konflikte mit den Gegnern etwa in Galatien ergeben haben; die ja bereits 89

R. Schäfer, Paulus (s. Anm. 78) 91. Vgl. dazu die Auslegung von Röm 9–11 in meinem Aufsatz: Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament (s.u. S. 149–189, hier: 159–172). 91 Paulus sagt dies im Phil, anders als etwa im Gal, nicht ausdrücklich; das spricht m. E. dafür, dass die in Phil 3,2 ff. polemisch Angegriffenen tatsächlich noch nicht in Philippi aktiv geworden sind und Paulus die Adressaten in Philippi also vor einer drohenden, aber noch nicht akut eingetretenen Gefahr warnen will. Der Imperativ ČĕƬĚďĞď würde dementsprechend nicht meinen: »Seht …«, sondern etwa »Achtet auf …« 92 Vgl. dazu E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 291: Paulus ziele »nicht nur auf gewisse Mißverständnisse, die darin bestanden haben könnten, daß Israel Gottes Gerechtigkeit nur auf sich bezogen, aber verkannt hätte, daß sie auch den Heiden gilt« (zur These des sog. »covenantal nomism« als des Selbstverständnisses des Judentums zur Zeit des Paulus), er argumentiere vielmehr »weitaus schärfer, indem er die in Christus offenbarte Gerechtigkeit Gottes, wie sie allein den Glaubenden zuteil wird, allen denkbaren Versuchen gegenüberstellt, die eigene Gerchtigkeit als Gerechtigkeit aus dem Gesetz gewinnen zu wollen«. Zum grundsätzlichen Gegenüber der »beiden Gerechtigkeiten« in Röm 10,1–17 s. D. Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römerbrief. Eine linguistisch-logische Untersuchung, BWANT 163, Stuttgart 2004, 324–336. 90

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biblische Frage nach der »Gerechtigkeit« und insbesondere die Frage nach der »Gerechtigkeit Gottes« war ein spezifisches theologisches Thema vermutlich schon für den Pharisäer Paulus gewesen. Eine wichtige Quelle für diese Vermutung sind die Psalmen Salomos (PsSal).93 2. Ob die PsSal unmittelbar als Textzeugnisse pharisäischen Denkens anzusehen sind, ist umstritten.94 Nach Svend Holm-Nielsen kann »nicht bezweifelt werden«, dass sie »der pharisäischen Geistesrichtung entsprechen«; man dürfe allerdings »den Inhalt nicht schematisch von einer straffen pharisäischen Dogmatik aus interpretieren, als ob die Pharisäer eine tatsächliche Parteiorganisation gebildet hätten«.95 Im folgenden wird nach dem Verständnis von »Gerechtigkeit« in den PsSal und bei Paulus gefragt, konzentriert vor allem auf den jeweiligen Gebrauch des Substantivs ĎēĔċēęĝƴėđ und des Verbs ĎēĔċēęȘė.96 Dass es sich dabei nicht um eine Randfrage für das Denken der PsSal handelt, zeigt die Komposition der jetzt vorliegenden Sammlung der Psalmen, auf die Otto Kaiser aufmerksam gemacht hat: »Die Lieder, die von Gottes Gerechtigkeitserweisungen in der jüngsten Ver93 Auf die Beziehungen des Paulus zu der in den PsSal enthaltenen pharisäischen Tradition hat Dieter Lührmann in seiner Manson-Memorial-Lecture 1988 in Manchester aufmerksam gemacht (s. seinen in Anm. 30 genannten Aufsatz). 94 Die PsSal sind als Textzeugnisse für das Judentum des 1. Jh. v. Chr. schon oft herangezogen worden; vgl. etwa H. Braun, Vom Erbarmen Gottes über den Gerechten (1950/51), in: Ders., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 1962, 8–69; J. Becker, Das Heil Gottes. Heils- und Sündenbegriffe in den Qumrantexten und im Neuen Testament, StUNT 3, Göttingen 1964, 26–32; E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism.. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977, 387–409 (dt. Übersetzung von J. Wehnert, Göttingen 1985, 364–384). Der direkte Bezug zu Paulus ist m. W. in dieser Form erstmals von Lührmann aufgewiesen worden (s. die vorige Anm.), und seither sind ihm etliche Exegeten darin gefolgt; vgl. M. Winninge, Sinners and the Righteous. A Comparative Study of the Psalms of Solomon and Paul’s Letters, CB.NT 26, Stockholm 1995 (dazu die Rezension von D. Lührmann, Bib. 80 [1999] 289–291), ferner J. Schröter, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Das Gottesbild der Psalmen Salomos in seinem Verhältnis zu Qumran und Paulus, NTS 44 (1998) 557–577. 95 S. Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 59; vgl. Winninge, Sinners (s. die vorige Anm.), 180: »The socio-political and religious provenance of the Psalms of Solomon is Pharisaic«, die PsSal sind »the ultimate link between the Chasidim and the Pharisees«. Zur systematischen Beschreibung (»major concerns«) pharisäischen Denkens vgl. 158–161. Zurückhaltender M. Lattke, Art. Salomoschriften II. Psalmen Salomos, RGG4 7, Tübingen 2004, 808–808, hier: 807: »Seit Qumran wird bezweifelt, ob die PsSal nur repräsentativ sind für Frömmigkeit und Theol. von Pharisäern.« O. Kaiser, Beobachtungen zur Komposition und Redaktion der Psalmen Salomos, in: F.L. Hossfeld/L. Schwienhorst-Schönberger (Hgg.), Das Manna fällt auch heute noch. FS Erich Zenger, HBS 44, Freiburg 2004, 362–378, hier: 363: Die »beliebte und nicht unbegründete Annahme, dass die Lieder aus pharisäischen Kreisen stammen, [ist] umstritten«. 96 Eine ähnliche Fragestellung verfolgt U. Schnelle, Gerechtigkeit in den Psalmen Salomos und bei Paulus, in: H. Lichtenberger/G. S. Oegema (Hgg.), Jüdische Schriften in ihrem antik–jüdischen und urchristlichen Kontext, JSHRZ Studien 1, Gütersloh 2002, 365–375; er unternimmt einen »Strukturvergleich«, dessen Ziel es ist, »die interne Logik von Denkentwürfen zu erfassen und zu vergleichen« (366).

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gangenheit handeln, stehen am Anfang (PsSal 2), in der Mitte (PsSal 8) und am Ende (PsSal 17).«97 Ein Vergleich zwischen den PsSal und den Paulusbriefen wirft methodisch insofern Probleme auf, als wir von den PsSal lediglich die griechische Übersetzung eines ursprünglich in hebräischer Sprache verfaßten Textes besitzen98, während die Paulusbriefe in der Originalsprache vorliegen. Aber da es sich bei der griechischen Fassung der PsSal jedenfalls um eine jüdische, nicht etwa um eine christliche Übersetzung handelt99, wird man davon ausgehen dürfen, dass der Übersetzer bemüht gewesen war, seinen griechisch sprechenden Adressaten die Aussagen der PsSal inhaltlich möglichst korrekt zu vermitteln.100.

Die bei Paulus so bedeutsame Genitivverbindung »Gottes Gerechtigkeit« (ĎēĔċēęĝƴėđ ĒďęȘ) ist in den PsSal so nicht belegt; sie begegnet aber in Form der Anrede an Gott in der Gerichtsdoxologie 2,15–18.101 Es heißt zunächst in V. 15: »Ich gebe dir recht (ĎēĔċēƶĝģĝď102), Gott, aus aufrichtigem Herzen, denn in deinen Urteilen ist deine Gerechtigkeit, o Gott, őė ĞęȉĜ ĔěưĖċĝưė ĝęğ Ş ĎēĔċēęĝƴėđ ĝęğ ž ĒďƲĜ«103; Gottes Gerechtigkeit besteht also darin, dass Gott gerecht urteilt. Als Begründung (ƂĞē) sagt der Psalmist in 2,16 f., Gott habe »den Sündern nach ihren Werken und nach ihren überaus schweren Sünden« vergolten und »ihre Sünden aufgedeckt«, »damit dein Gericht offenbar werden könne, ŲėċĠċėǼĞƱĔěưĖċĝęğ«. In 8,24–26 97

Kaiser, Bebachtungen (s. Anm. 95), 364. Vgl. Becker, Heil (s. Anm. 94), 26. Der syrischen Übersetzung liegt der griechische Text zugrunde (vgl. Holm-Nielsen, Psalmen Salomos [s. Anm. 95], 54 f.). Die im folgenden verwendete Übersetzung stammt von Holm-Nielsen; der griech. Text folgt der LXX-Ausgabe von Rahlfs. 99 Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 54 bestimmt als terminus ad quem dieser Übersetzung die Zeit um 80 n. Chr. 100 Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 54 hält sich bei seiner Übersetzung an den griechischen Text, »der trotz allem die einzige Form ist, in der wir die Gedichte jetzt kennen«; zu Stil und Inhalt aaO. 55–57. K. Atkinson, On the Herodian Origin of Militant Davidic Messianism at Qumran: New Light from Psalm of Solomon 17, JBL 118 (1999) 435–460, hier: 439 f. betont, der Übersetzer sei auch ein Interpret gewesen »who expanded the collection based on readings that were in some instances found only in the Septuagint. The Greek translator occasionally altered the text for grammatical and lexical improvement, frequently replaced less familiar expressions with more common terms, and also introduced complementary words to clarify the meaning of the Hebrew.« Atkinson kommt es bei diesen Hinweisen vor allem auf die Feststellung an, dass die einzelnen Psalmen nicht einheitlich zu datieren sind. Diese Perspektive kann im folgenden aber außer Betracht bleiben. 101 Zur Analyse vgl. Kaiser, Beobachtungen (s. Anm. 95), 368–370. Kaiser meint, die Gerichtsdoxologie in 2,15–18 sei nach den Aussagen in 2,8–13 »überflüssig«, und so stelle sie wohl »das Werk eines Theodizeebearbeiters« dar (369. 370). 102 Zum Verständnis von ĎēĔċēęȘė in den PsSal s. unten. 103 Ähnlich 4,24: »Gott rotte aus, die in Übermut allerlei Unrecht (ŁĎēĔĉċ) verüben, denn der Herr, unser Gott, ist ein großer und mächtiger Richter in Gerechtigkeit« (ƂĞē ĔěēĞƭĜĖćčċĜĔċƯĔěċĞċēƱĜĔħěēęĜžĒďƱĜŞĖȥėőėĎēĔċēęĝħėǹ). Vermutlich ist ĎēĔċēęĝħėđ in den PsSal Wiedergabe des hebr. Begriffs āĔĀē. 98

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ist dieser Gedanke dann nochmals breiter ausgeführt: »Gepriesen sei Gott, der die ganze Erde richtet in seiner Gerechtigkeit (őė ĎēĔċēęĝƴėǹ ċƉĞęȘ). Siehe denn, o Gott, du hast uns gezeigt dein Gericht in deiner Gerechtigkeit (ŕĎďēĘċĜŞĖȉėĞƱĔěưĖċĝęğőėĞǼĎēĔċēęĝƴėǹĝęğ), unsere Augen haben deine Gerichte gesehen, o Gott. Wir rechtfertigen (őĎēĔċēƶĝċĖďė104) deinen in Ewigkeit teuren Namen, denn du bist der Gott der Gerechtigkeit, der Israel mit Züchtigung richtet, ƂĞē ĝƳ ž ĒďƱĜ ĞǻĜ ĎēĔċēęĝƴėđĜ Ĕěưėģė ĞƱė ôĝěċđĕőėĚċēĎďưǪ.« In PsSal 9,1.2a wird von der Diasporasituation Israels gesprochen; nach V. 2b kam es zu dieser Situation, »damit du gerechtfertigt werdest, o Gott, in deiner Gerechtigkeit aufgrund unserer Sünden (ŲėċĎēĔċēģĒǼĜžĒďƲĜőėĞǼ ĎēĔċēęĝƴėǹĝęğőėĞċȉĜŁėęĖưċēĜŞĖȥė), denn du bist ein gerechter Richter über alle Völker der Erde, ƂĞēĝƳĔěēĞƭĜĎưĔċēęĜőĚƯĚƪėĞċĜĞęƳĜĕċęƳĜĞǻĜ čǻĜ«. In V. 3 wird dann nachdrücklich gesagt, dass sich keiner, der Unrecht tut (Ěęēȥė ŅĎēĔċ), vor Gottes Wissen (čėȥĝēĜ) verbergen kann, während umgekehrt »die gerechten Werke (ċŮĎēĔċēęĝƴėċē) der Frommen« Gott vor Augen stehen.105 Wir Menschen seien in unseren Handlungsentscheidungen frei (V. 4a: ĞƩŕěčċŞĖȥėőėőĔĕęčǼĔċƯőĘęğĝưǪĞǻĜĢğġǻĜŞĖȥė) »zu tun Gerechtigkeit und Unrecht mit den Werken unserer Hände«106; dazu gehöre aber auch das Wissen (V. 4c), dass Gott »in seiner Gerechtigkeit« auf die Menschen blickt (őė ĞǼ ĎēĔċēęĝƴėǹ ĝęğ őĚēĝĔƬĚĞǹ ğŮęƳĜ ŁėĒěƶĚģė). In V. 5a.b stellt der Psalmist dann die beiden Alternativen einander gegenüber: »Wer Gerechtigkeit übt (žĚęēȥėĎēĔċēęĝƴėđė), sammelt sich Leben beim Herrn (ĒđĝċğěưĐďēĐģƭėċƉĞȦĚċěƩĔğěưȣ)107; wer aber Unrecht übt (žĚęēȥėŁĎēĔưċė), verschuldet seine Seele in Verderben, ċƉĞƱĜċűĞēęĜĞǻĜ ĢğġǻĜőėŁĚģĕďưǪ.« Abschließend folgt in V. 5c die Begründung: »Denn der Herr richtet einen Mann und (sein) Haus in Gerechtigkeit, ĞƩčƩěĔěưĖċĞċ ĔğěưęğőėĎēĔċēęĝƴėǹĔċĞdzŅėĎěċĔċƯęųĔęė.« Darauf folgt eine rhetorische Frage, deren Antwort klar ist (V. 6a): »Wem zeigst du dich gütig, o Gott, wenn nicht denen, die den Herrn anrufen?« In PsSal 14 heißt es einleitend in V. 1 f.: »Treu ist der Herr denen, die ihn lieben in Wahrheit, die seine Züchtigung (ĚċēĎďưċ) aushalten, die in der Gerechtigkeit seiner Gebote wandeln (ĞęȉĜ ĚęěďğęĖƬėęēĜ őė ĎēĔċēęĝƴėǹ 104 Zur präsentischen Übersetzung des Aorists in V.  26 s. Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 81: Der Zusammenhang spricht dafür, dass der Lobpreis »Konsequenz des Erkennens in V. 25 und der Aorist daher ein Mißverständnis des hebräischen präsentischen Perfekts ist«. 105 Dazu Schnelle, Gerechtigkeit (s. Anm. 96), 374: »Auf den Wandel in Gerechtigkeit und das Befolgen des Gesetzes antwortet Gott mit seiner Treue.« 106 ĚęēǻĝċēĎēĔċēęĝƴėđėĔċƯŁĎēĔưċėőėŕěčęēĜġďēěȥėŞĖȥė. Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 83 übersetzt ĎēĔċēęĝƴėđ in V. 4b mit »Recht«, in V. 4c (ĔċƯőėĞǼ ĎēĔċēęĝƴėǹĝęğőĚēĝĔƬĚĞǹğŮęƳĜŁėĒěƶĚģė) dann aber mit »Gerechtigkeit«. 107 ĐģƮ meint hier vermutlich ewiges Leben.

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ĚěęĝĞċčĖƪĞģė ċƉĞęȘ), in dem Gesetz, das er uns auferlegte zu unserem Leben, őėėƲĖȣǞőėďĞďưĕċĞęŞĖȉėďŭĜĐģƮėŞĖȥė.« Die Gerechtigkeit, die Gott in seinen Weisungen dem Menschen als Forderung stellt, kann vom Menschen also auch tatsächlich getan werden. Die Frommen des Herrn werden »in ihm ewig leben, ƂĝēęēĔğěưęğĐƮĝęėĞċēőėŁğĞȦďŭĜĞƱėċŭȥėċ« (V. 3)108, »ihre Pflanzung ist verwurzelt für die Ewigkeit, sie werden nicht ausgerissen alle Tage des Himmels« (V. 4), denn (V. 5) »Gottes Teil und Erbe ist Israel, ŞĖƬěēĜĔċƯĔĕđěęėęĖưċĞęȘĒďęȘőĝĞēėôĝěċđĕ«.109 Die PsSal sprechen also ganz ähnlich wie Paulus von Gottes ĎēĔċēęĝƴėđ. Auf seiten des Menschen entspricht dieser Gerechtigkeit das eigene Tun der ĎēĔċēęĝƴėđ, d.h. es geht in den Psalmen offenbar genau um jenen Status und um jenes Selbstverständnis des Menschen, das von Paulus als ŭĎưċ ĎēĔċēęĝƴėđ beschrieben wird.

3. Das Verb ĎēĔċēęȘė begegnet in den PsSal siebenmal.110 Durchweg ist der Mensch das Subjekt, und Gott ist das Objekt des ĎēĔċēęȘė: Der Mensch gibt Gott recht, d.h. er bestätigt die Richtigkeit des Handelns Gottes, insbesondere seines richterlichen Handelns.111 So sagt der Psalmist in 2,15: »Ich gebe dir recht, Gott, aus aufrichtigem Herzen, denn in deinen Urteilen ist deine Gerechtigkeit, o Gott!« In 3,5 heißt es: »Strauchelt der Gerechte, preist er gerecht den Herrn (ĚěęĝƬĔęĢďė ž ĎưĔċēęĜ ĔċƯ őĎēĔċưģĝďė ĞƱė Ĕƴěēęė); fällt er, sieht er dem entgegen, was Gott ihm tun wird«; umgekehrt wird in 3,9 f. vom Sünder gesagt: »Vergeht sich der Sünder, verflucht er sein Leben (ĚěęĝƬĔęĢďėłĖċěĞģĕƱĜĔċƯĔċĞċěǬĞċēĐģƭėċƉĞęȘ) … Sünde häuft er auf Sünde in seinem Leben; er fällt, ja, furchtbar ist sein Fall, und er steht nicht wieder auf.« In 4,8 bittet der Psalmist: »Und die Frommen sollen ihres Gottes Urteil für gerecht erklären, wenn Sünder ausgerottet werden fort von dem Gerechten (ĔċƯĎēĔċēƶĝċēĝċėƂĝēęēĞƱĔěưĖċĞęȘĒďęȘċƉĞȥėőėĞȦ őĘċưěďĝĒċēłĖċěĞģĕęƳĜŁĚƱĚěęĝƶĚęğĎēĔċưęğ), der Menschendiener, der trügerisch Gesetz spricht.« In 8,7 sagt er: »Ich bedachte die Gerichte Gottes seit der Schöpfung von Himmel und Erde, ich hielt Gott für gerecht in seinen Gerichten von Ewigkeit her« (ŁėďĕęčēĝƪĖđėĞƩĔěưĖċĞċĞęȘĒďęȘŁĚƱ 108

Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 91 verweist zu der Wendung ĐƮĝęėĞċēőėċƉĞȦ auf Lev 18,5 und nennt folgende Deutungs- bzw. Übersetzungsmöglichkeiten: »Entweder ›durch es‹ (sc. das Gesetz), also instrumental zu verstehen (vgl. V. 10; 9,5), oder ›in ihm‹, d.h. in der Erfüllung des Gesetzes, oder endlich ›durch ihn‹, also ċƉĞȦ mit Rückbezug auf ĔƴěēęĜ.« 109 Schnelle, Gerechtigkeit (s. Anm. 96), 368: »Die Basis des theologischen Denkens der PsSal ist das Gegensatzpaar vom wahren Israel als Gerechte und den Heiden bzw. den abtrünnigen Juden als Sünder.« 110 Im Hebräischen steht für ĎēĔċēęȘė vermutlich die Wurzel ĔĀē. Vgl. G. Schrenk, Art. ĎưĔđĔĞĕ., ThWNT II, Stuttgart 1935, 216 f. 111 Schrenk, ThWNT II, 217,3–10.

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ĔĞưĝďģĜęƉěċėęȘĔċưčǻĜőĎēĔċưģĝċĞƱėĒďƱėőėĞęȉĜĔěưĖċĝēėċƉĞęȘĞęȉĜ ŁĚdzċŭȥėęĜ). Im Kontext des schon zitierten Abschnitts 8,24–26 wird zunächst gesagt (V. 23): »In seinen Gerichten ist Gott gerechtfertigt unter den Völkern der Erde (őĎēĔċēƶĒđžĒďƱĜőėĞęȉĜĔěưĖċĝēėċƉĞęȘőėĞęȉĜŕĒėďĝēė ĞǻĜčǻĜ), und die Frommen Gottes sind wie unschuldige Lämmer mitten unter ihnen«; abschließend heißt dann es (V. 26): »Wir rechtfertigen deinen in Ewigkeit teuren Namen (őĎēĔċēƶĝċĖďėĞƱƁėęĖƪĝęğĞƱŕėĞēĖęė), denn du bist der Gott der Gerechtigkeit, der Israel mit Züchtigung richtet.«112 Mit dem Verb ĎēĔċēęȘė bezeichnen die PsSal also das Urteil des Menschen über Gottes Handeln. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass der Mensch womöglich Gott überlegen ist und dass er Gott »beurteilt«; vielmehr unterwirft sich der Mensch in der Anerkennung der Gerechtigkeit Gottes dessen Maßstab und er anerkennt also seinerseits die Gerechtigkeit Gottes. Dieser Sprachgebrauch von ĎēĔċēęȘė begegnet im Neuen Testament in der aus Q stammenden Rede Jesu über den Täufer (Lk 7,24–35/Mt 11,7–19). In Lk 7,29 heißt es: »Und alles Volk, das ihn hörte, und die Zöllner gaben Gott recht (őĎēĔċưģĝċėĞƱė ĒďƱė), indem sie sich taufen ließen mit der Taufe des Johannes«113, und am Ende dieser Rede steht in Lk 7,35/Mt 11,19 der Satz, die Weisheit sei »gerechtfertigt worden (ĎēċĔēƶĒđ) von (allen) ihren Werken/Kindern«, was bedeutet, »daß die Glaubenden Gottes Wollen gutgeheißen, seinen Plan gebilligt haben«.114 Gottlob Schrenk meint, auch der passivische Gebrauch von ĎēĔċēęȘė in Röm 3,4 und 1 Tim 3,16 zeige dieses Verständnis115; aber in Röm 3,4 ist weder innerhalb des von Paulus zitierten Textes Ps 50,6 LXX noch im Duktus seiner eigenen Argumentation gemeint, dass der Mensch aufgrund eigenen Urteilens Gott »recht gibt«, und dasselbe gilt noch deutlicher für die »Rechtfertigung« Christi in dem »hymnischen« Text 1 Tim 3,16.116 Im Lukasevangelium begegnet die Vorstellung, dass ein Mensch »sich selbst rechtfertigen«, dass er also sein Denken bzw. Handeln anderen gegenüber plausibel machen bzw. entschuldigen will. Der ėęĖēĔƲĜ, der als Reaktion auf das Doppelgebot der Liebe Jesus fragt, wer denn sein Nächster sei, will sich mit dieser Frage selber »rechtfertigen« (žĎƫĒƬĕģėĎēĔċēȥĝċēŒċğĞƲė, 10,29); Jesus macht den »geldgierigen« Pharisäern117 den Vorwurf, sie seien ęŮĎēĔċēęȘėĞďĜŒċğĞęƳĜőėƶĚēęėĞȥėŁėĒěƶĚģė, Gott aber kenne ihre Herzen (žĎƫĒďƱĜčēėƶĝĔďēĞƩĜĔċěĎưċĜƊĖȥė, 16,15). Lukas kennt aber auch den für Paulus typischen Sprachgebrauch, dass der Mensch von Gott »gerechtfertigt« wird: In der ĚċěċČęĕƮ vom Pharisäer und Zöllner, mit der sich Jesus 112

Ähnliches wird in dem schon zitierten Text 9,2 gesagt (s.o. S. 54). In Mt 21,31 begegnet eine ähnliche Aussage, aber ohne das Verb ĎēĔċēęȘė; doch in Mt 21,32 wird dann gesagt, Johannes sei gekommenőėžĎȦĎēĔċēęĝħėđĜ. 114 F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband. Lk 1,1–9,50, EKK III/1, Neukirchen-Vluyn und Zürich 1989, 379. 115 Schrenk, ThWNT II, 218,7–23. 116 Zumindest mißverständlich schreibt Schrenk (s. die vorige Anm), hier werde »auch jener in Ps Sal beliebte Sprachgebrauch vorliegen« mit dem Sinn: »Christus bekam recht in der Sphäre des Geistes, dh sein Christusanspruch ist durch die Auferstehung (im Gegensatz zu dem őĠċėďěƶĒđőėĝċěĔư) erwiesen und legitimiert.« 117 So der polemische Vorwurf in Lk 16,14; s. dazu o. S. 41. 113

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an die wendet, die sich für ĎưĔċēęē hielten (Lk 18,9–14), sagt Jesus, das Gebet des Zöllners um Barmherzigkeit (V. 13) bedeute, dass dieser »gerechtfertigt« ist, während »dem anderen« diese Rechtfertigung fehlt (V. 14a: ĔċĞƬČđęƐĞęĜĎďĎēĔċēģĖƬėęĜďŭĜ ĞƱėęųĔęėċƉĞęȘĚċědzőĔďȉėęė). Hier besteht eine sachliche, vermutlich von Lukas bewußt geschaffene Verbindung zu Paulus; das zeigt Apg 13,38 f., wo der lk Paulus in seiner ersten Missionsrede in Antiochia Pisidiae den Grundgedanken der Rechtfertigungslehre ausspricht.118

4. Herbert Braun hat gemeint, in dem in den PsSal sichtbar werdenden Verständnis von Gerechtigkeit zeige sich »ein deutliches Symptom für die letzte Heilsunsicherheit«.119 Dem hat E. P. Sanders scharf widersprochen: »Thus Braun has conformed the Psalms of Solomon to the picture of Pharisaic Judaism which is usual in Christian, and especially Lutheran scholarship, and which is usually supported by quotations from Rabbinic literature: it is a religion of works-righteousness in which the occasional statements of God’s free mercy are submerged under the statements of self-righteousness, of salvation attained by works.«120 Aber dogmatische Urteile, gleich welcher Art, helfen bei der Textanalyse kaum weiter. Für die PsSal besteht ĎēĔċēęĝƴėđ jedenfalls darin, dass der Gerechte die Gerechtigkeit Gottes anerkennt, dass er dem Urteil Gottes über die Menschen zustimmt; umgekehrt besteht die Gerechtigkeit des Menschen darin, dass er dem aus dem Gesetz erkennbaren Urteil Gottes entsprechend handelt, wie in PsSal 14,1 f. deutlich wird.121 Der Pharisäer Paulus dürfte vor seiner Berufung zum Apostel Christi ein solches Verständnis von Gerechtigkeit geteilt haben, und er verfolgte diejenigen Juden, die aufgrund ihres Glaubens an die Auferweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott das Verhältnis von Gerechtigkeit, Tora und Gott grundsätzlich anders bestimmten. Das war sicherlich kein für (alle) Pharisäer »typisches« Verhalten; von vielen pharisäisch denkenden Juden werden die jesusgläubigen Juden ignoriert oder als »ungefährlich« eingestuft worden sein.122 Paulus jedoch zog aus seinem Pharisäismus die Konsequenz, in dieser Weise als Verfolger handeln zu müssen.

ĎēƩ ĞęƴĞęğ ƊĖȉė ŅĠďĝēĜ łĖċěĞēȥė ĔċĞċččƬĕĕďĞċē [ĔċƯ] ŁĚƱ ĚƪėĞģė Ơė ęƉĔ ŝĎğėƮĒđĞďőėėƲĖȣ÷ģĥĝƬģĜĎēĔċēģĒǻėċēőėĞęƴĞȣĚǬĜžĚēĝĞďƴģėĎēĔċēęȘĞċē. Vgl. dazu Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (s. Anm. 59), 58–60.169–171. 119 Braun, Erbarmen (s. Anm. 94), 47; dies sei für das Selbstverständnis des frommen Gerechten der PsSal charakteristisch. 120 Sanders, Paul (s. Anm. 94), 395. 121 S.oben S. 54 f. 122 Es fällt auf, dass Lukas keine andere Person explizit nennt, die die Verfolgung von jesusgläubigen Juden praktiziert oder auch nur gefordert hätte. Die Steinigung des Stephanus erscheint als Sonderfall; von einer direkten Beteiligung von Pharisäern ist nicht die Rede. 118

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IV. Paulus, der Apostel Jesu Christi Dem Verfolger Paulus widerfuhr ein Ereignis, das er in 1 Kor 9,1 als das »Sehen« (ŒƲěċĔċ) »Jesu, unseres Herrn« und in 1 Kor 15,8 als »Erscheinung« (ƝĠĒđ) des auferstandenen Christus bezeichnet123, und das nach Gal 1,14.15 aus dem Verfolger unmittelbar den Verkündiger őė ĞęȉĜ ŕĒėďĝēė werden ließ.124 Dass sich dieses Ereignis nahe Damaskus vollzog, geht indirekt aus 2 Kor 11,32125 und deutlicher aus Gal 1,17 hervor, ohne dass wir über die Einzelheiten Sicheres sagen könnten.126 Möglicherweise hatte Paulus beabsichtigt, jesusgläubige, torakritische Juden in den Synagogen von Damaskus aufzuspüren und die betreffenden Gemeindeleitungen zu Maßnahmen gegen sie zu veranlassen. Dazu kam es nicht mehr; denn das Widerfahrnis bedeutete für Paulus eine völlige Wende seines Lebens.127 Paulus schreibt in Gal 1,15.16, es habe Gott, »der mich von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat«, gefallen, »mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn verkündigen sollte unter den Völkern«. Diese Aussage ist für die Frage nach dem Verhältnis des Pharisäers Paulus zu dem Apostel Paulus aus mehreren Gründen von großer Bedeutung: 123

Vgl. meinen Aufsatz: Paulus als Zeuge der Auferstehung Jesu Christi, in: A. Lindemann, Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 27–36. 124 Die in Apg 9 gegebene überaus plastische Schilderung des Offenbarungsvorgangs entspringt primär dem erzählerischen und theologischen Interesse des Lukas und nicht einer womöglich »zuverlässigen« Quelle; sie hat überdies literarische Vorbilder; vgl. Chr. Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, FRLANT 103, Göttingen 1970, 51–105. Die beiden an späterer Stelle gebotenen Rückblicke auf das Geschehen (Apg 22 und 26) unterscheiden sich bewußt von der in Apg 9 gegebenen Schilderung; offenbar wollte Lukas gerade durch die Verbindung der drei unterschiedlichen Darstellungen das von Paulus selber lediglich mit dem knappen Stichwort »sehen« bezeichnete Geschehen verständlich bzw. geradezu anschaulich machen. Zum Verhältnis von »Historie« und »Wunder« in der Apg s. E. Plümacher, þďěċĞďưċ. Fiktion und Wunder in der hellenistisch–römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: Ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hg. von J. Schröter und R. Brucker, WUNT 170. Tübingen 2004, 33–84. 125 Möglicherweise ist auch 2 Kor 4,6 als Anspielung auf das »Damaskuserlebnis« zu verstehen, ohne dass dort der Ort genannt wäre. 126 Von der Flucht aus Damaskus erzählt auch Lukas in Apg 9,24 f.; hier wie dort ist eine Verkündigungstätigkeit des Paulus in Damaskus vorausgesetzt bzw. dargestellt. Sollte 2 Kor die Quelle für die lukanische Darstellung sein (vgl. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum [s. Anm. 59], 167), so wären die von 2 Kor abweichenden Darstellungselemente in der Apg als mehr oder weniger legendarisch anzusehen, insbesondere auch der Bericht, dass sich die Erscheinung Christi »vor« Damaskus, also während der Reise des Paulus dorthin ereignet habe. 127 Vgl. Peerbolte, Paul (s. Anm. 61), 139–176 (»The Pharisee Called by God«).

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1. Es ist der Gott Israels, der Paulus in Christus begegnet ist128; die Formulierung »es gefiel [Gott]« (ďƉĎƲĔđĝďė [žĒďƲĜ])129 zeigt an, dass es Gottes freie Entscheidung war, dem Verfolger diese Offenbarung zuteil werden zu lassen.130 2. Mit dem Hinweis auf seine »Aussonderung von Mutterleib an« und auf seine vorangegangene Berufung durch Gott (ĔċĕƬĝċĜ) knüpft Paulus betont an biblische Erwählungs- bzw. Berufungsaussagen an.131 3. Das Handeln, in dem Gott dem Verfolger Paulus seinen Sohn offenbarte, zielte nach Gal 1,15.16 unmittelbar auf dessen Verkündigung unter den Völkern; die Gottesverkündigung und die Christusverkündigung gehören für Paulus also unmittelbar zusammen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? (1) Zur paulinischen Christusverkündigung unter den Menschen der Völkerwelt gehört die Predigt von dem Einen Gott. Paulus erinnert im Eingangsabschnitt des Ersten Thessalonicherbriefes die heidenchristlichen Adressaten an die Anfänge der Mission in ihrer Stadt, nämlich daran, »welchen Eingang wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch bekehrt habt zu Gott weg von den Götzen (ŁĚƱĞȥėďŭĎƶĕģė), um zu dienen dem lebendigen und wahren Gott« (1 Thess 1,9)132; ähnlich, wenn auch ohne Verwendung des Begriffs ďűĎģĕęė, argumentiert Paulus in Gal 4,8–10. Die von der Missionspredigt des Paulus angesprochenen ŕĒėđ waren offensichtlich nicht »Gottesfürchtige«, die der Synagoge bereits nahestanden und die jedenfalls nicht die ďűĎģĕċ verehrten; Paulus wandte sich vielmehr an Menschen, deren religiöses Denken – zumindest aus der Sicht des Paulus – durch »Vielgöt-

128

Vgl. W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum »Monotheismus« des Paulus und seiner alttestamentlich-frühjüdischen Tradition, BThSt 48, Neukirchen-Vluyn 2002, 43–90. 129 Kritik an der textkritischen Entscheidung zugunsten des »Langtextes« (mit žĒďƲĜ in [ ]) üben B. M. Metzger und A. Wikgren; s. B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994, 521 f.: »The reading with žĒďƲĜ has every appearance of being a scribal gloss.« 130 F. Vouga, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998, 33: »Programmatisch ist der Subjektwechsel: Gott ist der auctor. … Die Autorität des paulinischen Apostelamtes geht auf einen Entschluß Gottes zurück, der jeder menschlichen Entscheidung vorausgeht.« 131 R. Schäfer, Paulus (s. Anm. 78), 125 f. betont, die »Berufung« des Paulus sei der »Bekehrung« vorangegangen; sie kam »in seinem Offenbarungserlebnis zu ihrem ersten Ziel, nämlich dadurch, daß sie ihm überhaupt erst selbst bewußt wird«. Aber auch die Aussage in Gal 1,15 ist formuliert aus der »Nach-Damaskus-Perspektive«. 132 Vgl. T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK XIII, Neukirchen-Vluyn und Zürich 1986, 54–62. Holtz meint (62): »Nicht eine vorlaufende monotheistische Predigt, sondern das mit einem ganz bestimmten Inhalt, nämlich der Christusgeschichte, gefüllte Gotteszeugnis erweckt den Glauben. Der Glaube der Gemeinde an Gott ist der durch das Evangelium gegründete Heilsglaube.«

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terei« bzw. »Götzendienst« bestimmt war.133 Paulus hält dabei an der jüdischen Vorstellung fest, dass die Götter der Völker lediglich bloße Bilder sind134, während der allein lebendige und wahre Gott nicht abgebildet wird und sich nicht abbilden läßt.135 (2) Paulus ist, wie die an Jer 1,5; Jes 49,1 anknüpfende Formulierung in Gal 1,15 zeigt, mit den Heiligen Schriften Israels und mit den Möglichkeiten von deren Auslegung vertraut.136 Sollte er tatsächlich entsprechend dem in der Apg gezeichneten Bild in Jerusalem theologisch ausgebildet worden sein, so hätte sich diese Ausbildung natürlich auf die Auslegung der biblischen Texte in ihrer hebräischen Fassung bezogen. Davon aber ist in den paulinischen Briefen nichts zu erkennen, denn alle Zitate und Anspielungen beziehen sich auf die griechische Bibel.137 Der nach ganz überwiegender Auffassung älteste Paulusbrief, der (erste) Brief an die Thessalonicher, enthält kein Schriftzitat138; möglicherweise war 133 Holtz, Thessalonicher (s. die vorige Anm.) ergänzt seine oben zitierte Aussage mit der Bemerkung, die »monotheistische« Predigt sei »weithin wohl auch gar nicht nötig« gewesen, da (mit U. Wilckens) die ŕĒėđ weitgehend Gottesfürchtige gewesen seien (aaO. 62, Anm. 218). Koch, Schrift (s. Anm. 69), 89 betont, dass die Gottesfürchtigen »aus der Sicht des Judentums grundsätzlich ›Heiden‹ waren und blieben«. Aber Paulus bezeichnet die hier angeredeten ŕĒėđ doch dezidiert als Anhänger des »Polytheismus«; wären sie tatsächlich ĠęČęƴĖďėęēĞƱėĒďƲė gewesen, dann würde er mit seinen Aussagen in 1 Thess 1,9b und in Gal 4,8 den tatsächlichen Sachverhalt völlig falsch und seinen Intentionen zuwiderlaufend dargestellt haben. In Gal 4,8–10 setzt Paulus die Bereitschaft der galatischen (Heiden-)Christen, Elemente der Tora als für sich verbindlich zu übernehmen, mit der »Rückkehr« zu den einst von ihnen verehrten ĝĞęēġďȉċ gleich. Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 142 f.; ferner A. Lindemann, Paulinische Mission und religiöser Pluralismus, in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche (s. Anm. 119), 115–131. 134 Vgl. etwa Jes 41,28 LXX oder JosAs 10,12 f. Vgl. F. Büchsel, Art. ďűĎģĕęė ĔĞĕ., ThWNT II, Stuttgart 1935, 373–375. Paulus spricht von den ďűĎģĕċ in Röm 2,22 und vor allem im 1 Kor (8,4.7; 10,19; 12,2; vgl. auch die Komposita ďŭĎģĕƲĒğĞęĜďŭĎģĕęĕƪĞěđĜ ďŭĎģĕęĕċĞěďưċ); 2 Kor 6,16 ist m. E. unpaulinisch. Vgl. E.-M. Becker, ðôýóðúý und 1 Kor 8. Zur frühchristlichen Entwicklung und Funktion des Monotheismus, in: W. Popkes / R. Brucker (Hgg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament, BThSt 68, Neukirchen-Vluyn 2004, 65–99. 135 In grundsätzlich gleicher Weise läßt Lukas den Paulus der Areopagrede sprechen, Apg 17,25. Vgl. C. Breytenbach, Der einzige Gott – Vater der Barmherzigkeit. Thoratexte als Grundlage des paulinischen Redens von Gott, BThZ 22 (2005) 37–54, zu 1 Thess 1,9 f. vor allem 45–49. 136 Jer 1,5:ĚěƱĞęȘĖďĚĕƪĝċēĝďőėĔęēĕưǪőĚưĝĞċĖċưĝďĔċƯĚěƱĞęȘĝďőĘďĕĒďȉėőĔ ĖƮĞěċĜ ŞčưċĔƪ ĝď ĚěęĠƮĞđė ďŭĜ ŕĒėđ ĞƬĒďēĔƪ ĝď; Jes 49,1: ĔƴěēęĜ őĔ ĔęēĕưċĜ ĖđĞěƲĜ ĖęğőĔƪĕďĝďėĞƱƁėęĖƪĖęğ. Dass die Verwendung des Verbs ŁĠģěưĐďēė der Wendung ž ŁĠęěưĝċĜĖď (Gal 1,15) indirekt auf den Status des Paulus als ĀċěēĝċȉęĜ verweisen könnte (so erwogen von F. Mussner, Der Galaterbrief, HThK IX, Freiburg 31977, 83 Anm. 31), ist wenig wahrscheinlich. 137 Zu dem von Paulus verwendeten LXX-Text und möglichen unterschiedlichen Textfassungen vgl. Koch, Schrift (s. Anm. 69), 48–88. 138 Die Echtheit des 1 Thess wird von M. Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe an

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dem Apostel der hermeneutische Wert der biblischen Texte für die Christusverkündigung nicht von Anfang an klar. In den anderen Briefen des Paulus wird jedenfalls deutlich, dass ihm die Christusoffenbarung eine ganz bestimmte hermeneutische Perspektive eröffnete: Paulus liest die Bibel auf Christus hin, den Gott als seinen Sohn gesandt hatte, als ĞƱĚĕƮěģĖċĞęȘ ġěƲėęğ gekommen war (Gal 4,4), und der als der von Gott Auferweckte jetzt gegenwärtig ist. Die biblischen Verheißungen sind also, entsprechend der Aussage in Röm 15,8, durch das Christusgeschehen bestätigt und darin erfüllt worden. Die Auslegung von Röm 15,8 (ĕƬčģčƩěāěēĝĞƱėĎēƪĔęėęėčďčďėǻĝĒċēĚďěēĞęĖǻĜ ƊĚƫěŁĕđĒďưċĜĒďęȘďŭĜĞƱČďČċēȥĝċēĞƩĜőĚċččďĕưċĜĞȥėĚċĞƬěģė) ist umstritten. E. Lohse schreibt: »Dieser Dienst Christi zielt darauf, die den Vätern gegebenen Verheißungen zu befestigen, d.h. zu verwirklichen und zu erfüllen.«139 Dagegen meint G. Sass, dass in Röm 15,8 zwar »vom Kontext her die Verheißungen offenbar sowohl das Werk des Christus als auch seine Wirkungen umschließen … Schon jetzt loben Heidenchristen Gott zusammen mit Judenchristen, wie es die Schrift zuvor geschrieben hat«, und man könnte insofern »von einer Erfüllung dieser Verheißungen in Christus sprechen«. Da aber noch nicht ganz Israel zum Glauben gekommen sei und auch noch nicht alle Völker in das Gotteslob eingestimmt hätten, und da schließlich der Glaube an Christus zwar schon Rettung begründe, »aber noch auf Hoffnung hin«, müsse gelten: »Die Verheißungen [sind] in Christus wohl schon bestätigt (es gibt keinen anderen Weg zu ihrer Erfüllung als ihn), aber noch nicht erfüllt.« 140 Zu der hier sichtbar werdenden »Spannung zwischen Schon-Jetzt und Noch-Nicht« verweist Sass auf die Verwendung von ČďČċēȥĝċē im Sinne von »garantieren, in Geltung setzen« anstelle von ĚĕđěƲģ »erfüllen«.141 Aber dieser Hinweis trägt wenig aus, da ĚĕđěƲģ bei Paulus nicht im Sinne der Erfüllungszitate wie etwa bei Mt verwendet wird. Gegen die Annahme, ČďČċēęȘė bedeute, dass die biblischen őĚċččďĕưċē durch das Christusgeschehen lediglich als solche bekräftigt wurden, sprechen schon 2 Kor 1,20 (ƂĝċēčƩěőĚċččďĕưċēĒďęȘőėċƉĞȦĞƱėċưäĎēƱĔċƯĎēdzċƉĞęȘĞƱŁĖƭėĞȦ ĒďȦĚěƱĜĎƲĘċėĎēdzŞĖȥė) und Röm 4,14 (ďŭčƩěęŮőĔėƲĖęğĔĕđěęėƲĖęēĔďĔƬėģĞċē ŞĚưĝĞēĜĔċƯĔċĞƮěčđĞċēŞőĚċččďĕưċ). Die őĚċččďĕưċ wird nicht einfach »wiederdie Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte, BWANT 191, Stuttgart 2010 bestritten. Sie nennt »gravierende Abweichungen« von den authentischen Briefen des Corpus Paulinum: »Die beispiellose Verurteilung des jüdischen Volkes« in 2,14–16, der Charakter eines »kollektiven Schreibens«, der in dem überaus häufigen »wir« zum Ausdruck komme, es werde »keine Person für den aktuellen Brieftransport angedeutet« (158). Erstaunlich sei auch die Adresse ĞǼőĔĔĕđĝưǪ óďĝĝċĕęėēĔƬģė (1,1), mit der ein geradezu politischer, gegen Rom gerichteter Anspruch auf (ganz) Thessaloniki erhoben werde (235–240). M. E. wäre aber gerade in einem vergleichsweise spät entstandenen pseudopaulinischen, nach Crüsemann dezidiert heidenchristlichen und antijüdischen Brief eine unmittelbare Verwendung des Alten Testaments zu erwarten. 139 Lohse, Römerbrief (s. Anm. 92), 387. 140 G. Sass, Leben aus den Verheißungen. Traditionsgeschichtliche und biblisch-theologische Untersuchungen zur Rede von Gottes Verheißungen im Frühjudentum und beim Apostel Paulus, FRLANT 164, Göttingen 1995, 476. 141 Sass ebd., Anm. 665.

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holt«, sondern sie wird verwirklicht.142 Damit ist Christus für Paulus das Kriterium der Schriftauslegung geworden.

(3) Auch als Apostel unterscheidet Paulus zwischen Israel und »den Völkern«143; aber es steht für ihn fest, dass sich in Christus der Eine Gott gleichermaßen als Gott der Juden und der Heiden geoffenbart und in Jesus Christus nun in neuer Weise allen Menschen zugewandt hat. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Frage der Geltung der Tora und für die Rede von Gott.144 Wenn der Mensch gerechtfertigt wird durch Glauben, ohne Werke des Gesetzes (Röm 3,28), dann muß dies angesichts des biblischen Gottesverständnisses zur Frage nach der Selbigkeit Gottes führen. Paulus fragt daher in V. 29 rhetorisch: »Oder ist Gott allein [Gott] der Juden? Nicht auch der Heiden?« Und er antwortet: »Ja, auch der Heiden.« Wäre die Tora an der Rechtfertigung beteiligt, dann wäre Gott, auf den ja die Tora zurückgeht145, allein der Gott Israels, nicht auch Gott der Völker. Die Tora ist und bleibt Israels besondere, einzigartige Form der Gottesbeziehung, sie unterscheidet Israel nach wie vor von den Völkern; aber hinsichtlich der Rechtfertigung besteht zwischen Juden und Nichtjuden kein Unterschied, wie Paulus in V. 30 feststellt: »Denn es ist ja der Eine Gott, der rechtfertigt (ĎēĔċēƶĝďē) die Beschneidung [= die Juden] aus Glauben (őĔĚưĝĞďģĜ) und die Vorhaut [= Heiden] durch den Glauben (ĎēƩĞǻĜĚưĝĞďģĜ).«146 Die rhetorische Frage in 3,31 (ėƲĖęėęƏėĔċĞċěčęȘĖďėĎēƩĞǻĜĚưĝĞďģĜ) und die darauf gegebene Antwort (ĖƭčƬėęēĞęäŁĕĕƩėƲĖęėŮĝĞƪėęĖďė) bedeuten nicht, dass die Tora gleichsam nachträglich nun doch als rechtfertigend in Kraft gesetzt ist; Paulus meint vielmehr, dass er gerade durch die Aussagen in V. 28–30 den eigentlichen Sinn der Tora aufgewiesen hat. Dementsprechend ist dann die

142

Es wäre ja auch nach dem Sinn einer bloßen »Bestätigung« der biblischen Verheißung zu fragen: Warum war sie nötig angesichts der doch in Geltung stehenden entsprechenden Aussagen? 143 Der Satz des Paulus in Gal 2,15 (ŞĖďȉĜĠƴĝďēŵęğĎċȉęēĔċƯęƉĔőĘőĒėȥėłĖċěĞģĕęư) könnte so auch in den PsSal stehen. 144 Vgl. zum Folgenden P.-G. Klumbies, Der Eine Gott des Paulus. Röm 3,21–31 als Brennpunkt paulinischer Theo-logie, ZNW 85 (1994) 192–206 (wieder abgedruckt in: Ders., Studien zur paulinischen Theologie, Münster 1999, 40–54). 145 Hier liegt eine Differenz zwischen dem Toraverständnis im Römer- und im Galaterbrief; die Aussage von Gal 3,19–21, dass die Tora nicht auf Gott zurückgeht, sondern auf »Engel« (ĎēċĞċčďƯĜĎēdzŁččƬĕģė), wird im Römerbrief so nicht wiederholt. 146 Der Wechsel der Präpositionen – zuerst őĔ, dann ĎēĆ – fällt auf; nach E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 98 ist dieser Wechsel »rhetorisch«, ohne freilich »sachlich belanglos zu sein. Die religiösen Unterschiede sind überwunden. Doch gibt es weiterhin Christen aus Juden und Heiden«, und dabei gilt für die einen, dass sie ihre Geschichte nicht zu mißachten brauchen, während für die anderen gilt, »daß Heilsgeschichte nicht in immanenter und verrechenbarer Kontinuität verläuft«.

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in Kap. 4 folgende Auslegung der Abrahamsgeschichte als Konsequenz aus der Feststellung von 3,31b zu lesen.147 Paulus zitiert in Röm 4,3, ebenso wie schon in Gal 3,6, die Aussage aus Gen 15,6 LXX, dass Abraham der (Nachkommen-)Verheißung Gottes geglaubt habe und dass ihm dies »angerechnet worden ist zur Gerechtigkeit«.148 Paulus folgert daraus, dass Gott grundsätzlich jedem Menschen, also nicht allein Abraham, den Glauben zur Gerechtigkeit »anrechnet« (V. 4 f.9 f.).149 Der hebr. Text von Gen 15,6 lautet: āĔĀēĂĉāþóĄĆĂāĂāĆþČċýāĂ »Und er glaubte JHWH und er rechnete es ihm an zur Gerechtigkeit«. Manfred Oeming hat darauf aufmerksam gemacht, dass die beiden Verben in V. 6a (ČċýāĂ) und V. 6b (āþóĄĆĂ) dassselbe Subjekt haben; offenbar wird in V. 6b gesagt, Abraham habe Gott die āĔĀē zugesprochen.150 Nur aufgrund der Übersetzung der LXX, die eine passivische Wendung einführt151, habe Paulus aus aus Gen 15,6 seine Rechtfertigungstheologie entwickeln können, nämlich die Vorstellung des von Gott aufgrund des Glaubens »gerechtfertigten« Menschen, die er in Röm 5,1 (ĎēĔċēģĒƬėĞďĜęƏėőĔĚưĝĞďģĜĔĞĕ.) als Ergebnis 147 Das einleitende ĞưęƏėőěęȘĖďė … zeigt, dass der Gedankengang in 4,1 ff. unmittelbar an 3,21–31 anschließt; vgl. Starnitzke, Struktur (s. Anm. 92), 164. 148 Gen 15,6 LXX: ĔċƯőĚưĝĞďğĝďėìČěċĖĞȦĒďȦĔċƯőĕęčưĝĒđċƉĞȦďŭĜĎēĔċēęĝƴėđė. Paulus ersetzt lediglich den biblischen Namen ìČěċĖ durch die geläufige Form ʼnČěċƪĖ. 149 Als zusätzliches Argument zitiert Paulus in V. 7 f. auch noch Ps 31,1 f. LXX. 150 M. Oeming, Ist Gen 15,6 ein Beleg für die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit? ZAW 95 (1983) 182–197, hier: 194 sieht in Gen 15,6a.b einen synthetischen parallelismus membrorum: »Abraham glaubte beständig an Jahwe, und dieses Sichfestmachen bestand darin, die Nachkommensverheißung als Erweis der göttlichen Gnade zu erachten. Abraham ist also das Subjekt von þÖĄ, und āĔĀē bezeichnet die göttliche iustitia salutifera.« »Die Gerechtigkeit Gottes erweist sich gerade darin, daß Jahwe dem Menschen … gegen alles menschliche Erwarten und Berechnen übervolle heilsreiche Zukunft schenkt.« Die Reaktion des Menschen auf diese āĔĀē bestehe darin, »sich beständig glaubend an dieser Verheißung festzumachen, je und je neu die eigene Existenz in der von Gott geschenkten Zukunft zu gründen und eben darin Gottes Gerechtigkeit auch zu erkennen und zu achten« (195). Der These Oemings ist eine kontroverse Debatte gefolgt; vgl. D. U. Rottzoll, Gen 15,6 – Ein Beleg für den Glauben als Werkgerechtigkeit, ZAW 106 (1994) 21–27; A. Behrens, Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus, ZAW 109 (1997) 327–341. Die Debatte »ist noch nicht abgeschlossen«, wie M. Oeming, Der Glaube Abrahams. Zur Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der Zeit des zweiten Tempels, ZAW 110 (1998) 16–33, hier: 22, feststellt; Oeming meint nun, der Wortlaut von Gen 15,6 HT lasse sich möglicherweise gar nicht auf eine einzige Bedeutung hin festlegen, doch halte er grundsätzlich an der oben skizzierten These fest. Anders vor allem Behrens in dem genannten Aufsatz. 151 Vgl. dazu Oeming, ZAW 95 (s. die vorige Anm), 195 f. Hinter der LXX-Übersetzung (»Und Abraham glaubte einmal an Gott, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet«) stehe das Verständnis von āĔĀē als Heilsspende im Sinne etwa von ĀĎĄ. In ZAW 110 (s. die vorige Anm), 23 unterstreicht Oeming, in der LXX-Fassung sei Glaube nicht mehr beständiges Vertrauen, sondern einzelne Tat. »In diesem Augenblick glaubte Abram – das ist seine Gerechtigkeit. Das Rezeptionsinteresse der (des) Übersetzer(s) ins Griechische ist theologischer Natur; der Text wird soteriologisch ›aufgeladen‹, was Paulus treffend gespürt hat.«

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der Auslegung der Abrahamsgeschichte notiert.152 Für Paulus war aber selbstverständlich der LXX-Text »die Schrift«, so dass ihm das Problem des ursprünglich möglicherweise anderen Sinns von Gen 15,6 nicht bewußt werden konnte.153

Demgegenüber entspricht der Sprachgebrauch zu ĎēĔċēęĝƴėđ und ĎēĔċēęȘė in den Psalmen Salomos inhaltlich der Tendenz, die im hebräischen Text von Gen 15,6 sichtbar wird: Der Mensch gibt durch sein Handeln Gott recht, und er bestätigt damit Gottes Gerechtigkeit. Allerdings wird von Abraham in den PsSal nur zweimal gesprochen, nicht unter der Perspektive der Gerechtigkeit, sondern unter dem Aspekt der Erwählung. Es heißt in PsSal 9,9: »Denn du hast Abrahams Samen vor allen Völkern ausgewählt und hast deinen Namen auf uns gelegt, Herr.« In 18,3 wird von Gott gesagt: »Deine Gerichte (ergehen) über die ganze Erde mit Barmherzigkeit, und deine Liebe (gilt) dem Samen Abrahams, den Söhnen Israels, őĚƯĚǬĝċėĞƭė čǻėĖďĞƩőĕƬęğĜĔċƯŞŁčƪĚđĝęğőĚƯĝĚƬěĖċìČěċċĖğŮęƳĜôĝěċđĕ«. Einen Bezug zu Gen 15,6 gibt es in den PsSal nicht.154 Vom »Samen« Abrahams spricht auch Paulus, freilich auf unterschiedliche Weise.155 In Gal 3,6–9 folgert er aus Gen 15,6 LXX, dass ęŮőĔĚưĝĞďģĜ »Söhne Abrahams« sind; die Schrift habe nämlich »vorausgesehen, dass Gott die Völker aus Glauben rechtfertigen werde«, und deshalb sei dem Abraham die Verheißung gegeben worden: »In dir werden alle Völker gesegnet werden« (3,8).156 Daraus zieht Paulus den Schluß: »So werden nun ›die aus Glauben‹ (ęŮőĔĚưĝĞďģĜ) gesegnet mit dem gläubigen Abraham.« Biblischem Denken entsprechend stellt Paulus dem Segen anschließend in 3,10–14 den Fluch gegenüber, den er in eine unmittelbare Verbindung mit der Tora bringt (V. 10a: ƂĝęēčƩěőĘŕěčģėėƲĖęğďŭĝưėƊĚƱĔċĞƪěċėďŭĝưė). 152

Zur Auslegungsgeschichte von Gen 15,6 vgl. Oeming, ZAW 110 (s. Anm. 151). Wolter, Paulus (s. Anm. 82), 348 nimmt an, dass sich die paulinische Rechtfertigungslehre unmittelbar der Aussage in Gen 15,6 LXX verdankt, »weil der hier beschriebene Vorgang – dass Gott einen Menschen auf Grund seines ›Glaubens‹ für ›gerecht‹ erklärt – innerhalb der gesamten antiken Literatur ausschließlich im Zusammenhang der Abrahamüberlieferung begegnet«. 154 Die Selbstverständlichkeit, mit der in Jak 2,23 die LXX-Lesart von Gen 15,6 als Basis der Argumentation vorausgesetzt ist, spricht für die Vermutung, dass die Verwendung dieses biblischen Textes in den Ausführungen des Jak über die Rechtfertigung auf paulinischen Einfluß bzw. auf die Auseinandersetzung mit Paulus zurückgeht. 155 Das Stichwort ĝĚƬěĖċ stammt in diesem Zusammenhang aus Gen 15,5 LXX. In Röm 4,13–18 hebt Paulus entsprechend der biblischen Tradition hervor, dass ĝĚƬěĖċ sich auf »viele« bezieht, womit nach Gen 17,5 die ŕĒėđ gemeint seien (V.  17); in Röm 11,1 spricht Paulus von seiner eigenen leiblichen Abstammung von Abraham (vgl. 2 Kor 11,22); in Gal 3,16–19 wird ĝĚƬěĖċ wegen des Sing. allein auf Christus bezogen, in Gal 3,29 sagt Paulus dann aber ebenso wie im Röm 4: ĞęȘʼnČěċƪĖĝĚƬěĖċőĝĞƬ. 156 Paulus schreibt: őėďğĕęčđĒƮĝęėĞċēőėĝęƯĚƪėĞċĞƩŕĒėđ; in Gen 12,3 LXX heißt es: őėďğĕęčđĒƮĝęėĞċēőėĝęƯĚǬĝċēċŮĠğĕċƯĞǻĜčǻĜ. Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 2. Die Theologie des Paulus und ihre neutestamentliche Wirkungsgeschichte, Göttingen 1993, 70–75. 153

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In V. 10b wird Dtn 27,26 zitiert als Beleg für den unmittelbaren Zusammenhang von ėƲĖęĜ und Fluch157, in V.  11 folgt das Zitat von Hab 2,4 LXX als Beleg für den Zusammenhang von ĚưĝĞēĜ und Gerechtigkeit.158 Beide Aussagen zusammen ergeben für Paulus, dass hinsichtlich der Gerechtigkeit Glaube und Gesetz in einem direkten Gegensatz zueinander stehen. Christus, so heißt es abschließend in V. 13 f., »hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, da er für uns zum Fluch wurde, weil geschrieben steht: ›Verflucht ist jeder, der am Holz hängt‹, damit zu den Völkern käme der Segen Abrahams in Jesus Christus, damit wir die Verheißung des Geistes empfingen durch den Glauben.«159 Paulus verweist zusätzlich darauf, dass die Tora erst 430 Jahre später als die Abrahamsverheißung gegeben wurde.160 Er fügt sogar hinzu, Mose habe die Tora von Engeln empfangen, die sich seiner als eines ĖďĝưĞđĜ hätten bedienen müssen (Gal 3,19). Ein einzelner brauche einen solchen »Mittler« nicht (ž Ďƫ ĖďĝưĞđĜ ŒėƱĜ ęƉĔ ŕĝĞēė), und folglich wäre der Eine Gott auf ihn nicht angewiesen gewesen (3,20: žĎƫ ĒďƱĜďųĜőĝĞēė). Damit deutet Paulus an, dass die Tora nicht von Gott gegeben wurde und dass sie dementsprechend auch nicht die Verheißungen (őĚċččďĕưċē) gefährden kann (V. 21). Welche Funktion aber hatte dann die Tora? »Bevor der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt, eingeschlossen auf den künftigen Glauben hin, der offenbart werden sollte« (3,23), woraus gefolgert wird (V. 24: ƞĝĞď), dass das Gesetz »unser ĚċēĎċčģčƲĜ gewesen ist auf Christus hin, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden. Nachdem der Glaube aber gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem ĚċēĎċčģčƲĜ« (V. 25).

In PsSal 10,4 heißt es zum ėƲĖęĜ: »Und der Herr wird gedenken seiner Knechte in Barmherzigkeit, denn das Zeugnis (ist) im Gesetz eines ewigen Bundes (ŞčƩěĖċěĞğěưċőėėƲĖȣĎēċĒƮĔđĜċŭģėĉęğ).«161 In 14,1 f. bekennt der Beter: »Treu ist der Herr denen, die ihn lieben in Wahrheit, die seine Züchtigung (ĚċēĎďưċ)162 aushalten, die in der Gerechtigkeit seiner Gebote (őėĎēĔċēęĝƴėǹĚěęĝĞċčĖƪĞģėċƉĞęȘ) wandeln, in dem Gesetz, das er uns auferlegte zu unserem Leben (őėėƲĖȣǞőėďĞďưĕċĞęŞĖȉėďŭĜĐģƮėŞĖȥė).« Ein 157

Vgl. dazu Koch, Schrift (s. Anm. 69), 163–165. Der zitierte Text erklärt denjenigen für »verflucht«, der nicht »alles« hält, was das Gesetz gebietet; der Gedanke, man könne theoretisch »alles« halten und stünde dann nicht ƊĚƱĔċĞƪěċė, liegt aber fern, wie V. 10a zeigt. 158 Vgl. dazu Koch, Schrift (s. Anm. 69), 127–129. 159 Vgl. dazu D. Sänger, »Verflucht ist jeder, der am Holze hängt« (Gal 3,13b). Zur Rezeption einer frühen antichristlichen Polemik, in: Ders., Von der Bestimmtheit des Anfangs. Studien zu Jesus, Paulus und zum frühchristlichen Schriftverständnis, NeukirchenVluyn 2007, 99–106. 160 Vgl. dazu D. Lührmann, Die 430 Jahre zwischen den Verheißungen und dem Gesetz (Gal 3,17), ZAW 100 (1988) 420–423. 161 Zu dem vergleichsweise seltenen Begriff ĖċěĞğěưċ anstelle des häufigen ĖċěĞƴěēęė s. Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 85 (Anm. zu 4a). 162 Das Wortfeld ĚċēĎ- ist in den PsSal sehr häufig belegt (ĚċēĎďƴģ, ĚċēĎďưċ), nicht aber ĚċēĎċčģčƲĜ.

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Zusammenhang von ėƲĖęĜ und ĚưĝĞēĜ wird in den PsSal nirgends hergestellt; ĚưĝĞēĜ ist lediglich zweimal, und zwar im Sinn von »Treue«, belegt.163 Die Aussagen in Gal 1,15.16a haben indirekt auch Konsequenzen auf die Eschatologie des Paulus. In unmittelbarer Fortsetzung des in 1 Thess 1,9 begonnenen Satzes über die Hinwendung der Thessalonicher zu dem allein wahren Gott164 heißt es in V. 10, dass sie nun »seinen Sohn erwarten aus den Himmeln«; dies ist unmittelbar verbunden mit dem Auferstehungsbekenntnis (ƀėščďēěďėőĔĞȥėėďĔěȥė) und mit der eschatologisch-soteriologischen Hoffnung (ŵđĝęȘėĞƱėȗğƲĖďėęėŞĖǬĜőĔĞǻĜŽěčǻĜĞǻĜőěġęĖƬėđĜ).165 Das Ostergeschehen ist ganz von Gott her gedacht: Gott hat den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von den Toten auferweckt, d.h. die Rede von der Auferstehung Jesu spricht von einem Handeln Gottes, so wie die Begegnung des Paulus mit Christus nach Gal 1,15.16a ein Handeln Gottes gewesen war.166 Jesus als der von Gott Auferweckte ist der Retter, auf den die Glaubenden in dem unausweichlich kommenden Gericht vertrauen dürfen. Paulus war schon als Pharisäer davon überzeugt gewesen, dass es eine Totenauferstehung geben werde; jetzt bezieht sich die paulinische Eschatologie auf das Kommen Christi in der Parusie, mit der nach 1 Thess 4,13–18 die allgemeine Auferstehung der Toten verbunden sein wird. Das Ziel ist die endzeitliche, endgültige Zusammengehörigkeit der bei der Parusie Lebenden und der Auferstandenen mit Christus (V. 17), und aus diesem Wissen sollen die Christen in Thessalonich »Trost« gewinnen. Auch in 1 Kor 15, wo Paulus anders als in 1 Thess 4 nicht Trauernde tröstet, sondern sich mit der »dogmatischen« These auseinandersetzen muß, eine Auferstehung der Toten gebe es nicht (1 Kor 15,12)167, leitet der Apostel die Hoffnung auf die Totenauferstehung aus der Auferweckung Christi ab, wobei nun Christus »der Erstling der Entschlafenen« ist (V. 20). Paulus stellt mit Hilfe der Adam-Christus-Typologie fest (V. 21 f.): »Weil nämlich durch einen Menschen der Tod, so auch durch einen Menschen die Totenauferstehung. Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendiggemacht werden«; ĚƪėĞďĜ sind dabei wohl wirklich jeweils alle Menschen., ohne dass Paulus deshalb Vertreter einer Apokatastasis-Lehre ist.168 163 In 8,28 wendet sich der Beter an Gott: »Sammle Israels Verstreuung mit Barmherzigkeit und Güte, denn deine Treue (ŞĚưĝĞēĜĝęğ) ist mit uns«; ähnlich 17,40: Der Messias weidet »die Herde des Herrn in Treue und Gerechtigkeit« (őėĚưĝĞďēĔċƯĎēĔċēęĝƴėǹ). 164 S. dazu oben S. 59. 165 Chr. Burchard, Satzbau und Übersetzung von 1 Thess 1,10, ZNW 96 (2005) 272 f. führt gute Gründe dafür an, dass sich der Relativsatz ƀėščďēěďė nicht auf ĞƱėğŮƱėċƉĞęȘ zurückbezieht, sondern auf ŵđĝęȘė vorausblickt. 166 Vgl. J. Becker, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: Ders., Annäherungen. Zur urchristlichen Theologiegeschichte und zum Umgang mit ihren Quellen, BZNW 76, Berlin / New York 1995, 23–47. 167 Vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 336–349. 168 Vgl. A. Lindemann, Die Auferstehung der Toten. Adam und Christus nach 1. Kor 15, in: M. Evang / H. Merklein / M. Wolter (Hgg.), Eschatologie und Schöpfung. FS Erich Gräßer, BZNW 89, Berlin / New York 1997, 155–167.

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In der kleinen Apokalypse in 1 Kor 15,23–28 wird der endzeitliche Kampf zwischen Gott und seinen Feinden und die Unterwerfung der Feinde unter die Füße Christi beschrieben. Nachdem schließlich als letzter Feind der Tod vernichtet sein wird, unterwirft sich Christus selber Gott, »damit Gott sei alles in allem«.169 Paulus hält also an der auf Gott bezogenen jüdischen Eschatologie fest; aber die Basis seiner theologischen Argumentation ist jetzt der Glaube an Gottes Auferweckungshandeln an Christus (15,3–5). Wie verhalten sich die Eschatologie und das Messiasverständnis in den Psalmen Salomos170 zueinander? In PsSal 17 wird Gott zu Beginn angerufen als »unser König für immer und ewig« (17,1), und diese Aussage wird am Ende in einer inclusio (17,46) als Doxologie wieder aufgenommen.171 In 17,3 heißt es: »Wir aber wollen hoffen auf Gott, unseren Retter; denn die Stärke unseres Gottes ist auf ewig mit Barmherzigkeit, und das Königtum unseres Gottes (ŞČċĝēĕďưċĞęȘĒďęȘŞĖȥė) ist in Ewigkeit über den Heiden (ĞƩŕĒėđ) mit Gericht.« Gott hat dem David ein immerwährendes Königtum zugeschworen (V. 4), und eben deshalb wird er das jetzt bestehende frevelhafte Königtum172 niederwerfen (V. 7). Wenn dann der endzeitliche, messianische König kommt, der »Sohn Davids, zu der Zeit, die du ausersehen, o Gott, über Israel, deinen Knecht, zu herrschen« und Jerusalem von den Heidenvölkern zu reinigen (V. 21 f.), dann wird dieser König »in Weisheit und (oder: der) Gerechtigkeit die Sünder von dem Erbe verstoßen« (V. 23)173, und »er wird versammeln ein heiliges Volk, das er führen wird 169 D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 493: »Die Wendung ›alles in allem (bzw. in allen) sein‹ setzt nicht stoisch Gott mit dem All gleich, sondern besagt universale heilvolle Herrschaft Gottes. Damit erfüllt sich auch die 8,6 behauptete Bestimmung der ›Wir‹ auf Gott hin. Einzig der Glaube an solch allgegenwärtige Macht Gottes kann Hoffnung auch für die Toten wecken (vgl. V. 34c).« Vgl. T. Jantsch, »Gott alles in allem« (1 Kor 15,28). Studien zum Gottesverständnis des Paulus im 1. Thessalonicherbrief und in der korinthischen Korrespondenz, WMANT 129, NeukirchenVluyn 2011, vor allem 260–314. 170 Vgl. dazu Atkinson, JBL 118 (s. Anm. 100), 444 f. 171 Vgl. E.-J. Waschke, »Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids« – Psalmen Salomos 17 und die Frage nach den messianischen Traditionen, in: Ders., Der Gesalbte. Studien zur alttestamentlichen Theologie, BZAW 306, Berlin / New York 2001, 127–140. 172 Nach Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 98 ist entweder »die Übernahme des Hohepriestertums und Aufrichtung eines nicht-davidischen Königtums durch die Hasmonäer« gemeint oder ein »Angriff äußerer Feinde«, da der Begriff łĖċěĞģĕęư in den PsSal meist in diesem Sinne gebraucht sei. Atkinson, JBL 118(s. Anm. 100), 440–444 sieht in PsSal 17 dagegen Anspielungen auf den Kampf Herodes’ des Großen um den Jerusalemer Thron und dessen Bemühungen, die hasmonäische Dynastie zu beseitigen. 173 Zu der Wendung őė ĝęĠưǪ ĎēĔċēęĝƴėđĜ őĘȥĝċē łĖċěĞęĕęƳĜ ŁĚƱ ĔĕđěęėęĖưċĜ in V. 23a s. Holm-Nielsen, Psalmen Salomos (s. Anm. 95), 102: »Im Hebräischen können die Worte im status constructus gestanden haben«; sie fehlen in der syrischen Übersetzung, »und es mag sein, daß sie von V. 29 aus sekundär glossiert sind«. Vgl. 18,6 f: »Wohl denen (ĖċĔƪěēęē), die leben in jenen Tagen … in der Weisheit des Geistes und der Gerechtigkeit und der Stärke« (őėĝęĠưǪĚėďƴĖċĞęĜĔċƯĎēĔċēęĝƴėđĜĔċƯŭĝġƴęĜ).

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in Gerechtigkeit, ĔċƯ ĝğėƪĘďē ĕċƱė ņčēęė ęƐ ŁĠđčƮĝďĞċē őė ĎēĔċēęĝƴėǹ« (V. 26), und »er wird sie in ihren Stämmen im Lande (őĚƯĞǻĜčǻĜ) verteilen, und kein Fremder und Ausländer (ĚƪěęēĔęĜ ĔċƯ ŁĕĕęčďėƮĜ) wird ferner unter ihnen wohnen« (V. 28). Und weiter heißt es (V. 32): »Und er ist ein gerechter, von Gott gelehrter König über sie; und in seinen Tagen ist kein Unrecht unter ihnen, denn alle sind sie heilig, und ihr König ist der Gesalbte des Herrn«.174 Auch PsSal 18 spricht von dem ġěēĝĞƱĜĔğěưęğ (incipit). Der Beter preist Gottes Barmherzigkeit auch im Gericht (18,1–4); er bittet darum (V. 5), dass Gott Israel reinigen möge »für den Tag der Barmherzigkeit mit Segen, für den Tag der Auswahl durch Herbeiführung seines Gesalbten (ďŭĜŞĖďěáċė őĔĕęčǻĜőėŁėƪĘďēġěēĝĞęȘċƉĞęȘ)«, und er schließt dann (V. 6–9)175: »Wohl denen (ĖċĔƪěēęē), die leben in jenen Tagen, zu sehen die Wohltaten des Herrn, die er erweisen wird dem kommenden Geschlecht unter dem züchtigenden Stab des Gesalbten des Herrn (ƊĚƱȗƪČĎęėĚċēĎďưċĜġěēĝĞęȘĔğěưęğ) in seiner Gottesfurcht, in der Weisheit des Geistes und der Gerechtigkeit und der Stärke, einen jeden anzuleiten in Werken der Gerechtigkeit in Gottesfurcht (őėŕěčęēĜĎēĔċēęĝƴėđĜĠƲČȣĒďęȘ), um sie alle vor dem Herrn darzustellen. Ein gutes Geschlecht in Gottesfurcht in den Tagen der Barmherzigkeit.« Die Messiasvorstellung in den PsSal hat also selbstverständlich endzeitliche Züge, aber damit verbindet sich die Vorstellung, dass der Messias künftig ›das Land‹ nach dem Willen Gottes regieren wird. Davon unterscheidet sich die paulinische Christologie grundlegend, insofern sie sich dem Glauben an die Offenbarung Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu verdankt.

V. Ein Ergebnis Lukas schildert in der Apostelgeschichte den christlichen Verkündiger Paulus als einen toratreuen Juden, bis hin zu der von ihm vollzogenen Beschneidung des Timotheus (Apg 16,1.3) und zur Auslösung von Nasiräern in Jerusalem (Apg 21,23 ff.). Bestätigen die Paulusbriefe dieses Bild? Blieb Paulus auch als »Heidenapostel« in seiner religiösen Praxis ein toratreuer Jude? In 1 Kor 9,19–23 beschreibt Paulus seine apostolische Freiheit mit 174 17,32: ĚƪėĞďĜ ņčēęē ĔċƯ ČċĝēĕďƴĜ ċƉĞȥė ġěēĝĞƱĜ Ĕğěưęğ. Allerdings ist die Lesart ġěēĝĞƱĜĔğěưęğ eine Konjektur, da die Handschriften ġěēĝĞƱĜĔƴěēęĜ lesen. »ĔƴěēęĜ beruht entweder auf schlechter Übersetzung oder ist auf einen griechischen Fehler beim Abschreiben zurückzuführen« (Holm-Nielsen, Psalmen Salomos [s. Anm. 95], 104 Anm d) zu 17,32). 175 PsSal 18,10–12 »hat mit 18,1–9 inhaltlich nichts zu tun, sondern wird am besten als Schlußdoxologie der ganzen Sammlung aufgefaßt« (Holm-Nielsen, Psalmen Salomos [s. Anm. 95], 55).

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den Worten, er habe sich »allen zum Sklaven gemacht« in der Absicht, »die Mehrzahl zu gewinnen. Und ich bin für die Juden wie ein Jude (ƚĜ ŵęğĎċȉęĜ) geworden, damit ich Juden gewinne; denen unter dem Gesetz wie einer unter dem Gesetz  – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin – , damit ich die unter dem Gesetz gewinne, den Gesetzlosen wie ein Gesetzloser – obwohl ich nicht gesetzlos bin in bezug auf Gott, vielmehr im Gesetz in bezug auf Christus (ĖƭƛėŅėęĖęĜĒďęȘŁĕĕdzŕėėęĖęĜāěēĝĞęȘ), damit ich die Gesetzlosen gewinne«. Er sei also »allen alles geworden, damit ich jedenfalls einige rette« – und dies alles »um des Evangeliums willen«. Paulus hat sich also in seiner religiösen Praxis nicht mehr prinzipiell an die von der Tora gebotenen Normen jüdischer Existenz gehalten. Gleichwohl bezeichnet er sich als ŵĝěċđĕưĞđĜ (Röm 11,1; 2 Kor 11,22; vgl. Phil 3,5), als ŘČěċȉęĜ (2 Kor 11,21; Phil 3,5) und als »Same Abrahams« (2 Kor 11,22); aber mit Ausnahme von Röm 11,1 stehen diese Aussagen durchweg im Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit fremden, pauluskritischen Missionaren, die ihrerseits ihre Zugehörigkeit zu Israel offenbar besonders hervorgehoben hatten. Paulus war als pharisäischer Jude davon überzeugt gewesen, die Tora enthalte Gottes Weisung für ein Leben in Gerechtigkeit. Damit verband sich nicht die Vorstellung einer »Werkgerechtigkeit« in dem Sinne, dass der Mensch aus dem Tun der Gebote der Tora einen Anspruch gegen Gott ableiten könnte. Aber Paulus war davon überzeugt, dass das Tun der Tora »gerecht« macht und dass also »die Werke des Gesetzes«176 zur Gerechtigkeit führen; seine Selbstbeschreibung in Phil 3,6 (ĔċĞƩĎēĔċēęĝƴėđėĞƭėőėėƲĖȣ čďėƲĖďėęĜŅĖďĖĚĞęĜ) läßt sich kaum anders verstehen. Durch die Begegnung mit Christus wurde ihm die Einsicht vermittelt, dass dies in Wahrheit nicht Gottes Wille ist; dementsprechend problematisiert er vor allem in Phil 3 und in Gal 3 die Rolle der Tora im Blick auf die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott mit teilweise ausgesprochen polemischen Feststellungen. Dieselbe Thematik erörtert Paulus in Röm 7 nochmals in anderer Weise. Er stellt in 7,5 f. ›unsere‹ Vergangenheit der ›uns‹ jetzt geschenkten Gegenwart gegenüber: »Als wir im Fleisch waren, wirkten die Leidenschaften (ĚċđĒƮĖċĞċ) der Sünden durch das Gesetz in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen; jetzt aber sind wir vom Gesetz entbunden (ĔċĞđěčƮĒđĖďėŁĚƱĞęȘėƲĖęğ), wir sind dem abgestorben, worin wir gefangen waren, so dass wir«, wie Paulus folgert (ƞĝĞď), »dienen in der Neuheit des Geistes (őė ĔċēėƲĞđĞē ĚėďƴĖċĞęĜ) und nicht im alten Wesen des 176 Auf die Debatte um das Verständnis von ŕěčċėƲĖęğ bei Paulus ist hier nicht näher einzugehen; vgl. O. Hofius, Werke des Gesetzes. Untersuchungen zu der paulinischen Rede von den ŕěčċ ėƲĖęğ, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 271–310 und die dort diskutierte Literatur.

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Buchstabens, ęƉ ĚċĕċēƲĞđĞē čěƪĖĖċĞęĜ«.177 Wenn aber ›unsere‹ sündige Vergangenheit etwas zu tun hat mit der Unterstellung unter das Gesetz, so führt dies notwendig zu der Frage, ob das Gesetz selber womöglich Sünde ist (V. 7a: žėƲĖęĜłĖċěĞưċ). Paulus antwortet ĖƭčƬėęēĞę, fügt aber hinzu: »Aber ich hätte die Sünde nicht erkannt außer durch das Gesetz. Ich wüßte nämlich (čƪě) auch nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: ›Du sollst nicht begehren!‹« (V. 7b) Das Gebot »Du sollst nicht begehren« – ganz gleich, ob das zehnte Gebot des Dekalogs gemeint ist oder das an die Menschen im Paradies gerichtete Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen178 – ist als solches richtig, und der Mensch kann ihm nur zustimmen. Aber das Gebot bewirkt gerade nicht, dass der Mensch auch entsprechend handelt, sondern es bewirkt das Gegenteil.179 Denn Paulus fährt fort (V.  8a): »Die Sünde aber ergriff die Gelegenheit (ŁĠęěĖƮ) und bewirkte durch das Gebot in mir jegliche Begierde«, und dies wird in V. 8b näher expliziert (čƪě) durch die Feststellung, dass ohne das Gesetz die Sünde tot ist (ġģěƯĜčƩěėƲĖęğłĖċěĞưċėďĔěƪ). Die Tora ist also für den christlichen Theologen Paulus, anders als für den Pharisäer Paulus, nicht die Instanz, die ins Leben führt; sondern sie ist im Gegenteil die Instanz, die den Menschen überhaupt erst mit dem konfrontiert, wovor sie ihn eigentlich bewahren sollte.180 177 Die letzten Begriffe erinnern deutlich an 2 Kor 3. Vgl. dazu A. Lindemann, Die biblische Hermeneutik des Paulus. Beobachtungen zu 2 Kor 3, in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer (s. Anm. 119), 37–63. 178 H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7, WUNT 164, Tübingen 2004, 130 Anm. 47: »Ganz gewiß bezieht sich Paulus auf den Dekalog, Ex 20,17 und Dtn 5,21.« Vgl. aaO., 205–241. 179 P. von Gemünden, Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA / StUNT 73, Göttingen 2009, 133: »Hinter Röm 7,7 f klingt die schon in der Antike formulierte Erfahrung an, dass gerade Verbotenes eine besondere Anziehungskraft auf den Menschen ausübt., Verbote also zu normwidrigem Verhalten stimulieren können … Trotz grundsätzlich positiver Wertung des Gesetzes (Röm 7,12.14) hat das Gesetz in der Existenz ›im Fleisch‹ (őė ĝċěĔư) also keine positiven Auswirkungen – vielmehr ist der Mensch seinen Begierden und Affekten (Röm 7,15.19) hilflos ausgeliefert.« In 4 Makk 2,6 (PsJosephus), wo »die Forderung des ėƲĖęĜ generalisierend mit ĖƭőĚēĒğĖďȉė« wiedergegeben werde, sehe PsJosephus gerade darin »seine These begründet, dass die Vernunft (ĕęčēĝĖƲĜ) die Leidenschaften (ĚƪĒđ) in den Griff bekommen kann. Das im Gesetz angesprochene Verbot belegt, dass die Vernunft die Begierde zu beherrschen vermag« (aaO., 130). Sie stellt dem die in Röm 7 von Paulus vertretene Auffassung gegenüber und stellt fest, dass diese »PsJosephus sehr fremd wäre« (aaO., 133). 180 Ob eine »psychologische« Deutung von Röm 7,7 ff. wirklich das von Paulus Gemeinte trifft, ist m. E. fraglich; der Gedankengang ist spätestens ab 7,9 sehr fundamental angelegt. S. Krauter, »Wenn das Gesetz nicht gesagt hätte, …«. Röm 7,7b und antike Äußerungen zu paradoxen Wirkungen von Gesetzen, ZThK 108 (2011) 1–15 wendet sich gegen die Deutung, dass das Gesetz die Begierde wecke, es zu erfüllen; es gehe in Röm 7 »eindeutig darum, dass es das Problem des sündigen Menschen sei, dass er das Gesetz nicht

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Anhand der Paradieseserzählung181 beschreibt Paulus dann im Ich-Stil die Geschichte der menschlichen Existenz (V. 9–11): »Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf, ich aber starb. Und so erwies sich mir das Gebot, das zum Leben gegeben war, als zum Tod (führend) (ĔċƯďƊěƬĒđĖęēŞőėĞęĕƭŞďŭĜĐģƮėċƎĞđďŭĜĒƪėċĞęė). Die Sünde nämlich (čƪě), die Gelegenheit ergreifend, betrog mich durch das Gebot und tötete mich durch es [sc. das Gebot].«182 Dann folgt jener Satz, der bisweilen als Argument für die These dient, Paulus habe im Römerbrief, anders als im Philipper- und im Galaterbrief, ein positives Gesetzesverständnis (zurück-)gewonnen: »Folglich [ist] das Gesetz heilig, und das Gebot [ist] heilig und gerecht und gut.« Aber dieser Satz steht nicht isoliert, sondern in einem Kontext183: Das Gebot ist als solches tatsächlich »heilig, gerecht und gut«, insofern die Forderung »Du sollst nicht begehren« den Willen Gottes ausspricht; aber das Gebot ist außerstande, das, was es gebietet, auch zu verwirklichen; daran ändert die Feststellung in Röm 7,12b nichts. Paulus fragt deshalb in V. 13 ähnlich wie zuvor in V. 7: »Ist also das Gute mir zum Tod geworden?«, und er antwortet wieder: ĖƭčƬėęēĞę. Doch auch hier folgt eine ausdrückliche Einschränkung bzw. Korrektur: »Aber die Sünde, damit sie als Sünde offenbar würde, hat mir durch das Gute den Tod gebracht.« Paulus überbietet das dann noch mit dem abschließenden Finalsatz, dies sei geschehen, »damit die Sünde im Übermaß sündig würde durch das Gebot«. Es besteht also tatsächlich eine unüberbrückbare Inkongruenz zwischen dem Menschen und dem an ihn gerichteten Gebot; das wird dann zu Beginn des zweiten Teils von Röm 7 scharf herausgestellt (V. 14): »Wir wissen nämlich: Das Gesetz ist geistlich, ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde«, der ėƲĖęĜ und das menschliche »Ich« gehören auf zwei völlig unterschiedliche Ebenen. erfüllen könne« (aaO., 12). V. 8 sagt einigermaßen das Gegenteil: ġģěƯĜčƩěėƲĖęğłĖċěĞưċ ėďĔěƪ, und diese Feststellung wird im folgenden erläutert, nicht zurückgenommen. 181 Lichtenberger, Ich (s. Anm. 178), 132: »Dies ist nur im Horizont der Paradiesgeschichte verstehbar, macht doch die Geschichte Adams deutlich, daß in der Begegnung mit dem Gebot immer nur der Tod herauskommen kann.« 182 Lichtenberger, Ich (s. Anm. 178), 133: Paulus betont, »daß das Subjekt, und das heißt: die handelnde Instanz, die Sünde war, die in den Tod führte. Sie hat als Ausgangspunkt und Operationsbasis das Gebot mißbraucht und durch es das ›Ich‹ verführt.« Dabei sei »eindeutig« Gen 3,13 LXX aufgenommen. 183 Vgl. Becker, Paulus (s. Anm. 1), 420: »Bevor man diese positiven Aussagen über die Tora interpretiert, die auf den ersten Blick in einem so glatten Zusammenhang mit der jüdischen Theologie stehen, sollte man sich erinnern, daß dergleichen Urteile über die Tora im sonstigen Schrifttum des Paulus nicht mehr begegnen.« »Da Paulus beim Sünder radikaler denkt [sc. als etwa PsSal 9,4 f.], ist eine Fähigkeit der Tora, Leben geben zu können, sinnlos, es sei denn, Paulus ließe die Tora auch die Kraft besitzen, die Feindschaft des Sünders gegen Gott aufzubrechen. Dies aber spricht der Apostel dem Gesetz ausdrücklich ab (Röm 8,3).« Vgl. den Zusammenhang insgesamt bei Becker, Paulus, 409–423.

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Paulus hatte in Gal 3,21 im Zusammenhang seiner Interpretation der Sinai-Überlieferung geschrieben, das Gesetz könne gar nicht gegen Gottes dem Abraham zugesagten Verheißungen stehen: »Wenn nämlich ein Gesetz gegeben wäre, das lebendig machen könnte, dann käme die Gerechtigkeit wirklich aus dem Gesetz«; ein solches Gesetz ist aber nicht gegeben worden. Das hatte Paulus fast noch schärfer schon in Gal 2,21 im Zusammenhang seines Berichts über den Konflikt mit Petrus in Antiochia gesagt: Wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit käme, wäre Christus vergeblich gestorben. Nichts anderes sagt Paulus in Röm 7: Die Tora enthält den Willen Gottes; aber faktisch führt sie den Menschen in die Sünde, woraus er allein durch Christus gerettet wird (7,24.25a). Der pharisäische Jude Paulus war davon überzeugt gewesen, dass der Mensch im Tun der Weisungen der Tora Gott die ihm entsprechende Gerechtigkeit zuspricht, wie es in den Psalmen Salomos gesagt wird; seit seiner Begegnung mit Christus aber glaubt Paulus, dass eben diese Überzeugung ein Irrweg ist. Das Denken des Paulus hat sich in vielen Bereichen nach »Damaskus« nicht geändert; aber über die fundamentale Frage, was »Gerechtigkeit« im Gegenüber zu Gott bedeutet, urteilt Paulus jetzt offenbar fundamental anders als zuvor. Das ist nicht die Folge eines persönlichen subjektiven Urteils, schon gar nicht die Konsequenz aus einem vorangegangenen Scheitern an den Forderungen der Tora, sondern dieser Wechsel ist die Konsequenz der ihm zuteil gewordenen Offenbarung Christi durch Gott. Gerade als pharisäisch gebildeter Jude konnte Paulus als Apostel dieses Christus einen Kompromiß zwischen Glaubensgerechtigkeit und Toragerechtigkeit nicht akzeptieren, weil er beides, den Christusglauben und die Tora, gleichermaßen ernst nahm.

Paulus und die Jesustradition Thema der folgenden Überlegungen ist nicht die Frage nach dem sachlichen Verhältnis zwischen der Verkündigung und dem Wirken Jesu von Nazareth einerseits und der Theologie des Apostels Paulus andererseits; es geht auch nicht um die bisweilen unter der ohnehin falschen Alternative diskutierte Frage, ob womöglich nicht Jesus, sondern erst Paulus der wahre »Gründer« des Christentums gewesen sei.1 Vielmehr soll danach gefragt werden, wieviel Paulus über Leben und Verkündigung Jesu wußte und auf welchem Weg dieses Wissen zu ihm gelangt war.2 Ob sein Wissen über Jesus nach unseren Maßstäben als »historisch korrekt« zu bezeichnen wäre oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.3 Werner Georg Kümmel hat betont, Paulus sage zwar wenig über den irdischen Jesus, aber es sei zu erkennen, dass er »nicht nur auf den Auferstandenen, sondern auch auf den mit ihm identischen geschichtlichen Jesus zurücksieht und in dessen Nachfolge stehen will«. Der Hinweis Rudolf Bultmanns, die Rückfrage nach dem historischen Jesus dürfe nicht dazu dienen, das Kerygma zu legitimieren, sei richtig; das heiße aber nicht, dass im Blick auf Jesus jede historische Gewißheit zu verneinen sei. In der Sache

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Über diese Frage ist im ersten Drittel des 20. Jh.s oft gestritten worden. G. Lüdemann hat sie erstaunlicherweise wieder belebt (G. Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums, Lüneburg 2001), und D. Wenham nimmt sie im Titel seiner Monographie zumindest als Frage wieder auf: D. Wenham, Paulus. Jünger Jesu oder Begründer des Christentums? Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Ingrid Proß-Gill, Paderborn, 1999. 2 Vgl. M. und R. Zimmermann, Zitation, Kontradiktion oder Applikation? Die Jesuslogien in 1 Kor 7,10 f. und 9,14: Traditionsgeschichtliche Verankerung und paulinische Interpretation, ZNW 87 (1996) 83–100, hier: 83: »Das umfassende Thema ›Jesus und Paulus‹ hat sich heute zunehmend auf die traditionsgeschichtliche Frage ›Paulus und die Jesustradition‹ zugespitzt.« M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 449 stellt etwas lapidar fest: »Um diese Frage ist es in den letzten Jahren eigentümlich still geworden.« 3 Vgl. dazu K. Scholtissek, »Geboren aus einer Frau, geboren unter das Gesetz« (Gal 4,4). Die christologisch-soteriologische Bedeutung des irdischen Jesus bei Paulus, in: Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Hans Hübner zum 70. Geburtstag, hg. von U. Schnelle / Th. Söding in Verbindung mit M. Labahn, Göttingen 2000, 194–219, hier: 216: »Paulus hat in seinen Briefen nicht die moderne historisch-kritische Rückfrage nach dem historischen Jesus … gestellt und diskutiert.«

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könne man durchaus von einer Konstante zwischen der Verkündigung Jesu und der Botschaft des Paulus sprechen.4

I. Zur Forschungsgeschichte Die beiden möglichen grundsätzlichen Forschungspositionen stehen von vornherein fest: Es wird entweder gesagt, Paulus sei über Jesus vergleichsweise umfassend informiert gewesen, habe jedoch bei der Abfassung seiner Briefe meist keinen Anlaß gesehen, auf Jesustradition zurückzugreifen, da diese ihren Ort in der missionarischen Verkündigung gehabt habe. Oder es wird im Gegenteil erklärt, Paulus habe von Jesu Verkündigung und Wirken tatsächlich nur das vergleichsweise Wenige gewußt, das er in seinen Briefen ausdrücklich erwähnt; dabei ist dann allerdings näher zu prüfen, ob man sich allein auf jene paulinischen Aussagen zu beschränken hat, in denen von Jesus ausdrücklich die Rede ist. A. Resch hat 1904 unter Rückgriff auf ältere Literatur die Vermutung geäußert, Paulus müsse über schriftliche Quellen verfügt haben, »etwa das Urevangelium, die synoptische Grundschrift …, um aus denselben seine christliche Gesamtanschauung und seine historischen Einzelkenntnisse zu schöpfen«.5 Nötig sei die »Unbefangenheit« gegenüber der Möglichkeit einer vorpaulinischen christlichen Literatur und auch gegenüber der »Möglichkeit gemeinsamer Benützung schriftlicher Quellen durch die Synoptiker und Paulus«6. Auf dieser Basis untersucht Resch das gesamte Corpus Paulinum, und er kommt auf eine überaus große Zahl paulinischer Bezugnahmen auf Logia Jesu (und auch auf Worte Johannes des Täufers). Als Ergebnis notiert er, es sei »die Ableitung des Paulinismus aus einer schriftlichen Hauptquelle und die Identität dieser paulinischen Hauptquelle mit der synoptischen Grundschrift, den Logia Jesu, zu behaupten«.7 Die Frage, wo Paulus dieser »Grundschrift« begegnet sein könnte, wird von Resch offenbar nicht gestellt. 4 W. G. Kümmel, Jesus und Paulus (1963/64), in: Ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933–1964, MThSt 3, Marburg 1965, 439–456, hier: 452 f. 5 A. Resch, Der Paulinismus und die Logia Jesu in ihrem gegenseitigen Verhältnis untersucht, TU XII, Leipzig 1904, 10 (das Buch umfaßt 656 Seiten). Anfang des 20. Jh.s gab es zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema; genannt seien folgende Buchtitel: R. Drescher, Das Leben Jesu bei Paulus, Giessen 1900; P. Feine, Jesus Christus und Paulus, Leipzig 1902; P. Kölbing, Die geistige Einwirkung der Person Jesu auf Paulus. Eine historische Untersuchung, Göttingen 1906; J. Kaftan, Jesus und Paulus. Eine freundschaftliche Streitschrift gegen die Religionsgeschichtlichen Volksbücher von D. Bousset und D. Wrede, Tübingen 1906; A. Jülicher, Paulus und Jesus, RV I, 14, Tübingen 1907; J. Breitenstein, Jésus et Paul, Basel 1908; W. Walther, Pauli Christentum Jesu Evangelium, Leipzig 1908; Th. Öhler, Paulus und Jesus. Der Erlöste und der Erlöser. Ein Vortrag, Basel 1908. 6 Resch, Paulinismus (s. die vorige Anm.), 27. 7 Resch, Paulinismus, 639. Mit der von Resch angenommenen »Logia-Grundschrift« ist nicht die vermutete Logienquelle Q gemeint.

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R. Bultmann ist in einem vor allem theologisch wichtigen Aufsatz dem hier diskutierten Problem kurz nachgegangen. Er beantwortet die Frage »Wieweit ist Paulus von Jesus abhängig?« knapp mit der Feststellung, direkt sei Paulus gar nicht durch den geschichtlichen Jesus bestimmt; aber auch von einer indirekten Abhängigkeit lasse sich »so gut wie gar nicht reden«.8 Wie Gal 1,11 f.18 f. zeige, lege Paulus »Wert darauf, daß er erst drei Jahre nach seiner Bekehrung nach Jerusalem gekommen ist, dort nur kurz geweilt hat und nur Petrus und den Herrenbruder Jakobus gesehen hat«.9 Bultmann nimmt an, dass Paulus ein torakritisches hellenistisches Judenchristentum kennengelernt habe; dafür spreche nicht nur die Verfolgertätigkeit, sondern auch der Gebrauch des ĔƴěēęĜ-Titels sowie die – wie Bultmann meint – hellenistischen Charakter tragende Deutung des Herrenmahls in 1 Kor 10,16.10 Von der palästinischen Tradition hingegen merke man bei Paulus nicht viel; offensichtlich habe er sie »im wesentlichen ignoriert«, wie sich vor allem bei der Diskussion über das Gesetz zeige. Wenn Paulus in 1 Kor 11,23–25 sowie in 1 Kor 7,10 f.; 9,14 auf Herrenworte verweise und wenn er in 1 Kor 7,25 ausdrücklich bedaure, hinsichtlich der ĚċěĒƬėęē kein Herrenwort zu haben, dann werde um so klarer, »daß er sonst, wenn er keines zitiert, wo es zu erwarten wäre, keines kennt«. Allenfalls in der Paränese des Paulus klinge »die sittliche Mahnung Jesu nach«; aber, so stellt Bultmann am Ende des ersten Abschnitts seines Aufsatzes knapp fest, Jesu Verkündigung ist »für ihn – mindestens im wesentlichen – irrelevant«.11 W. G. Kümmel nimmt in einem 1940 erschienenen umfangreichen Aufsatz zunächst eine nahe bei Bultmann stehende Position ein12, fügt dann aber hinzu, die Briefe des Paulus gäben ja nicht die Missionspredigt wieder; ausgerechnet in der Paränese des an die ihm unbekannten Christen in Rom gerichteten Briefes verwende Paulus aber mehrfach Jesusworte, und das sei vielleicht ein Indiz dafür, dass Jesu Worte »eine größere Rolle gespielt haben müssen, als die Briefe uns ahnen lassen«.13 Paulus sehe es allerdings nicht als seine Aufgabe an, »weiterzugeben, was er über den geschichtlichen Jesus und seine Worte gehört und überliefert erhalten hat«: »Daß Jesus ein Rabbi 8 R. Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus (1929), in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze I, Tübingen 81980, 188–213, hier: 188 f. Den Aussagen des Paulus in Gal 1,18 kommt zweifellos besondere Bedeutung zu; dabei sind sicher auch andere Interpretationen als die von Bultmann gegebene möglich (s.u.). 9 S. dazu unten S. 103–105. 10 Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 8), 189. 11 Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 8), 190.191. 12 W. G. Kümmel, Jesus und Paulus (1940), in: Ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933–1964, MThSt 3, Marburg 1965, 81–106, hier: 84: Paulus ist »in allen Hauptteilen seines theologischen Denkens nicht direkt von Worten Jesu abhängig«. 13 Kümmel ebd.

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war, und daß seine Schüler seine Worte tradierten, ist für Paulus offensichtlich nur ein kleiner und durchaus nicht zentraler Teil seiner Christusverkündigung gewesen«.14 Das eigentliche Thema in Kümmels Aufsatz ist freilich, ähnlich wie zuvor bei Bultmann, die Frage nach der sachlichen Beziehung der paulinischen Theologie zur Verkündigung Jesu; Kümmel wendet sich in dem 1940 erstmals veröffentlichten Aufsatz einleitend mit Nachdruck gegen die These des nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg, Paulus habe »das Christentum Jesu verorientalisiert und verjudet«.15 Rosenberg hatte Paulus als »den eigentlichen Schöpfer« der später durch Luther übernommenen, von Rosenberg natürlich scharf abgelehnten Gnadenlehre bezeichnet, »womit gesagt sein soll, daß die Kirchen nicht christlich, sondern paulinisch sind, da doch Jesus fraglos das Eins-Sein mit Gott als Erlösung und Ziel pries, nicht die herablassende Gnadengewährung eines allmächtigen Wesens, dem gegenüber auch die größte menschliche Seele ein reines Nichts darstellte«.16

Josef Klausner ist in seinem großen Buch »Von Jesus zu Paulus« der hier gestellten Frage nur am Rande nachgegangen. Er meint, Paulus wolle in 2 Kor 5,16 (ďŭĔċƯőčėƶĔċĖďėĔċĞƩĝƪěĔċāěēĝĞƲėŁĕĕƩėȘėęƉĔƬĞēčēėƶĝĔęĖďė) wahrscheinlich sagen, er habe Jesus zwar »zu dessen Lebzeiten gekannt, nur interessiert ihn dies jetzt nicht mehr«.17 Vorwürfe der Begleiter des irdischen Jesus gegen Paulus, er kenne Jesu wahre Lehre doch gar nicht, habe er mit dem Hinweis beantwortet, »daß nicht das körperliche Kennen (›dem Fleische nach‹) das Wesentliche sei, sondern das geistige Kennen, die Offenbarung in der Vision, die ihm zuteil wurde«.18 Die Damaskusvision des Paulus sei überhaupt nicht zu erklären, »wenn Paulus Jesus nicht einoder zweimal im Leben gesehen haben sollte« – eine Annahme, die Klausner allerdings nur mit allgemeinen psychologischen Erwägungen belegt.19 Das Thema besitzt aus theologischen wie auch aus historischen Gründen nach wie vor Aktualität.20 Oft wird gesagt, Paulus messe den – wenn auch 14

Kümmel, Jesus und Paulus (s. Anm. 12), 85. Kümmel, Jesus und Paulus (s. Anm. 12), 81. 16 A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 1933, 235 f. (Hervorhebungen im Orig.); ähnlich zuvor 74 f. 17 J. Klausner, Von Jesus zu Paulus, Jerusalem 1950, 299. Eine ausführliche kritische Besprechung der 1943 erschienenen englischen Übersetzung des 1939/40 in hebräischer Sprache publizierten Buches bietet W. G. Kümmel, Jesus und Paulus. Zu Joseph Klausners Darstellung des Urchristentums (1948), in: Ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933–1964, MThSt 3, Marburg 1965, 166–191. 18 Klausner, Von Jesus zu Paulus, ebd. 19 Klausner, Von Jesus zu Paulus (s. Anm. 17), 300. 20 Vgl. F. Neirynck, Paul and the Sayings of Jesus,in: A. Vanhoye (ed.), L’apôtre Paul. Personnalité, style et conception du ministère, BEThL 73, Leuven 1986, 265–321 (wieder abgedruckt in: F. Neirynck, Evangelica II, 1991, 511–567, additional note aaO., 567–568). Vgl. ferner D. C. Allison, The Pauline Epistles and the Synoptic Gospels. The Pattern of Parallels, NTS 28 (1982) 1–32; N. Walter, Paulus und die urchristliche Jesustradition, NTS 31 (1985) 498–522. Klassisch etwa Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 8), 190 f.: »Vor 15

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vielleicht nur wenigen  – von ihm verwendeten Jesusworten höchste und unbedingte Autorität bei.21 Frans Neirynck hat gezeigt, dass sich über die wenigen von Paulus ausdrücklich markierten Jesus-Zitate hinaus jedenfalls keine weitere Benutzung von Jesus-Tradition in den Paulusbriefen identifizieren läßt.22 Einen ausführlichen Überblick vor allem über die neuere Diskussion bietet Detlev Häußer.23 Im Blick auf »neuere Entwicklungen und Fragestellungen« verweist er auf drei unterschiedliche Aspekte: Zum einen stelle sich »die Frage nach einer Traditionskontinuität« zwischen Jesus und Paulus, und diese Frage werde von zahlreichen Exegeten positiv beantwortet.24 Zweitens gebe es die »Frage nach dem Weg der Jesustradition zu Paulus«; sie betreffe vor allem das Verhältnis des Paulus zu den Jerusalemer Aposteln und zu den aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten.25 Drittens sei »nach dem allem ist deutlich, daß er sich für seine eigentlich theologischen, anthropologischen und soteriologischen Anschauungen nicht auf Herrenworte beruft … Faßt man die wesentlich paulinischen Gedanken ins Auge, so ist klar, daß Paulus in ihnen nicht von Jesus abhängig ist. Jesu Verkündigung ist für ihn – mindestens im wesentlichen – irrelevant«. 21 So beispielsweise Kümmel, Jesus und Paulus (s. Anm. 4), 451: »Die wenigen Jesusworte, die Paulus in paränetischem Zusammenhang anführt, sind nun aber für Paulus bezeichnenderweise letzte und durch nichts zu überbietende Normen für die Lebensführung der nachösterlichen Gemeinde«. H. Schürmann, »Das Gesetz des Christus« (Gal 6,2). Jesu Verhalten und Wort als letztgültige sittliche Norm nach Paulus, in: J. Gnilka (Hg.), Neues Testament und Kirche. FS R. Schnackenburg, Freiburg / Basel / Wien 1974, 282–300, 284: Das Herrenwort in 1 Kor 7,10 steht »außerhalb jeglicher Diskussion«. W. Trilling, Ehe und Ehescheidung im Neuen Testament,ThGl 74 (1984) 390–406, hier: 394: Das Wort in 1 Kor 7,10 besitzt »höchste Verbindlichkeit«, weit über apostolische Anordnungen hinausreichend. Vgl. etwa P. Stuhlmacher, Zum Thema: Das Evangelium und die Evangelien, in: Ders. (ed.), Das Evangelium und die Evangelien. Vorträge vom Tübinger Symposium 1982, WUNT 28, Tübingen 1983, 1–26, hier: 19: 1 Kor 7,10, 9,14; 11,23–25 zeigen, »daß die Worte des Herrn für den Apostel hohe Autorität hatten und zwar nicht nur im Bereich der ethischen Ermahnung, sondern auch in ekklesiologischem Zusammenhang«. 22 Neirynck, Paul (s. Anm. 20), 277 (= Evangelica II, 523): »Since 1 Cor 11,23–25 is a quotation of a liturgical tradition, the command ordaining support for apostles in 9,14 amd the command of the Lord prohibiting divorce in 7,10–11 are the only explicit references to an actual saying of Jesus in 1 Corinthians.« Die Untersuchung des gesamten Corpus der paulinischen Briefe führt Neirynck zu dem Ergebnis, dass es sich überhaupt um die beiden einzigen direkten Bezugnahmen auf Jesusworte bei Paulus handelt (aaO., 320). 23 D. Häusser, Christusbekenntnis und Jesusüberlieferung bei Paulus, WUNT II/210, Tübingen 2006, 1–38. 24 Häusser, Christusbekenntnis (s. die vorige Anm.), 15–19. Als Vertreter dieser Position werden W. D. Davies, H. Riesenfeld und B. Gerhardsson, D. L. Dungan, D. C. Allison, D. Wenham, P. Stuhlmacher, S. Kim sowie R. Riesner genannt, als ausdrückliche Kritiker N. Walter und F. Neirynck. 25 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 19 f. Zu dem zuletzt genannten Punkt schreibt er, M. Hengel und A. M. Schwemer sähen sich genötigt, von einem »Pan-Antiochenismus« zu sprechen, der durch die Literatur »geistert«. Sie seien der Auffassung, dass die Jesustradition dem Paulus während seines in Gal 1,18 erwähnten Aufenthalts bei

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Inhalt der grundlegenden Verkündigung des Paulus« zu fragen, und hier verweist Häußer auf zwei Positionen: Nach J. M. G. Barclay war Paulus »an dem irdischen Jesus nicht uninteressiert«, doch waren ihm »allgemeine Charakteristika wichtiger als spezielle Ereignisse«; Jesus gelte etwa als Beispiel für Gehorsam, Hingabe und Liebe, doch alle weiteren Vermutungen über Bezugnahmen auf Jesustradition blieben angesichts des Befundes in den Briefen hypothetisch. S. Kim und D. C. Allison seien demgegenüber davon überzeugt, dass Paulus in seiner Missionspredigt Jesustradition weitergegeben habe, an die er in den Briefen anknüpfen konnte, ohne sie ausdrücklich wiederholen zu müssen.26 Jürgen Becker hat im Blick auf unsere Frage zwei methodisch unabdingbare Feststellungen getroffen: Zum einen sei es »methodisch ratsam …, vom Minimum des relativ Gesicherten und nicht vom Maximum des vielleicht noch gerade Wahrscheinlichen auszugehen«.27 Zum andern sei zu beachten, dass die These, Paulus habe in seiner Missionspredigt auf Jesustradition Bezug genommen, keinen Anhalt an den Paulusbriefen habe; dort, wo Paulus an die gemeindegründende Predigt erinnere, zeige sich vielmehr, dass er »exakt das in Erinnerung ruft, was auch sonst in den Briefen steht. Missionsbotschaft und Briefinhalte lassen sich also nicht im genannten Sinn unterscheiden«.28.

II. Erwägungen zu einer möglichen persönlichen Beziehung zwischen Paulus und Jesus Johannes Weiß vertrat, ähnlich wie später J. Klausner, die These, Paulus müsse Jesus persönlich gekannt haben, da andernfalls die Bekehrung »psychologisch unvorstellbar« sei.29 Vor allem die Aussage in 2 Kor 5,16b lasse »keine andere Deutung zu« als die, »daß Paulus Jesum persönlich gesehen und gekannt hat«. Zwar lege er darauf jetzt keinen Wert mehr, doch er erwähne es, »weil seine Gegner sich solchen Kennens rühmen«.30 Am einPetrus vermittelt wurde, aber auch schon vorher in Damaskus. Von anderen, unter ihnen A. Dauer, J. Gnilka, J. Becker und K. Berger, werde stärker die Rolle Antiochias betont. 26 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 20 f. Vgl. Allison, The Pauline Epistles (s. Anm. 20), ferner S. Kim, The Jesus Tradition in 1 Thess 4.13–5.11, NTS 48 (2002) 225–242 und die Beiträge bei A. J. M. Wedderburn (ed.), Paul and Jesus. Collected Essays, JSNT.S 37, Sheffield 1989. 27 J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 122. 28 J. Becker, Paulus (s. die vorige Anm.), 125. Er verweist insbesondere auf 1 Thess 1,9 f. sowie auf 1 Kor 2,1–5; 11,2.23–26; 15,1–11; Gal 1,9; 3,1–5; 4,13 f.; 5,21; Phil 4,9; 1 Thess 4,1.6.11. 29 J. Weiss, Paulus und Jesus, Berlin 1909, 17. 30 Weiss, Paulus und Jesus (s. die vorige Anm.), 29.

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fachsten sei die Annahme, dass er Jesus »gesehen und vielleicht auch gehört hat, daß er insbesondere bei seinem ›Leiden‹ und seiner Kreuzigung irgendwie zugegen gewesen ist«. Der Eindruck, den Paulus dabei von Jesus gewonnen habe, müsse wohl doch stärker gewesen sein, »als er selber damals sich bewußt geworden ist und als er es später hat zugeben wollen«. Nur so sei das »sonst völlig rätselhafte Verhalten nach seiner Bekehrung verständlich« – nämlich die Tatsache, dass Paulus sich, wie er in Gal 1,17 schreibt, nicht etwa darum bemühte, Information über Jesus zu erhalten, sondern dass er im Gegenteil »in die Einsamkeit« ging: »Er wußte genau, um wen es sich handelte«.31 Eckhard Rau verweist darauf, dass Paulus die torakritische, vermutlich hellenistisch-judenchristliche Gemeinde verfolgt hatte (Gal 1,13 f.); diese habe sich in ihrer Verkündigung und in ihrer religiösen Praxis sicherlich auch auf Jesusüberlieferung bezogen, dabei aber vermutlich eine kritische Auswahl getroffen, wie die lukanische Darstellung der Stephanuspredigt in den Jerusalemer Synagogen erkennen lasse.32 Paulus als Verfolger dieser Gemeinde dürfte folglich die dort tradierte Jesusüberlieferung kennengelernt haben. Allerdings können wir kaum sagen, ob und inwieweit Paulus bei seiner Verfolgertätigkeit eine Jesu Wirken betreffende Überlieferung zur Kenntnis nahm33 und womöglich gedanklich reflektierte; weder die Paulusbriefe noch auch die lukanische Darstellung des Verfolgers Paulus geben Hinweise dieser Art. Gleichwohl ist die Annahme natürlich grundsätzlich plausibel, dass die »Bekehrung« bzw. Berufung des Verfolgers zum Verkündiger ein Wissen über Jesus bzw. über die mit dem Namen Jesus verbundene Predigt voraussetzt; Paulus muß die Botschaft der von ihm Verfolgten ja zumindest in groben Zügen gekannt haben, wie indirekt aus Gal 1,13 f. hervorgeht. Seine Begegnung mit dem erhöhten Christus vor Damaskus, sein »Sehen« des Auferstandenen, war dennoch nicht so etwas wie eine »Erinnerung« oder ein »Wiedererkennen« Jesu; Paulus verstand es vielmehr als eine durch Gottes Handeln herbeigeführte Offenbarung des ihm bis dahin unbekannten Jesus Christus, wie seine Aussagen in 1 Kor 15,8 und vor allem in 2 Kor 4,6 (vgl. Gal 1,15 f.) zeigen.

31 Weiss, Paulus und Jesus (s. Anm. 29), 30.31. Weiß’ Analyse von 2 Kor 5,16 findet sich aaO., 24–27. 32 E. Rau, Von Jesus zu Paulus. Entwicklung und Rezeption der antiochenischen Theologie im Urchristentum, Stuttgart 1994, 15–35, unter Verweis auf Apg 6,8–15. 33 W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1985, 99–110 nimmt an, eine erzählende Überlieferung vom Wirken Jesu habe es vor dem Markusevangelium bzw. vor dessen »Grundschrift« gar nicht gegeben und insofern habe deren Fehlen bei Paulus nicht theologische, sondern einfach »traditionsgeschichtliche« Gründe.

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Dem entspricht die lukanische Darstellung des »Damaskus-Erlebnisses«. Lukas schildert die Begegnung zwischen Jesus und Paulus völlig anders als etwa das Zusammentreffen der Emmaus-Jünger mit dem Auferstandenen. Zwar erkennen auch sie Jesus zunächst nicht, weil ihre Augen »gehalten« waren; aber dann erkennen sie ihn an der Geste des Brotbrechens, und es wird ihnen deutlich, dass ihr Herz »in ihnen brannte«, als ihnen von ihrem Begleiter die Schrift ausgelegt worden war. Paulus vor Damaskus muß hingegen fragen, wer es ist, der zu ihm sagt: »Was verfolgst du mich?« (Apg 9,5).34

III. Hinweise auf den irdischen Jesus in den paulinischen Briefen: 1. Die Funktion der »Herrenworte« im Ersten Korintherbrief Paulus kennt Worte des irdischen Jesus, auf die er in 1 Kor 7,10 f. und 9,14 ausdrücklich hinweist35 und die er als »Weisungen«36 des ĔƴěēęĜ bezeichnet. Allerdings folgen in beiden Fällen eigene Überlegungen des Apostels, die zu den zuvor referierten Weisungen zumindest in deutlicher Spannung, ja sogar im Widerspruch stehen.37 Sieht sich Paulus dazu legitimiert, Weisungen des ĔƴěēęĜ zu widersprechen bzw. ihnen entgegen zu handeln?38 1. In 1 Kor 7,1–16 geht es um Ehe und Sexualität, und dabei verweist Paulus in V. 10a auf eine Aussage Jesu zur Ehescheidung.

Die Anrede Ĕƴěēď in dieser Frage zeigt nicht an, dass Paulus den erhöhten Jesus erkannt hat, sondern sie ergibt sich einfach aus der in 9,3 f. geschilderten Situation einer Epiphanie und Audition. 35 Vgl. dazu Zimmermann / Zimmermann, Zitation (Anm. 2) sowie die dort erwähnte Literatur. Anders als in 1 Kor 11,23–25 (s. unten) liegen keine wörtlichen Zitate vor, sondern Paulus »referiert« lediglich die Aussagen Jesu; es hat deshalb wenig Zweck, nach der Quelle oder gar nach einer »Textvorlage« zu fragen, die Paulus unmittelbar benutzt haben könnte; vgl. Neirynck, Paul (s. Anm. 20), 320 (= Evangelica II, 566). 36 In 1 Kor 7,10 begegnet das Verb ĚċěċččƬĕĕďēė, in 1 Kor 9,14 das Verb ĎēċĞƪĝĝďēė; beide Verben bezeichnen autoritative Weisungen, vielfach mit Befehlscharakter. 37 Vgl. etwa H.-W. Kuhn, Der irdische Jesus bei Paulus als traditionsgeschichtliches und theologisches Problem, ZThK 67 (1970) 295–320, hier: 315: Man kann erkennen, dass Paulus die Herrenworte »durchaus nicht an den zentralen Stellen seiner Argumentation« gebraucht und »daß er in beiden Fällen ihnen gegenüber ausdrücklich die Freiheit wahrt und sie dadurch auch nicht zu kasuistischen Regeln werden läßt«. Ähnlich H. Köster, Grundtypen und Kriterien frühchristlicher Glaubensbekenntnisse, in Ders. / J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 191–215, hier: 211 Anm. 47: »Paulus kann die Rechtsautorität des Herrn und seine eigene Meinung als nahezu gleichgewichtig nebeneinander stellen.« 38 Die folgenden Überlegungen berühren sich mit den Ausführungen bei J. MurphyO’Connor, The Divorced Woman in 1 Cor 7:10–11, JBL 100 (1981) 601–606. 34

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(1.) In dem Argumentationsgang geht es zunächst in V. 1–739 unmittelbar um die dem Paulus brieflich mitgeteilte korinthische These, es sei für den Menschen gut, eine Frau nicht zu berühren (V. 1b).40 Paulus reagiert (V. 2–5) mit sehr konkreten Bemerkungen zur Ehe und insbesondere zur Sexualität in der Beziehung zwischen Frau und Mann.41 Allerdings könne er hier nicht ĔċĞdzőĚēĞċčƮė sprechen, denn Gott gewähre den Menschen unterschiedliche ġċěưĝĖċĞċ hinsichtlich von Sexualität und Askese (V. 6 f.)42; mit der Wendung ĞęȘĞę Ďƫ ĕƬčģ ĔċĞƩ ĝğččėƶĖđė signalisiert Paulus den Adressaten, dass es sich bei den vorangegangenen Aussagen um nicht mehr als um eine Meinungsäußerung gehandelt hatte. (2.) Einen höheren Grad an Verbindlichkeit beansprucht Paulus dann für die Aussage in V. 8: Unverheiratete bzw. verwitwete Glieder der Gemeinde sollen fortan ledig bleiben wie Paulus selber (ƚĜ ĔŁčƶ, vgl. V. 7: ƚĜ ĔċƯ őĖċğĞƲė). Die Wendung ĕďčģĎƫ … ĔċĕƲė kennzeichnet zwar nicht einen Befehl; aber es folgt eine autoritative Mitteilung hinsichtlich dessen, was (ethisch) »gut« ist.43 Dieselbe Begrifflichkeit wies der korinthische Brief an Paulus auf (V. 1b); die Position der Korinther war offenbar nicht einfach eine unreflektierte »Parole«44, sondern in den Augen (zumindest eines Teils) der Korinther ein durchaus fundiertes sittliches Urteil. In V. 9 nennt Paulus dann aber für den Fall eines inneren Konflikts eine alternative Lösung, 39

Vgl. zum Folgenden H. Merklein, »Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen«. Paulus und die Sexualität nach 1 Kor 7, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen1987, 385–408. Vgl. außerdem A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 156–161. 40 In V. 1 sind ŅėĒěģĚęĜ und čğėƮ einander gegenübergestellt, in V. 2–4 dagegen durchgängig ŁėƮě und čğėƮ; in V. 7 meint die Bezeichnung ĚƪėĞďĜ ŅėĒěģĚęē offensichtlich Männer und Frauen. Dieser Wechsel in der Terminologie spricht für die Annahme, dass Paulus in V. 1b aus dem Brief der Korinther zitiert. Der Sprachgebrauch ŅėĒěģĚęĜ = Mann, entsprechend der LXX-Wiedergabe von ÖĆý durch ŅėĒěģĚęĜ (Gen 2,24; 4,1 und sehr oft), ist im Neuen Testament außerhalb der Verwendung von Gen 2,24 LXX (Eph 5,31; Mk 10,6/Mt 19,5) nur in Mt 19,3.10 belegt und auch dort offensichtlich durch das in V. 5 gebotene Zitat bedingt (vgl. Mk 10,2). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Paulus in 1 Kor 7,1 diese Begrifflichkeit verwendet, während er sonst doch durchweg von čğėƮ und ŁėƮě spricht. Nach D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 237 spricht gegen ein Zitat, »dass V. 1 dann ohne Hauptsatz ist«; er fügt allerdings hinzu, die biblische und griechische Wendung »eine Frau berühren« als Umschreibung für geschlechtlichen Umgang sei »singulär und könnte der biblischen Anfrage entstammen«. Auf den Wechsel von ŅėĒěģĚęĜ und ŁėƮě geht Zeller nicht ein. 41 Zur paulinischen Sexualethik allgemein vgl. Wolter, Paulus (s. Anm. 2), 328–335. 42 Dass es darum geht, wird in V. 7 nicht ausdrücklich gesagt, es ergibt sich aber aus dem Zusammenhang. 43 Vgl. dazu P. Arzt-Grabner / R. E. Kritzer / A. Papathomas / F. Winter, 1. Korinther, PKNT 2, Göttingen 2006, 263: »Wendungen mit ĕƬčģ dienen dazu, die Aufmerksamkeit zu wecken und zu etwas Wichtigem hinzulenken« (Kritzer). 44 Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 40), 237 meint unter Verweis auf V. 26b (ĔċĕƲėŁėĒěƶĚȣ …), die Aussage in V. 1b lasse »sich schwer als korinthische Parole erklären«. In 7,26b meint ŅėĒěģĚęĜ wiederum nicht »Mann«.

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wobei er nun dem (prinzipiellen) ĔċĕƲė ein (relatives) ĔěďȉĞĞęė gegenüberstellt.45 Paulus argumentiert hier also »pragmatisch«, freilich auf der Basis der vorausgesetzten These, dass die in V. 2 akzentuierte Vermeidung von Ěęěėďưċ ein nicht hinterfragbares oberstes Kriterium ist. (3.) In V. 10 erfolgt nun eine weitere Steigerung des Grads an Verbindlichkeit: Den  – in einer »christlichen Ehe« lebenden46  – Verheirateten wird regelrecht der Befehl erteilt (ĚċěċččƬĕĕģ47), die bestehende Ehe dürfe von keinem der Ehepartner aufgelöst werden; vorausgesetzt ist, dass die für die Frau (V. 10b) wie auch für den Mann (V. 11b) mögliche Ehescheidung ein privater Akt ist, der zwar rechtliche Folgen hat, an dem aber »öffentliche« Instanzen nicht beteiligt sind.48 Dem fügt Paulus nun aber in Parenthese die Information hinzu, Autor dieser Anweisung sei nicht er selbst, sondern der ĔƴěēęĜ.49 Hier stellen sich vor allem zwei Fragen: Warum redet Paulus zunächst in der ersten Person (ĚċěċččƬĕĕģ), wenn doch tatsächlich nicht er selbst, sondern der ĔƴěēęĜ diese Weisung erteilt? Und warum sagt Paulus in der Parenthese ausdrücklich ęƉĔőčƵŁĕĕƩ …, statt das Wort des ĔƴěēęĜ unmittelbar in seine eigene Argumentation zu integrieren? Dass ihm erst während des Briefdiktats bewußt wurde, die Weisung an die Verheirateten gehe nicht auf ihn selbst, sondern auf Jesus zurück, ist unwahrscheinlich – auch wenn es tatsächlich Zufall sein dürfte, dass er dieses Wort aus der Jesus-Überlieferung überhaupt kennt und wir es in der synoptischen Tradition unmittelbar verifizieren können.50 Wenig wahrscheinlich dürfte auch die Annahme sein, dass Paulus gerade beim Thema »Ehescheidung« in 45

Vgl. dazu Arzt-Grabner u.a., 1. Korinther (s. Anm. 43), 266: »Das ›Bessere‹ erscheint immer als brauchbare Alternative zu anderen Varianten« (Kritzer, die darauf hinweist, dass Paulus in V. 9 offensichtlich nicht »an eine wirtschaftliche Absicherung unverheirateter Frauen und Witwen« denkt). 46 Dass beide Partner Christen sind, ergibt sich nicht erst nachträglich aus V. 12, sondern schon aus dem Plural der Anrede ĞęȉĜ Ďƫ čďčċĖđĔƲĝēė ĚċěċččƬĕĕģ, denn einem Nichtchristen gegenüber wäre eine von Paulus (oder Jesus) ausgesprochene »Anweisung« ohne Relevanz. 47 V. 25 zeigt, dass ĚċěċččƬĕĕģ und őĚēĞċčƭėŕġģ praktisch dasselbe meinen. 48 Vgl. G. Delling, Art. Ehescheidung, RAC 4, Stuttgart 1959, 707–719; Ders., Art. Eheschließung, aaO., 719–731. F. Raber, Art. Divortium, KlP 2, Stuttgart 1967, 109 f., hier: 110: »Durch den erklärten Scheidungswillen, verbunden mit der tatsächlichen Aufhebung der Lebensgemeinschaft, war der von der Sitte geordnete, faktische Tatbestand der Scheidung gegeben.« S. vor allem auch den Exkurs bei Arzt-Grabner u.a., 1. Korinther (s. Anm. 43), 266–269 (Ruth E. Kritzer). 49 Die Formulierung erinnert in ihrer Struktur an Gal 2,20a. 50 Richtig ist m. E. die Überlegung von Walter, Paulus (s. Anm. 20), 514, dass das Wort im hellenistisch-jüdischen Christentum möglicherweise auch deshalb tradiert wurde, weil es in Spannung zur Tora stand. M. E. zu weitgehend ist die These von Schmithals, Einleitung (s. Anm. 33), 404, dass die Aussagen in 1 Kor 7,10; 9,14 aus der Überlieferung der noch nicht »christologisch denkenden« Q-Gemeinde stammen und es angesichts von Apg 18,25 f. »nicht abwegig« sei »zu vermuten«, dass Paulus sie »von dem in seiner Nähe weilenden Apollos erhalten« hatte.

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besonderer Weise daran gelegen war, seine Weisung an die höchste Autorität zu binden – als gäbe es im ganzen Ersten Korintherbrief (mit Ausnahme des in 9,14 erörterten Problems) sonst kein Thema, bei dem der Hinweis auf ein Wort des ĔƴěēęĜ von Bedeutung gewesen wäre.51 Der Apostel weist die Verantwortung für die in V. 10b ausgesprochene Weisung ausdrücklich dem ĔƴěēęĜ zu, das betonte ęƉĔőčƶ wird also durchaus ernstzunehmen sein. Die anfängliche Verwendung der ersten Person signalisiert den Adressaten, dass die Weisung aktuell von Paulus als dem Schreiber des Briefes kommt, aber dann fügt er sogleich hinzu, dass sie eben nicht auf ihn selbst, sondern auf den ĔƴěēęĜ als Autor zurückgeht. Die Verwendung des Präsens scheint zu signalisieren, dass Paulus dabei nicht an den »historischen« (oder »irdischen«) Jesus als an eine Gestalt der Vergangenheit denkt52, sondern es gebietet der gegenwärtige Herr; insofern ist es nur von geringem Belang, dass wir für die von Paulus referierte Anweisung in der synoptischen Tradition (Lk 16,18; Mk 10,2–12) tatsächlich eine dem irdischen Jesus (historisch möglicherweise zu Recht) zugesprochene Aussage finden.53 Paulus braucht jedenfalls nicht darüber nachzudenken, in welchem kulturellen Kontext die Weisung des irdischen Jesus relevant gewesen war und wie sich dieser etwa zur Situation in Korinth verhält.54 Die Weisung selbst (V. 10b) ist unzweideutig: Eine (im Horizont des Textes: zur Gemeinde gehörende) Frau soll sich von ihrem (zur Gemeinde gehörenden) Ehepartner nicht trennen.55 Bevor in V. 11b die analoge Weisung an den Mann folgt, schiebt Paulus in V. 11a eine Zwischenbemerkung ein, die sich auf den Fall einer bereits vollzogenen Trennung bezieht. Ist dies ein Kommentar des Paulus zur Weisung des ĔƴěēęĜ, vergleichbar der Argumentation in V. 9? Oder handelt es sich – zumindest nach Meinung des Paulus – noch um einen Teil der Weisung des ĔƴěēęĜ?56 Die Zwischenbemerkung bezieht sich allein auf Frauen, die sich 51

So begegnet in 1 Kor 15 kein Hinweis auf die in Mk 12,18–27 überlieferte Auferstehungsvorstellung Jesu als Argument gegen die korinthische Bestreitung der ŁėƪĝĞċĝēĜ ėďĔěȥė, und umgekehrt löst die in 1 Kor 11,23–25 auf den ĔƴěēęĜ zurückgeführte Abendmahls-Paradosis das in Korinth zur Diskussion stehende Problem nicht. 52 Anders 1 Kor 9,14: žĔƴěēęĜĎēƬĞċĘďė. 53 Vgl. Walter, Paulus (s. Anm. 20), 500. 54 Das hellenistisch-römische Scheidungsrecht unterschied sich vom jüdischen. In der Szene Mk 10,2–9 weist Jesus eine in der Tora gebotene Möglichkeit zurück; Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 40), 244 meint, »die früheste auf Jesus zurückführbare Form des Logions« sei in Lk 16,18 Q erhalten, und in der Mk-Fassung liege eine Bildung der hellenistisch-jüdischen Gemeinde vor. »Paulus kannte wohl die Weiterentwicklung des Logions, die Mk 10,11 zu Grunde liegt.« 55 ġģěēĝĒǻėċē hat ebenso wie in V. 15 aktiven Sinn; vgl. Neirynck, Paul (s. Anm. 20), 318 (= Evangelica II, 564). 56 So D. Catchpole, The Synoptic Divorce Material as a Traditio-Historical Problem, BJRL 57 (1974/75) 92–127, hier: 107. Er hält es für wahrscheinlich, dass auch V. 11a eine Aussage vorpaulinischer Tradition ist, die verstanden werden müsse »as a situa-

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vom Ehemann trennen bzw. getrennt haben57; jedenfalls folgt im Anschluß an V. 11b keine analoge Aussage. Den Frauen werden zwei mögliche Verhaltensweisen angeboten: Die zuerst genannte Möglichkeit (ĖďėƬĞģŅčċĖęĜ) würde ungeachtet der Anweisung in V. 10a den Schritt der vollzogenen Trennung bestätigen58, zugleich spricht sie aber das Verbot einer zweiten Eheschließung aus59, mit dem Vorschlag zur Versöhnung knüpft Paulus an seine hellenistische Umwelt an.60 Der Zwischengedanke in V. 11a wird also von Paulus selber stammen, der angesichts realer Gegebenheiten in Korinth Problemlösungen anbieten will61 und dabei nicht am Gedanken einer definitiven Unauflöslichkeit der Ehe festhält. Das ęƉĔ őčƵ ŁĕĕƩ ž ĔƴěēęĜ in V. 10a ist dementsprechend offenbar sehr präzise gemeint: Paulus sagt zunächst, dass nicht er selbst, sondern der ĔƴěēęĜ die Ehescheidung verbietet; er sieht sich dann aber dazu befugt, für den konkreten Fall, dass tional parenthesis in which a less than ideal situation has posed a problem and receives a solution« (106). 57 Die Frage des zeitlichen Aspekts von őƩė Ďƫ ĔċƯ ġģěēĝĒǼ ist umstritten. Nach S. Schulz, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987, 430 muß vorausgesetzt werden, dass die Frau »vor ihrem Christsein bereits geschieden ist«, und daraufhin biete ihr Paulus an, entweder ledig zu bleiben oder sich »mit ihrem vor der Taufe geschiedenen Mann« zu versöhnen. N. Baumert, Ehelosigkeit und Ehe im Herrn. Eine Neuinterpretation von 1 Kor 7, fzb 47, Würzburg 1984, 66 verweist m. R. darauf, dass in diesem Fall ďŭ + Ind. Aor. stehen müßte und nicht őƪė + Konj. Aor. (vgl. BDR § 373,3). Nach H. Lietzmann, An die Korinther I / II, ergänzt von W. G. Kümmel, HNT 9, Tübingen 51969, 31 ist sprachlich beides möglich, doch sei der Bezug auf die Gegenwart das Normale, der Bezug auf die Vergangenheit »seltener, aber sachlich hier leichter, weil dann Pls [Paulus] keine Ausnahme von dem Herrengebot gestattet, sondern nur den Fall der bereits vorliegenden (unwissentlichen?) Übertretung regelt«. Aber das grammatische Problem kann jedenfalls nicht von modernen theologisch-heremeneutischen Voraussetzungen her gelöst werden. 58 J. Weiss, Der erste Korintherbrief, KEK 5, Göttingen 91910 (=1970),178 f. sieht richtig, daß V. 11a eine Ausnahme zu V. 10 einräumt, er traut diese dann aber Paulus nicht zu, sondern meint, es müsse »die Wahrscheinlichkeit einer Interpolation behauptet werden«; der Interpolator habe das Thema »vollständig und kasuistisch behandeln« wollen. In der Tat weist der Brief in 14,34–35 eine Interpolation auf (vgl. Lindemann, Erster Korintherbrief [s. Anm. 39], 315–321), aber 7,11a zeigt eine ganz andere Tendenz, so dass mit zumindest einem weiteren Interpolator zu rechnen wäre, was doch sehr unwahrscheinlich ist. 59 Davon ist in V. 10b.11b nicht die Rede. Nach G. D. Fee, The First Epistle to the Corinthians (NICNT), Grand Rapids, MI 1987, 295 zielt die Parenthese damit darauf, den Ehebruch (d.h. die Wiederverheiratung, entsprechend Mt 19,9) auszuschließen. Zwar sage der Text das nicht ausdrücklich, »but since Paul is appealing to the teaching of Jesus, in which this is the central issue in the matter of remarriage, one would be hardpressed to argue that for Paul it did not mean the same« (ebd. Anm. 25). Aber das geht über das aus dem Text zu Erhebende hinaus. 60 So Kritzer (in: Arzt-Grabner u.a., 1. Korinther [s. Anm. 43], 269). 61 Möglicherweise hatte sich (zumindest) eine Frau in der korinthischen Gemeinde von ihrem christlichen Ehepartner getrennt. Catchpole, Material (s. Anm. 56), 106 hält das für wenig wahrscheinlich, da ja in Korinth die Ehe ohnehin infragegestellt worden sei. Aber es wird in der korinthischen Gemeinde in diesen Fragen kaum nur eine einzige Position gegeben haben, und von einer prinzipiellen Infragestellung der Ehe in Korinth ist in 1 Kor 7 ohnehin nicht die Rede.

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eine Frau der Weisung des ĔƴěēęĜ nicht folgt bzw. nicht gefolgt ist, zwei unterschiedliche Problemlösungen zu nennen. (4.) In dem interreligiöse »Mischehen« betreffenden vierten Argumentationsgang gibt Paulus in V. 12–16 in gleicher Weise wie zuvor in V. 8 f. konkrete Anweisungen, eingeleitet mit ĕƬčģőčƶ62; ebenso wie in V. 8 f. nennt er unterschiedliche Möglichkeiten zur Lösung unterschiedlich gelagerter Probleme. Ehen zwischen »christlichen« und nicht zur Gemeinde gehörenden Partnern sind offenbar nicht selten63, wobei Paulus jede in Frage kommende Möglichkeit berücksichtigen will64; die Anredeform in V. 14b (2. Pers. Plural: ĞƩĞƬĔėċƊĖȥė) deutet an, dass sich unter den Hörerinnen und Hörern des Briefes nicht wenige befanden, für die diese Aussagen von Bedeutung waren. In V. 12b.13 hatte Paulus gesagt (und in V. 14 begründet), dass der christliche Partner sich vom »ungläubigen« Partner nicht zu trennen braucht65; dem »Ungläubigen« steht eine solche Entscheidung natürlich ohne weiteres frei (V. 15a). Dann kann die Aussage in V. 15b (ęƉĎďĎęƴĕģĞċē … őė ĞęȉĜ ĞęēęƴĞęēĜ) nur bedeuten, dass für den verlassenen christlichen Partner eine Bindung an die bisherige Ehe nicht mehr besteht.66 Ob Paulus in diesem Fall analog zu V. 39 das Eingehen einer neuen Ehe für erlaubt hält, läßt sich nicht sicher sagen; angesichts von V. 11 a ist es aber wahrscheinlich, dass er ein Verbot der Wiederverheiratung explizit ausgesprochen hätte.67 Die Wendung őčƵ ęƉġ ž ĔƴěēęĜ ist das Pendant zu ęƉĔ őčƵ … in V. 10a. Insofern braucht man nicht die Alternative zu erwägen, ob Paulus »kein einschlägiges Jesuswort kennt oder ob er sich eines ihm bekannten Wortes nicht bedienen will, weil er davon abzuweichen gedenkt« (so Walter, Paulus [s. Anm. 20], 510). 63 Paulus braucht auf die Details nicht einzugehen, da die Adressaten in Korinth die Verhältnisse natürlich kannten. 64 Eigenartig (und m. E. nicht wirklich zu erklären) ist die Inkongruenz der Formulierungen in V. 12b (ďű ĞēĜ ŁĎďĕĠƱĜ …) und in V. 13a (ĔċƯ čğėƭ ďű ĞēĜ …). Paulus will jedenfalls nicht den Ausdruck ŁĎďĕĠƮ vermeiden, wie schon V. 15 zeigt (vgl. auch 9,5; ferner Phlm 2; Röm 16,1). 65 Die Formulierungen in V. 12b–14 machen es wahrscheinlich, dass Paulus zumindest explizit nur an den Fall denkt, dass der Christ bzw. die Christin meint, sich aus religiösen Gründen (»Reinheit«) vom nichtchristlichen Partner trennen zu müssen. Zu V. 14a, insbesondere zur Frage der Taufe, vgl. A. Lindemann, … őĔĞěƬĠďĞďċƉĞƩőėĚċēĎďưǪĔċƯ ėęğĒďĝưǪĔğěưęğ (Eph 6,4): Kinder in der Welt des frühen Christentums, NTS 56 (2010) 169–190, hier: 171–173. 66 Nach K. Kertelge, Autorität des Gesetzes und Autorität Jesu bei Paulus, in: H. Frankemölle/K. Kertelge (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus. FS J. Gnilka, Freiburg/ Basel/Wien 1989, 358–376, hier: 369 besteht zwischen V. 15 und V. 10 kein Widerspruch, »da es ihm hier nur um die konsequente Anwendung des Herrenwortes geht, das auch für die in der Anfangszeit besonders häufigen ›Mischehen‹ zwischen Christen und Nichtchristen gelten soll. Das Wort des Apostels in V. 12–16 erhält so die Bedeutung einer interpretierenden Abwandlung des Herrenwortes aus V. 10«. 67 So jedenfalls H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2 1981, 156. Ebenso E. Fascher, Der erste Brief des Paulus an die Korinther. Erster Teil: Einführung und Auslegung der Kapitel 1–7, ThHKNT 7/1, Berlin 21980, 188: Am einfachsten sei die Annahme, dass der christliche Partner erst in der Ehe Christ wurde; dann 62

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Die abschließende Bemerkung in V. 15c.16 läßt sich nicht ohne weiteres interpretieren, denn das ĎƬ in V. 15c kann adversativ gemeint, es kann aber auch als bloße Übergangspartikel gebraucht sein.68 Im ersten Fall enthielte die Aussage die (indirekte) Aufforderung an die Christen, sie sollten ungeachtet des in V. 15a Gesagten unter allen Umständen um die Erhaltung auch einer »Mischehe« bemüht sein69,im zweiten Fall würde Paulus lediglich zusammenfassend feststellen, dass Gott die angeredeten Christen70 dzőėďŭěƮėǹ berufen hat und sie deshalb jedenfalls so handeln sollen, dass dieser Friede nicht gefährdet wird.71 Eine sichere Lösung dieses Interpretationsproblems ist nicht möglich.

(5.) Paulus bietet als Reaktion auf den Brief, den er aus Korinth erhalten hatte, zu dem dort aufgeworfenen Thema alternative Möglichkeiten des Verhaltens an, und er überläßt die konkrete Entscheidung dann den Adressaten. Das gilt generell für das Thema »Ehe und Sexualität« (V. 2–6), wie V. 7 zeigt; es gilt für die »Weisung« an die Ledigen (V. 8b.9); und es gilt auch für die in »Mischehen« lebenden Christen, wie die in V. 12.13.15 aufgezählten unterschiedlichen Möglichkeiten zeigen. Paulus nimmt für seine Aussagen keine fremde Autorität in Anspruch.72 Die einzige Ausnahme ist das auf den ĔƴěēęĜ zurückgeführte (und historisch wohl tatsächlich auf ihn zurückgehende) Verbot der Ehescheidung, das dann gilt, wenn beide Partner zur Gemeinde gehören (V. 10.11b); aber hier nennt Paulus in V. 11a eine Alternative, wodurch das Wort des ĔƴěēęĜ zumindest implizit den Charakter einer »absolut« gültigen Norm verliert. Woher leitet Paulus die Vollmacht dazu ab? Gewiß sah er sich nicht als der vom erhöhten Herrn beauftragte Apostel dazu ermächtigt, einem Wort Jesu ohne weiteres zu widersprechen. Aber offenbar war er darum bemüht, auch angesichts eines Herrenworts auf die eigene praxis- und erfahrungsbezogene, eher »beratende« Argumentation nicht zu verzichten. »könnte der geschiedene Christ sich wieder anders verehelichen, falls der heidnische Teil von sich aus die Ehe gelöst hat«. Fee, First Corinthians (s. Anm. 59), 303 verweist darauf, dass Paulus das Verb ĎęğĕƲģ sonst nicht auf die Ehe bezieht (1 Kor 7,39; Röm 7,2); freilich verbiete V. 15 die Wiederheirat nicht, sondern spreche einfach gar nicht davon. 68 Vgl. BDR § 447,1.f). 69 So Baumert, Ehelosigkeit (s. Anm. 57), 84 und nachdrücklich Fee, First Corinthians (s. Anm. 59), 304 f. 70 Paulus formuliert ausdrücklich ĔƬĔĕđĔďėƊĖǬĜ, vgl. V. 14: ĞƩĞƬĔėċƊĖȥė. 71 Vgl. O. Merk, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der Paulmischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, 108: ĎƬ heißt nach vorausgehender Negation »vielmehr«. Freilich sei V. 16 dann dennoch positiv gemeint (»vielleicht kannst du … retten«). Nach Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 40), 248 wendet sich das Ğư ęųĎċĜ »gegen eine falsche Gewissheit … Paulus redet also einer Auflösung von Mischehen das Wort, wo das abweisende Verhalten des Heiden eine Existenz im christlichen Frieden unmöglich macht und keine Umkehr zu erwarten ist.« 72 Er bezieht sich insbesondere auch nicht auf Bestimmungen der biblischen Tora. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: A. Lindemann, Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 91–114.

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2. Das Thema von 1 Kor 9 ist die őĘęğĝưċ des Apostels gegenüber den Gemeinden, zumindest gegenüber der Gemeinde in Korinth (V. 2). Als Argument für den Anspruch der Apostel auf Unterhalt durch die Gemeinden verweist Paulus zuerst auf die allgemeine Erfahrung (V. 7: ĔċĞƩŅėĒěģĚęė), dann auf eine Weisung im »Gesetz des Mose« (V. 9 f.) und schließlich auf die allgemein übliche Praxis in den Religionen (V. 13). Dann folgt die Bemerkung, so (ęƎĞģĜ) habe auch der ĔƴěēęĜ die Verkündiger des Evangeliums angewiesen, vom Evangelium zu leben (V. 14 f.). Auch hier folgen aber Aussagen, die einen Widerspruch zwischen der vom ĔƴěēęĜ ausgesprochenen Weisung und dem eigenen Urteil des Paulus erkennen lassen. Anders als in 7,10.11 geht es jetzt aber nicht um das Verhalten anderer, sondern um die Praxis des Paulus selber. Nach Hans Conzelmann ist das Herrenwort in 9,14 eher beiläufig angefügt: »Paulus sammelt Argumente, ohne sich um eine Systematik der Anordnung zu kümmern.«73 Aber der Hinweis auf das ĎēċĞƪĝĝďēė des ĔƴěēęĜ bildet das letzte Glied in der Kette der Argumente, und ihm kommt insofern besondere Bedeutung zu.74 Paulus führt ebenso wie in 7,10 kein eigentliches Zitat eines Herrenwortes an. Er referiert vielmehr eine Aussage des ĔƴěēęĜ, derzufolge die das Evangelium Verkündigenden »vom Evangelium leben« sollen(žĔƴěēęĜĎēƬĞċĘďė ĞęȉĜ ĞƱ ďƉċččƬĕēęė ĔċĞċččƬĕĕęğĝēė őĔ ĞęȘ ďƉċččďĕưęğ Đǻė); die nächste (uns bekannte) Parallele dazu ist das Q-Logion Lk 10,7b/Mt 10,10b, das bildlich eine ähnliche Aussage macht.75 In V. 15a erklärt Paulus dann aber, er mache davon aber keinen Gebrauch.76 Dieter Zeller meint, der Kyrios habe »nur ein Recht auf Lebensunterhalt durch diese Tätigkeit, keine Pflicht etabliert«, und deshalb könne Paulus »keinen Gebrauch davon machen, ohne ihm ungehorsam zu werden«.77 Aber nach der Formulierung von V. 14 geht es nicht um ein »Angebot« oder um eine »Erlaubnis«, die den Verkündigern eingeräumt wurde78; Paulus spricht vielmehr von einer Weisung des ĔƴěēęĜ 73

Conzelmann, Erster Korintherbrief (s. Anm. 57), 193. Ob man geradezu vom »Höhepunkt in der Argumentation« sprechen soll (so Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHKNT 7, Leipzig 1996, 195), ist eine andere Frage – zumal, wenn man die Fortsetzung betrachtet. 75 Lk 7,10b: ŅĘēęĜčƩěžőěčƪĞđĜĞęȘĖēĝĒęȘ[Mt 10,10b: ĞǻĜĞěęĠǻĜ] ċƉĞęȘ. Vgl. 1 Tim 5,18b, wo die Lk-Fassung neben dem ausdrücklich als čěċĠƮ eingeführten Wort aus Dtn 25,4 (vgl. 1 Kor 9,9) zitiert wird. 76 őčƵĎƫęƉĔƬġěđĖċēęƉĎďėƯĞęƴĞģė. Man wird kaum sagen können, die in 9,14 zitierte Regel habe »selbstverständlich … auch für Paulus Gültigkeit« (so Kertelge, Autorität [s. Anm. 56], 370). 77 Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 40), 308. »Es wäre ja auch höchst ungeschickt, würde er sich offen dem Vorwurf aussetzen, er habe ein Gebot des Herrn missachtet.« (ebd.) 78 Insofern scheint es mir problematisch zu sein, wenn Neirynck, Paul (s. Anm. 20), 320 (= Evangelica II, 566) meint, in 9,14 sei »the Lord’s command« verstanden »as a right given to those who proclaim the gospel and Paul feels himself free not to make use of this right«. Nach Kertelge, Autorität (s. Anm. 56), 371 will Paulus bei der Anwendung der 74

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(ĎēƬĞċĘďė)79, die nicht an die Gemeinden gerichtet ist, sondern an die ĞƱ ďƉċččƬĕēęėĔċĞċččƬĕĕęėĞďĜ, also auch an Paulus selbst. Paulus sagt nicht, er nehme ein ihm zustehendes »Recht« nicht wahr, sondern er weigert sich, die Weisung des ĔƴěēęĜ an die Verkündiger des Evangeliums für sich selber anzuwenden. Die dafür in V. 15b–18 gegebene erläuternde Begründung80 nennt keine »höhere Norm«, die Paulus dazu bevollmächtigt, der Weisung des ĔƴěēęĜ nicht zu folgen; vielmehr sieht er seinen besonderen Auftrag offenbar gerade darin, dass er das ďƉċččďĕưĐďĝĒċē anders praktiziert, als es von Jesus geboten worden war. Er beruft sich nicht auf eine ihm womöglich zuteilgewordene besondere Offenbarung oder auf eine ihm von Jesus gewährte »Ausnahmeregelung«, sondern er legitimiert sein Recht zum Widerspruch gegen die Weisung des ĔƴěēęĜ einfach durch den Verweis auf seine Person – man könnte sagen: durch den Verweis auf seine besondere Erfahrung.81 3. Warum erwähnt Paulus in 1 Kor 7,10 und 9,14 die Weisungen des ĔƴěēęĜ? Die These, Paulus messe den ihm bekannten Weisungen Jesu höchste Autorität zu82, trifft offenkundig nicht zu; aber dieser Befund ist nicht lediglich zu konstatieren83, sondern er ist möglichst auch zu deuten. Rechnete Paulus damit, dass die Weisungen Jesu in Korinth etwa durch Petrus oder auch durch Apollos bereits bekannt waren und er sie deshalb nicht stillschweigend übergehen konnte? Das lassen die Texte nicht erselbstverständlich auch für ihn geltenden Regel »allerdings seinen eigenen Verstehenskanon vom Dienst am Evangelium gewahrt wissen, der zur Verdeutlichung dieses Dienstes unter Umständen auch die Möglichkeit des Verzichts einschließt«; so bleibe das Herrenwort »für ihn verbindlich, nur besagt es für ihn in einer besonderen Deutlichkeit, daß der Apostel dem Evangelium zu dienen hat und nicht umgekehrt«. Hier zeige sich »die vom Kyrios Jesus abgeleitete Autorität des Apostels, die eine interpretierende Anwendung des Herrenwortes nicht überflüssig macht, sondern vielmehr fordert«. Kann man es noch »Auslegung« nennen, wenn de facto die Position des Widerspruchs eingenommen und begründet wird? 79 Vgl. 1 Kor 16,1. 80 V. 15a schließt adversativ unmittelbar an V. 14 an. Mit V. 15b beginnt m. E. ein neuer Argumentationsgang, der bis einschließlich V. 18 reicht und erläutert, warum Paulus die Gedanken von 9,4–15a vorgetragen hatte. Wollte man V. 15a und V. 15b unmittelbar miteinander verknüpfen, wie es etwa die Druckanordnung in Nestle-Aland27 nahelegt, so wäre das ęƉĔŕčěċĢċĎƫĞċȘĞċ jedenfalls nicht adversativ, sondern gegenüber V. 15a eher explikativ, fast begründend zu deuten (s.o. Anm. 68). 81 Man kann fragen, ob die Aussagen vor allem von V. 16 in dem Sinn als Erfahrungssätze zu verstehen sind, dass Paulus die ŁėƪčĔđ und das ęƉċưĖęē im psychologischen Sinne meint Aber diese Aussagen sind als theologisch reflektierte Interpretation der eigenen Erfahrung des Apostels zu deuten, nicht als direkte Abbildung dieser Erfahrung. 82 S.o. Anm. 4. 83 Vgl. die in Anm. 37 zitierten Aussagen von Kuhn und Köster. Mit solchen Feststellungen ist der Befund zunächst einmal beschrieben, er ist jedenfalls noch nicht theologisch erklärt.

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kennen.84 Dass umgekehrt die Herkunft dieser Worte von Jesus »für Paulus keine besondere Bedeutung« hatten85, wird man aber auch nicht sagen können, denn er weist an beiden Stellen auf diese Herkunft ausdrücklich hin. Offenbar hatte Paulus tatsächlich die Absicht, auf die Möglichkeit (bzw. auf die Realität) der Nichteinhaltung der auf den ĔƴěēęĜ zurückgehenden Norm im konkreten Fall explizit hinzuweisen. Die Weisungen des Herrn hatten ja nicht den Einzelfall im Blick, sondern sie waren – gerade auch in der Art, wie sie von Paulus referiert werden  – grundsätzlich formuliert86; Paulus will den korinthischen Christen offensichtlich vor Augen führen, dass es in bestimmten konkret gegebenen Fällen Alternativen für das Verhalten gibt, die der Einzelne selber – konkret:Paulus – zu verantworten hat. Beim Thema »Unterhalt« (9,13–18) ist das deutlich zu erkennen, da Paulus in V. 15–18 mit großem Nachdruck betont, die Nichteinhaltung der Weisung Jesu gegenüber den Korinthern sei geradezu ein integrierender Bestandteil seines apostolischen Selbstverständnisses. Anlaß für diese Darlegungen könnte ein in Korinth erhobener Vorwurf gewesen sein, sein Verzicht auf Unterhalt durch die Gemeinde lasse seine Unsicherheit erkennen. Paulus stellt dem entgegen, dass sein Verzicht tatsächlich nicht nur im Widerspruch zur allgemeinen Sitte und zum ėƲĖęĜ des Mose steht, sondern dass er damit sogar einer Weisung des ĔƴěēęĜ zuwiderhandelt. Nicht Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Autorität ist mithin die Ursache für sein Verhalten, sondern Ursache ist im Gegenteil die Autorität des »freien« Apostels, der den Herrn gesehen hat (9,1). Von daher läßt sich dann auch die Argumentation in 1 Kor 7,10 f. erklären: Die vom konkreten Einzelfall unabhängige Weisung des ĔƴěēęĜ besitzt als prinzipielle Norm eine nicht überbietbare Würde; aber sie erweist sich als bedeutungslos, wenn sie von denen, an die sie sich richtet, de facto nicht eingehalten wird (V. 11a) und unter Umständen gar nicht eingehalten werden kann (V. 15a). Dann müssen Alternativen genannt werden, und eben das tut der Apostel, auch wenn er sich damit in Widerspruch setzt zur Weisung des ĔƴěēęĜ, der diesen Fall überhaupt nicht vorgesehen gewesen hatte.87 84

Spekulationen darüber, welche Jesus-Tradition in der korinthischen Gemeinde bekannt gewesen sein könnte, sind wenig sinnvoll, da die Korintherbriefe keinerlei entsprechende Information erkennbar werden lassen (zu Wolff, Erster Korintherbrief [s. Anm. 38], 26, der meint, Paulus setze das Wort als bei den Korinthern bekannt voraus). Vgl. Chr. M. Tuckett, 1 Corinthians and Q, JBL 102 (1983) 607–619, hier: 612: Paulus verwendet in 9,14 – anders als in 7,10 – Q-Material, aber es läßt sich nicht zeigen, dass die Korinther diese Aussage gekannt und womöglich gegen Paulus ins Feld geführt haben. 85 So Köster, Grundtypen (s. Anm. 37), 211 Anm. 47. 86 Es ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung, welche spezielle Funktion die Aussagen in der Jesus-Tradition ursprünglich gehabt haben; Paulus jedenfalls referiert sie als prinzipiell gültige Anweisungen des ĔƴěēęĜ. 87 Vgl. Murphy-O’Connor, Woman (s. Anm. 38), 606: »The dominical logion does not control Paul’s thought in 7:1–11; it is brought in as an afterthought because of its pas-

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Die Verwendung der beiden Aussagen Jesu im Ersten Korintherbrief zeigt, dass sich Paulus legitimiert sah, die gegenwärtig zu verantwortende Entscheidung im Einzelfall höher einzustufen als eine überkommene allgemeine Norm  – und ginge diese auch auf den ĔƴěēęĜ selber zurück. Im Grunde verfährt Paulus nicht anders als es beispielsweise Matthäus und Lukas tun, wenn sie ein ihnen aus dem Markusevangelium überliefertes Wort der Jesus-Tradition stillschweigend verändern oder es – wie etwa im Fall des Logions Mk 2,27 – ganz streichen. Ein wesentlicher Unterschied liegt allerdings darin, dass Paulus seinen kritischen Umgang mit der JesusTradition den Adressaten gegenüber bewußt offenlegt und sie so an dem Risiko seines theologischen Denkens unmittelbar teilhaben läßt.

2. Mögliche Anspielungen auf »Herrenworte« Ob sich darüber hinaus bei Paulus auch »Anspielungen« auf Jesusworte finden, ohne dass sie ausdrücklich zitiert werden, ist umstritten. Dale C. Allison rechnet mit einer großen Zahl solcher Anspielungen88, während umgekehrt Nikolaus Walter lediglich innerhalb von Röm 12,9–21 »ein ganzes Geflecht von Berührungen mit Jesusworten«89 findet und ein »ähnliches ›Nest‹« in 1 Kor 4,11–1390. Walter betont, dass in beiden Fällen die verwendeten Jesuslogien im Zusammenhang des Grundbestandes der Bergpredigt stehen, aber »ob Paulus die Worte in dem Bewußtsein gebraucht, daß es sich um JesusWorte handelt«, lasse sich nicht sagen.91 S. Kim92 findet in 1 Thess 5,1–11 Anspielungen auf wenigstens vier Jesusworte: Das auf die Parusie bezogene Wort vom »Dieb in der Nacht« (1 Thess 5,2) gehe auf Lk 12,39 f./Mt 24,43 f. zurück; die in Lk 21,34–36 ausgesprochene und ähnlich auch in Lk 12,36–38 belegte Mahnung zur Wachsamkeit sei Basis für 1 Thess 5,6; die Warnung vor »Trunkenheit und Schlaf« (1 Thess 5,6.10) erinnere an die Parabel in Lk toral utility«. »We are forced to the conclusion that Paul considered Jesus’ prohibition of divorce, not as a binding precept, but as a significant directive whose relevance to a particular situation had to be evaluated by the pastor responsible for the comunity. Paul found it useful in one case but inappropriate in another.« Vgl. Conzelmann, Erster Korintherbrief (s. Anm. 57), 152: »Die Anordnung des historischen Jesus … ist überzeitliches Gebot. Die Geschichtlichkeit des Gebots ist dadurch nicht aufgehoben.« (Hervorhebungen von mir) 88 Allison, Pauline Epistles (s. Anm. 20), passim. 89 Walter, Paulus (s. Anm. 20), 501 sieht Beziehungen zwischen Röm 12,14 und Lk 6,28a bzw. Mt 5,44b; ferner zwischen Röm 12,17a und Lk 6,29 bzw. Mt 5,39b–41; sowie zwischen Röm 12,18 und Mk 9,50 bzw. Mt 5,9 sowie zwischen Röm 12,19–21 und Lk 6,27a.36 bzw. Mt 5,44. 90 Walter (s. die vorige Anm.) sieht Beziehungen zwischen 1 Kor 4,11a und Lk 6,21a bzw. Mt 5,6 sowie zwischen 1 Kor 4,12b–13 und Lk 6,22 f. bzw. Mt 5,11 f. und Lk 6,27 f. 91 Walter ebd. 92 Kim, Jesus Tradition in 1 Thess 4.13–5.11 (s. Anm. 26).

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12,41–48/Mt 24,45–51. Berücksichtige man darüber hinaus auch die Aussagen über den ĕƲčęĜĔğěưęğ in 1 Thess 4,15–17, so zeige sich, dass Paulus im Ersten Thessalonicherbrief in relativ großem Umfang Jesustradition benutzt hat, während andererseits dieser Brief ja kein einziges Schriftzitat enthält. Aber in 1 Thess 5,1–11 findet sich kein Hinweis darauf, dass Paulus eine der Aussagen bewußt mit Jesustradition in Verbindung bringt. Die nach 4,15a őėĕƲčȣĔğěưęğ formulierte Aussage in 4,15b und die dann folgende »kleine Apokalypse« in V. 16 f., die vom ĔƴěēęĜ in der 3. Person spricht, sind jedenfalls nicht in der uns bekannten Jesusüberlieferung zu finden, und vor allem zeigt die Wendung in V. 15a, dass die Aussage kein »Herrenwort« im Sinne von 1 Kor 7,10 usw. ist, sondern eine in der Vollmacht des ĔƴěēęĜ gesprochene Verheißung für die Adressaten.93

3. Erzählende Jesusüberlieferung bei Paulus Kennt Paulus Erzählungen über Jesus? N. Walter meint, die Paulusbriefe ließen »keinerlei Kenntnis der erzählenden Jesusüberlieferung erkennen«. Die einzige Ausnahme sei möglicherweise die Abendmahlstradition in 1 Kor 11,23–25; dieser Text stammt aber, so fügt Walter hinzu, »aus liturgisch-ritueller Tradition« und hat »insofern eine Sonderstellung«.94 Demgegenüber betont etwa Udo Schnelle, die paulinischen Briefe seien »mit narrativen Elementen und Bezugnahmen durchzogen, die gleichermaßen die Geschichte des irdischen Jesus wie seine Auferstehung und Parusie thematisieren«. Er nennt als Belege neben 1 Kor 11,23b–25 vor allem 1 Kor 15,3b–5 sowie Phil 2,6–11; Gal 4,4, damit verbunden Röm 1,3 und Röm 8,395: Paulus »setzt in seinen Briefen eine Kenntnis der Jesus-Christus-Geschichte durch die Gemeinden voraus und nimmt durchgehend auf sie Bezug«.96 Läßt sich diese These verifizieren? 1. In Röm 1,3–4 zitiert Paulus eine vermutlich vor- bzw. nebenpaulinische »Formel«.97 Aus dem Hinweis auf die Herkunft Jesu őĔĝĚƬěĖċĞęĜïċğƯĎ 93

Vgl. H. Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 377–404. hier: 388: »Der Apostel beansprucht, daß seine Rede in der Weise des Sprechens des Herrn geschieht. Er spricht in der Autorität des Herrn.« (Hervorhebungen im Orig.) 94 Walter, Paulus (s. Anm. 20), 503. 95 U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 98 f. 96 Schnelle, Paulus, 99 unter Verweis auf E. Reinmuth, Narratio und argumentatio. Zur Auslegung der Jesus-Christus-Geschichte im Ersten Korintherbrief, ZThK 92 (1995) 13–27. 97 Zur Analyse vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003, 64.

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ĔċĞƩĝƪěĔċ wird bisweilen gefolgert, Paulus habe von der davidischen Herkunft Jesu bzw. des Joseph gewußt; aber die Wendung őĔĝĚƬěĖċĞęĜïċğưĎ ist an dieser Stelle eine implizite Messiasbezeichnung (»Sohn Davids«), auch wenn David bei Paulus sonst nicht mit der Messiasvorstellung in Verbindung gebracht wird (Röm 4,6; 11,9). Jedenfalls ist aus Röm 1,3 bzw. aus der dort verwendeten Tradition nur das abzuleiten, was explizit gesagt ist – nämlich der eher theologisch als genealogisch zu verstehende Gedanke, Jesus sei entsprechend biblischer Tradition (»Samen Davids«) Messias »nach dem Fleisch«. Ein Wissen über Jesu Familie ist damit nicht verbunden.

2. Größeres Gewicht kommt der in 1 Kor 11,23–25 enthaltenen Abendmahlsüberlieferung zu. Paulus erwähnt ausdrücklich, dass er eine den Adressaten bereits bekannte Tradition im Wortlaut zitiert, die auf den ĔƴěēęĜ zurückgeht. Ob es sich um eine »kultgebundene Einzelüberlieferung« handelt98, ist fraglich; die Argumentation des Paulus in 1 Kor 11,17–34 läßt vielmehr vermuten dass die »Abendmahlsworte« keineswegs regelmäßig während der gemeindlichen Mahlfeiern in Korinth »liturgisch« rezitiert wurden. Paulus hätte darauf wohl ausdrücklich hingewiesen, und er hätte zugleich wohl nicht gemeint, schon das bloße Zitieren der tradierten Worte könne ein entscheidender Beitrag zur Klärung der Probleme in der korinthischen Gemeinde sein.99 Ganz offensichtlich ist aber über den bloßen Wortlaut der zitierten Überlieferung hinaus im Text und sicherlich auch bei den jetzigen Adressaten in Korinth Hintergrundwissen vorausgesetzt, nach dem jetzt gefragt werden soll. a. Schon die Eingangswendung in V. 23b (ž ĔƴěēęĜ ŵđĝęȘĜ őė ĞǼ ėğĔĞƯ ǎ ĚċěďĎưĎďĞę …) setzt voraus, dass von einem bestimmten historischen Ereignis die Rede ist. Die Zeitangabe (ėğĔĞư) ist nicht symbolisch zu verstehen, sondern sie verweist auf ein Geschehen, das sich nach Auffassung der Tradenten tatsächlich in einer bestimmten Nacht vollzogen hatte. Wie die Wendung ĚċěďĎưĎďĞę aufzufassen ist, läßt sich kaum genau sagen: Steht im Hintergrund die Kenntnis der  – nach der Darstellung der Evangelien auf Judas zurückgehenden – »Übergabe« Jesu, also des »Verrats«? Verweist ĚċěďĎưĎďĞę auf die »Auslieferung« des ĔƴěēęĜ durch Gott? Möglicherweise ist überhaupt nicht ein bestimmtes logisches Subjekt zu ergänzen, d.h. die handelnde Person bleibt bewußt ungenannt. b. In V. 24–25 folgt die Schilderung des eigentlichen Mahlgeschehens; damit verbunden sind die »Deuteworte« Jesu. Diejenigen, die diese Worte 98

So J. Becker, Paulus (s. Anm. 27), 121. So auch H. J. de Jonge, Avondmal en symposium. Oorsprong en eerste ontwikkeling van de vroechristelijke samenkomst, Universiteit Leiden 2007, 6 f. De Jonge verweist als wesentliches Argument auch auf die Mahlgebete der Didache, die sich auf das Abendmahl beziehen, ohne einen Hinweis auf die »Abendmahlsworte« erkennen zu lassen. 99

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kennen, wissen also, dass es am letzten Abend vor der »Auslieferung« Jesu eine Mahlzeit gab, in der Jesus mit den Worten ĞęȘĞƲĖęƴőĝĞēėĞƱĝȥĖċ ĞƱƊĚƫěƊĖȥė hinsichtlich des Brotes und ŞĔċēėƭĎēċĒƮĔđőĝĞƯėőėĞȦőĖȦ ċŲĖċĞē hinsichtlich des Kelches seinem Tod Heilsbedeutung gab.100 Jesus wandte sich dabei an andere Anwesende, wie die Anrede in der 2. Pers. Plural zeigt, auch wenn der Status dieser »anderen« nicht näher expliziert wird.101 Die Adressaten bzw. Tradenten der Mahlworte wissen natürlich, dass Jesu »Auslieferung« zu seinem Tod führte; vom Kreuzestod wird hier nicht gesprochen, aber das entsprechende Wissen ist im Kontext jedenfalls der paulinischen Gemeinden, zumal im Falle von Korinth, vorauszusetzen. c. Der in V. 26 ergänzend angefügte, von Paulus selber formulierte Nachsatz über die Verkündigung des Todes Jesu bis zur Parusie (ĞƱėĒƪėċĞęėĞęȘ ĔğěưęğĔċĞċččƬĕĕďĞďŅġěēęƐŕĕĒǹ) zeigt indirekt, dass der Glaube an die Auferstehung des ĔƴěēęĜ vorausgesetzt ist, auch wenn diese nicht erwähnt wird. Ergebnis: Die in 1 Kor 11,23–25(26) zitierten Mahlworte setzen ein Wissen um das Passionsgeschehen voraus, das über die bloße Kenntnis des (Kreuzes-)Todes Jesu hinausgeht; aber weitere Details etwa der in den Evangelien erkennbaren Passionsüberlieferung scheinen nicht bekannt zu sein. 3. Auch in 1 Kor 15,3–5(7) liegt ein ausdrücklich als wörtlich zitierte »Tradition« bezeichneter Text vor; auf die zahlreichen unterschiedlichen Analysen und insbesondere auf die Versuche, den Entstehungsort dieses Textes und damit verbunden auch dessen ursprüngliche Sprache zu bestimmen, ist hier nicht einzugehen.102 In unserem Zusammenhang soll nur gefragt werden, von welchen Jesus betreffenden »Fakten« in diesem von Paulus einleitend (V. 1) als ďƉċččƬĕēęė bezeichneten Textstück gesprochen ist. 100

J. Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons, WUNT 204, Tübingen 2007, 90 verweist darauf, dass die Tradition der Abendmahlsworte »sich – jedenfalls in dieser Form – nicht auf den irdischen Jesus zurückführen lässt, sondern eine urchristliche Reminiszenz an die Bedeutung des letzten Mahles darstellt«. Vgl. auch J. Schröter, Nehmt – esst und trinkt. Das Abendmahl verstehen und feiern, Stuttgart 2010, 126–128. Paulus allerdings wird die Worte als einen auch im historischen Sinn zuverlässigen Bericht angesehen haben. 101 Nach Mk 14,17–20/Mt 26,20 nimmt Jesus das (Passa-)Mahl zusammen mit »den Zwölf« ein; in Lk 22,14 ist von den ŁĚƲĝĞęĕęē die Rede, die für Lukas freilich mit »den Zwölf« identisch sind. 102 Vgl. dazu immer noch H. Conzelmann, Zur Analyse der Bekenntnisformel 1. Kor. 15,3–5 (1965), in: Ders., Theologie als Schriftauslegung. Aufsätze zum Neuen Testament, BEvTh 65, München 1974, 131–141; H. J. de Jonge, Visionary Experience and the Historical Origins of Christianity, in: R. Bieringer / V. Koperski / B. Lataire (eds.), Resurrection in the New Testament. Festschrift J. Lambrecht, BEThL 165, Leuven 2002, 35–54, hier: 37–48.

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I Israel – Jesus – Paulus

a. Die Person, um die es geht, wird als āěēĝĞƲĜ bezeichnet. Wer damit gemeint ist, wird als bekannt vorausgesetzt; vermutlich hat Paulus das artikellose Wort āěēĝĞƲĜ eher als Eigennamen denn als einen Titel aufgefaßt (vgl. Röm 10,4), zumal sich dieser Sprachgebrauch auch im weiteren Fortgang von 1 Kor 15 an vielen Stellen findet. b. Ausgesagt werden vier »Sachverhalte«: Christus ist gestorben (ŁĚƬĒċėďė); er wurde begraben (őĞƪĠđ); er ist auferweckt worden (őčƮčďěĞċē, sc. von Gott); er ist einer bestimmten Person, nämlich dem Kephas, erschienen (ƝĠĒđõđĠǭ). Die an erster und an dritter Stelle genannten »Sachverhalte« (»gestorben«, »auferweckt«) werden jeweils auf zweifache Weise näher expliziert: Das Sterben des āěēĝĞƲĜ geschah zum einen für unsere Sünden (ƊĚƫěĞȥė łĖċěĞēȥėŞĖȥė), und zum andern gemäß der Schrift (ĔċĞƩĞƩĜčěċĠƪĜ). Die Auferweckung des āěēĝĞƲĜ geschah zum einen am dritten Tage (ĞǼŞĖƬěǪ ĞǼĞěưĞǹ) und zum andern ebenfalls gemäß der Schrift (ĔċĞƩĞƩĜčěċĠƪĜ). Die Formulierungen zeigen, dass nicht die »Sachverhalte« als solche – also das Sterben und die Auferweckung des āěēĝĞƲĜ – entscheidend sind, sondern der mit dem »Sachverhalt« jeweils verknüpfte Bezug auf die čěċĠċư. Von einem näheren Wissen um die Passions- und Osterüberlieferung etwa im Sinne der synoptischen Tradition ist dabei allerdings nichts zu erkennen. Das gilt insbesondere auch für die an zweiter und an vierter Stelle stehenden Aussagen: Das őĞƪĠđ verweist nicht auf ein Wissen vom (leeren) Grab, und das ƝĠĒđõđĠǭ läßt einen Rückgriff auf eine Erscheinungserzählung nicht erkennen. Letzteres entspricht freilich insofern durchaus der Evangelienüberlieferung, als von der (Erst-)Erscheinung des Auferstandenen vor Petrus ja auch dort nicht erzählt wird; diese wird lediglich in Lk 24,34 formelhaft erwähnt.103 Hingegen wird vorausgesetzt, dass die Tradenten (und ebenso die Rezipienten) wissen, wer Kephas ist; in Korinth ist das tatsächlich der Fall, wie die Existenz der »Petruspartei« und die Aussage des Paulus in 1 Kor 9,5 zeigen. c. Das in V. 5b absolut gebrauchte ęŮ ĎƶĎďĔċ begegnet außerhalb der synoptischen Evangelien nur noch in Apg 6,2. Paulus setzt voraus, dass die Adressaten in Korinth vom Zwölferkreis wissen; ob sich mit der Nennung dieser Gruppe auch die Vorstellung verbindet, dass es sich um die Begleiter des irdischen Jesus handelt, läßt sich aber nicht sagen.104

103 Zur Problematik des besonderen Gewichts, das in der Regel den Aussagen über die »Erscheinung« des Auferstandenen zugesprochen wird, vgl. den in Anm. 102 genannten Aufsatz von de Jonge. 104 Dabei kann hier offen bleiben, ob es »die Zwölf« als Begleiter Jesu historisch gegeben hat oder ob es sich erst um einen Kreis handelt, der sich erst nach bzw. aufgrund der Erscheinungen des Auferstandenen bildete.

Paulus und die Jesustradition

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d. Auf welches Ereignis sich die in V. 6a erwähnte Erscheinung »vor mehr als 500 Brüdern auf einmal« (ƝĠĒđőĚƪėģĚďėĞċĔęĝưęēĜŁĎďĕĠęȉĜőĠƪĚċĘ) bezieht, ist ganz unklar. Man kann fragen, ob V. 6a immer schon zu dem von Paulus zitierten ďƉċččƬĕēęė gehört hat; jedenfalls ist die in V. 6b hinzugefügte Erläuterung nicht als Teil der »festen Tradition« anzusehen105. D. Häußer hat vorgeschlagen, hier »eine Verbindung zu dem in Mt 28,16 ff. berichteten Geschehen zu erwägen«. Es sei »historisch sehr gut denkbar, dass zusammen mit den ›Zwölf‹ auch andere Jünger aus Jerusalem nach Galiläa gingen«, wobei man nicht zuletzt an die vielen aus Galiläa stammenden Jerusalempilger denken dürfe. In Mt 28,16 f. seien ja zwei unterschiedliche Gruppen genannt: Von der einen Gruppe, den ŖėĎďĔċĖċĒđĞċư, werde gesagt, dass sie den Auferstandenen »anbeteten« (ĔċƯ ŭĎƲėĞďĜċƉĞƱėĚěęĝďĔƴėđĝċė), über »die anderen« dagegen werde gesagt, sie hätten gezweifelt (ęŮĎƫőĎưĝĞċĝċė). Von zwei Gruppen müsse deshalb die Rede sein, da »wahre Anbetung und Zweifel sich gegenseitig ausschließen«. Es komme hinzu, dass Mt 28,16 ff. nicht von der chronologisch ersten Erscheinung spreche, denn die in Lk 24,13–34 geschilderte Erscheinung in bzw. bei Jerusalem sei ja vorausgegangen106. Aber diese Annahmen haben alle Wahrscheinlichkeit gegen sich: Zum einen läßt Mt 28 nicht erkennen, dass es sich bei den »elf Jüngern« (28,16), die gemäß der Weisung Jesu in 28,7 bzw. 26,32 nach Galiläa gingen, in Wahrheit um »mehr als 500 Brüder« gehandelt haben könnte. Noch problematischer ist zum andern die Annahme, Matthäus habe mit seiner Bemerkung in 28,17 sagen wollen, von diesen Menschen hätten nur »die elf Jünger« den Auferstandenen »angebetet«, während alle anderen »zweifelten«107. Und in höchstem Maße methodisch fragwürdig ist schließlich die von Häußer vorgenommene chronologische Harmonisierung von Lk 24,13–34 mit Mt 28,16–20. Es muß also bei der Feststellung bleiben, dass es für das in 1 Kor 15,6a erwähnte Geschehen keinerlei weitere Belege gibt.

e. Die in V. 7 folgende, offensichtlich analog zu V. 5 formulierte Notiz über die Erscheinung vor Jakobus und »allen Aposteln« setzt voraus, dass man weiß, wer »Jakobus« ist. Sehr wahrscheinlich ist der in Gal 1,19 erwähnte Bruder Jesu gemeint108; aber näheres Detailwissen ist damit offensichtlich 105 Aus der Notiz, dass die meisten dieser fünfhundert Brüder noch leben, wird bei M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, mit einem Beitrag von E. A. Knauf, WUNT 108, Tübingen 1998, 438 gefolgert, dass Paulus »neuere Informationen aus Jerusalem besitzt, d.h. mit der Gemeinde dort trotz aller Spannungen indirekt oder direkt in Verbindung stand«. Wie man sich derartige Informationen über die Lebensdaten der fünfhundert Brüder konkret vorstellen soll, erfährt man leider nicht. Das Gewicht in V. 6b liegt m. E. auf der Aussage, dass »einige von ihnen« bereits gestorben sind – d.h. den Korinthern wird gesagt, dass selbst Augenzeugen des Auferstandenen sterben. Als »Zeugen«, die man hätte befragen können, werden sie jedenfalls nicht genannt (vgl. Lindemann, Erster Korintherbrief [s. Anm. 39], 333). 106 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 134. 107 Vgl. W. D. Davies / D. C. Allison, Jr., The Gospel according to Saint Matthew. Volume III (ICC), Edinburgh 1997, 681 f.: Mt sage einfach nur, dass »some [of the disciples] doubted« – andere Auslegungen werden mit klarer Argumentation zurückgewiesen. 108 Vgl. den Hinweis auf die ŁĎďĕĠęƯĞęȘĔğěưęğ in 1 Kor 9,5.

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I Israel – Jesus – Paulus

nicht verbunden.109 Der Hinweis auf »alle Apostel« ist ganz unspezifisch und läßt von deren möglicher Verbindung mit dem irdischen Jesus nichts erkennen; Paulus erwähnt »Apostel« als offene Gruppe auch in 1 Kor 9,5 und 12,28. Ergebnis: Die in 1 Kor 15,3b–5(7) zitierte Formel spricht vom Tod und von der Auferweckung Jesu; weiteres Wissen über den vorösterlichen Jesus läßt sie nicht erkennen. Die Erwähnung der »mehr als fünfhundert Brüder« sowie das Stichwort »alle Apostel« sprechen immerhin für die Annahme, dass die (offenbar sekundär erweiterte) Formel ein vergleichsweise rasches Anwachsen der Gemeinde voraussetzt. 4. Die Aussage in Gal 4,4–6 wird gelegentlich als eine »biographische« Notiz über Jesus angesehen. Die einleitende Wendung őĘċĚƬĝĞďēĕďėžĒďƱĜĞƱė ğŮƱėċƉĞęȘ setzt vermutlich den Präexistenzgedanken voraus110, und die beiden partizipialen Aussagen in V. 4b (… čďėƲĖďėęėőĔčğėċēĔƲĜčďėƲĖďėęė ƊĚƱėƲĖęė) besagen, dass der so von Gott gesandte Sohn als Mensch, und zwar als Jude geboren wurde. D. Häußer folgert aus Gal 4,4, Paulus habe »eine Kenntnis von den hinter Lk stehenden Traditionen und Vorstellungen gehabt«; so könnte ihm eine (schriftliche oder mündliche) Jesustradition vorgelegen haben, »die auch über Jesu Geburt berichtete«. Gehe man von dieser Annahme aus, so dürfe man auch einen Bezug zur Tradition der Jungfrauengeburt für möglich halten111. Überhaupt sieht Häußer in Gal 4,4 »wichtige Aspekte der Geschichte Jesu« ausgesagt; er fügt hinzu: »Theoretisch könnte diese auch nach V. 4 fortgeführt werden, aber die Formel bricht beim Stichwort ėƲĖęĜ die Jesusgeschichte ab, um zwei Finalsätze anzuschließen.«112 Nun zeigt aber V. 5, warum gerade der zweite Aspekt in V. 4 (čďėƲĖďėęĜ ƊĚƱėƲĖęė) betont ist: Ziel der Sendung des Sohnes Gottes als Mensch »unter dem Gesetz« war es, dass er »die unter dem Gesetz stehenden Menschen loskaufen sollte« (ŲėċĞęƳĜƊĚƱėƲĖęėőĘċčęěƪĝǹ); dabei zeigt die Fortsetzung (Ųėċ Ğƭė ğŮęĒďĝưċė ŁĚęĕƪČģĖďė), dass hier der in V. 1 eingeführte Gegensatz von »Sohn« und »Sklave« im Blick ist. Die Wendung ĞƱĚĕƮěģĖċ ĞęȘġěƲėęğ (V. 4a) besagt dann, dass sich »die Zeit«, die zur »Sohnschaft« führen sollte, durch Gottes Sendung seines Sohnes »erfüllte«, damit »wir« die »Sohnschaft« im Sinne von V. 1 empfangen sollten (V. 5). Kennzeichen 109 Vgl. dazu W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987, 30–48, vor allem 48: Es sei wahrscheinlich, dass »V. 7 in rivalisierender Tendenz dem selbst aber unpolemischen V. 5 nachgebildet wurde, um gegenüber Petrus den Herrenbruder Jakobus ins Zentrum zu rücken«. 110 An eine Sendung im Sinne von Joh 1,6 (őčƬėďĞęŅėĒěģĚęĜŁĚďĝĞċĕĖƬėęĜĚċěƩĒďęȘ) ist wohl nicht zu denken. 111 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 327. 112 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 307.

Paulus und die Jesustradition

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der neuen Existenz in dieser ğŮęĒďĝưċ ist dann nach V. 6 der von Gott durch den Geist seines Sohnes ermöglichte Ruf ċČČċžĚċĞƮě. Diese Anrede an Gott findet sich auch in der Jesusüberlieferung (Mk 14,36); aber der Zusammenhang bei Paulus (őĘċĚƬĝĞďēĕďėžĒďƱĜĞƱĚėďȘĖċĞęȘğŮęȘċƉĞęȘďŭĜ ĞƩĜĔċěĎưċĜŞĖȥė) spricht gegen die Annahme, dass der Apostel das ċČČċž ĚċĞƮě vom irdischen Jesus herleitet.113 5. Auch in Phil 2,6–11 werden bisweilen Bezugnahmen auf das irdische Leben Jesu gesehen. D. Häußer meint, in V. 6–8 liege möglicherweise eine Anspielung auf die synoptische Versuchungsgeschichte vor, insofern Jesus hier wie dort bewußt den Weg der Niedrigkeit gehe114; »die vielfältigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Begriffen und Aussagen in Phil 2,6–8 und Mk 10,45 belegen eine direkte Anknüpfung der vorpaulinischen Tradition an das Jesuslogion.«115 Aber diese Interpretation setzt voraus, dass die Aussagen in Phil 2,6 auf den irdischen Jesus bezogen sind, was angesichts der Wendungen őė ĖęěĠǼ ĒďęȘ ƊĚƪěġģė sowie ęƉġ łěĚċčĖƱė ŞčƮĝċĞę ĞƱ ďųėċē űĝċ ĒďȦ zumindest sehr unwahrscheinlich ist.116 Jedenfalls läßt sich das in den Versuchungserzählungen in Mt 4,1–11 bzw. Lk 4,1–13 geschilderte Verhalten Jesu gegenüber dem Teufel nicht in den Kategorien von Phil 2,6 erklären. Und wenn Häußer feststellt, die Worte ĒċėƪĞęğĎƫĝĞċğěęȘ am Ende von V. 8 weckten »selbstverständlich auch eine Assoziation zum Bericht von der Kreuzigung Jesu«, so geht das weit über das tatsächlich im Text Erkennbare hinaus; Häußer fügt denn auch hinzu, die »Anknüpfung« an diesen Bericht werde »nicht weiter entfaltet und hat so kein eigenes Gewicht«.117 Wäre die genannte Argumentation plausibel, dann ließen sich alle Erwähnungen des 113 Die enge Parallele in Röm 8,15 (hier wie dort begegnet das Verb ĔěƪĐģ) spricht dafür, dass es sich um einen liturgischen Gebetsruf handelt; vgl. Lohse, Brief an die Römer (s. Anm. 42), 241. 114 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 251: »Die Aussagen in Phil 2,6–8 über Jesu Verzicht, seine Gottgleichheit zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen, und über Jesu Selbsterniedrigung (V. 8a) und sein Dienersein (V. 7b) legen eine (zumindest indirekte) Verbindung zur Versuchungsgeschichte nahe.« 115 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 256 (im Original kursiv). Das Logion Mk 10,45 (žğŮƱĜĞęȘŁėĒěĨĚęğęƉĔţĕĒďėĎēċĔęėđĒǻėċēŁĕĕƩĎēċĔęėǻĝċēĔċƯĎęȘėċēĞƭė ĢğġƭėċƉĞęȘĕħĞěęėŁėĞƯĚęĕĕȥė) wird häufig als ein im historischen Sinne authentisches Jesuswort angesehen; aber das ist sehr fraglich. 116 Da in Phil 2,7b.8 von der Menschwerdung die Rede ist, spricht alles dafür, dass V. 6 vom Präexistenten spricht, der (V. 7) in der »Kenosis« Knechtsgestalt annahm, indem er Mensch wurde. Vgl. S. Vollenweider, Die Metamorphose des Gottessohns. Zum epiphanialen Motivfeld in Phil 2,6–8, in: Ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 285–306. 117 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 259.

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I Israel – Jesus – Paulus

Kreuzes Jesu bei Paulus als »Anknüpfung« an den Passionsbericht der synoptischen Überlieferung deuten. Im Blick auf das Logion Mk 10,45, das von Häußer wie auch von vielen anderen Exegeten auf Jesus selber zurückgeführt wird, sieht er die entscheidenden Parallelen zum einen in dem hier wie dort begegnenden ęƉĔ – Łĕĕƪ und zum andern in einer Berührung des Begriffs ğŮƱĜĞęȘŁėĒěƶĚęğ mit der Wendung őėžĖęēƶĖċĞēŁėĒěƶĚģė čďėƲĖďėęĜ in Phil 2,7; eine »Analogie« bestehe zwischen der Wendung ĎēċĔęėǻĝċē ĔċƯĎęȘėċēĞƭėĢğġƭėċƉĞęğ in Mk 10,45 und der Aussage ŁĕĕƩŒċğĞƱėőĔƬėģĝďė … čďėƲĖďėęĜƊĚƮĔęęĜĖƬġěēĒċėƪĞęğ in Phil 2,7.8. Es sei darüber hinaus auch möglich, dass die Wendungen ĕƴĞěęėŁėĞƯĚęĕĕȥė und ĒċėƪĞęğĎƫĝĞċğěęȘ miteinander in Beziehung stehen.118 Aber in Phil 2,6 f. ist von der Selbsterniedrigung des Präexistenten die Rede, in Mk 10,45 dagegen von der irdischen Praxis des gekommenen Menschensohnes.119

Die Aussagen in Phil 2,6–8 lassen sich nicht mit irgendeiner Überlieferung vom Leben Jesu in Verbindung bringen; es fällt aber auf, dass durch den vermutlich von Paulus eingefügten Hinweis auf Jesu Tod am Kreuz (V. 8c) die Sklavenexistenz Christi in der Historie verankert wird.120 6. In 1 Thess 2,14–16 spricht Paulus von Verfolgungen, die die (Heiden-) Christen in Thessalonich von ihren Mitbürgern (ƊĚƱĞȥėŭĎưģėĝğĖĠğĕďĞȥė) in gleicher Weise erfahren hätten wie die (juden-)christlichen Gemeinden in Judäa von den Juden (V. 14).121 Diese ŵęğĎċȉęē, so fährt Paulus in V. 15 fort, haben Jesus getötet und auch die Propheten, und sie haben »uns« verfolgt.122 Deutet sich hier das Wissen an, dass judäische, also Jerusalemer Juden am Prozeß und an der Hinrichtung Jesu beteiligt gewesen waren?123 Jedenfalls läßt die Aussage genauere Informationen nicht erkennen; im Hintergrund 118

Vgl. die Übersichtsskizze bei Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 258. Demgegenüber meint Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 350 dem Logion Mk 10,45 par. komme »eine herausragende Rolle für die von Paulus rezipierten urchristlichen Bekenntnis- bzw. katechetischen Texte« zu – es bestünden Verbindungen zu 1 Kor 15, Phil 2 und Gal 4. 120 Vollenweider, Metamorphose (s. Anm. 116), 304 meint, »das epiphaniale Muster« habe »von Haus aus ein geradezu doketistisches Gefälle: Die Verborgenheit des Gottwesens im irdischen Leib ist instabiel und permeabel«, was in V. 7c.d deutlich werde, doch werde diese Topik »durch das Moment der Selbsterniedrigung bis in den Tod hinein wiederum erheblich umgebrochen«. 121 Die Vergangenheitsform őĚƪĒďĞď deutet an, dass das Leiden zurückliegt. 122 Vgl. Wolter, Paulus (s. Anm. 2), 415: Der Text spricht in V. 15a.b vom Handeln »der Juden« in der Vergangenheit; aber die Aussagen in V. 15c.d sind im Präsens formuliert und beschreiben insofern eine »Eigenart« der Juden, wobei sich Paulus typischer antijüdischer Klischees bedient. 123 Mit hoher Wahrscheinlich sind in 1 Thess 2,14–16 nicht »die (= alle) Juden« gemeint, sondern – wie aus der geographischen Angabe in V. 14 hervorgeht – die in Judäa lebenden Juden. Vgl. V. Furnish, 1 Thessalonians, 2 Thessalonians, ANTC, Nashville TN 2007, 68–74. Anders M. Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zur ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte, 119

Paulus und die Jesustradition

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steht die deuteronomistische Tradition über das gewaltsame Geschick der Propheten in Jerusalem.124 3. Ergebnis D. Häußer stellt in seiner Studie abschließend fest, Paulus habe »mit Sicherheit« die Abendmahlsworte, das Lösegeldwort Jesu und damit auch Jesu Selbstbezeichnung als »Menschensohn« gekannt, ferner die Überlieferungen von Jesu Kreuzigung und Begräbnis sowie von der Auffindung des leeren Grabes und von mehreren Erscheinungen. »Wahrscheinlich« habe Paulus die Jesus-Logien über »Erniedrigung und Erhöhung« gekannt (z. B. Lk 14,11), ebenso Worte, die von Jesus als dem Gesandten bzw. vom Gekommensein Jesu sprechen, ferner die Überlieferung von der Versuchung und das in Mk 12,35–37 parr überlieferte Streitgespräch zur Frage »Gottessohn oder Davidssohn«; dasselbe gelte für die Überlieferung vom Prozeß Jesu, »einschließlich Jesu Selbstbekenntnis vor dem Hohen Rat«. Für immerhin »möglich« hält es Häußer, dass Paulus Kenntnis von Teilen der lukanischen Kindheitsgeschichte sowie von den Leidensankündigungen und vom Winzergleichnis besaß125. Das alles geht weit über das tatsächlich Erkennbare hinaus: Das Wissen, dass Jesus Jude war, ist eine Selbstverständlichkeit; Gal 4,4 bietet insofern keine »Information«, sondern diese Aussage ist ein Teil der auf das Thema ėƲĖęĜ bezogenen Argumentation des Paulus. Zweifellos kannte Paulus einige Jesuslogien; er zitiert sie ausdrücklich als solche, doch lassen sie ein bestimmtes Überlieferungsprofil nicht erkennen. Über die unmittelbar mit Jesu (Kreuzes-)Tod verbundenen Sachverhalte war Paulus entsprechend den in 1 Kor 11,23–25 und 15,3–5(7) zitierten Texten sehr wahrscheinlich informiert, insofern diese Aussagen ungeachtet ihres formelhaften Charakters ein gewisses »Hintergrundwissen« voraussetzen – nicht zuletzt auch im Blick auf die mit »Ostern« verbundenen Personen.126 Dass Paulus darüber hinaus weitere Jesusüberlieferung kannte, ist nicht auszuschließen; es läßt sich aber durch nichts belegen.

BWANT 191, Stuttgart 2010, 29–77; sie kommt freilich in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass der ganze Brief als pseudopaulinisch anzusehen ist. 124 Vgl. im NT außerdem Lk 13,34/Mt 23,37 Q, ferner Mt 23,31 f.; Apg 7,52. Dazu Wolter, Paulus (s. Anm. 2), 415 f. 125 Häusser, Christusbekenntnis (s. Anm. 23), 351 f. Ähnlich Wenham, Paulus (s. Anm. 1), 122 f. 126 Es handelt sich freilich nur um Kephas / Petrus und um den Herrenbruder Jakobus; von den in 1 Kor 9,5 erwähnten »Brüdern des Herrn« weiß Paulus aufgrund der Missionsgeschichte, und welches Wissen er hinsichtlich der » Zwölf« besaß, können wir gar nicht sagen.

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I Israel – Jesus – Paulus

IV. Mögliche Wege von Jesus zu Paulus Für die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie Paulus mit Jesustradition in Beziehung kam, sind als Quellen zuerst die Paulusbriefe zu befragen, dann aber auch Texte der Apostelgeschichte. 1. Beobachtungen in den paulinischen Briefen 1. Der wichtigste Textabschnitt für die hier zu erörternde Frage ist Gal 1,11– 24, in dem Paulus seine »Entwicklung« vom Verfolger zum Verkündiger sowie die Anfangsphase seiner Wirksamkeit als Apostel beschreibt. Welche Informationen hinsichtlich unserer Fragestellung lassen sich hier gewinnen? a. Am Anfang (V. 11–12) steht die betont als Mitteilung an die Adressaten (čėģěưĐģčƩěƊĖȉė) formulierte Aussage des Paulus, das von ihm verkündigte Evangelium entspreche nicht menschlicher Einsicht (ęƉĔ ŕĝĞēė ĔċĞƩŅėĒěģĚęė) und verdanke sich auch nicht menschlicher Überlieferung (ęƉĎƫĚċěƩŁėĒěƶĚęğĚċěƬĕċČęėċƉĞƲ), sondern er sei belehrt worden Ďēdz ŁĚęĔċĕƴĢďģĜŵđĝęȘāěēĝĞęȘ. Behauptet Paulus mit dieser Feststellung von vornherein, er habe keinerlei Jesustradition empfangen? Mit dem Begriff ďƉċččƬĕēęė ist in Gal 1,11, anders als in 1 Kor 15,1 ff., offensichtlich nicht ein bestimmter Wortlaut des Evangeliums bezeichnet, sondern gemeint ist die Substanz von dessen Wahrheit. Diese Wahrheit ist, wie Paulus zuvor in 1,8 f. gezeigt hatte, durchaus tradierbar – Paulus hatte das von ihm verkündigte ďƉċččƬĕēęėĞęȘāěēĝĞęȘ (V. 7) ausdrücklich als »Tradition« charakterisiert (ĚċěďĕƪČďĞď, V. 9). In V. 11 f.spricht Paulus also nicht vom tradierten ďƉċččƬĕēęė, sondern er sagt, dass das Evangelium als verkündigte Wahrheit für ihn nicht Gegenstand einer Unterrichtung oder Unterweisung gewesen war, sondern dass es sich einer Offenbarung Christi verdankt (ŁĚęĔċĕƴĢēĜ ŵđĝęȘāěēĝĞęȘ). b. Paulus erläutert das in V. 13–14: Wie die Adressaten bereits wissen (ŝĔęƴĝċĞď čƪě)127 hatte er als Jude (… őĖƭė ŁĚęĝĞěęĠƮė ĚęĞď őė ĞȦ Verweist ŝĔęƴĝċĞď auf Informationen, die die Galater von Paulus selbst »gehört« hatten? Oder waren sie möglicherweise von den jetzt in ihren Gemeinden aktiven Paulusgegnern darüber informiert worden? R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie, WUNT II/179, Tübingen 2004, 78 f. hält die Annahme, die Galater seien nicht durch Paulus, sondern durch andere darüber informiert worden, wie die »distanzierte Formulierung« ŝĔęƴĝċĞď zeige (Schäfer nimmt an, dass die »Provinzhypothese« die plausiblere ist). Wenig wahrscheinlich ist ihre Annahme, der Sing. in Gal 1,13 (… ĞƭėőĔĔĕđĝưċėĞęȘĒďęȘ) beziehe sich auf »die Verfolgung einer einzelnen Gemeinde oder vielleicht noch einer bestimmten Ortskirche« (aaO., 84), da ŞőĔĔĕđĝưċ bei Paulus niemals die eine Kirche bezeichne. Denn selbst wenn Paulus tatsächlich nur eine Gemeinde »zu beseitigen versucht« hatte, so richtete seine Tätigkeit jedenfalls gegen »die Kirche«, also tendentiell gegen alle őĔĔĕđĝưċē. 127

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ŵęğĎċĤĝĖȦ) die Kirche Gottes verfolgt und »zu vernichten getrachtet« (őĚƲěĒęğė ċƉĞƮė), und zwar aufgrund seines besonderen Eifers um die »väterlichen Traditionen«; offensichtlich sah Paulus die Verkündigung der – von ihm natürlich erst jetzt so bezeichneten  – őĔĔĕđĝưċ ĞęȘ ĒďęȘ als im Widerspruch vor allem zum pharisäischen Denkend stehend an. Dass er bei seiner Verfolgertätigkeit darum bemüht gewesen wäre, Näheres über Jesus zu erfahren oder dass er Informationen über Jesus erhalten hätte, deutet er mit keinem Wort an. c. In den Nebensätzen in V. 15–16a spricht Paulus dann von dem erwählenden und berufenden Handeln Gottes, das sich in der Offenbarung des Sohnes Gottes »an / in mir« zeigte (V. 16aċ: ŁĚęĔċĕƴĢċē ĞƱė ğŮƱė ċƉĞęȘ őė őĖęư, vgl. V. 12)128, bei der er den Auftrag erhielt, »ihn [sc. den Sohn Gottes] zu verkündigen unter den Völkern« (V. 16aČ). Welchen Inhalt das ďƉċččďĕưĐďĝĒċē ċƉĞƲė im einzelnen haben sollte, sagt Paulus nicht; aber mit der Verwendung des Verbs ďƉċččďĕưĐďĝĒċē bezieht er sich auf jene Aussagen zurück, die er zuvor in 1,6–9 und in 1,11 f. unter Verwendung desselben Verbs und auch des Substantivs ďƉċččƬĕēęė gemacht hatte. Er wird das dann in 2,1–10, insbesondere in 2,5, sowie in 2,14 weiter ausführen, wenn er von der ŁĕƮĒďēċĞęȘďƉċččďĕưęğ spricht. d. Erst in V. 16b.17 folgen im Hauptsatz diejenigen Aussagen, auf die der ganze Gedankengang zielt: Paulus betont, dass er sich »sogleich« (ďƉĒƬģĜ) nicht mit anderen traf (ęƉ ĚěęĝċėďĒƬĖđė ĝċěĔƯ ĔċƯ ċŲĖċĞē)129, womit er anzeigt, dass er in seiner Verkündigung őėĞęȉĜŕĒėďĝēė von menschlichen Instanzen unabhängig blieb und insbesondere auch nicht nach Jerusalem zu den früher berufenen Aposteln ging (V. 17a). Zumindest implizit wird deutlich, dass Paulus nach seiner Berufung keine Notwendigkeit sah, Jesustradition zu erhalten. James D. G. Dunn meint, die Verwendung des Verbs ĚěęĝċėċĞưĒďĝĒċē in V. 16b sei zu verstehen als »probably an implicit acknowledgement that the Jerusalem apostles were the appropriate authorities to consult for an interpretation of an important revelation. And while he did not require such validation of his message or ministry from Jerusalem, he did find it necessary after his initial spell in Arabia and Damascus to have more information regarding his new faith«130. Nach David Wenham meint Paulus mit seiner Aussage in V. 17 nicht, er habe »nach seiner Bekehrung überNach Wolter, Paulus (s. Anm. 2), 25 steht őė őĖęư für den einfachen Dativ, d.h. Paulus will die Offenbarung »nicht als einen inneren Vorgang darstellen«. 129 A. M. Schwemer, Verfolger und Verfolgte bei Paulus. Die Auswirkungen der Verfolgung durch Agrippa I. auf die paulinische Mission, in: E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hgg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 169–191, hier: 188 meint, die Aussage des Paulus, er habe sich nicht an »Fleisch und Blut« gewandt, sei eine »Anspielung auf die Petrusüberlieferung Mt 16,17«. 130 J. D. G. Dunn, The Relationship between Paul and Jerusalem according to Galatians 1 and 2, NTS 28 (1982) 461–478, hier: 471 f. 128

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haupt keinen nennenswerten Kontakt mit Christen gehabt«; es habe lediglich »kein offizielles Gespräch mit einem der Apostel (oder einem gleichrangigen Christen)« gegeben, denn vermutlich, so Wenham weiter, wurde Paulus »als gerade erst Bekehrter unterwiesen«, und er »ergriff jede Gelegenheit, um von seinen Mitchristen etwas über Jesus zu erfahren«. Die in V. 18 folgende Zeitangabe (»nach drei Jahren«) bedeute, dass Paulus »wenig später« dann Petrus kennenlernte, und so erhielt er »die Möglichkeit, noch mehr über Jesus zu erfahren«.131

Die Aussage in V. 16b.17a über die fehlende Kontaktaufnahme mit »Fleisch und Blut« und über die nicht erfolgte Reise nach Jerusalem ist eindeutig, nicht zuletzt auch aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung derer, die »vor mir Apostel waren«. Unklar ist dagegen, wie die Aussage ŁĚǻĕĒęė ďŭĜ ʼněċČưċė in V. 17b zu verstehen ist: Ging Paulus sofort nach seiner Berufung nach »Arabien«? Oder hielt er sich zunächst in Damaskus auf, wohin er von Arabien aus ja »zurückkehrte«? Welches Gebiet genau ist mit der geographischen Bezeichnung ʼněċČưċ gemeint? Diese Fragen sind nicht zu beantworten, aber deutlich ist, dass Paulus die Reise nach »Arabien« ausdrücklich als die von ihm gewählte Alternative zu einem offenbar auch möglichen Besuch in Jerusalem darstellt. In »Arabien« könnte Paulus »meditiert«, diese Region also bewußt als einen Ort der Einsamkeit gewählt haben; er könnte dort aber auch missionarisch tätig gewesen sein, auch wenn die in 2 Kor 11,32 f. geschilderte Flucht aus Damaskus vor der Verfolgung durch den Ethnarchen des Nabatäerkönigs Aretas IV. nicht unbedingt auf eine vorangegangene Missionstätigkeit in dessen Gebiet zurückgeführt werden muß.132 Jedenfalls ist »Ara131 Wenham, Paulus (s. Anm. 1), 357. Er folgert aus den begrifflichen Berührungspunkten zwischen Mt 16,16–20 und Gal 1,15 f., Paulus könne das »Felsenwort« gekannt haben, auch wenn die Parallelen »nicht gerade überwältigend« seien (181). Etwas später (192) schreibt er freilich, Paulus habe die »Traditionen von Petrus, dem Fels (Mt 16,16–20) … gekannt, und seine Gegner dürften sie sogar gegen ihn verwendet haben«. Schäfer, Paulus (s. Anm. 127), 124 meint, die Annahme einer literarischen Abhängigkeit zu der in Mt 16,17 enthaltenen Tradition sei nicht zwingend; sie hält aber Wenhams »These von einer paulinischen Vertrautheit mit dem Mt 16,16–18 zugrundeliegenden Traditionsgut für plausibel«. 132 Darauf verweist R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994, 229–231. Vgl. vor allem E. A. Knauf, Die Arabienreise des Apostels Paulus, in: Hengel/Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. Anm. 105), 465–471. Knauf nimmt an, dass mit ›Arabien‹ das Nabatäerreich gemeint ist, wo Paulus aber durchaus in jüdischen Gemeinden missioniert haben könnte. »Folgen hatte die erste Missionsreise des Paulus, von den zwei Briefstellen [Gal 1,17; 2 Kor 11,32 f.] abgesehen, offenbar nicht« (470 Anm. 29). Zu der umstrittenen Interpretation der in 2 Kor 11,32 f. vorausgesetzten politischen Verhältnisse vgl. U. Hackl / H. Jenni / Chr. Schneider, Quellen zur Geschichte der Nabatäer. Textsammlung mit Übersetzung und Kommentar, NTOA 51, Freiburg Schweiz und Göttingen 2003, 560 f. Auch Schäfer, Paulus (s. Anm. 127), 99–102 meint, Paulus erwähne ›Arabien‹, weil er dort missionarisch gewirkt habe; sie nimmt an, dass es sich um nabatäisch geprägte Städte »nicht allzuweit entfernt von Damaskus« gehandelt habe (101).

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bien« nicht als ein Ort zu denken, wo Paulus Jesustradition hätte erhalten können. Und wenn er dann abschließend in V. 17c sagt, er sei »wiederum zurückgekehrt nach Damaskus«, dann bedeutet dies noch einmal, dass er nicht nach Jerusalem ging. e. Von größter Bedeutung für unser Thema ist die Aussage in V. 18 über den dann »nach drei Jahren« erfolgten zweiwöchigen Besuch in Jerusalem. Die Auslegung ist umstritten, weil sowohl die Wendung ŮĝĞęěǻĝċēõđĠǬė als auch die Zeitangabe őĚƬĖďēėċĚěƱĜċƉĞƱėŞĖƬěċĜĎďĔċĚƬėĞď sehr verschieden ausgelegt werden. Nach J. D. G. Dunn besagt das Verb ŮĝĞęěďȉė, dass Paulus seinen Besuch bei Petrus gemacht habe »for the purpose of inquiry«. Dunn schreibt: »That Paul would have had a natural curiosity about this Jesus who had appeared to him outside Damascus is prima facie obvious.« Die unterschiedlichen Aussagen in V. 18 (ŮĝĞęěǻĝċēõđĠǬė) und in V. 19 (ďųĎęė … ŵƪĔģČęė) zeigten, dass Paulus bei dem Bruder Jesu nur zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch war, »but he used his time with Peter, the one who had been closest to Jesus, to make inquiry, to draw out the sort of information which had not come to him with the apostle-making gospel-giving revelation three years earlier«.133 Im Blick auf die hier erörterte Frage stellt Dunn fest: »His visit to Peter … strongly suggests that it was information about Jesus’ pre-Easter ministry which he had in mind, from the one who had been Jesus’ most prominent disciple. He freely acknowledges his indebtedness to Peter at this point (1.18).«134 Aber die Wendung ŮĝĞęěǻĝċēõđĠǬė läßt von einer »Dankesschuld« gegenüber Petrus nichts erkennen. Nach Otfried Hofius erweist der übliche Sprachgebrauch von ŮĝĞęěďȉė Ğēėċ die Deutung »to get information from Cephas« als »unhaltbar«135, denn ŮĝĞęěďȉė heiße nichts anderes als »kennenlernen«. Hofius fügt hinzu: »Natürlich ist es denkbar (wenn auch nicht beweisbar), daß Paulus sich bei seinem zweiwöchigen Aufenthalt im Hause des Petrus unter anderem auch über Jesu Erdenwirken und seine Verkündigung hat berichten lassen.« Aber tatsächlich sage Paulus eher das Gegenteil: »Die äußerst karge Formulierung ŮĝĞęěǻĝċēõđĠǬė scheint noch einmal auf ihre Weise das ęƉĚěęĝċėďĒƬĖđėĝċěĔƯĔċƯċŲĖċĞē von V. 16 zu unterstreichen: Der Besuch in Jerusalem war von keiner anderen Absicht bestimmt als der, Petrus persönlich kennenzulernen.«136 In einer Antwort auf Hofius hat Dunn nochmals unterstrichen, das ŮĝĞęěǻĝċē müsse mehr als ein bloßes »Kennenlernen« umfaßt haben: »Once again we can hardly assume that their conversations never or only rarely touched on Jesus’ prepassion ministry. On the contrary, ›getting to know‹ Peter must surely have included ›getting to know‹ Peter’s role as Jesus’ leading disciple during Jesus’ ministry in Galilee.« Gerade wenn Paulus bereits Kenntnisse über Jesus besaß, mußte ihm am Erhalt weiterer Informationen »by the most authoritative witness« gelegen gewesen sein.137 Aber das sind allgemeine Erwägungen, die sich keineswegs aus dem ergeben, was 133

Dunn, Relationship (s. Anm. 130), 465.466. Dunn, Relationship (s. Anm. 130), 472. 135 O. Hofius, Gal 1,18: ŮĝĞęěǻĝċēõđĠǬė, in: Ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, 255–267, hier: 261. 136 Hofius, Gal 1,18 (s. die vorige Anm.), 267. 137 J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 188. 134

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Paulus schreibt.138 N. Walter nimmt an, Paulus habe bei seinem Besuch in Jerusalem die Meinung des Petrus darüber einholen wollen, »ob er mit seiner Verkündigung des Evangeliums an die Heiden auf einer Linie liege, die auch nach der Einsicht des Petrus akzeptabel war«.139 Aber die dann von Paulus in Gal 2,1–10 gegebene Darstellung des erheblich später stattfindenden »Apostelkonzils« spricht eher gegen die Annahme, es sei schon bei diesem ŮĝĞęěǻĝċēõđĠǬė um jene Themen gegangen, die Paulus in Gal 2,2 erwähnt und auf die dann die von ihm in 2,7–9 referierte Vereinbarung Bezug nimmt.

Paulus macht in Gal 1,18 erstmals eine (relative) Zeitangabe (ŕĚďēĞċĖďĞƩŕĞđ Ğěưċ), bei der allerdings nicht deutlich ist, auf welchen vorausliegenden Zeitpunkt sie sich bezieht. Klar scheint zu sein, dass die genannten »drei Jahre« als ein vergleichsweise langer Zeitraum aufzufassen, also im Sinne von »erst nach drei Jahren ging ich nach Jerusalem« zu verstehen sind. Als Zweck des Aufenthalts nennt Paulus die Begegnung mit Petrus (ŮĝĞęěǻĝċē õđĠǬė); dass er die Absicht hatte, in Jerusalem etwas über Jesus zu erfahren, deutet Paulus nicht an. Natürlich kann man vermuten, dass während der »fünfzehn Tage« bei Petrus auch über den irdischen Jesus gesprochen wurde; aber es ist auffällig, dass Paulus den Galatern darüber nichts schreibt. Setzt er voraus, die Adressaten hätten es für selbstverständlich halten müssen, dass er sich mehr als drei Jahre nach dem »Damaskus-Erlebnis« über Jesus informieren ließ? Für diese Annahme fehlen im Text alle entsprechenden Indizien, und das wäre um so auffälliger, wenn die in Galatien tätigen Gegner des Paulus ihm die unzureichende Kenntnis der Jesusüberlieferung vorgeworfen haben sollten. Ruth Schäfer stellt fest, die Kontakte zu Petrus hätten »nicht das Paulinische Evangelium« begründet, aber dennoch stelle sich die Frage: »Wie hätten das frühere distanzierte Interesse des Verfolgers oder gar das Offenbarungserlebnis zu einem für Paulus befriedigenden Wissensstand bezüglich Leben, Wirken, Sterben und ersten Erscheinungen Jesu führen sollen?«140 Aber welchen »Wissensstand« Paulus in dieser Hinsicht für »befriedigend« hielt, können wir nicht sagen. Und selbst wenn Paulus in Jerusalem von Petrus nähere Informationen über Jesus erhalten haben sollte, 138

Darauf hatte Walter, Paulus (s. Anm. 20), 506 schon angesichts des von Dunn verwendeten Begriffs »natural curiosity« (s.o.) hingewiesen. Eher spekulativ ist auch der Hinweis von Schäfer, Paulus (s. Anm. 127), 148, zwar sei Hofius’ Interpretation philologisch korrekt, doch sei es »natürlich möglich, weiter nach dem Motiv für die Entstehung dieses Wunsches [sc. Kephas kennenzulernen] bei Paulus zu fragen«. Paulus werde den Besuch »dazu genutzt haben, alles das über den an ihm selbst offenbar gewordenen Sohn (vgl. Gal 1,16) von Kephas zu erfahren, was eben nicht Gegenstand der Offenbarung oder bis dahin erworbenes Wissen, aber über jenen gleichwohl für ihn zugänglich war«. 139 Walter, Paulus (s. Anm. 20), 507. Walter fügt hinzu, dabei werde dann auch die Frage des Paulus eine Rolle gespielt haben, ob sein Wirken »nicht dem zuwider lief, was Petrus von Jesu eigenem Wirken oder von seinen Worten berichten konnte«. 140 Schäfer, Paulus (s. Anm. 127), 149. Auf diese Frage gibt sie keine Antwort, es handelt sich offenbar um eine rhetorische Frage.

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so bliebe offen, welcher Art diese Informationen waren: Sollten es einzelne »Logien« gewesen sein? Oder Schilderungen von Konflikten oder auch von Wundertaten Jesu, wie sie in der später literarisch greifbaren synoptischen Tradition in mehr oder weniger fester Form vorliegen? Dann müßte erklärt werden, warum Paulus von solcher Überlieferung einen so geringen bzw. gar keinen Gebrauch macht; und es müßte vor allem plausibel gemacht werden, aus welchem Grunde er die Adressaten in Galatien darüber mit keinem Wort informiert. Sind die »fünfzehn Tage« bei Petrus in Jerusalem als ein langer oder als ein kurzer Aufenthalt anzusehen? Verglichen mit den unmittelbar zuvor genannten »drei Jahren« wirkt der Zeitraum ŞĖƬěċĜĎďĔċĚƬėĞď eher vergleichsweise kurz; aber hier sind natürlich unterschiedliche Deutungen möglich. Bei M. Hengel und A. M. Schwemer heißt es, Paulus und Petrus hätten bei diesem – wie Hengel meint: langen – Aufenthalt einander »nicht nur näher kennengelernt, sondern auch voneinander gelernt«. Den Hinweis Conzelmanns, dass Paulus den Inhalt der in Jerusalem geführten »Gespräche« übergeht, zitiert Hengel mit der kritischen Bemerkung, Paulus berichte in seinen Briefen ja »nirgendwo über die heute so beliebten ›Gespräche‹«.141 Eben das stellt Conzelmann ja gerade fest; es bleibt gerade unter der von Hengel genannten Voraussetzung unklar, warum es ungeachtet des Schweigens des Paulus dennoch möglich sein soll, aus Gal 1,18 Informationen zu gewinnen, die der Text tatsächlich nicht enthält.142 J. Frey meint, wenn Paulus »nichts vom Inhalt dieser Gespräche« berichte, so sei daraus nicht abzuleiten, »daß dieselben theologisch unbedeutend gewesen wären«. Er fragt dann rhetorisch: »Wer wollte dies in der dynamischen Frühzeit des Christusglaubens beurteilen?«143 In der Tat ist diese Frage nicht zu beantworten, und schon deshalb sollte man auf eine zu weit gehende Interpretation des in Gal 1,18 Gesagten verzichten.

Eine indirekte Information wird man aus Gal 1,18 freilich ableiten dürfen: Paulus war als Verfolger offenbar nicht in Jerusalem tätig gewesen; andernfalls wären er als Verfolger und Petrus als der Verfolgte einander wohl schon früher begegnet – jedenfalls läßt die lukanische Darstellung der Konflikte zwischen den Aposteln und den religiösen Autoritäten in Jerusalem nicht erkennen, dass Petrus sich vor seinen Verfolgern versteckt gehalten hätte. f. In V. 19 fügt Paulus ergänzend hinzu, während seines Aufenthalts in Jerusalem habe er keinen anderen der Apostel gesehen, ausgenommen Ja141

Hengel / Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. Anm. 105), 231 (mit Anm. 934). H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, GNT 5, Göttingen 31976, 67 schreibt: »Den Inhalt der Gespräche übergeht er, weil er anscheinend für seine eigene Theologie nicht substantiell ist.« Wenn diese Begründung nicht zutreffen sollte, so müßte eine andere gefunden oder zumindest gesucht werden! 142 So halten es Hengel / Schwemer (s. Anm. 105) für möglich, dass der Inhalt der viel diskutierten Formel 1 Kor 15,3–5 »bei diesem denkwürdigen Besuch verhandelt [!] worden sein« könnte (aaO., 233). 143 J. Frey, Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen »Kollegen«, in: Becker / Pilhofer (Hgg.), Biographie (s. Anm. 129), 192–227, hier: 223.

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kobus. Was dies bedeutet und warum Paulus es erwähnt, läßt sich kaum sagen – es sind ja höchst unterschiedliche Gründe denkbar. Klar ist aber der sachliche Inhalt: Neben dem 15tägigen Aufenthalt bei Petrus und dem »Sehen« des Herrenbruders Jakobus gab es keinerlei Kontakt zwischen Paulus und »den Aposteln« (vgl. V. 17: … ĚěƱĜĞęƳĜĚěƱőĖęȘŁĚęĝĞƲĕęğĜ). Hatte Paulus kein Interesse daran, mit diesen Augenzeugen des Jesusgeschehens zusammenzutreffen? Weigerten sie sich, den früheren Verfolger zu sehen, ungeachtet der Begegnungen mit Petrus und mit Jakobus? Jedenfalls wird hier die Aussage von V. 16b nochmals bekräftigt. Im übrigen deutet Paulus auch in V. 19 mit keinem Wort an, er habe von Jakobus Informationen über den irdischen Jesus erhalten. g. Die den Gedankengang abschließende, geradezu wie ein Eid formulierte Aussage in V. 20 zeigt, dass Paulus offensichtlich von anderslautenden Nachrichten über sein Verhalten nach dem »Damaskus-Erlebnis« wußte; er hatte Anlaß, sich dagegen zur Wehr zu setzen und deren Wahrheit zu bestreiten – welchen anderen Grund könnte die so stark betonte Beteuerung ęƉĢďƴĎęĖċē sonst haben? Dabei bezieht sich das ńĎƫčěƪĠģƊĖȉėĔĞĕ. wahrscheinlich nicht allein auf die unmittelbar vorangegangenen Aussagen in V. 19 bzw. in V. 18.19, sondern auf den ganzen in V. 16b begonnenen »autobiographischen« Bericht über die im Anschluß an die Berufung (V. 15.16a) erfolgten Aktivitäten. Der von Paulus ausdrücklich bestrittene Geschehensablauf wird in Apg 9,26 ff. als tatsächlich erfolgt überliefert.144 Das bedeutet sicher nicht, dass Lukas bestrebt war, die Bedeutung und die Rolle des Paulus herunterzuspielen; vielmehr erklärt sich der Widerspruch vermutlich einfach damit, dass Lukas auf eben jene Tradition erhalten hatte, deren Wahrheit Paulus bestreitet, während ihm der Galaterbrief offensichtlich nicht bekannt war. h. Der in V. 21 folgende, von Paulus inhaltlich nicht näher erläuterte kurze Hinweis auf seinen Aufenthalt in ĞƩ ĔĕưĖċĞċ ĞǻĜ ýğěưċĜ ĔċƯ ĞǻĜ õēĕēĔưċĜ spielt für unsere Fragestellung keine Rolle; natürlich ist es nicht 144 Etwas überraschend ist die Feststellung von Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus (s. Anm. 132), 233: »Nach der übereinstimmenden Auskunft des Paulus (Gal. 1,18) und der Apostelgeschichte (Apg. 9,26 ff.) ging der Apostel von Damaskus nach Jerusalem.« Die beiden Texte setzen ein zeitlich um jedenfalls drei Jahre differierendes Datum für diese Reise voraus, so dass von einer »übereinstimmenden Auskunft« kaum gesprochen werden kann. Nach Hengel könnten die »drei Jahre« tatsächlich vielleicht nur eineinhalb bis zwei Jahre gewesen sein (Hengel / Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien [s. Anm. 105]), und wenn Lukas in Apg 9,23 von ŞĖƬěċēŮĔċėċư spricht, während derer sich Paulus in Damaskus aufgehalten habe, dann liege das daran, dass er in der ersten Hälfte seines Werkes »kaum exakte Zeitangaben machen konnte … Die ŞĖƬěċē ŮĔċėċư deuten einfach auf einen unbestimmten, jedoch längeren Zeitraum hin« (aaO., 216). In Apg 9,43 kann sich ŞĖƬěċēŮĔċėċư allenfalls auf Tage, höchstens Wochen beziehen. Die Auskunft, Lukas mache genauere Zeitangaben erst in der zweiten Hälfte seines Werkes, da er dort den Ereignissen »als Augenzeuge näher steht« (ebd.), führt nicht weiter.

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unmöglich, dass Paulus dort Informationen über Jesus erhalten konnte, aber es ist wenig wahrscheinlich und es wird jedenfalls nicht gesagt. i. Von Bedeutung ist der Schlußabschnitt V. 22–24: Paulus hielt sich nach dem in V. 18 erwähnten Besuch in Jerusalem für einen langen Zeitraum (vgl. 2,1) offenbar nicht erneut in Judäa auf.145 Die Frage, ob er bereits früher, d.h. während seiner Verfolgertätigkeit, in Jerusalem gewesen war, läßt sich von V. 22 her nicht beantworten; Paulus beschränkt sich auf die Feststellung, er sei den őĔĔĕđĝưċē in Judäa persönlich nicht bekannt gewesen, doch hätten diese gehört, dass aus dem Verfolger der Verkündiger geworden war.146 Die Aussage in V. 23 ist aus der Perspektive der judäischen Gemeinden formuliert (žĎēƶĔģėŞĖǬĜĚęĞďĔĞĕ.), das Referat in V. 24 (ĔċƯőĎƲĘċĐęėőė őĖęƯĞƱėĒďƲė) ist von Paulus selber formuliert worden. 2. Die Ausführungen in Gal 2,1–10 mit dem Bericht über den »nach vierzehn Jahren« erfolgten Besuch in Jerusalem lassen im Blick auf eine mögliche Vermittlung von Jesustradition gar nichts erkennen. Natürlich kann man erneut vermuten, am Rande des »Apostelkonzils« sei auch über den irdischen Jesus gesprochen worden; aber wiederum ist zu beachten, dass die Ausführungen des Paulus davon jedenfalls nichts erkennen lassen. 3. In Gal 2,11–14(21) schildert Paulus seinen auf das »Konzil« folgenden Konflikt mit Petrus in Antiochia. Die syrische Großstadt gilt oft als ein Ort, wo Paulus mit Jesustradition in Berührung gekommen sein könnte. J. Becker betont, es habe »neben Jerusalem keine so herausragende Stadt für das Christentum wie Antiochia« gegeben, da dort die Heidenmission und insofern dann auch das Christentum als eigenständige Religion entstanden sei.147 Die bei Paulus erkennbare heidenchristliche Tradition müsse von dort stammen, und dasselbe gelte für die palästinisch-judenchristliche Tradition, die Paulus zwar auch in Jerusalem kennengelernt haben könnte, die aber »im wesentlichen« doch auch in Antiochia bekannt gewesen sei. Mit hellenistisch-judenchristlicher Tradition sei Paulus sicher seit Damaskus vertraut, sie stehe »jedoch auch am Anfang der antiochenischen Gemeinde. Im ganzen kann man also sagen: Was Paulus später an alter Tradition benutzt, entstammt im wesentlichen dem antiochenischen Gemeindewissen.«148 Etwas später schreibt Becker: »In der antiochenischen Zeit des Apostels 145 Natürlich sagt Paulus hier nicht ausdrücklich, er sei während der »14 Jahre« nicht nach Jerusalem gereist; aber 2,1 spricht doch wohl dafür, dass er keinen seiner JerusalemBesuche verschweigt. 146 Das entspricht der aus 1,18 gewonnenen Beobachtung, dass der Verfolger Paulus und der Verkündiger Petrus zuvor einander nicht begegnet waren. 147 J. Becker, Paulus (s. Anm. 27), 107 f. 148 J. Becker, Paulus (s. Anm. 27), 109.

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muß auch das Verhältnis des Paulus zur Jesustradition feste Strukturen angenommen haben.«149 Paulus spricht von Antiochia nur in Gal 2,11 ff.; dass er dort mit der von ihm zitierten Jesustradition in Berührung gekommen war, ist möglich und sogar wahrscheinlich; aber es läßt sich quellenmäßig nicht belegen. 2. Erwägungen hinsichtlich der Darstellung in der Apostelgeschichte Welche Vorstellungen von einer möglichen Beziehung zwischen Paulus und der Jesustradition vermittelt die Apostelgeschichte? Hier geht es weniger um die Frage, ob entsprechende Nachrichten möglicherweise historisch zuverlässig sind, sondern es geht vor allem darum, welches Bild Lukas in dieser Hinsicht entworfen hat. 1. Wie könnte Paulus an den in der Apostelgeschichte beschriebenen Orten seines Wirkens – sei es vor, sei es nach der Berufung – Jesustradition kennengelernt haben? a. Der »junge Mann« Paulus (Saulus) wird in Apg 7,60b als einer der an der Steinigung des Stephanus in Jerusalem zumindest mittelbar Beteiligten geschildert (vgl. 8,3). Dass er sich vor seiner Bekehrung/Berufung in Jerusalem aufgehalten hatte, sagt der lukanische Paulus dann später auch in seiner Jerusalemer Verteidigungsrede, in der er sich als Schüler des Gamaliel bezeichnet (22,3). Von einer unmittelbaren Beziehung zwischen Paulus und Jesus spricht Lukas nicht, obwohl es für ihn ja nicht schwierig gewesen wäre, Paulus etwa als einen der Augenzeugen der Kreuzigung Jesu darzustellen. Die von Lukas literarisch höchst dramatisch entwickelte Szene von der Verfolgertätigkeit des Paulus, die ihn auch nach Damaskus führen soll (9,1 f.), impliziert, dass Paulus nicht mit der Möglichkeit rechnet, die Auferstehungsbotschaft der von ihm Verfolgten könne womöglich »wahr« sein. Als der erhöhte Jesus vor Damaskus dem Verfolger unmittelbar begegnet, löst das bei diesem infolgedessen einen auch physischen Schock aus (9,8 f.), der erst durch die Handauflegung des Ananias gelöst wird (9,18 f.). b. Paulus wird getauft150; er bleibt einige Tage bei den ĖċĒđĞċư in Damaskus und beginnt sofort (ďƉĒƬģĜ) zu predigen. Aus 9,19b–22, vor allem aus der Formulierung in V. 20 (… őĔƮěğĝĝďėĞƱėŵđĝęȘėƂĞēęƐĞƲĜőĝĞēėžğŮƱĜ ĞęȘĒďęȘ), könnte man folgern, dass Lukas nicht nur sagen will, Paulus habe Jesus als den Sohn Gottes verkündigt, sondern er habe ausdrücklich vom irdischen Jesus gesprochen und von diesem gesagt, er sei der Sohn Gottes. 149

J. Becker, Paulus (s. Anm. 27), 119. Vermutlich ist Ananias als der Taufende zu denken, auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt ist. 150

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Wo Paulus die entsprechenden Informationen erlangt haben könnte, erfährt man aber nicht. Jedenfalls wird insbesondere auch im Zusammenhang der Schilderung seiner Begegnung mit Ananias nicht einmal angedeutet, Paulus habe von Ananias irgendwelchen Unterricht erhalten oder ihm seien auch nur Informationen vermittelt worden. Hingegen hatte man zuvor sehr wohl erfahren, dass Ananias genau wußte, wer dieser Saulus/Paulus ist, und dass er den ihm őėžěƪĖċĞē begegnenden ĔƴěēęĜ darüber sogar unterrichten zu müssen glaubte (9,13 f.). Der ĔƴěēęĜ teilt ihm als Antwort mit, welche Aufgabe dieser Saulus erhalten wird (9,15 f.); Ananias heilt daraufhin den Paulus durch Handauflegung, vermittelt ihm das ĚėďȘĖċņčēęė, und Paulus wird getauft (9,17–19a). Eine Notwendigkeit, Ananias als »Lehrer« des Paulus vorzustellen, sieht Lukas nicht. c. Die in Apg 9,23–30 folgende Schilderung der Tätigkeit des Paulus nach seiner Berufung bzw. Bekehrung ist insbesondere in V. 26 ff. mit der eigenen Darstellung des Apostels in Gal 1,15–24 nicht vereinbar.151 Bedeutsam für unseren Zusammenhang ist, dass Lukas nicht sagt, Paulus, der in Jerusalem nach Überwindung einiger Schwierigkeiten schließlich durch die Vermittlung des Barnabas zu den ŁĚƲĝĞęĕęē gelangte (9,27a), sei von diesen über Jesus informiert worden. Vielmehr erhalten diese durch Barnabas Kenntnis von der Bekehrung des Paulus und von dessen Verkündigungstätigkeit in Damaskus (9,27b). Unmittelbar darauf erfährt man von der Predigttätigkeit des Paulus in Jerusalem (9,28.29a) sowie von der fluchtartigen152 Abreise nach Caesarea und dann nach Tarsus.153 d. In 11,25 wird Paulus durch Barnabas wieder in die Handlung eingeführt: Er kommt nach Antiochia, hält sich »ein ganzes Jahr« in der dortigen Gemeinde auf und lehrt »viel Volk«. Anschließend überbringt er zusammen mit Barnabas eine Spende nach Jerusalem (11,27–30). Von der Vermittlung von Jesustradition an Paulus ist an keiner Stelle die Rede.

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Darauf braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden (s.o. zu Gal 1,16b–20). Die Schilderung der Flucht aus Damaskus in Apg 9,23–25 entspricht weitgehend 2 Kor 11,32 f.; hier scheint die Möglichkeit einer direkten literarischen Beziehung gegeben zu sein. Vgl. dazu G. Guttenberger, Klugheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Zum Hintergrund der Vorwürfe gegen Paulus nach 2Kor 10–13, ZNW 96 (2005) 78–98, die freilich die Annahme einer literarischen Abhängigkeit verneint (82 Anm. 22). 152 Nach 9,29 entsteht der Konflikt zwischen Paulus und den Jerusalemer dzðĕĕđėēĝĞċư; vgl. dazu N. Walter, Apostelgeschichte 6,1 und die Anfänge der Urgemeinde in Jerusalem, in: Ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, WUNT 98, Tübingen 1997, 187–211, hier: 205: Vermutlich meint Lukas »Diasporajuden, die durchaus auf der unverbrüchlichen Gültigkeit der Tora bestehen – ganz so, wie es der Diasporajude Paulus als Pharisäer selbst tat, bevor er Christ wurde«. 153 Dass er aus Tarsus stammt, sagt der lk Paulus betont erst in Apg 21,39.

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2. In welcher Weise spricht der lukanische Paulus in seinen Reden vom Wirken und von der Verkündigung Jesu? a. In der Rede in der Synagoge in Antiochia Pisidiae (13,15–41) erwähnt Paulus im Anschluß an den Überblick über die Geschichte Israels bis David (V. 17–22) Jesus als den gemäß der Verheißung aus dem »Samen Davids« hervorgegangenen ĝģĞƮě (V. 23); es folgt eine vergleichsweise ausführliche Vorstellung Johannes des Täufers als des Vorläufers Jesu (V. 24 f.). Nach einer rhetorischen Zwischenbemerkung (V. 26) schließt sich in V. 27–30 ein kurzer, erkennbar an das Lukasevangelium anknüpfender Bericht von Prozeß, Verurteilung, Hinrichtung und Beisetzung Jesu an, sowie (V. 31) ein an Apg 1 anknüpfender Hinweis auf die Erscheinung des Auferstandenen. Bezüge auf Worte Jesu oder auf Ereignisse aus Jesu Wirken fehlen. b. In der Darstellung des »Apostelkonzils« in 15,1–29, in deren Verlauf Paulus, anders als nach seiner eigenen Darstellung in Gal 2,1–10, kaum eine Rolle spielt (vgl. 15,12), gibt es auffälligerweise auch in den Reden des Petrus und des Jakobus keinerlei Hinweise auf Worte oder Verhaltensweisen des irdischen Jesus. Keiner der Redner und insbesondere auch nicht das »Aposteldekret« beruft sich auf eine Weisung Jesu, um der getroffenen Entscheidung eine besondere Autorität zu geben.154 c. In dem knappen Referat der von Paulus in der Synagoge von Thessalonich gehaltenen Rede (17,3) wird inhaltlich an die Emmaus-Erzählung angeknüpft155, ohne dass das in Lk 24,13–33 erzählte Geschehen als solches beschrieben würde. d. In seiner Abschiedsrede in Milet (20,17–35) zitiert Paulus als letzte Aussage ausdrücklich »Worte Jesu«; aber das Logion in V. 35 (ĖċĔƪěēƲė őĝĞēėĖǬĕĕęėĎēĎƲėċēşĕċĖČƪėďēė) hat in der Evangelienüberlieferung und insbesondere auch im Lukasevangelium keine Entsprechung: »Das angebliche Herrenwort ist in Wirklichkeit ein griechisches Sprichwort.«156 e. Zwischen der Darstellung des Paulusprozesses in Apg 21–28 und der Passionsgeschichte im Lukasevangelium bestehen deutliche Analogien157; aber nirgendwo in einer seiner Verteidigungsreden deutet der lukanische

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Im LkEv wurde die Überlieferung in Mk 7,1–23 über »Rein und Unrein« übergangen; jetzt wird dieses Thema auf einer anderen Ebene gleichsam »nachgeholt«. 155 Vgl. Apg 17,3b mit Lk 24,26 f. 156 Vgl. H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 21972, 129 (mit entsprechenden Belegen); ebenso J. Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1998, 514. Zu der Rede als ganzer vgl. A. Lindemann, Paulus und die Rede in Milet (Apg 20,17–38), in: D. Marguerat (ed.), Reception of Paulinism in Acts. Réception du Paulinisme dans les Actes des Apôtres, BEThL 229, Leuven 2009, 175–205. 157 Vgl. dazu E. Heusler, Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk. Die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Analyse, NTA NF 38, Münster 2000.

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Paulus an, zwischen seinem Geschick und den Ereignissen beim Prozeß Jesu bestünden Parallelen. 3. Zu welchem Ergebnis führt dieser Durchgang durch die Apostelgeschichte? Lukas, immerhin Verfasser einer umfangreichen Jesuserzählung, sieht offenbar keinen Anlaß dafür, dass sich die »Apostel« – nach Apg 1,21 f. immerhin ständige Begleiter des irdischen Jesus – in ihren Reden bzw. in ihren Entscheidungen auf Worte Jesu berufen158 oder dass sie Paulus über Jesus informieren, als er von Barnabas zu ihnen gebracht wird. Zugleich sieht sich auch der lukanische Paulus zu einer solchen »Autoritätssicherung« offensichtlich nicht veranlaßt159; das von Lukas gezeichnete Bild stimmt insoweit mit den entsprechenden Beobachtungen zu den authentischen Paulustexten überein.

V. Zur historischen Frage nach dem Ausgangspunkt der Jesustradition Wo ist der Ausgangspunkt der von Paulus verwendeten Jesustradition zu suchen? Zwei einander gegenüberstehende Positionen seien genannt. Nach Jens Schröter ist der Terminus »Jesusüberlieferung« im Blick auf Paulus eigentlich »unangemessen«, da Paulus im Zusammenhang seiner expliziten Verweise auf Jesusworte »mit auffälliger Konsequenz vom ĔƴěēęĜ« spreche.160 In 1 Kor 7,10 f. und 9,14 weise er »punktuell auf Anordnungen des ĔƴěēęĜ hin«, »ohne dabei Jesusworte in einer der synoptischen Überlieferung analogen Fassung zu zitieren«. Diese Worte »gehören für ihn zur urchristlichen Überlieferung, die durch den ĔƴěēęĜ autorisiert ist und die er in Gemeindeparänese bzw. Missionspraxis umsetzt«. In diesen Zusammenhang gehörten auch die auf den ĔƴěēęĜ zurückgeführte Abendmahlsparadosis sowie die eschatologische Belehrung in 1 Thess 4,15–17.161 Zugleich zeige der bei Paulus erkennbare Befund, »dass die Anfänge der Jesusüberlieferung in historischer Hinsicht nicht durch eine isolierte Konzentration auf die Wortüberlieferung zu erheben sind«; die »Einbindung der Wortüberlieferung in die biographisch-erinnernde Jesustradition zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Bedeutung Jesu narrativ entfaltet und dadurch zwischen der Zeit Jesu und der eigenen Zeit vermittelt«.162 P. Stuhlmacher 158 Die einzige Ausnahme ist die äußerst knappe Bemerkung in der Pfingstrede des Petrus Apg 2,22. 159 Hier ist die Ausnahme das »apokryphe« Jesuswort in 20,35. 160 Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament (s. Anm. 100), 86. 161 Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament (s. Anm. 100), 90. 162 Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament (s. Anm. 100), 103 f.

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hingegen vertritt in Anknüpfung an H. Riesenfeld und B. Gerhardsson die These, die Anfänge der Jesusüberlieferung lägen »in dem Unterricht, den Jesus selbst seinen Jüngern bzw. Schülern (ĖċĒđĞċư) erteilt« habe; diese Tradition sei, »nach frühjüdischem Muster (auswendig) ›gelernt‹« worden und so in die Lehre der Apostel (Apg 2,42) eingegangen.163 Von der von Stuhlmacher und anderen charakterisierten Form der Jesustradition weiß Paulus offensichtlich nichts bzw. er macht von ihr zumindest keinerlei Gebrauch. Die Art, wie Paulus auf Aussagen Jesu Bezug nimmt, spricht im Gegenteil eher für die Annahme, dass es eine formale Fixierung von tradierbarer Jesustradition (noch) nicht gegeben hat. Dafür spricht zum einen, dass die (wenigen) Jesusworte von Paulus vergleichsweise »ungenau« zitiert werden; und dafür spricht zum andern auch, dass ein bestimmtes inhaltliches »Profil« dieser Worte nicht deutlich wird – im Unterschied zu jener Überlieferung, die im allgemeinen als »Bekenntnistradition« bezeichnet wird. Auffällig ist, dass dies nicht nur für die authentischen paulinischen Briefe gilt, sondern auch für das in der lukanischen Apostelgeschichte gezeichnete Bild des Paulus.

VI. Zur historischen und theologischen Relevanz der Fragestellung Im Blick auf die historische und theologische Relevanz der hier erörterten Fragestellung hat N. Walter hervorgehoben, die Annahme einer sachlichen Übereinstimmung der Verkündigung des Paulus mit der Botschaft Jesu müsse nicht zwingend bedeuten, dass »man einen möglichst ungebrochenen, direkten und kompletten Traditionszusammenhang zwischen Jesus und Paulus voraussetzt und hofft nachweisen zu können«; Weitergabe von Tradition bedeute noch nicht, dass »die Garantie für eine wirkliche Kontinuität auch in der Sache« gegeben ist.164 In der vermutlich im 2. Jahrhundert entstandenen judenchristlichen Schrift Kerygmata Petrou (õû) wird gegen Paulus der Vorwurf erhoben, er habe Jesus nicht gekannt, sondern sein Wissen lediglich aus einer kurzen Visionserfahrung gewonnen; nur deshalb habe es überhaupt zu dem Konflikt mit Petrus in Antiochia kommen können. Die õû, eine nach der Analyse G. Streckers vermutlich sehr frühe Quellenschrift der romanhaften Pseu-

163 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 1. Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 44. 164 Walter, Paulus (s. Anm. 20), 517.518.

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doklementinen165, berichten dies zwar von »Simon (Magus)«, aber es wird sehr schnell deutlich, dass mit »Simon« tatsächlich Paulus gemeint ist.166 Petrus entwickelt in einer Rede zunächst die Theorie, Gott habe in der Schöpfung alles paarweise zusammengestellt; beim Menschen sei der Zweite eines Paares stets der bessere oder überlegene.167 Petrus fährt dann fort: »Wer dieser Anordnung folgt, hätte erkennen können, von wem Simon (= Paulus), der vor mir als erster zu den Heiden kam, ausgeschickt wurde, und zu wem ich (= Petrus) gehöre, der ich später als jener aufgetreten bin und hinzukam wie zur Finsternis das Licht, wie zur Unwissenheit die Gnosis, wie zur Krankheit die Heilung« (Homilien II 17,3). »Simon« unterbricht diese Rede: »Du hattest behauptet, die Lehre deines Meisters genau kennengelernt zu haben, weil du ihn unmittelbar (őėċěčďưǪ) gehört und gesehen habest, dagegen sei es einem anderen nicht möglich, mittels eines Traumes oder einer Vision das gleiche zu erfahren.« Das aber, so fügt »Simon« (= Paulus) nun hinzu, sei völlig falsch: »Wem etwas unmittelbar zu Gehör kommt, der hat keineswegs Sicherheit betreffs des Gesagten. Denn er muß prüfen, ob er nicht getäuscht wird, weil das, was ihm begegnet, nur ein Mensch ist. Die Vision erzeugt dagegen zugleich mit der Erscheinung die Gewißheit, daß man etwas Göttliches sieht« (Hom XVII 13,1 f.). Petrus hält dem entgegen, es sei bekannt, »daß viele Götzenanbeter, Ehebrecher und andere Sünder Gesichte und wahre Träume geschaut haben, daß einige aber auch Visionen hatten, die von Dämonen gewirkt waren.« Der Mensch könne Gott nicht schauen, da Gottes Wesen »von einem unerträglichen Licht umstrahlt wird«, und deshalb sei es gerade ein Zeichen göttlichen Erbarmens, dass Gott für die Menschen unsichtbar ist. »Wer aber eine Vision hat, der möge erkennen, daß dies das Werk eines bösen Dämons ist« (H XVII 16,2.3.6). Petrus fügt hinzu, das Wahre werde nicht durch einen Traum erworben, sondern es werde »den Guten durch Einsicht verliehen«; so sei auch ihm »der Sohn vom Vater offenbart« worden, und dementsprechend kenne auch er »die Kraft der Offenbarung«, denn sie sei in seinem Herzen aufgestiegen, als er Jesus den »Sohn des lebendigen Gottes« nannte (Hom XVII 18,1).168 Es sei Ausdruck des Zorns, durch Gesichte und Träume zu handeln, freundschaftliche Begegnung hingegen finde sich dort, wo »von Mund zu Mund« geredet wird (Hom XVII 18,6). Petrus fügt dann hinzu: Selbst wenn Jesus dem »Simon« tatsächlich in einer Vision erschienen sein sollte, »so hätte er doch nur durch Gesichte und Träume oder auch durch äußerliche Offenbarungen geredet«; das aber führe zu der Frage, ob denn 165 S. dazu in der Einleitung zu den Pseudoklementinen den von G. Strecker verfaßten Abschnitt zu den Kerygmata Petrou, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 51989, 443–446. 166 Den Text der Kerygmata Petrou aus Ps-Clemens, Homilien bietet in Rekonstruktion und Übersetzung G. Strecker, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen (s. die vorige Anm.), 484–486. Vgl. G. Strecker, Das Judenchristentum in den Pseudoklementinen, TU 80, Berlin 21981, 187–196. Vgl. auch A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, BHTh 58, Tübingen 1979, 104–108 sowie 367–371. 167 Homilien II 16,1–17,2. Die Beispiele sind: Kain und Abel, der schwarze Rabe und die weiße Taube (Gen 8,6–12), Ismael und Isaak, Esau und Jakob, Aaron und Mose sowie (ohne Namensnennung) Johannes und Jesus. 168 Die Anspielung auf Mt 16,16–18 ist deutlich.

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wirklich jemand »auf Grund einer Vision zur Lehre tüchtig gemacht werden« könne. Wenn »Simon« meinen sollte, dies sei tatsächlich möglich, dann müsse gefragt werden: »Weswegen hat dann der Lehrer bei uns, die wir wachend waren, ein ganzes Jahr zugebracht?« – und in dieser Frage ist die Antwort natürlich schon enthalten (Hom XVII 19,1 f.) Petrus führt zusätzlich aber auch ein inhaltliches Argument ins Feld: Sollte »Simon« tatsächlich eine Erscheinung gehabt haben, dann müsse er sagen, warum er das Gegenteil von dem lehrt, was er gelernt hat. »Wenn du aber von ihm eine Stunde lang besucht, unterwiesen und dadurch zum Apostel geworden bist, dann verkündige seine Worte, lege aus, was er gelehrt hat, sei seinen Aposteln freund und bekämpfe nicht mich, der ich sein Vertrauter bin« (Hom XVII 19,3 f.). Denn »mir«, so sagt Petrus in direkter Aufnahme von Mt 16,18 und Gal 2,11–14, »der ich ein standhafter Fels, der Kirche Grundstein bin, hast du feindselig widerstanden« (Hom XVII 19,4). »Willst du aber wirklich mit der Wahrheit zusammenarbeiten, dann lerne zuerst von uns, was wir von jenem [sc. Jesus] gelernt haben, und werde als ein Schüler der Wahrheit unser Mitarbeiter« (Hom XVII 19,7).

Die Kerygmata Petrou binden die »Rechtgläubigkeit« des »Simon« (= Paulus) also an die Kenntnis der Jesustradition. Die modernen Bemühungen, in größerem Umfang Jesustradition bei Paulus zu entdecken, könnten in der Gefahr stehen, diese Position zu bestätigen, insofern man sich zu der apologetischen, textlich nicht verifizierbaren Feststellung veranlaßt sieht, Paulus habe in Wahrheit eben doch bei Petrus »gelernt«. Die paulinische Theologie ist nicht mit einem Mangel behaftet, wenn dem Apostel tatsächlich nur das an Kenntnis von Jesustradition zugewiesen wird, was sich bei ihm wirklich erkennen läßt; und sie gewinnt nicht an Qualität, wenn man unter hohem Aufwand an Scharfsinn und Phantasie versucht, unabhängig vom Textbefund mehr an Jesustradition zu entdecken, als tatsächlich erkennbar ist. Gewiß kann man nicht sagen, Paulus habe am irdischen Jesus »kein Interesse« gehabt: Dass Jesus ein Mensch war, ein Jude, und dass er am Kreuz starb, ist für Paulus die Grundvoraussetzung dafür, dass er überhaupt vom Auferstandenen bzw. Erhöhten sprechen und dem Sterben Jesu Heilsbedeutung zuweisen kann.169 Aber Paulus deutet nirgends an, dass es ihm darum ging, eine Kontinuität zwischen dem Inhalt der Botschaft Jesu und des von ihm verkündigten Evangeliums aufzuweisen; es gibt auch kein Anzeichen dafür, dass in einem der Konflikte, denen Paulus insbesondere in Galatien und in Korinth konfrontiert war, die Frage der direkten Beziehung zu Jesus bzw. zur Jesustradition eine Rolle gespielt hätte. Das ist gerade im Fall des Galaterbriefes besonders bemerkenswert, da hier ja vermutet werden kann,

169 Scholtissek, »Geboren aus einer Frau …« (s. Anm. 3) 218: »Paulus ist nicht an einem isoliert verstandenen irdischen Jesus von Nazaret interessiert, wohl aber an dem Menschsein Jesu in einem heilsgeschichtlichen bzw. soteriologischen Sinn.«

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dass sich die in Galatien tätigen pauluskritischen Missionare nicht nur auf die Tora, sondern auch auf Jesustradition beriefen.170 Die Frage, woher Paulus die in ihrem Umfang vergleichsweise geringfügige Tradition vom Handeln und Reden Jesu kannte, wird sich nicht abschließend beantworten lassen. Als Verfolger hat er natürlich gewußt, dass der »Herr« derer, die er verfolgte, ein gekreuzigter Mensch war; vielleicht verbirgt sich hinter der Aussage in Gal 3,13 eine antichristliche Polemik, derzufolge der Kreuzestod erkennen ließ, dass Jesus den Fluchtod gestorben war und er infolgessen nicht der Messias gewesen sein konnte.171 Wahrscheinlich hat Paulus in Damaskus und auch in Jerusalem, ganz sicher auch in Antiochia Jesusworte gehört und Traditionen erhalten, die sich auf das Menschsein Jesu bezogen. Aber dass sich Paulus in besonderer Weise um die Kenntnis solcher Tradition bemüht hätte, können wir nicht erkennen.

170 Wolter, Paulus (s. Anm. 2) fragt im Schlußabschnitt seines Buches nach der sachlichen Beziehung zwischen Jesus und Paulus. Das Verständnis des Evangeliums bei Paulus entspreche der »Selbstauslegung« Jesu, und das gelte insbesondere auch für »die theologische Aufhebung des Unterschieds zwischen Juden und Heiden«. Zwar habe Jesus die Grenzen Israels nicht überschritten, aber wenn er »den Anspruch erhebt, dass Gott sich bei der Zuweisung von Heil und Unheil im Gericht einzig und allein daran orientieren wird, wie man auf seine Selbstauslegung reagiert hat, ist es in der Konsequenz letztlich egal, ob man Jude ist oder nicht«; eben das habe Paulus »ganz genau begriffen«, und dies stelle »seine Theologie in eine fundamentale sachliche Kontinuität mit dem Anspruch und der Verkündigung Jesu von Nazareth« (454.455). 171 S. dazu D. Sänger, »Verflucht ist jeder, der am Holze hängt« (Gal 3,13b). Zur Rezeption einer frühen antichristlichen Polemik, in: Ders., Von der Bestimmtheit des Anfangs. Studien zu Jesus, Paulus und zum frühchristlichen Schriftverständnis, NeukirchenVluyn 2007, 99–106.

Jesus als ›der Kyrios‹ bei Paulus und bei Lukas Erwägungen zum Verhältnis von Bekenntnis und historischer Erkenntnis in der neutestamentlichen Christologie Zu den eindrücklichsten Entwicklungen in der neutestamentlichen Wissenschaft am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gehört das neu erwachte Interesse an der historischen Frage nach Jesus von Nazareth. Das vergangene Jahrhundert hatte begonnen mit Albert Schweitzers »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«1, in der die Einsicht vermittelt wurde, dass die Darstellungen des Lebens Jesu – wie wissenschaftlich auch immer sie angelegt sein mochten  – stets Spiegel der eigenen Vorstellungen der betreffenden Autoren waren, was nicht zuletzt natürlich dann auch für Schweitzers eigenes Jesusbild galt. Dieses Ergebnis trug mit dazu bei, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein relatives Desinteresse an der historischen Jesusfrage überwog, aus theologischen wie auch aus historischen Gründen. Zum einen war vor allem die Dialektische Theologie davon überzeugt, dass es falsch sei, den Glauben historisch sichern zu wollen; zum andern setzte sich weithin die Annahme durch, die kritisch arbeitende historische Forschung könne bei der Frage nach Jesus gar nicht zu einem methodisch gesicherten Ziel gelangen.2 In den 1950er Jahren warf Ernst Käsemann dann die »neue Frage« nach dem historischen Jesus auf, mit der Begründung, der Glaube bzw. die Christologie dürfe nicht in der Luft hängen.3 Damit verband sich die nicht nur methodische, sondern auch inhaltliche Tendenz, Jesus von seiner Zeit und seiner religiösen und kulturellen Umwelt abzugrenzen.4 Das war dann einer 1

A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, Tübingen 1906, seit der 2. Auflage 1913 unter dem oben genannten Titel. 2 Vgl. K. L. Schmidt, Art. Jesus Christus, RGG2 III, Tübingen 1929, 110–151, hier: 116: Über Jesus können anicht Aussagen gemacht werden wie über andere Persönlichkeiten der Geschichte«. 3 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1954), in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster und zweiter Band, Göttingen 1964, Band I: 187–214, hier: 189 u.ö. 4 Vgl. Käsemann (s. die vorige Anm.), 205 f. Das von Käsemann entwickelte »Differenzkriterium« für die Identifizierung authentischer Worte Jesu in der Evangelienüberlieferung bedeutete allerdings entgegen anderer Deutung nicht, dass Jesus nur etwas gesagt

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der Streitpunkte zwischen Käsemann und seinem Lehrer Rudolf Bultmann, denn letzterer betonte nachdrücklich, dass Jesus Jude gewesen sei und nur von daher angemessen verstanden werden könne.5 Im Rückblick auf die in den fünfziger und sechziger Jahren zum Teil sehr hitzig geführte Debatte fällt übrigens auf, dass Käsemann zwar vehement eine historische Jesusforschung forderte, selber aber dazu keinen eigenen größeren Beitrag lieferte. Die am nachhaltigsten wirkenden deutschsprachigen Jesusdarstellungen wurden von Günther Bornkamm6 und von Hans Conzelmann7 verfaßt.8 In den 1980/90er Jahren entwickelte sich der »Third quest«9, bei dem nun alles Gewicht darauf liegt, dass Jesus als Jude im Kontext des Judentums seiner Zeit verstanden wird. Eine der Konsequenzen war, dass die in diesem Rahmen verfaßten Jesusbücher zum Teil wieder sehr umfangreich wurden. Ursache sind freilich nicht neue Quellen, sondern vor allem die Tatsache, dass jetzt die Darstellung der Umwelt Jesu breiten Raum einnimmt – also haben könne, was sich vom zeitgenössischen Judentum unterschied; das Differenzkriterium bedeutete lediglich, dass man zunächst nur bei solchen Aussagen Jesu auf historisch einigermaßen sicherem Boden stehe, dann aber von dort aus nach weiterer möglicherweise oder wahrscheinlich authentischer Überlieferung fragen müsse. 5 R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (1960), in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von E. Dinkler, Tübingen 1967, 445–469, hier 449. Es werde, » – besonders nachdrücklich von Käsemann – bestritten, daß man Jesus dem Judentum zurechnen darf, da er doch die Grenzen der jüdischen Religion entscheidend durchbrochen habe«; dazu sei zu sagen, »daß er nur als Jude das Judentum radikal überwinden konnte«. Es sei dann »ein Wortstreit«, ob man Jesus als Juden bezeichne oder nicht; »jedenfalls kann man ihn nicht einen Christen nennen. Als historische Gestalt steht er innerhalb des Judentums«. Darauf antwortete E. Käsemann, Sackgassen im Streit um den historischen Jesus (1964), in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, 31–68, hier: 48, es gehe »nicht darum, ob er ein Jude oder ein Christ unter anderen war, sondern darum, daß dieser Jude nach dem gemeinsamen Zeugnis der Christenheit Anfänger und Vollender des Glaubens, Urbild des Gehorsams, der neue Adam und als solcher nicht die Voraussetzung, sondern die Mitte des Neuen Testamentes ist« (Hervorhebung im Orig.). Inwiefern es sich bei diesen Feststellungen Käsemanns um Aussagen über den »historischen« Jesus handelt, ist allerdings nicht deutlich. 6 G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, UB 19, Stuttgart 1956 (101975). 7 H. Conzelmann, Art. Jesus Christus, RGG3 III, Tübingen 1959, 619–653. Dieser Artikel erschien in englischer Übersetzung als Monographie: Jesus. The classic article from RGG3 expanded and updated. Edited, with an Introduction, by J. Reumann, Philadelphia 1973. 8 Vgl. meinen Beitrag: Zur Einführung: Die Frage nach dem historischen Jesus als historisches und theologisches Problem, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 1–21. 9 Vgl. dazu D. du Toit, Erneut auf der Suche nach Jesus. Eine kritische Bestandsaufnahme der Jesusforschung am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus (s. die vorige Anm.), 91–134. Zur Methodologie vgl. J. Schröter, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: Ders., Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, BThSt 47, Neukirchen-Vluyn 2001, 6–36.

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die Darstellung Galiläas und generell des Judentums im 1. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, aber auch die philosophische Bewegung des Kynismus.10 Deutlich in den Hintergrund trat dagegen das einst angesichts der damals »neuen Frage« nach dem historischen Jesus noch sehr intensiv diskutierte Problem des Verhältnisses der aus der Jesusforschung zu gewinnenden historischen Einsichten zum Inhalt des christlichen Bekenntnisses.11 Dieses Bekenntnis setzt den historischen Jesus natürlich voraus; aber es bezieht sich nicht auf ihn, sondern es hat seinen Ausgangspunkt bei der Rede von der Auferweckung Jesu durch Gott. Der damit verbundenen theologischen Fragestellung wenden sich die folgenden Überlegungen zu, freilich nicht aus systematisch-theologischer, sondern aus historisch-exegetischer Perspektive.12 Am Anfang (I.) stehen einige knappe Anmerkungen zur historischen Frage nach Jesus, wie sie sich mir darstellt. Dann wird (II.) nach dem Verhältnis der neutestamentlichen Bekenntnisaussagen über den auferweckten Jesus zu dem »historischen Jesus« gefragt, zunächst mit einigen Beobachtungen zu Röm 10,9 und dann mit Hinweisen auf das lukanische Doppelwerk, ausgehend von der Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,14–36). Abschließend soll (III.) das Verhältnis von Bekenntnis und Historie in der neutestamentlichen Christologie in den Blick genommen werden.13

I. Die historische Frage nach Jesus Die folgende Skizze zu Jesu Leben und Verkündigung soll kein eigener Beitrag zur historischen Frage nach Jesus sein14; sie soll nur deutlich machen, dass die in Teil II folgenden Erwägungen zu Paulus und zu Lukas nichts

10 Eine zunehmend stärkere Rolle spielt auch die Berücksichtigung der nicht kanonisch gewordenen Evangelienüberlieferung, der im Blick auf die historische Frage nach Jesus vor allem in der amerikanischen Forschung des öfteren größerer historischer Wert beigemessen wird. 11 Das war ja die von Bultmann (s. Anm. 5) im Gespräch mit seinen Schülern diskutierte Problematik. 12 Zur systematisch-theologischen Perspektive vgl. jetzt die Beiträge in Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, DoMo 1, Tübingen 2010. 13 Das Stichwort »Erwägungen« im Untertitel dieses Aufsatzes deutet an, dass abschließende Feststellungen natürlich nicht erwartet werden dürfen. 14 Daher wird auch auf eine Debatte mit der Forschung verzichtet. Eine nach meinem Urteil ausgezeichnete methodisch kontrollierte Darstellung bietet J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin / New York 1996 (engl. Übersetzung von J. E. Crouch, ebd. 1998). Gemeinverständlich ist das Buch von J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Biblische Gestalten 15, Leipzig 2006. Vgl. auch J. Schröter, Die aktuelle Diskussion über den historischen Jesus und ihre Bedeutung für die Christologie, in dem in Anm. 12 genannten Band (67–86).

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mit einer prinzipiellen Skepsis im Blick auf den »historischen Jesus« zu tun haben. Eine Biographie Jesu, also ein wissenschaftlich verantwortetes Buch mit dem Titel »Das Leben Jesu«, kann nicht geschrieben werden – dafür reichen die Quellen nicht aus, und zwar auch deshalb nicht, weil die Evangelisten an einer im strengen Sinne biographischen Darstellung der Person Jesu offensichtlich nicht interessiert waren.15 Das gilt für das Markusevangelium16, kaum anders auch für Matthäus. Nur Lukas deutet an, dass die von ihm nach »vielen« Vorläufern nun vorgelegte ĎēƮčđĝēĜĚďěƯĞȥėĚďĚĕđěęĠęěđĖƬėģė őėƊĖȉė auch dem Maßstab einer historiographischen Darstellung entsprechen soll (Lk 1,1–3).17 Auf historisch einigermaßen sicherem Boden befinden wir uns im Blick auf Jesu Leben erst bei seiner Taufe durch Johannes. Der Täufer sprach von einem nahen eschatologischen Gericht, und er rief die Menschen angesichts dieses Gerichts zur Buße, was er nach Mk 1,4 mit der Sündenvergebung verband, die den Menschen in der Taufe zugesprochen wurde18; Jesus ließ sich also offensichtlich taufen zur Vergebung seiner Sünden.19 Eine »Schü15 Die Frage, ob die Evangelien als »Biographien« im Sinne einer literarischen Gattung nach antiken Maßstäben zu gelten haben, ist umstritten. D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst, TANZ 22, Tübingen 1997 kommt auf der Grundlage eines breit angelegten Vergleichs mit antiken biographischen Texten zu dem Ergebnis, die kanonischen Evangelien seien als »Jesus-Biographien im Vollsinn des Wortes« anzusehen (508, Hervorhebung im Orig.). Zur Kritik vgl. A. Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992–2000 (I). Methodendiskussion und Darstellungen übergreifender Themen, ThR 69 (2004) 182–227, hier: 187–189. 16 D. Lührmann, Biographie des Gerechten als Evangelium. Vorstellungen zu einem Markus-Kommentar, WuD NF 14 (1977) 25–50 meint, Markus biete durchaus eine »Biographie«, »in einer chronologischen Reihenfolge geordnet ein Ablauf des Lebens Jesu von seinem ersten Auftreten bis zu seinem Tod und seinem Begräbnis  – eine merkwürdige Biographie freilich: eines Gestorbenen, der lebt« (36). Markus beschreibe »einen Weg Jesu in einem historisch sicher nicht authentischen, wohl aber, wie die Formgeschichte gezeigt hat, typisierenden Nacheinander als den typischen Weg des Gerechten« (43). Die Funktion einer solchen Biographie sei die Aufforderung an die Leser, sich mit Jesus zu identifizieren »als dem exemplarisch leidenden Gerechten, der Gottes Recht bringt, Gottes Recht tut und von Gott ins Recht gesetzt wird« (44). Vgl. D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987. Kann man von einer literarischen Gattung »Biographie des Gerechten« sprechen? 17 Lk 1,4 zeigt dann freilich, welchem eigentlichen Zweck das Werk dient. Vgl. M. Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 64–68, vor allem auch zur breiten Bedeutung des Wortes ĎēƮčđĝēĜ. 18 Vgl. J. Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte, BZNW 53, Berlin / New York 1989, 337: »An der Tatsächlichkeit der Taufe Jesu durch Johannes besteht … kein begründeter Zweifel.« 19 Mk sieht darin offensichtlich kein Problem; Mt hält an der mk Formulierung fest, die Täuflinge hätten »ihre Sünden bekannt« (Mt 3,6), aber der von ihm redaktionell geschaffene kurze Dialog zwischen dem Täufer und Jesus (3,14 f.) zeigt die deutlich veränderte Perspektive (vgl. Ernst, Johannes [s. die vorige Anm.], 162–164). Demgegenüber meint Armand Puig i Tàrrech, Why was Jesus Baptized by John?, in: Ders., Jesus: An

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lerschaft« Jesu im Verhältnis zu Johannes ist aus der Tatsache der Taufe nicht abzuleiten – schon deshalb nicht, weil sich ja nach Mk 1,5 sehr viele Menschen taufen ließen, ohne dass man deshalb diese alle als »Schüler« des Täufers ansehen dürfte.20 Ob Jesus im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Taufe oder auch später ein explizites »Berufungserlebnis« hatte, läßt sich nicht sagen.21 Die Versuchungsgeschichte nach Lk 4,1–13/Mt 4,1–11 oder auch das Logion »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz« (Lk 10,18) könnten in diese Richtung weisen; aber die Versuchungsgeschichte trägt deutlich legendarische Züge22, und das Logion Lk 10,18 läßt sich kaum zweifelsfrei als historisch authentisch erweisen.23 Jesus hat von Gott gepredigt und vom nahen Kommen des Gottesreiches.24 Eine symbolische Handlung wie die Taufe hat er nicht vollzogen; aber er sammelte um sich eine offenbar nicht ganz kleine Schar von Anhängern. Sollte er dabei tatsächlich einen Kreis von zwölf Jüngern gewählt haben, so wäre damit vermutlich die symbolische Absicht verbunden gewesen, dass »Die Zwölf« die Stämme Israels repräsentieren sollten; es bliebe allerdings offen, ob damit ein eschatologisches Neues Israel gemeint gewesen wäre oder eher ein restituiertes geschichtliches Israel. Die Historizität eines vorösterlichen Zwölferkreises läßt sich aber mit guten Gründen bezweifeln.25 Als wahrscheinlich kann gelten, dass sich unter denen, die Jesus begleiteten, Uncommon Journey, WUNT II/288, Tübingen 2010, 143–162, die Möglichkeit sei auszuschließen »that Jesus wanted to purify himself or his sins«; Jesus habe sich deshalb für die Taufe entschieden, da diese von Gott komme (vgl. Mk 11,30). 20 Vgl. K. Backhaus, Die »Jüngerkreise« des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums, PThS 19, Paderborn usw. 1991. Backhaus kommt zu dem Ergebnis, dass Jesus »dem ›narrower circle‹ der Johannesjünger mit einem denkbar hohen Wahrscheinlichkeitsgrad nicht« angehörte (aaO., 110; vgl. 96–112). 21 Vgl. dazu A. Vögtle, Herkunft und ursprünglicher Sinn der Taufperikope Mk 1,9– 11 (1972), in: Ders., Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte. Neutestamentliche Beiträge, Freiburg / Basel / Wien 1985, 70–108, hier: 79–87. 22 Auch die Notiz in Mk 1,13 läßt sich nicht »historisch« auswerten. 23 Becker, Jesus (s. Anm. 14), 131–133 hält Lk 10,18 zwar für authentisch, sieht darin aber nicht den Hinweis auf eine Jesus widerfahrene Vision, sondern meint, die Aussage sei »besser als Urteil Jesu angesichts seiner Wundertaten zu begreifen« (132 f.), analog dem Q-Logion in Lk 11,20/Mt 12,28. 24 Vgl. dazu Becker, Jesus (s. Anm. 14), 122–275. 25 Ein Indiz für diese Vermutung ist die in 1 Kor 15,5 im Anschluß an Petrus folgende Nennung der ĎƶĎďĔċ als Empfänger der Erscheinung des Auferstandenen. Als nachösterliche Größe sahen sich »die Zwölf« wohl als Repräsenten Israels bzw. eines »wahren Israel«; allerdings scheint die Gruppe nur für eine sehr kurze Zeit existiert zu haben bzw. wirksam gewesen zu sein. D.-A. Koch, Art. Zwölferkreis, RGG4 8, Tübingen 2005, 1956–1958 nimmt die vorösterliche Entstehung des Zwölfer-Kreises an: »Die ›Zwölf‹ repräsentieren das Zwölf-Stämme-Volk«, d.h. die Bildung dieses Kreises ist »als symbolische Vorwegnahme der Restitution des Volkes Gottes in seiner eschatologischen Ganzheit zu verstehen« (1957). Aber in welchem Verhältnis steht das zur sonstigen Verkündigung und Praxis Jesu?

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auch Frauen befanden; zwar gibt es keine entsprechende Berufungserzählung, und in den Namenslisten begegnet kein Frauenname, doch die Notiz in Mk 15,40 f., auch wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit redaktionell ist, läßt erkennen, dass schon Markus eine Begleitung Jesu auch durch Frauen voraussetzt, ein Aspekt, der in Lk 8,1–3 sehr bewußt ausgebaut ist.26 Ob man das Ethos der Gruppe um Jesus als »Wanderradikalismus« bezeichnen kann, ist zumindest fraglich; jedenfalls braucht die in Mk 10,28–30 hervorgehobene Besitzlosigkeit der Jünger keineswegs ein Ideal zu sein, sondern sie könnte sich auch aus einer Notlage ergeben haben. Überdies muß der Überlieferung solch »radikaler« Aussagen keine Praxis der Tradenten entsprechen; das zeigen die Evangelien selber, denn das in Mk 10,28–30 gezeichnete Bild wird kaum der gemeindlichen Realität im Umfeld des Mk entsprochen haben. In der neueren Jesusforschung wird bisweilen, vor allem im Blick auf die Logienquelle Q, ein möglicher »Kynismus« der Jesusgruppe vermutet, nicht zuletzt im Blick auf den gesellschaftlichen Status der Gruppenmitglieder.27 Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass Jesus der Überlieferung zufolge nicht nur mit »Zöllnern und Sündern« Kontakt hatte, sondern auch mit Schriftgelehrten und Pharisäern. Jesus sprach vom Gottesreich in Gleichnissen28, und er machte die Nähe dieses Reiches für die Menschen erfahrbar in seinen Dämonenaustreibungen; auf einen solchen Zusammenhang verweist das in der Logienquelle Q überlieferte Wort: »Wenn ich mit dem Finger / Geist Gottes die Dämonen austreibe, ist das Gottesreich zu euch gelangt« (Lk 11,20/Mt 12,28), das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Jesus selber zurückgehen wird. Woran genau zu denken ist, wenn in den Texten der Jesusüberlieferung von »Dämonen« bzw. bei Markus vor allem von »unreinen Geistern« (ĚėďƴĖċĞċ ŁĔċĒƪěĞċ) die Rede ist, läßt sich schwer sagen; angesichts der Überlieferung kann man es für wahrscheinlich halten, dass Jesus auf dem Gebiet der Heilung psychischer und vielleicht auch körperlicher Krankheiten über besondere Fähigkeiten verfügte – allerdings ist das nicht mehr als eine historisch wahrscheinliche Vermutung.29 26 Vgl. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 17), 302 meint, Lukas habe offenbar Verhältnisse seiner eigenen Zeit »in die Zeit Jesu zurückprojiziert«, was aber »natürlich nicht ausschließt, dass Lukas hier eine historisch zuverlässige Information wiedergibt«. 27 Vgl. F. G. Downing, The Jewish Cynic Jesus, in: M. Labahn / A. Schmidt (eds.), Jesus, Mark and Q. The Teaching of Jesus and its Earliest Records, JSNT.S 214, Sheffield 2001, 184–214, vor allem 198–210. 28 Vgl. U. Mell, Die neutestamentliche Gleichnisforschung 100 Jahre nach Adolf Jülicher, ThR 76 (2011) 37–81. 29 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Wunder und Wirklichkeit. Anmerkungen zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion über die Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, in: A. Lindemann, Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 346–367.

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Aus seiner Gottesreichsverkündigung leitete Jesus eine entsprechende Lebenspraxis ab: Weil Gottes kommende Herrschaft und damit Gott selbst »nahe« ist, kann es so etwas geben wie eine Neuinterpretation der Tora. So erhält die Auslegung des Sabbatgebots einen gegenüber dem bis dahin als gültig Anerkannten veränderten Akzent: »Der Sabbat ist für den Menschen geschaffen und nicht der Mensch für den Sabbat«, sagt Jesus im Zusammenhang der Debatte mit den Pharisäern über das Ährenraufen der Jünger (Mk 2,27); die Tatsache, dass im Matthäus- und im Lukasevangelium bei der Übernahme der Perikope Mk 2,23–28 ausgerechnet dieses Logion weggelassen wurde, spricht eher für dessen vorösterlichen Charakter als für nachträgliche Gemeindebildung.30 Eine ähnliche Haltung Jesu ergibt sich wohl auch aus seiner Deutung der Reinheitsgebote: Wenn nach Mk 7,15 »nichts was in den Menschen hineingeht, ihn verunreinigt«, dann wird damit behauptet, dass die kultische Unterscheidung zwischen »rein« und »unrein« zumindest keine unhinterfragbare Gültigkeit besitzt. Wenn allerdings der Evangelist erläuternd hinzufügt, damit habe Jesus »alle Speisen für rein erklärt« (V. 19), dann dürfte er damit wohl über das hinausgehen, was Jesus selber für richtig gehalten hat.31 In bestimmtem Umfang scheint Jesus inhaltlich neue Normen gesetzt zu haben. Zu nennen ist beispielsweise das ausdrückliche Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44), das jedenfalls so pointiert in der uns bekannten älteren jüdischen Überlieferung nicht belegt ist.32 Auch das strikte Verbot der Ehescheidung dürfte auf Jesus zurückgehen; dafür spricht die Tatsache, dass das Verbot sowohl in der Logienquelle Q (Lk 16,18/Mt 5,31 f.) als auch im Markusevangelium (10,5–9.10–12) überliefert ist und dass dieses Verbot von Matthäus in 5,32 und 19,9 deutlich modifiziert wurde.33 Charakteristisch für Jesu Verhalten scheint seine Hinwendung (auch) zu »Zöllnern und Sündern« gewesen zu sein. Das Q-Logion über ihn als »Fresser und Weinsäufer« (Lk 7,33–35/Mt 11,18 f.) überliefert natürlich eine Außenwahrnehmung und ist polemisch gemeint; es deutet aber darauf hin, dass Jesus im Unterschied zu Johannes dem Täufer offenbar nicht asketisch lebte.34 Diese und ähnliche 30

Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden …« Historische und theologische Erwägungen zur Traditionsgeschichte der Sabbatperikope Mk 2,23–28 parr. in: A. Lindemann, Die Evangelien und die Apostelgeschichte (s. die vorige Anm.), 15–39. Allerdings scheint Mk an einer Zuspitzung der Haltung Jesu zum Sabbat interessiert zu sein, wie die m. E. redaktionell geschaffene Erzählung Mk 3,1–6 zeigt. 31 Vgl. D. Lührmann, … womit er alle Speisen für rein erklärte (Mk 7,19), WuD NF 16 (1981) 71–92. 32 Vgl. dazu D. Lührmann, Liebet eure Feinde (Lk 6,27–36/Mt 5,39–48), ZThK 69 (1972) 412–438. 33 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband Mt 1–7, EKK I/1, Düsseldorf und Neukirchen-Vluyn 52002, 357–365. 34 Vgl. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 17 ), 288: In der Verbindung zwischen den Aussagen zur Tischgemeinschaft mit Sündern und dem Logion von »Weinsäufer« wird

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Aussagen, wenn sie denn historisch tatsächlich zuverlässig überliefert sein sollten, bedeuten selbstverständlich nicht, dass Jesus das Judentum verlassen hätte; vielmehr waren solche Aussagen und Einstellungen im Rahmen des antiken Judentums sehr wohl möglich. Aber hier wird insgesamt doch ein Profil erkennbar, das Jesus als – modern gesprochen – »wenig angepaßt« erscheinen läßt. Über Jesu Einstellung zu aktuellen politischen Fragen läßt sich wenig sagen. Kritische Äußerungen über Herodes Antipas sind von Jesus nicht überliefert. Zwar erklären Pharisäer, Herodes wolle Jesus töten, worauf Jesus ihn als »Fuchs« bezeichnet (Lk 13,32); aber dezidierte Kritik, wie sie Johannes der Täufer geübt hatte und für die er dann gefangengesetzt und ermordet worden war, kennen wir aus dem Munde Jesu nicht.35 Für die Annahme, dass sich Jesus in seiner Verkündigung ausdrücklich gegen die römische Herrschaft gewandt hat, gibt es keine Indizien, zumal es in Galiläa praktisch kein römisches Militär gab. Dass Jesus während seines – nach den synoptischen Evangelien ja einzigen und kurzen  – Aufenthalts in Jerusalem romkritische Äußerungen getan hat, läßt sich ebenfalls nicht belegen; vermutlich ging der für Judäa zuständige Präfekt Pontius Pilatus also nicht aus eigenem Antrieb gegen Jesus vor. Allerdings wird Jesus im Rahmen der Passionsüberlieferung mehrfach als »König« apostrophiert, erstmals völlig unvermittelt in Mk 15,2 in einer entsprechenden Frage des Pilatus36; ein solcher Aspekt hatte in der Überlieferung der Verkündigung Jesu in Galiläa gänzlich gefehlt. Haben Jesu Ankläger dessen Rede von Gottes kommender »Königsherrschaft« Pilatus gegenüber bewußt dahin (fehl-) gedeutet, dass er damit den Anspruch erhebe, in der kommenden Čċĝēĕďưċ der »König« zu sein?37 In diesem Fall mußte Jesus aus römischer Sicht als

»etwas Typisches im Auftreten des historischen Jesus und in der Wahrnehmung Jesu von Seiten seiner Zeitgenossen sichtbar (Kriterium der vielfachen Bezeugung)«. 35 Ernst, Johannes (s. Anm. 18), 315 vergleicht das Jesuswort in Lk 13,32 mit der »Königsschelte« des Täufers; aber das scheint mir zu weit zu gehen. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 17), 495 f. sieht in dem Begriff »Fuchs« eine »gehörige Portion Ironie«; Herodes zeige, dass »ihm die Einsicht in den Heilsplan Gottes fehlt«, wenn er meint, Jesus in Galiläa töten zu können, aber auch den Pharisäern, die Jesus warnen, fehle diese Einsicht. Woran Lukas konkret denkt, wenn er eine Tötungsabsicht des Herodes erwähnt, ist freilich unklar, denn von einer möglichen Verfolgung Jesu durch Herodes ist nirgends etwas zu sehen. Zur relativ stabilen politischen Lage in Galiläa zur Zeit Jesu vgl. K.-H. Ostmeyer, Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005) 147–170. 36 In Lk 23,2 f. ist diese Frage erzählerisch besser vorbereitet durch den vorangestellten Vorwurf der Ankläger, Jesus habe zur Steuerverweigerung aufgerufen und von sich gesagt, er sei ġěēĝĞƲĜ und ČċĝēĕďƴĜ. 37 Jesu Einzug in Jerusalem ist in Mk 11 zumindest teilweise als »königlicher« Einzug stilisiert, aber dass sich das Geschehen historisch tatsächlich in dieser Weise abgespielt hat, ist m. E. sehr unwahrscheinlich (s.u. S. 141 f.).

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eine in hohem Maße gefährliche Person erscheinen38; jedenfalls zeigt Jesu Kreuzestod, dass die Hinrichtung auf eine römische Entscheidung zurückgeht, auch wenn eine Beteiligung des Synedriums oder zumindest einzelner Angehöriger dieses Gremiums als historisch wahrscheinlich gelten muß.39 Das Jesus-Buch David Flussers endet programmatisch mit dem Satz »Und Jesus verschied«.40 Das Geschehen nach Jesu Tod, also das »Osterereignis« ist in der Tat als ein allein dem Glauben zugängliches Handeln Gottes zu verstehen, nicht als ein mit den Mitteln historischer Forschung zu erfassendes Faktum. Dass nach Jesu Tod jemand gesagt hat: »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt«, ist natürlich eine historische Tatsache – von wem und wann immer dieser Satz erstmals ausgesprochen worden sein mag.41 Aber es handelt sich bei diesem Satz von Anfang an nicht um die Mitteilung einer historischen Tatsache, sondern um ein vom Glauben ausgesprochenes Bekenntnis zum Handeln Gottes an dem Gekreuzigten.

II. Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu im Neuen Testament Wie kommt das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu zustande? In welchem Verhältnis steht es zur Geschichte? Dass dies nicht erst eine neuzeitliche Fragestellung ist, sondern dass die urchristlichen Autoren selber diese Problematik kennen, soll im folgenden anhand von zwei neutestamentlichen Texten näher aufgewiesen werden. 1. Das Bekenntnis zu Jesus als dem ĔƴěēęĜ bei Paulus in Röm 10,9 »Wenn du mit deinem Munde bekennst: ›Herr (ĔƴěēęĜ) ist Jesus‹, und (wenn du) in deinem Herzen glaubst: ›Gott hat ihn auferweckt von den Toten (ščďēěďė őĔ ėďĔěȥė)‹, wirst du gerettet werden.« Mit zwei offensichtlich formelhaften Aussagen beschreibt Paulus in Röm 10,9 die Voraussetzung 38

Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 17), 739: Wenn die gegen Jesus erhobenen Vorwürfe zuträfen, wäre der Tatbestand der seditio erfüllt; aber Lukas setzt das Wissen der Leser voraus, dass Jesus nicht zur Steuerverweigerung aufgerufen (20,22–25) und sich nicht als König bezeichnet hat (22,67 f.). 39 Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine historische Feststellung, nicht um einen »Vorwurf«, von dem »die Juden« dementsprechend auch nicht »freigesprochen« zu werden brauchen. 40 D. Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rowohlts monographien 140), Reinbek 1968, 133. 41 Das Datum »am dritten Tage« scheint aus der Bibel gewonnen zu sein (vgl. 1 Kor 15,4), aber zwischen »Karfreitag« und »Ostersonntag« dürfte vermutlich nicht allzuviel Zeit vergangen sein. Vgl. die Überlegungen bei W. Marxsen, »Christliche« und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989, 158–163.

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für die Teilhabe eines Menschen am Heil, seine eschatologische Rettung (ĝģĒƮĝǹ). Unmittelbar zuvor in Röm 10,6b–8a hatte Paulus Dtn 30,12–14 zitiert, in der Fassung der LXX: »Sprich nicht in deinem Herzen ›Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?‹ oder ›Wer wird in die Unterwelt hinabsteigen?‹ [Vielmehr:] Nahe ist dein Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen.« In dem zitierten biblischen Text ist das dem Mund und dem Herzen »nahe Wort« die Tora, das Gesetz, in der Sprache der LXX: der ėƲĖęĜ. Aber unmittelbar zuvor hatte Paulus in 10,4 einen Gegensatz zwischen Jesus Christus und dem ėƲĖęĜ behauptet, und zwar als Erläuterung für seine These vom Widerspruch zwischen der »eigenen Gerechtigkeit« und der »Gerechtigkeit Gottes« (10,3): »Christus nämlich ist ĞƬĕęĜėƲĖęğ für jeden Glaubenden (ĚċėĞƯĞȦĚēĝĞďƴęėĞē).«42 Daran anknüpfend erklärt er nun in 10,5.6–8, dass der Gegensatz zwischen den beiden Formen der Gerechtigkeit schon im Gesetz selber zu finden ist: Mose nämlich schreibt (!) in Lev 18,5 hinsichtlich der »Gesetzesgerechtigkeit« (V. 5a: ĎēĔċēęĝƴėđőĔėƲĖęğ), dass sie in das Tun führt, dagegen spricht (!) in Dtn 30,12–14 die »Glaubensgerechtigkeit« (ŞĚưĝĞďģĜĎēĔċēęĝƴėđ) davon, dass das von ihr dem Hörer zugesprochene Wort »nahe« ist als das ȗǻĖċ ĞǻĜ ĚưĝĞďģĜ, welches »wir« verkündigen.43 Anknüpfend an das ĔđěƴĝĝęĖďė in V.  8 führt Paulus nun in V.  9 als Inhalt des Bekennens (žĖęĕęčďȉė)44 die Aussage ein: ›Herr ist Jesus‹; als Inhalt des Glaubens (ĚēĝĞďƴďēė) folgt die Aussage, dass Gott ihn – Jesus – von den Toten auferweckt hat. Was ist damit gemeint? Die beiden Worte ĔƴěēęĜ und ŵđĝęȘĜ bilden zusammen einen Nominalsatz; die inhaltliche Bedeutung beider Worte gilt offensichtlich als bekannt. Die formgeschichtliche Bestimmung der Aussage ĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ ist nicht ganz deutlich; aber da dieselbe Wendung auch in 1Kor 12,3 und ähnlich in Phil 2,11 begegnet, liegt vermutlich eine feste Formel vor: »Herr ist Jesus«. Paulus verknüpft diese Aussage mit dem Verb žĖęĕęčďȉė, das üblicherweise mit »bekennen« übersetzt wird; nach Käsemann handelt es sich allerdings nicht um eine Bekenntnisformel, sondern eher um eine im Gottesdienst ausgesprochene Akklamation, »die freilich das Moment des Bekenntnishaften einschließt«.45

42 Die Debatte, ob ĞƬĕęĜėƲĖęğ »Ende« oder aber »Ziel des Gesetzes« meint, braucht hier nicht expliziert zu werden; da in 10,3 ein Gegensatz konstatiert worden war, kann die in 10,4 dazu ausgeführte Erläuterung (čƪě) jedenfalls nicht den Sinn haben, diesen Gegensatz sogleich wieder zu beseitigen. S. dazu O. Hofius, Zu Römer 10,4: ĞƬĕęĜčƩěėƲĖęğ āěēĝĞƲĜ, in: Ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, 95–101. 43 Näheres dazu bei A. Lindemann, Die Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Erwägungen zur Auslegung und zur Textgeschichte von Röm 10,5, ZNW 73 (1982) 231–250. 44 Das V. 9 einleitende ƂĞē könnte als recitativum aufzufassen sein. 45 E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 281. žĖęĕęčďȉė könne hier geradezu mit »proklamieren« übersetzt werden.

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Verbindet sich der Titel ĔƴěēęĜ, der im Rahmen religiöser Sprache u.a. auch als Gottesprädikat gebraucht werden kann, in einem Nominalsatz mit dem Namen einer bestimmten Person, so wird damit eine Exklusivaussage über diese Person gemacht; die Aussage ĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ meint also: »Herr ist Jesus, niemand sonst«.46 Dabei ist natürlich zumindest im Kontext des jüdischen Christentums klar, dass ĔƴěēęĜ hier nicht als ein Gottesprädikat aufzufassen ist.47 Jesus tritt im christlichen Glauben nicht an die Stelle Gottes, wohl aber steht Jesus in einer unvergleichlichen und endgültigen Weise an der Seite Gottes – bis hin zu der in 1Kor 8,6 vorliegenden Verbindung der biblischen Rede von dem einen Gott (ďųĜĒďƲĜ) mit der Rede von dem einen Herrn Jesus (ďųĜĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ).48 Der ĔƴěēęĜ-Titel bezieht sich dabei nicht auf die irdische Vergangenheit Jesu, sondern er bezeichnet Jesu gegenwärtige Rolle bzw. Funktion: Jesus ist (jetzt) der Herr (und also nichts anderes49); und zugleich gilt: Es ist eben dieser Jesus (und also niemand sonst), von dem gesagt wird, dass er »der Herr« ist.50 Paulus hat dieses Herr-Sein Jesu in einem umfassenden Sinn verstanden; das wird deutlich in Röm 10,12, wo Jesus ausdrücklich als ĔƴěēęĜĚƪėĞģė bezeichnet wird: »Alle« – das sind Juden und Heiden, denn Paulus behauptet, die bisher bestehende und als fundamental wahrgenommene Unterscheidung von Jude und Nichtjude sei aufgehoben (ęƉčƪěőĝĞēėĎēċĝĞęĕƮ). Welche Bedeutung besitzt in der Aussage ĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ der Name ›Jesus‹? Klar ist jedenfalls, dass er eine reale, historische Person der Vergangenheit bezeichnet; man braucht nicht über die Möglichkeit zu spekulieren, Paulus könne an eine mythische Gestalt gedacht haben oder der Name ›Jesus‹ bezeichne ein bloßes religiöses Konstrukt. Die Historizität Jesu ist jedenfalls in der Antike nie bestritten worden; vielmehr war sowohl den Anhängern wie auch den Gegnern der Aussage ĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ stets bewußt, dass Jesus tatsächlich gelebt hatte, und zwar zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften in jüngster Vergangenheit. Welches historische Wissen sich mit dem Namen ›Jesus‹ verband, können wir im einzelnen al46

Vgl. dazu E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 296 f. Das gilt unabhängig von der Frage, ob der griechische Begriff ĔƴěēęĜ schon früh in der LXX für den hebräischen Gottesnamen verwendet wurde oder nicht. Vgl. dazu M. Rösel, Adonaj – warum Gott ›Herr‹ genannt wird, FAT 29, Tübingen 2000, 5–7; St. Schorch, Euphemismen in der hebräischen Bibel, OBC 12, Wiesbaden 2000, 226–232. 48 Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 148–153; Vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 188–193. Etwas anders O. Hofius, »Einer ist Gott – Einer ist Herr«. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses 1. Kor 8,6, in: Ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 167–180. 49 Das bedeutet natürlich nicht, dass Jesus kein anderer Hoheitstitel beigelegt werden könnte; aber ein solcher darf nicht im Widerspruch stehen zum ĔƴěēęĜ-Titel. 50 Das Gegenüber des einen ĔƴěēęĜ zu anderen (»vielen«) möglichen Ĕƴěēęē wird in 1Kor 8,5 f. expliziert. 47

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lerdings nicht sagen. Das gilt im Blick auf Paulus selber51 und natürlich auch im Blick auf die uns unbekannten Urheber der in Röm 10,9 zitierten Formel; es gilt vor allem auch im Blick auf die römischen Adressaten jenes Briefes, in dem Jesus als ĔƴěēęĜ bezeichnet wird. Allerdings ist die Annahme, Paulus habe über den »historischen Jesus« nicht nur nichts gewußt, sondern er habe über ihn geradezu nichts wissen wollen, wenig wahrscheinlich; aus der Aussage des Paulus in 2 Kor 5,16 (… ďŭĔċƯőčėƶĔċĖďėĔċĞƩĝƪěĔċāěēĝĞƲėŁĕĕƩėȘėęƉĔƬĞēčēėƶĝĔęĖďė) läßt sich eine solche Vermutung jedenfalls nicht ableiten.52 Schon die in 1 Kor 11,23b–25 zitierte Fassung der Abendmahlsworte mit ihrer ausdrücklichen zeitlichen Einordnung des geschilderten Geschehens (»in der Nacht, in der er verraten / ausgeliefert wurde«) setzt das Wissen um einen größeren »biographischen« Rahmen voraus; und das in 1Kor 15,3b–5 bzw. 3b–7 im Wortlaut zitierte ďƉċččƬĕēęė, an das Paulus seine korinthischen Adressaten erinnert, spricht von Kephas und den »Zwölf« sowie von Jakobus als von bekannten Personen.53 Es sollte andererseits allerdings auch nicht behauptet werden, Paulus habe sich etwa im Rahmen seines zweiwöchigen Aufenthalts in Jerusalem (Gal 1,18) bei Petrus eingehend über Leben und Verkündigung des irdischen Jesus informiert54 und dann von dem so erworbenen Wissen in seiner uns nicht zugänglichen Missionspredigt auch intensiv Gebrauch gemacht.55 Entscheidend ist: Der Name ›Jesus‹ ist im Rahmen der Aussage 51

Vgl. dazu meinen Aufsatz: Paulus und die Jesustradition (s.o. S. 73–115). Vgl. R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, KEK Sonderband, hg. von E. Dinkler, Göttingen 1976, 155–158. 156: »Der āěēĝĞƱĜĔċĞƩĝƪěĔċ ist Christus in seiner weltlichen Vorfindlichkeit, vor Tod und Auferstehung. Als solcher soll er nicht mehr in den Blick gefaßt werden (bzw. wenn man ĔċĞƩĝƪěĔċ zu őčėƶĔċĖďė ziehen will …: in der Weise der ĝƪěĘ soll man ihn nicht mehr in den Blick fassen, was auf das gleiche hinauskommt).« V. P. Furnish, II Corinthians, II Corinthians, AncB 32A, Garden City, NY, 1984, 331schließt sich der These von J. L. Martyn an, der Gegensatz zu ĔċĞƩĝƪěĔċ sei im sachlichen Kontext des 2 Kor ein Kennen Jesu ĔċĞƩĝĞċğěƲė, entsprechend der Aussage in 1 Kor 2,2. Vgl. E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel ,1–7,16, ÖTK 8/1, Gütersloh 2002, 221: »2 Kor 5,16 gibt keinerlei Auskunft darüber, welche Bedeutung der geschichtliche Jesus für Paulus hatte.« 53 Becker, Jesus (s. Anm. 14), 32 meint, es sehe »so aus, daß alle aufgezählten Osterzeugen in 1. Kor 15,5–7 ein Merkmal gemeinsam besaßen: Sie kannten den vorösterlichen Jesus von Nazaret«, woraus Becker die Existenz des Zwölferkreises schon zur Zeit des irdischen Jesus ableitet (s.o. S. 120). Aber gilt das in dieser Weise auch für Jakobus und die »mehr als fünfhundert Brüder«? 54 So aber beispielsweise M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, WUNT 108, Tübingen 1998, 232 f.: »Im Mittelpunkt der Gespräche wird – ca. sechs Jahre nach dem Todespassa – vor allem Jesus gestanden haben, d.h. der irdische und gekreuzigte, auferstandene und erhöhte, der jetzt verkündigte und der kommende Herr.« 55 Hengel polemisiert gegen Conzelmanns Hinweis, Paulus habe in Gal 1,18 vom Inhalt der Gespräche nicht berichtet, »weil er anscheinend für seine eigene Theologie nicht substantiell war« (H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, GNT 5, Göttingen 52

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ĔƴěēęĜŵđĝęğĜ keine Chiffre, sondern er bezeichnet eine historische Person. Aber die Aussage, dass dieser Jesus der ĔƴěēęĜ ist, bezieht sich nicht auf dessen Vergangenheit; sie spricht nicht davon, wer dieser Jesus historisch betrachtet gewesen war, sondern sie sagt, wer dieser Jesus gegenwärtig ist. Nun ist aber Jesus gegenwärtig nicht unmittelbar zugänglich; die Aussage, dass er jetzt ›der Herr‹ ist, bedarf mithin einer zusätzlichen Explikation. Eine solche Näherbestimmung wird offensichtlich in der zweiten Aussage in Röm 10,9 gegeben, wo als Inhalt des ĚēĝĞďƴďēė őė ĞǼ ĔċěĎưǪ der Satz zitiert wird: »Gott hat ihn [Jesus] auferweckt von den Toten.« Was meinen diejenigen, die diesen Satz aussprechen? Die Aussage »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« setzt voraus, dass man weiß, wer ›Jesus‹ ist; man muß aber auch wissen, von welchem Gott gesprochen wird. Über Jesus wird in dem in Röm 10,9b zitierten Satz gesagt, dass er als historische Person nicht mehr am Leben ist; die Aussage ščďēěďė őĔėďĔěȥė setzt den Tod Jesu voraus. Zugleich ist klar, dass das ščďēěďė nicht eine Rückkehr des verstorbenen Jesu ins irdische Leben meint; diejenigen, die glauben, Gott habe Jesus auferweckt őĔėďĔěȥė, sagen jedenfalls nicht, sie hätten Kenntnis von einem ungewöhnlichen – wenn auch keineswegs einzigartigen56 – historischen Ereignis erhalten und hielten nun diese Nachricht »für wahr«. Sie sagen also nicht, ein am Kreuz gestorbener und ordnungsgemäß bestatteter Mensch sei überraschend wiederbelebt worden. Vielmehr wird in dem Satz »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« etwas fundamental anderes ausgesagt als in formal vergleichbaren Sätzen, die etwa davon sprechen, dass der verstorbene Sohn der Witwe von Sarepta durch ein Wunder des Propheten Elia »wieder lebendig« geworden war (1 Kön 17,2257) oder dass Jesus den Lazarus »von den Toten auferweckt« hat (Joh 12,158). Die Erzählungen von der Auferweckung Verstorbener setzen unausgesprochen voraus, dass der Auferweckte zurückkehrt in ein 3

1976, 67); damit verkenne Conzelmann »den Sinn des Berichts von Gal 1,15–24 völlig«, da Paulus ja »nirgendwo ein ausführlicher Berichterstatter biographischer Details« sei (Hengel / Schwemer, Paulus [s. die vorige Anm.], 231). Es geht aber nicht um das Fehlen biographischer Details, sondern darum, dass Paulus vom sachlichen Ertrag des Besuchs bei Petrus überhaupt nicht spricht; sollte er durch Petrus tatsächlich eingehend über Jesu Leben und Verkündigung informiert worden sein, so wäre das praktisch vollständige Fehlen entsprechender Hinweise in den uns erhaltenen Briefen um so auffälliger. Anders P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band I. Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 222: In der Theologie des Paulus werden »die wesentlichen Intentionen des Werkes und der Lehre Jesu aufgegriffen und von Ostern her begrifflich durchdacht«. 56 Die »Wiederbelebung« eines gestorbenen Menschen ist in der Antike nicht selten belegt, nicht zuletzt ja in der Jesusüberlieferung selber; vgl. Lk 7,11–17. 57 1 Kön 17,22: ĆĄò‘ ØïĂìÐÈĔòvĉďĀĉñ‘ Øāïvóœđñ č; LXX: ŁėďČƲđĝďė. 58 Joh 12,1: Jesus kommt nach Bethanien, wo Lazarus wohnte ƀėščďēěďėőĔėďĔěȥė ŵđĝęȘĜ.

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zeitlich begrenztes, irdisches Leben; das Reden von Gottes Handeln an dem toten Jesus (žĒďƱĜċƉĞƱėščďēěďėőĔėďĔěȥė) verbindet sich hingegen unmittelbar mit der Vorstellung, dass der aus der Macht des Todes befreite Jesus von Gott »erhöht« wurde.59 Im Zusammenhang der Aussage »Herr ist Jesus« besagt der Satz »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« also, dass Gott diesem Jesus einen neuen »Status« gewährt hat60; und da dieser Satz ausdrücklich als Inhalt des Glaubens (ĚēĝĞďƴďēė) bezeichnet wird, besagt er zugleich, dass durch dieses Handeln Gottes die Beziehung der daran glaubenden Menschen zu Gott eine grundsätzlich neue Qualität erhalten hat.61 Insofern gilt, dass sich die beiden von Paulus in Röm 10,9 zitierten Aussagen gegenseitig interpretieren. Diejenigen, die den Satz žĒďƱĜċƉĞƱė [sc. Jesus]ščďēěďėőĔėďĔěȥė aussprechen, wissen, wer mit ž ĒďƲĜ gemeint ist; sie setzen zugleich voraus, dass denen, die diesen Satz hören, nicht erklärt werden muß, von welchem Gott gesprochen wird. Die älteste Osteraussage lautet ja nicht: »Jesus ist auferstanden«, sondern sie spricht von Gott, der »Jesus von den Toten auferweckt« hat.62 Dabei ist zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber natürlich vorausgesetzt, dass von dem Gott gesprochen ist, zu dem Jesus in einer besonderen Beziehung gestanden hatte. Es ist also von dem »Gott Jesu« die Rede63, und das bedeutet: Es ist der Gott Israels, von dem der Glaube an die Auferweckung Jesu spricht.64 Hinter dem Begriff žĒďƲĜ steht also die biblische Tradition, die Geschichte der Selbstoffenbarung des Gottes Israels. Ein besonderes Wissen vom spezifischen Inhalt der Gottesverkündigung Jesu muß sich mit der Aussage »Gott hat ihn von den Toten auferweckt« nicht unbedingt verbinden; wohl aber dürfte das Wissen vom gewaltsamen Tod Jesu von Anfang an darin enthalten gewesen sein, auch wenn zumal in den ersten formelhaften Aussagen über Jesu Tod ein expliziter Hinweis auf das Kreuz meist fehlt.65 Jesu Sterben selber wird in Röm 10,9b nicht gedeutet, 59

Vgl. A. Lindemann, Auferstehung. Gedanken zur biblischen Überlieferung, Göttingen 2009, 9–43. 60 Am deutlichsten ist das ausgesprochen in Phil 2,9–11. 61 In 1 Kor 15,20 versteht Paulus Jesu Auferweckung explizit als Vorwegnahme der allgemeinen Auferstehung der Toten. 62 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 111–123. 63 Vgl. J. Becker, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern (1975), in: Ders., Annäherungen. Zur urchristlichen Theologiegeschichte und zum Umgang mit ihren Quellen, BZNW 76, Berlin / New York 1995, 23–47. 64 Vgl. dazu: Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche. Historische Beobachtungen am Neuen Testament (s.o. S. 4–32, hier: 16–18). 65 In der Formel 1 Kor 15,3–5 heißt es ohne einen Hinweis auf das Kreuz ŁĚƬĒċėďė, dafür aber wird ausdrücklich gesagt: ƊĚƫěĞȥėłĖċěĞēȥėŞĖȥė. In Röm 4,24 ist formelhaft von Gott die Rede, der Jesus auferweckt hat von den Toten (… ĞęȉĜĚēĝĞďƴęğĝēėőĚƯĞƱė őčďưěċėĞċŵđĝęȘėĞƱėĔƴěēęėŞĖȥėőĔėďĔěȥė), während die in 4,25 zitierte Formel explizit soteriologische Aussagen macht, aber ebenfalls nicht vom Kreuz spricht (ƀĜĚċěďĎƲĒđĎēƩ

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weder als Sühne noch als Stellvertretung; der Tod wird verstanden als das Ende des irdischen Weges Jesu66: Jesus war tot gewesen, aber seine Auferweckung durch Gott bedeutet nicht eine zeitweise, sondern sie bedeutet eine endgültige Befreiung aus der Macht des Todes. Paulus formuliert in Röm 10,9 zwei Bedingungssätze: »Wenn du bekennst … und (wenn du) glaubst« (őƩėžĖęĕęčƮĝǹĜőėĞȦĝĞƲĖċĞư … ĔċƯ ĚēĝĞďƴĝǹĜ őė ĞǼ ĔċěĎưǪ ĝęğ); als gemeinsamer Hauptsatz folgt dann die Ansage der Rettung im eschatologischen Endgericht (ĝģĒƮĝǹ). Was Paulus meint, verdeutlicht er in V. 10, indem er das verheißene Ziel mit zwei Begriffen bezeichnet – Gerechtigkeit (ĎēĔċēęĝƴėđ) und Heil, Rettung (ĝģĞđěưċ). Man wird zwischen diesen beiden Begriffen nicht scharf unterscheiden müssen, als sei womöglich die Gerechtigkeit strikt dem »glauben mit dem Herzen« (ĔċěĎưǪĚēĝĞďƴďĝĒċē), das Heil dagegen dem »bekennen mit dem Munde« (ĝĞƲĖċĞēžĖęĕęčďȉĝĒċē) zuzuweisen; Paulus betont vielmehr den soteriologischen Charakter der glaubenden Aneignung der Wahrheit der Bekenntnis- und Glaubensaussage.67 Gegenstand des Glaubens und des Bekennens ist nicht ein Wissen von geschichtlichen Fakten; es geht vielmehr um die sich im Glauben vollziehende Annahme der Botschaft, die lautet »Herr ist Jesus«. Diese Botschaft besitzt ihrerseits Geltung, weil gilt, dass »Gott ihn von den Toten auferweckt« hat. Es wird nicht eine Tatsache mitgeteilt, die man als solche zur Kenntnis nehmen oder aber auch ignorieren kann; es wird eine Botschaft verkündigt, und diese wird von denen, die sie hören, entweder im Glauben angenommen oder sie wird abgelehnt im »Ungehorsam« gegenüber dem Wort (Röm 10,14–16) Gerade darum ist es für Paulus so wichtig, dass das verkündigte Wort von allen und überall gehört werden kann. Für den Gedankengang des Paulus in Röm 10 ist also klar: Der Glaube bezieht sich auf die gehörte Botschaft, er ist die Antwort der Hörenden auf diese Botschaft. Dabei trägt die verkündigte Botschaft ihre Wahrheit in sich selbst, d.h. es gibt nichts, woraufhin die Aussagen »Herr ist Jesus« und »Gott hat ihn von den Toten auferweckt« als womöglich plausibel, als im objektiven Sinn »glaubwürdig« akzeptiert werden könnten. Man kann natürlich einwenden, dass sich die paulinische Missionspredigt nicht auf solche formelhaften Aussagen wie die in Röm 10,9a und Röm 10,9b zitierten beschränkt haben kann; Paulus müsse doch vielmehr den Adressaten seiner Verkündigung, Juden wie Nichtjuden, plausibel zu machen versucht ĞƩĚċěċĚĞƶĖċĞċŞĖȥėĔċƯŝčƬěĒđĎēƩĞƭėĎēĔċưģĝēėŞĖȥė). In Phil 2,8 hat Paulus mit großer Wahrscheinlich das Stichwort ĝĞċğěƲĜ ergänzt. 66 Die unterschiedlichen Deutungen des Todes Jesu resultieren aus dem Glauben an seine Auferweckung, nicht umgekehrt. Vgl. die Beiträge in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005. 67 Vgl. Klumbies, Rede (s. Anm. 62), 239.

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haben, warum es sich lohnt, der Christusbotschaft den Glauben nicht zu verweigern. Das ist vielleicht sogar richtig, auch wenn wir den Inhalt der paulinischen Missionsverkündigung im einzelnen ja nicht kennen. Aber deutlich ist. dass die das Bekenntnis und den Glauben zusammenfassend aussprechenden Formeln jedenfalls keinen Versuch einer »objektiven« Plausibilisierung enthalten: Weder wird gesagt, Jesu Auferweckung durch Gott sei womöglich aufgrund des irdischen Lebens Jesu gleichsam »berechtigt« gewesen68, noch wird der Versuch gemacht, die Verheißung der »Gerechtigkeit« bzw. der »Rettung« etwa durch die Behauptung zu untermauern, Glaubende würden in moralischer oder in anderer Hinsicht erkennbar »besser« leben als andere Menschen. Die Zusage »… wirst du gerettet werden« (ĝģĒƮĝǹ) ist für den einzelnen Glaubenden eine Verheißung, die ihre Wahrheit allein in sich selber trägt. 2. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus bei Lukas Wenn als zweites neutestamentliches Beispiel für die hier erörterte Fragestellung ein Textabschnitt aus dem lukanischen Doppelwerk gewählt wird, so geschieht das nicht etwa deshalb, weil Lukas womöglich der große theologische Antipode des Paulus gewesen wäre.69 Schon gar nicht soll gezeigt werden, dass die paulinische Theologie die »richtige«, die lukanische dagegen die »falsche« ist. Wohl aber ist bei Lukas eine deutlich andere Perspektive zu erkennen als bei Paulus; daher lohnt es sich, diese beiden theologischen Positionen miteinander zu vergleichen. Lukas bietet in seinem Evangelium zumindest in Ansätzen so etwas wie eine historiographisch akzentuierte Biographie Jesu.70 In der Apostelgeschichte zeichnet er dann ein ebenfalls durchaus historiographisch orientiertes Bild der Geschichte der urchristlichen Verkündigung71, wobei die Frage, inwieweit diese Darstellungen jeweils als historisch zuverlässig 68 Eine derartige Tendenz ließe sich eher dem in Phil 2,6–11 entfalteten Gedankengang entnehmen: Er (sc. Jesus) war »gehorsam bis zum Tode«, und »darum hat ihn Gott erhöht« (V. 9). 69 Dies war zum Teil die Perspektive in der Forschung der 1950er und 1960er Jahre; vgl. den freilich etwas einseitigen kritischen Bericht von W. G. Kümmel, Lukas in der Anklage der heutigen Theologie (1972), in: Ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Band 2. Gesammelte Aufsätze 1965–1977, hg. von E. Grässer und O. Merk, MThS 16, Marburg 1978, 87–100. Zur Forschungsgeschichte vgl. J. Schröter, Actaforschung seit 1982. IV. Israel, die Juden und das Alte Testament. Paulusrezeption, ThR 73 (2008) 1–59, hier: 27–59. Vgl. die Beiträge in D. Marguerat (ed.), Reception of Paulinism in Acts. Réception du Paulinisme dans les Actes des Apôtres, BEThL 229, Leuven 2009. 70 Dafür spricht nicht allein der »Prolog« (s.o.), sondern dafür sprechen auch historische Notizen wie Lk 2,1 f. und Lk 3,1 f.; vgl. 3,23 – unabhängig davon, als wie zuverlässig diese Angaben einzuschätzen sein mögen. Vgl.. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 17), 16–22. 71 Zur Forschungsgeschichte s. J. Schröter, Actaforschung seit 1982. III. Die Apostelgeschichte als Geschichtswerk, ThR 72 (2007) 383–421.

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anzusehen sind, für den hier erörterten Zusammenhang kaum von Bedeutung ist. Wohl aber soll hier gefragt werden, wie sich die im lukanischen Doppelwerk dargestellte historische Geschichte und das von Lukas entworfene Bild der Glaubensverkündigung zueinander verhalten. Dabei ist zu beachten, dass sich die Werke des Lukas im Unterschied zu den Briefen des Paulus nicht unmittelbar an bestimmte Adressaten wenden72; aber Lukas schildert mit seinen literarischen Mitteln vielfach Situationen, auf deren Höhepunkt adressatenbezogene Reden gehalten werden, die auch als an die Rezipienten des Buches gerichtet zu verstehen sind. In Apg 2,14–36 bietet Lukas die erste öffentliche Missionsrede, die in der im Entstehen begriffenen christlichen Gemeinde gehalten wird. Die Pfingstpredigt des Petrus geht, wie die Reden in der Apostelgeschichte generell, im wesentlichen auf Lukas selber zurück73; die formgeschichtliche Frage, ob und in welchem Umfang dabei auch ältere Tradition verarbeitet worden sein könnte, kann hier unberücksichtigt bleiben.74 Die Pfingstpredigt ist durch die drei unterschiedlichen Anreden an die Adressaten deutlich in drei Abschnitte gegliedert: In 2,14–21 gibt Petrus seinen Jerusalemer Hörern (V. 14: ŅėĎěďĜŵęğĎċȉęēĔĞĕ.) eine Erklärung für das zuvor in 2,1–4 geschilderte und dann in 2,5–13 von den Anwesenden bereits unterschiedlich gedeutete Pfingstwunders; in 2,22–28 spricht er von dem den Hörern (V. 22: ŅėĎěďĜŵĝěċđĕȉĞċē) nicht unbekannten Geschick des irdischen Jesus; in 2,29–36 folgt dann das an die »Brüder« (V. 29: ŅėĎěďĜŁĎďĕĠęư) gerichtete Zeugnis von der Auferweckung Jesu. Der Schluß 2,37–41 entspricht der Eingangsszene 2,1–13; jetzt wird die Reaktion der Anwesenden auf das von ihnen Gehörte beschrieben. Der lk Petrus beginnt seine Predigt damit, dass er nach der feierlichen Einleitung75 zunächst ausdrücklich den von einigen Anwesenden geäußerten Trunkenheitsverdacht zurückweist (V.15), da es sich bei dem Geschehen im Gegenteil um die Erfüllung der prophetischen Verheißung handele, mit der Gott ankündigte: »Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch«

72 Die Widmung an Theophilos (Lk 1,1–4; Apg 1,1) widerspricht dem nicht; Theophilos ist jedenfalls nicht in gleicher Weise Adressat von Lk / Apg wie die römischen Christen Adressaten des paulinischen Römerbriefes sind. 73 Vgl. die knappen Hinweise bei H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT Tübingen 21972, 9 f. Zur Analyse der Reden im einzelnen s. M. L. Soards, The Speeches in Acts. Their Content, Context, and Concerns, Louisville, KY, 1994. 74 Die Stephanusrede Apg 7 dürfte von Lukas im wesentlichen aus einer Quelle (des Stephanuskreises?) übernommen worden sein. 75 Vgl. E. Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte, StUNT 9, Göttingen 1972, 41 f., der auf die zahlreichen Septuagintismen verweist, die sich nicht erst in der Redeeröffnung (V. 14b) finden, sondern schon in der Schilderung des Auftretens des Petrus (V. 14a).

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(V. 16–21).76 Erst nach dieser Einleitung spricht Petrus im zweiten Teil zu den ŅėĎěďĜ ŵĝěċđĕȉĞċē von »Jesus, dem Nazoräer« (V.  22a): Er war ein Mann, von Gott beglaubigt ďŭĜƊĖǬĜ durch Machttaten und durch Zeichen und Wunder, »wie ihr selbst wißt« (V. 22fin: ĔċĒƵĜċƉĞęƯęųĎċĞď).77 Sie aber hatten ihn, der entsprechend dem Willen und der ĚěƲčėģĝēĜ Gottes dahingegeben wurde, durch die Hand der Gesetzlosen »(ans Kreuz) angeheftet« und also umgebracht (V.  23).78 Gott jedoch bewirkte seine Auferstehung (ŁėƬĝĞđĝďė), indem er »die Wehen des Todes« löste (V. 24a)79, also dem Tod die Möglichkeit nahm, Jesus in seinem Machtbereich festzuhalten (V. 24b). Auch dafür nennt Petrus einen Schriftbeweis, denn das Geschehen entspricht der Verheißung des Psalmsängers David, der gesagt hat: »Du wirst nicht zugeben, dass dein Heiliger die Verwesung sieht« (V. 27).80 Im Anschluß an dieses Zitat beginnt der dritte Teil der Predigt. Unter Hinweis auf das »bis heute« bekannte Grab Davids in Jerusalem sagt Petrus, in dem Psalm könne David nicht von sich selber gesprochen haben (V. 29), sondern als Prophet habe er von der Auferstehung Jesu gewußt und davon gesprochen (V. 30 f.). Zur näheren Ausführung dessen nimmt die Rede in V. 32 die Aussage von V. 24 wieder auf: Gott hat an diesem Jesus die Auferstehung bewirkt81, und dafür, so sagt Petrus, sind »wir alle Zeugen« (ęƐ ĚƪėĞďĜŞĖďȉĜőĝĖďėĖƪěĞğěďĜ). Die Selbstbezeichnung als ĖƪěĞğěďĜ besagt offensichtlich nicht, Petrus und die anderen hätten die Auferstehung gesehen; sie besagt offenbar nicht einmal, dass sie Zeugen der Erscheinungen des Auferstandenen sind, sondern gemeint ist, dass sie durch ihre Botschaft 76

Dabei wird Joel 3,1–5 mit einigen Abweichungen vom LXX-Text zitiert; vgl. C. K. Barrett, The Acts of the Apostles. Volume I. Preliminary Introduction and Commentary on Acts I–XIV (ICC), Edinburgh 1998, 136–139. 77 Vgl. dazu M. Korn, Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit. Studien zur bleibenden Bedeutung Jesu im lukanischen Doppelwerk, WUNT II/51, Tübingen 1993, 234–236. Auf die Wunder Jesu wird in der Apg nur hier in 2,22 sowie in 10,38 verwiesen (vgl. aaO., 233–241). Ob Lukas von V. 22 an einer anderen Quelle folgt, wie Barrett, Acts (s die vorige Anm.), 129 aus dem »abrupt change marked by a fresh address to the listeners« schließt, kann hier offen bleiben. 78 Zur dialektischen Spannung zwischen dem von Gott beschlossenen Plan und der gleichwohl bestehenden Verantwortung der Menschen s. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 1954 (51964), 141–144; Barrett, Acts (s. Anm. 76), 142; ferner J. T. Squires, The Plan of God in Luke-Acts, SNTSMS 76, Cambridge 1993. 79 Die rätselhafte Wendung ĕƴĝċĜĞƩĜƙĎȉėċĜĞęȘĒċėƪĞęğ wird meist auf eine Fehlübersetzung der LXX zurückgeführt (Barrett, Acts [s. Anm. 76], 143, unter Hinweis auf Ps 17,6; 114,3: Statt ĉ‘þĄñ ›Strick‹ sei ĉ‘þĄð ›Wehe‹ gelesen worden). Plümacher, Lukas (s. Anm. 75), 42, meint, es liege liturgische Sprache vor, keine direkte Übernahme aus einem LXX-Text. 80 In 2,25–28 wird Ps 15,8–11 LXX zitiert (zu den Differenzen vgl. Barrett, Acts [s. Anm. 76], 144–146). 81 Die Parallelität ist betont: 2,24: ƀė ž ĒďƱĜ ŁėƬĝĞđĝďė  – 2,32: ĞęȘĞęė ĞƱė ŵđĝęȘė ŁėƬĝĞđĝďėžĒďƲĜ.

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das Auferweckungshandeln Gottes »bezeugen«.82 Jesus, so heißt es weiter, ist »zur Rechten Gottes erhöht« worden (V. 33)83, und auch das entspreche einer Verheißung Davids, die anschließend zitiert wird (V. 34b–35), nämlich Ps 109,1 LXX.84 Die Predigt schließt in V. 36 mit dem Hinweis, »das ganze Haus Israel« solle »mit Sicherheit wissen« (ŁĝĠċĕȥĜ ęƏė čēėģĝĔƬĞģ ĚǬĜ ęųĔęĜ ŵĝěċƭĕ), dass Gott »ihn« zum Herrn (ĔƴěēęĜ) und zum Messias (ġěēĝĞƲĜ) gemacht hat, »diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt« (ƀė ƊĖďȉĜ őĝĞċğěƶĝċĞď). Die Nähe dieser die Pfingstpredigt abschließenden Wendung zu den von Paulus in Röm 10,9 zitierten Formeln ist deutlich. Zugleich fällt auf, dass die hier ausgesprochene Vorstellung, Gott habe Jesus zum ĔƴěēęĜund zum ġěēĝĞƲĜ »gemacht« (őĚęưđĝďė), in Spannung steht zur lukanischen Christologie, wie sie etwa in der Botschaft der Engel bei Jesu Geburt zu hören ist, derzufolge bereits das neugeborene Kind ġěēĝĞƱĜĔƴěēęĜ und ĝģĞƮě ist. Auf eine formgeschichtliche oder traditionsgeschichtliche Analyse der von Lukas hier dem Petrus in den Mund gelegten Worte kommt es jetzt nicht an; zu fragen ist nach der Interpretation dieser Aussagen im Rahmen des lukanischen Doppelwerkes: Wie sollen die angeredeten Hörerinnen und Hörer der Pfingstrede in der erzählten Textwelt, also »die Jerusalemer«, die Aussage des Petrus über Jesus als »Herr« und »Messias« verstehen? Und wie sollen die Leser des Textes Apg 2,14–36 diese Pfingstpredigt aufnehmen? Gegenstand des als fortlaufende Erzählung gestalteten lukanischen Werkes85 sind die Geburt, das Leben und Sterben sowie die Auferweckung und Himmelfahrt Jesu, danach die Geschichte der vom Geist Gottes geleiteten Kirche. Wenn der lukanische Petrus in seiner Pfingstpredigt von den Wundertaten spricht, durch die Gott den Menschen Jesus von Nazareth »beglaubigt« habe (V. 22–24), dann setzt er voraus, dass die Hörer wissen, worauf sich Petrus im einzelnen bezieht; aber auch die Leserinnen und Leser des Textes wissen es, da sie ja das Lukasevangelium kennen: Jesus hat Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt; er hat Menschen mit Behinderungen geholfen, und er hat in zumindest einem Fall sogar einen Toten wieder zum Leben erweckt.86 Wenn in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hinZum spezifischen Verständnis von ĖƪěĞğĜ, ĖċěĞğěďȉė bei Lukas vgl. H. Strathmann, Art. ĖƪěĞğĜĔĞĕ., ThWNT IV, Stuttgart 1942, 495–498. 83 In diesem Zusammenhang ist nochmals von der Geistausgießung die Rede. 84 Das Zitat wird ähnlich wie zuvor im Fall von Ps 16,8–11 mit dem Hinweis verbunden, David sei nicht selbst in den Himmel hinaufgestiegen (V. 34a); das folgt für den lukanischen Petrus offensichtlich aus dem Wortlaut der Ps-Stelle, in der ja »der Herr« (ĔƴěēęĜ) zu »meinem Herrn« (ĞȦĔğěưȣĖęğ) spricht. 85 Vgl. J. Verheyden, The Unity of Luke-Acts. What Are We Up To?, in: Ders. (ed), The Unity of Luke-Acts, BEThL 142, Leuven 1999, 3–56. 86 Die Begrifflichkeit ist freilich eine andere: Im Lk-Evangelium wird lediglich das Stichwort ĎƴėċĖēĜ im Blick auf Jesu Taten gebraucht (4,36; 5,17; vgl. 10,13); ĝđĖďȉęė 82

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gewiesen wird, Jesus habe diese Wunder in aller Öffentlichkeit getan, dann entspricht das dem vorausgesetzten und explizit erwähnten »Wissen« der Adressaten (őėĖƬĝȣƊĖȥėĔċĒƵĜċƉĞęƯęųĎċĞď): Die Jerusalemer Hörer der Petrusrede können in der erzählten Welt des Textes die Aussagen über Jesu Leben unmittelbar bestätigen. Dabei spielt es keine Rolle, dass Jesus die genannten Machterweise nicht in Jerusalem, sondern in Galiläa (Lk 4,16–9,50) bzw. auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem (9,51–19,27) vollbracht hatte; Adressaten der Rede sind ja nach dem Kontext nicht nur Jerusalemer, und so kann Petrus ohne weiteres voraussetzen, dass niemand unter seinen Hörern Anlaß hat, die Richtigkeit des von ihm über Jesus Gesagten zu bezweifeln. Für die Leser der Apostelgeschichte genügt ja ein Blick in das Evangelium. Die Hörer (und die Leser) wissen auch, dass der von Petrus gegen die Jerusalemer erhobene Vorwurf, sie hätten Jesus ĎēƩġďēěƱĜŁėƲĖģė umbringen lassen, berechtigt ist. Anders als nach der Darstellung in Mk 15,11–13 war nach dem lk Passionsbericht das Volk nicht durch die Hohenpriester dazu aufgewiegelt worden, von Pilatus die Begnadigung des Barabbas und die Kreuzigung Jesu zu verlangen87, sondern die Volksmenge hatte von sich aus Pilatus aufgefordert, Jesus hinzurichten und Barabbas freizulassen, nachdem Pilatus zuvor ausdrücklich Jesu Schuldlosigkeit festgestellt hatte (Lk 23,13–16.18).88 Was Petrus also in Apg 2,22 f. über das Leben und über das Todesgeschick Jesu sagt, entspricht präzise dem zuvor im Evangelium Berichteten, d.h. der »historische« Wahrheitsgehalt ist auf der Ebene des lukanischen Werkes ohne weiteres überprüfbar. Welchen Wahrheitsgehalt hat dann die in Apg 2,24 folgende Aussage, Gott habe die Auferstehung Jesu bewirkt? Für die Leser ist die Antwort wiederum klar: Jesus war den Jüngern erschienen, und er hatte seine Auferstehung insbesondere auch durch den Verzehr einer Fischmahlzeit unter Beweis gestellt (Lk 24,36–43). Unmittelbar zuvor waren zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus dem auferstandenen Jesus begegnet (24,13–35), der ihnen anhand der Heiligen Schriften verdeutlicht hatte, dass das Leidensgeschick des ġěēĝĞƲĜ dem entsprach, was die Schriften, »angefangen bei Mose und allen Propheten«, über ihn sagen (24,27). Die Leser wissen auch, dass Jesus von diesen beiden Jüngern erst an der Geste des Brotbrechens erkannt worden war (V.  30 f.), d.h. die Auslegung der Schrift allein hatte sie noch nicht erkennen lassen, dass ihnen der Auferstandene selber bebegegnet dagegen nur im Kontext der (zurückgewiesenen) Zeichenforderung, ĞƬěċĜ begegnet gar nicht. Von ĝđĖďȉċĔċƯĞƬěċĞċ (oder auch umgekehrt) ist dann freilich in der Apg sehr oft die Rede. 87 In Mk 15,11 heißt es: ęŮĎƫŁěġēďěďȉĜŁėƬĝďēĝċėĞƱėƁġĕęėŲėċĖǬĕĕęėĞƱėíċěċČČǬė ŁĚęĕƴĝǹċƉĞęȉĜ, woraufhin dann die Volksmenge auf die entsprechende Frage des Pilatus antwortet: ĝĞċƴěģĝęėċƉĞƲė (V. 13). 88 Nach Lk 23,20.22 unternimmt Pilatus sogar zwei weitere vergebliche Versuche, Jesus freizulassen.

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gegnet war. Zuvor hatte Lukas von der Auffindung des leeren Grabes durch die Frauen erzählt und von der durch zwei Männer übermittelten Auferstehungsbotschaft (24,1–8). Diese Botschaft war, ganz anders als nach der Darstellung im Markusevangelium, von den Frauen sogleich an »die Elf« bzw. die ŁĚƲĝĞęĕęē weitergegeben worden (24,9–12). Aber gerade in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass der Evangelist das leere Grab offenbar nicht als eine »faktische« Bestätigung der zuvor von Jesus selber mehrfach ausgesprochenen Leidens- und Auferstehungsankündigungen (Lk 9,22/9,44 f./18,31–34) verstanden wissen will; denn zwar erinnern die beiden ŅėĎěďĜ in dem leeren Grab (24,4) die Frauen an eben diese Ankündigungen (24,7 f.), und die Frauen teilen das den ŁĚƲĝĞęĕęē auch mit (24,9 f.), doch diese halten es für leeres Geschwätz und glauben den Frauen nicht (24,11: ŝĚưĝĞęğė ċƉĞċȉĜ). Petrus sieht dann zwar das leere Grab (24,12), aber er ist darüber nur »verwundert« (ŁĚǻĕĒďėĚěƱĜŒċğĞƱėĒċğĖƪĐģėĞƱ čďčęėƲĜ) und zieht keine weiteren Konsequenzen.89 Das leere Grab ist für Lukas sicherlich ein Faktum; aber offensichtlich setzt er voraus, dass das leere Grab, trotz der ausdrücklichen Erinnerung an Jesu eigene Worte, bei niemandem den Glauben an die Auferweckung Jesu auszulösen vermag  – diesem Faktum kommt also im Zusammenhang der Rede von der Auferstehung Jesu offensichtlich keinerlei Gewicht zu. Daran ändert sich nun auch in der Pfingstpredigt nichts. Petrus verweist im Anschluß an das Zitat von Ps 16,8–11 in Apg 2,25–28 zwar auf das Grab Davids, das őėƊĖȉė ist »bis auf diesen Tag« (V. 29), woraus zu folgern sei, dass die Verheißung, der »Heilige Gottes« werde die ĎēċĠĒęěƪ nicht »sehen«, keinesfalls David selber gelten könne. Aber das Grab Jesu wird von Petrus nicht erwähnt; dabei wäre es für Lukas im Kontext der Apostelgeschichte überhaupt kein Problem gewesen, wenn Petrus von diesem leeren Grab als von einer objektiv wahrnehmbaren Tatsache gesprochen hätte. Warum erwähnt der lukanische Petrus das (leere) Grab Jesu nicht? Den erst spät von Matthäus offensichtlich aus apologetischen Gründen redaktionell in die Überlieferung eingeführten und dann »widerlegten« Vorwurf, die Jünger Jesu hätten dessen Leichnam aus dem Grab entfernt (Mt 27,62–66; 28,11–15), kennt Lukas nicht; dieser Vorwurf ist folglich nicht der Grund dafür, dass Petrus die Erwähnung des (leeren) Grabes Jesu vermeidet.90 Die Unauffindbarkeit des Leichnams Jesu ist für Lukas offenbar kein Mittel, durch das der Glaube an Jesu Auferweckung ausgelöst oder auch nur gesiIn 24,41 steht ĒċğĖƪĐďēė sogar parallel zu ŁĚēĝĞďȉė. Auch wäre es Lukas ja prinzipiell möglich gewesen, einen Bericht etwa des Inhalts zu verfassen, Menschen aus Jerusalem hätten mit eigenen Augen das leere Grab gesehen. Nach dem Petrusevangelium gab es sogar »neutrale« Zeugen des Auferstehungsgeschehens selber; s. dazu D. Lührmann, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache, MThSt 59, Marburg 2000, 72–95. 89 90

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chert werden könnte. Petrus verweist in der Pfingstpredigt ausdrücklich auf das Davidsgrab, es fehlt aber ein Hinweis auf das (leere) Grab Jesu. Lukas mißt also weder auf der Ebene der erzählten Welt noch im Gegenüber zu den impliziten Lesern dem – von ihm gewiß nicht bezweifelten – Faktum des leeren Grabes für den Glauben an Jesu Auferweckung Bedeutung bei. Die beiden Emmaus-Jünger hatten Jesus an der Geste des Brotbrechens erkannt (Lk 24,30 f.), also daran, dass der ihnen bis dahin unbekannte Begleiter die Mahlgemeinschaft mit ihnen wieder aufnahm.91 Das erste Auferstehungszeichen ist auf der Ebene des lk Doppelwerkes aber nicht die Emmauserzählung bzw. der Bericht dieser Jünger über ihre Erfahrung; vielmehr hören ausgerechnet diese beiden Jünger in 24,34 von den »Elf samt den Ihren« in einer formelhaften Wendung die Botschaft, dass Jesus »tatsächlich auferweckt« worden und dem Simon erschienen sei (ƁėĞģĜ ŝčƬěĒđ ž ĔƴěēęĜ ĔċƯ ƝĠĒđ ýưĖģėē, vgl. 1Kor 15,3b–5), obwohl diese Erscheinung im Erzählduktus nicht erwähnt worden war. Aber selbst dieses Zeugnis gilt nicht als ein wirklicher Beweis; denn als der Auferstandene den Jüngern erscheint, halten sie ihn für ein Gespenst (ĚėďȘĖċ), und erst Jesu Essen in Gegenwart der Jünger läßt sie seine Auferstehung zweifelsfrei erkennen (Lk 24,36–43).92 Aber auch an diesen Beleg für Jesu Auferstehung knüpft Petrus in der Pfingstpredigt nicht an, sondern er nennt für seine Aussage ƀėžĒďƱĜŁėƬĝĞđĝďė in Apg 2,24 überhaupt keinen »Beleg«. Bei der Wiederholung jenes Satzes (2,32) läßt Lukas den Petrus zwar sagen, »wir alle« seien »Zeugen« für die Auferstehung Jesu, aber der Status der Apostel als ĖƪěĞğěďĜ wird den Hörern gegenüber nicht näher expliziert. Für die abschließende Aussage in 2,36, dass Gott den auferweckten und erhöhten Jesus »zum Herrn und zum Messias gemacht« hat, nennt der lukanische Petrus ebenfalls keinen »Beleg«; entscheidend ist das zuvor in V. 34b.35 zitierte Schriftwort Ps 110,1, dessen »richtige« Auslegung – unausgesprochen – darauf zurückgeht, dass die Emmaus-Jünger wie auch die in Jerusalem versammelten Apostel die angemessenen Auslegungskriterien aus Jesu eigenem Mund erfahren hatten (Lk 24,25–27.46). »Zeugen« des Auferweckungshandelns Gottes an Jesus sind die Apostel nicht deshalb, weil sie Tatsachen »bezeugen« können, die sie als (Augen-)Zeugen wahrgenommen haben; sie sind ĖƪěĞğěďĜ, insofern sie gegenwärtig Zeugnis ablegen. Zwar wird später in der an Cornelius und die Seinen gerichteten Rede des Petrus in Caesarea (10,34–43) auch vom ĝğėďĝĒưďēė und vom ĝğĖĚưėďēė der Jünger mit Jesus ĖďĞƩĞƱŁėċĝĞǻėċēċƉĞƱėőĔėďĔěȥė gesprochen; aber diese Erinnerung an Lk 24,41–49 scheint primär mit der Art der in Apg 10,9–16 geschilderten Vision in Verbindung zu stehen; man sieht jedenfalls 91 92

Vgl. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 17), 785. Darauf folgt dann der lukanische »Missionsbefehl«, V. 44–49.

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nicht, warum gerade hier und nur hier ein »Beweis« für Jesu Auferstehung notwendig gewesen sein sollte. 3. Ein Zwischenergebnis Wie verhalten sich die beiden von Paulus zitierten Formeln in Röm 10,9 und die Pfingstpredigt des lukanischen Petrus in Apg 2,14–36 zueinander? In Röm 10,9 und auch im dortigen Kontext findet sich kein Versuch einer Plausibilisierung des Auferstehungszeugnisses; bei Lukas dagegen gibt es immerhin Ansätze für eine narrativ vorgetragene Argumentation zugunsten der Wahrheit des Auferstehungsglaubens, insofern Petrus an die Erfahrungen seiner Hörer mit dem irdischen Jesus anknüpft bzw. insofern Lukas seine Leser an die von ihm bis dahin erzählten Geschehnisse erinnert und in diesen Rahmen das Auferstehungszeugnis einträgt. Die Differenz in der Darstellung hängt auch damit zusammen, dass die Formeln in Röm 10,9 nicht in missionarischer Absicht zitiert werden, insofern sich der Brief ja an Menschen wendet, die den Glauben an Jesu Auferweckung teilen. Zwar ist auch die Apostelgeschichte keine Missionsschrift; aber sie schildert auf der Erzählebene eine missionarische Situation – der lukanische Petrus setzt selbstverständlich nicht voraus, dass das Auferstehungszeugnis ohne weiteres auf Zustimmung stößt. Und doch liefert auch der lukanische Petrus keinen »objektiven« Beweis für die Auferstehung, obwohl ihm ein solcher Beweis literarisch doch sehr leicht möglich gewesen wäre – beispielsweise dadurch, dass er in Apg 2 nicht von der Ausgießung des Geistes, sondern von einer Erscheinung des Auferstandenen vor den in Jerusalem versammelten Menschen erzählt hätte.93 Wenn Petrus in seiner Predigt an die den Hörern bekannten Machttaten Jesu erinnert, soll damit nicht etwa die Plausibilität des Auferstehungsglaubens erwiesen werden, sondern diese Erinnerung dient dazu, das Übermaß des von den Adressaten der Rede begangenen Frevels zu unterstreichen. Für die Verkündigung sowohl des 93 Die in 1Kor 15,6 erwähnte Erscheinung vor den »mehr als fünfhundert Brüdern« steht mit der Pfingstszene von Apg 2 in keinem Zusammenhang; entsprechende Überlegungen gehen an beiden Textaussagen vorbei. In Apg 2 begegnet die Zahl ›fünfhundert‹ nicht, und es ist auch nicht von einer Erscheinung Jesu die Rede; umgekehrt spricht die Überlieferung in 1Kor 15,6 nicht vom ĚėďȘĖċ. G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 49, hält es allerdings »zumindest für möglich, daß die Erscheinung vor 500 Brüdern mit der Tradition hinter Apg 2,1–4 genetisch zusammenhängt«; dafür seien dann »freilich traditionsgeschichtliche Zwischenglieder anzunehmen«. Doch sein Verweis auf »die Verbindung von Christophanie und Geistverleihung« in Joh 20,21 f. trägt für die Annahme eines »genetischen« Zusammenhangs von Apg 2 mit der Tradition in 1Kor 15,6 nichts aus. Die in 1Kor 15,6 überlieferte Notiz zeigt, dass es jedenfalls Tradition gab, die von einer »Massenerscheinung« des Auferstandenen berichtete; ob Lukas diese oder ähnliche Tradition gekannt hat, läßt sich natürlich nicht sagen.

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Paulus wie auch des Lukas gilt, dass das österliche Handeln Gottes an Jesus wahr ist im Bekenntnis – weder für Lukas noch für Paulus gehört die Auferweckung Jesu auf die Ebene einer Faktenwirklichkeit, von der auch ohne den Glauben an Gottes Handeln gesprochen werden könnte. Der Vergleich zwischen Röm 10,9 und Apg 2,14–36 ist im Zusammenhang unserer Fragestellung vor allem auch deshalb instruktiv, weil beide Texte unterschiedlich zu datieren sind: Die im Römerbrief verwendeten Formeln dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit schon in den beiden ersten Jahrzehnten des im Entstehen begriffenen Christentums geprägt worden sein. Die Petrusrede ist relativ »spät« entstanden; sie läßt aber erkennen, wie sich Lukas die Ursprungssituation der Auferweckungsverkündigung gedacht hat, und diese Reflexion braucht von den tatsächlichen Gegebenheiten in der Urgemeinde gar nicht allzu weit entfernt zu sein. Paulus wie auch der lukanische Petrus setzen die Historizität des irdischen Jesus selbstverständlich voraus; aber auch der Petrus von Apg 2, der im Unterschied zu in Röm 10,9 zitierten Formeln explizit an »historische« Daten des Lebens Jesu erinnert, sieht in ihnen keinen Beleg für die Wahrheit der Messianität Jesu oder für die Wahrheit der Osterbotschaft. Im Gegenteil, Petrus betont gerade, dass Jesus – ungeachtet der von ihm vollbrachten »Machttaten« – gerade von denen, die diese Machttaten erlebt hatten, getötet worden war.94 Gibt es im Neuen Testament Texte, die die »Erkenntnisstruktur« der Christologie möglicherweise deutlicher zum Ausdruck bringen, als das in den hier diskutierten Texten Röm 10,9 und Apg 2 der Fall ist? Solche Texte gibt es offenbar nicht; alle Schriften des Neuen Testaments setzen den Glauben, also das Bekenntnis zu Jesus als dem auferstandenen Herrn, bereits voraus, ohne dass wir etwas über den Weg erfahren, der ausgehend von einer »Erkenntnis« hingeführt hätte zu diesem Bekenntnis. Zwar spricht Paulus gelegentlich davon, dass er »den Herrn gesehen« habe bzw. dass Christus als der Auferstandene nicht nur dem Petrus und anderen, sondern auch ihm selber erschienen sei95; Paulus führt also den Glauben an die Wahrheit des Bekenntnisses durchaus auf ein von außen kommendes Widerfahrnis 94 Nach der Emmausgeschichte hatten Jesu Machttaten zwar die Hoffnung ausgelöst, Jesus sei der, welcher »Israel erlösen wird« (24,19–21a); aber die beiden Jünger sehen die Kreuzigung Jesu als Beleg dafür, dass diese Hoffnung falsch war. Das leere Grab, von dem sie wissen, und selbst die Engelerscheinung vor den Frauen vermochten daran nichts zu ändern (24,22–24). 95 Paulus ist der einzige, von dem wir ein solches authentisches Zeugnis kennen; vgl. 1Kor 9,1; 15,8 f.; in Gal 1,15 f. ist dies formuliert mit den Worten, es habe Gott gefallen, »an (oder: in) mir (őė őĖęư) seinen Sohn zu offenbaren, »damit ich ihn unter den Völkern verkündige«; vgl. dazu F. Vouga, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1997, 33–35; ferner meinen Aufsatz: Paulus als Zeuge der Auferstehung Jesu Christi (1998), in: A. Lindemann, Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 27–36.

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zurück. Aber er gibt zum einen in den uns bekannten Briefen niemals eine Beschreibung dessen, was er gegenüber den Korinthern ein »Sehen« des Auferstandenen und gegenüber den Galatern das auf Jesus bezogene Offenbarungshandeln Gottes őėőĖęư nennt.96 Zum andern meint Paulus nicht, die ihm zuteil gewordene Form der Erkenntnis des Gotteshandelns an Jesus sei der allgemein übliche (oder gar der verbindliche) Weg der Vermittlung und Annahme der Glaubensbotschaft. Paulus versteht sein »Sehen« des Auferstandenen unmittelbar als Einsetzung in die apostolische Aufgabe; er scheint sogar davon überzeugt gewesen zu sein, die ihm zuteilgewordene Erscheinung sei der Abschluß der Selbstoffenbarungen Jesu gewesen (1Kor 15,9) und es werde keine Fortsetzung geben. Glaube ist für Paulus nicht die Antwort des Menschen auf ein ihm von außen zuteil werdendes, womöglich als übernatürlich, wenn auch als »real« anzusehendes Widerfahrnis; Glaube ist für Paulus vielmehr die Folge der »gehörten Verkündigung« (ŁĔęƮ), die ihrerseits »durch das Wort Christi« entsteht (Röm 10,17). Die Christuspredigt vermittelt dementsprechend nicht eine »Erkenntnis«, aus der dann als Antwort das »Bekenntnis« folgt; vielmehr bilden Erkenntnis und Bekenntnis eine Einheit.

III. Zum historischen und theologischen Problem neutestamentlicher Christologie Gegen die hier vorgetragenen Überlegungen könnte eingewandt werden, dass es doch möglich sein müsse, die Entstehung des Glaubens an Jesus als den Christus auch historisch irgendwie plausibel zu machen – etwa von der Annahme her, bereits der irdische Jesus selber habe sich als die dem Volk Israel das Heil bringende Person gesehen und entsprechende Taten vollbracht. In diesem Falle könnte die Anerkennung der Würde Jesu als des Herrn (ĔƴěēęĜ) oder als des Messias (ġěēĝĞƲĜ) auf einen von Jesus selbst erhobenen und durch Taten bewiesenen Anspruch zurückgeführt werden; Jesus selber wäre dann der unmittelbare Realgrund für eine freilich erst nach Tod und Auferstehung Jesu näher explizierte Christologie. Die These, Jesus habe ein »messianisches Selbstbewußtsein« gehabt, wird in der Forschung nicht selten vertreten.97 Eine differenzierte Position ver96 Es ist in diesem Zusammenhang nur darauf hinzuweisen, dass Lukas in der Apg das »Damaskuserlebnis« des Paulus dreimal auf sehr unterschiedliche Weise schildert, wobei in keinem Fall von einem Sehen des Auferstandenen die Rede ist, sondern stets vom Hören. 97 Vgl. etwa Stuhlmacher, Theologie I (s. Anm. 55), 117, der unter Verweis auf Mk 8,27–33 und Mk 14,61 f. zu dem Ergebnis kommt, Jesus habe sich »mit dem vom Täufer angekündigten ›Kommenden‹ in ganz eigenständiger Art und Weise identifiziert und sich selbst als den messianischen Menschensohn angesehen«; damit habe er freilich »nicht

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treten Gerd Theißen und Annette Merz: Zwar habe Jesus nicht den Messiastitel beansprucht, aber angesichts der im Volk lebendigen messianischen Hoffnungen sei es »historisch wahrscheinlich«, dass Jesus mit diesen Hoffnungen »konfrontiert« wurde.98 Für die »Geschichtlichkeit« einer solchen Konfrontation spreche, »daß ganz verschiedene Kreise entsprechende Erwartungen oder Befürchtungen äußern«, und zwar sowohl Anhänger wie auch Gegner Jesu. Dabei seien Unterschiede im Blick auf Galiläa und Judäa festzustellen: »In Galiläa ist das Petrusbekenntnis lokalisiert (Mk 8,27–30), das nicht in der Öffentlichkeit geschieht. Auf das Bekenntnis könnte ursprünglich das Satanswort gefolgt sein«, doch sei dieses dann »keine Zurückweisung des Messiastitels, sondern Kritik der mit ihm verbundenen Gesinnung«.99 Die Überlieferung könne so verstanden werden: »Verbindet sich mit dem Messiastitel eine Gott entsprechende Gesinnung, so ist er akzeptabel  – sonst nicht.«100 In Judäa sei demgegenüber dann »die Messiasthematik öffentlich diskutiert« worden: »Bartimäus begrüßt Jesus als ›Davidssohn‹ in Jericho«, und »die Festpilger in Jerusalem erwarten die ›Herrschaft Davids‹« (Mk 11,9 f.). Allerdings wird die Frage, ob es sich hier um im historischen Sinne zuverlässige Überlieferungen handelt, von Theißen / Merz in diesem Zusammenhang nicht diskutiert; sie verweisen als Argument zugunsten ihrer Deutung auf zeitgeschichtliche Parallelen. »Entscheidend« sei: »Vom königlichen Messias wurde erwartet, dass er in seiner Stadt Jerusalem die Herrschaft ergreift. Das erklärt, warum mit dem Komnur eine Umprägung der frühjüdischen Erwartung des davidischen Messias vollzogen, sondern auch dem frühjüdischen Bild vom Menschensohn entscheidend neue Züge aufgeprägt«. Anders J. Roloff, Art. Jesus Christus I. 1. Jesus von Nazareth, RGG4 IV, Tübingen 2001, 463–467, hier: 466 f.: Jesus habe den Titel ›Christus‹ »wegen dessen davidsmessianologisch-polit. Festlegung schwerlich auf sich angewandt«, doch habe er wahrscheinlich die Bezeichnung »Menschensohn« für sich gebraucht, »die zwar eine eindeutige eschatologische Konnotation (Dan 7) hatte, aber keine titulare Festlegung implizierte«. 98 G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 467. 99 Die These, das Satanswort Mk 8,33 sei Jesu Reaktion auf das Messiasbekenntnis des Petrus gewesen, wurde bereits von E. Dinkler, Petrusbekenntnis und Satanswort – Das Problem der Messianität Jesu, in: Ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 283–312 vertreten. Zur Analyse von Mk 8,27–33 vgl. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 16), 144, der meint, es könne sich bei V. 33b durchaus um ein authentisches Jesuswort handeln, das ursprünglich aber nicht auf Petrus bezogen sein mußte (der Name wird nicht genannt). Das Wort wiederholt »in seiner positiven Aufforderung nur 1,17 (ĎďȘĞďŽĚưĝģĖęğ), die Berufung des Petrus und seines Bruders«. Im jetzigen Kontext liege der Ton »auf der Qualifizierung des Petrus als ›Satan‹ gegenüber seiner eigentlichen Funktion, Jesus nachzufolgen«. 100 Theissen / Merz, Jesus (s. Anm. 98), 468. Anders Dinkler, Petrusbekenntnis (s. die vorige Anm.), 310 f.: »Die ursprüngliche Tradition bezeugt die Verbindung des PetrusBekenntnisses von Jesus als dem künftigen Messias mit einer expliziten Antwort Jesu, nämlich dem Satanswort. Demnach hat Jesus die Rolle eines Messias abgelehnt und mit der Zurückweisung dieser Rolle und des Titels der Urgemeinde die Suche nach einem adäquaten Titel auferlegt.«

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men Jesu nach Jerusalem diese Erwartung intensiviert in Erscheinung tritt.« Aber »erklärt« wird mit diesem Hinweis nur die im Einzugsbericht in der Passionsüberlieferung gegebene Darstellung, nicht aber deren Historizität. Nach Theißen und Merz zeigt das in Q überlieferte Logion, demzufolge die Jünger einst auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden (Lk 22,28–30/ Mt 19,28), »daß Jesus messianische Erwartungen wohl aufgriff, nicht aber im Sinne eines Messiastitels bejahte«. Nach PsSal 17,26101 hatte der Messias die Aufgabe, »das Volk (aus der Zerstreuung) zu sammeln und seine (zwölf) Stämme zu richten. Eben diese Aufgabe wird im Logion von den Zwölfen auf die Jünger übertragen … Sie werden einmal auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Sie bilden ein messianisches Kollektiv. Jesus verhielt sich gegenüber dem ›Messiastitel‹ so spröde, nicht weil er ihn ablehnte, sondern weil er mehr als ein Messias war: Er gab anderen Status und Würde eines Messias. Er prägte die auf eine Einzelperson gerichtete Messiaserwartung im Sinne eines ›Gruppenmessianismus‹ um«. »Einfache Menschen aus dem Volk, Fischer und Bauern, sollten als Repräsentanten der zwölf Stämme herrschen  – im Sinne einer repräsentativen Volksherrschaft«.102 Aber das Q-Logion impliziert nicht eine kollektive »Messianität« der Jünger Jesu; und als Basis für die These eines sonst nicht zu belegenden »Gruppenmessianismus« reicht das Logion ohnehin nicht aus – ganz abgesehen davon, dass auch hier die historische Authentizität nicht allzu selbstverständlich vorausgesetzt, sondern allererst erwiesen werden sollte.103

Selbst wenn sich ein von Jesus selber akzeptiertes, wenn auch vielleicht sehr spezifisches Verständnis von »Messianität« wahrscheinlich machen ließe, und wenn gezeigt werden könnte, dass er dies durch Taten zu bekräftigen vermochte, so wäre damit für die Frage der historischen Basis der nach101 In PsSal 17,21 bittet der Beter Gott darum, angesichts der gegenwärtigen Gesetzlosigkeit möge er »den König, den Sohn Davids« aufrichten, der dann die gesetzlosen Völker und die Sünder vernichten wird (17,24 f.). Es heißt dann weiter in 17,26: ĔċƯĝğėƪĘďēĕċƱė ņčēęėęƐŁĠđčƮĝďĞċēőėĎēĔċēęĝƴėǹĔċƯĔěēėďȉĠğĕƩĜĕċęȘŞčēċĝĖƬėęğƊĚƱĔğěưęğĒďęȘ ċƉĞęȘ (»und er wird versammeln ein heiliges Volk, das er führen wird in Gerechtigkeit, und er wird richten die Stämme des Volks, das geheiligt ist vom Herrn, seinem Gott« (Übers. S. Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 102). 102 Theissen / Merz, Jesus (s. Anm. 98), 469, unter Verweis auf G. Theissen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, JBTh 7 (1992) 101–123 (= Ders., Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003, 255–281). 103 Zur Annahme der Authentizität des Logions neigen W. D. Davies / D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew. III. Commentary on Matthew XIX–XXVIII (ICC), Edinburgh 1997, 58. Für eine detaillierte Analyse und Interpretation s. J. Verheyden, The Conclusion of Q. Eschatology in Q 22,28–30, in: A. Lindemann (ed.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 695–718. Verheyden nimmt an, dass es sich eher um ein in der Q-Gruppe entstandenes als um ein authentisches Jesus-Logion handelt; es reflektiere den Mißerfolg der Mission unter Juden. »It is possible that in certain circles already at an early date disappointment about the Jewish mission may have become so acute that it produced the kind of saying such as the one in Q 22,28.30b which combines threats to the opponents with a perspective of hope for the faithful« (aaO., 718).

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österlichen Christologie wenig gewonnen. Nach der Hinrichtung Jesu hätte man es als plausibel ansehen können, dass er seinen Anspruch zu Unrecht erhoben hatte; die Wundertaten wären dann nicht von Gott, sondern womöglich vom Teufel her erklärbar, wie es in der vermutlich sowohl bei Markus als auch in der Logienquelle Q überlieferten Beelzebul-Perikope ja ausdrücklich reflektiert wird (vgl. Mk 3,23 ff. bzw. Lk 11,15 ff./Mt 12,24 ff. Q).104 Jesus fand bei seinen Zeitgenossen keineswegs nur Zustimmung, d.h. sein Auftreten kann nicht so gewesen sein, dass sich der Rückschluß auf eine »messianische« Würde unmittelbar nahelegen mußte. Und selbst wenn Jesus sich als eine »messianische« Gestalt gesehen haben sollte und dies von seinen Anhängern akzeptiert wurde, so konnte sein Tod am Kreuz als definitive Widerlegung dieses Anspruchs gedeutet werden. Im übrigen hat sich das urchristliche Bekenntnis gar nicht darauf berufen, der Glaube an Jesu Messianität sei die Bestätigung eines von ihm selber erhobenen Anspruchs; unabhängig davon, ob sich ein vorösterlicher Glaube an Jesus als den Messias nachweisen läßt oder nicht, gibt es jedenfalls keinen Beleg dafür, dass der nachösterliche Glaube an Jesus als den ĔƴěēęĜ und ġěēĝĞƲĜ sich auf das Selbstverständnis Jesu bezogen hat.105 Man kann es für historisch wahrscheinlich halten, dass das älteste Bekenntnis der (Jerusalemer) Urgemeinde in der Bezeichnung Jesu als des ›Herrn‹ vorliegt; dafür spricht der um das Kommen des erhöhten Jesus bittende in aramäischer Sprache formulierte Ruf maranatha (»unser Herr, komm!«). Dieser Gebetsruf ist zwar nur in 1 Kor 16,22 und im Zusammenhang der Mahlliturgie der Didache belegt (Did 10,6); aber die Tatsache, dass das aramäische maranatha in zwei griechischsprachigen Texten unübersetzt begegnet, spricht für die Annahme, dass dieser Gebetsruf seinen Ursprung in einer einflußreichen semitischsprachigen Tradition hat, und das ist ein starkes Indiz für Jerusalem als Entstehungsort.106 Die Anrufung Jesu als ĕċ bzw. in der griechischsprachigen Urgemeinde als ĔƴěēęĜ wird durchaus im Zusammenhang stehen mit den Erfahrungen, die die Angehörigen der Gemeinde mit dem vorösterlichen Jesus gemacht hatten: Im Zentrum der Botschaft Jesu stand die Rede von der nahen Got104

Zur Q-Fassung der Beelzebul-Kontroverse s. R. A. Piper, Jesus and the Conflict Powers in Q: Two Q Miracle Stories, in: A. Lindemann (ed.), The Sayings Source (s. die vorige Anm.), 317–349, bes. 328–340. 105 Ohnehin gilt, dass historische Aussagen stets auf Vermutungen angewiesen bleiben, also nur einen jeweils von der Quellenlage abhängigen mehr oder weniger großen Grad an Wahrscheinlichkeit haben; im Fall der Jesusüberlieferung besitzen wir überhaupt keine direkten Quellen. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus spricht nicht von Wahrscheinlichkeiten und auch nicht von Vermutungen, sondern es spricht von einer Wahrheit, die jenseits überprüfbarer historischer oder empirischer Realität liegt. 106 In Apk 22,20 scheint die griechische Wiedergabe des maranatha vorzuliegen: őěġęȘ ĔƴěēďŵđĝęȘ.

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tesherrschaft; diese Nähe hatte Jesus sichtbar gemacht in seinen Siegen über die Dämonen (Lk 11,20/Mt 12,28 Q), d.h. er hatte sich gegenüber den gottfeindlichen Mächten bereits als ›der Herr‹ erwiesen, ohne dass er dabei einen entsprechenden »Hoheitstitel« (ĕċ bzw. ĔƴěēęĜ) für sich beansprucht haben müßte. Jesu Tod am Kreuz konnte angesichts dessen nur als sein Scheitern gedeutet werden – sowohl in den Augen seiner Anhänger wie auch natürlich in denen seiner Kritiker. Zwar wäre es möglich gewesen, den auf Befehl der römischen Verwaltung Hingerichteten als Märtyrer anzusehen; aber es gibt kein Indiz dafür, dass eine solche »politische« Deutung des Todes Jesu jemals vorgenommen worden wäre. Darüber, wie Jesu Gegner dessen Tod verstanden haben, können wir nur Vermutungen anstellen.107 Klar ist hingegen, was in der Gruppe derer geschah, die Jesus nachgefolgt waren: Hier wurde nach seinem Tode das Bekenntnis laut, der Gekreuzigte sei nicht im Tode geblieben, sondern Gott habe ihn auferweckt und erhöht und damit zum »Herrn« gemacht.108 Als solcher wurde er nun angerufen – sei es in der Erwartung seines Kommens zur Parusie, sei es mit der Bitte um sein Kommen zum Gottesdienst oder zur Mahlfeier der Gemeinde. Die Frage, aus welcher Veranlassung heraus solches Sprechen von Jesus als dem durch Gott auferweckten »Herrn« erstmals geschah, läßt sich nicht beantworten – nicht etwa aufgrund einer vielleicht übertriebenen Skepsis gegenüber den Quellen, sondern weil die Quellen den Zugang zur historischen Ursprungssituation des Glaubens gar nicht gewähren. Es gibt im Zusammenhang mit »Ostern« keinerlei Selbstzeugnisse, sondern überliefert werden allein erzählende Texte bzw. knappe Formeln, die von den ersten Trägern des Auferstehungszeugnisses durchweg in der 3. Person sprechen: Christus bzw. der Herr »ist auferweckt worden und dem Kephas/Simon erschienen«, heißt es in 1 Kor 15,5 bzw. in Lk 24,34, doch eine entsprechende Selbstaussage des Petrus begegnet nirgends.109 Als eine Ich-Aussage ist Joh 20,18 formuliert: Maria Magdalena spricht von sich als der Empfängerin der (ersten) Erscheinung des auferstandenen Jesus (ŒƶěċĔċĞƱėĔƴěēęė); aber 107 Möglicherweise läßt sich aus Gal 3,13 ableiten, dass es eine explizite jesuskritische Deutung seines Todes als »Fluchtod« im Sinne von Dtn 21,23 LXX gegeben hat. Vgl. D. Sänger, »Verflucht ist jeder, der am Holze hängt« (Gal 3,13b). Zur Rezeption einer frühen antichristlichen Polemik (1994), in: Ders., Von der Bestimmtheit des Anfangs. Studien zu Jesus, Paulus und zum früchristlichen Schriftverständnis, Neukirchen-Vluyn 2007, 99–106. 108 Dabei hat Ps 110,1 vermutlich schon sehr früh eine hermeneutisch wichtige Rolle gespielt; der Erhöhungsgedanke wird aber wohl nicht aus Ps 110 abgeleitet, sondern im Gegenteil dort »wiedergefunden« worden sein. 109 Nicht einmal im Zweiten Petrusbrief oder in dem später das Auferstehungsgeschehen relativ detailliert schildernden Petrusevangelium wird die Mitteilung von der Erscheinung des Auferstandenen dem Petrus in den Mund gelegt.

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dieser Satz begegnet innerhalb eines Erzähltextes und braucht jedenfalls nicht auf eine authentische Selbstaussage der Maria zurückzugehen. Gleichwohl ist es natürlich bemerkenswert, dass hier der Maria Magdalena genau dieselbe Aussage in den Mund gelegt wird, die Paulus in 1 Kor 9,1 macht, um damit sein Apostolat zu belegen. Es würde allerdings auch gar nichts nützen, wenn wir ein unbestreitbar authentisches Selbstzeugnis des Petrus oder der Maria Magdalena über die ihnen widerfahrene Erscheinung des Auferstandenen besäßen. Auch in diesem Fall wären wir ja genötigt, den Wahrheitsgehalt des betreffenden Selbstzeugnisses zu prüfen – und vor dieser Aufgabe müßten wir scheitern. Ein als Selbstaussage des Petrus überlieferter Satz, etwa des Wortlauts: »Mir ist der am Kreuz gestorbene und ordnungsgemäß bestattete Jesus als der lebendige Herr begegnet« bzw. »er ist mir erschienen«, besäße keinen größeren Wahrheitsgehalt als die uns überlieferte Aussage, der Gekreuzigte sei als der auferstandene Herr dem Petrus erschienen. In beiden Fällen könnte die Aussage Folge einer mehr oder weniger kranken Phantasie sein oder auf einer Fehldeutung eines dem Petrus bzw. der Maria widerfahrenen subjektiven Erlebnisses beruhen. Im übrigen bedeutet das Fehlen eines Selbstberichts des Petrus oder der Maria Magdalena, dass jeder Versuch einer psychologischen »Erklärung« dieser Erscheinung von vornherein ausgeschlossen ist. Willi Marxsen hat im Blick auf den Satz »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« die Frage gestellt, wie jemand dazu gekommen sei, »diesen Satz zu formulieren«.110 Seine Antwort lautet, auf diese Weise habe jemand die Frage beantwortet, warum die Gruppe, die sich um Jesus gesammelt hatte, nach seinem Tod immer noch bzw. schon wieder als Gruppe von Jesus-Anhängern existierte: »Interpretiert werden soll mit diesem Satz das Ingangsetzen des Lebens dieser Gruppe.«111 »Von den Erfahrungen aus, die diese Gruppe beim Leben der ›Sache Jesu‹ machte«, konnte gesagt werden, Jesus wirke immer noch; und das wurde dann »mit Hilfe einer damals vertrauten Vorstellung und mit den Sprachmitteln dieser Vorstellung« ausgedrückt.112 Derjenige, der den Satz »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« formulierte, interpretierte also nicht »das ›Ereignis‹ Auferstehung Jesu«, sondern interpretiert wurde auf diese Weise »der durch Jesus ausgelöste Glaube, den 110

Marxsen, Ethik (s. Anm. 41), 159. Dieses Buch enthält ungeachtet des Titels weit mehr als eine Darstellung der neutestamentlichen Ethik; es ist m. E. zu Unrecht wenig rezipiert worden. 111 »Während seines irdischen Wirkens hatte Jesus das Leben dieser Gruppe in Gang gesetzt. Man hatte erfahren: Nur unter seinem Einfluß und in der Gemeinschaft mit ihm konnte dieses Leben gelingen und war es gelungen. Da es sich aber bei der von Petrus gesammelten Gruppe um das Leben derselben ›Sache‹ handelte, war – und blieb Jesus der, der das Leben dieser Sache auslöste« (Marxsen, Ethik, 160; Hervorhebung im Original). 112 Marxsen ebd.

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dieser Mensch nach dem Tode Jesu in der Gemeinschaft der Jesus-Anhänger lebt«.113 In den 1990er Jahren entzündete sich eine heftige Diskussion über die Thesen Gerd Lüdemanns zur Auferstehung Jesu.114 Die Auseinandersetzungen, die von ihren Anfängen her durchaus hätten sinnvoll verlaufen können, litten darunter, dass sich viele der Kritiker Lüdemanns auf die von ihm fixierte Frage einließen, ob die Auferstehung Jesu denn nun ein »historisches Faktum« gewesen sei oder nicht115; erstaunlicherweise wurde dabei vor allem auch der Frage der Historizität des leeren Grabes ein erhebliches Gewicht zugemessen.116 Dass diese Frage im Blick auf die Wahrheit des Glaubens an die Auferweckung Jesu bedeutungslos ist, zeigte dann Ingolf U. Dalferth: Das christliche Zeugnis lautete nicht, »daß Jesus in dieses Leben zurückgekommen ist und sein Leichnam wiederbelebt wurde, sondern daß er in Gottes Leben auferweckt und zur Rechten Gottes erhöht wurde«.117 Dabei ist klar, dass das Bekenntnis die Auferweckung Jesu als ein dem Bekenntnis selber vorausliegendes, also als ein unverfügbar bleibendes Geschehen begreift, nicht als das Ergebnis menschlichen Nachdenkens über 113

Marxsen, Ethik, 161 (Hervorhebung im Original). G. Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie – Erfahrung – Theologie, Göttingen 1994 (vgl. dazu meine Rezension in: WzM 46 [1994] 503–513). Die zahlreichen späteren Beiträge Lüdemanns zur Thematik bieten sachlich nichts Wesentliches. 115 Lüdemann, Auferstehung (s. die vorige Anm.), 216, behauptete, es stehe fest, dass »der Leichnam Jesu nicht wiederbelebt wurde«; man könne aber »aus der Tatsache, daß die urchristliche Religion früher einmal mit dem Glauben an die Wiederbelebung des Leichnams Jesu verbunden war«, nicht folgern, dass auch heute an diesem Glauben festzuhalten sei (216 Anm. 691). Darauf, dass das Urchristentum die Auferweckung Jesu nicht als Wiederbelebung seines Leichnams verstanden hat, wurde oben bereits hingewiesen. 116 Vgl. insbesondere W. Pannenberg, Die Auferstehung Jesu – Historie und Theologie, ZThK 91 (1994) 318–328, vor allem 324–328. Differenzierter J. Ringleben, Wahrhaft auferstanden. Zur Begründung der Theologie des lebendigen Gottes, Tübingen 1998, 106–111. 117 I. U. Dalferth, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, ZThK 95 (1998) 379–409, hier: 396. Das Bekenntnis wäre »nur dann prinzipiell unvereinbar mit einem vollen Grab« – Dalferth folgt hier der Begrifflichkeit Lüdemanns  – »wenn die Identität des Auferweckten so am irdischen Leib Jesu hinge, daß Jesus nicht bei und mit Gott leben könnte, wenn sein Leib im Grab … verwest wäre. Doch genau das ist die christliche Hoffnung: daß kein Glaubender, der stirbt und verwest, dadurch ausgeschlossen ist, in, durch und mit Gott zu leben«. Aus 1 Kor 15,20 folgert Dalferth, der auferweckte Christus könne nicht als »Erstling der Entschlafenen« bekannt werden, »wenn er nicht genau so tot gewesen wäre wie die übrigen Entschlafenen – und das schließt die Verwesung des Leibes faktisch ein«, denn andernfalls könne von Jesus nicht bekannt werden, »daß er unseren Tod gestorben ist und tot war wie wir« (396 f.). Schon Marxsen, Ethik (s. Anm. 41), 162, hatte geschrieben: »Der als Bezeichnung eines ›Ereignisses‹ verstandene Satz: ›Jesus ist auferstanden‹, ist als solcher (ganz wörtlich) nichts-sagend. Außer der Konstatierung eines geschehenen Faktums hat er keinen Inhalt. Die Konstatierung des Faktums provoziert aber sofort Fragen, und zwar eben nach diesem Inhalt.« 114

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den »Sinn« des Todes Jesu.118 Dies spricht der Glaube gerade dadurch aus, dass er vom »Handeln Gottes« redet und nicht von einer vom Menschen gewonnenen »Erkenntnis«, die sich womöglich auf eine allgemein zugängliche historische »Tatsache« bezieht. Bei dem hier diskutierten Thema geht es weder um die mögliche Historizität der Messianität Jesu noch gar um die Historizität der Auferweckung; es geht vielmehr um die Frage, welcher sachliche Inhalt sich im Neuen Testament und insofern überhaupt in der christlichen Theologie mit der bekennenden Rede von Jesus als dem Kyrios bzw. als dem Christus und der Glaubensaussage »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« verbindet. Es wäre falsch, wollte man die Antwort auf die Frage nach dem Inhalt des Osterbekenntnisses mit einer ethischen Engführung verbinden oder eine »objektive« Plausibilität für die Wahrheit des Glaubens finden wollen; weder folgt aus dem Bekenntnis zu Jesus als dem ĔƴěēęĜ eine verglichen mit anderen Glaubensaussagen höherwertige Moral oder Ethik, noch leben Menschen, die sich zu Jesus als dem Herrn bekennen, besser oder gar gesünder als andere. Schon gar nicht kann die Wahrheit dieses Bekenntnisses daran gemessen werden, ob die Glaubenden sich als fähig erweisen, durch ihr Handeln und durch ihr Leben nach außen hin diese Wahrheit »objektiv« unter Beweis zu stellen. Jeder Versuch, der Forderung Nietzsches nachzukommen, die Christen müßten »erlöster« aussehen119, wäre zum Scheitern verurteilt und im Grunde verwerflich. Was aber bedeutet das Bekenntnis ĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ im Urchristentum positiv? Es bedeutet im antiken Christentum und nicht anders auch heute die Zurückweisung einer göttlichen Verehrung der Welt; es zieht nach sich die bewußte Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf (Röm 1,25); und es bedeutet damit die Relativierung und Zurückweisung jeglicher Herrschaftsansprüche menschlicher oder dämonischer Mächte gleich welcher Art.120 Für das Urchristentum im Kontext der zeitgenössischen paganen Religiosität bedeutete das Bekenntnis insbesondere die Entgötterung der Welt; es war zugleich der fundamentale Widerspruch gegen jede Selbstvergottung des Menschen. So hat es Paulus in 1 Kor 8,6 formuliert: »Es gibt zwar tatsächlich viele Götter und viele Herren, aber ›für uns‹ ist ein Gott, 118 In der Emmaus-Erzählung Lk 24,13–35 wird dies dadurch exemplarisch verdeutlicht, dass es der auferweckte Christus selber ist, der den Jüngern das Verständnis der Schrift hinsichtlich Leiden und Auferstehen vermittelt. 119 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II. Von den Priestern. KSA IV, Berlin / New York 1980, 118: »Bessere Lieder müßten sie mir singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!« 120 Vgl. U. H. J. Körtner (Hg.), Gott und Götter. Die Gottesfrage in Theologie und Religionswissenschaft, Neukirchen-Vluyn 2005. Die Beiträge beruhen auf Vorträgen, die im Jahre 2004 bei der 6. Jahrestagung der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie gehalten worden waren.

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der Vater, von dem alles ist und wir zu ihm, und ein Herr Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.«121 Das Bekenntnis enthält vor allem die Einsicht, dass Gott sich nicht in der sieghaften Durchsetzung eines religiösen oder auch moralischen Anspruchs offenbart, verbunden womöglich mit der Verwirklichung eines solchen Anspruchs durch den Menschen. Vielmehr sagt das Bekenntnis, dass der von Gott auferweckte Gekreuzigte der ĔƴěēęĜ ist, dass sich Gott dem Menschen in seiner Schwäche zuwendet, insofern er sich im Kreuz offenbart, also im sichtbaren Scheitern eines Lebens. Gerade daraus resultiert das Vertrauen und die Hoffnung auf eine dieses Scheitern transzendierende heilvolle Zukunft. Das ist der eigentliche Sinn des von Paulus und von Lukas gleichermaßen zitierten, wenn auch von ihnen theologisch unterschiedlich reflektierten Bekenntnissatzes, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und zum Christus gemacht hat.

121 M. E. ist dabei das »für uns« (ŞĖȉė) durchaus im Sinne des pro nobis zu verstehen; vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 191–193. Eine etwas andere Position vertritt Hofius in dem in Anm. 48 genannten Aufsatz. Vgl. zum Ganzen Chr. Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont, AJEC 69, Leiden 2007, 360–366.

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament Die Frage nach dem Verhältnis der christlichen Kirche zu Israel verweist auf ein zunächst im eigentlichen Sinne theo-logisches, dann aber zugleich auch ekklesiologisches Problem: Wie versteht die Kirche die Tatsache, dass das die christliche Identität stiftende Bekenntnis zur Auferweckung Jesu von einem Handeln Gottes spricht, und zwar eben jenes Gottes, als dessen Volk sich Israel versteht, ohne den Glauben an die Auferweckung Jesu durch Gott zu teilen? Was bedeutet es, dass die Kirche die Heiligen Schriften Israels unredigiert – und im Bereich der Kirchen der Reformation auch im gleichen äußeren Umfang – rezipiert hat, aber eben nicht als »die Bibel«, sondern unter der Bezeichnung »Altes Testament« als Teil einer christlichen Heiligen Schrift, zu der auch ein »Neues Testament« gehört?1 Solche Fragen sind vor allem seit den 1960er Jahren intensiv diskutiert worden, angestoßen vor allem durch das späte Erschrecken über die im Judenmord des Nationalsozialismus kulminierenden Folgen der Judenfeindschaft und des Judenhasses.2 Diese Diskussionen hatten z. T. weitreichende Konsequenzen, bis hin zu neuen Formulierungen in Kirchenordnungen und Kirchenverfassungen. Im Rahmen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) wurde in den Jahren 1996 bis 2001 ein Lehrgespräch zum Thema »Kirche und Israel« geführt, dessen Ergebnis sich die Vollversammlung der GEKE in Belfast einstimmig »zu eigen gemacht« hat.3

Die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zu Israel kann theologisch nicht angemessen bedacht werden ohne die Aufarbeitung der neutestamentlichen

1 Vgl. dazu die Beiträge in Chr. Dohmen / Th. Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer Theologie, UTB 1893, Paderborn 1995; Chr. Dohmen / G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, KStTh 1,2, Stuttgart 1996. 2 Zum Begriff »Judenfeindschaft« anstelle der mißverständlichen Begriffe »Antisemitismus« oder »Antijudaismus« s. H.-P. Stähli, Judenfeindschaft. Zum Verhältnis zwischen Christen und Juden in der Vergangenheit, WuD 19 (1987) 137–175, zur Begriffsdefinition vor allem 140 f. 3 Vgl. H. Schwier (Hg.), Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden. Church and Israel. A Contribution from the Reformation Churches in Europe to the Relationship between Christians and Jews, Frankfurt / M. 2001.

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Aussagen zu diesem Thema. Dazu sollen die folgenden Ausführungen einen Beitrag liefern.4 Das Wort »Israel« ist im NT vor allem bei Paulus und in den Evangelien sowie in der Apg belegt, außerdem im Epheserbrief und im Hebräerbrief sowie in der Johannesoffenbarung. Im folgenden wird in Teil I. die Rede von »Israel« in der Apostelgeschichte untersucht werden, da dieses Buch, ungeachtet seiner relativ späten Abfassungszeit, ein Licht auch auf die Anfänge der Kirche wirft – zwar sicherlich so, wie Lukas diese Anfänge sieht und darstellt, aber zumindest teilweise wohl auch historisch einigermaßen zuverlässig. In Teil II. soll das Israel-Verständnis des Paulus dargestellt werden, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Auslegung des Abschnitts Röm 9–11.5 In Teil III. geht es dann um den entsprechenden Befund in den Evangelien und den übrigen neutestamentlichen Schriften. Die Frage, welche Bedeutung dem konkreten ›Land Israel‹ zukommt, soll in Teil IV. erörtert werden, bevor dann in Teil V. eine knappe Zusammenfassung folgt.

I. ›Israel‹ in der lukanischen Apostelgeschichte 1. Bei der Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Israel im ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung findet sich oft der Gedanke, die später als »Christentum« bezeichnete Gruppe der nachösterlichen JesusGläubigen sei noch für verhältnismäßig lange Zeit ein Teil des Judentums gewesen, eine Art jüdische »Sekte«. Erst nach einigen Jahrzehnten – oft wird das Jahr der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) genannt – sei es zur »Trennung« der Kirche von der Synagoge gekommen. Gelegentlich wird dabei auch auf die in das Achtzehn-Gebet eingefügte Verfluchung der minim hingewiesen; sie habe es den sich zu Jesus bekennenden »Ketzern« unmöglich gemacht, weiterhin am synagogalen Gottesdienst teilzunehmen, und so seien sie entsprechend dem allerdings nur im Johannesevangelium belegten Begriff ŁĚęĝğėƪčģčęē geworden, also aus dem Synagogenverband »Exkommunizierte«. Thema ist das Verständnis der Begriffe ŵĝěċƮĕ und ŵĝěċđĕưĞđĜ im Neuen Testament. Das Lexem ŵĝěċƮĕ ist im NT 68mal belegt (davon bei Paulus 16mal), das Wort ŵĝěċđĕưĞđĜ ist 9mal belegt (davon bei Paulus 3mal). Demgegenüber ist ŵęğĎċȉęĜ insgesamt 195mal belegt, davon bei Paulus 25mal; dazu kommen zwei Belege für ŵęğĎċĤĝĖƲĜ bei Paulus sowie je ein Beleg für ŭĎęğĎċȈĐďēė und ŭęğĎċĤĔƶĜ bzw. ŭęğĎċĤĔƲĜ. Angaben nach K. Aland (Hg.), Vollständige Konkordanz zum Griechischen Neuen Testament. Band II: Spezialübersichten, Stuttgart 1978. Die mit dem sehr viel häufiger verwendeten Begriff ŵęğĎċȉęĜ verbundenen Aussagen kommen im folgenden nur am Rande in den Blick. 5 Verweise auf diesen Text spielen in den Debatten über das Verhältnis von Kirche und Israel eine erhebliche Rolle, ohne dass dabei das in 9,1–11,36 inhaltlich Gesagte immer Beachtung findet. 4

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament

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Dieses Bild ist zumindest problematisch.6 Die »Jünger«, also die Jesus nachfolgenden Frauen und Männer ebenso wie Jesus selber waren Juden, und sie blieben dies auch nach »Ostern«, ungeachtet ihres Glaubens an die Auferweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott. Die durch Petrus und »die Zwölf« repräsentierte früheste nachösterliche Gemeinde ist nach der Darstellung des Lukas offenbar ganz als innerhalb des auf den Jerusalemer Tempel bezogenen Judentums stehend zu denken, wie aus Apg 3 hervorgeht; wenn Lukas davon spricht, große Teile der Bevölkerung Jerusalems hätten der Botschaft der »Apostel« Glauben geschenkt und sich »auf den Namen Jesu« taufen lassen (2,38.41; 4,4), dann scheint sich damit der Gedanke an so etwas wie einen »Religionswechsel« nicht verbunden zu haben. Allerdings entwickelte sich offenbar sehr früh zwischen der Gruppe der Griechisch sprechenden »hellenistischen« Jesus-Gläubigen um Stephanus und den Jerusalemer religiösen Autoritäten ein massiver Konflikt. Stephanus galt als tora- und tempelkritisch (Apg 6,8–15)7, und so traf ihn und seine Gruppe eine scharfe Verfolgung, die für Stephanus mit dem Märtyrertod und für die übrigen Mitglieder seines Kreises mit der Vertreibung aus Jerusalem endete. Trotz der Konfliktsituation spricht Stephanus in seiner langen Verteidigungsrede seine Richter, die alsbald seine Henker sein werden, als ŅėĎěďĜŁĎďĕĠęư und als ĚċĞƬěďĜ (7,2) an; die ganze Rede ist vor allem eine umfassende Darstellung der Geschichte Israels, in der das Jesus-Geschehen nur ganz am Rande erwähnt wird (7,52b).8 Das von Lukas in Apg 6–8 gezeichnete Bild der Beziehungen zwischen den an Jesu Auferweckung glaubenden und den anderen Juden ist also ambivalent: Einerseits gelingt es den jüdischen Autoritäten mit Unterstützung zumindest eines Teils des Volkes, die Griechisch sprechende, torakritische Gruppe der sich zu Jesus Bekennenden9 aus Jerusalem zu vertreiben; andererseits aber konnten die ŁĚƲĝĞęĕęē – und dann doch wohl auch die ihnen 6 Vgl. G. Kretschmar, Die Kirche aus Juden und Heiden. Forschungsprobleme der ersten christlichen Jahrhunderte, in: J. van Amersfoort / J. van Oort (Hg.), Juden und Christen in der Antike, Kampen 1990, 9–43; B. Wander, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jahrhundert n. Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Hinrichtung Jesu und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, TANZ 16, Tübingen 1994. 7 Zu den »Hellenisten« in Jerusalem vgl. N. Walter, Apostelgeschichte 6,1 und die Anfänge der Urgemeinde in Jerusalem, in: Ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, WUNT 98, Tübingen 1997, 187–211. 8 Zu Analyse und Auslegung von Apg 7 vgl. M. L. Soards, The Speeches in Acts. Their Content, Context, and Concerns, Louisville, KY 1994, 57–70. 9 Möglicherweise hat sich diese Gruppe bewußt als őĔĔĕđĝưċ bezeichnet; dafür spricht die Tatsache, dass in Apg 8,1.3 von der Verfolgung der őĔĔĕđĝưċgesprochen wird, obwohl allein die Gruppe um Stephanus betroffen ist. Die Wahl der »Sieben« (Apg 6,1–6) läßt vielleicht den Beginn eigener Strukturen im Stephanuskreis erkennen.

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I Israel – Jesus – Paulus

in besonderer Weise verbundene Gruppe – nach Apg 8,1 in der Heiligen Stadt bleiben und offenbar praktisch unbehelligt ihre Verkündigung fortsetzen. Die aus Jerusalem vertriebenen »Hellenisten« predigen zunächst im geographisch nahen, religiös freilich »fremden« Samaria10; dann kommen sie an die Küste und schließlich sogar in die syrische Großstadt Antiochia, wo die »Jünger« erstmals āěēĝĞēċėęư genannt werden (11,19–26). 2. Wer sind in der Apostelgeschichte die ŵĝěċđĕȉĞċē? Die Adressaten der beiden Petrusreden in Jerusalem (Apg 2,14–36; 3,12–26) und auch die Hörer der in der Synagoge in Antiochia Pisidiae gehaltenen ersten Rede des Paulus (Apg 13,16–41) werden als ŅėĎěďĜŵĝěċđĕȉĞċē angesprochen. Petrus eröffnet zwar die »Pfingstpredigt« mit der Anrede ŅėĎěďĜŵęğĎċȉęē (2,14), aber damit sind offensichtlich nicht allgemein »Juden« gemeint, sondern die Bewohner Judäas; das zeigt die Fortsetzung (ĔċƯęŮĔċĞęēĔęȘėĞďĜŵďěęğĝċĕƭĖ ĚƪėĞďĜ). Alle diese Reden nehmen eingehend auf die Geschichte Israels Bezug, und so dient die Anrede der Hörer als ŵĝěċđĕȉĞċē offensichtlich dazu, die Gemeinsamkeit der Beziehung des Redners und der Hörer zu dieser Geschichte hervorzuheben: Sprecher und Adressaten gehören gleichermaßen zu ›Israel‹, das definiert wird durch die in den Reden jeweils explizierte Geschichte.11 Zu dieser Geschichte aber gehören nun auch Tod und Auferweckung Jesu durch den Gott Israels entsprechend der biblischen Verheißung; insofern trennen sich nach der in der Apostelgeschichte gegebenen Darstellung nicht Petrus und Paulus von ›Israel‹, sondern diejenigen, die dieser Botschaft nicht folgen, verlassen die gemeinsame (Heils-)Geschichte. Woran ist zu denken, wenn in der Apg von ŵĝěċƮĕ die Rede ist? Gleich zu Beginn in 1,6 stellen Jesu Jünger dem Auferstandenen die Frage, ob er »in dieser Zeit (őėĞȦġěƲėȣĞęƴĞȣ) die ČċĝēĕďưċĞȦŵĝěċƮĕ wieder aufrichten« werde; Jesus verneint das indirekt mit dem Hinweis auf den bald bevorstehenden Empfang des ĚėďȘĖċ ņčēęė. Jesu Jünger, die selber zu ›Israel‹ gehören, meinen offenbar, die erwartete Wiederherstellung des »Königreichs für Israel« werde etwas mit dem Wirken des auferstandenen Jesus zu tun haben12; der Auferstandene aber weist den Gedanken zumindest einer

10 Vgl. A. Lindemann, Samaria und Samaritaner im Neuen Testament, WuD 22 (1993) 51–76. 11 Lukas setzt den Begriff ŵĝěċđĕȉĞċē ganz bewußt in diesem Sinne ein; das zeigt Apg 21,28, wo »die Juden aus der Asia« (V. 27) mit dem Ruf ŅėĎěďĜŵĝěċđĕȉĞċēČęđĒďȉĞď an die Solidarität der Jerusalemer Juden mit ihnen als Diasporajuden appellieren. 12 Dem entspricht die Aussage der Emmaus-Jünger in Lk 24,21: »Wir hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.« Vgl. dazu M. Wolter, Prophet oder Messias? Beobachtungen zu den Christologien von Lk 24,19–27, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 373–387, hier: 380.

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament

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zeitlichen Nähe der Aufrichtung dieser Čċĝēĕďưċ zurück.13 Ob die Leser den Begriff ČċĝēĕďưċĞȦŵĝěċƮĕ auf die geschichtliche Wiedererrichtung eines »Staates Israel« beziehen oder im apokalyptischen Sinne an eine »Weltherrschaft für Israel« denken sollen, läßt sich kaum sagen, zumal die ganze Vorstellung ja zurückgewiesen wird. In den Reden des Petrus zu Pfingsten vor der Volksmenge und später vor dem Hohen Rat wird gesagt, »das ganze Haus Israel« (2,36) bzw. »das ganze Volk Israel« (4,10) solle das Christuszeugnis annehmen. Ähnlich wie durch die Anrede ŅėĎěďĜŵĝěċđĕȉĞċē in 2,22 und 3,12 wird deutlich, dass sich die Verkündigung der Apostel an Israel wendet und dass der Redner selber ebenfalls zu Israel gehört. Nach der Verhaftung und der wunderbaren Befreiung der Apostel versammeln sich der Hohe Rat und die »ganze čďěęğĝưċ Ğȥė ğŮȥė ŵĝěċƮĕ« (5,21), um die Apostel einem Verhör zu unterziehen, weil sie trotz dem verhängten Lehrverbot weiterhin predigen: »Ihr habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt, und ihr wollt das Blut dieses Menschen (sc. Jesus) auf uns bringen«, lautet der Vorwurf (5,28). Petrus und die Apostel halten daraufhin eine Rede (5,29–3214), die sehr kurz, für das hier zu diskutierende Problem aber von erheblicher Bedeutung ist. Sie verweisen zuerst auf den Grundsatz, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen (5,29)15, und dann legen sie das Bekenntnis ab (5,30 f.): »Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr durch die Kreuzigung ermordet habt. Diesen hat Gott als ŁěġđčƲĜ und als ĝģĞƮě zu seiner Rechten erhöht, um Israel Umkehr zu ermöglichen und Vergebung der Sünden.« Damit ist klar: Die apostolische Predigt wendet sich selbstverständlich an Israel, weil das Christusereignis ein Handeln Gottes ist, das sich auf Israel bezieht. In der Auseinandersetzung zwischen den Aposteln und dem Hohen Rat geht es aus lukanischer Perspektive mithin um die Frage, wie ›der Gott unserer Väter‹ gehandelt hat: Hat er, wie die Apostel behaupten, den gekreuzigten Jesus von den Toten auferweckt und erhöht, um so die Umkehr Israels zu ermöglichen? Oder hat er das, wie der Hohe Rat meint, nicht getan? Es ist nicht die »Christologie«, die hier trennt, sondern das Reden vom Handeln Gottes führt zur Scheidung. Gefragt wird nicht etwa: »Welcher Gott hat (zu Ostern) gehandelt?« – als sprächen Petrus und die anderen Apostel von einem anderen Gott als der Hohe Rat. Gefragt wird 13 Vgl. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), Tübingen 51964, 127. 14 Die Formulierung in 5,29 (ŁĚęĔěēĒďƯĜ Ďƫ ûƬĞěęĜ ĔċƯ ęŮ ŁĚƲĝĞęĕęē ďųĚċė) zeigt an, dass hier tatsächlich nicht ein einzelner – Petrus – spricht, sondern dass Lukas sagen will, die Apostel hätten gemeinsam ein Grundbekenntnis abgelegt. Zur Diskussion vgl. Soards, Speeches (s. Anm. 8), 51 Anm. 117. 15 Das entspricht den Worten des Sokrates in seiner Apologie (29d).

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vielmehr: »Was hat ›unser Gott‹ getan?« Es sind die gegensätzlichen Antworten, durch die es zum Konflikt und zur Trennung kommt.16 Das von Lukas gezeichnete Bild der urgemeindlichen Situation dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit der historischen Realität in Jerusalem nahe kommen. Es wäre deshalb theologisch problematisch, die Möglichkeit einer sich auf Israel beziehenden Predigt von Gottes Handeln in Christus aus womöglich »israel-theologischen« Gründen grundsätzlich abzulehnen. Die Urgemeinde kam nicht auf den Gedanken, dass sich das Christusereignis nicht auf Israel bezieht, sondern im Gegenteil und womöglich sogar ausschließlich »die Völker« betrifft. Für die Urgemeinde war Jesus der Messias Israels; dementsprechend konnte es nicht um die Frage gehen, ob die Jesus-Botschaft an Israel zu richten sei, sondern es ging – freilich nicht von Anfang an – darum, ob und wie diese Botschaft möglicherweise über Israel hinaus auch den Menschen der Völkerwelt, den »Heiden«, gepredigt werden dürfe.17 Wie stellt Lukas den Beginn der Mission unter den Völkern dar? Nach der offenbar bewußt als »Ausnahmefall« geschilderten Taufe des »äthiopischen Eunuchen«18 durch Philippus beginnt die eigentliche Völkermission durch die dem Petrus und dem Cornelius zeitgleich widerfahrenen Offenbarungen. Im Anschluß an das Cornelius-Wunder sagt Petrus (10,34 f.): »Wahrhaftig begreife ich, dass Gott – nämlich: der Gott unserer Väter – die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk ist der, der ihn fürchtet und die Gerechtigkeit tut, ihm angenehm.« Das Wort der Verkündigung war als Botschaft des Friedens durch den hier betont als ĚƪėĞģė [!] ĔƴěēęĜ bezeichneten Jesus Christus an die »Söhne Israels« ergangen; jetzt aber, nach Jesu Auferweckung und Erhöhung zum »Richter der Lebenden und der Toten« (V. 42), bezeugt Petrus, dass – wie er am Schluß der Rede in V. 43 betont sagt – »durch seinen Namen jeder, der an ihn glaubt«, die Vergebung der Sünden empfängt.19 Mit dem Beginn der Mission unter den »Völkern« wechselt also nicht etwa das Heil Gottes von Israel zu den Heiden, sondern es wird deutlich, dass durch das Christusereignis Gottes Heil in gleicher Weise zu Israel und zu den Völkern gekommen ist. 16 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche. Historische Beobachtungen am Neuen Testament (s.o. S. 4–32). 17 Dass diese Frage bereits in der Anfangszeit erörtert worden wäre, läßt die Apg allerdings nicht erkennen. Aber es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Stephanuskreis schon früh auch eine »Heidenmission« als möglich angesehen hat; dafür könnte das Verhalten der aus Jerusalem Vertriebenen sprechen. 18 Vgl. meinen Aufsatz: Der »äthiopische Eunuch« und die Anfänge der Mission unter den Völkern nach Apg 8–11, in: A. Lindemann, Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 231–251. 19 Der Hinweis auf den »Namen« Jesu dürfte eine Anspielung auf die Taufe sein, die sich ja mit der Sündenvergebung verbindet.

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Möglicherweise hat der Kreis um den toratreuen Herrenbruder Jakobus zwar die Völkermission als solche akzeptiert, den Gedanken einer gemeinsamen Kirche von ›Juden‹ und ›Heiden‹ aber zurückgewiesen. Er spricht in seiner Rede auf dem »Apostelkonzil« (15,13–21) davon, dass Gott sich őĘőĒėȥė ein Volk (ĕċƲĜ) »für seinen Namen« erwählt hat und dass dies der Verheißung »der Propheten« entspricht.20 Aus diesem Grunde solle denen, die sich ŁĚƱĞȥėőĒėȥė zu Gott bekehren, nur die Abkehr von Götzendienst, Unzucht und Blutgenuß auferlegt werden, d.h. sie sollen sich an jene Gebote halten, deren Einhaltung die Beziehungen zwischen Menschen aus Israel und Menschen aus ›den Völkern‹ überhaupt erst möglich macht. Der lukanische Jakobus wiederholt nicht die in 15,9 vorangegangene Aussage des »Petrus«, Gott mache keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden. Hat Lukas damit eine authentische Position des Jakobus festgehalten? Das in Apg 15 Berichtete paßt jedenfalls gerade auch hinsichtlich der Differenz zwischen Jakobus und Petrus zu der von Paulus in Gal 2,11 ff. gegebenen Darstellung, Petrus sei erst durch das Eingreifen der ĞēėďĜŁĚƱŵċĔƶČęğ21 dazu veranlaßt worden, die von ihm zunächst praktizierte Tischgemeinschaft mit den ŕĒėđ in Antiochia aufzugeben.22

3. Für Lukas gehören die an Jesu Auferweckung glaubenden Juden selbstverständlich zu Israel; sie haben den Auftrag, Israel zur Umkehr zu rufen: Israel soll erkennen, dass der Eine Gott in der Auferweckung Jesu gehandelt hat. Die Mehrheit Israels weist diese Predigt jedoch zurück, und so wendet sich die Botschaft von Umkehr und Rettung nun auch an die »Völker«, ohne dass das Bemühen um ›Israel‹ nachgelassen hätte. Nach der lukanischen Darstellung beginnt die Predigttätigkeit des Paulus in Damaskus damit, dass er »den Juden bewies«, Jesus sei der Messias (9,22). Er predigt dann in einer Stadt immer wieder »zuerst«, wenn auch in der Regel vergeblich, in der Synagoge und wendet sich erst danach, nun erfolgreich, auch an die Heiden; Lukas will offensichtlich den Eindruck vermeiden, dass Israel als Adressat der Christuspredigt verloren gehen könnte. Die »positive« Beziehung der Kirche zu Israel konkretisiert sich in der Darstellung der Apg gerade dadurch, dass Israel Adressat der christlichen Missionspredigt bleibt. Das entspricht in der Tendenz der Aussage des Paulus in Röm 11,1: Gott hat sein Volk »nicht verstoßen«, wie die Existenz von Judenchristen einschließlich des Paulus selber zeigt; eben deshalb gilt diesem Volk unverändert die

20 In Apg 15,16 f. wird Am 9,11 f. zitiert, freilich mit deutlichen Abweichungen von der LXX. Auffallend ist vor allem der Wechsel von őė ĞǼ ŞĖƬěǪ őĔďưėǹ ŁėċĝĞƮĝģ Ğƭė ĝĔđėƭėïċğēĎĞƭėĚďĚĞģĔğȉċė in Am 9,11 zu ĖďĞƩĞċȘĞċŁėċĝĞěƬĢģĔċƯŁėęēĔęĎęĖƮĝģ ĞƭėĝĔđėƭėïċğƯĎĞƭėĚďĚĞģĔğȉċė. Vgl. dazu C. K. Barrett, A Critical and Exegetical Commentary on the Acts of the Apostles. Vol. II. Introduction and Commentary on Acts XV–XXVIII, ICC, Edinburgh 1998, 725. 21 Die Angabe ŁĚƱ ŵċĔƶČęğ könnte suggerieren, als seien diese ĞēėďĜ geradezu von Jakobus nach Antiochia entsandt worden. 22 Zur Auslegung vgl. F. Vouga, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998, 53 f. Zum Verhältnis von Gal 2 zu Apg 15 vgl. den Exkurs aaO., 63 f.

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I Israel – Jesus – Paulus

Christuspredigt – ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit Israels diese Predigt zurückweist. Das bestätigt sich am Ende des lukanischen Doppelwerks (Apg 28,24–29). Zwar verwendet Lukas jetzt zum erstenmal in der Apostelgeschichte das Verstockungswort aus Jes 6,9 f., wobei er Paulus ausdrücklich sagen läßt, dass »dieses Heil Gottes« den ŕĒėđ gesandt ist; aber Lukas will offenbar nicht sagen, ›Israel‹ komme fortan als Adressat der Christuspredigt nicht mehr in Betracht. Nach 28,30 nahm Paulus alle auf (ŁĚďĎƬġďĞęĚƪėĞċĜ), die während seines zwei Jahre währenden Aufenthalts in Rom zu ihm kamen, und Lukas deutet dabei nicht an, Juden seien davon grundsätzlich ausgenommen gewesen.23

II. ›Israel‹ bei Paulus 1. In allen echten Paulusbriefen – mit Ausnahme der Briefe an die Philipper und an Philemon  – findet sich das Lexem ŵęğĎċȉęĜ. Paulus wählt dieses Wort, das sonst eher als Fremdbezeichnung im Munde von Nicht-Juden begegnet24, wenn er explizit oder implizit von »Juden und Heiden« (bzw. auch »Juden und Griechen«) spricht25; in Gal 2,15 unterscheidet er im Referat seiner Reaktion auf das Verhalten des Petrus in Antiochia zwischen »uns« als den ĠƴĝďēŵęğĎċȉęē und den őĘőĒėȥėłĖċěĞģĕęư. Sich selber bezeichnet Paulus niemals explizit als »Jude«; in 1 Kor 9,20 kann er im Gegenteil sogar formulieren, er sei »den Juden ein Jude geworden«. In Röm 9,4 und 11,1 sowie in 2 Kor 11,22 nennt sich Paulus »Israelit« ( ŵĝěċđĕưĞđĜ); in Phil 3,5 spricht er von seiner Herkunft őĔ čƬėęğĜ ŵĝěċƮĕ.26 In 1 Kor 10,18, möglicherweise auch in Gal 6,16, bezeichnet er das gegenwärtige Judentum mit dem Begriff ŵĝěċƮĕ. Dabei bezieht er sich 23 Vgl. dazu M. Wolter, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: Ders., Theologie und Ethos (s. Anm. 12), 261–289, hier: 274 f. Wolter meint, ŁĔģĕƴĞģĜ beziehe sich darauf, dass Paulus von den römischen Juden in seiner Predigttätigkeit nicht behindert wurde (unter Verweis auf W. Stegemann, Zwischen Synagoge und Obrigkeit, Göttingen 1991, 133). Aber der Wortlaut legt das nicht nahe; ŁĔģĕƴĞģĜ meint doch offenbar: von niemandem behindert. 24 Vgl. W. Gutbrod, Art. ŵĝěċƮĕĔĞĕ , ThWNT III, Stuttgart 1938, 370: Als Bezeichnung für Juden wird gewöhnlich das Wort ŵęğĎċȉęĜ gebraucht; »bei heidnischen Schriftstellern ist ŵĝěċƮĕ als Bezeichnung des jüdischen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart nirgends zu bemerken« (373). 25 Eine Ausnahme ist möglicherweise der polemische Abschnitt 1 Thess 2,14–16, wo mit ęŮŵęğĎċȉęē offenbar diejenigen gemeint sind, die in Judäa – also als »Judäer« – die dortigen őĔĔĕđĝưċē ĞęȘ ĒďęȘ verfolgt haben; Paulus denkt aber auch hier zumindest indirekt an ›Heiden‹, da sich die ganze Aussage auf die ĝğĖĠğĕƬĞċē der in Thessalonich verfolgten (Heiden-)Christen bezieht. 26 Vgl.: Paulus, Pharisäer und Apostel (s.o. S. 33–72, hier: 44–46).

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament

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mit der Aufforderung an die Korinther: ČĕƬĚďĞďĞƱėŵĝěċƭĕĔċĞƩĝƪěĔċ auf das jüdische Volk der Gegenwart, insbesondere auf dessen Opferkult am Jerusalemer Tempel; die Argumentation setzt voraus, dass die korinthischen Adressaten davon ein hinreichendes Wissen haben.27 Vom ŵĝěċƭĕ ĔċĞƩ ĝƪěĔċ spricht Paulus möglicherweise deshalb, damit er die Juden (›Israeliten‹) unter den Christen in Korinth terminologisch von den anderen Juden unterscheiden kann. Ob die Juden-Christen in der Diaspora auch als Glieder einer örtlichen őĔĔĕđĝưċ sich weiterhin an die kultische Tora, insbesondere auch an den Tempelkult bzw. an die »Tempelsteuer« gebunden wußten, lässt sich nicht sagen. Der Ausdruck ŵĝěċƭĕĔċĞƩĝƪěĔċ hatte insofern weitreichende Konsequenzen, als daraus später oft die Folgerung abgeleitet wurde, es gebe neben dem »fleischlichen Israel« auch ein »geistliches Israel«, das identisch sei mit der Kirche.28 Tatsächlich verwendet weder Paulus noch sonst ein neutestamentlicher Autor den Begriff »geistliches« (oder »wahres«) Israel; allerdings schreibt Paulus in Gal 4,29 in der typologischen Auslegung der Überlieferung von den beiden Söhnen Abrahams, der ĔċĞƩ ĝƪěĔċčďėėđĒďưĜ habe ĞƱėĔċĞƩĚĖďȘĖċ (sc. čďėėđĒƬėĞċ) verfolgt, und dies geschehe »auch jetzt« (ęƎĞģĜĔċƯėȘė).29 Innerhalb des Judentums gab es jedenfalls Gruppen, die für sich in Anspruch nahmen, allein ›Israel‹ zu sein; am klarsten faßbar wird dies für uns in einigen der in den Höhlen am Toten Meer gefundenen Schriften.30

Umstritten ist, woran Paulus denkt, wenn er in Gal 6,16 vom »Israel Gottes« spricht. Er hatte zuvor in V. 15 geschrieben, die Unterscheidung zwischen Israel (ĚďěēĞęĖƮ) und den Völkern (ŁĔěęČğĝĞưċ) sei eschatologisch bedeutungslos geworden, denn es gelte weder »Beschneidung« noch »Vorhaut«, sondern Ĕċēėƭ ĔĞưĝēĜ. Dem fügt Paulus dann hinzu (V.  16), er wünsche denen, die dem soeben genannten »Maßstab« (Ĕċėƶė) folgen werden (ĝĞęēġƮĝęğĝēė), »Frieden und Barmherzigkeit« (ďŭěƮėđőĚdzċƉĞęƳĜ ĔċƯŕĕďęĜ), und dem schließt sich die knapp formulierte Wendung an: ĔċƯ őĚƯĞƱėŵĝěċƭĕĞęȘĒďęȘ. Möglicherweise will Paulus an dieser Stelle differenzieren: Der Friedenswunsch gilt den zuerst Genannten (ďŭěƮėđ őĚdz ċƉĞęƳĜ), dem ›Israel Gottes‹ wird Barmherzigkeit gewünscht (ĔċƯ ŕĕďęĜ ĔċƯőĚƯĞƱėŵĝěċƭĕĞęȘĒďęȘ).31 Vor dem Hintergrund der Sara-Hagar-Ty27 Weniger wahrscheinlich ist die Möglichkeit, dass Paulus an das zuvor in 10,1–11 beschriebene Israel der Wüstenzeit denkt; vgl. dazu A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 225. 28 Vgl. dazu W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 6,12–11,16), EKK VII/2, Neukirchen-Vluyn 1995, 442 f. Schrage meint, das ŵĝěċƭĕĔċĞƩĝƪěĔċ sei nicht das gegenwärtige, empirische Israel, sondern »das in 10,lff. beschriebene widerspenstige Israel des Alten Bundes«. Vgl. dagegen etwa D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 339 f. 29 Zur Auslegung vgl. Vouga, Galater (s. Anm. 22), 119. 30 Vgl. A. Lange / H. Lichtenberger, Art. Qumran, TRE 27, 1997, 45–79, hier: 69. 31 Vgl. M. Bachmann, Bemerkungen zur Auslegung zweier Genitivverbindungen des Galaterbriefs: »Werke des Gesetzes« (Gal 2,16 u.ö.) und »Israel Gottes« (Gal 6,16), in:

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pologie in Gal 4,21–31 kann man annehmen, dass in 6,16 zwei Wünsche für zwei unterschiedliche Gruppen ausgesprochen werden: Den »nach diesem Ĕċėƶė Wandelnden«, also den »Kindern der Sara«, gilt die Bitte um Frieden (V. 16a), Barmherzigkeit wünscht Paulus »auch dem ›Israel Gottes‹«, also den »Kindern der Hagar«. In der Konfliktsituation in Galatien geht es theologisch ja auch um Israel; Paulus spricht in 6,16 den Wunsch aus, dass Gott dem Volk Israel, das doch das »Israel Gottes« ist, Barmherzigkeit zuteil werden lassen möchte. Die Notwendigkeit für diesen Wunsch würde daraus resultieren, dass Israel als das unfreie »jetzige Jerusalem« gegenwärtig nicht zu Sara und Isaak gehört, sondern zu dem auf Hagar und ihren Sohn zurückgehenden Bund. Sollte diese Interpretation von Gal 6,16 richtig sein, so hätte das Konsequenzen für die Auslegung von Gal 4,21–31: Der Dualismus der beiden dort erwähnten ĎēċĒǻĔċē wäre nicht als ein endgültiger zu verstehen, sondern durch seine Aussage in 6,16 würde Paulus zumindest indirekt die Erwartung und Hoffnung zu erkennen geben, dass aus den »Kindern der Hagar« durch Gottes Barmherzigkeit doch noch »Kinder der Sara« werden.32 2. Elf der 16 Belege für ŵĝěċƮĕ in den authentischen Paulusbriefen finden sich im Römerbrief, allerdings kein einziger in den ersten acht Kapiteln dieses Briefes. In Röm 1–3 ist, beginnend mit 1,14, mehrfach vom Verhältnis zwischen »Juden« und »Griechen« (bzw. »Heiden«) die Rede33; Paulus schließt diesen ersten Argumentationsgang in 3,28–31 mit der Feststellung, Gott rechtfertige »Beschneidung« und »Vorhaut« in gleicher Weise, nämlich durch den Glauben, ohne Werke des Gesetzes.34 In Röm 4–8 spricht er von den Konsequenzen, die das zuvor beschriebene Ders. / B. Kollmann (Hg.), Umstrittener Galaterbrief. Studien zur Situierung der Theologie des Paulus-Schreibens, BThSt 106, Neukirchen-Vluyn 2010, 95–118, hier: 114–117. 32 Nach Vouga, Galater (s. Anm. 22), 157 f. meint Gal 6,16, dass diejenigen, die dem »Maßstab« des paulinischen Evangeliums folgen, das Israel Gottes sind; das Ĕċư sei nicht additiv, sondern explikativ zu verstehen, »und der Genitiv ĞęȘĒďęȘ impliziert eine Unterscheidung vom ŵĝěċƭĕĔċĞƩĝƪěĔċ (1 Kor 10,18)«. Aber die Entsprechung von őĚdz ċƉĞęƳĜ und őĚƯĞƱėŵĝěċƭĕ spricht gegen die Annahme eines Ĕċư explicativum. 33 Vgl. dazu D. Starnitzke, »Griechen und Barbaren bin ich verpflichtet« (Röm 1,14). Die Selbstdefinition der Gesellschaft und die Individualität und Universalität der paulinischen Botschaft, WuD 24 (1997) 187–207. Ders., Die Bedeutung des Individualitätskonzeptes für das Verständnis des Römerbriefes. Individualitätstheorie und Exegese, in: St. Alkier / R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen 1998, 33–56. 34 Zur Debatte um das Verständnis von ŕěčċėƲĖęğ vgl. M. Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck »›Werke‹ des Gesetzes«, in: Ders. (Hg.), Lutherische und neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005 69–134 oder auch den oben (Anm. 31) genannten Aufsatz. Dagegen O. Hofius, Werke des Gesetzes. Untersuchungen zu der paulinischen Rede von den ŕěčċėƲĖęğ, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.),

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Gotteshandeln für die Menschen hat. Ausgehend vom Beispiel Abrahams (Röm 4) zeigt er, dass Gottes erwählendes Handeln immer schon nicht auf die Gesetzeserfüllung und insbesondere auch nicht auf die Beschneidung verweist, sondern allein auf den Glauben; durch das Gesetz wurde die tote Sünde geradezu zum Leben erweckt (Röm 7). Der Gedankengang endet in 8,31–39 mit der geradezu hymnisch formulierten Aussage, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn. Auffallend ist, dass Paulus in Röm 1–8 neunmal das Wort ŵęğĎċȉęĜ verwendet, aber niemals die Begriffe ŵĝěċƮĕ oder ŵĝěċđĕưĞđĜ.

Zwischen Röm 8 und Röm 9 scheint auf den ersten Blick ein tiefer Einschnitt zu liegen, insofern weder inhaltlich noch formal eine Verbindung bzw. ein Übergang zu erkennen ist. In den Eingangssätzen von Röm 9 (V. 1–5) fehlt jeder Rückverweis, sie lassen nicht erkennen, worauf Paulus seine Gedanken im folgenden zu lenken beabsichtigt. Dabei hat er seine Worte überaus sorgfältig gewählt: Nach dem einleitenden Schwur (V. 1) und dem stark betonten Hinweis auf seine persönliche Trauer (V. 2) schreibt er in V. 3a, dass er selber ŁėƪĒďĖċ sein möchte, »weg« von Christus, wobei nicht klar ist, worum es in der Sache geht. In V. 3b wird Paulus dann etwas deutlicher: Anlaß für seine tiefe Trauer und für den Wunsch zur Selbstverfluchung sind »meine Brüder, meine Verwandten ĔċĞƩ ĝƪěĔċ«: Sie sind, so heißt es dann (V. 4–5a), ŵĝěċđĕȉĞċē, ihnen gehören die Heilsgaben Gottes und die Verheißungen, und zu ihnen gehört auch Christus »nach dem Fleisch« (őĘƠėžāěēĝĞƱĜĞƱĔċĞƩĝƪěĔċ). Die in 9,4a erstmals im Römerbrief verwendete Bezeichnung ŵĝěċđĕȉĞċē ist der Oberbegriff, dem die weiteren Aussagen zugeordnet sind. Nach V.  5a aber bricht der Apostel den Gedankengang ab  – die mit »Amen« schließende Doxologie für Gott am Ende von V. 5b zeigt an, dass offenbar genug gesagt worden ist; offenbar sollen die Leser selber folgern, was das so nachdrücklich vorgetragene Ineinander von Trauer und hypothetischer Selbstverfluchung des Paulus einerseits (V.  2.3) und Lobpreis der den Israeliten geltenden Verheißungen andererseits (V. 4.5a) der Sache nach bedeutet. Zwischen V.  3 und V.  4 (oder auch im Anschluß an V.  5) fehlt jedenfalls eine Aussage darüber, aus welchem Grund Paulus so verzweifelt ist; dieser Grund aber läßt sich erkennen, wenn 9,1–5 unmittelbar von 8,31–39 her gelesen wird: Ursache des tiefen Schmerzes des Apostels ist die Tatsache, dass seine »Verwandten ĔċĞƩĝƪěĔċ«, die ŵĝěċđĕȉĞċē, das Christusgeschehen zurückweisen, das in 8,31–39 mit so überschwenglichen Worten charakterisiert worden war. Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 271–310. Die exegetischen Argumente sprechen m. E. eindeutig für die von Hofius vertretene Position: Das Syntagma ŕěčċėƲĖęğ bezeichnet »in ganz umfassendem Sinn das Tun dessen, was die Tora gebietet, d.h. die Befolgung der Tora in allen Lebensbezügen« (303).

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So setzt der in 9,1 begonnene und dann kohärent bis 11,36 laufende Argumentationsgang35 einen offensichtlich bewußt nicht ausgesprochenen Zwischengedanken voraus: All das, was in V. 4.5a an Vorzügen Israels genannt ist, wird – so sieht es Paulus – von den Israeliten selber gerade nicht wahrgenommen. Zwar schreibt Paulus das nicht ausdrücklich; aber er setzt es implizit voraus, denn seine Aussage in V. 6a ist ja die Antwort auf die (nicht explizit gestellte, aber zu ergänzende) Frage, ob aus dem in V. 1–5 Gesagten zu folgern sei, dass das Wort Gottes womöglich »hingefallen« ist; die Antwort des Paulus lautet natürlich, dass das nicht der Fall ist. Mit dem Syntagma žĕƲčęĜĞęȘĒďęȘ ist nicht in erster Linie die biblische Verheißung gemeint, sondern das jetzt gepredigte Evangelium36: Wäre das Wort Gottes tatsächlich »hingefallen«, so wäre jede Verkündigung gegenüber Menschen aus dem Volk Israel vergeblich und die in V. 1–3 beschriebene Trauer des Paulus müßte in Verzweiflung enden; das aber ist nicht der Fall (V. 6a). Für den in V. 1–5a beschriebenen Sachverhalt gibt es vielmehr eine Erklärung: Israel ist nämlich (čƪě, V. 6b)37 nicht gleich Israel, sondern es gibt in der Geschichte Israels von Anfang an zwei Linien, insofern nicht alle Nachkommen (ĝĚƬěĖċ) Abrahams auch seine Kinder (ĞƬĔėċ) sind. Es gab (und gibt) ĞƩĞƬĔėċĞǻĜĝċěĔƲĜ und ĞƩĞƬĔėċĞǻĜőĚċččďĕưċĜ. »Same« Abrahams ist allein Isaak, und entsprechend dem in V. 7 zitierten Verheißungswort aus Gen 21,12 ist Isaak das Kind der őĚċččďĕưċ, während Ismael – dessen Name hier ebensowenig genannt wird wie an der vergleichbaren Stelle Gal 4,21– 31 – in Wahrheit gar nicht »Same Abrahams« ist. Damit ist der Gedanke der Identität von empirischem Israel und Israel als Gottesvolk aufgehoben, wie in V.  8 als Auslegung des Zitats in V.  7 (ĞęȘĞdz ŕĝĞēė) explizit gesagt wird: Nicht die »fleischlichen Kinder sind Kinder Gottes«, sondern allein die »Kinder der Verheißung« gelten als »Same« (ĞƩĞƬĔėċĞǻĜőĚċččďĕưċĜ ĕęčưĐďĞċēďŭĜĝĚƬěĖċ), entsprechend dem in V. 9 zitierten Wort der Verheißung aus Gen 18,10.14. Eine begriffliche Gegenüberstellung von ›Israel nach dem Fleisch‹ und ›Israel nach dem Geist‹ gibt es bei Paulus nicht; aber in der Sache unterscheidet er zwischen denen, die in Wahrheit »Same Abrahams« und also in Wahrheit ›Israel‹ sind, und denen, die dies nicht sind. Paulus schreibt natürlich nicht, dass der der őĚċččďĕưċ entsprechende »Same« die 35 Vgl. zur Auslegung von Röm 9–11 den schon 1984 erstmals erschienenen wertvollen Aufsatz von N. Walter, Zur Interpretation von Römer 9–11, in: Ders., Praeparatio Evangelica (s. Anm. 7), 212–233. 36 Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Israels Vorzüge und das Evangelium von der Gottesgerechtigkeit in Römer 9–11, in: Ders., Studien zur paulinischen Theologie, Schriftenreihe der Evangelischen Fachhochschule Freiburg 8, Münster 1999, 80–100. 37 Bei der Auslegung von Röm 9–11 wird bisweilen übersehen, dass Paulus thetische Aussagen oft durch ein begründendes oder explikatives čƪě fortsetzt; es gibt in Röm 9–11 insgesamt 30 Belege für čƪě. Von besonderer Bedeutung ist das čƪě hier in 9,6 sowie vor allem in 10,2–5 und in 11,1b (s.u.).

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(Juden-)Christen seien; aber er behauptet, dass die fleischliche Abstammung von Abraham jedenfalls nicht identisch ist mit der Zugehörigkeit zu Israel. Da er diesen Gedanken meint aus der Schrift ableiten zu können, behauptet er zugleich, dass diese Unterscheidung immer schon Geltung besessen habe. Damit vertritt Paulus eine innerhalb des zeitgenössischen Judentums keineswegs ungewöhnliche Position. Auch in der Predigt Johannes des Täufers wird der Gedanke zurückgewiesen, die Berufung auf die Abrahamskindschaft werde vor dem kommenden Gericht Gottes retten: »Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken« (Lk 3,8/Mt 3,9).38 Und die bei Qumran gefundenen Texte zeigen, dass innerhalb des Judentums dieser Zeit der Gedanke ganz selbstverständlich sein konnte, die fleischliche Zugehörigkeit zu Israel sei nicht identisch mit der Zugehörigkeit zum eigentlichen Gottesvolk.39 Dasselbe gilt letztlich natürlich auch für weite Bereiche der Apokalyptik, vor allem für den Gerichtsgedanken, der sich auf den einzelnen bezieht.

Paulus wiederholt den in 9,6–9 entwickelten Gedanken noch dreimal. In 9,10–13 zeigt er anhand der biblischen Überlieferung von den Zwillingen Jakob und Esau, dass die Erwählung allein nach dem Vorsatz Gottes geschieht  – »nicht aus Werken, sondern nach der Entscheidung des Berufenden« (ęƉĔ őĘ ŕěčģė Łĕĕdz őĔ ĞęȘ ĔċĕęȘėĞęĜ). In 9,14–18 weist er die angesichts der bisherigen Argumentation sich aufdrängende Frage, ob Gott etwa ungerecht sei (V. 14: ĖƭŁĎēĔưċĚċěƩĞȦĒďȦ), zurück unter Hinweis auf das in V. 15 zitierte Gotteswort an Mose (Ex 33,19b), das er in V. 16a durch eine V. 12a entsprechende Wendung erläutert; in V. 17 folgt das Wort, das Gott durch Mose dem Pharao hatte ausrichten lassen (Ex 9,16), und daraus folgert Paulus, dass Gott »Erbarmen zeigt, wem er will, und verstockt, wen er will« (V. 18). Nach einer erneuten kritischen Frage (9,19) und deren Zurückweisung (V. 20a) gipfelt die Argumentation schließlich unter Aufnahme von Jes 29,16 und Jer 18,6 in dem berühmten Töpfergleichnis (9,20b–21). Die biblischen Beispiele sind für Paulus Belege dafür, dass Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln seiner nicht hinterfragbaren Souveränität entspricht.40 In V. 22 f. zieht Paulus daraus eine Folgerung; zunächst entsteht dabei geradezu der Eindruck, Paulus wolle und könne den »Gedankengängen« Gottes folgen (ďŭ Ďƫ ĒƬĕģė ž ĒďƱĜ ĔĞĕ), aber dann spricht er die sich scheinbar 38 Vgl. dazu J. Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte, BZNW 53, Berlin 1989, 300–302. 39 S. dazu C. Thoma, Art. Israel II. Frühes und rabbinisches Judentum, TRE 16, Berlin 1987, 380 f., der von »frühjüdischen Polarisierungen« spricht. 40 Calvin beruft sich in seiner Prädestinationslehre wohl zu Recht auf diesen Text (J. Calvin, Institutio Christianae Religionis III, 24,1). Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt«. Zum Verständnis der Prädestination im Römer- und im Epheserbrief und bei Johannes Calvin (s.u. S. 342–369, hier: 347 f.).

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aufdrängende Schlußfolgerung41 nicht aus. Er bricht den Gedankengang mit einem Anakoluth ab42 und formuliert in V.  24 eine bekenntnisartige Aussage, in der er zum ersten Mal in dem ganzen Abschnitt die 1. Pers. Plural verwendet: Gott hat »uns« berufen, und zwar nicht nur – wie es jetzt heißt – őĘŵęğĎċưģė, sondern auch őĘőĒėȥė; damit ist nun erstmals von der Gemeinschaft der durch Gott berufenen Juden und Heiden die Rede, also, wenn auch indirekt, von der Kirche. Biblische Belege sind zunächst in V. 25 f. zwei Aussagen des Hosea (Hos 2,25; 2,1b), denen zufolge – so die paulinische Deutung – der Begriff ĕċƲĜ auf die ŕĒėđ übertragen wird, die bislang ęƉĕċƲĜĖęğ (»nicht mein Volk«) gewesen waren.43 Es folgen in V.  27 f.29 zwei prophetische Worte des Jesaja (Jes 10,22; 28,22 sowie Jes 1,944), wobei es für Paulus wichtig ist, dass der Prophet in Jes 10,22 explizit von Israel spricht45 und dem »Rest« Rettung verheißt – ein Aspekt, der in Röm 11,2–6 wieder aufgenommen werden wird.

In 9,30–33 folgert Paulus aus den beiden Zitaten, dass »Völker« (ŕĒėđ) die »Gerechtigkeit« erlangt haben46, obwohl sie diese Gerechtigkeit gar nicht erstrebt hatten; schon deshalb kann es sich bei dieser ĎēĔċēęĝƴėđ allein um die »Gerechtigkeit aus Glauben« handeln (ĎēĔċēęĝƴėđė Ďƫ Ğƭė őĔĚưĝĞďģĜ). Israel dagegen, welches nach dem »Gesetz der Gerechtigkeit« strebte (ĎēƶĔģėėƲĖęėĎēĔċēęĝƴėđĜ), hat das Gesetz nicht erreicht, weil es nicht die Verbindung der Gerechtigkeit mit der ĚưĝĞēĜ sah, sondern irrtümlich annahm, die Gerechtigkeit käme »aus Werken« (ƚĜőĘŕěčģė).47 So stießen sie (sc. die Israeliten) an den »Stein des Anstoßes« entsprechend 41 Vgl. E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 261: »Der fehlende Schluß ist aus 21 zu entnehmen: Es ist sein gutes Recht.« Von einem solchen »Recht« Gottes spricht Paulus hier gerade nicht. 42 G. Bornkamm, Paulinische Anakoluthe im Römerbrief, in: Ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufsätze I, BEvTh 16, München 1963, 76–92, hier: 90–92. 43 Zur Zitatverwendung und zur Auslegung vgl. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 172–174. Der LXX-Text von Hos 2,25 lautet: őĕďƮĝģ ĞƭėúƉĔŝĕďđĖƬėđėĔċƯőěȥĞȦúƉĕċȦĖęğĕċƲĜĖęğďųĝƴĔĞĕ. 44 Vgl. dazu Koch, Schrift (s. die vorige Anm.), 145–149.167 f. 45 Der Text des Zitats in Röm 9,27 (őƩėǍžŁěēĒĖƱĜĞȥėğŮȥėŵĝěċƭĕƚĜŞŅĖĖęĜĞǻĜ ĒċĕƪĝĝđĜ ĞƱ ƊĚƲĕďēĖĖċ ĝģĒƮĝďĞċē) weicht geringfügig von Jes 10,22 LXX ab (őƩė čƬėđĞċēžĕċƱĜôĝěċđĕƚĜŞŅĖĖęĜĞǻĜĒċĕƪĝĝđĜĞƱĔċĞƪĕďēĖĖċċƉĞȥėĝģĒƮĝďĞċē). 46 Der Begriff ĎēĔċēęĝƴėđ wird hier erstmals innerhalb von Röm 9 ganz unvermittelt eingeführt (wenn man nicht annehmen will, er sei entsprechend dem LXX-Text schon innerhalb des Jes-Zitats in 9,28 zu lesen, was aber textkritisch unwahrscheinlich ist; vgl. B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994, 462). Es zeigt sich, dass ›Gerechtigkeit‹ im Grunde schon bisher offenbar das heimliche Thema gewesen war. 47 Paulus schreibt dies geradezu formelhaft abkürzend: ęƉĔőĔĚưĝĞďģĜŁĕĕdzƚĜőĘŕěčģė (V. 32).

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament

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(ĔċĒƵĜčƬčěċĚĞċē) dem in V. 33 zitierten Schriftwort Jes 28,16, verbunden mit Jes 8,14. Mit dem durch die Anrede ŁĎďĕĠęư markierten Neueinsatz in 10,1 nimmt Paulus die Aussagen vom Anfang (9,1–3) wieder auf. Jetzt formuliert er seinen Gebetswunsch positiv und spricht in klaren Worten aus, dass er Gott um das Heil für Israel bittet. Paulus bezeugt den Israeliten nämlich (čƪě), dass sie »Eifer um Gott« haben (V. 2a), allerdings nicht »gemäß der Erkenntnis« (ęƉĔċĞdzőĚưčėģĝēė, V. 2b). Sie erkennen nämlich (čƪě) die Gerechtigkeit Gottes nicht48, sondern indem sie die eigene Gerechtigkeit (ŭĎưċ ĎēĔċēęĝƴėđ) aufrichten wollen, erweisen sie sich gegenüber der ĎēĔċēęĝƴėđ ĞęȘĒďęȘ als »ungehorsam« (V. 3). Ein solcher Versuch der Aufrichtung der »eigenen Gerechtigkeit« verfehlt die Gerechtigkeit Gottes und er verfehlt damit Gott. Das ergibt sich aus dem Christusereignis: Christus ist nämlich (čƪě) das »Ende des Gesetzes für jeden Glaubenden« (V. 4). In der z. T. heftig geführten Diskussion, ob ĞƬĕęĜ in Röm 10,4 mit »Ende« oder mit »Ziel« zu übersetzen sei, wird oft übersehen, dass die Aussage in V. 4 keine bloße These ist, sondern dass zwischen V. 3 und V. 4 ein bestimmtes logisches Verhältnis besteht: Der Versuch der Aufrichtung der »eigenen Gerechtigkeit« entspringt der – nach Paulus falschen – Vorstellung, Gerechtigkeit könne erlangt werden ƚĜőĘŕěčģė (9,32), also aus dem Gesetz. Tatsächlich aber  – so Paulus  – ist die Gerechtigkeit Gottes nicht mit dem Gesetz, sondern mit dem Glauben verbunden; wer das nicht anerkennt, steht im Widerspruch zu Gottes Willen, da nämlich (čƪě) Christus das ĞƬĕęĜ des Gesetzes ist, womit nun im Kontext nur das Ende gemeint sein kann.49 Das »Unverständnis« Israels liegt darin, nicht erkannt zu haben, dass die Rolle des ėƲĖęĜ durch Christus beendet, dass der ėƲĖęĜ an sein ihm von Gott bestimmtes »Ziel« gelangt ist.

Paulus findet die Unterscheidung von Glaubensgerechtigkeit und Gesetzesgerechtigkeit schon in der Schrift vorgezeichnet. Mose schreibt nämlich (čƪě) über die Gesetzesgerechtigkeit, sie fordere vom Menschen das Tun, so dass der Mensch dann in dem lebt, was er tut, also in den »Werken« (ž ĚęēƮĝċĜċƉĞƩŅėĒěģĚęĜĐƮĝďĞċēőėċƉĞęȉĜ, V. 5; zitiert ist Lev 18,5). Aber auch das, was die őĔĚưĝĞďģĜĎēĔċēęĝƴėđ sagt50, steht, so behauptet Paulus, in der Schrift (V. 6–8): Es ist keine wie auch immer geartete Leistung zu erbringen, sondern das »von uns verkündigte« Wort des Glaubens ist »nahe« (Paulus zitiert Dtn 30,12–14). Paulus folgert (ƂĞē, V. 9): Wer bekennt, dass 48 ŁčėęęȘėĞďĜ kann im Sinne von »nicht anerkennen« verstanden werden, aber auch umfassend im Sinne von: »sie erkennen tatsächlich nicht«. 49 Vgl. dazu O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, 50–74, hier: 64 f. Anm. 51. 50 Der Wechsel von ÷ģĥĝǻĜčƩěčěƪĠďē (V. 5) zu ŞĎƫőĔĚưĝĞďģĜĎēĔċēęĝƴėđęƎĞģĜ ĕƬčďē (V. 6) ist natürlich nicht zufällig, obwohl Paulus in V. 6–8 die Schrift zitiert. Vgl. A. Lindemann, Die Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Erwägungen zur Auslegung und zur Textgeschichte von Römer 10,5, ZNW 73 (1982) 231–250.

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I Israel – Jesus – Paulus

Jesus der Herr ist (ĔƴěēęĜŵđĝęȘĜ) und wer glaubt, dass Gott ihn auferweckt von den Toten hat, wird gerettet werden (ĝģĒƮĝǹ).51 Dies gilt grundsätzlich und immer, wie Paulus erläuternd (čƪě) in V. 10 unterstreicht. Auch dafür gibt es nämlich (čƪě) einen Schriftbeweis: Wer an Christus glaubt, wird – so liest Paulus in V. 11 aus Jes 28,16 heraus – nicht zuschanden werden.52 Es gibt hier nämlich (čƪě) keinen Unterschied zwischen Jude und Grieche (V. 12a), denn (čƪě) Christus ist žĔƴěēęĜĚƪėĞģė (V. 12b). Es gilt nämlich (čƪě) entsprechend dem nicht ausdrücklich markierten, aber erkennbaren Schriftwort Joel 3,5a LXX: Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Schließlich zeigt Paulus in 10,14–21, dass die Zurückweisung des Evangeliums (V.  16: Łĕĕdz ęƉ ĚƪėĞďĜ ƊĚƮĔęğĝċė ĞȦ ďƉċččďĕưȣ) keineswegs auf eine womöglich nicht gehörte oder nicht ergangene Predigt zurückzuführen ist; entsprechend dem in V.  15 zitierten Wort aus Jes 52,7 und dem als Antwort auf die in V.  16 gestellte rhetorische Frage aus Jes 53,1 in V.  18 zitierten Wort aus Ps 18,5 LXX ist klar, dass das Wort der Verkündigung in der ganzen Welt ergangen und gehört worden ist. Israel hat das Wort sogar verstanden, wie Paulus in V. 19 durch das Mosewort aus Dtn 32,21 und in V. 20 f. durch das Jesaja-Zitat belegt; dabei wird Jes 65,1–2 von Paulus so gelesen, als beziehe sich Gottes »Sich-finden-lassen« auf die Völker, die ihn nicht gesucht hatten und als sei Gottes Klage, er habe es mit einem abweisenden und widerspenstigen Volk zu tun, auf Israel bezogen. Die in 10,17 gezogene Folgerung (Ņěċ Ş ĚưĝĞēĜ őĘ ŁĔęǻĜ Ş Ďƫ ŁĔęƭ ĎēƩ ȗƮĖċĞęĜ āěēĝĞęȘ) wirkt im Kontext etwas unmotiviert; Bultmann hält den Satz für eine Glosse, die eigentlich hinter V. 15 stehen müßte.53 Richtig ist, dass V. 17 an V. 14 anknüpft; zugleich aber wird in dem Satz eine Konsequenz aus dem Zitat in V. 16 gezogen: Glaube ist an die Predigt bzw. an das Hören der Predigt gebunden, und wenn Jesaja das Nicht-Glauben »unserer Predigt« beklagt hat, so behauptet er damit Unglauben in einem qualifizierten Sinn. Die Wendung, die Predigt ergehe ĎēƩȗƮĖċĞęĜāěēĝĞęȘ, könnte geradezu dahin gedeutet werden, dass sich die jetzt ergehende Predigt dem Wort des auferstandenen Christus verdankt.

51

Die Verwendung der 2. Pers. Sing. in V. 9 verdankt sich dem Duktus der vorangegangenen Zitate. Vgl. zu 10,9: Jesus als ›der Kyrios‹ bei Paulus und Lukas. Erwägungen zum Verhältnis von Bekenntnis und historischer Erkenntnis in der neutestamentlichen Christologie (s. oben S. 116–148, hier: 124–131). 52 Der Topos, der in Jes 28,16 erwähnte ĕưĒęĜ ĚęĕğĞďĕƭĜ őĔĕďĔĞƱĜ ŁĔěęčģėēċȉęĜ ŕėĞēĖęĜ sei Christus, begegnet auch in 1 Petr 2,4.6; vgl. dazu D.-A. Koch, Beobachtungen zum christologischen Schriftgebrauch in den vorpaulinischen Gemeinden, ZNW 71 (1980) 174–191. 53 R. Bultmann, Glossen im Römerbrief, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. von E. Dinkler, Tübingen 1967, 278–284, hier: 280. Vgl. W. Schmithals, Der Römerbrief. Ein Kommentar, Gütersloh 1988, 382 f.

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament

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Die Argumentation in 9,6–10,21 f. zielt offenbar auf die Feststellung, dass »die Völker« Gott gewonnen haben, Israel hingegen sich von Gott abgewandt hat. In 9,24–29 klang in bezug auf Israel zwar der Gedanke des »Rests« an, doch am Ende von Kap. 10 scheint dieser Aspekt vergessen zu sein, wie vor allem die Jes-Zitate in 10,20 f. zeigen. Paulus fragt dementsprechend in 11,1a (ĕƬčģęƏė), ob Gott sein Volk womöglich verstoßen habe – eine Frage, die sich aus dem bis dahin Gesagten beinahe zwingend ergibt. Allerdings signalisiert das Fragepronomen ĖƮ von vornherein die zu erwartende negative Antwort, und tatsächlich folgt ein nachdrückliches Ėƭ čƬėęēĞę. In V. 1b wird es begründet bzw. näher expliziert (čƪě): »Auch ich nämlich bin Israelit«, schreibt Paulus. Hätte Gott das Volk Israel verworfen, so gäbe es keine an Christus glaubenden Juden (›Israeliten‹); es gibt sie aber, wie das eigene Beispiel des Paulus belegt, wobei er natürlich nicht allein an seine eigene Person denkt, sondern sich als pars pro toto sieht (vgl. V. 4 f.). Die Tatsache, dass es Israeliten gibt, die ebenso wie Paulus an Christus glauben, beweist, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat und dass also das ĖƭčƬėęēĞę von 11,1a gilt. In V.  2a nimmt Paulus die Frage von V.  1a nochmals auf, nun aber als positive Feststellung (ęƉĔŁĚƶĝċĞęžĒďƱĜĞƱėĕċƱėċƉĞęȘ); dafür gibt er in V. 2b–6 eine breite Begründung54, und zwar mit einem äußerst kühnen Bezug auf biblische Tradition: Er erinnert an die »siebentausend Männer«, die zur Zeit des Propheten Elia »ihre Knie nicht gebeugt haben vor der Baal« (V. 2b–4; vgl. 1 Kön 19,9–18); er behauptet eine Analogie zwischen jenen Männern zur Zeit des Elia und dem judenchristlichen »Rest« in der Gegenwart (V. 5.6) und vergleicht so die Ablehnung des Christusglaubens durch die Mehrheit der Juden in der Gegenwart mit dem von Elia bekämpften Baals-Dienst.55 Die Zugehörigkeit zum »Rest« ist natürlich nicht eigene Leistung, sondern Paulus versteht sie als Geschenk ĔċĞdzőĔĕęčƭėġƪěēĞęĜ (V. 5), weil sonst Gnade nicht mehr Gnade wäre (V. 6). In V. 7a unterscheidet Paulus darum nun explizit zwischen ›Israel‹ auf der einen Seite und der őĔĕęčƮ auf der anderen: ›Israel‹ hat nicht erreicht, was es erstrebte, die őĔĕęčƮ dagegen hat es erreicht. ęŮĕęēĚęư (V. 7b) sind offenbar nicht eine bestimmte Gruppe, sondern jetzt spricht Paulus von jenen Israeliten, die (von Gott) »verstockt« worden seien  – die Passivwendung őĚģěƶĒđĝċė bildet den Gegensatz zur őĔĕęčƮ. So wie die Erwählung der ei54 Bisweilen ist die theologisch und hermeneutisch inakzeptable Praxis zu beobachten, dass aus Röm 11,1 und 11,2 jeweils nur die erste Hälfte zitiert wird, während die von Paulus jeweils gegebenen Begründungen nicht gelesen werden. 55 Vgl. dazu meine ausführliche Auslegung: Paulus und Elia. Zur Argumentation in Röm 11,1–12, in: Logos-Logik-Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes. Festschrift für Klaus Haacker, hg. von V. A. Lehnert/U. Rüsen-Weinhold, ABG 27, Leipzig 2007, 201–218.

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I Israel – Jesus – Paulus

nen nicht aufgrund ihrer Leistung, sondern durch Gottes Gnade geschah, so ist die Verstockung »der übrigen« nicht deren subjektiver Mangel, sondern Folge des Handelns Gottes. In V. 8 und in V. 9 f. wird der Verstockungsgedanke dann ausdrücklich durch zwei Schriftzitate belegt.56 Ebenso wie in 11,1 stellt Paulus in 11,11 sich selber eine Frage: Sollte das »Straucheln« (vgl. V. 9) ein endgültiges »Fallen« bedeuten? Ebenso wie in V. 1 lautet die Antwort in V. 11: ĖƭčƬėęēĞę. Vielmehr (Łĕĕƪ) sei durch »ihre Verfehlung«57 das Heil zu den »Völkern« gelangt, wodurch sie (sc. die ›Israeliten‹) »eifersüchtig« gemacht werden sollen. Dann aber deutet Paulus in V. 12 erstmals eine gewisse Wende an: Wenn der gegenwärtigen Verfehlung und dem gegenwärtigen Mangel (ĚċěƪĚĞģĖċ und ŢĞĞđĖċ) der »Reichtum des ĔƲĝĖęĜ« und der »Reichtum der ŕĒėđ« entspricht, dann muß ĞƱĚĕƮěģĖċċƉĞȥė noch ungleich viel mehr bewirken.58 Die Wendung »ihre Vollzahl« (ĚĕƮěģĖċċƉĞȥė) bedeutet, dass Paulus ein Ende des gegenwärtigen Mangels (ŢĞĞđĖċ) erwartet.59 In V. 13 verweist Paulus auf seine Missionstätigkeit. Jetzt schreibt er zum ersten Mal, dass er sich an »Heiden« wendet (ƊĖȉėĎƫĕƬčģĞęȉĜŕĒėďĝēė), denen er ausdrücklich sagt, auch als őĒėȥėŁĚƲĝĞęĕęĜ sei er darum bemüht, Angehörige seines eigenen Volkes »eifersüchtig« zu machen und so vielleicht »einige von ihnen« zu »retten« (V.  14). Der zuvor ausgesprochene Verstockungsgedanke bedeutet also nicht, dass Paulus eine Verkündigung unter ›Israel‹ für aussichtslos hält, auch wenn er darin nicht seine eigentliche Aufgabe sieht.60 Paulus gibt dafür in V. 15 eine nähere Erläuterung (čƪě): Die ŁĚęČęĕƮ der Israeliten bedeutet für die (Heiden-)Welt (ĔƲĝĖęĜ) »Versöhnung«; angesichts dessen könne, so stellt Paulus in Form einer rhetorischen Frage fest, ihre »Annahme« (ĚěƲĝĕđĖĢēĜ) nichts anderes sein als »Leben aus den Toten«. Das Lexem ŁĚęČęĕƮ bedeutet üblicherweise »Verlust«61, aber da 56

In V.  8 liegt eine im einzelnen schwer aufzuhellende Kombination von Dtn 29,3 LXX und Jes 29,10 LXX (aber wohl nicht Jes 6,9 f.) vor; vgl. Chr. D. Stanley, Paul and the language of scripture. Citation technique in the Pauline Epistles and contemporary literature, MSSNTS 74, Cambridge 1992, 158–163. Ferner Koch, Schrift (s. Anm. 43), 170 f. In V. 9 f. wird Ps 68,23 f. LXX zitiert. 57 Die Verwendung des Wortes ĚċěĆĚĞģĖċ in V. 11 (und in V .12) zeigt, dass Paulus den Aspekt vermeiden will, das »Straucheln« sei ein schicksalhaftes Verhängnis. 58 V. 12 ist allerdings als ein Nominalsatz formuliert; es fehlt ein finites Verb, so dass die Aussage etwas in der Schwebe bleibt. 59 Vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003, 311. Etwas anders K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 226: »Aus dieser positiven missionsgeschichtlichen Wirkung des jüdischen Neins zum Evangelium schließt Paulus, daß Israel damit nicht aus der Heilsgeschichte ausgeschieden sein kann.« Das hatte Paulus freilich schon aus seinem eigenen Christusglauben gefolgert. 60 Man kann erwägen, ob in V.  13 f. schon der Gedanke aufscheint, dass die »Heiden(christen)« nicht beanspruchen dürfen, sie allein seien die von Gott Angenommenen. 61 So in Apg 27,22.

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das oppositum in V.  15 ĚěƲĝĕđĖĢēĜ (»Annahme«) ist, wird für ŁĚęČęĕƮ die Übersetzung mit »Verwerfung« vorzuziehen sein.62 Ob Paulus bei der Wendung Đģƭ őĔ ėďĔěȥė in V.  15b an die allgemeine Totenauferstehung denkt, ob also gemeint ist, die Annahme der Israeliten durch Gott sei als Endzeitereignis anzusehen, oder ob es sich eher um eine metaphorische Redeweise handelt, läßt sich kaum sagen.63 Vermutlich will Paulus sagen, die »Annahme« der Israeliten (sc. durch Gott) werde für sie »Leben« bedeuten – und in diesem Sinn bezeichnet er diese ĐģƮ dann sogar als »Leben aus Toten«. Das nicht an Christus glaubende empirische Israel ist nach V. 15 gegenwärtig von Gott getrennt, aber diese ŁĚęČęĕƮ ist nicht als endgültig anzusehen. In V. 16–2464 setzt Paulus nochmals neu ein. In zwei unterschiedlichen Metaphern spricht er den Gedanken aus, dass zwischen einem Anfang und dessen Fortsetzung ein direkter Zusammenhang besteht. Das Bild vom »heiligen« Teig (V.  16a) wird nur angedeutet und dann nicht weiter verfolgt. Das Bild von der »heiligen« Wurzel und den Zweigen (V. 16b) wird in V. 17–24 breit ausgeführt, wobei in V. 17 gesagt wird, dass von einem Olivenbaum die Rede ist. In einer vom verwendeten Bild her bewußt paradoxen Gedankenführung schreibt Paulus, aus dem aus der »heiligen Wurzel« hervorgegangenen edlen Ölbaum seien »einige« Zweige herausgebrochen und stattdessen Zweige eines wilden Olivenbaums aufgepfropft worden; die Passivwendungen zeigen, dass Gott als der Handelnde vorgestellt ist. Dass der Apostel »keine Gärtnerei- oder Baumschul-Fachkunde besitzt«65, wird man aus diesem Bild gewiß nicht folgern können – eher ist das Gegenteil der Fall: Paulus will gerade zum Ausdruck bringen, dass Gott contra naturam handelt.66 Mit der »Wurzel« kann in eher abstraktem Sinn »die Berufung« gemeint sein, aber möglicherweise denkt Paulus auch an die Erzväter bzw. an Abraham oder an das ursprünglich erwählte Israel als ganzes.67 ŞȗưĐċ meint natürlich nicht das gegenwärtige Israel, denn aus der »Wurzel« ist ja längst der Baum geworden, der »Zweige« hervorgebracht hat, von denen »einige« mittlerweile »herausgebrochen« worden sind. Die Aussage in Das handelnde Subjekt sowohl bei ŁĚęČęĕƮ als auch bei ĚěƲĝĕđĖĢēĜ ist Gott; insofern macht die Übersetzung von ŁĚęČęĕƮ mit »Verlust« ohnehin wenig Sinn. Vgl. Käsemann, Römer (s. Anm. 41), 297; U. Wilckens, Der Brief an die Römer. 2. Teilband Röm 6–11, EKK VI/2, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1980, 245. 63 Paulus verwendet das Substantiv ĐģƮ in apokalyptischen Zusammenhängen sonst nicht; wäre an die endzeitliche Totenauferstehung gedacht, so hätte er vermutlich von ŁėƪĝĞċĝēĜ (őĔ) ėďĔěȥė gesprochen. 64 Der Einschnitt liegt zwischen V. 15 und V. 16, nicht, wie die Druckanordnung im Nestle-Aland27 signalisiert, nach V. 16. 65 So aber Walter, Römer 9–11 (s. Anm. 35), 217 f. 66 Walter (s. die vorige Anm.) sieht dies selber, wenn er schreibt, Paulus spreche »an diesem Punkt seiner Allegorie von einem absoluten Wunder« (218). 67 Käsemann, Römer (s. Anm. 41), 298. 62

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I Israel – Jesus – Paulus

V. 18 besagt dementsprechend nicht, dass die »heidnischen« Adressaten vom gegenwärtigen Israel als der »Wurzel« getragen würden, sondern gemeint ist dasselbe, was Paulus in V. 7 als őĔĕęčƮ bezeichnet hatte: Es ist nicht ihr Verdienst, dass die aufgepfropften Zweige jetzt zum edlen Ölbaum gehören. Paulus hält in der ausführlichen Entfaltung des Bildes die Ebene metaphorischen Redens nicht durch, sondern trägt sehr schnell die Begriffe ›Glaube‹ und ›Unglaube‹ ein (V.  20), die zum Bild vom Ölbaum natürlich nicht passen. Dabei vollzieht Paulus diesen sprachlichen »Bruch« offensichtlich bewußt, um auf diese Weise deutlich zu machen, worum es tatsächlich geht: Gott hat einige »Zweige«, d.h. die nicht (sc. an Christus) glaubenden Israeliten, von der Verbindung mit der heiligen Wurzel abgeschnitten, und er hat gleichzeitig – wider die Natur – wilde Zweige aufgepfropft, d.h. die (sc. an Christus) glaubenden Heiden mit dem »heiligen Anfang« verbunden. Durch das Ölbaum-Gleichnis sagt Paulus im Grunde also nichts anderes, als was er schon in Röm 4 und früher in Gal 3 ausgeführt hatte: Die Zugehörigkeit zu Israel – in der Sprache von Gal 3 oder von Röm 9: die Abrahamskindschaft – beruht nicht auf der »fleischlichen« Abkunft, und deshalb kann sie auch verloren gehen. Aus eben diesem Grunde aber warnt Paulus dann in 11,18–22 die heidenchristlichen Adressaten nachdrücklich davor, ihre auf so »unnatürliche« Weise gewonnene Zugehörigkeit zum Ölbaum falsch zu interpretieren: Wenn Gott die »natürlichen« Zweige nicht verschont hat, dann hat er selbstverständlich auch die Macht, die nachträglich aufgepfropften Zweige wieder auszureißen (V. 21), und er vermag auch den ausgerissenen Zweigen ihren ursprünglichen Platz zurückzugeben. Der gegenwärtige Status der nicht (sc. an Christus) glaubenden Israeliten bedeutet also keineswegs deren endgültige Verwerfung: Gott ist fähig, sie »wieder aufzupfropfen, sofern sie nicht im Unglauben verharren« (V. 23). Für die Israeliten, die so zum Glauben (sc. an Gottes Handeln in Christus) kommen, ist der Glaube dann nichts anderes als die Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Gottesbeziehung; sie werden wieder zu Zweigen des Ölbaums und – so könnte man in Anlehnung an 9,6 ff. formulieren – zu »Kindern der Verheißung«. In V.  25–32 wechselt Paulus in offene, nicht-metaphorische Sprache: In einem feierlich eingeleiteten »Offenbarungswort«68 schreibt er, »Verstockung« habe einen Teil Israels betroffen, doch sei sie zeitlich begrenzt. Die Formulierung őĔĖƬěęğĜ ist insofern euphemistisch, als Paulus ja nicht zuletzt durch die Aufnahme des Gedankens des »Rests« deutlich ausgesprochen hatte, dass nur eine Minderheit der Israeliten zum Glauben an Christus gekommen war; aber vermutlich ist mit őĔ ĖƬěęğĜ gar kein zahlenmäßiges Verhältnis gemeint, sondern nur die Tatsache, dass die 68 Zu ęƉčƩěĒƬĕģƊĖǬĜŁčėęďȉėŁĎďĕĠęưĞƱĖğĝĞƮěēęėĞęȘĞę vgl. vor allem Röm 1,13; 1 Kor 12,1; 1 Thess 4,13.

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ĚƶěģĝēĜ eben nicht »ganz Israel« betrifft. Wenn dann das ĚĕƮěģĖċ Ğȥė őĒėȥė »hinzugekommen« sein wird, wenn also die Mission unter den Völkern die – von Paulus nicht näher präzisierte – »Vollzahl« erreicht hat, dann (V. 26) wird »so (ęƎĞģĜ) ganz Israel gerettet werden«, wofür Paulus als Beleg Jes 59,20 f. LXX69 zitiert. Dass er dieses Schriftwort auf die Parusie Christi bezieht, ist nicht sicher, aber doch wohl wahrscheinlich.70 Für Paulus besagt das Prophetenwort, dass Christus als »Retter« kommen und bei der Parusie »die Gottlosigkeiten von Jakob (= Israel) wegnehmen« wird und dass auf diese Weise Israel gemeinsam mit allen Menschen Gottes Barmherzigkeit erlangen wird. Vom Glauben ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Hatte Paulus in V.  17–24 von einem möglichen geschichtlichen Prozeß der Abkehr »einiger« Israeliten vom Unglauben (sc. gegenüber Christus) gesprochen (V. 23), so geht es in V. 25–32 um das Eschaton, also – mit den Worten von 2 Kor 5,7 – nicht mehr um das ›Glauben‹, sondern um das ›Schauen‹. Paulus ist dessen gewiß, dass die gegenwärtig ĔċĞƩĞƱďƉċččƬĕēęė »um der Völker willen« (ĎēdzƊĖǬĜ) bestehende Feindschaft zwischen Gott und Israel keinen Bestand haben wird, weil die Israeliten ĔċĞƩĞƭėőĔĕęčƮė »um der Väter willen« (ĎēƩĞęƳĜĚċĞƬěċĜ) Gottes Geliebte sind oder: sein werden71; Gottes Gnadengaben und Gottes Erwählung stehen nämlich (čƪě) unverändert in Geltung (V.  29). Wie jetzt schon die an Christus glaubenden Adressaten des Römerbriefes trotz des einstigen Ungehorsams Barmherzigkeit erlangt haben (V.  30), so wird diese Barmherzigkeit auch den gegenwärtig nicht »gehorsam Gewordenen« zuteil werden (V. 31). Der den Gedankengang abschließende Hinweis auf die endzeitliche Rettung ist umfassend formuliert: Gott wird sich »aller erbarmen« (V. 32). Bedeutet dies, dass der Apostel die »Annahme« aller Menschen erwartet? Aber die Frage, ob Gottes Erbarmen auch jenen Menschen aus der Völkerwelt gilt, die sich dem Christusglauben verweigern, ist offenbar gar nicht im Blick. Der Text von V. 31b ist unsicher: Ist das zweite ėȘė zu lesen (mit den Codices ý B und anderen Handschriften), oder ist es mit P46 A D zu streichen? Sagt Paulus, dass die Israeliten bereits »jetzt« Barmherzigkeit erlangen? Unabhängig von der Antwort Das őĔýēƶė ist gegenüber der zitierten LXX-Stelle vermutlich schon vorpaulinisch geändert worden; vgl. dazu B. Schaller, òùðôðõýôăøúüÿú÷ðøúý. Zur Textgestalt von Jes 59:20 f. in Röm 11:26 f., in: Ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, hg. von L. Doering / A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 162–166. Koch, Schrift (s. Anm. 43) 175–178 hält die Wendung für »funktionslos«, während sie sich nach Käsemann, Römer (s. Anm. 41), 304 auf »die Wiederkehr des erhöhten Christus aus dem himmlischen Jerusalem« bezieht. 70 Jedenfalls erinnert die Wendung žȗğƲĖďėęĜ an die entsprechende Aussage in 1 Thess 1,10. 71 Ein Verb fehlt in V. 28. Klar ist, dass es bei den Begriffen őġĒěęư und ŁčċĚđĞęư um die Beziehung zu Gott geht, nicht um die Beziehung zwischen Juden und »Heiden«. 69

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auf diese textkritische Frage ist in jedem Fall klar, dass auch durch die Formulierung ėȘėőĕďđĒȥĝēė nicht bedeuten würde, dass das zweifache Futur der vorangegangenen Aussage von V.  26 aufgehoben ist. Die ganze Argumentation in Röm 9–11 wäre sinnlos, wenn Paulus hätte sagen wollen, »ganz Israel« habe bereits »jetzt«  – ungeachtet der Ablehnung der Christusbotschaft  – »Barmherzigkeit erlangt«. Selbst ein Verständnis dieser Aussage von der »Naherwartung« her ergäbe wenig Sinn, weil der Widerspruch zu den Futura in V. 26 bestehen bliebe. Eine versehentliche oder absichtliche Einfügung eines (innerhalb von V. 30b.31 dritten!) ėȘė ist textgeschichtlich wohl leichter zu erklären als eine sekundäre Streichung.72

Paulus fügt einen hymnusartigen Lobpreis der »Weisheit und der Erkenntnis Gottes« an (V. 33–36); mit einer den Lobpreis Gottes in 9,5 variierenden Doxologie kehrt er zum Anfang seiner Argumentation zurück. Die Notwendigkeit für die Ausführungen in Röm 9–11 ergibt sich für Paulus aus dem Ganzen seiner Theologie73: Das Bekenntnis sagt (Röm 4,25), dass der Gott Israels seinen Sohn gesandt hat und dieser am Kreuz gestorben ist »für unsere Sünden«, und dass Gott ihn auferweckt hat »für unsere Gerechtigkeit«. Wenn der Glaube daran den Menschen vor Gott rechtfertigt, dann ist die Frage unabweisbar, warum diejenigen, denen dieses Gotteshandeln eigentlich und ursprünglich galt und nach wie vor gilt, sich (mehrheitlich) dem Glauben daran verweigern. Eine Antwort darauf ist für Paulus um so dringlicher, als er selber zu dem Volk gehört, von dessen Gottesbeziehung er spricht. Anlaß für den Gedankengang in Röm 9–11 ist also nicht eine spezifische Problematik in Rom, über die Paulus auf irgendeine Weise informiert worden wäre; Paulus ist über die Situation der Christen in Rom offenbar nicht im einzelnen informiert74, und schon gar nicht gibt es Indizien dafür, dass Paulus von einem Konflikt zwischen Juden- und Heidenchristen weiß. Der Römerbrief ist auch nicht das Konzept einer für den bevorstehenden Besuch in Jerusalem ausgearbeiteten »Verteidigungsrede«; dagegen spricht schon, dass die Aussagen über die Gottesbeziehung des gegenwärtigen Israel überaus kritisch sind und ein von Paulus befürchteter Konflikt in Jerusalem durch diese Gedanken allenfalls noch hätte verschärft werden können. Die Notwendigkeit der Argumentation in Röm 9–11 ergab sich im Zusammenhang des Briefes von Röm 8, vor allem V. 31–39 her: Wenn nichts »uns« scheiden kann von der Liebe Gottes in Christus – was ist dann mit jenen, denen diese Liebe Gottes in besonderer Weise gilt, die diese Liebe 72 Lohse, Brief an die Römer (s. Anm. 59), 323 Anm. 34 hält ėȘė dagegen für ursprünglich. Zur Diskussion s. Metzger, Textual Commentary (s. Anm. 46), 465. 73 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 210–237. 74 Auch die in Röm 14 f. geschilderten konkreten Probleme müssen nicht eine bestimmte Lage in Rom widerspiegeln.

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aber bewußt ablehnen? Paulus muß diese Frage stellen und versuchen, eine Antwort zu finden. Die Antwort lautet, dass zum einen nicht »alle aus Israel« im heilsgeschichtlichen Sinne »Israel« sind (9,6b–9), dass die Verwerfung der Gottesliebe durch die Mehrheit der Israeliten auf Unkenntnis Gottes (10,2 f.), auf Unglauben (11,20), auf Ungehorsam (10,3; 11,30) und letztlich auf Verstockung (11,25; vgl. 9,18) zurückzuführen ist  – dass aber gleichwohl Gott an seiner Verheißung festhält (9,6a; 11,29) und die Ablehnung der Christusbotschaft durch das gegenwärtige Israel mithin keine endgültige Verwerfung nach sich zieht. Die Aussage in 11,29 (»Gott kann seine Gnadenverheißungen und seine Berufung nicht bereuen«) besagt nicht, dass Gott am empirischen, nicht an Christus glaubenden Israel als seinem Volk so festhält, als gäbe es einen eigenen Weg Israels zu Gott, an Christus vorbei. Vielmehr hält Gott an seiner dem Abraham gegebenen Zusage fest, und Israels gegenwärtiger Unglaube kann niemals stärker sein als der Wille Gottes; sichtbares Zeichen dafür ist der »Rest«, die Tatsache, dass es Judenchristen gibt und also bereits im geschichtlichen Vollzug der Mission zumindest einige Israeliten, so wie Paulus selber, zum Glauben an Christus gekommen sind. Am Ende wird Christus bei der Parusie als der Retter »die Gottlosigkeiten von Jakob wegnehmen«, und so werden alle Menschen gerettet und so wird allen Menschen Gottes Barmherzigkeit zuteil werden. Der umfangreiche Textabschnitt Röm 9–11 ist kein »Dialog mit Israel«; er ist im Gegenteil eine »binnenchristliche« Reflexion, und schon deshalb ist er wenig geeignet als Hilfe etwa für das gegenwärtige Gespräch zwischen der Kirche und Israel. Das auf christlicher Seite bisweilen geübte Verfahren, im Rahmen des christlich-jüdischen Gesprächs pauschal auf »Römer 9–11« zu verweisen, ohne auf das dort inhaltlich Gesagte überhaupt einzugehen, oder die häufige Praxis, einzelne Verse oder halbe Sätze aus Röm 9–11 zu zitieren und den Kontext bewußt zu mißachten, verfehlt das in diesem Text Gesagte. Die Kirche kann aus Röm 9–11 gleichwohl sehr viel lernen, und sie hätte in der Vergangenheit daraus lernen können. Paulus schreibt, dass aus der gegenwärtigen »Verstockung« Israels die Behauptung einer geschichtlich verifizierbaren und womöglich eschatologisch-endgültigen Verwerfung Israels nicht abzuleiten ist; er sagt im Gegenteil, dass auch jenen Zweigen, die jetzt zum Ölbaum gehören, ständig die Gefahr droht, von Gott »ausgerissen« zu werden (11,21 f.) und dass Gott die Macht besitzt, die gegenwärtig ausgerissenen Zweige wieder aufzupfropfen (11,23). Die Aussagen in Röm 9–11 enthalten insofern auch einen »Kommentar« zur Frage einer »Judenmission«. Die Vorstellung, es dürfe aus theologischen Gründen Israel gegenüber eine Bezeugung der Christusbotschaft nicht geben, dem Volk

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Israel müsse die Botschaft von der Gnade Gottes in Christus vorenthalten werden, hätte der christliche ›Israelit‹ Paulus vermutlich als absurd angesehen.75 Aber Paulus zeigt mit seiner Argumentation in Röm 9–11 zugleich, dass es die Notwendigkeit einer gezielten christlichen Mission unter Juden nicht gibt; Paulus spricht im Gegenteil die Gewißheit aus, dass sich Gott Israels auch dann »erbarmen« werde, wenn die Israeliten in ihrer großen Mehrheit geschichtlich nicht zum Glauben (sc. an Christus) kommen. Nach Röm 9–11 soll und kann die Kirche Israel gegenüber eine »missionarische Existenz« führen, ohne dass dies mit einer gezielten missionarischen Tätigkeit verbunden zu sein braucht.76 Die Aussage »Gott hat sein Volk nicht verstoßen« (Röm 11,2a) besagt im Kontext von Röm 9–11, dass die Beziehung Gottes zu seinem Volk von Gott her unverändert fortbesteht, obwohl dieses Volk mehrheitlich der Gottesoffenbarung in Jesus Christus ablehnend gegenübersteht. 3. ›Israel‹ ist für Paulus also einerseits eine empirische Größe, eben das »Israel nach dem Fleisch« (1 Kor 10,18) bzw. das »Israel Gottes« (Gal 6,16); zu ›Israel‹ gehören selbstverständlich auch die »Judenchristen«, die an Gottes Handeln in Christus glauben. Ganz falsch wäre deshalb die Annahme, nach Meinung des Paulus sei die Kirche, womöglich die Heidenkirche, als ›neues Gottesvolk‹ an die Stelle Israels getreten. Für Paulus ist im Gegenteil gerade dies entscheidend, dass zur Kirche Gottes (őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ) Menschen aus den »Völkern« und Menschen aus dem Volk Israel gleichermaßen gehören. Eine Kirche, in der es Juden nicht geben darf, wie sie von den »Deutschen Christen« angestrebt worden war, würde in paulinischer Perspektive aufhören Kirche zu sein.77

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Gelegentlich wird gesagt, es habe im Urchristentum jedenfalls keine Missionstätigkeit von »Heiden« unter den Angehörigen des Volkes Israel gegeben. Dazu lassen sich angesichts der Quellenlage keine überprüfbaren Aussagen machen; aber das paulinische Kirchenverständnis der einen Kirche aus Juden und Heiden macht die Annahme sehr unwahrscheinlich, dass es im Missionsfeld des Paulus aus theologischen Gründen eine solche Trennung der Missionsarbeit gegeben haben könnte. 76 In dem in Anm. 3 genannten Lehrdokument »Kirche und Israel« heißt es dazu: »Die Gemeinsamkeit des Zeugnisses von dem Gott Israels und das Bekenntnis zum souveränen Erwählungshandeln dieses Einen Gottes ist ein gewichtiges Argument dafür, daß sich die Kirchen jeglicher gezielt auf die Bekehrung von Juden zum Christentum gerichteten Aktivität enthalten« (aaO., 72). 77 Dies war die theologische Grundlage für den Widerspruch Rudolf Bultmanns gegen die Einführung des »Arierparagraphen« in der Deutschen Evangelischen Kirche im Sommer 1933. Vgl. dazu: Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozialismus. Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg (s.u. S. 450–485, hier: 458–461).

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III. ›Israel‹ in den Evangelien, im Epheserbrief und im Hebräerbrief 1. Das Wort ŵĝěċƮĕ ist in den Evangelien ca. 30mal belegt, ŵĝěċđĕưĞđĜ dagegen nur einmal in Joh 1,48. In dem für uns identifizierbaren Text der Logienquelle Q, die vermutlich in einer toratreuen judenchristlichen Gruppe entstand78, ist von ŵĝěċƮĕ nur in Lk 7,9/Mt 8,10 sowie in Lk 22,30/Mt 19,28 die Rede. Der Hauptmann von Kafarnaum (Lk 7,1–10/Mt 8,5–13), so sehr Heide, dass Jesus, jedenfalls nach der bei Lukas überlieferten Textfassung, persönlich überhaupt nicht mit ihm in Berührung kommt, hat einen Glauben, wie ihn Jesus »in Israel« nicht gefunden hat (Lk 7,9/Mt 8,10).79 Die Q-Gemeinde scheint also die Erfahrung gemacht zu haben, dass Israel in seiner Mehrheit die von ihr verkündigte Botschaft ablehnt. Nach dem Logion Lk 22,30/Mt 19,28 werden die Jünger am Ende der Zeit auf Thronen sitzen und Gericht halten über die zwölf Stämme Israels, wobei nach der lk Fassung allein die Jünger die Richter sind, ohne Christus. Dieses Logion bildete ursprünglich den Schluß der Logienquelle80 und sollte offenbar programmatisch aussagen, das nicht zur Jesus-Gemeinde bzw. zur Q-Gruppe zählende Israel werde aufgrund der Ablehnung der Jesus-Botschaft dem Gericht unterworfen sein.81 2. Lukas und Matthäus folgen auf je ihre Weise dem von Paulus theologisch ausgearbeiteten Gedanken, dass auch die zunehmend »heidenchristlich« werdende Kirche für das Volk Israel offen bleibt; Lukas führt dies vor allem in der Apg näher aus.82 Nach der Darstellung im Matthäusevangelium sah sich der irdische Jesus in seiner Sendung ausschließlich an Israel gewiesen (10,5 f.23)83, aber der Auferstandene sendet seine Jünger dann in alle Welt, 78 Vgl. Chr. M. Tuckett, Q and the History of Early Christianity. Studies on Q, Edinburgh 1996, 393–424 (The Gentile Mission and the Law) und 425–450 (Q and Israel). 79 Nur hier ist ĚưĝĞēĜ in Q eindeutig belegt. Der Sinn der Aussage ändert sich kaum, wenn ĚưĝĞēĜ nicht im Sinne von »Glauben«, sondern im Sinne von »Vertrauen« verstanden wird. 80 Vgl. dazu J. Verheyden, The Conclusion of Q: Eschatology in Q 22,28–30, in: A. Lindemann (ed.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 695–718. 81 D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen-Vluyn 1969, 47: »Eine Umkehr Israels ist bei dieser Gerichtsankündigung nicht mehr im Blick, es bleibt nur noch das Gericht.« Mit dem Verb Ĕěưėďēė könnte freilich auch das »Regieren« über die zwölf Stämme gemeint sein; vgl. dazu Verheyden (s. die vorige Anm.), 706–716. 82 S. dazu oben S. 150–156. Die meisten Belege für ŵĝěċƮĕ im LkEv finden sich in Kap. 1–4 und beziehen sich auf Israel als heilsgeschichtliche Größe; vgl. aber Lk 1,80; 2,25. 83 Besonders auffällig ist die Einfügung des Logions Mt 15,24 (ęƉĔŁĚďĝĞƪĕđėďŭĖƭďŭĜ ĞƩĚěƲČċĞċĞƩŁĚęĕģĕƲĞċęűĔęğŵĝěċƮĕ) in die Vorlage Mk 7,24–30. Bemerkenswert ist auch, dass aus der čğėƭȭðĕĕđėưĜýğěęĠęēėưĔēĝĝċĞȦčƬėďē (Mk 7,26) in Mt 15,22 eine čğėƭ āċėċėċưċŁĚƱĞȥėžěưģėőĔďưėģė geworden ist. Vgl. dazu W. D. Davies / D. C. Allison,

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um ĚƪėĞċ ĞƩ ŕĒėđ zu lehren (28,18–20). Da Matthäus zwischen ĞƩ ŕĒėđ und ĚƪėĞċ ĞƩ ŕĒėđ unterscheidet84, ist klar, dass Israel selbstverständlich zu »allen Völkern« gehört, zu denen die Jünger mit ihrer Botschaft gesandt werden.85 In seiner Fassung des Schulgesprächs über »das große Gebot« (22,34–40) hat Matthäus im Zitat von Dtn 6,5 das einleitende »Höre, Israel« aus der Vorlage Mk 12,29 gestrichen: Das »große Gebot« gilt überall, nicht allein in Israel. Im Markusevangelium begegnet das Wort ŵĝěċƮĕ nur in dem Zitat in 12,29 sowie in der ironischen Aussage der bei Jesu Kreuzigung Anwesenden, žČċĝēĕďƳĜŵĝěƪđĕ solle vom Kreuz herabsteigen (15,32). 3. Im Johannesevangelium spricht Johannes der Täufer von Jesus als von dem, der ĞȦ ŵĝěċƮĕ geoffenbart werden sollte (1,31). Das Vierte Evangelium, trotz der vielfach pauschalen und oft negativen Aussagen über »die Juden« weit davon entfernt, »judenfeindlich« oder gar »antisemitisch« zu sein86, setzt voraus, dass Jesus in Israel und nirgends sonst gewirkt hat. Die Aussage Jesu, Nathanael sei ŁĕđĒȥĜ ein »Israelit ohne Falsch« (1,47) deutet die Richtung an, in der Johannes denkt: ›Wahrhaft Israelit‹ ist, wer zu Jesus gehört, der ungeachtet seiner Herkunft aus Nazareth in Galiläa87 der Messias ist, der endzeitliche König Israels. Daher verwendet Nathanael in 1,49 eben diesen messianischen Titel: Der »Sohn Gottes« ist entsprechend 2 Sam 7,14 ČċĝēĕďƳĜĞęȘŵĝěċƮĕ, und daher fehlt in der joh Kreuzigungsszene jeder Anklang an die in Mk 15,32 par Mt 27,42 überlieferte Verspottung Jesu, dass er als der »König von Israel« vom Kreuz herabsteigen solle. Stattdessen ist beim Einzug in Jerusalem in Joh 12,13 der Ruf zu hören ďƉĕęčđĖƬėęĜ … žČċĝēĕďƳĜĞęȘŵĝěċěƮĕ, der hier geradezu eine Bekenntnisaussage ist: Jesus ist im eigentlichen, d.h. im israelitischen bzw. »jüdischen« Sinne der A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to Saint Matthew, Vol. II: Commentary on Matthew VIII–XVIII, Edinburgh 1991, 547: Entsprechend biblischer Tradition »one automatically thinks of Israel’s enemies«, aber Jesus überwinde die damit verbundene Furcht Israels. 84 Von »allen Völkern« spricht Matthäus außer in 28,19 schon in 24,9.14; 25,32, wobei vor allem die Verbindung von őėƂĕǹĞǼęŭĔęğĖƬėǹ und ĚƪėĞċĞƩŕĒėđ in 24,14 zeigt, dass wirklich alle Völker gemeint sind. 85 Vgl. A.-J. Levine, The Social and Ethnic Dimensions of Matthean Salvation History. »Go nowhere among the Gentiles …« (Matt. 10:5b), SBEC 14, New York 1988, 278. Sie meint zwar, ĚƪėĞċĞƩŕĒėđ bezeichne in 28,19 »all the gentiles«, aber dies bedeute für Mt nicht das Ende der Mission an Juden. »Rather, the mission to the Jews must continue, since the deity has not rejected the Jews, and since the corporate community of Israel has not rejected either its tradition or its God.« Vgl. meinen Aufsatz: Jesus, Israel und die Völker. Zum Jesusbild der neutestamentlichen Evangelien, in: A. Lindemann, Die Evangelien und die Apostelgeschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 368–405. 86 Vgl. dazu E. Grässer, Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium, in: Ders., Der Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, WUNT 35, Tübingen 1985, 135–153. 87 Vgl. Joh 1,47; 7,41.52.

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Messias. Die Hohenpriester sagen in 19,15 dem Pilatus, sie hätten keinen anderen ČċĝēĕďƴĜ als nur den römischen Caesar, und sie zeigen damit, dass sie es sind, die ›Israel‹ preisgegeben haben. Die Verwunderung über das Nicht-Verstehen ›Israels‹ wird schon im Gespräch Jesu mit Nikodemus zum Ausdruck gebracht; dieser, obwohl ž ĎēĎƪĝĔċĕęĜĞęȘŵĝěċƮĕ, versteht nicht, was es bedeutet, wenn Jesus von der »Wiedergeburt« aus dem ĚėďȘĖċ spricht (3,3–10). Der Plural in V. 11 (»Ihr nehmt unsere ĖċěĞğěưċ nicht an«) verweist offenbar auf die Situation der joh Gemeinde, die wahrnehmen muß, dass das übrige Israel ihr Christuszeugnis verwirft. Diejenigen, die sich zu Jesus bekennen, haben sogar erfahren, dass sie ŁĚęĝğėƪčģčęē geworden sind, also den Synagogenverband verlassen mußten.88 Die joh »Christen« sind ja durchweg selber Juden89, aber sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihr Christusglaube sie vom übrigen Israel trennt. 4. Wenn im Epheserbrief in der Beschreibung der Vergangenheit der (offensichtlich heidenchristlichen) Adressaten gesagt wird, sie seien einst »ohne Christus« gewesen und ausgeschlossen aus der ĚęĕēĞďưċĞęȘŵĝěċƮĕ (2,12), so ist damit nichts gesagt über das Verhältnis der Heidenchristen zu Israels Gegenwart90, sondern es wird auf den Abstand zwischen den Adressaten und dem biblischen Israel hingewiesen. Auch im Hebräerbrief gibt es keinen aktuellen Bezug zum gegenwärtigen Volk Israel; in Hebr 8,8–12 zitiert der Autor aus Jer 31,31–34 die Ansage bzw. die Verheißung der ĔċēėƭĎēċĒƮĔđ Gottes für Israel und für Juda. Am Inhalt der prophetischen Verheißung scheint er dabei kaum interessiert zu sein, sondern er will im Gegenteil betonen, dass Gott die ĚěƶĞđĎēċĒƮĔđ durch die neue ĎēċĒƮĔđ abgelöst und jene damit als »veraltet« erwiesen hat.91 In Hebr 11,22 spricht der Autor in einer Reminiszenz an die biblische Josephs-Erzählung von den ğŮęƯŵĝěċƮĕ, an deren Bestattung Josef bei seinem Sterben in Ägypten denkt. Die Johannesoffenbarung spricht lediglich in 7,4 und 21,12 von »Israel«, wobei die Namen der zwölf Stämme genannt werden. 88 Die rechtlichen Grundlagen dafür kennen wir nicht, weil es außerhalb des Johannesevangeliums keine entsprechenden Hinweise gibt. 89 Vielleicht befinden sich auch Samaritaner unter ihnen; dafür könnte Joh 4 sprechen. 90 Vgl. H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser, HNT 12, Tübingen 1997, 164 f. sowie insbesondere den Exkurs »Die theologische Bedeutung Israels« (181–183). 91 Ob daraus der Schluß zu ziehen ist, dass der Hebräerbrief als ein Vertreter der sogenannten »Substitutionstheorie« zu gelten hat, wonach durch den »neuen Bund« Gottes der »alte Bund« mit Israel abgelöst sei, ist umstritten Kritisch zu einer solchen Interpretation jedenfalls K. Backhaus, Das wandernde Gottesvolk – am Scheideweg, in: R. Kampling (Hg.) »Nun steht aber diese Sache im Evangelium …« Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn 1999, 301–320.

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IV. Das ›Land Israel‹ in der jüdischen Tradition und im Neuen Testament Welche Bedeutung kommt in den neutestamentlichen Schriften dem ›Land‹ Israel bzw. der Landverheißung zu? Wird die biblische Tradition von der »Heiligkeit« dieses Landes aufgenommen und womöglich zum Ausdruck gebracht, dass dieser Gedanke auch für die an Christus Glaubenden verbindlich ist? 1. Im Alten Testament und im nachbiblischen Judentum spielt die Verheißung des »Landes« eine fundamentale Rolle, unabhängig davon, ob »Israel« bzw. später Juda politische Selbständigkeit besitzt oder nicht. Die makkabäische Erhebung im 2. Jh. v. Chr. führte zur Befreiung von der das jüdische Selbstverständnis gefährdenden Seleukidenherrschaft; aber die Makkabäer verfolgten in erster Linie ein politisches Ziel und hatten offenbar kein im eigentlichen Sinne religiöses Konzept.92 Nach der römischen Eroberung durch Pompeius spricht das pharisäische Judentum in Anlehnung an Jes 52,7 von der endzeitlichen Erwartung, die sich auf das ›Land‹ und insbesondere auf Jerusalem bezieht: Mit der Botschaft des »Freudenboten«, in der die Rückkehr der Diaspora-Juden ins »Land« verheißen wird, verbindet sich die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Reinheit des Landes.93 Wesentlich ist die Verbindung zwischen der Tora und dem Land: Nur im ›Land‹ kann die Tora wirklich gehalten werden; dementsprechend bilden der Auszug aus Ägypten, die Gabe der Tora am Sinai und der Einzug in das Land eine Einheit. Dieses Land ist das Land des einen Gottes, in dem es andere Götter nicht geben darf. Jerusalem und darin der Tempel sind die Mitte des ›Landes‹ und zugleich die Mitte der Welt. Gott »wohnt« im Land, und dieses Land ist besser als jedes andere. Es ist das Land des Heils, und es gibt heilvolle Zukunft nur im ›Land‹; darin eingeschlossen ist auch das Heil der (Heiden-)Völker.94 Der 92

Vgl. D. Mendels, The Land of Israel as a Political Concept in Hasmonean Literature. Recourse to History in Second Century B. C. Claims to the Holy Land, TSAJ 15, Tübingen 1987. 93 So heißt es PsSal 11,2 f.7 f.: »Steige hinauf in die Höhe, Jerusalem, und sieh deine Kinder alle gesammelt von dem Herrn von Ost und West. Von Norden kommen sie in der Freude ihre Gottes, von den Inseln weit her versammelt sie Gott … Lege deine Prachtkleider an, Jerusalem, bereite das Gewand deiner Heiligkeit, denn Gott hat Israels Glück für immer und ewig ausgesprochen. Der Herr führe aus, was er gesagt hat, über Israel und Jerusalem. Der Herr richte Israel auf im Namen seiner Herrlichkeit« (Übers. S. HolmNielsen, Die Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 86). 94 In bPes 113a heißt es: »R. Johanan sagte: Drei gehören zu den Erben der zukünftigen Welt, und zwar: wer im Jisraélland wohnt, wer seine Kinder zun Studium der Tora erzieht, und wer an den Sabbathausgängen den Unterscheidungssegen über den Wein spricht. –

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Messias wird kommen und das Land befreien; das bedeutet auch, dass man im ›Land‹ Anteil an der »kommenden Welt« gewinnen wird95, und daher kommt gerade auch der Bestattung im Lande eine besondere Rolle zu. Im Achtzehngebet heißt es in der zehnten Berakha: »Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung, erhebe das Panier, unsere Verbannten zu sammeln, und sammle uns insgesamt von den vier Enden der Erde. Gelobt seist du, Ewiger (JHWH), der du die Verstoßenen deines Volkes Israel sammelst.« In der 14. Berakha wird gesagt: »Nach deiner Stadt Jerusalem kehre in Erbarmen zurück, wohne in ihr, wie du gesprochen, erbaue sie bald in unseren Tagen als ewigen Bau, und Davids Thron gründe schnell in ihr. Gelobt seist du, Ewiger (JHWH), der du Jerusalem erbaust.« Und schließlich in der 16. Bitte: »Habe Wohlgefallen, Ewiger (JHWH), unser Gott, an deinem Volke Israel und ihrem Gebete, und bringe den Dienst wieder in das Heiligtum deines Hauses, und die Feueropfer Israels und ihr Gebet nimm in Liebe auf mit Wohlgefallen, und zum Wohlgefallen sei beständig der Dienst deines Volkes Israel … Und unsere Augen mögen schauen, wenn du nach Zion zurückkehrst in Erbarmen. Gelobt seist du, Ewiger (JHWH), der seine Majestät nach Zion zurückbringt.«96 Auch in der Apokalyptik wird dem ›Land‹ eine besondere Rolle zugeschrieben. So heißt es in einer Rede Baruchs zum versammelten Volk (sBar 31,4–32,3): »Vergeßt nicht Zion, gedenkt vielmehr der Trübsale Jerusalems. Denn siehe, die Tage werden kommen, daß alles, was gewesen ist, zur Nichtigkeit dahingerafft (soll) werden. Dann wird es sein, als ob es nie gewesen wäre. Bereitet ihr indessen eure Herzen vor, dann wird er euch in jener Zeit bewahren, in der der Mächtige die ganze Schöpfung erschüttern wird. Denn Zions Bau wird kurze Zeit danach bewegt, um wiederaufgebaut zu werden. Doch dies Gebäude wird nicht bleiben …« Und in sBar 73,1 wird gesagt: »Am Ende der Zeit wird es geschehen, wenn der Gesalbte »alles erniedrigt hat, was in der Welt besteht, und sich gesetzt auf seiner Königsherrschaft Thron in ewigem Frieden, daß Freude dann geoffenbart und Ruhe erscheinen wird.«97

Philo von Alexandria deutet die Verheißung Gottes an Abraham in Gen 15,18 (»An jenem Tag schloss der Herr mit Abram einen Bund, er sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land, vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat«) auf das Land, »dessen Frucht das sichere und bestimmte Erfassen der Weisheit Gottes« ist; der Hinweis auf die Flüsse Nil Wie ist dies zu verstehen? – Wer vom Weihsegen für den Unterscheidungssegen zurückläßt (sc. wenn er nur wenig hat und alles dafür aufspart)« (zitiert nach: Der Babylonische Talmud, neu übertragen durch L. Goldschmidt, Band II, Berlin 1930, 656). 95 Vgl. bPes 88a: »R. Johanan sagte: Der Tag der Exulanteneinsammlung ist so bedeutend wie der Tag, an dem Himmel und Erde erschaffen worden sind, denn es heißt (Hos 2,2): die Judäer und die Jisraéliten werden sich einsammeln und sich ein Oberhaupt wählen und aus dem Landes herausziehen; denn gewaltig ist der Tag von Jisreél, und es heißt: es wurde Abend und es wurde Morgen, ein Tag« (Goldschmidt aaO., 587). 96 Text nach (H.-L. Strack-)P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch Band IV. Exkurse zu einzelnen Stellen des Neuen Testaments. Erster Teil, München 51969, 211–214. 97 Übers. A. F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, JSHRZ V/2, Gütersloh 1976.

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und Euphrat besage, »dass die Vollkommenen von dem Körper, den Sinnen und den organischen Teilen, ohne die man nicht leben kann, die Anfänge haben«, womit elementare Kenntnisse gemeint seien.98 Den Begriff ŮďěƩġƶěċ verwendet Philo in der Legatio ad Caium; Agrippa habe eine Gefährdung der Juden befürchtet, und zwar nicht allein im »heiligen Land«, sondern in der ganzen Welt (ĚċėĞċġęȘ ĞǻĜ ęŭĔęğĖƬėđĜ, Leg 330). In der Schrift Gegen Flaccus argumentiert Philo zugunsten der bürgerlichen Rechte der Juden in Alexandria (In Flacc 46): »Da es so viele Juden gibt, reicht ein einziges Land für sie nicht aus. Deswegen wohnen sie in den meisten und reichsten Ländern Europas und Asiens, auf Inseln und dem Festland.« Er fährt dann fort: »Als Mittelpunkt betrachten sie die heilige Stadt, wo der heilige Tempel des höchsten Gottes steht«, fügt aber sofort hinzu: »Was sie aber von ihren Vätern, Groß- und Urgroßvätern und den Voreltern noch weiter hinauf als Wohnsitz übernommen haben, das halten die einzelnen für ihr Vaterland (ĚċĞěưĎċĜėęĖưĐęėĞďĜ), wenn sie dort geboren und aufgewachsen sind; in einige Gebiete kamen sie auch als Kolonisten gleich bei deren Besiedlung, den Gründern zu Gefallen.«99 Philo schreibt der Stadt Jerusalem eine besondere, einzigartige Bedeutung zu, nicht aber dem ›Land‹ als ganzem.100 2. In den Schriften des Neuen Testaments entspricht der Gebrauch des Lexems čǻ (»Erde, Land«) dem von Ēĕý im Alten Testament.101 Vielfach begegnet das Gegenüber von »Himmel« und »Erde« (vgl. Gen 1,1); in Mt 6,10 ist damit der Raum von Gottes allumfassender Herrschaft bezeichnet, in Apg 14,15 sagt der lk Paulus in seiner Rede den Heiden in Lystra, dass der

98

Darum heiße es im biblischen Text nicht: »… von dem Strome Euphrat bis zum Fluß Ägyptens«, denn die Schrift lasse »nicht die Tugend zu den körperlichen Affekten hinabsteigen«; es heiße vielmehr umgekehrt: » … ›von Ägypten bis zum großen Euphrat‹, denn von den sterblichen Dingen aus geht die Veredlung zu den unvergänglichen« (Rer DivHer 313…316; Übers. J. Cohn, Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung V, Berlin 21962). 99 Übers. K.-H. Gerschmann, Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung VII, Berlin 1964. 100 B. Schaller, Philon von Alexandreia und das »Heilige Land«, in: Ders., Fundamenta Judaica (s. Anm. 69), 13–27. J. C. de Vos, Die Bedeutung des Landes Israel in den jüdischen Schriften der hellenistisch-römischen Zeit, JBTh 23 (2008): Heiliges Land, Neukirchen-Vluyn 2009, 75–99 stellt fest (aaO., 97 f.): »In den jüdischen Schriften der hellenistisch-römischen Zeit spielt das konkrete Land eine sehr untergeordnete Rolle. Wenn das Land betont wird, wird es konzeptionell überhöht: als eschatologische Größe oder sprituelle ›Heimat‹ … Wichtiger als das Land ist Jerusalem, konkret und / oder symbolisch, als eine gemeinsame kultische Mitte und damit Orientierung der Juden, im Land selbst wie auch in der Diaspora.« 101 In der LXX wird Ēĕý meist mit čǻ wiedergegeben. Vgl. M. Wolter, Art. Welt/Erde, TBLNT2 II, Wuppertal und Neukirchen-Vluyn 2000, 1887–1891.

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lebendige Gott »Himmel, Erde und Meer« geschaffen hat (vgl. Ex 20,11). Die Freiheit der Christen, alles auf dem (Fleisch-)Markt Verkaufte essen zu dürfen, begründet Paulus in 1 Kor 10,26 mit Ps 24,1 LXX (ĞęȘĔğěưęğ čƩěŞčǻĔċƯĞƱĚĕƮěģĖċċƉĞǻĜ). čǻ kann die »Erde« bezeichnen als den (Erd-)Boden, auf dem man sitzen (Mk 8,6) oder den man landwirtschaftlich nutzen kann (Mk 4,26.28); čǻ ist auch der »Landstrich«, wo man sich von Jesu Taten erzählt (Mt 9,26.31). Wenn in Joh 3,22 gesagt wird, Jesus sei mit seinen Jüngern ďŭĜĞƭėŵęğĎċưċėčǻė gekommen, so ist damit einfach das entsprechende Territorium gemeint, ohne dass čǻ theologisch zu deuten wäre. In Jud 5 ist vom »Land Ägypten« die Rede, aus dem Gott das Volk »ein für allemal gerettet« habe (ņĚċĘĕċƱėőĔčǻĜìŭčƴĚĞęğĝƶĝċĜ), doch findet der Einzug ins »gelobte Land« keine Erwähnung. Nach Hebr 11,8–10 zog Abraham aus Glauben (ĚưĝĞďē) zu dem Ort (ĞƲĚęĜ), der ihm als »Erbe« bestimmt war; aus Glauben bewohnte er »das Land der Verheißung« wie ein fremdes (ĚċěȤĔđĝďėďŭĜčǻėĞǻĜőĚċččďĕưċĜ ƚĜŁĕĕęĞěưċė) zusammen mit Isaak und Jakob als »den Miterben derselben Verheißung«102; das Ziel aber ist nicht das ›Land‹, sondern die (himmlische) Stadt Jerusalem.103 In der Stephanusrede wird in Apg 7,3 im Zitat von Gen 12,1 daran erinnert, dass Abraham sein Land (čǻ) verlassen und sich aufmachen sollte »in das Land (ďŭĜĞƭė čǻė), das ich dir zeigen werde«; Stephanus nennt es in 7,4 »das Land, in dem ihr jetzt wohnt«. In 7,6 wird im Zitat von Gen 15,3 f.; Ex 2,22 gesagt, dass Gott verfügt habe, Abrahams »Same« solle »fremd sein in fremdem Land« (ĚƪěęēĔęėőėčǼŁĕĕęĞěưǪ, Ägypten), und ähnlich spricht Stephanus in 7,29 von Mose als dem ĚƪěęēĔęĜőėčǼ ÷ċĎēƪĖ. In V. 33 wird die Gottesoffenbarung aus Ex 3,5 zitiert (žčƩěĞƲĚęĜőĠdzǞ ŖĝĞđĔċĜčǻłčưċőĝĞưė); in V. 49 zitiert Stephanus die tempelkritische Gottesrede aus Jes 66,1–2, wo čǻ »die Erde« meint: »Der Himmel ist mein Thron, die Erde aber der Schemel meiner Füsse. Was für ein Haus wollt ihr mir bauen, spricht der Herr, was soll meine Ruhestätte sein?« Ein spezifisch theologisches Verständnis von čǻ im heilsgeschichtlichen Sinne ist nicht zu erkennen.

In Mk 7,10/Mt 15,9 und in Mk 10,19 parr wird das fünfte Dekalog-Gebot aus Ex 20,12; Dtn 5,16 zitiert, jedoch ohne die in diesem Gebot ausgesprochene Landverheißung. In der Haustafel in Eph 6,3 wird diese Verheißung zwar mitzitiert, jedoch in einer gegenüber der biblischen Überlieferung

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Vgl. dazu E. Grässer, An die Hebräer. 3. Teilband: Hebr 10,19–13,25, EKK XVII/3, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1997, 124: »Diese geographische Nachlässigkeit hat einen leicht erkennbaren Grund: Nicht irdisch immanente ĞƲĚęē, sondern Diesseitigkeit und Jenseitigkeit sind die ›Orte‹, die den Hebr als ĕƲčęĜĞǻĜĚċěċĔĕƮĝďģĜ für das zwischen den Zeiten wandernde Gottesvolk letztlich allein interessieren.« 103 Vgl. Hebr 12,22: »Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln …«

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stark verkürzten Form: Aus dem langen Leben in dem von Gott dem Volk gegebenen ›Land‹104 ist das »lange Leben auf Erden« geworden.105 Die Bezeichnung Land Israel (čǻŵĝěċƮĕ) begegnet im Neuen Testament lediglich in Mt 2,19–21: Josef erhält den Auftrag, nach dem Tod des Herodes mit dem Kind und seiner Mutter zu ziehen ďŭĜčǻėŵĝěċƮĕ (V. 20), was er dann auch tut (V. 21: ĔċƯďŭĝǻĕĒďėďŭĜčǻėŵĝěċƮĕ). U. Luz schreibt zunächst: »Der Davids- und Abrahamsohn Jesus kehrt in das Land des Volkes zurück, dem seine Sendung gilt«, womit der religiöse Aspekt des ›Landes‹ betont zu sein scheint; doch Luz fährt fort: »In eigenartiger Spannung dazu steht die von Matthäus angefügte Präzisierung in V. 22: Nicht nach Judäa, sondern nach Nazaret in Galiläa wendet sich aufgrund göttlichen Befehls die Familie Josefs«, und so scheine ›Land Israel‹ eher einen geographischen Raum zu bezeichnen, der sowohl das hier ausdrücklich als Herrschaftsgebiet des Archelaus genannte Judäa als auch Galiläa umfaßt (V.  22 f.).106 In Mt 4,15 f. wird Galiläa, wo Jesus heranwächst und sich aufhält, im Zitat von Jes 8,23–9,1 ausdrücklich als îċĕēĕċưċĞȥėőĒėȥė (hebr. Text: (ĊƒìÑāïĉĆĉòö Ñ) bezeichnet; das spricht gegen die Annahme, der Evangelist habe Galiläa als Teil des ›Landes‹ im religiösen Sinne verstanden. Andererseits wird der Aspekt, Galiläa könne explizit als »Heidenland« verstanden sein, jedenfalls nicht weiter verfolgt.107 3. Die Debatte, ob čǻ nicht nur »Erde, Ackerboden«, sondern auch im spezifischen Sinn »das Land (Israel)« meint, konzentriert sich vor allem auf zwei Texte in der Bergpredigt: Ist in Mt 5,5 (ĖċĔƪěēęēęŮĚěċďȉĜƂĞēċƉĞęƯ ĔĕđěęėęĖƮĝęğĝēėĞƭėčǻė) an ›das Land‹ gedacht, spricht der mt Jesus hier also die Verheißung aus, dass »die Sanften« bzw. »die Gewaltlosen«108, nicht aber die gewalttätig agierenden Zeloten, das Land »erben« – also vermutlich: 104 Ex 20,12 LXX lautet: ĔċƯŲėċĖċĔěęġěƲėēęĜčƬėǹőĚƯĞǻĜčǻĜĞǻĜŁčċĒǻĜŤĜĔƴěēęĜž ĒďƲĜĝęğĎưĎģĝưėĝęē (Dtn 5,16 ist bis auf das Fehlen des Adj. ŁčċĒƲĜ identisch). 105 In Eph 6,3 lautet das Zitat: Ųėċ … ŕĝǹ ĖċĔěęġěƲėēęĜ őĚƯ ĞǻĜ čǻĜ. Vgl. dazu G. Sellin, Der Brief an die Epheser, KEK 8, Göttingen 2008, 460–462. 106 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7, EKK I/1, Düsseldorf und Neukirchen-Vluyn 52002, 186. – K. E. Wolff, »Geh in das Land, das ich dir zeigen werde …«. Das Land Israel in der frühen rabbinischen Tradition und im Neuen Testament, EHS XXIII/340, Frankfurt / M. usw. 1989, 246–250 sieht in der Aussage über Flucht und Rückkehr aus Ägypten (Mt 2,13–15) einen Bezug nicht nur zu dem zitierten Text Hos 11,1, sondern zu Hos 10–12 im ganzen. Sie meint, aus dem Zitat von Jer 31,15 in Mt 2,18 sei ein Bezug zu Jer 31 insgesamt zu folgern: Jesus erscheine als »neuer Josua«, und insofern sei »das Land Israel« hier im umfassenden biblisch-alttestamentlichen Sinn zu verstehen. 107 Mt nimmt in 4,13 die geographische Bezeichnung őėžěưęēĜñċČęğĕƵėĔċƯøďĠĒċĕưĖ aus dem in V. 15 f. dann zitierten Text vorweg; er scheint sich bewußt dieser »altertümelnden« Begrifflichkeit zu bedienen. Vgl. Luz (s. die vorige Anm.), 234 f. 108 Luz, Matthäus I (s. Anm. 106), 282 f. meint, keine deutsche Übersetzung werde der Bedeutungsfülle von ĚěċďȉĜ gerecht. Er bietet die Übersetzung (aaO., 268) »die

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von den Römern zurückerlangen – werden? Oder ist čǻ hier im Sinne von »Erde« zu deuten? Dann wäre freilich wohl nicht an eine konkrete »Weltherrschaft« der ĚěċďȉĜ zu denken, sondern čǻ wäre eher »spiritualisiert« zu verstehen. Nach Ulrich Luz ist im zeitgenössischen Judentum die traditionelle Landverheißung »längst ins Kosmische transponiert worden«; in Mt 5,5 sei von der »Erde« sei die Rede, weil das von Jesus verheißene »Himmelreich ein neues Diesseits mit umfaßt«.109 W. D. Davies und D. C. Allison verweisen darauf, dass čǻ »appears in Matthew to refer not to Palestine but to the earth«; die Verheißung in 5,5 sei nicht konkreter zu fassen als die Verheißungen in den anderen Makarismen.110 Im Hintergrund von Mt 5,5 steht vermutlich Ps 37,11: »Die Gebeugten aber werden das Land (Ēĕý) besitzen und sich freuen an der Fülle des Friedens.«111 In der rabbinischen Literatur wird Ps 37,11 in eschatologischem Sinn zitiert, da im Zusammenhang von der »zukünftigen Welt« die Rede ist.112 In den am Toten Meer gefundenen Schriften aus der Zeit vor 66 n. Chr. ist mehrfach vom »Land« (Ēĕý) die Rede, doch müssen sich die entsprechenden Aussagen nicht auf »das Land« (= Israel) beziehen, sondern es kann auch »die Erde« bzw. »der Boden« gemeint sein. In 4Q171 wird offensichtlich Ps 37,11 zitiert: »Aber Demütige werden Land in Besitz nehmen und sich ergötzen an Friedensfülle«; hier ist mit Ēĕý möglicherweise das »Land« im heilsgeschichtlichen Sinne gemeint. Es heißt dann, die Deutung beziehe sich »auf die ›Gemeinde der Armen‹, dass sie die bestimmte Zeit der Demütigung auf sich nehmen, jedoch gerettet werden aus allen Fallen Belials. Und danach werden sich ergötzen alle das Land Be[sitz]enden, und sie werden sich gütlich tun an jeglichem Ergötzen«.113 Wenn es in der »Zwei-Wege-Lehre« in Did 3,7 heißt: »Sei aber ›sanftmütig‹, weil die ›Sanftmütigen‹ die Erde/das Land erben werden« (űĝĒēĎƫĚěċȔĜ Freundlichen«, schreibt dann aber (283 Anm. 93): »Die Übersetzung mit ›freundlich‹ ist zu banal und zu griechisch«. 109 Luz, Matthäus I (s. Anm. 106), 283. 110 Davies / Allison, Matthew I (s. Anm. 93), 450. H. D. Betz, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3–7:27 and Luke 6:20–49), Hermeneia, Minneapolis 1995, der die Bergpredigt als einen eigenständigen, nicht vom Evangelisten Matthäus verfaßten Text ansieht, meint, die Aussage in 5,5 sei eschatologisch zu verstehen: »At present the faithful do not possess or have dominion over the earth, but they have reason to hope that God will hand it over to them in the end« (128). 111 Ps 36,11 LXX: ęŮĎƫĚěċďȉĜĔĕđěęėęĖƮĝęğĝēėčǻėĔċƯĔċĞċĞěğĠƮĝęğĝēėőĚƯĚĕƮĒďē ďŭěƮėđĜ. Einen eingehenden Textvergleich bietet Chr. Heil, »Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen« (Mt 5,5). Das matthäische Verständnis der Landverheissung in seinen frühjüdischen und frühchristlichen Kontexten, in: D. Senior (ed.), The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, BEThL 243, Leuven 2011, 389–417, hier: 391–406. 112 Vgl. (H.-L. Strack / ) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Band I: Das Evangelium nach Matthäus, München 51969, 199 f. 113 Text nach der Übersetzung von J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Band II: Die Texte der Höhle 4, UTB 1863, München 1995, 94. Nach Heil, »Selig die Sanftmütigen« (s. Anm. 111), 406–408 werden in diesem Text »die Qumran-

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őĚďƯęŮĚěċďȉĜĔĕđěęėęĖƮĝęğĝēėĞƭėčǻė), so könnte zwar der bestimmte Artikel (Ğƭėčǻė) dafür sprechen, dass hier nicht Ps 36,11 LXX sondern Mt 5,5 zitiert wird; aber das läßt sich nicht sicher sagen.114

Jari Laaksonen argumentiert in seiner Monographie »Jesus und das Land« im Blick auf Mt 5,5 nachdrücklich zugunsten der Bedeutung »Land«: Jesus habe »die Zwölf« als Repräsentanten Israels und als eschatologische Richter ausgewählt (Mt 19,28), und dementsprechend verheiße er ihnen, dass sie als die Sanftmütigen »das Land erben« werden. ĔĕđěęėęĖďȉė sei entsprechend alttestamentlichem Sprachgebrauch »ein terminus technicus für die Inbesitznahme des Gelobten Landes durch die Israeliten unter Josuas Führung bzw. für die endzeitliche Inbesitznahme durch die gerechten Israeliten nach dem Gericht (so in Ps 37)«. Laaksonen sieht auch einen Zusammenhang mit Jesu Rede von der Čċĝēĕďưċ: »Das Reich Gottes für das Volk Gottes im Lande Gottes, dies war die eschatologische Hoffnung Jesu.« In Mt 5,5 lasse sich die Position Jesu erkennen, die sich von der des Matthäus unterscheide; Mt 5,5 sei daher als ein authentisches Jesuslogion anzusehen.115 Nach Katherine Elena Wolff geht es in 5,5 für den Evangelisten »zuallererst um die Verheißung hinsichtlich des konkreten und begrenzten Landes Israel«116; der Kontext, insbesondere »die Verkündigung des schon präsenten Himmelreiches in Mt 5,3.10«, verlange allerdings, »daß der Hörer von Mt 5,5 nicht beim Land Israel stehenbleibt, sondern sich in die Weite der universalen Dimensionen der Verheißung führen läßt«, wobei diese Universalität »aber für Matthäus nicht ohne das Land Israel und den [!] damit verbundenen Verheißungen zu verstehen ist«.117 Christoph Heil meint, Mt 5,5 sei vermutlich redaktionell; die Diaspora-Situation der judenchristlichen mt Gemeinde in Antiochia sei als Kontext denkbar, und »dann würde die Seligpreisung die Gemeinde darauf hinweisen, ›wo ihr Glaube ›geerdet‹ ist – ganz gleich, wo sie leben‹«.118 Matthäus gebe in 5,5 »den realpolitischen Rat: Nicht zelotische Gewalt führt zum Landbesitz, sondern jesuanische Sanftmut«, und deshalb sei čǻ hier besser mit »Land« und nicht mit »Erde« zu übersetEssener also in ihrer gegenwärtigen Treue zu Gott« beschrieben, und »ihr Lohn dafür in der künftigen Heilszeit wird üppig ausgemalt« (408). 114 Vgl. A. Lindemann, The Apostolic Fathers and the Synoptic Problem, in: P. Foster / A. Gregory / J. S. Kloppenborg / J. Verheyden (eds.), New Studies in the Synoptic Problem (FS Christopher M. Tuckett), BEThL 239, Leuven 2011, 689–719, hier: 695. 115 J. Laaksonen, Jesus und das Land. Das Gelobte Land in der Verkündigung Jesu, Åbo 2002, 378. 116 Wolff, »Geh in das Land« (s. Anm. 106), 253. Daher seien die Seligreisungen und vor allem 5,5 »messianische Verkündigung, die die Hoffnung Israels anspricht und Heil zusagt«. 117 Wolff, »Geh in das Land« (s. Anm. 106), 254. 118 Heil, »Selig die Sanftmütigen« (s. Anm. 111), 405 (mit Zitat von Vahrenhorst, Land 133 [s.u. Anm. 136]).

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zen.119 Völlig auszuschließen ist ein politisches bzw. (heils-)geschichtliches Verständnis von ĚěċďȉĜ … ĔĕđěęėęĖƮĝęğĝēėĞƭėčǻė in Mt 5,5 tatsächlich nicht; es ist freilich nur dann möglich, wenn man die Aussage vom Kontext isoliert und als ein inhaltlich singuläres Logion auffaßt.120 Die zweite der Vaterunser-Bitten in Mt 6,10, die davon spricht, Gottes Wille solle geschehen ƚĜőėęƉěċėȦĔċƯőĚƯčǻĜ, ist ohne Parallele in Lk 11,2; sie dürfte also »sekundär« sein und jedenfalls nicht auf Jesus zurückgehen. Luz meint, hier werde gesagt, dass Gottes Wille bereits im Himmel geschieht und dass er sich auch auf der Erde durchsetzen soll.121 Laaksonen sieht auch hier einen Bezug zum ›Land‹, deutlich erkennbar bereits in der Anrede an Gott als Vater: Die Überlieferung von der Heiligung des Namens JHWHs »knüpft immer an die endzeitliche Wiederherstellung Israels im Lande an. Gott heiligt seinen Namen, indem er Israel wieder in seinem Land sammelt. Die 1. Bitte des Vaterunsers enthält damit einen impliziten Hinweis auf das Gelobte Land«.122 In der ursprünglichen Fassung des Gebets sei das ›Land‹ nicht ausdrücklich erwähnt worden, wie die Lk-Parallele zeige; aber der Gedanke sei: »Gott heiligt seinen Namen, indem er Israel von der Zerstreuung zurückruft (Ez 36,38). Die Regierung Gottes als König wird manifest, wenn er Israel rettet und im Lande wiederherstellt (z. B. Jes 35,4; 66,15–18; Sach 14). Das künftige Reich, um dessen Kommen im Vaterunser gebetet wird, wird die Wiederherstellung des Volkes Israels im Lande bedeuten.«123 K. E. Wolff sieht im Hintergrund von Mt 6,10 einen Bezug zu Ez 36,16–38; čǻ sei daher »zunächst als auf das Land Israel bezogen zu verstehen«, doch habe die Heiligung des Gottesnamens von Ez 36 her dann »nicht nur mit Israel, sondern mit allen Völkern zu tun«; auch wenn Jesus als der gekommene Messias geglaubt wird, müssen die Jünger weiterhin »darum bitten, daß die Verheißungen Gottes im Land und auf der Erde realisiert werden«.124 Das in Mt 6,10 ausgesprochene Gegenüber von »Himmel« und »Erde« macht es wahrscheinlich, dass čǻ hier nicht ein bestimmtes »Land«, und sei es ›das (heilige) Land‹ Israel meint, sondern dass an die von Gott geschaffene Erde zu denken ist. Allenfalls in Mt 5,5 könnte čǻ im Sinne von ›Land‹ (sc. Israel) verstanden werden (s.o.). Unabhängig von der Frage, ob dieser 119

Heil, »Selig die Sanftmütigen« (s. Anm. 111), 411. Damit unterscheide sich die Aussage deutlich von den entsprechenden Aussagen in Qumran, wo »Demut nicht mit Friedfertigkeit und Gewaltfreiheit gleichgesetzt« werde. 120 Bisweilen wird erwogen, in dem Verheißungswort Mt 5,13 (ƊĖďȉĜőĝĞďĞƱņĕċĜĞǻĜ čǻĜ) könne an ›das Land‹ gedacht sein; aber dagegen spricht schon der Parallelismus (vgl. 5,14: ĞƱĠȥĜĞęȘĔƲĝĖęğ). 121 Luz, Matthäus I (s. Anm. 106), 448; die Möglichkeit, mit čǻ könne hier »das Land« (= Israel) gemeint sein, wird von Luz nicht diskutiert. 122 So Laaksonen, Jesus und das Land (s. Anm. 115), 251 (Hervorhebung im Orig.). 123 Laaksonen, Jesus und das Land, 253 f. (Hervorhebung im Orig.). 124 K. E. Wolff, »Geh in das Land« (s. Anm. 106), 257.258.

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Makarismus auf Jesus zurückgeht, wäre dies der einzige Text, der ein Interesse am ›Land‹ erkennen ließe. 4. Im Markusevangelium spielen geographische Aspekte eine wesentliche Rolle.125 Dabei sind die geographischen Räume – Galiläa, die Dekapolis, Jerusalem – konkret bzw. real gedacht; der Gedanke, Jesus wirke im ›heiligen Land‹, kommt dem Evangelisten nicht in den Blick, und es ist auch nicht zu erkennen, dass Jerusalem im Markusevangelium als ›die heilige Stadt‹ gesehen wird. Im lukanischen Doppelwerk kommt der Stadt Jerusalem eine besondere Rolle zu, wie sowohl die Konzentration der Ostererzählungen auf Jerusalem als auch die Apostelgeschichte als ganze zeigt; »heilig« wird die Stadt allerdings nicht genannt.126 Vom ›Land‹ ist bei Lukas nicht explizit die Rede. Nach Katherine Elena Wolff impliziert aber die Frage der Jünger nach der Wiederherstellung der ČċĝēĕďưċĞȦŵĝěċƮĕ (Apg 1,6) »eine Bestätigung auch hinsichtlich des Landes, ohne das im Bewußtsein Israels kein Reich möglich ist«; da Jesus die Frage nicht beantworte, bleibe »die Erwartung einer Wiederherstellung bestehen«, was durch das in 2,17–21 folgende Joel-Zitate unterstrichen werde. »Selbst wenn Lukas das Land nicht ausdrücklich thematisiert, schwingt es mit in dem, was er sagt«; in die Geistausgießung ist »implizit auch das Land miteingeschlossen, wenn auch nicht gesagt wird, wie es mitgemeint ist oder sein wird«.127 Demgegenüber argumentiert W. D. Davies im Blick auf Lukas, dass »the same factors which led him to give Jerusalem a full measure of attention would have led him to minimize that given directly to the land. As a Gentile he probably did not share the common Jewish awareness … that Jerusalem was the quintessence of the land, and so he could separate his treatment of that city from that of the land«.128 Unabhängig davon, ob Lukas ein »Heidenchrist« oder ein »Christ jüdischer Herkunft« war129, lassen seine beiden Schriften ein Interesse am ›Land‹ nicht erkennen; die Hervorhebung Jerusalems ist wahrscheinlich gerade darauf zurückzuführen, dass er diese Stadt Jesus und der nachösterlichen Kirche zuordnen will, so wie er ja auch die (Heils-) Geschichte des Volkes Israel auf das Christusgeschehen bezieht. 125

Vgl. die Überlegungen von P.-G. Klumbies, Das Konzept des »mythischen Raumes« im Markusevangelium, in: JBTh 23 (s. Anm. 100), 101–121. 126 Die Bezeichnung łčưċĚƲĕēĜ ist ohnehin nur in Mt 4,5; 27,53 belegt. In Lk 4,9 heißt es in der Parallele zu Mt 4,5 »Jerusalem«. 127 K. E. Wolff »Geh in das Land« (s. Anm. 116), 284. 128 W. D. Davies, The Gospel and the Land. Early Christianity and Jewish Territorial Doctrine, Berkeley / Los Angeles / London, 1974, 286 f. 129 »Lukas« war zum Zeitpunkt der Abfassung seiner beiden Bücher jedenfalls kein toratreuer »Judenchrist«.

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Die geographischen Angaben im Johannesevangelium werden von W. D. Davies von der Annahme her gedeutet, dass die mit den genannten Orten jeweils verbundenen Heilserwartungen durch Jesus »ersetzt« werden. Bei der »Tempelreinigung« (Joh 2,13–22) lasse die in V. 21 f. gegebene Deutung explizit erkennen, dass Jesus an die Stelle des Jerusalemer Tempels tritt; im Gespräch mit der Samaritanerin beanspruche Jesus sowohl die Rolle des heiligen Berges der Samaritaner als auch die Rolle Jerusalems (4,20 ff.), und ebenso würden der wunderwirkende Teich Bethesda (5,1–9) und der SiloahTeich (9,1 ff.) durch Jesus neu bestimmt. Ebenso sei auch die Rede vom Weinstock zu verstehen: »John takes up the metaphor and equates the ›vine‹ with Jesus (15:1 ff). He personalizes it completely. He is a ›vine‹ coming from God and going to God: geographical considerations are simply otiose in connection with this ›vine‹«.130 Dagegen sieht Katherine Elena Wolff in der Weinstockrede in Joh 15,1–17 »Elemente der Landtraditionen«; der Evangelist greife in Jesu Rede »zurück auf die Verwurzelung Israels im Land und auf seine Hoffnung in bezug auf dieses Land, um zu christologischen und ekklesiologischen Aussagen zu kommen«.131 Aber Jesus sagt ja betont: »Ich bin der Weinstock.« Gibt es bei Paulus Bezüge zum ›Land‹? W. D. Davies meint, die Formel őė āěēĝĞȦ sei geradezu ein Ersatz für den Bezug zum ›Land‹: »›In Christ‹ Paul was free from the Law and, therefore, from the land … For a long time Paul apparently felt no incongruity between retaining his apocalyptic geography, centred in Jerusalem, even though, since he was ›in Christ‹, it had become otiose. Theologically he had no longer any need of it: his geographical identity was subordinated to that of being ›ín Christ‹, in whom was neither Jew nor Greek.«132 Diese sehr weitgehende These läßt sich allerdings schwer belegen; richtig ist, dass die paulinischen Briefe eine »Theologie des Landes« nicht erkennen lassen. Gelegentlich wird gefragt, ob die Verwendung des der hebräischen Wurzel ĉĄč entsprechenden Wortes ĔĕđěęėęĖďȉė bei Paulus133 auf die in der biblischen Tradition mit dem »Erbe« des ›Landes‹ (āĉĄč) verbundenen Vorstellungen zurückgeht. Aber in den entsprechenden Aussagen fehlen Bezüge zum ›Land‹ durchgängig: In Röm 4,13 erinnert Paulus an die Verheißung für Abraham, aber dabei schreibt er, Abraham werde »Erbe der Welt« sein (… ĞƱĔĕđěęėƲĖęėċƉĞƱėďųėċēĔƲĝĖęğ), und damit ist ein exklusiver Bezug zum ›Land‹ ja geradezu ausgeschlossen.134 In Röm 9,3–5a, wo 130

Davies, Gospel (s. Anm. 128), 333. K. E. Wolff, »Geh in das Land« (s. Anm. 110), 292. 132 Davies, Gospel (s. Anm. 128), 220. 133 Paulus verwendet ĔĕđěęėęĖďȉė in 1 Kor 6,9 f.; 15,50 und Gal 5,21 (vgl. Hebr 1,14; 6,12; 12,17; ferner 1 Petr 3,9). 134 M. Vahrenhorst, Land und Landverheißung im Neuen Testament, in: JBTh 23 (s. Anm. 100), 123–147, hier: 140: Da die Nachkommenverheißung »universalisiert« wird, ist es »konsequent, dass Abraham nicht nur das seinen leiblichen Nachkommen verheißene 131

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Paulus die heilsgeschichtlichen Vorzüge Israels aufzählt, fehlt der Hinweis auf die Gabe des ›Landes‹; Martin Vahrenhorst meint, Paulus wähle »aus dem Repertoire der biblischen Verheißungen sehr bewußt diejenigen aus, die zu seinem theologischen Anliegen passen. Was er darüber hinaus über die Landverheißung gedacht hat, wissen wir nicht«.135 Dass Paulus in Röm 9,3–5a die Verheißung des ›Landes‹ zufällig übersehen haben sollte, ist unwahrscheinlich; offensichtlich ist sie für ihn kein Thema. Auch die umfassend organisierte Kollekte für Jerusalem läßt ein Interesse am ›Land‹ nicht erkennen; in Röm 15,31 ist zwar die heilsgeschichtliche Rolle Jerusalems für die Verkündigung angedeutet, aber ein Zusammenhang mit dem ›Land‹ wird nicht hergestellt.136

Die Johannesoffenbarung spricht unter Aufnahme der prophetischen Ansage der kommenden Herrlichkeit Zions (Jes 60) und der neuen Schöpfung (Jes 65,17–25) von »dem neuen Himmel und der neuen Erde«, die am Ende aller Zeit erscheinen werden (21,1) und vom »neuen Jerusalem«, das vom Himmel herabkommen wird (21,2.10); es ist in 21,11–27 sehr konkret, zugleich aber ideal als ein riesiger Kubus beschrieben. Liegt hier der in manchen Texten der jüdischen Apokalyptik belegte Gedanke vor, das irdische Jerusalem werde endzeitlich wiederhergestellt werden? Peter Hirschberg fragt im Blick auf Apk 21,1–8 nach »Kontinuität und Diskontinuität zwischen altem und neuem Jerusalem«: Der Seher stehe »den apokalyptischen Traditionen nahe, die das neue Jerusalem als himmlisch-transzendente Größe verstehen«; aber insofern das neue Jerusalem zur kommenden Welt gehöre, habe es »direkt nichts mit der national-irdisch ausgerichteten jüdischen Hoffnung zu tun« und könne »nicht als Restitution des alten Jerusalem verstanden werden«.137 Das neue Jerusalem habe sich für die Völker geöffnet und gewinne so universalen Charakter: »Endziel aller Wege Gottes ist eine völlige Integration der nichtjüdischen Völker in das neue Jerusalem«, und daher wird am Ende »das eschatologische Gottesvolk identisch sein mit der erlösten Menschheit«.138 Nach Hirschberg geht es in Apk 21 f. »ganz konkret und real um das jüdische Volk«, doch zugleich wird »klargestellt, daß es um das in Christus vollendete jüdische Volk geht (Fundamentsteine der 12 Apostel), das sich aufgrund seiner eschatologischen Vollendung für die Nichtjuden geöffnet hat. Soteriologisch gibt es zwischen Juden und Nichtjuden keinen Unterschied mehr. Heilsgeschichtlich gesehen gehören die Völker aber nur dadurch zu Israel, daß sie an dem in Christus vollendeten Israel teilbekommen.« Deshalb sei die Aufnahme der Völkerwallfahrt-Tradition wichtig. Land erbt, sondern eben die ganze Welt«. Vom »erben« des verheißenen Landes ist allerdings gar nicht die Rede. 135 Vahrenhorst (s. die vorige Anm.), 141 verweist auf den »Gelegenheitscharakter« der paulinischen Korrespondenz. 136 Auch wenn vom »Zion« die Rede ist (meist in Zitaten aus dem AT: Röm 9,33; 11,26; vgl. Mt 21,5; Joh 12,15; 1 Petr 2,6; Hebr 12,22), ist damit eine heilsgeschichtliche Deutung des ›Landes‹ nicht verbunden. In der Vision Apk 14,1 »sieht« Johannes offenbar nicht den realen Zion, wie der größere Zusammenhang (14,1–6) erkennen läßt. 137 P. Hirschberg, Das eschatologische Israel. Untersuchungen zum Gottesvolkverständnis der Johannesoffenbarung, WMANT 84, Neukirchen-Vluyn 1999, 229. 138 Hirschberg (s. die vorige Anm.), 243.282.

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Hirschberg rechnet den Seher der Apk »einer ›liberalen‹ Variante judenchristlicher Theologie« zu, wie sie sich ähnlich auch bei Lukas zeige.139 »Johannes kennt nur ein Gottesvolk, ein Israel. Dieses Israel ist das jüdische Volk, das in Christus seine Vollendung gefunden und sich den Völkern gegenüber geöffnet hat«. Aber »durch die Konstitution des eschatologischen Gottesvolkes gehört das sich dem Christusglauben verweigernde Judentum nicht länger zum Gottesvolk.«140 »Nicht das Gottesvolk selbst also wird enterbt, dieses existiert als eschatologisches Gottesvolk weiter, sehr wohl aber werden Juden enterbt, die sich ihm nicht anschließen.«141

Selbst wenn die Erwartung eines »neuen Jerusalem« auf eine Restitution des »alten« Jerusalem zielen sollte, so ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass dabei das ›Land‹ (Israel) eine besondere Rolle spielen würde. Aus der weitgehenden Abwesenheit des Begriffs »Land« im Neuen Testament folgert Max Küchler gleichermaßen sowohl die »Selbstverständlichkeit dieser topographisch-rel[igiösen]. Gegebenheit« als auch »deren theol[ogische] Unbedeutsamkeit«: »Im NT ist eine durchgehende Tendenz zur Spiritualisierung und Entgrenzung des L[andes] I[srael] festzustellen, welcher eine Personalisierung aller mit dem L[and] I[srael] für das Volk I[srael] verbundenen Heilsgaben auf Jesus Christus entspricht«; »die Vorstellung eines ›hl. L[andes]‹ (vgl. SapSal 12,3; 2 Makk 1,7; Philo legat. 207.230) ist dem NT deshalb fremd.«142 5. Selbst wenn Jesus bzw. die Jesus-Überlieferung in der Seligpreisung in Mt 5,5 dem »Land« eine besondere Bedeutung zugewiesen haben sollte, so wäre dies eine singuläre Aussage, die jedenfalls schon nicht mehr für das Matthäusevangelium Geltung besäße; im übrigen ist im Neuen Testament ein Interesse am ›Land‹ nicht zu erkennen.143 Offenbar führte das Urchristentum schon sehr früh eine »Diaspora«-Existenz per definitionem; es gibt kein »christliches Land«, und die christliche Theologie hat deshalb eine Lehre von der religiösen Qualität des ›Landes‹ nicht entwickelt. Die möglicherweise in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s verfaßte apologetische Schrift »An Diognet« macht in 5,2–5 eine Aussage über das besondere Verhältnis der Christen zum ›Land‹; dort heißt es, ohne das ›Israel‹ überhaupt in den Blick kommt, die Christen seien »weder durch ein Land (čǼ) noch durch eine Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Denn weder bewohnen sie irgendwo eigene Städte, noch bedienen sie sich irgendeiner abweichenden Sprache, noch führen 139

Hirschberg, Israel (s. Anm. 137), 283 f. Hirschberg, Israel (s. Anm. 137), 291.297. 141 Hirschberg, Israel (s. Anm. 137), 302. Er fügt hinzu, dass dies »heute aufgrund historischer und theologischer Erwägungen kaum noch vertretbar erscheint«, dass hier also »Sachkritik zu üben« sei, doch sei die Position des Johannes keineswegs »antijudaistisch«, da er selber Jude gewesen sei. 142 M. Küchler, Art. Land Israel. II. Neues Testament, RGG4 Band 5, 2002, 55 f. 143 Wolter, Art. Welt / Erde (s. Anm. 101), 1890 stellt fest, »daß im NT auch das Land als Bestandteil v[on] Israels Erwählung keine Rolle spielt«. 140

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I Israel – Jesus – Paulus

sie ein auffälliges Leben … Sie bewohnen vielmehr griechische und auch barbarische Städte … Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber wie Nichtbürger (ĚċĞěưĎċĜ ęŭĔęȘĝēėŭĎưċĜ, ŁĕĕdzƚĜĚƪěęēĔęē) … Jede Fremde ist für sie Vaterland (ĚċĞěưĜ), und jedes Vaterland Fremde.«144

V. Zusammenfassung Ob es zwischen den sich als ›Kirche Gottes‹ verstehenden »Christen« und den sich als das Volk dieses Gottes verstehenden Israeliten im ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung so etwas wie ein Gespräch gegeben hat, läßt sich aufgrund der uns erhaltenen Quellen kaum sagen. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte sehen die christlichen Verkündiger, die ja durchweg Juden sind, den Tempel bzw. die Synagoge als den gleichsam »natürlichen« Ort für die Verkündigung des Evangeliums an; Stephanus und ebenso Paulus nach seiner Berufung disputieren in den Synagogen (vgl. Apg 6,8–10; 9,20–22). Aber diese Diskussionen dienen nicht einer möglicherweise gemeinsamen Wahrheitsfindung, sondern die christlichen Verkündiger, aus deren Perspektive erzählt wird, wollen ihre Adressaten davon überzeugen, dass der gekreuzigte Jesus der erhoffte Messias ist. Ob und inwieweit diese Darstellung den historischen Gegebenheiten entspricht, läßt sich nicht sagen. Wenn Paulus mehrmals die Synagogenstrafe erlitt (2 Kor 11,23 ff.), dann ist daraus immerhin abzuleiten, dass er predigend in der Synagoge auftrat, aber von den Gemeindeautoritäten als »Irrlehrer« identifiziert und entsprechend behandelt wurde. Indem Paulus diese Strafe auf sich genommen hatte, unterstellte er sich der Jurisdiktion der Synagoge.145 Wie lange er diese Haltung einnahm, wissen wir aber nicht146; insbesondere kennen wir keine Aussage des Paulus, mit der er sich unmittelbar an grundsätzlich toratreue Synagogenjuden gewandt haben könnte. In dem gegen Ende des 1. Jh.s christlicher Zeitrechnung entstandenen Matthäusevangelium, das in seinen theologischen Positionen deutlich in 144

Zitiert nach A. Lindemann / H. Paulsen (Hg.), Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von F. X. Funk/ K. Bihlmeyer und M. Whittacker, mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch, Tübingen 1992, 311/313. 145 Warum Paulus die Strafe erlitt, schreibt er nicht. Vgl. E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 8,1–13,13, ÖTK 8/2, Gütersloh 2005, 167 fragt, ob nicht die Tatsache genügt, »dass er ein Apostat war«. M. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians. Vol. II: Commentary on II Corinthians VIII–XIII, ICC, Edinburgh 2000, 737 f. hebt m. R. hervor, dass Paulus einer solchen Bestrafung hätte entgehen können, wenn er sich vom Judentum getrennt hätte. »He was willing to suffer as a Jew, at the hands of the Jewish synagogue authorities.« 146 Die Aussagen in 1 Kor 9,19–23 sprechen dafür, dass sich Paulus inzwischen kaum noch der synagogalen Jurisdiktionsgewalt unterstellt haben dürfte.

Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament

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der Nähe der Synagoge steht, zeigt sich ein Judenchristentum, das einerseits der Tora treu bleiben will, das sich aber andererseits dem Gedanken einer universalen Mission geöffnet hat: Der Auferstandene sendet die Jünger zu »allen Völkern«, die als Getaufte »alles bewahren« sollen, was Jesus – im Matthäusevangelium, im wesentlichen in Übereinstimmung mit der Tora – gelehrt hat (28,18–20). Auf welche Reaktion im außerchristlichen Judentum diese Haltung des Matthäusevangeliums stieß, wissen wir nicht; die wenigen unmittelbar zeitgenössischen jüdischen Quellen aus der Zeit um 100 lassen vom entstehenden »Christentum« praktisch nichts erkennen.147 Die Kirche muß den Dialog mit Israel suchen, und dieser Dialog findet auch statt. Allerdings ist Vorsicht geboten, wenn in kirchliche Aussagen gemacht werden, die das Selbstverständnis ›Israels‹ betreffen. Mit welcher Legitimation kann eine Kirche in ihrer Verfassung Verbindliches aussagen über ›Israel‹, etwa über eine gemeinsame eschatologische Hoffnung? Bei womöglich bester Absicht besteht die Gefahr, dass man faktisch über ›Israel‹ verfügt und dass zugleich das eigene Selbstverständnis undeutlich wird.148 Die Kirche muß sich ihrer eigenen über weite Strecken schlimmen Geschichte bewußt sein; sie muß sich zugleich dessen bewußt sein, dass es für ihre Identität wesentlich ist, ihre geschichtliche Entstehung im Volk Israel und die Verbindung mit diesem Volk nicht zu vergessen oder zu verleugnen.149 147 Mit Ausnahme der in dieser Hinsicht völlig unergiebigen Qumran-Texte sind jüdische schriftliche Quellen aus Judäa und Galiläa kaum erhalten, und auch Josephus erwähnt die Christen nicht. Obwohl er vom (Herrenbruder) Jakobus und dessen Martyrium schreibt (AntJud XX 200), geht er auf die Gruppe, zu der Jakobus gehörte, mit keinem Wort ein. Das testimonium Flavianum in AntJud XVIII 63 ist m. E. als ganzes eine christliche Interpolation. Selbst wenn der Text (oder eine kürzere Vorlage) authentisch sein sollte, sind die daraus zu gewinnenden Informationen minimal. 148 Vgl. dazu G. Sauter, Rechenschaft über die Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Treue. Zur Selbstprüfung der Kirche im Blick auf Israel, in: M. Evang / H. Merklein / M. Wolter (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag, BZNW 89, Berlin 1997, 293–320. Sauter untersucht die Frage, was es theologisch bedeutet, wenn die Evangelische Kirche im Rheinland ihrer Kirchenordnung den Satz hinzufügt: »Sie bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.« Sauter schreibt dazu im Schlußabschnitt seines Aufsatzes (320): »Israel und die Kirche sind Gottes Verheißungen unterschiedlich begegnet, und sie antworten darauf auf verschiedene Art und Weise. Hoffnung mit Israel ist möglich, weil die Zukunft der Kirche wie die Zukunft Israels in Gottes Verheißungen gründet. Steht Jesus Christus dazwischen? Jedenfalls steht er nicht über beiden, er tritt ihnen allen entgegen, auf verschiedene Weise vielleicht, aber wissen wir das so genau? Mit dem, was wir von anderen sagen können, sollten wir vorsichtiger sein.« 149 Dazu würde auch die bisweilen vertretene ekklesiologische Theorie gehören, die Kirche könne oder müsse nur noch »Kirche aus den (Heiden-)Völkern« sein. Vgl. den insoweit problematischen Titel der Studie von K. Stendahl, Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum, KT 36, München 1978. Der englische Originaltitel lautet freilich: Paul among Jews and Gentiles and other Essays.

II Aspekte neutestamentlicher Ethik

Einleitung Die vier Beiträge in diesem Kapitel verdanken sich sehr unterschiedlichen Anlässen. Der Aufsatz »… und trieb alle aus dem Tempel hinaus«. Gewalt und Gewaltlosigkeit im Jesusbild der Evangelien geht auf einen Vortrag zurück, der während des 12. Europäischen Kongresses für Theologie im Jahre 2005 in Berlin in der Fachgruppe ›Neues Testament‹ gehalten wurde. Der Kongreß stand unter dem damals sehr aktuell gewordenen Thema »Religion, Politik und Gewalt«.1 Der Vortrag wurde im Rahmen einer Fachgruppensitzung gehalten, in der es um »Jesus und die Gewalt« ging; Friedhelm Hartenstein und Klaus Fitschen boten zu dem von mir Vorgetragenen »responses« aus alttestamentlicher und aus kirchengeschichtlicher Perspektive, und es kam zu einer lebhaften Diskussion. Mein Vortrag mit dem Titel »Gewaltfrei? Zum Jesusbild der Evangelien« wurde in dem Kongreßband veröffentlicht.2 Die seither weiter gegangene Diskussion veranlaßte mich dazu, die damals vorgetragenen Überlegungen kritisch durchzusehen und exegetisch weiter zu präzisieren. Der Aufsatz »Juden, Griechen und die Kirche Gottes«. Die paulinische Ekklesiologie und die Lebenswirklichkeit der őĔĔĕđĝưċ in Korinth geht auf ein ›main paper‹ zurück, das 1986 im Rahmen des Colloquium Biblicum Lovaniense vorgetragen wurde.3 Mein besonderes Interesse war und ist die Frage, wie die an die Christusgläubigen in der »multikulturellen« Hafen- und Handelsstadt Korinth gerichteten Briefe des Apostels Paulus von den Adressaten in ihrer Lebenswirklichkeit verstanden werden konnten. Der Erste Korintherbrief aber auch die innerhalb des »zweiten« Korintherbriefes redaktionell zusammengestellten Briefe spiegeln einerseits die Lebenswirklichkeit der korinthischen Gemeinde und wollen andererseits auf die dortigen Verhältnisse Einfluß nehmen  – sowohl auf dem Gebiet 1

Die Hauptvorträge und die in den Fachgruppenveranstaltungen gehaltenen Beiträge zum Kongreßthema sind dokumentiert in dem Band: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongressband des XII. Europäischen Kongresses für Theologie 18.-22. September 2005 in Berlin, VWGTh 29, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006. 2 In dem in der vorigen Anm. genannten Band: 440–469; die responses dort 470–478 (Hartenstein) und 479–485 (Fitschen). 3 Die paulinische Ekklesiologie angesichts der Lebenswirklichkeit der christlichen Gemeinde in Korinth, in: The Corinthian Correspondence, hg. von R. Bieringer, BEThL 125. Uitgeverij Peeters / Leuven University Press, Leuven 1996, 63–86.

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II Aspekte neutestamentlicher Ethik

des alltäglichen Lebens wie auch bei Themen des Gemeindelebens und des Glaubens. Die sorgfältige Lektüre der Briefe führt immer wieder zu neuen Entdeckungen, die sich nicht zuletzt in der zahlreichen nach 1986 erschienenen Literatur niedergeschlagen haben. In der jetzt vorliegenden Fassung des Aufsatzes habe ich versucht, die Debatte und die Literatur soweit wie möglich aufzunehmen. Der jetzt unter dem Titel Hilfe für die die Armen. Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als ›diakonisches Unternehmen‹ stehende Aufsatz geht zunächst zurück auf einen Beitrag zu der Festschrift zum 65. Geburtstag von Peter Welten (Berlin).4 Im Zusammenhang der Entwicklung der diakoniewissenschaftlichen Studiengänge an der Kirchlichen Hochschule Bethel bzw. Wuppertal / Bethel gewann für mich dann die Frage nach dem paulinischen »DiakonieManagement« besonderes Interesse angesichts der Tatsache, dass Paulus die Kollekte nicht nur in fast allen seinen Briefen erwähnt, sondern vor allem der Darstellung ihrer organisatorischen Durchführung außerordentlich viel Raum widmet. Der Begriff »diakonisches Unternehmen« nimmt einen nicht ganz unproblematischen aktuellen Begriff auf, will aber im jetzigen Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass Paulus die Kollektenaktion geradezu »professionell« geplant und durchgeführt zu haben scheint. So habe ich im Rahmen eines Sitzung des Kuratoriums der damaligen Kirchlichen Hochschule Bethel einen entsprechenden Vortrag gehalten, der im selben Jahr veröffentlicht wurde.5 Die jetzige Fassung ist eine Zusammenführung beider Aufsätze zu einer größeren, stärker systematisch ausgerichteten Einheit. Der Aufsatz »Du sollst ein Kind nicht im Leib der Mutter töten«. Schwangerschaftsabbruch als ethisches Problem im antiken Judentum und im frühen Christentum6 verdankt sich ursprünglich der vor allem nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach 1990 nochmals intensiv geführten Debatte um die ethische Problematik des Schwangerschaftsabbruchs. Die in der Bundesrepublik Deutschland geltende rechtliche Regelung konnte angesichts der ganz anderen Bestimmungen, die in der DDR gegolten hatten, so nicht aufrechterhalten werden. Während der auch in den Kirchen wieder aufgenommenen Debatte wurde häufig gesagt, das Christentum habe ebenso wie das Judentum von Anfang an den Schwangerschaftsabbruch verworfen, während er in der außerchristlichen und außerjüdischen Antike 4

Hilfe für die Armen. Zur ethischen Argumentation des Paulus in den Kollektenbriefen II Kor 8 und II Kor 9, in: Chr. Maier / R. Liwak / K.-P. Jörns (Hg.), Exegese vor Ort. Festschrift für Peter Welten zum 65. Geburtstag. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2001, 199–216. 5 Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als »diakonisches Unternehmen«, WuD 28 (2005) 99–116. 6 WuD 26 (2001) 127–148.

Einleitung

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quasi »alltäglich« gewesen sei. Angesichts des auch in der modernen medizinethischen Debatte gelegentlich beigezogenen hippokratischen Eids, der den Ärzten den Schwangerschaftsabbruch offenbar verbietet, ging ich der Frage nach, ob das pauschale Bild von der antiken entweder »alltäglichen« oder aber strikt verbotenen Praxis des Schwangerschaftsabbruchs wirklich zutreffend ist. Im Jahre 1994 wurde ich auf Anregung von David Hellholm zur Sigmund-Mowinckel-Lecture in Oslo eingeladen; ich trug dort in englischer Sprache eine erste Fassung vor, die dann in den »Studia Theologica« publiziert wurde.7 Die damals und auch später in unterschiedlichen Kontexten geführte Diskussion veranlaßte mich, eine erweiterte und aktualisierte Fassung in deutscher Sprache zu schreiben und im Betheler Jahrbuch »Wort und Dienst« zu veröffentlichen.8 Jetzt wurde der Text vollständig durchgesehen und durch neuere exegetische und ethische Literatur erweitert, nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich die medizinethischen Konflikte in jüngster Zeit vor allem auf Aspekte der »Fortpflanzungsmedizin« beziehen, auf »pränatale Diagnostik« und auf »Präimplantationsdiagnostik«. Antike Autoren konnten davon nicht einmal etwas ahnen, aber letztlich handelt es sich um eine Fortführung der schon damals kontrovers diskutierten Frage nach dem Beginn des Lebens.

7 »Do not let a woman destroy the unborn babe in her belly«. Abortion in Ancient Judaism and Christianity, StTh 49 (1995) 253–271. 8 S. oben Anm. 6.

»… und trieb alle aus dem Tempel hinaus« (Joh 2,15) Gewalt und Gewaltlosigkeit im Jesusbild der Evangelien Im Kontext der aus aktuellen Gründen zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgebrochenen Frage nach dem Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt1 scheint der Blick auf die Jesusüberlieferung kaum bedeutsam zu sein; denn zum Jesusbild der neutestamentlichen Evangelien gehört die Annahme, Jesus habe gewaltfrei gehandelt und gelebt. Die Evangelien beschreiben Jesus nicht als einen revolutionären Kämpfer, sein Lebensgeschick weist ihn im Gegenteil als ein Opfer menschlicher Gewaltanwendung aus. Dennoch soll im folgenden nach Elementen im Jesusbild der Evangelien gefragt werden, die zu dem Bild des an Frieden und Gewaltlosigkeit orientierten Jesus in Spannung stehen.

I. Problemanzeige In seinem RGG-Artikel zum Stichwort »Gewalt« definiert Wolfgang Lienemann Gewalt als »das Vermögen von Menschen, andere Menschen gegen deren Willen durch Androhung und Ausübung physischen Zwanges einzuschüchtern oder zu einem bestimmten Verhalten, Handeln oder Unterlassen zu veranlassen«.2 In dem Artikel »Gewaltlosigkeit« schreibt Eckart Otto mit Blick auf Jesus3, dieser habe sich jener apokalyptischen Position angeschlossen, derzufolge »die Neue Welt … nicht durch die Menschen mit Gewalt, sondern durch Gott herbeigeführt« wird, und dementsprechend habe Jesus die Gewaltlosigkeit »als seligmachend« bezeichnen können. Die 1 Der im September 2005 in Berlin von der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie veranstaltete 12. Europäische Kongreß für Theologie stand nicht zufällig unter dieser Überschrift; vgl. F. Schweitzer, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongressband des XII. Europäischen Kongresses für Theologie 19.–22. September 2005 in Berlin, VWGTh 29, Gütersloh 2006, 13–15. 2 W. Lienemann, Art. Gewalt I. Anthropologisch, RGG4 3, Tübingen 2000, 882. – In den im Laufe des 20. Jahrhunderts erschienenen theologischen Lexika gab es das Stichwort »Gewalt« zunächst nicht; das änderte sich in den 1980er Jahren: Die TRE und das EKL enthalten Beiträge unter der Überschrift »Gewalt / Gewaltlosigkeit«. 3 E. Otto, Art. Gewaltlosigkeit. 1. Biblisch, RGG4 3, Tübingen 2000, 887 f.

»… und trieb alle aus dem Tempel hinaus« (Joh 2,15)

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Kreuzeschristologie überwinde »jeden triumphalen Gottesbegriff und damit auch der Idee nach das gewalttätige Auftreten des Menschen zur Durchsetzung des Guten«.4 Udo Friedrich Schmälzle betont, in der Bibel werde Gott »als die Macht bezeugt, die den Menschen unbedingt bejaht und ihm ebenso die unbedingte Bejahung des anderen, auch des Feindes, zutraut«; dabei werde »die Verkündigung dieser Gottesherrschaft« nur dann »glaubwürdig, wenn sie gleichzeitig zur Beendigung der Herrschaft von Menschen über Menschen anstiftet«.5 Als entscheidender Beleg für die Position Jesu zum Verzicht auf die Anwendung von Gewalt gilt oft die Bergpredigt, insbesondere die Weisung, dem Bösen nicht zu widerstehen (Mt 5,39), sowie das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44/Lk 6,27).6 Aber ist damit schon alles gesagt? Im Matthäusevangelium wird das Logion Jesu überliefert, er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34)7; in den synoptischen Evangelien haben die Exorzismuserzählungen zumindest teilweise Züge von angewandter Gewalt. Und schließlich berichten alle vier Evangelien von der »Tempelreinigung«, einer Aktion Jesu im Jerusalemer Tempel, bei der zweifellos Gewalt angewendet wurde. Wie sind solche Texte zu interpretieren? Eine Analyse der in den Evangelien verwendeten Begrifflichkeit zum Thema »Gewalt« ist nicht möglich: Die Lexeme ĎƴėċĖēĜőĘęğĝưċŭĝġƴĜ und ĔěƪĞęĜ, die im Deutschen auch mit »Gewalt« wiedergegeben werden können, begegnen in den Evangelien im wesentlichen nicht im Kontext von Aussagen über »(physische) Gewalt«, sondern eher im Sinne von »Macht(taten)« bzw. »Vollmacht« oder auch »Stärke«.8 őĘęğĝưċ bezeichnet in der Regel das Recht Jesu zu »vollmächtigem« Predigen oder Handeln; allerdings ist in Mk 3,15 von Jesu őĘęğĝưċ zum őĔČƪĕĕďēė der Dämonen die Rede, und diese őĘęğĝưċ erhalten nach Mk 6,7 auch die Jünger (vgl. Mt 10,1; Lk 9,1). 4

Otto (s. die vorige Anm.), 888. U. F. Schmälzle, Art. Gewaltlosigkeit II. Praktisch-theologisch, RGG4 3, Tübingen 2000, 889. Nach einem Blick auf das 20. Jahrhundert, insbesondere die Erfahrung der Shoa, heißt es: »Die paradoxe Logik der G[ewaltlosigkeit], die bereits die Bibel anspricht …, impliziert das Risiko der Selbstvernichtung, setzt jedoch ein geistiges Potential frei, dessen Dynamik nicht mehr mit den Regeln strategisch-instrumentellen Handelns kalkulierbar ist, über sich hinausweist und an der beziehungs- und friedensstiftenden Macht Gottes partizipiert.« Schmälzle bezieht sich dafür auf Mk 8,35 f.; Mt 10,39; 16,25; Lk 9,24 und 17,33. 6 Vgl. etwa W. Lienemann, Gewalt und Gewaltverzicht. Studien zur abendländischen Vorgeschichte der gegenwärtigen Wahrnehmung von Gewalt, FBESG 36, München 1982, 59–67; ähnlich J. Schröter, Gewaltverzicht und Reich Gottes. Der Verzicht auf Gewalt als Zeichenhandlung angesichts des Reiches Gottes in der ältesten Jesusüberlieferung, BThZ 20 (2003) 157–178. 7 ĖƭėęĖưĝđĞďƂĞēţĕĒęėČċĕďȉėďŭěƮėđėőĚƯĞƭėčǻėäęƉĔţĕĒęėČċĕďȉėďŭěƮėđėŁĕĕƩ Ėƪġċēěċė. In Lk 12,51 lautet das Logion: ĎęĔďȉĞďƂĞēďŭěƮėđėĚċěďčďėƲĖđėĎęȘėċēőėĞǼ čǼęƉġưĕƬčģƊĖȉėŁĕĕdzşĎēċĖďěēĝĖƲė. 8 Das Substantiv Čưċ ist im NT nur in der Apg belegt (5,26; 21,35; 24,7, vgl. 27,41). 5

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II Aspekte neutestamentlicher Ethik

Im folgenden soll nicht ein »neues Jesusbild« entwickelt oder die These von Jesus als einem aktiven Anhänger der Bewegung der Zeloten wiederbelebt werden.9 Gefragt wird insbesondere nicht nach dem Verhältnis des »historischen Jesus« zur Gewalt, sondern nach dem in der Überlieferung der Evangelien erkennbaren Jesusbild.10 Gerade bei der Frage nach dem Verhältnis Jesu zur Welt des Politischen einschließlich der Gewaltproblematik besteht die Gefahr, dass die eigenen politischen Vorstellungen und Wertmaßstäbe des Exegeten bei Jesus »wiederentdeckt« werden (sollen) und die auf die Rekonstruktion des »historischen Jesus« zielenden Analysen diesem Ziel untergeordnet werden.11 In der Geschichte ist ja ohnehin nicht der »historisch rekonstruierte« Jesus wirksam geworden, sondern der Jesus der Evangelien. Die neutestamentlichen Evangelien sollen im folgenden unter vier Aspekten befragt werden: 1) In welcher Weise wird Jesus in den Texten als ein Opfer menschlicher Gewaltanwendung beschrieben? 2) Was bedeutet andererseits Jesu Ansage der nahen Herrschaft Gottes für diejenigen Mächte, die gegenwärtig den Menschen beherrschen? 3) Wie sind jene Texte zu interpretieren, in denen Jesus den Hörern – direkt oder auch indirekt, bisweilen unter Verwendung von apokalyptischen Bildern – mit der Anwendung von Gewalt droht? 4) Welche Bedeutung kommt der Überlieferung von der sog. »Tempelreinigung« zu, die ja von unmittelbarer Gewaltanwendung durch Jesus spricht?12 9 Vgl. die Hinweise auf Positionen im 19. und 20. Jahrhundert bei K. Fitschen (Response aus kirchengeschichtlicher Sicht) in dem in Anm. 1 genannten Band Religion, Politik und Gewalt (479–485). 10 Die Frage nach dem möglicherweise »hinter« diesem Bild stehenden Denken und Handeln Jesu wirft grundsätzliche methodische Probleme auf, die über das hier zu Erörternde hinausgehen. Vgl. J. Schröter, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: Ders., Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, BThSt 47, Neukirchen-Vluyn 2001, 6–36. Ferner D. S. du Toit, Erneut auf der Suche nach Jesus. Eine kritische Bestandsaufnahme der Jesusforschung am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 22006, 91–134. 11 Lienemann, Gewalt und Gewaltverzicht (s. Anm. 6), 55 f. kritisiert derartige Hinweise auf die exegetische Problematik und meint, dahinter verberge sich ein in Wahrheit »dogmatisches« Argument, »das besagt, es sei ›gesetzlich‹, unmittelbare Geltung für JesusWorte in der Gegenwart in Anspruch nehmen zu wollen«. Aber die Frage ist ja gerade, welches die »Jesus-Worte« sind, für die »unmittelbare Geltung« beansprucht werden soll. Es besteht die Gefahr, dass jene Überlieferung für authentisch erklärt wird, die dem eigenen Denken am ehesten entspricht. Zur gegenwärtigen Methodendiskussion vgl. die Beiträge in J. Schröter / R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin / New York 2002. 12 Es ist apologetisch, wenn E. Spiegel, War Jesus gewalttätig? Bemerkungen zur Tempelreinigung, ThGl 75 (1985) 239–247 die von ihm gestellte Frage deshalb negativ beantwortet, weil das geschilderte Geschehen historisch wenig wahrscheinlich sei: »Des

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II. Markusevangelium 1) Markus spricht theologisch reflektiert von dem durch Gott über Jesus verhängten Leiden und Sterben.13 Zugleich wird Jesus Opfer einer von Menschen geplanten und durchgeführten Gewaltanwendung, nachdem schon sehr früh religiöse und »staatliche« Autoritäten, nämlich »die Pharisäer zusammen mit den Herodianern«, im Anschluß an die in Mk 2,23–3,5 geschilderte Sabbatpraxis Jesu und seiner Jünger die Entscheidung fällen, ihn umzubringen (3,6).14 Später verweist Jesus darauf, dass irdische Herrscher gewaltsam und willkürlich handeln; er sagt in seiner Antwort auf die Bitte der Zebedaiden, dass sie in der ĎƲĘċ Jesu zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen möchten (10,37): »Ihr wißt, dass diejenigen, die als Herrscher der Völker gelten, diese unterdrücken (ĔċĞċĔğěēďƴęğĝēėċƉĞȥė) und dass ihre Großen ihnen Gewalt antun (ĔċĞďĘęğĝēƪĐęğĝēėċƉĞȥė)« (V. 42), und darauf folgt in betonter Antithese die Feststellung (V. 43): »Aber so ist es unter euch nicht«15, sondern »wer bei euch groß sein will«, sei aller Diener (ĎēƪĔęėęĜ), und wer der erste sein will, der soll »Sklave aller« (ĚƪėĞģėĎęȘĕęĜ) sein. Dieses Logion formuliert den Entwurf einer Gegenwelt zu den geschichtlich realisierten und mit Gewaltausübung verbundenen weltlichen Machtstrukturen.16 weiteren lassen ganz praktische Überlegungen an einem Gewaltakt Jesu zweifeln« (244); es handle sich vielmehr um »eine »revolutionäre, gewaltfreie Tat«, eingebettet in Jesu Versuch, in Liebe und Geduld mit der Kraft der Wahrheit das Gewissen des Volkes, der Händler und Priester für ihr gottwidriges Treiben aufzuschließen« (247). Unabhängig von der Frage der Historizität stellen die Texte Jesu Handeln jedenfalls als eine gewaltsame Aktion dar. 13 Vgl. das Ďďȉ in den drei Leidensankündigungen Mk 8,31; 9,31; 10,32–34. 14 Beide Gruppen bilden bei Mk auch sonst eine gewisse Allianz; das zeigen Jesu Warnung vor dem »Sauerteig der Pharisäer und des Herodes« (8,15) sowie die Szene mit der von Abgesandten dieser beiden Gruppen vorgebrachten Frage nach der Kaisersteuer (Mk 12,13–17). Nach der mk Passionsdarstellung sind dann zwar weder die einen noch die anderen an dem zu Jesu Kreuzigung führenden Prozeß beteiligt; die ausführliche Erzählung vom Tod des Täufers (Mk 6,14–29) dürfte aber nach der Absicht des Evangelisten zumindest auch die Funktion haben, Herodes Antipas als eine Bedrohung auch für Jesus darzustellen. 15 Wie ist das indikativische ęƉġ … őĝĞēėőėƊĖȉė zu deuten? Ist es wirklich Beschreibung des »lst«-Zustandes, oder handelt es sich um eine Forderung? Mt 20,26 liest jedenfalls ŕĝĞċē, in Lk 22,26 dagegen fehlt eine Kopula. W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus. Kapitel 9,2–16,18, ÖTK 2/2, Gütersloh und Würzburg 1979, 464 f. betont: »Der Indikativ geht dem Imperativ voraus! Unter den Nachfolgern Jesu geht es anders zu – wenn sie wirklich nachfolgen. ›Dienen‹ ist in der Kirche nicht nur wünschenswert, sondern ein Identitätsmerkmal der Kirche und ihrer Ordnung; denn die Gemeinde ist Gottes Werk.« 16 In der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 steht dieses Logion (in der Fassung von Mt 20,25.26) als Schriftwort über der das nicht-hierarchische Amtsverständnis der Kirche beschreibenden Vierten These; vgl. dazu J. Ochel (Hg.), Der Dienst der ganzen

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II Aspekte neutestamentlicher Ethik

Dem entspricht es, dass in der mk Darstellung Jesu als des Messias jene Züge fehlen, die zumindest in einem Teil der jüdischen Tradition mit den Aussagen über den Messias verbunden sind.17 Nicht einmal die eschatologisch-apokalyptischen Aussagen in Mk 13 enthalten den Akzent, der ›Menschensohn‹ werde bei seiner Parusie Gericht halten und seine Widersacher vernichten. Er wird vielmehr die »Boten« (Ņččďĕęē) aussenden und seine Auserwählten versammeln (13,27) – das Schicksal der anderen bleibt einfach unerwähnt.

2) Jesus erweist sich aber im Markusevangelium durchaus nicht immer als prinzipiell »gewaltlos« denkend und handelnd. Er verkündet die Nähe der Herrschaft (Čċĝēĕďưċ) Gottes und ruft angesichts dessen zur Umkehr auf (Mk 1,14 f.); die erste dann eingehend erzählte Szene von Jesu Wirken nach der Berufung der ersten Jünger am See Genezareth schildert den Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum (1,21–28). Die Exorzismen setzen voraus, dass es Mächte gibt, die sich von vornherein durch Jesus bedroht fühlen und denen gegenüber Jesus tatsächlich Gewalt anwendet18; Markus bezeichnet sie als »unreine Geister«19, denn er sieht er in ihnen offenbar den Gegentyp zu jenem Geist, der bei der Taufe auf Jesus herabgekommen war (1,10).20 Beim Anblick Jesu schreit das ĚėďȘĖċŁĔƪĒċěĞęė sofort auf: »Du bist gekommen, um uns zu vernichten« (1,24); diese ĚėďƴĖċĞċ wissen also, welches Schicksal ihnen droht.21 Jesus vollzieht den Exorzismus (1,25.26), und daraufhin konstatiert das anwesende Publikum mit höchstem Erstaunen (őĒċĖČƮĒđĝċė), dass »die unreinen Geister« den Befehlen Jesu sofort gehorchen (1,27). Ob das »Austreiben« (őĔČƪĕĕďēė) des unreinen Geistes zugleich dessen endgültige Vernichtung bedeutet, wird allerdings nicht deutlich.22 Gemeinde Jesu Christi und das Problem der Herrschaft. Band 2. Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union zu Barmen IV, Gütersloh 1999, 54–57. 17 Vgl. etwa PsSal 17. 18 Vgl. zu den Exorzismen Jesu Chr. Strecker, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann / B. J. Malina / G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53–63, bes. 60 f. 19 ĚėďȘĖċŁĔĆĒċěĞęė begegnet in sämtlichen mk Exorzismus-Erzählungen, z. T. mehrfach. Markus verwendet auch das Lexem ĎċēĖĦėēęė, freilich meist pluralisch im Zusammenhang eines pauschalen Hinweises auf »die Dämonen« (Ausnahme ist nur 7,26.29). Vgl. dazu C. Wahlen, Jesus and the Impurity of Spirits in the Synoptic Gospels, WUNT II/185, Tübingen 2004, vor allem 69–107. 20 Deshalb ist es eine »unvergebbare« Sünde, wenn Jesu Gegner in 3,30 behaupten: ĚėďȘĖċŁĔƪĒċěĞęėŕġďē. 21 Es macht keinen Unterschied, ob der Ausruf des ĚėďȘĖċ in 1,24 (ţĕĒďĜŁĚęĕƬĝċē ŞĖǬĜ) als eine Frage oder als eine Feststellung aufgefaßt wird; auf der Ebene der mk Erzählung steht natürlich fest, dass Jesus die unreinen ĚėďȘĖċĞċ tatsächlich besiegen wird. In 3,6 wird man erfahren, dass die Pharisäer und die Herodianer Jesus »vernichten« wollen (ƂĚģĜċƉĞƱėŁĚęĕƬĝęğĝēė). 22 Nach der Q-Überlieferung Lk 11,24–26/Mt 12,43–45 ist auch ein aus einem Menschen vertriebenes ĚėďȘĖċŁĔƪĒċěĞęė durchaus noch handlungsfähig.

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In Mk 5,1–20 ergreift der ausführlich in die Erzählung eingeführte ŅėĒěģĚęĜ őė ĚėďƴĖċĞē ŁĔċĒƪěĞȣ unmittelbar nach Jesu Ankunft am ›jenseitigen Ufer‹ des Sees Genezareth die Initiative, indem er Jesus, den »Sohn des höchstenGottes«, beschwört, ihn nicht zu »quälen« (5,7).23 Jesus reagiert in 5,8 mit dem Befehl: ŕĘďĕĒď, fragt dann aber nach dem Namen des ĚėďȘĖċ. Dieses bezeichnet sich als ĕďčēƶė, »weil wir viele sind«24, und dann berichtet der Erzähler, »Legion« habe Jesus darum gebeten, »sie« (ċƉĞƪ Plural!) nicht aus dem (»heidnischen«) Land zu vertreiben (5,10). Erst jetzt (V. 11) erwähnt der Erzähler eine nahebei weidende Schweineherde, und es folgt die vom ĚėďȘĖċ in wörtlicher Rede geäußerte Bitte: »Schicke uns zu den Schweinen, damit wir in sie hineinfahren.«25 Daraufhin stürzt sich die Schweineherde in den See und die Tiere ertrinken; ob damit zugleich auch »Legion« zugrunde geht, macht der Text nicht deutlich.26 Verweist der Name des Dämons »Legion« auf die Römer? Ist die Erzählung eine politisch zu deutende Befreiungsgeschichte?27 Dagegen spricht, dass die Szene im »heidnischen« Land der Gerasener spielt28, von denen Jesu Exorzismus nicht als Befreiungstat wahrgenommen wird, sondern die ihn im Gegenteil darum bitten, er möge ihr Gebiet verlassen (5,17).29

Das Verb ČċĝċėưĐģ begegnet bei Mk sonst nur noch in 6,48 in einem ganz anderen Zusammenhang. 24 Offenbar deshalb ist in 5,12.13 dann pluralisch von den ĚėďƴĖċĞċ die Rede. 25 Das Verb őĘćěġďĝĒē ist fester Bestandteil der mk Exorzismuserzählungen; »Legion« übernimmt diesen Sprachgebrauch, freilich aus der entgegengesetzten Perspektive (ďŭĝćěġďĝĒċē, V. 12, vgl. V. 13). 26 W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus. Kapitel 1–9,1, ÖTK 2/1, Gütersloh und Würzburg 1979, 277 meint, die Dämonen hielten die Schweine »für ein geeignetes Ausweichquartier«, weil sie meinten, so im Lande bleiben zu können; »und wenn Jesus weitergezogen sein wird, steht nichts im Wege, sich neue Opfer zu suchen«. Freilich sehe Jesus das kommende Geschehen voraus, und so sei klar: »Das Land ist von den Dämonen frei.« Aber ist das »Leben« des Dämons an das Leben des von ihm »besetzten« Lebewesens gebunden? 27 G. Theissen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Freiburg Schweiz/ Göttingen 1989, 117: Der Dämon Legion »stellt ein ganzes Heer dar. Seine dringlichste Bitte ist, im Land bleiben zu dürfen – eben das, was auch die römische Besatzungsmacht wollte. Er wird ins Meer gejagt.« Aber wer um das Jahr 70 n. Chr. sollte ein Interesse daran gehabt haben, dass es in der Dekapolis kein römisches Militär gab? 28 Dieser Aspekt wird in der Erzählung mehrfach stark hervorgehoben. Theissen (s. die vorige Anm.), 117 f. erklärt die Bitte der Gerasener, Jesus möge ihr Land verlassen, damit, dass man sich von jeglicher Rebellion gegen die Römer distanzieren wollte: »Man distanzierte sich vom rebellischen Geist der Nachbarregion, tat es aber auf eine humane Art.« Aber inwiefern handelt es sich dann um eine »Befreiungsgeschichte«, wenn die Gerasener gar nicht befreit werden wollen? 29 Nach Schmithals, Markusevangelium I (s. Anm. 26), 279 wiederholen die Gerasener mit ihrer an Jesus gerichteten Bitte »faktisch die Worte des Dämons: ›Was haben wir mit dir zu schaffen‹ … Sie sind keine Atheisten, aber gottlos.« 23

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Die Exorzismen sind nicht als »gewaltlose« Aktionen Jesu zu denken. Das zeigt der Beelzebul-Streit (Mk 3,22–30), in dem Jesus mit dem Vorwurf konfrontiert wird, er treibe die Dämonen mit Hilfe von deren Ņěġģė aus; Jesus reagiert unter anderem mit einem Bild aus der Welt des Politischen: »Wenn eine Čċĝēĕďưċ mit sich selbst uneins wird (őĠdzŒċğĞƭėĖďěēĝĒǼ), kann sie nicht bestehen« (3,24). Offensichtlich ist der Exorzismus ein Kampf zwischen zwei Mächten; Jesus erringt in diesem Kampf den Sieg über die »unreinen Geister«, die zu Satan gehören (vgl. 3,23).30 Die Exorzismen als Siege Jesu über die unreinen Geister sind Akte der Befreiung für die bisher von diesen Geistern besessenen Menschen; vor allem die Erzählung in Mk 5,1–20 zeigt aber, dass der Mensch, der Jesus begegnet, so von dem ĚėďȘĖċŁĔƪĒċěĞęė bestimmt ist, dass er selbst sich durch Jesus bedroht sieht.31 Jesus vollzieht den Exorzismus ausdrücklich gegen den Willen des »besessenen« Menschen.32 Dass er dabei nicht unmittelbar physische Gewalt anwendet, liegt in der »Natur« der Sache: Der bekämpfte Feind ist ja nicht der Mensch, sondern das ĚėďȘĖċ, das natürlich nicht mit physischen Mitteln angegriffen werden kann.33 3) Einige Texte der mk Jesusüberlieferung lassen Vorstellungen erkennen, die man geradezu als »Gewaltphantasien« bezeichnen kann; damit ist nicht gemeint, das in diesen Texten Gesagte sei in der Realität »unmöglich«, sondern gemeint ist, dass die betreffenden Aussagen sich nicht unmittelbar auf empirische Realität beziehen. So folgt im Anschluß an die Ver30

Vgl. Wahlen, Jesus and the Impurity (s. Anm. 19), 104. Ein Bild der Gewaltanwendung liegt auch in der in 3,27 folgenden »Parabel« vom Einbruch in das Haus des »Starken« vor; s. dazu J. Dechow, Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums, WMANT 86, Neukirchen-Vluyn 2000, 82–86. 31 Die Frage, welches (moderne) Krankheitsbild hinter der Vorstellung von der »Besessenheit« eines Menschen steht, braucht in diesem Zusammenhang nicht erörtert zu werden; die Formulierung ŅėĒěģĚęĜőėĚėďƴĖċĞē impliziert, dass nicht der Mensch dieses ĚėďȘĖċ »hat«, sondern dass umgekehrt das ĚėďȘĖċ von dem betreffenden Menschen Besitz ergriffen hat. F. Hartenstein (Response aus alttestamentlicher Perspektive) in dem in Anm. 1 genannten Sammelband sieht in den Exorzismen ein Handeln Jesu »in manchem analog zur Rolle des Chaosbezwingers«, und insofern handele es sich »in der Sicht der Texte sehr wahrscheinlich um Akte ›notwendiger Gewalt‹« (476 f., Hervorhebungen im Original). 32 Dies wird eingehend reflektiert von Schmithals, Markusevangelium I (s. Anm. 25), 269: »Das Dämonische begegnet nicht an sich, das heißt außerhalb des Menschen, sondern nur in und durch den Menschen.« Mensch und Dämon sind nicht identisch, aber »das Böse wirkt nicht anders als im Menschen. Der Mensch kann es nie distanziert als Böses wahrnehmen, sondern nur als sein Böses.« 33 Insofern ist es ein groteskes und zugleich tragisches Mißverständnis, wenn es unter den Bedingungen der Moderne bei angeblichen »Exorzismen« zu Gewaltanwendung und sogar zu Todesfällen kommt; vgl. die Hinweise bei D. Trunk, Der messianische Heiler. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, HBS 3, Freiburg 1994, 1 f.

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heißung, wer einem der Jünger Jesu zu essen gebe, werde gewiß Lohn dafür empfangen (9,41), die Gegenaussage (V.  42), wer einem »dieser kleinen Glaubenden« Anstoß bereite, ihn also zum Abfall vom Glauben verführe34, habe die physische Vernichtung verdient: »Für den wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde.« Das ist ein Bild, dessen konkrete Umsetzung nicht angestrebt wird, auch wenn sie durchaus nicht »undenkbar« ist.35 Jesus als Erzähler schildert in der allegorischen Parabel von den bösen Winzern (Mk 12,1–12) die eskalierende gewaltsame Auseinandersetzung zwischen dem Eigentümer eines Weinbergs und dessen Pächtern um die Zahlung der Pacht. Dabei werden die Sklaven des Eigentümers und schließlich sogar dessen Sohn Opfer von Gewalt; aber am Ende wird der »Herr des Weinbergs« kommen, die Pächter vernichten (ŁĚęĕƬĝďēĞęƳĜčďģěčęƴĜ) und den Weinberg anderen geben (12,9). Die Gewaltanwendung seitens der Pächter steht am Anfang; dann aber wendet der Weinbergbesitzer selber Gewalt an, um die Pächter zu bestrafen. Die Frage nach dem möglichen zeitgeschichtlichen Hintergrund36 der Parabel kann hier offen bleiben; in der jetzt vorliegenden Fassung und im jetzigen Kontext ist sie auf die (Un-) Heilsgeschichte Israels zu beziehen37, wobei der Erzähler auf der Textebene, also der mk Jesus, die Vernichtung der čďģěčęư durch den ĔƴěēęĜĞǻĜ ŁĖĚďĕƶėęĜ offensichtlich gutheißt.38 In der Reihe der Nachfolgeworte im Anschluß an das Wort vom Kreuztragen (Mk 8,34) spricht Jesus in V.  35 ein zweigliedriges Droh- und Verheißungswort aus: »Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert Vgl. G. Stählin, Art. ĝĔƪėĎċĕęėĔĞĕ., ThWNT VII, Stuttgart 1954, 351. Ähnliches gilt für die anschließend in 9,43–48 geforderte Bereitschaft zur Selbstverstümmelung: »Wenn dir deine Hand / dein Fuß / dein Auge zum Anstoß gereicht, so haue sie ab! Es ist besser für dich, dass du verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände / Füße / Augen hast und fährst in die Gehenna.« Gedroht wird hier in V. 48 mit dem nie verlöschenden Feuer (vgl. Jes 66,24). Das so angedrohte irdische Schicksal ist aber immerhin noch »besser« als das, was dem betreffenden Menschen tatsächlich droht, nämlich die ewige Verdammnis. 36 Vgl. dazu U. Mell, Die »anderen« Winzer. Eine exegetische Studie zur Vollmacht Jesu Christi nach Markus 11,27–12,34, WUNT 77, Tübingen 1994, 117–131. 37 Dazu Mell, Winzer (s. die vorige Anm.), 133–168. 38 Nach Hartenstein, Response (s. Anm. 30) 477 ist das Handeln des Besitzers als »legitime Gewalt« anzusehen. Ganz anders Tania Oldenhage, Spiralen der Gewalt (Die bösen Winzer), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 352–366. Sie meint (359), die »Boshaftigkeit der WinzerInnen« habe »ihre Ursache in ungerechten sozialen Verhältnissen. Sie handeln böse, weil sie verzweifelt sind. Gleichzeitig kommt der Weinbergbesitzer in ein moralisch fragwürdiges Licht.« Jedenfalls sei »ein ausbeuterischer, rachegetriebener Großgrundbesitzer … ein merkwürdiges Bild für Gott«, und es sei die Annahme zu hinterfragen, »dass der Gutsherr mit seinen Pachtforderungen im Recht ist. Das, was als normale Geschäftsverhandlung erscheint, muss als Symptom eines ungerechten Wirtschaftssystems erkannt werden« (363). Aber der Text Mk 12,1–12 läßt eine solche Umdeutung kaum zu. 34 35

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um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es retten.«39 Dieser rhetorische Topos gehört ursprünglich in einen militärischen Zusammenhang – es geht um den »Hinweis des Feldherrn, daß derjenige sein Leben zu verlieren pflegt, der es durch die Flucht zu retten sucht, während jeder, der sich mutig dem Kampf stellt, es viel eher rettet«.40 Zwar ist »die Situation der Schlacht … im Neuen Testament nirgends mehr gegeben«, zumal es in Mk 8,35 »auch um das ewige Leben« geht41; aber das Logion kann für sich durchaus im Sinne der »Feldherrnrede« verstanden werden.42

4) In Mk 11,15–19 wird von einer Aktion Jesu berichtet, die oft, freilich sehr mißverständlich, als »Tempelreinigung« bezeichnet wird. Wie ist diese Erzählung zu verstehen? Jesus war unmittelbar nach seinem glanzvollen Einzug in Jerusalem (11,7–10)43 in den Tempel gegangen und hatte sich dort, wie ein Tourist, »alles angesehen« (11,11a)44; am Abend war er zusammen mit den Zwölf zurück nach Bethanien gegangen (11,11b). Beim Verlassen Bethaniens sieht er am folgenden Tag einen Feigenbaum, der keine Frucht trägt, und spricht gegen ihn ein Verfluchungswort (11,12–14), das sich am nächsten Tag als

39 Ein ähnliches Logion ist in Q überliefert (Lk 17,33/Mt 10,39); vgl. außerdem Joh 12,25. 40 J. B. Bauer, »Wer sein Leben retten will …« Mk 8,35 Parr., in: H. Blinzler / O. Kuss/F. Mussner (Hg.), Neutestamentliche Aufsätze. FS Josef Schmid, Regensburg 1963, 7–10. Bauer nennt Belege aus griechischer und römischer Literatur. Ein früher Beleg findet sich beim spartanischen Dichter Tyrtaios fr. 8,11–13, in: Ant. Graeca Lyrica 1, ed. E. Diehl, Leipzig 1949, 13: »Denn die etwas wagen und beieinander bleiben und ins Handgemenge und zu den Vorkämpfern (ĚěęĖƪġęğĜ) gehen, diese sterben seltener, und sie retten das Volk, das hinter ihnen ist« (Übersetzung nach K. Berger / C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament [TNT 1], Göttingen 1987, 58). 41 So Berger / Colpe ebd. 42 Schmithals, Markusevangelium (s. Anm. 25), 392 meint, nach dem apokalyptischen Kontext in der Q-Fassung (Lk 17,33) sei das Logion folgendermaßen zu verstehen: »Wer in der eschatologischen Drangsal Angst um sein (mit dem alten Äon vergehendes) Leben hat, wird im Gericht umkommen; wer sich unbesorgt von dem Alten löst, wird das Leben in der Gottesherrschaft gewinnen.« Auch in dieser Deutung ist aber die erste Aussage jedenfalls als Drohwort gemeint. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 2. Teilband Mt 8–17, EKK I/2, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1990, 145 stellt zu Mt 10,39 fest, der Skopus sei »die Verheißung für den, der um Jesu willen auf sein Leben verzichtet (V. 39b), nicht etwa die Aufforderung zu einer besonderen Anstrengung, zur Askese, zum Mut oder zum Bewahren der Ehre«. Wenn, wie es Luz für wahrscheinlich hält, das Logion ursprünglich auf Jesus zurückgeht, so sei anzunehmen, dass er mit seinem gewaltsamen Tod rechnete und für seine Jünger ein ähnliches Schicksal erwartete (144). 43 Vgl. dazu C.-P. März, »Siehe, dein König kommt zu dir …!« Anmerkungen zu möglichen politischen Implikationen der Einzugsgeschichte, in: W. Ratzmann (Hg.), Religion – Christentum – Gewalt. Einblicke und Perspektiven, Leipzig 2004, 39–55. 44 Die Wendung ĚďěēČĕďĢƪĖďėęĜĚƪėĞċ wird wohl nicht so deuten sein, als habe Jesus die Örtlichkeiten »ausgespäht«, um die für den nächsten Tag geplante Attacke besser vorbereiten zu können.

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verwirklicht erweisen wird (11,20 f.).45 Die »Tempelreinigung« findet in der Zwischenzeit statt, was ein Indiz dafür sein könnte, dass die Verfluchung des Feigenbaumes als Symbolhandlung zu verstehen ist, mit der aus der Perspektive des Markus eine Verwerfung Jerusalems oder des Tempels angezeigt werden soll.46 Jesus kommt mit seinen Begleitern nach Jerusalem (11,15a). Als er (!) in den Tempel hineingeht, beginnt er die dort tätigen Händler und Geldwechsler samt den Opfertieren hinauszutreiben (šěĘċĞęőĔČƪĕĕďēė, 11,15b)47, und »er ließ es nicht zu, dass jemand ein Gerät durch den Tempel trug« (V. 16).48 Anschließend (V. 17) »lehrt« (őĎưĎċĝĔďė) Jesus in Form einer rhetorischen Frage, er handele gemäß dem Schriftwort (čƬčěċĚĞċē) Jes 56,7b: »Mein (sc. Gottes) Haus wird ein Haus des Gebets genannt werden für alle Völker«49 – »ihr« dagegen habt es, wie als Anspielung an Jer 7,11 hinzugefügt wird, zu einer »Räuberhöhle« gemacht. Damit endet die Schilderung des Geschehens. Die ŁěġēďěďȉĜ und die čěċĖĖċĞďȉĜ hören von Jesu Aktion und überlegen, wie sie ihn vernichten könnten; sie fürchten ihn nämlich, weil die Volksmenge von seiner Lehre begeistert war (V. 18).50 Von einer Reaktion der durch Jesu Handeln unmittelbar oder mittelbar Betroffenen berichtet der Text jedoch nichts; Jesus bleibt unbehelligt und verläßt (erst) am Abend mit seinen Jüngern die Stadt (V. 19). Am folgenden Tag gehen sie abermals nach Jerusalem (V. 27a)51, und während Jesus im Tempel umhergeht, kom45 In dem Wort Jesu (11,14) ist vom »Fluch« zwar nicht die Rede, aber Petrus faßt es am anderen Tag so auf (11,21). 46 Petra von Gemünden, Die Verfluchung des Feigenbaums Mk 11,13 f.20 f., WuD 22 (1993) 39–50 meint, die Perikope symbolisiere »einen eschatologischen Machtwechsel. Die alten Herrschaftskreise haben ethisch versagt: Sie bringen keine Früchte. An ihre Stelle tritt der Messias und Menschensohn, der die von Menschen (und Pflanzen) geforderte Fruchtbarkeit wiederherstellen wird« (49). Vgl. W. R. Telford, The Barren Temple and the Withered Tree. A redactional-critical analysis of the Cursing of the FigTree pericope in Mark’s Gospel and its relation to the Cleansing of the Temple tradition, JSNT.S 1, Sheffield 1980. Dagegen betont D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 191, die Erzählung habe »zunächst nur die Funktion, Jesu Vollmacht zu unterstreichen: Was er sagt, geschieht«, wie V 20 bestätigt. 47 Das Verb őĔČƪĕĕďēė wird auch in den Exorzismuserzählungen verwendet; die Wendung šěĘċĞę + Inf. ist redaktionell mk. 48 Der Sinn dieser Aussage ist unklar, wie die zahlreichen unterschiedlichen Erklärungsversuche in der Exegese bestätigen; vgl. das Referat bei R. Pesch, Das Markusevangelium. II. Teil. Kommentar zu Kap. 8,27–16,20, HThKNT II/2, Freiburg 1977, 198; ferner J. Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung, WUNT II/119, Tübingen 2000, 256–265. Mt und Lk haben die Notiz gestrichen. 49 Der Text entspricht wörtlich der LXX-Fassung; der Bezug zu den »Völkern« liegt auch im hebr. Text vor: ĊĆÜòďāîvĉĈîöĉý›ĕâî’ ĆāÛî’đäövėƛÐĆėòƛþ. 50 Vgl. 3,6; 12,12a und auch 1,22. 51 Auf V. 20–25 ist hier nicht weiter einzugehen.

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men die Autoritäten52 und fragen ihn nach seiner őĘęğĝưċ zu solchem Tun (V. 27b.28).53 Jesus antwortet in V. 29–33 darauf nicht oder zumindest nicht direkt.54 Nach der mk Darstellung wendet Jesus bei seiner Tempelaktion zweifellos physische Gewalt an, sowohl gegen Personen (V. 15bċ: »und er begann auszutreiben die Verkäufer und die Käufer im Tempel«) als auch gegen Sachen (V.  15bß: »und die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler stieß er um«). Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass es sich um einen Akt von Vandalismus handelt; Händler und Geldwechsler waren ja nicht Tempelschänder oder Störenfriede, sondern ihre Tätigkeit war eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren des Tempelbetriebes.55 Damit stellt sich die Frage, welche Absicht der Evangelist mit seiner Darstellung verfolgt. Dass das Geschehen nicht so wie im Text geschildert abgelaufen sein kann, liegt auf der Hand.56 Dann aber ist es methodisch problematisch, abweichend vom Text hypothetisch ein »tatsächliches« Geschehen zu konstruieren, das allerdings ganz anders abgelaufen sei als in dem mk Bericht dargestellt.57 Hengel meint, es handele sich um eine »profetische Gleichnishandlung«, die nicht »als bewaffneter Angriff auf den Tempel umgedeutet werden« dürfe; es sei »eine beispielhafte Demonstration gegen den Mißbrauch des Heiligtums zur Bereicherung der führenden Priesterfamilien« gewesen, die Jesu »Frontstellung gegen den sadduzäischen Priesteradel« zeige.58 Davon läßt der mk Text allerdings nichts erkennen; durch das von 52

Hier werden, wie zuvor nur in der ersten Leidensankündigung in Mk 8,31, aber in anderer Reihenfolge, »die Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Ältesten« genannt; vgl. dann aber 14,43.53; 15,1. 53 Die Doppelfrage in 11,28 bezieht sich auf die »Tempelreinigung« und wohl nicht auf die unmittelbar vorangegangene »erfolgreiche« Verfluchung des Feigenbaums. 54 Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 46), 197: »Das ergebnislose Gespräch über Jesu őĘęğĝưċ findet aber doch noch ein Ende mit dem Gleichnis, das Jesus erzählt (12,1b– 9) … So ergibt sich mit 11,27–12,12 eine längere Szene, deren Ende (12) bewußt an 11,18 erinnern soll.« 55 Vgl. zu den historischen Gegebenheiten die Studie von Ådna, (s. Anm. 48), 243–256. 56 Das gilt sogar schon für die altkirchliche Auslegung; s. Christina Metzdorf, Die Tempelaktion Jesu. Patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich, WUNT II/168, Tübingen 2003 (zusammenfassend: 248–251). 57 So verfährt Ådna in seiner Studie (s. Anm. 48), 331 f.; zur Kritik s. A. Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992–2000 (1). Methodendiskussion und Darstellungen übergreifender Themen, ThR 69 (2004) 182–227, hier: 221 f. Zum methodischen Verfahren vgl. vor allem auch J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin / New York 1996, 409: »Man reduziert die Textaussage, bis sie historisch möglich wird. Das ist kaum weit von der rationalistischen Methode entfernt, die Wunder Jesu ›wegzudeuten‹. Also ist es methodisch viel solider, die szenische Unvorstellbarkeit des Textes zu belassen«, mit dem Ergebnis, »daß man die Tempelaktion Jesus absprechen muß«. 58 M. Hengel, Gewalt und Gewaltlosigkeit. Zur ›politischen Theologie‹ in neutestamentlicher Zeit, CwH 118, Stuttgart 1971, 43.

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ihm ausdrücklich als »Lehren« Jesu (ĔċƯőĎưĎċĝĔďė) eingeführte Zitat von Jes 56,7 deutet der Evangelist vielmehr an, Jesus habe auf die von Gott selbst erhobene Forderung hingewiesen, dass der Tempel ein »Haus des Gebets« sein müsse, das allen »Völkern« offen steht.59 Ergebnis: Jesus ist im Markusevangelium primär Prediger und »Therapeut«. Aber es gibt Aussagen, in denen er den Hörern droht; insbesondere die Exorzismen erweisen ihn überdies als einen jedenfalls nicht durchweg »gewaltlos« agierenden Verkündiger der Gottesherrschaft und des Gotteswillens. Nachdem er auch seinen Jüngern Vollmacht über die »unreinen Geister« gegeben hat (6,7), heißt es ausdrücklich, dass sie während ihrer Abwesenheit von Jesus »viele Dämonen ausgetrieben« und Kranke geheilt hätten (6,13). Es gibt aber keinen an sie gerichteten Aufruf, dass sie Menschen gegenüber unmittelbar Gewalt anwenden oder gar ein Wort wie jenes vom Mühlstein (9,42) in die Tat umsetzen sollen. Die von Markus geschilderte »Tempelreinigung« hat offensichtlich das Ziel, die speziell im Opferkult sichtbar werdende exklusive Bindung des Jerusalemer Tempels an Israel zu beenden.60 Um dieses Zieles willen hat Jesus nach mk Darstellung zumindest punktuell Gewalt angewendet61, die aus Sicht des Evangelisten offenbar eine »legitim« angewandte Gewalt ist. Dass Jesus dabei gleichwohl eine Symbolhandlung vollzieht und nicht etwa eine reale Reform des Tempelbetriebs anstrebt, wird schon daraus deutlich, dass er am folgenden Tag erneut den Tempel besucht, in dem vermutlich wieder die früheren Verhältnisse herrschen. Die Schilderung der »Tempelreinigung« wendet sich an Leser, für die der Tempel keine unmittelbare Bedeutung mehr besitzt.

III. Lukasevangelium 1) Lukas sieht zunächst einmal eine enge Verbindung zwischen dem Kommen Jesu und der Verheißung irdischen Friedens: »Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede bei den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen Mk bezieht die Wendung ĚǬĝēėĞęȉĜŕĒėďĝēė sicherlich auf »alle Völker«, nicht nur auf die Heiden. Zum Fehlen der Wendung in Mt 21,13 und in Lk 19,46 s.u. 60 Vgl. M. J. Borg, Conflict, Holiness, and Politics in the Teachings of Jesus, Harrisburg/PA 2. Aufl. 1998, 188 f. 61 Mit dem dann in der Prozessdarstellung berichteten (unberechtigten!) Vorwurf, Jesus habe den Tempel zerstören wollen (14,58), hatte die Aktion nach mk Darstellung nichts zu tun. G. Theissen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land, in: Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, 2. Aufl. Tübingen 1983, 142–159, hier: 142–144 hält die Authentizität des in Mk 14,58 erwähnten Logions Jesu für wahrscheinlich. Vgl. dagegen D. Lührmann, Markus 14,55–64. Christologie und Zerstörung des Tempels im Markusevangelium, NTS 27 (1980/81) 457–474. 59

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hat« (2,14). Zu Beginn der Geburtsgeschichte wird vom Caesar Augustus gesprochen (Lk 2,1), mit dessen Herrschaft sich ja der Glaube verband, es sei das Goldene Zeitalter des Friedens angebrochen62; wenn sein ĎƲčĖċ zur Steuerschätzung63 jenes Geschehen einleitet, das zur Geburt des Messias in Bethlehem und damit zu dem allein wahren und alles umfassenden Frieden führt, dann heißt das im Sinne des Lukas, dass der als nahezu gottgleich geltende Kaiser in Rom in Wahrheit nicht mehr ist als das unwissende Werkzeug in der Hand des allein herrschenden himmlischen Gottes. Eine ähnliche Verbindung zwischen dem Frieden und der Ehre Gottes stellt Lukas auch in seiner Fassung des Berichts vom Einzug Jesu in Jerusalem her: »Gelobt sei der König, der da kommt im Namen des Herrn – im Himmel Friede und Ehre in der Höhe«, ruft die Volksmenge in Lk 19,38, und dabei hat Lukas das Stichwort ›Frieden‹ von sich aus in die Szene eingebracht, denn in der Vorlage Mk 11,9 f. war davon nicht die Rede gewesen. Es ist zwar nicht der irdische Friede, dessen Kommen gepriesen wird, sondern der Friede »im Himmel«; aber dieser himmlische Friede umgreift den Frieden Gottes insgesamt, und so feiern die Menschen den in Jerusalem einziehenden Jesus als den König, der den wahren, alles umfassenden Frieden bringt.

Jesus ist gerade auch im Lukasevangelium mehrfach von Gewalt; so versuchen am Ende der die Predigttätigkeit Jesu einleitenden Episode in Nazareth dessen Bewohner, Jesus zu töten (4,29). Dass zuvor schon Johannes der Täufer ein Opfer der Gewalt des Herodes Antipas geworden war, wird in 3,19 f. knapp angedeutet. Auch Jesus droht Gefahr durch Herodes (13,31); aber er reagiert auf die von »einigen Pharisäern« ausgesprochene Warnung mit dem Hinweis, ein Prophet könne nicht außerhalb Jerusalems umkommen (13,33).64 In 6,22; 12,4 spricht Jesus davon, dass die Jüngergemeinde Opfer »staatlicher« Gewaltanwendung werden kann.65 62 Vgl. J. Bleicken, Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998, 414: Von der Pax Romana als der Schutzherrschaft Roms über die Welt spricht schon Cicero. Tatsächlich schien diese Herrschaft »den immerwährenden Frieden der ganzen Welt« zu bedeuten, und »niemand konnte bestreiten, daß der ›Römische Frieden‹, von dem Cicero sprach, unter Augustus für alle im Römerreich zusammengeschlossenen Menschen tatsächlich begonnen hatte«. 63 Die historische Frage, an welchen ›census‹ Lukas denkt, kann hier unerörtert bleiben. Vgl. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas 1. Teilband Lk 1,1–9,50, EKK III/1, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1989, 118: Eine »weltweite« Steuerschätzung hat es nicht gegeben, und insofern irrt Lukas. Er »trifft aber dennoch die geschichtliche Tendenz der Zeit und des Kaisers narrativ und volkstümlich richtig«, da Augustus in den Provinzen regelmäßige Steuererhebungen durchführen ließ. Möglicherweise steht hinter der lk Darstellung die Erinnerung an den census in Judäa, nachdem dieses zunächst vom Herodessohn Archelaus regierte Territorium auf Bitten seiner Bewohner im Jahre 6 n. Chr. direkt Rom unterstellt worden war. 64 Unmittelbar darauf folgt das Q-Logion mit einer Drohung gegen Jerusalem (Lk 13,34 f. / Mt 23,37–39); vgl. M. Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 494–499. 65 Opfer von (nicht-staatlicher) Gewalt ist der unter die Räuber Gefallene in der Erzäh-

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2) Aber es gibt auch im Lukasevangelium andere Tendenzen, insbesondere in Texten, die der Evangelist aus der Logienquelle Q übernommen hat. Schon in der Täufer-Überlieferung zeigen sich in Lk 3,7–9 (vgl. Mt 3,7–10)66 im Vergleich zu Mk 1,4–8 deutliche Gewaltelemente. Die Gerichtspredigt wird abgeschlossen mit dem Bild von der Axt, die bereits an die Wurzel der Bäume gelegt ist (Lk 3,9, vgl. Mt 3,10)67, und dieses Bild dient offensichtlich dazu, die vorangegangene Umkehrforderung (V.  8: ĚęēƮĝċĞď ęƏė ĔċěĚęƳĜ ŁĘưęğĜ ĞǻĜ ĖďĞċėęưċĜ) durch eine massive Drohung zu verschärfen. Dieselbe Tendenz zeigt das apokalyptische Bild, mit dem der Täufer eine nahe bevorstehende Gewaltanwendung im Endgericht ankündigt (Lk 3,17, vgl. Mt 3,12): »In seiner Hand ist die Worfschaufel (ĞƱĚĞƴęė), und er wird seine Tenne fegen und den Weizen wird er in seine Scheune sammeln, die Spreu dagegen wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen«.68 Mit einer solchen Aussage, die natürlich mehr ist als ein bloßes »Bild«, sollen bei den Adressaten existentielle Ängste ausgelöst werden. Auffallend ist andererseits, dass Johannes in der als lk Sondergut folgenden »Standespredigt« Lk 3,10–14 unterschiedliche Antworten gibt auf die Frage, wie die Umkehrforderung zu verwirklichen sei (ĞưęƏėĚęēƮĝģĖďė). Auf die entsprechende Frage von Soldaten69 reagiert Johannes mit der Weisung: »Tut niemandem Gewalt oder Unrecht (ĖđĎƬėċĎēċĝďưĝđĞďĖđĎƫĝğĔęĠċėĞƮĝđĞď) und laßt euch genügen an eurem Sold!« (ĔċƯŁěĔďȉĝĒďĞęȉĜŽĢģėưęēĜƊĖȥė, V. 14). Die geforderte Tat der Buße scheint also darin zu bestehen, dass die Soldaten die Rechtsordnung des eigenen Standes einhalten sollen, während der soldatische »Stand« als solcher dabei weder kritisiert noch gar grundsätzlich verworfen wird.

Die aus Q stammende »Feldrede« in Lk 6,20–49 enthält Jesu Wort über die Feindesliebe (Lk 6,27, vgl. Mt 5,44) sowie die Aufforderung, »auch die andere Wange hinzuhalten« (Lk 6,29, vgl. Mt 5,39) – also jene Logien, die als charakteristische Belege für die neue, gewaltlose Lebenspraxis der Jesusgruppe gelten. Vom Kontext her zeigt sich allerdings eine etwas andere Tendenz: Dem Gebot des Vergeltungsverzichts (6,29) folgt in 6,31 Q70 die Goldene Regel, eine in der Antike weit verbreitete vulgärethische Forderung, die keine grundsätzlichen Verhaltensnormen aufstellt, sondern lung Jesu in Lk 10,30–35; vgl. dazu U. H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, UTB 2107, Göttingen 1999, 193. 66 Vgl. dazu P. Böhlemann, Jesus und der Täufer. Schlüssel zur Theologie und Ethik des Lukas, MSSNTS 99, Cambridge 1997, 160 f. 67 Dasselbe Logion wird in Mt 7,19 als Jesuswort überliefert: ĚǬėĎƬėĎěęėĖƭĚęēęȘė ĔċěĚƱėĔċĕƱėőĔĔƲĚĞďĞċēĔċƯďŭĜĚȘěČƪĕĕďĞċē. 68 Vgl. Böhlemann, Jesus und der Täufer (s. Anm. 66), 167 f. 69 An wen genau bei den ĝĞěċĞďğƲĖďėęē zu denken ist, läßt sich kaum sagen. Vgl. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 64), 163: Die Frage ist »völlig unerheblich, denn es geht hier einzig und allein um die Frage, wie die Soldaten mit der Zivilbevölkerung umgehen, und die stellt sich immer gleich«. Es ist aber vielleicht nicht doch ganz unwichtig zu wissen, ob sich Lk römische Soldaten als an der Taufe des Johannes interessiert vorstellt oder nicht. 70 Mt hat diesem Logion innerhalb der Bergpredigt einen anderen Ort gegeben und zugleich hinzugefügt, in dieser Regel seien »Gesetz und Propheten« zusammengefaßt (7,12).

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auf der Vorstellung basiert, »es müsse notwendigerweise stets ein Ausgleich zwischen Leistung und Gegenleistung, Tat und Vergeltung stattfinden«.71 Der Q-Vorlage entsprechend wird die Goldene Regel zusätzlich mit dem Hinweis verknüpft, durch solches Verhalten sollten sich die Adressaten bewußt von den łĖċěĞģĕęư unterscheiden, und anschließend wird ihnen »großer Lohn« für solches Handeln verheißen (Lk 6,32–36).72 Offenbar geht es also weniger um prinzipielle Gewaltlosigkeit, sondern der Sprecher plädiert vor allem für ein am »Erfolg« orientiertes Handeln.73 Die dann folgende Warnung vor dem Gericht (Lk 6,37 f.; vgl. Mt 7,1 f.) unterstreicht diesen Aspekt noch. In der Aussendungsrede Lk 10,2–12 Q (vgl. Mt 9,37 f.; 10,7–16)74 mahnt Jesus die Jünger, sie sollten einer Stadt, in der man sie aufnimmt, Frieden zusprechen, Kranke heilen und den Bewohnern die Botschaft von der Nähe der Gottesherrschaft verkündigen: šččēĔďėőĠdzƊĖǬĜŞČċĝēĕďưċĞęȘĒďęȘ (Lk 10,9). Von einer Stadt aber, in der man sie nicht aufnimmt, sollen sie sich mit einer Symbolhandlung trennen (10,10.11a); die jetzt als Abschiedswort fungierende wörtlich nahezu identische Botschaft wird nun zum Gerichtsund Drohwort: »Dies aber wisset, dass die Gottesherrschaft nahe herbeigekommen ist« (10,11b).75 Ausdrücklich wird hinzugefügt, es werde »Sodom an jenem Tage erträglicher ergehen als dieser Stadt« (10,12)76, und dann folgen die in dieselbe Richtung weisenden Weherufe gegen die galiläischen Städte Chorazin, Bethsaida und Kapharnaum (Lk 10,13–15).77 Mit dem Friedensgruß verbindet sich die Vorstellung, dass der in diesem Gruß ausgesprochene Wunsch konkrete Realität wird. Er ist mehr als nur eine äußerliche 71

A. Dihle, Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, SAW 7, Göttingen 1962, 110. 72 In Mt 5,46 f. wird überdies die Differenz gegenüber den Ğďĕȥėċē und den őĒėēĔęư markiert. 73 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband. Mt 1–7, EKK 1/1, 5. Aufl. Düsseldorf und Neukirchen-Vluyn 2002, 511 betont zu Mt 7,12, der Evangelist schließe »mit der Goldenen Regel, die er ja aus der Logienquelle als Jesuswort übernommen hat, den Hauptteil der Bergpredigt ab, ohne daß ihm eine Spannung zwischen ihr und dem Feindesliebegebot bewusst geworden zu sein scheint.« Das gilt ähnlich aber auch für Lk. Vgl. auch Schröter, Gewaltverzicht (s. Anm. 6), 174: Feindesliebe und Vergeltungsverzicht haben ihre Pointe »in der freiwilligen, überraschenden Verdoppelung erlittenen Unrechts. Es ist eine Haltung, die man als ›fundamentale Einseitigkeit‹ [W. Huber] bezeichnen kann und die zu der auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhenden Goldenen Regel im Widerspruch steht.« 74 Vgl. D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle. Anhang: Zur weiteren Überlieferung der Logienquelle, WMANT33, Neukirchen-VIuyn 1969, 59 f. 75 Die meisten Handschriften lesen analog zu V. 9b auch in V. 11 šččēĔďėőĠdzƊĖǬĜ, aber das ist sicher sekundär. 76 Mt bietet in 10,15 den Text in diesem Wortlaut: »Dem Land der Sodomer und Gomorrer wird es am Tage des Gerichts (őėŞĖƬěǪĔěưĝďģĜ) erträglicher ergehen als dieser Stadt«. 77 Vgl. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, 54.

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Geste, sondern er ist vorgestellt als Vermittlung des Friedens, wobei ›Friede‹ im umfassenden Sinne das Bewahrtsein des Menschen in der Welt und zugleich die Versöhnung des Menschen mit Gott meint. Wenn es gelegentlich zum Abschluß einer Erzählung heißt, Jesus habe einen Menschen mit dem Friedensgruß »Geh hin in Frieden« entlassen78, dann meint ›Friede‹ nicht die friedliche Stimmung, in der sich dieser Mensch durch die Begegnung mit Jesus nun möglicherweise befindet, sondern ›Friede‹ bezeichnet die durch diese Begegnung umfassend geschaffene neue Lebensmöglichkeit. Das griechische Wort ďŭěƮėđ entspricht insoweit in diesen Texten unmittelbar dem hebräischen Ċìĉó.

In Lk 13,23–30 Q79 heißt es, am Ende aller Zeit werde ein Verdammungsurteil über die őěčƪĞċēĞǻĜŁĎēĔưċĜ 80 gesprochen werden, und sie würden keinerlei Anteil an der ČċĝēĕďưċĞęȘĒďęȘ erhalten, da nur »die von Osten und von Westen, von Norden und von Süden zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes« (V. 29). Im Rahmen der Q-Fassung des Beelzebul-Streits (Lk 11,14–23/Mt 12,22– 30) steht das einzige Logion der Jesusüberlieferung, in dem die Gegenwart der Čċĝēĕďưċ Gottes ausgesagt und unmittelbar mit dem »Austreiben« der Dämonen verbunden wird: »Wenn ich aber mit dem Finger (Mt: Geist) Gottes die Dämonen austreibe (őĔČƪĕĕģĞƩĎċēĖƲėēċ), so ist die Herrschaft Gottes zu euch gelangt, ŅěċŕĠĒċĝďėőĠdzƊĖǬĜ« (Lk 11,20/Mt 12,28). Hengel hat mit Recht betont, dass in der Jesusüberlieferung nicht gesagt wird, das Kommen der Gottesherrschaft werde »durch revolutionäre Aktionen erzwungen«; denn »die Zeichen der Herrschaft Gottes bestehen nicht in der Ausbreitung des revolutionären Volkskrieges, sondern in Jesu Predigt und seiner heilenden und helfendenTat«.81 Gleichwohl fällt auf, dass nicht die Heilungs- und Hilfewunder Jesu direkt mit seiner Čċĝēĕďưċ-Verkündigung verknüpft werden, sondern eben die Exorzismen, die, wie schon das regelmäßig verwendete Verb őĔČƪĕĕďēė anzeigt, als durchaus »gewalttätige« Handlungen zu verstehen sind.82 Am Ende der Beelzebul-Szene nach Q steht das Wort: »Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut« (Lk 11,23, ebenso Mt 12,30). Solche in scharfer Form polarisierende Redeweise gilt üblicherweise als Kennzeichen eines geradezu ideologischen Aus78

Es gibt allerdings nur drei Belege dafür, die Erzählung von der Heilung der am Blutfluß leidenden Frau (Mk 5,34 par. Lk 8,48) und Jesu Wort am Ende der Erzählung von der Begegnung mit der »großen Sünderin«, von der Jesus gesalbt wird (Lk 7,50). 79 Matthäus hat diese Logien z. T. in die Bergpredigt integriert. 80 Vgl. 1 Makk 3,6: … ĔċƯĚƪėĞďĜęŮőěčƪĞċēĞǻĜŁėęĖưċĜĝğėďĞċěƪġĒđĝċė. In Mt 7,23 heißt es: ŁĚęġģěďȉĞďŁĚdzőĖęȘęŮőěčċĐƲĖďėęēĞƭėŁėęĖưċė, vgl. Ps 6,9 LXX: ŁĚƲĝĞđĞďŁĚdz őĖęȘĚƪėĞďĜęŮőěčċĐƲĖďėęēĞƭėŁėęĖưċė. 81 Hengel, Gewalt und Gewaltlosigkeit (s. Anm. 58), 40. 82 Vgl. M. Labahn, Jesu Exorzismen (Q 11,19–20) und die Erkenntnis der ägyptischen Magier (Ex 8,15), in: A. Lindemann (ed.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 618–633, vor allem 631 f.

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schließlichkeitsanspruchs, nicht zuletzt auch in politischen Zusammenhängen. Das Logion droht nicht unmittelbar mit Gewaltanwendung, aber es propagiert offen das Prinzip der rigiden Trennung der eigenen Gruppe von allen anderen.83 Lukas hat dies kommentarlos übernommen. Wir finden bei ihm allerdings auch das in der Tendenz entgegengesetzte Wort aus Mk 9,40, wo Jesus die Jünger auffordert, einen fremden Exorzisten nicht zu behindern: »Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch« (Lk 9,50). Die Q-Überlieferung vertrat demgegenüber die Position, dass man entweder ganz auf der Seite Jesu steht oder aber im Gegenteil als Feind anzusehen ist. Matthäus ist darin der Logienquelle gefolgt, denn bei ihm begegnet nur das die Abgrenzung so scharf betonende exklusive Q-Logion, während das inklusive Logion aus Mk 9,40 von Matthäus übergangen wurde; er hat ohnehin die ganze Perikope Mk 9,38–41 nicht in sein Evangelium übernommen.

Eine ähnliche Tendenz zeigt das Q-Logion, das von der Unmöglichkeit spricht, zwei Herren zu dienen (Lk 16,13, vgl. Mt 6,24) und das dies konkretisiert durch den Gegensatz von Gott und »Mammon«; auch hier wird ein kompromissloses »Entweder-Oder« ausgesprochen. In Lk 12,49–53 Q (vgl. Mt 10,34–36)84 steht das Wort Jesu, er sei gekommen, um »Feuer« auf die Erde zu werfen (Lk 12,49). In Lk 12,51 (par Mt 10,34) werden die Adressaten dann gefragt, ob sie etwa meinen, Jesus sei gekommen, um auf der Erde (oder: im Land, őėĞǼčǼ) Frieden zu schaffen; vielmehr sei er gekommen, um »Spaltung« (ĎēċĖďěēĝĖƲĜ) zu bringen bzw. »das Schwert« (so Mt 10,34). Die dann folgenden in Anspielung auf Micha 7,6 formulierten Sätze über die Entzweiungen innerhalb der Familie dienen offenbar dazu, diese scharfen Trennungen als geradezu schriftgemäß zu belegen.85 83 Luz, Matthäusevangelium II (s. Anm. 42), 262 meint, das Wort in Mt 12,30 sei ein »Entscheidungsruf«, der sich »an offene und unentschlossene Menschen und nicht an die schon entschiedenen Gegner Jesu richtet«. Dagegen F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband. Lk 9,51–14,35, EKK III/2. Zürich und Neukirchen-Vluyn 1996, 179 zu Lk 11,23: »Als Umkehrung des barmherzigen Ausspruchs über den wohlmeinenden Außenseiter, der in einen anderen Kontext eingefügt ist (9,49–50), hat die fordernde Formel hier ihre Berechtigung. Sie droht den Lauen und Unentschlossenen: ›Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich‹.« 84 Vgl. dazu P. Kristen, Familie, Kreuz und Leben. Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium, MThS 42, Marburg 1995, 141–148. 85 Vgl. dazu Bovon, Lukasevangelium II (s. Anm. 83), 356 f.: »Der lukanische Christus verlangt die Entzweiung nicht. Er fordert die Glieder einer Familie nicht auf, sich gegeneinander zu erheben. Im Gegenteil, er richtet an die Menschen einen Aufruf zugunsten des Evangeliums. Sobald sich das Feuer ausbreitet, ist Neutralität nicht mehr angebracht. Die einen nehmen die frohe Botschaft an, die andern verwerfen sie, und das geschieht sogar im Innern von Familien. Die Existenz des Bösen erklärt, daß eine Botschaft der Liebe Entzweiungen provoziert und das soziale Leben durcheinander bringt. Das Evangelium selber preist den Frieden und die Harmonie.«

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In diesen Worten spiegelt sich die Erfahrung, dass die Entscheidung für Jesus nicht nur den Verlust der bisherigen religiösen Bindungen bedeuten konnte, sondern auch den Verlust von Heimat und Familie sowie das Ende der Zugehörigkeit zur bisherigen Gesellschaftsschicht oder Gruppe, wie es ähnlich ja auch in Mk 10,28–30 ausgesprochen wird. Spaltungen und Konflikte unter den Menschen erscheinen mithin nicht als eine möglichst zu vermeidende, vielleicht aber auch unvermeidliche oder unbeabsichtigte Folge der Sendung Jesu, sondern im Gegenteil geradezu als ein mit dieser Sendung verbundenes Ziel.86 Dazu paßt es, dass die an Mk 8,34 erinnernde Forderung in Lk 14,27/Mt 10,38 Q, man müsse »sein Kreuz« tragen und sich in die Nachfolge Jesu stellen, verbunden ist mit der vorangestellten Aussage, in der Nachfolge Jesu müsse man Vater und Mutter, Ehefrau und Kinder sowie die Geschwister »hassen« (Ėēĝďȉė, Lk 14,26).87 »Haß« bedeutet zwar nicht von vornherein auch Bereitschaft zur Gewaltanwendung; aber insofern Haß jedenfalls das Gegenteil von Liebe ist, kommt in diesem Logion abermals zumindest eine rigide Gruppenideologie zu Wort. Das in den von Lukas aufgenommenen Q-Texten zu beobachtende Gegenüber von geforderter Feindesliebe einerseits und »Haß« andererseits spricht für die Vermutung, dass sich die Träger der Q-Überlieferung in einem scharfen Gegensatz zur übrigen Welt sahen. Zwar gibt es keinen Aufruf, gegen Außenstehende womöglich gewaltsam vorzugehen; aber der Ausschließlichkeitsanspruch ist doch sehr ausgeprägt. 3) Auch im Lukasevangelium gibt es Texte, in denen Vorstellungen entfaltet werden, die durchaus als »Gewaltphantasien« zu bezeichnen sind. In 17,1–2 findet sich, leicht variiert, die aus Mk 9,42 stammende brutale Drohung mit dem Ertränkungstod. Lukas übernimmt auch, mit nur wenigen Änderungen, in 20,9–19 die Parabel von den bösen Weingärtnern aus Mk 12,1–12; im Unterschied zu Markus erzählt Lukas jedoch, dass die Zuhörer auf Jesu Ankündigung, der Weinbergbesitzer werde die Pächter umbringen und den Weinberg anderen geben, ausrufen: ĖƭčƬėęēĞę. Jesus jedoch88 antwortet darauf mit dem Wort vom Eckstein aus Ps 118, wobei er aber, anders als in Mk 12,10 f., nur V. 22 anführt: »Der Stein, welchen die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden« (Lk 20,17), während der in Ps 118,23 folgende Lobpreis (»Vom Herrn her ist dies geschehen, und es ist wunderbar in unseren Augen«) ersetzt ist durch das Drohwort: »Wer auf jenen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen« (20,18). 86

Vgl. Lk 17,33–37/Mt 10,39; 24,40 f.; vgl. Mk 8,36 f. In Mt 10,37 ist die Schärfe des Wortes abgeschwächt: žĠēĕȥėĚċĞƬěċşĖđĞƬěċƊĚƫě őĖƫęƉĔŕĝĞēėĖęğŅĘēęĜ … Dazu Kristen, Familie (s. Anm. 84), 124–140. 88 Ein adversatives ĎƬ hat an dieser Stelle nur Lukas. 87

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Eine ähnliche »Gewaltphantasie« weist bei Lukas auch die ursprünglich wohl aus Q stammende Parabel von den anvertrauten Minen/Talenten auf.89 Die Textfassung Lk 19,12–27 enthält eine zeitgeschichtliche Akzentuierung, die sich von der in Mt 25,14–30 herrschenden »(groß-)bürgerlichen« Atmosphäre unterscheidet; zwar wird auch bei Matthäus der »unbrauchbare ĎęȘĕęĜ«, der nicht für eine Vermehrung der Talente gesorgt hatte, in »die äußerste Finsternis hinausgestoßen« (Mt 25,30), also der endgültigen Verdammnis anheimgegeben; aber in der lk Fassung geht das Bild insofern darüber hinaus, als der ŅėĒěģĚƲĜĞēĜďƉčďėƮĜ, der ausgezogen war, um die Königsherrschaft zu erlangen, bei seiner Rückkehr den Befehl gibt, die Feinde, die sich seinen Plänen widersetzt hatten (19,14), »abzuschlachten« (19,27). Sollte diese Parabel tatsächlich das letzte Überlieferungsstück in Q vor dem abschließenden Logion Lk 22,30/Mt 19,28 gewesen sein, wie es die Textfolge bei Lukas nahelegt90, so wäre das ein starkes Indiz dafür, dass Jesu Zusage, die Jünger würden in der Endzeit auf Thronen sitzen als ĔěưėęėĞďĜ über die zwölf Stämme Israels, eher im Sinne des Richtens als des Regierens zu verstehen ist.91

In Lk 13,1–5 (Sondergut) erfährt Jesus vom Schicksal der Galiläer, die auf Befehl des Pilatus während ihrer Opferhandlung ermordet wurden, und er sagt dazu, diese Menschen seien keine größeren Sünder gewesen als alle anderen Galiläer; »aber«, so fügt er hinzu, »wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen (ŁĚęĕďȉĝĒď)«. Dasselbe gelte angesichts des Einsturzes des Turms von Siloah, bei dem 18 Menschen ums Leben kamen: Diese Menschen waren nicht »sündiger« als alle anderen Einwohner Jerusalems; und doch gilt auch hier: őƩėĖƭĖďĞċėęǻĞďĚƪėĞďĜƚĝċƴĞģĜŁĚęĕďȉĝĒď (13,5). Wird damit ein gewaltsames Schicksal jenen Menschen angedroht, die nicht im Sinne der Bußpredigt Jesu zur Umkehr bereit sind?92 In Lk 14,28–32 beschreibt Jesus in zwei Bildern die Notwendigkeit eines planerisch-vorausschauenden Handelns. Zuerst (14,28–30) geht es darum, dass die Kosten für einen Turmbau genau kalkuliert werden müssen. Doch dann (V. 31 f.) ist von einem König die Rede, der gegen einen anderen König 89

S. dazu A. Denaux, The Parable of the Talents / Pounds (Q 19,12–27). A Reconstruction of the Q-Text, in: Lindemann (ed.), Sayings Source (s. Anm. 82), 429–460. 90 Vgl. Lührmann, Redaktion (s. Anm. 74), 75. 91 Vgl. J. Verheyden, The Conclusion of Q. Eschatology in Q, in: Lindemann (ed.), Sayings Source (s. Anm. 82), 695–718. 92 Vgl. G. Petzke, Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas, ZWKB, Zürich 1990, 124: »Jederzeit kann es für den einzelnen Menschen durch ein unvorhergesehenes Ereignis zu spät sein. Unausgesprochen spielt der Zeitfaktor eine Rolle – allerdings nicht auf das allgemeine Gericht des Weltendes bezogen, sondern auf den individuellen Tod.« Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 64), 476 betont, dass hier der Zusammenhang von Tun und Ergehen, von Sünde und Unheil besteht; neu ist das »christologische Profil«: »Ob jemand vor Gott als Sünder dasteht oder nicht, hängt einzig und allein davon ab, wie er oder sie auf Jesu Aufforderung zur Umkehr reagieren«.

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Krieg vorbereitet, angesichts seiner zahlenmäßigen militärischen Unterlegenheit jedoch um Frieden bittet; das Bild vom Kriegführen wird auffallend wenig problembewußt eingesetzt.93 In einer Nachbemerkung (V. 33) heißt es dann lapidar: »So kann also jeder von euch, der sich nicht lossagt von allem, was ihm gehört, nicht mein Jünger sein.«94 In Lk 9,53 ff. fragen die Jünger, ob sie physische Gewalt anwenden sollen, indem sie auf das ihnen Obdach verweigernde »ungastliche« Samaritanerdorf Feuer herabrufen.95 Jesus weist das zurück (V. 55: ĝĞěċĠďƯĜĎƫőĚďĞưĖđĝďėċƉĞęȉĜ); aber die diese Haltung begründende Aussage »Ihr wißt nicht, welches Geistes [Kinder] ihr seid« findet sich sekundär erst in späterer Textüberlieferung.96

4) Der lk Jesus spricht von der (auf der Erzählebene natürlich bevorstehenden) Zerstörung Jerusalems und des Tempels in auffallender Deutlichkeit und Schärfe. Er sagt im Anschluß an seinen Einzug in Jerusalem (19,37 f.) und unmittelbar vor der in 19,45 f. folgenden »Tempelreinigung« beim Anblick der Stadt unter Tränen: »Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tage, was zum Frieden dient; jetzt aber ist es verborgen vor deinen Augen« (V.  41.42); dann folgt eine Prophezeiung über das bevorstehende militärische Schicksal der Stadt (V.  43.44a). Dazu heißt es dann als erläuternde Begründung (V.  44b): »Weil du nicht erkannt hast den Zeitpunkt deiner Heimsuchung« (ŁėĒdzƠėęƉĔŕčėģĜĞƱėĔċēěƱėĞǻĜőĚēĝĔęĚǻĜĝęğ). Die zur Zeit des Lukas bereits geschehene Zerstörung Jerusalems wird also explizit als Folge der Verwerfung Jesu verstanden. In der an Mk 13 orientierten apokalyptischen Rede Lk 21,5–38 heißt es eingangs in V. 6 in Übernahme von Mk 13,2: »Es werden Tage kommen, an denen nicht ein Stein auf dem andern gelassen werden wird, der nicht zerbrochen wird.« Doch dann setzt 93

Der zuerst erwähnte König scheint einen Angriffskrieg zu planen: darauf deutet die Wendung ĚęěďğƲĖďėęĜŒĞƬěȣČċĝēĕďȉĝğĖČċĕďȉėďŭĜĚƲĕďĖęė. Zu ĝğĖČƪĕĕďēė in dieser Bedeutung s. 2 Makk 8,23;14,17. Vgl. aber Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 64), 519, der aus der Schlußwendung in V. 31 (őěġęĖƬėȣőĚdzċƉĞƲė) folgert, der zuerste genannte König sei der angegriffene, und dieser komme nach Prüfung seiner militärischen Stärke zu dem Ergebnis, um Frieden zu bitten. 94 Zu der betonten Forderung, alles aufzugeben, vgl. J. Fitzmyer, The Gospel According to Luke (X–XXIV). Introduction, Translation, and Notes, AncB, New York 1985, 1062 f., der zur Illustration auf die »idyllic summaries« in Apg 2,42–47; 4,32–37 und auf das Gegenbild in Apg 5,1–11 verweist. 95 Die Frage der Jünger in Lk 9,54 (ďűĚģĖďė ĚȘě ĔċĞċČǻėċē ŁĚƱ ĞęȘ ęƉěċėęȘ ĔċƯ ŁėċĕȥĝċēċƉĞęƴĜ »Feuer soll vom Himmel herabkommen und sie vernichten«) enthält vermutlich eine Anspielung auf 2 Kön 1,10.12 (Elia läßt Feuer herabfallen auf den Hauptmann und die 50 Männer, die ihn zum König Ahasja bringen sollen, ĔċĞƬČđĚȘěőĔĞęȘ ęƉěċėęȘ ĔċƯ ĔċĞƬĠċčďė ċƉĞƱė ĔċƯ ĞęƳĜ ĚďėĞƮĔęėĞċ ċƉĞęğ). Zahlreiche Handschriften (A C D W ó Mehrheitstext) weisen in Lk 9,54 ausdrücklich auf diesen Zusammenhang hin: ƚĜĔċƯťĕưċĜőĚęưđĝďė. 96 Codices D K îó. D bietet zuvor den Verweis auf die Elia-Szene; offensichtlich soll ein Gegensatz zwischen Elia und Jesus herausgestellt werden.

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Lukas im weiteren Verlauf der Rede in V. 20–24 einen besonderen Akzent, indem er Jesus geradezu die militärische Lage gegen Ende des Jüdischen Krieges in Jerusalem vorhersagen läßt (V. 20): »Wenn ihr aber seht Jerusalem ringsum von Heeren belagert, dann erkennt, dass seine Verwüstung nahe herbeigekommen ist.«97 Lukas hat den Wortlaut der Rede Jesu gegenüber Mk 13 im ganzen stark modifiziert; lediglich der Weheruf in Lk 21,23a entspricht wörtlich Mk 13,17, aber die genaue Schilderung der kriegerischen Entwicklung ist lk Sondergut bzw. Redaktion. Auch bei Lukas kündigt Jesus nicht eine von ihm selbst vollzogene Zerstörung des Tempels an.

Die eigentliche »Tempelreinigung« ist gegenüber dem Mk-Text erheblich verkürzt geschildert (Lk 19,45 f.); es fehlen die Notiz aus Mk 11,11 über den vorangegangenen »touristischen« Besuch Jesu im Tempel und ebenso die das Tempelgeschehen rahmende Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12– 14.20–25). Die plastische Schilderung der Aktion Jesu in Mk 11,15 ist in Lk 19,45 reduziert auf eine knappe Notiz: »Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler hinauszutreiben«98; die für Lukas offenbar unverständliche Bemerkung aus Mk 11,16 ist entfallen. Im Zitat von Jes 56,7 heißt es in Lk 19,46a nur: »Mein Haus wird / soll (ŕĝĞċē) ein Bethaus sein«99; die Näherbestimmung »für alle Völker« hat Lukas vermutlich deshalb gestrichen, weil für ihn die Öffnung hin zu den ŕĒėđ in die nachösterliche Kirchengeschichte und nicht in die Zeit Jesu gehört.100 Lukas hat Jesu Tempelaktion möglicherweise auch deshalb so verkürzt, weil er in Lk 1 und vor allem auch in 2,22–39 sowie 2,41–50 den Tempel ausgesprochen positiv geschildert hatte. Eine direkte Reaktion auf die »Tempelreinigung« gibt es auch bei Lukas nicht; Jesus lehrt weiter »täglich im Tempel« (19,47a)101, während die Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die »Ersten des Volkes« danach trachten, ihn umzubringen (őĐƮĞęğėċƉĞƱėŁĚęĕƬĝċē, 19,47b), ohne dafür jedoch eine Möglichkeit zu finden, weil das ganze Volk begierig auf ihn hörte (19,48). Diese Schilderung wird in 20,1a wiederholt, und dann stellen in 20,1b.2 »die Hohenpriester und die Schriftgelehrten samt den Ältesten« Jesus die Frage nach seiner Vollmacht, die sich nicht allein auf die Tempel97 Der Redeabschnitt ist aus Mk 13,14–20 übernommen, aber die dortige apokalyptische Terminologie ist getilgt; die Formulierung ŞőěƮĖģĝēĜċƉĞǻĜ in Lk 21,20 meint etwas anderes als das ČĎƬĕğčĖċĞǻĜőěđĖƶĝďģĜ in Mk 13,14. 98 Diese Verkürzung gegenüber Mk 11,15 ist um so auffälliger, als Lk 19,45 mit Mk 11,15a wörtlich übereinstimmt. In der handschriftlichen Überlieferung ist der Lk-Text z. T. geringfügig (Codices A C ó und Mehrheitstext), z. T. aber auch erheblich (Codex D) erweitert worden. 99 Warum Lk die Wendung ĔĕđĒĈĝďĞċē aus Jes 56,7 LXX (= Mk 11,17) ersetzt hat durch ŕĝĞċē, ist nicht erkennbar. Wollte er den Gedanken ausschließen, der Tempel werde lediglich als Bethaus »bezeichnet«, sei es aber nicht wirklich? 100 Die Anspielung auf Jer 7,11 (Mk 11,17b) ist in 19,46b fast unverändert geblieben. 101 Die Formulierung in 19,47a (ĔċƯţėĎēĎƪĝĔģėĞƱĔċĒdzŞĖƬěċėőėĞȦŮďěȦ) hat Lk offenbar aus der Redeeinleitung in Mk 11,17 (ĔċƯ őĎưĎċĝĔďė ĔċƯ ŕĕďčďė ċƉĞęȉĜ ĔĞĕ.) gewonnen; vgl. auch Lk 20,1a.

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aktion bezieht, sondern auf Jesu Lehr- und Verkündigungstätigkeit überhaupt.102 Ergebnis: Auch im Lukasevangelium gibt es Texte, die von Androhung oder Anwendung von Gewalt sprechen – sowohl in Übernahme von Mkund Q-Tradition wie auch im lk Sondergut. Jesus weiß im dritten Evangelium von dem bevorstehenden gewaltsamen Schicksal Jerusalems und seiner Menschen; aber er selber hat daran keinerlei Anteil, nicht einmal im Sinne einer Symbolhandlung. Jesus hat im Gegenteil immer wieder gewarnt und zur Umkehr gemahnt, doch die herrschenden Kreise wollten nicht auf ihn hören.

IV. Matthäusevangelium 1) Bei Matthäus ist Jesus in besonderer Weise als ein durch Gewalt bedrohter Mensch dargestellt. Das zeigt eindrücklich die Überlieferung von dem durch Herodes befohlenen Kindermord in und bei Bethlehem (2,16), in 2,17 f. gedeutet durch das Zitat von Jer 31,15: »Ein Geschrei (ĠģėƮ) wurde in Rama gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie sind nicht mehr.« Das Morden geschah aber nicht, damit die Schrift erfüllt werde, sondern durch dieses Morden wurde das Prophetenwort tatsächlich erfüllt (2,17a). Unabhängig von der Frage der Historizität der Überlieferung ist klar, dass der Evangelist derartige Gewalthandlungen des Herodes jedenfalls für möglich hält. Aus Mk 6,17–29 übernimmt Matthäus die Erzählung vom Tod des Täufers (14,1–12); da dieser Bericht aber anders als bei Markus nicht in die Szene der Aussendung und der Rückkehr der Jünger eingebunden ist, erscheint die sich sofort anschließende Bootsfahrt ďŭĜŕěđĖęėĞƲĚęė mit der Speisung der Fünftausend (14,13–21 par Mk 6,31–44) geradezu als Flucht Jesu vor einer auch ihm von Herodes Antipas drohenden Gefahr.103 2) Das Matthäusevangelium enthält deutliche Aspekte der Androhung und sogar Anwendung von Gewalt durch Jesus. Der bei Markus beobachtete »gewaltsame« Aspekt des Handelns Jesu gegenüber den »unreinen Geistern« ist weitgehend beibehalten worden104; Matthäus hat allerdings die 102 Vgl. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, 5. Aufl. Tübingen 1964, 71: »Die Reinigung ist nicht mehr eschatologisches Zeichen, sondern Mittel der Besitzergreifung, hat also keinen Eigen-Sinn mehr. Lc 20,2 hat nunmehr (anders als Mc 11,28) wieder eine straffe Beziehung.« 103 Jesus reagiert mit seinem Aufbruch unmittelbar auf die Information, die er von den Täuferjüngern erhalten hatte (14,12b.13a: ĔċƯőĕĒƲėĞďĜŁĚƮččďēĕċėĞȦŵđĝęȘ.ŁĔęƴĝċĜĎƫ žŵđĝęȘĜŁėďġƶěđĝďėőĔďȉĒďėĔĞĕ.). 104 Vgl. Wahlen, Jesus and the Impurity (s. Anm. 19), 108–139.

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Exorzismuserzählung Mk 1,21–28 nicht übernommen, so dass der geradezu programmatische Akzent, den diese Szene bei Markus hat, entfallen ist.105 In dem Summar Mt 4,23–25 heißt es, Jesus habe »jede Krankheit und jede Schwäche (ĖċĕċĔưċ) im Volk geheilt« (V. 23), und so habe man alle Kranken, Behinderten und »Besessenen«106 zu ihm gebracht. Dazu heißt es in V. 24 zusammenfassend, Jesus habe sie »geheilt« (őĒďěƪĚďğĝďėċƉĞęƴĜ), während Markus zwischen dem ĒďěċĚďƴďēė der Kranken und dem őĔČƪĕĕďēė der Dämonen bzw. der unreinen Geister klar unterscheidet (Mk 1,34; vgl. 1,39; 3,10.15; 6,13). In der gegenüber Markus erheblich umgestalteten, vor allem verkürzten Szene mit den beiden besessenen Gadarenern (Mt 8,28–34)107 ist der Akzent erhalten geblieben, dass die ĎċēĖęėēĐƲĖďėęē beim Anblick Jesu aufschreien: »Was haben wir mit dir zu schaffen (ĞưŞĖȉėĔċƯĝęē, vgl. Mk 1,24), Sohn Gottes? Bist du hierhergekommen, um uns vor der Zeit (ĚěƱ ĔċēěęȘ) zu quälen?«108 Die beiden Männer fürchten sich also davor, dass Jesus ihnen gegenüber Gewalt anwenden wird. 3) Das Thema »Gewalt / Gewaltlosigkeit« begegnet bei Matthäus vor allem in der Bergpredigt.109 In Mt 5,5 werden die ĚěċďȉĜ selig gepriesen, und es wird ihnen mit einem nahezu wörtlich genauen Zitat von Ps 36,11a LXX das »Erben« des »Landes« (oder: der »Erde«) verheißen. Damit könnte Matthäus im Blick auf seine eigene Zeit gemeint haben, dass es gerade nicht die zur Gewaltanwendung bereiten Menschen sind, die über das Land (Israel) herrschen werden, sondern eben jene ĚěċďȉĜ, die schon in dem Psalm gepriesen werden. Faßt man den Makarismus dagegen eschatologisch auf, was vom Kontext her näher liegt, so wird den ĚěċďȉĜ verheißen, sie würden jene Erde »erben«, über die der auferstandene Jesus nach Mt 28,18 ĚǬĝċ 105

Vgl. dazu Trunk, Der messianische Heiler (s. Anm. 33), 236–241. Ausdrücklich werden ĎċēĖęėēĐĦĖďėęē und ĝďĕđėēċĐĦĖďėęē nebeneinander genannt, also nicht identifiziert. 107 So ja bei Mt anstelle des einen Besessenen in Gerasa bei Mk. 108 Die Frageform geht nach W. D. Davies / D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew. Vol. II, Commentary on Matthew VIII–XVIII, ICC, Edinburgh 1991, 81 darauf zurück, dass man bei Mt zwar Fragen an Jesus richten dürfe, »but one should never dream of telling him what to do«. Die Erwähnung des ĔċēěĦĜ verweise auf eine neue Dimension: »›the time‹ refers to the great assize, when evil spirits, along with wicked human begings, will receive recompense from Jesus, the Son of Man«; es liege ein Aspekt der »realized eschatology« vor, insofern der Richter bereits erschienen und das Böse bereits bestraft ist (81 f.). 109 Die durch H. D. Betz angestoßene Frage, ob die Bergpredigt redaktionell auf Mt zurückgeht oder aber ein theologisch und literarisch eigenständiger Text ist, braucht an dieser Stelle nicht erörtert zu werden; vgl. dazu A. Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992–2000. V: Das Matthäusevangelium (Teil 2), ThR 70 (2005) 338–382, hier: 376–379. 106

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őĘęğĝưċ besitzt.110 In 5,9 wird den Friedensstiftern verheißen, sie würden als ğŮęƯĒďęȘ bezeichnet werden.111 Dieser Makarismus geht offenbar von der Erfahrung aus, dass es Krieg, Gewalt, Haß und Konflikte gibt und dass der Unfriede durch das Bemühen um die konkrete Verwirklichung des Friedens zu überwinden ist. Denen, die so handeln, wird verheißen, sie würden »Gottes Söhne« sein – es wird ihnen also Gottes endzeitliche (und damit zugleich auch schon gegenwärtige) Zuwendung zugesprochen. An eine Friedensstiftung im dezidiert politischen Sinne wird nicht gedacht sein, denn weder Jesus noch die ihm Nachfolgenden konnten in einem politischen oder militärischen Konflikt konkret als Friedensstifter handeln; wenn ›Friede‹ aber verstanden wird als Herstellung neuer Lebensmöglichkeit des Menschen in der Welt, so bekommt das Wort ďŭěđėęĚęēƲĜ seinen besonderen Akzent: Selig gepriesen werden Menschen, die dort, wo sie unmittelbar für den Frieden handeln können, auch tatsächlich entsprechend handeln  – und wäre dies ein noch so begrenzter Bereich. »Gemeint sind jeweils konkrete Schritte in zwischenmenschlichen Beziehungen«.112 Im Rahmen der ›Antithesen‹ wird eingangs (5,21–26) als Auslegung des sechsten Dekalog-Gebots gefordert, die Praxis der Versöhnung müsse allem anderen vorangehen. Der diesen Gedankengang abschließende Hinweis auf den empfehlenswerten Umgang mit dem ŁėĞưĎēĔęĜ (V.  25 f.) enthält aber auch den Akzent, dass solche Versöhnungsbereitschaft nicht zuletzt auch dem eigenen Nutzen dienen wird. Als fünfte Antithese steht in 5,38–42 die aus Q stammende Mahnung, man solle auch »die andere Wange hinhalten«113, man solle also entgegen der biblischen Talionsregel dem Bösen114 keinen Widerstand leisten. Dann aber setzt die sechste Antithese (5,43–48) das ebenfalls aus Q übernommene Feindesliebegebot erstaunlicherweise in einen Widerspruch zum biblischen Gebot der Nächstenliebe, insofern dieses verknüpft wird mit dem  – angeblich ebenfalls biblischen  – Gebot, den Feind zu hassen (5,43 f.). Damit wird ein Gegensatz aufgerichtet, der in der biblischen Überlieferung nicht vorhanden ist.115 Die Weisung »Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen« (Mt 5,43 f.) basiert auf der 110

Vgl. dazu: Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament (s. oben 149–189, hier: 180–

183).

111

Für diese Aussage gibt es keine biblische Grundlage. Luz, Matthäusevangelium I (s. Anm. 73), 287. 113 Vgl. dazu M. Konradt, »… damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet«. Erwägungen zur »Logik« von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38–48, in: W. Dietrich/W. Lienemann (Hg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 70–92, vor allem 78–90. 114 Ob ĞȦĚęėđěȦ mask. (»der Böse«) oder neutr. (»das Böse«) zu verstehen ist, läßt sich nicht sagen. 115 Vgl. dazu D. Lührmann, Liebet eure Feinde (Lk 6,27–36/Mt 5,39–48), ZThK 69 (1972) 412–438. 112

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Erfahrung, dass es Feinde und Verfolger tatsächlich gibt; Jesus ruft dazu auf, solche tatsächlich vorhandene Feindschaft zu überwinden durch die Liebe, das heißt durch die Zuwendung zum Feind. Matthäus übernimmt aus Q die eschatologischen Weherufe über die galiläischen Städte Chorazin, Bethsaida und Kapharnaum (11,20–24/Lk 10,13–15), eingeleitet mit der Bemerkung, damit habe Jesus »begonnen, diese Städte zu schmähen«.116 Das Drohwort gegen Kapharnaum (11,23b) enthält durch den Vergleich mit Sodom implizit die Ansage der Zerstörung der Stadt, spätestens am Tage des Gerichts (őėŞĖƬěǪĔěưĝďģĜ, V. 24). Dass Jesu Jünger in Gefahr geraten können, wird deutlich in der Jüngerrede Mt 10, in der eschatologische Aussagen aus der apokalyptischen Rede Mk 13 in die geschichtliche Erfahrungswelt der Gemeinde übertragen werden. Das gilt für die in Mk 13,9–11 geschilderte Gerichtsszene, die in Mt 10,17–20 gleichsam »vergegenwärtigt« ist; es gilt ebenso für die Beschreibung der Auflösung der familiären Beziehungen in Mt 10,21 f. (vgl. Mk 13,12). Offensichtlich will Matthäus sagen, es gehöre zur Erfahrung der Menschen und sei nicht erst ein Phänomen der Endzeit, dass sie um Jesu willen Opfer von Verfolgung und Haß werden können.

Dieser Aspekt wird noch dadurch verstärkt, dass Matthäus die aus Q stammende Aussage über das Ziel des Kommens Jesu in die Jüngerrede Mt 10 integriert hat (V.  34): »Meint nicht, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.«117 Damit ist nicht gemeint, dass Jesus und die Seinen selber das Schwert führen; aber ein Beitrag zum Frieden wird die Aussendung der Jünger offenbar auch nicht sein. Entsprechend der Q-Vorlage zitiert der mt Jesus in 10,35 die Aussagen aus Micha 7,6 über die Spaltung und die Zerstörung der familiären Bindungen; in V. 36 übernimmt Matthäus aber auch die den Micha-Text abschließende Ankündigung: »Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.« Es folgen das Wort über die kritische Beziehung zur Familie (10,37: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert«) und auch die sowohl in Q als auch bei Mk überlieferten Nachfolgeworte über das Kreuztragen118 und über den Einsatz des Lebens.119 Offenbar spiegelt sich hier die Gemeindesituation des Evangelisten.

116 Das Verb ŽėďēĎưĐģ begegnet bei Mt sonst nur in 5,11 (vgl. Lk 6,22) und 27,44 (vgl. Mk 15,32), d.h. es wird nur hier in 11,20 redaktionell verwendet. 117 Vgl. Lk 12,51 ff. 118 Mt 10,38/Lk 14,27; vgl. Mk 8,34 par Mt 16,24 und Lk 9,23. 119 Mt 10,39/Lk 17,33; vgl. Mk 8,35 par Mt 16,25 und Lk 9,24.

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Eine »Gewaltphantasie« enthält die mt Fassung der möglicherweise aus Q stammenden Parabel vom Gastmahl (Mt 22,2–10, vgl. Lk 14,16–24).120 Jesus erzählt, dass die zum (Hochzeits-)Mahl des Königssohnes Eingeladenen die wiederholte Einladung nicht nur abgelehnt, sondern gegenüber den Sklaven des Königs Gewalt ausgeübt und sie sogar getötet haben (22,6). Daraufhin wurde der König zornig (ƙěčưĝĒđ) und schickte seine Armeen aus, und »er vernichtete (ŁĚƶĕďĝďė) jene Mörder und verbrannte ihre Stadt« (22,7). Dass hier das Schicksal Jerusalems im Jahre 70 reflektiert wird, liegt auf der Hand121; dabei fällt auf, dass das Handeln des Königs als gerechtfertigt erscheint. Matthäus hatte offenbar keine Bedenken, dem ihm überlieferten Gleichnis eine solche Illustration der (Un-)Heilsgeschichte Israels einzufügen; der so erzählte Handlungsablauf dürfte redaktionell auf Matthäus zurückgehen, während in der Lukas-Fassung die ursprünglich vorgesehenen Gäste die Einladung zum Mahl lediglich zurückweisen und sich der Gastgeber dann darauf beschränkt, andere Gäste in sein Haus zu holen.122 Ein ähnlich gewalttätiger Akzent wird von Matthäus dann nochmals im Anhang der Parabel gesetzt (22,11–14), wenn der König befiehlt, den Gast, der kein hochzeitliches Gewand trägt, zu fesseln und in die »äußerste Finsternis« hinauszuwerfen (őĔČƪĕďĞďċƉĞƲė). In dem gegen die Pharisäer gerichteten Eingangsabschnitt seiner letzten Rede (Mt 23,1–26,1) wiederholt Jesus in 23,33 fast wörtlich die Anklage, die der Täufer in seiner Gerichtspredigt in 3,7b vorgebracht hatte. Auch die Gerichtsansage in dem die Rede abschließenden großen Bild vom Endgericht (Mt 25,31–46) ist von außerordentlicher Schärfe, wenn »denen zur Linken« gesagt wird, sie als die Verfluchten müßten hineingehen in das dem Teufel und seinen Boten bereitete »ewige Feuer« (V. 41). 120

Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband Mt 18–25, EKK I/3), Zürich und Neukirchen-Vluyn 1997, 233: »Ob hinter diesen Versen ein Q-Text steht, ist mehr als unsicher … Ein beiden Fassungen gemeinsamer Wortlaut ist nicht zu rekonstruieren.« Zum Begriff »Gewaltphantasie« s. oben S. 200 f. 121 Dazu Luz, Matthäusevangelium III (s. die vorige Anm.), 242: »Das entspricht dem Denkmodell der deuteronomistischen Prophetenmordtradition und kann in jüdischen Aussagen, die die Zerstörung Jerusalems reflektieren, ähnlich zugespitzt und pauschal formuliert werden.« Ganz anders Luise Schottroff, Verheißung für alle Völker (Von der königlichen Hochzeit), in: Zimmermann (Hg.), Kompendium (s. Anm. 38), 479–487, hier: 485. Sie »schlägt vor«, die Parabel V. 3–13 »nicht als bildliche Darstellung des Handelns Gottes zu lesen, sondern als Erzählung über Gewalterfahrungen in der Lebenswelt jüdischer und anderer Menschen unter römischer Herrschaft«; Gott sei gerade nicht so wie dieser König. Die Frage bleibe offen, »ob die Zuhörenden die Strafaktion mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. identifizieren sollen» (483). 122 Die im Zusammenhang der zweiten Einladung an den ĎęȘĕęĜ ergehende Weisung, er solle die Menschen »zwingen«, in das Haus »hineinzukommen« (ŁėċčĔƪĝęėďŭĝďĕĒďȉė, Lk 14,23), ist entgegen mancher späteren kirchlichen Auslegung (cogite intrare) nicht gewalttätig gemeint. Das Verb ŁėċčĔƪĐģ ist auch in Mk 6,45 gebraucht, wo Jesus die Jünger auffordert, ins Boot zu steigen.

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4) In der Perikope von der »Tempelreinigung« verändert Matthäus im Kontext von 21,10–22 die Vorlage aus Mk 11,11–25 insofern, als er nicht einen ersten (»touristischen«) Aufenthalt Jesu im Tempel (Mk 11,11) von der erst einen Tag später erfolgenden Aktion im Tempel (Mk 11,15–19) unterscheidet. Anders als bei Markus wird Jesus in Jerusalem von den Ɓġĕęē als »der Prophet« begrüßt (21,11)123, er geht sofort in den Tempel und treibt alle Verkäufer und Käufer hinaus124, wobei er die Verheißung aus Jes 56,7 zitiert, verbunden mit der Anspielung auf Jer 7,11; den Hinweis auf »die Völker« (Jes 56,7 LXX: ĚǬĝēė ĞęȉĜ ŕĒėďĝēė) läßt Matthäus ebenso weg wie Lukas125  – erst der Auferstandene wird den Jüngern die Anweisung geben, ĚƪėĞċ ĞƩ ŕĒėđ zu lehren. Während der Aktion im Tempel heilt Jesus Blinde und Gelähmte (Mt 21,14), und zugleich rufen die Kinder im Heiligtum: »Hosianna, dem Sohne Davids«. »Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten« sind darüber empört (21,15.16a), Jesus sieht darin aber die Bestätigung des Wortes aus Ps 8,3: »Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge will ich dir Lob bereiten« (21,16b).126 Nicht anders als bei Markus verläßt Jesus dann den Tempel und die Stadt unbehelligt, um in Bethanien zu übernachten. Für Matthäus ist die »Tempelreinigung«, anders als für Markus, eine prophetische bzw. messianische Symbolhandlung. Das wird zum einen deutlich durch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Jesu Begrüßung als »der Prophet« und der Aktion im Tempel; zum andern zeigen sowohl die Heilungen wie auch der Lobpreis aus dem Munde der Kinder die Alternative zum bisherigen Tempelbetrieb auf. Als Jesus am nächsten Morgen wieder nach Jerusalem geht, sieht er den Feigenbaum, der keine Früchte trägt; auf Jesu Wort hin verdorrt der Baum sofort. Dann geht Jesus wiederum in den Tempel, und nun wird er von den ŁěġēďěďȉĜ und den ĚěďĝČƴĞďěęē gefragt, in welcher Vollmacht er »dies tue« (21,23b); wie der Kontext zeigt, bezieht sich die Frage nicht allein auf die Tempelreinigung, sondern auf Jesu Lehrtätigkeit (V. 23a: ĚěęĝǻĕĒęėċƉĞȦ ĎēĎƪĝĔęėĞē).127 Jesu Aktion im Tempel als solche bedarf nach Matthäus offenbar keiner Rechtfertigung, und deshalb braucht nach einer diesbezüglichen Vollmacht Jesu auch nicht gefragt zu werden. 123 Mt 21,11: ęŮĎƫƁġĕęēŕĕďčęėäęƐĞƲĜőĝĞēėžĚěęĠƮĞđĜŵđĝęȘĜžŁĚƱøċĐċěƫĒĞǻĜ îċĕēĕċưċĜ. 124 Mt 21,12 entspricht nahezu wörtlich Mk 11,15. 125 Dieses »minor agreement« verweist nicht auf einen »Deutero-Markus«; Matthäus wie Lukas haben jeweils Gründe für die Streichung jener Dativwendung. 126 Mt 21,16b: őĔ ĝĞƲĖċĞęĜ ėđĚưģė ĔċƯ ĒđĕċĐƲėĞģė ĔċĞđěĞưĝģ ċųėęė. Ist möglicherweise die Fortsetzung des Psalmworts (Ps 8,3b: ŖėďĔċ Ğȥė őġĒěȥė ĝęğ ĞęȘ ĔċĞċĕȘĝċē őġĒěƱėĔċƯőĔĎēĔđĞƮė) implizit mitzuhören? 127 Aus der knappen Wendung in Mk 11,27a (őėĞȦŮďěȦĚďěēĚċĞęȘėĞęĜċƉĞęȘ …) ist in Mt 21,23 ĔċƯőĕĒƲėĞęĜċƉĞęȘďŭĜĞƱŮďěƱėĚěęĝǻĕĒęėċƉĞȦĎēĎƪĝĔęėĞē … geworden.

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Die Schilderung der Festnahme Jesu im Garten Gethsemane (Mt 26,51 f.) unterscheidet sich von der Mk-Vorlage: In Mk 14,47 heißt es kommentarlos, einer der Anwesenden habe das Schwert gezogen und dem ĎęȘĕęĜ des Hohenpriesters ein Ohr abgeschlagen; nach Matthäus ist es ausdrücklich ďŴĜĞȥėĖďĞƩŵđĝęȘ, der diesen Schwerthieb vollzieht, doch Jesus reagiert sofort mit der Bemerkung, der Betreffende solle das Schwert »an seinem Ort« lassen, »denn alle, die das Schwert nehmen, kommen durch das Schwert um«. Dazu paßt der begründende Hinweis, dass Gott zwölf Legionen Engel hätte Jesus zu Hilfe schicken können, doch müßten ċŮčěċĠċư »erfüllt« werden (V. 53 f.).

Ergebnis: Im Vergleich mit Markus treten im Matthäusevangelium jene Szenen zurück, wo Jesus gewaltbereit zu sein scheint oder wo er seinen Hörern mit apokalyptisch-eschatologischer Gewaltanwendung droht. Zugleich aber treten in der Interpretation der (Un-)Heilsgeschichte die Gewaltelemente stärker in den Vordergrund; das historische Geschehen vor allem im Zusammenhang des Jüdischen Krieges wird als Eingreifen Gottes gedeutet, aber es wird zugleich unterstrichen, dass es nicht im Sinne Jesu wäre, sich an Gewaltaktionen zu beteiligen.

V. Johannesevangelium 1) Auch im Vierten Evangelium ist Jesus das Opfer menschlicher Gewalt; mehrfach wird gesagt, dass Jesu Leben bedroht ist, da »die Juden« ihn töten wollen (5,18; 7,1.19 f.25; 8,37.59;vgl. 10,31).128 Die Bedrohung ist besonders groß als Folge des Wunders der Auferweckung des Lazarus (11,53.57)129; doch seit 7,30 ist klar, dass »seine Stunde noch nicht gekommen« ist. Jesus kündigt seinen Jüngern an, nach seinem Weggang werde ihr Leben in besonderer Weise bedroht sein (16,2–3). Johannes der Täufer erscheint nicht als ein Opfer von Gewalt; sein Schicksal wird lediglich in 3,24 kurz erwähnt. 2) Jesu Wundertaten enthalten keinen »gewalttätigen« Zug – Exorzismuserzählungen fehlen, und es gibt auch keine apokalyptischen Drohreden Jesu. 3) Gerade im Johannesevangelium erscheint nun aber die »Tempelreinigung« in besonderer Weise als ein Akt unmittelbarer Gewaltanwendung durch Jesus; die Episode erhält einen gegenüber den synoptischen Evan128 Vgl. dazu M. Öhler, Die Steinigung Jesu. Spontane Gewalt in Joh 8 und 10, in: Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt (s. Anm. 1), 396–412. 129 Nach 12,10 haben die ŁěġēďěďȉĜ sogar die Absicht, Lazarus zu töten. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass »die Juden« dann aber in 18,31 Pilatus gegenüber erklären, es sei ihnen nicht erlaubt, jemanden zu töten.

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gelien veränderten Akzent überdies dadurch, dass sich das Geschehen nicht am Ende der Wirksamkeit Jesu abspielt, sondern zu Beginn. Johannes hat die Szene insofern aber doch an ihrem traditionellen Ort belassen, als sie sich ebenso wie in den synoptischen Evangelien während des ersten Aufenthalts Jesu in Jerusalem ereignet.130 Nach dem Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana geht Jesus anläßlich des Passa nach Jerusalem (2,13), »findet« dort im Tempel die Verkäufer der Opfertiere und die Geldwechsler (2,14), macht ein ĠěċčƬĕĕēęėőĔĝġęēėưģė und treibt so »alle« aus dem Heiligtum hinaus (2,15: ĚƪėĞċĜ őĘƬČċĕďė). Nur Johannes erwähnt ein solches Instrument, dessen sich Jesus bedient; ob er sagen will, Jesus habe jenes ĠěċčƬĕĕēęė lediglich gegen die Tiere (Ğƪ ĞďĚěƲČċĞċĔċƯĞęƳĜČƲċĜ) eingesetzt, nicht aber gegen die Händler und die Geldwechsler, ist unklar.131 Jedenfalls stößt Jesus deren Tische um, und er gebietet den Taubenhändlern, »dies« von hier zu entfernen; dazu ruft er aus: ĖƭĚęēďȉĞďĞƱėęųĔęėĞęȘĚċĞěƲĜĖęğęųĔęėőĖĚęěưęğ (2,16). Im Gegensatz zur Schilderung in den synoptischen Evangelien fehlen das Zitat aus Jes 56,7 und die Anspielung auf Jer 7,11.132 Stattdessen gibt es einen Schriftbezug in dem abschließenden Kommentar des Erzählers (2,17): Die Jünger hätten sich des Wortes aus Ps 69,10 erinnert »Der Eifer (ĐǻĕęĜ) um dein Haus frißt

130 U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHKNT 4, 3. Aufl. Leipzig 2004, 74 f. meint, mit der »Voranstellung der Tempelreinigung, die literarisch als Prolepse zu bezeichnen ist, folgt der 4. Evangelist einer theologischen Chronologie: Weil die Tempelreinigung historisch [!] Auslöser für den Kreuzestod Jesu und das Kreuz von Beginn an die Dramaturgie des 4. Evangeliums inhaltlich und kompositionell bestimmt, muß die Tempelreinigung am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu stehen.« Die Frage, ob Jesu Kreuzigung historisch die Folge der Tempelaktion war, kann hier offenbleiben; zum Problem der Historizität s. oben S. 204 f. Da Jesus nach joh Darstellung mehrfach nach Jerusalem und zum Tempel reist, wäre es jedenfalls kaum logisch gewesen, wenn die »Tempelreinigung« erst während des letzten dieser Aufenthalte geschehen wäre. 131 Nach H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 173 bezieht sich die Anwendung der »Peitsche« allein auf die Schafe und die Ochsen; die Spezifikation von ĚƩėĞċĜőĘƬČċĕďė durch ĞƪĞďĚěƲČċĞċĔċƯĞęƳĜČƲċĜ sei im Griechischen sprachlich korrekt. »Und damit kein Leser je auf den Gedanken komme, Jesus könne gegen subjektiv unschuldige Menschen seine Peitsche erhoben haben, ist diese Apposition auch durchaus notwendig. Denn sowenig Jesu Peitsche danach die Geldwechsler oder die Taubenhändler trifft, gebraucht er sie jetzt gegen die Viehhändler; allein das Interesse an ihrem Eigentum wird diese ihren Tieren folgen lassen.« Anders Schnelle, Johannesevangelium (s. die vorige Anm.), 75. 132 Die Frage, ob hinter V. 16 eine Anspielung auf Sach 14,21 steht, ist kaum zu beantworten. Nach Sach 14,21, dem letzten Satz jenes Buches, wird in der Endzeit kein Ćčò”ďčöĈ im Tempel sein. Dieser hebr. Begriff bezeichnet üblicherweise den Kanaanäer, er kann aber gelegentlich auch im Sinne von »Händler« verstanden werden. Die LXX liest aber ĔċƯęƉĔ ŕĝĞċēāċėċėċȉęĜ; so ist wohl fraglich, ob sich Joh unausgesprochen auf Sach 14,21 bezieht und dort eine Aussage über Händler findet. Vgl. M. Tilly, Kanaanäer, Händler und der Tempel in Jerusalem, BN 57 (1991) 30–36.

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mich auf«, und damit erscheint Jesu Tat als ein Akt des »Eifers«, ja als ein geradezu fanatisch zu nennendes Handeln.133 Als »die Juden« nach einem die Legitimität dieses Handelns bestätigenden »Zeichen« fragen (2,18), antwortet Jesus ihnen mit dem Wort vom Niederreißen und Wiedererrichten des Tempels binnen drei Tagen (V. 19). Die kritisch-ironische Reaktion »der Juden«, die auf die lange Bauzeit des Tempels hinweisen, kommentiert der Erzähler mit dem Hinweis, Jesus habe vom ėċƱĜ ĞęȘ ĝƶĖċĞęĜ ċƉĞęȘ gesprochen (V.  21), und daran hätten sich die Jünger nach Jesu Auferweckung erinnert (V.  22a). Dies kann als implizite Kritik an der synoptischen Überlieferung verstanden werden, wo ja bestritten wird, dass Jesus das Tempelwort überhaupt gesprochen hat.134 Nach Darstellung des vierten Evangeliums hat Jesus dieses Wort sehr wohl gesprochen, und die Versuche, das zu bestreiten, sind Folge des Nichtverstehens sowohl der Schrift als auch des Wortes Jesu (V. 22b).135 Offenbar zielt die Szene der »Tempelreinigung« im Johannesevangelium darauf, dass Jesus selber an die Stelle des Tempels tritt – die Aussagen in 2,21 f. bilden den Schlüssel für das Verstehen; die Züge der Gewaltanwendung sind offenbar deshalb so deutlich verstärkt, damit sich das Wort aus Ps 69,10 als plausibel erweist. Ergebnis: Zu dem deutlichen Zurücktreten der Aspekte von Gewalt und Gewaltanwendung paßt es, dass im Johannesevangelium das Reden vom Frieden besonderes Gewicht besitzt. »Friede« ist die besondere Gabe, die der scheidende Jesus seinen Jüngern, also der christlichen Gemeinde, zurückläßt, bevor er »zum Vater geht« (14,27). Die ›Welt‹, der ĔƲĝĖęĜ, ist für den Verfasser des Johannesevangeliums jener Teil der Schöpfung, der sich dem Anruf und dem Anspruch Gottes entzieht.136 Deshalb gibt die Welt nicht eine andere Art von Frieden, sondern sie gibt überhaupt keinen Frieden (16,33: »Dies habe ich zu euch gesprochen, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost: Ich habe die Welt besiegt«). Die Welt ist der Ort, wo nicht Friede herrscht, sondern Angst137; diese Realität gilt auch für die Jünger, also für die Christen, die in der Welt Das Lexem ĐǻĕęĜ ist in den Evangelien an dieser Stelle hapax legomenon, das Verb ĐđĕƲģ fehlt ganz. 134 Vgl. dazu Thyen, Johannesevangelium (s. Anm. 131), 178 f. 135 Im Johannesevangelium wird kein Zusammenhang zwischen dem Tempelwort und dem Prozeß gegen Jesus hergestellt. 136 Dabei setzt das Johannesevangelium aber nicht in gnostischer Weise einen strikten Dualismus voraus; es kann beispielsweise gesagt werden, Gott habe die Welt so sehr geliebt, dass er »seinen eingeborenen Sohn sandte«, damit alle an ihn Glaubenden das ewige Leben haben (3,16). Es ist also nicht so, dass der ĔĦĝĖęĜ zum Glauben »unfähig« wäre und dass Gott die Welt bereits endgültig verworfen hat. 137 Das griechische Wort ĒĕȉĢēĜ bezeichnet zunächst einfach die äußerliche Bedrängnis, unter der die Menschen schon jetzt in ihrem Alltag, dann aber auch in den Tagen der Endzeit leiden (vgl. Mk 13,19); aber die umfassende Formulierung in Joh 16,33 macht die 133

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leben und die sich von der Angst, die zum Dasein in dieser Welt gehört, nicht selber befreien können. Aber in der Überwindung des ĔƲĝĖęĜ durch Christus wird ihnen zugesagt, dass sie »in Christus« Frieden haben.138 Der joh Jesus ist ebensowenig wie der Jesus der synoptischen Evangelien ein ›politischer Messias‹; aber das scheinbar unpolitische, rein auf Christus bezogene Friedensverständnis im Vierten Evangelium zeigt insofern doch einen deutlich politischen, weil ideologiekritischen Bezug, als es sagt, dass allein Jesus Frieden gibt – mag der Kosmos möglicherweise auch noch so viel vom Frieden reden.

VI. Zusammenfassung Dass Jesus von Nazareth während der Zeit seines öffentlichen Wirkens unmittelbar physische Gewalt zur Durchsetzung seiner Lehre angewendet haben könnte, ist höchst unwahrscheinlich; Jesus war weder Zelot, noch stand er auch nur dem Zelotismus nahe. Auch durch die Überlieferung von der »Tempelreinigung« wird Jesus nicht in die Nähe des Zelotismus gerückt; gleichwohl wird diese Aktion in allen vier Texten als gewalttätig geschildert.139 Das Problem einer politisch bzw. religiös motivierten und gegebenenfalls auch kontrollierten Gewaltanwendung kommt in der Jesus- und auch in der Täufer-Überlieferung kaum in den Blick; durchdachte friedenspolitische Konzepte oder gar prinzipielle Urteile über den Frieden als politische Aufgabe bzw. ethische Reflexionen über den Krieg finden wir nirgends. Sowohl Jesus und seinen Jüngern als auch den Christen bzw. der Kirche fehlte es – zumindest bis zum 4. Jahrhundert – an Mitteln, den Frieden der Welt konkret zu gefährden oder umgekehrt durch politisches Handeln Frieden zu schaffen oder auch nur zum Bewahren eines weltlichen Friedens Entscheidendes beizutragen.140 Ein Indiz für die Haltung, die Jesus bzw. die frühe Jesusbewegung dazu einnahm, ist die Diskussion über die Frage, ob es richtig ist, dem Kaiser Steuern zu zahlen (Mk 12,13–17); sie endet mit Jesu Wort: »Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört«. Damit wird weder eine Übersetzung »Angst« möglich und sogar wahrscheinlich. Vgl. J. Ringleben, Art. Angst / Furcht. II. Philosophisch, RGG 4 1, Tübingen 1998, 496 f. 138 Auffällig ist die formale Entsprechung: »In Christus: Frieden – in der Welt: Angst«. 139 Sollte hinter der Überlieferung ein tatsächliches Handeln Jesu stehen, so wäre diese Aktion in keinem Fall »gewaltfrei« verlaufen; unerklärlich wären dann allerdings die »Nicht-Reaktionen«, insbesondere auch das Fehlen jedes Hinweises auf ein Eingreifen der römischen Behörden. 140 Vgl. W. Huber, Art. Frieden. V. Kirchengeschichtlich und ethisch, TRE 11, Berlin 1983, 618–646. Die Stellung der Christen zu Krieg und Frieden wird überprüft, nachdem durch Konstantin der christliche Glaube »staatlich anerkannt« ist. »Soll nun das Bekenntnis zum Frieden … für alle Christen und damit auch für das Reich als verbindlich gelten? Eine solche Perspektive kann sich in der Kirche, die sich auf dem Weg zur Reichskirche befindet, nicht durchsetzen« (aaO., 620).

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schiedlich-friedliche Trennung der beiden Bereiche zum Ausdruck gebracht noch ist darin ein Aufruf zur Steuerverweigerung enthalten, sondern die römische Herrschaft wird einfach faktisch toleriert.141 Der Bereich, wo Christen dazu aufgerufen sind, Frieden konkret zu verwirklichen, ist in erster Linie die Gemeinde, darüber hinaus natürlich auch der gesamte Bereich des von jedem einzelnen persönlich zu verantwortenden Handelns. Die Mahnung des Paulus »So viel an euch ist, haltet mit allen Menschen Frieden« (Röm 12,18) kann im Grunde als die für alle neutestamentlichen Autoren charakteristische Maxime gesehen werden.

Jesus hat Gewalt angewandt gegenüber den Dämonen, also gegenüber Mächten, die das menschliche Dasein bedrohen und beherrschen. Die Texte schildern diese Gewaltanwendung als legitim, ja geradezu als durch Gott geboten und auf Gottes Herrschaft verweisend. Das gilt natürlich nur, wenn man sich die Perspektive des so agierenden Jesus bzw. die Perspektive der von diesem Handeln erzählenden Texte zu eigen macht.

141 Vgl. A. Lindemann, Christliche Gemeinden und das Römische Reich im ersten und zweiten Jahrhundert, WuD NF 18 (1985) 105–133.

»Juden, Griechen und die Kirche Gottes« Die paulinische Ekklesiologie und die Lebenswirklichkeit der őĔĔĕđĝưċ in Korinth Vorbemerkungen 1. Über keine Gemeinde der ältesten Christenheit sind wir so umfassend und vergleichsweise wohl auch zuverlässig informiert wie über diejenige in Korinth. Mindestens zwei an diese Gemeinde gerichtete Paulusbriefe sind erhalten, die nach ihrem Umfang beinahe die Hälfte des Corpus der echten Briefe des Apostels ausmachen; vor allem im ersten dieser Briefe, aber auch in Teilen des Zweiten Korintherbriefes geht Paulus so konkret wie in keinem anderen Brief auf die bei den Adressaten bestehenden Verhältnisse ein.1 Wenn der Zweite Korintherbrief aus ursprünglich mehreren Briefen »komponiert« wurde, was m. E. sehr wahrscheinlich ist2, so läßt sich aus der korinthischen Korrespondenz des Paulus nicht nur die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Apostel und der korinthischen Gemeinde nachzeichnen, sondern bis zu einem gewissen Grade auch die Geschichte der Gemeinde selber. Überdies erfahren wir aus dem Ersten Clemensbrief noch einiges über die am Ende des 1. Jahrhunderts im christlichen Korinth bestehenden Verhältnisse.3 1

Vgl. D. Lührmann, Freundschaftsbrief trotz Spannungen. Zu Gattung und Aufbau des Ersten Korintherbriefs, in: W. Schrage (Hg.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments. FS Heinrich Greeven, BZNW 47, Berlin 1986, 298–314; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1. Teilband: 1 Kor 1,1–6,11, EKK 7/1, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1991, 25–63; D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 36–39 (»Die Zusammensetzung der Gemeinde«) und 39–45 (»Gruppierungen und Konflikte«). 2 Die Gründe für diese Vermutung sind hier nicht im einzelnen darzustellen. Vgl. A. Lindemann, öƲčęĜ und čėȥĝēĜ. Paulus als »Rhetor« im Zweiten Korintherbrief, in: C. J. Belezos, in Collaboration with S. Despotis and C. Karakolis (eds.), Saint Paul and Corinth. 1950 Years since the Writing of the Epistles to the Corinthians. Exegesis – Theology – History of Interpretation – Philology – Philosophy – St. Paul’s Time. International Scholarly Conference Proceedings (Corinth, 23–25 September 2007), Athen 2009, Vol. I–II, hier: II, 219–252 (220–224). 3 Vgl. dazu A. Lindemann, Die Clemensbriefe, HNT 17, Tübingen, 1992.

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2. Im folgenden soll die in Korinth zur Zeit des Paulus gegebene Lebenswirklichkeit der christlichen Gemeinde und der zu ihr gehörenden Menschen rekonstruiert werden, und es wird gefragt, von welchen ekklesiologischen Voraussetzungen her Paulus mit Hilfe seiner Briefe diese Lebenswirklichkeit zu beeinflussen, ja zu verändern sich bemüht hat. Dazu sollen im Anschluß an knappe methodologische Überlegungen zum Umgang mit den uns erhaltenen Quellen die inneren Strukturen der korinthischen Gemeinde dargestellt und dann die in den Paulusbriefen erkennbare Einbindung der korinthischen Christinnen und Christen in ihre nicht-christliche Umwelt beschrieben werden.4 Die These wird sein, dass die enge Verflochtenheit der Christen mit der nicht-christlichen Welt für das Verständnis der bestehenden Probleme und dementsprechend für die Interpretation der darauf reagierenden paulinischen Briefe von größter Bedeutung ist. Abschließend sollen die Korintherbriefe im ganzen von den so gewonnenen Ergebnissen her gedeutet werden.

I. Methodologische Überlegungen zum Umgang mit den Quellen 1. Außer den auf Korinth bezogenen literarischen christlichen Quellen  – im Neuen Testament die Korintherbriefe und die Apostelgeschichte, dazu der Erste Clemensbrief – gibt es keine weiteren Zeugnisse, die unmittelbar etwas zur Beschreibung der korinthischen Gemeinde in deren Anfangszeit beitragen. Die zahlreichen das römische Korinth betreffenden außerchristlichen literarischen und archäologischen Dokumente zeigen aber den Eindruck, dass die im Jahre 44 v. Chr. (neu-)gegründete Colonia Laus Iulia Corinthiensis eine große, wirtschaftlich, kulturell und auch in religiöser Hinsicht überaus lebhafte Stadt war.5 Korinth »had a dynamic and growing culture and economy that attracted immigrants from all over the Eastern Mediterranean to work in its flourishing manufacturing, marketing, and 4 Die Begrifflichkeit (»christlich« bzw. »nicht-christlich«) ist anachronistisch; sie wird der Einfachheit halber verwendet, um die an Jesus Christus glaubende őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ zu bezeichnen, die in Korinth ganz offensichtlich von außen identifizierbar war. 5 Vgl. W. Elliger, Paulus in Griechenland Philippi, Thessaloniki, Athen. Korinth, SBS 92/93, Stuttgart 1976, 200–251; J. Murphy-O’Connor, St. Paul’s Corinth. Texts and Archaeology, GNS 6, Wilmington DE 1983. Zur Entwicklung der Stadt in römischer Zeit s. J. Wiseman, Corinth and Rome I: 228 B. C.–A. D. 267, ANRW II 7,1, Berlin 1979, 438–548. Zur mutmaßlichen Einwohnerzahl – 50 000 bis 60 000 – s. D. Engels, Roman Corinth: an alternative model for the classical city, Chicago / London 1990, 179–181. Zur städtischen und gemeindlichen Struktur s. Chr. Caragounis, A House Church in Corinth? An Inquiry into the Structure of Early Corinthian Christianity, in: Belezos u.a. (ed.), Saint Paul and Corinth I (s. Anm. 2), 365–418.

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service sectors, either as slaves or free immigrants«6, wozu auch die hervorragende geographische Lage entscheidend beitrug. 2. Die paulinischen Korintherbriefe als die für uns in erster Linie bedeutsamen Texte sind naturgemäß keine objektiven Quellen; sie informieren keineswegs »neutral«, sondern durchaus einseitig über die Gemeindewirklichkeit. Sogar dort, wo Paulus anscheinend direkt auf Nachrichten eingeht, die er aus Korinth erhalten hatte, nehmen wir seine Perspektive wahr; ein nicht geringes Maß an Unsicherheit bleibt selbst da, wo sich Paulus mehr oder weniger genau unmittelbar auf korinthische Positionen bezieht.7 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Paulus natürlich nicht die Absicht hatte, in seinen Briefen die Adressaten über deren eigene Situation zu belehren oder gar Dritte darüber zu informieren. Aussagen, die uns »unklar« zu sein scheinen, wurden in Korinth vermutlich sofort verstanden. Wenn Paulus sich also konkret auf die Gegebenheiten in Korinth bezieht, nicht zuletzt ja mit dem Ziel, diese zu verändern, dann dürfte er mit dem, was er schreibt, die Gemeindewirklichkeit im wesentlichen zutreffend erfaßt haben. Zumindest muß er vorausgesetzt haben, dass sich die Adressaten in dem, was er ihnen schreibt, im wesentlichen »wiederentdecken« konnten. Vermutlich war dies auch tatsächlich der Fall, da andernfalls die Briefe wohl nicht bewahrt und zumindest im Fall des Ersten Korintherbriefes vergleichsweise früh auch an andere Gemeinden weitergegeben worden wären. Für die Vermutung, dass der erste der uns erhaltenen Korintherbriefe in Korinth im wesentlichen »erfolgreich« war, spricht der Sachverhalt, dass die meisten der in diesem Brief erörterten Themen innerhalb des »Zweiten Korintherbriefs« nicht noch einmal begegnen; aus paulinischer Sicht waren sie offenbar »geklärt«, allerdings auch abgelöst durch neue, offenbar gravierende Probleme. Dass der Apostel in dem vor allem in 2 Kor 10–13 erkennbaren Konflikt mit der Gemeinde am Ende ebenfalls erfolgreich war, wäre zumindest dann erwiesen, wenn Paulus den Brief nach Rom tatsächlich in Korinth schrieb und wenn die Redaktion des jetzt vorliegenden »Zweiten Korintherbriefs« in Korinth selbst erfolgt sein sollte.8 Der Erste Clemensbrief bestätigt jedenfalls, dass die Kirche in Korinth am Ende des 1. Jahr6 Engels, Roman Corinth (s. die vorige Anm.), 113. Zu den paganen Kulten in Korinth aaO., 95–107. 7 Bezugnahmen auf Nachrichten aus Korinth liegen vor in 1 Kor 1,11–17; 5,1–13 und 6,1–8; regelrechte »Zitate« finden sich in 1 Kor 7,1 und 15,12, vermutlich auch in 8,1.4. Ob diese Bezugnahmen und Zitate den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen, läßt sich aber kaum sagen. 8 2 Kor ist m. E. der einzige durch eine sekundäre »Redaktion« geschaffene Paulusbrief; diese Redaktion dürfte in der Gemeinde der Adressaten selber erfolgt sein mit dem Ziel, einen in der Länge ungefähr dem 1 Kor entsprechenden Brief herzustellen, um ihn so weitergeben zu können.

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hunderts n. Chr. ganz selbstverständlich als eine »paulinische« Gemeinde angesehen wurde, die eigentlich hohes Lob verdiente.9 Paulus hat die Lage in Korinth also im wesentlichen zutreffend gesehen und schließlich auch in einer für die Korinther plausiblen Weise beeinflußt. Für diese Annahme spricht im Grunde schon das bloße Vorhandensein der Korintherbriefe. In 2 Kor 2,12.13; 7,5–16 liegt wohl der chronologisch letzte Brief der Korrespondenz zwischen Paulus und Korinth vor, soweit diese den durch das Auftreten von Gegnern in Korinth ausgelösten Konflikt betraf.10 Der kurze, die Versöhnung nur noch konstatierende Brief zeigt die Lösung des Konflikts, die im wesentlichen auf das offenkundig diplomatisch sehr geschickte Auftreten des von Paulus nach Korinth entsandten Titus zurückzuführen ist. Wäre der Konflikt nicht beendet worden, wären die paulinischen Briefe nach Korinth vermutlich nicht erhalten geblieben.

3. Paulus hat die kirchliche Situation in Korinth nicht allein kritisch analysiert und kommentiert, sondern er hat zugleich eine für die Bewältigung der korinthischen Probleme geeignete ekklesiologische Theorie und argumentative Strategie entwickelt – ein Ansatz, den es so in den älteren Briefen des Apostels noch nicht gibt.11 Bei den zwischen Paulus und den Korinthern bestehenden Spannungen ging es nicht lediglich um Detailfragen; insbesondere im Ersten Korintherbrief ist das zur Diskussion stehende Thema die Gemeinde selber: Was ist die őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ bzw. was soll sie sein? Darauf versucht Paulus Antworten zu geben. Die Korintherbriefe enthalten keine ausgearbeitete ekklesiologische Terminologie. Die Metapher von der Kirche als dem »Leib Christi« gilt zwar bisweilen als die jedenfalls für den ersten Brief geradezu charakteristische ekklesiologische Theorie des Paulus; aber das Syntagma ĝȥĖċāěēĝĞęȘ ist in 12,27 beinahe »zufällig« zustande gekommen als Schlußpunkt nach dem zuvor entfalteten Vergleich, es verhalte sich mit Christus ebenso wie mit dem Leib (ĔċĒƪĚďěčƩěĞƱĝȥĖċ … ęƎĞģĜĔċƯžāěēĝĞƲĜ, 12,12), in dem alle Glieder aufeinander angewiesen sind (12,14–26).12 Aber es läßt sich im Er9 Vgl. 1 Clem 1,2–2,8; dazu Lindemann, Clemensbriefe (s. Anm. 3), 27–31. Dass 1 Kor in Rom bekannt und ein Exemplar vorhanden war, zeigt 1 Clem 47. Auch der apokryphe »Dritte Korintherbrief« ist ein Indiz für die kirchliche Anerkennung des apostolischen Ursprungs der Gemeinde; vgl. V. Hovhanessian, Third Corinthians, Studies in Biblical Literature 18, New York 2000 (dazu meine Rez. in: ThR 67 [2002] 494–496). 10 Die beiden Kollektenbriefe 2 Kor 8 und 2 Kor 9 lassen von jenem Konflikt nichts erkennen; es scheint kaum möglich zu sein, sie chronologisch einzuordnen. 11 Zu den von Paulus in den Korintherbriefen und im Röm verwendeten und von ihm offenbar selber in diesem Zusammenhang geschaffenen ekklesiologischen Metaphern (»Leib«, »Familie«, »Tempel Gottes«) s. M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 288–303. 12 Vgl. meinen Aufsatz: Die Kirche als Leib. Beobachtungen zur »demokratischen« Ekklesiologie bei Paulus, in: A. Lindemann, Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 132–157.

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sten Korintherbrief von Beginn an erkennen, dass Paulus die Gemeinde zur Bewahrung ihrer Einheit mahnt und sie dazu auffordert, sich insbesondere der Neigung zur Fraktionsbildung zu widersetzen.13 Deutlich ist dies im ersten Teil (Kap. 1–4); aber es wird auf andere Weise ebenfalls sichtbar im zweiten Teil des Briefes (Kap. 5–16)14, wo Paulus im Zusammenhang der sehr unterschiedlichen von ihm erörterten Themen die Adressaten immer wieder mahnt, die Verantwortlichkeit des einzelnen Christen für seine Mitchristen sowie für die Gemeinde bzw. die Kirche als ganze nicht zu übersehen oder womöglich bewußt zu leugnen. Dieselbe Tendenz zeigt sich innerhalb des Zweiten Korintherbriefes, vor allem in der Argumentation für die Kollekte in 2 Kor 8 und 2 Kor 915 sowie in dem in 2 Kor 10–13 enthaltenen Brief, in welchem der Apostel vor allem innerhalb der »Narrenrede« (11,16–12,10) seine eigene Fürsorge für die Gemeinden als Modell für christliches Verhalten generell darstellt und zugleich die »Über-Apostel« wegen ihres Strebens nach Selbstruhm scharf kritisiert.16 Die Ekklesiologie der Korintherbriefe ist durchgängig bestimmt durch die Forderung, die Gemeinde müsse bei Anerkennung aller Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit derer, die zu ihr gehören, gleichwohl ihre Einheit bewahren bzw. wieder gewinnen.

II. Die Lebenswirklichkeit der Kirche in Korinth 1. Juden und »Griechen« Die christliche Gemeinde in Korinth führt keine isolierte Existenz, als lebte sie gleichsam abseits von der übrigen Gesellschaft. Diejenigen, die zu ihr gehören, sind auf vielfältige Weise eingebunden in ihre soziale und kulturelle Umwelt. Nach der in dieser Hinsicht vermutlich zuverlässigen, jedenfalls plausiblen Darstellung, die Lukas in Apg 18 von der Entstehung der korinthischen Gemeinde gibt17, gehörten zur korinthischen Gemeinde 13 Dazu vor allem M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation. An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians, HUTh 28, Tübingen 1991. 14 M. de Boer, The Composition of 1 Corinthians, NTS 40 (1994) 229–245 nimmt an, der Brief 1 Kor 1–4 sei praktisch abgeschlossen gewesen, als Paulus durch eine Delegation des Stephanas aus Korinth neue Informationen erhielt, die ihn zu einer umfangreichen Ergänzung des Briefes veranlaßten. Diese Erwägung erklärt den literarischen Befund m. E. sehr gut. 15 Vgl. dazu: Hilfe für die Armen. Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als »diakonisches Unternehmen« (s.u. S. 253–283). 16 Vgl. dazu M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus, fzb 66, Würzburg 1991, 93–160. 17 Vgl. dazu G. Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen 1987, 202–212. Ferner I. Richter Reimer, Frauen

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anfänglich in erster Linie Juden, d.h. die Gemeinde entstand im Umfeld der Synagoge.18 Für sie dürfte sich durch die Annahme des Christusbekenntnisses im Verhältnis zur »heidnischen« Umwelt anfangs wenig verändert haben. Ob die »christlichen« Juden die Synagoge sofort verließen oder verlassen mußten, können wir kaum sagen; da aber vermutlich von Anfang an auch »Griechen« zu den durch die Missionspredigt gewonnenen Menschen gezählt haben dürften, wird jedenfalls die Frage des Zusammenlebens von Juden und »Heiden« aus jüdischer Sicht sehr schnell virulent geworden sein. Die lukanische Darstellung (Apg 18,6) und der Erste Korintherbrief lassen erkennen, dass die korinthische Gemeinde verhältnismäßig rasch eine in ihrer Mehrheit heidenchristliche wurde; dadurch gewann das Problem des Verhältnisses zu den außerhalb der Gemeinde stehenden »Griechen« für die Juden- wie für die Heidenchristen erhebliches Gewicht.19 Für die innere Struktur der in dieser Weise »gemischten« korinthischen Gemeinde war es vermutlich von großer Bedeutung, dass es zwischen den Juden und den »Griechen« innerhalb der őĔĔĕđĝưċ offenbar keine grundsätzlichen, d.h. in ihrem jeweiligen traditionellen Status begründeten Differenzen gab. Insbesondere auch die Ausführungen in 1 Kor 8–10 lassen nicht erkennen, dass womöglich die dort erwähnten »Schwachen« mit Juden(christen) und die anderen20 mit Heiden(christen) gleichzusetzen wären. Auch die Bemerkungen in 1 Kor 7,18.19 über den »Stand der Berufung« müssen nicht bedeuten, dass in der Gemeinde gefordert worden war, Juden(christen) und Heiden(christen) hätten die jeweilige eigene ĔĕǻĝēĜ als Beschnittene bzw. als Unbeschnittene preiszugeben. Das offenbar unproblematische Verhältnis zwischen Christen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft wird deutlich an den von Paulus in großem Umfang verwendeten Bibelzitaten: Offenbar setzt der Apostel eine gewisse Vertrautheit mit der Heiligen Schrift bei allen Adressaten generell voraus, d.h. seine Aussagen lassen nicht erkennen, dass ein Teil der Gemeinde eine in dieser Hinsicht womöglich höhere Verstehenskompetenz besaß als die übrigen Leser bzw. Hörer der Briefe.21 Paulus nimmt an, dass die Adresin der Apostelgeschichte des Lukas. Eine feministisch-theologische Exegese, Gütersloh 1992, 202–230. 18 Die Inschrift, die die Existenz einer Synagoge in Korinth bezeugt, ist in dem in Anm. 2 genannten großen Sammelwerk wiedergegeben (Band I, nach S. 464, Abb. 16). 19 Vgl. M. Ebner, Soziale und religiöse Grenzüberschreitung in der Gemeinde von Korinth nach Apg 18,1–18: Ein lukanisches Genrebild, in: Belezos u.a. (ed.), Saint Paul and Corinth I (s. Anm. 2), 535–548. 20 Es darf nicht übersehen werden, dass Paulus in 1 Kor 8–10 von »Starken« gar nicht spricht. 21 Vgl. A. Lindemann, Die Schrift als Tradition. Beobachtungen zu den biblischen Zitaten im Ersten Korintherbrief, in: K. Backhaus / F. G. Untergassmair (Hg.), Schrift und Tradition. Festschrift für Josef Ernst zum 70. Geburtstag, Paderborn, 1996, 199–225.

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saten die Anspielungen auf die Schrift (LXX) beispielsweise in 1 Kor 2,16 erkennen bzw. wie im Fall von 1 Kor 1,19 richtig zu deuten wissen. Ganz selbstverständlich nennt er die Exodus-Generation »unsere Väter« (1 Kor 10,1), ohne dass man annehmen müßte, er denke speziell an Juden(christen). Die Argumentationen in 1 Kor 9,8–11 und ebenso in 2 Kor 3,7–11 basieren auf der Annahme, dass die Adressaten eine allegorische Deutung biblischer Aussagen als legitim ansehen und auch zu verstehen vermögen.22 Noch wichtiger ist, dass es aus dem Alltag resultierende Konflikte zwischen den Juden und den »Griechen« innerhalb der einen őĔĔĕđĝưċ offensichtlich nicht gegeben hat  – Paulus macht jedenfalls keinerlei in diese Richtung gehenden Andeutungen.23 Die innergemeindlichen Auseinandersetzungen in Korinth und dann auch die Konflikte zwischen Paulus und den Korinthern entstanden augenscheinlich nicht durch das Nebeneinander von Juden und »Griechen«; Juden- wie Heidenchristen scheinen vielmehr von den sich aus dem Gegenüber zur nichtchristlichen (und nichtjüdischen) Umwelt ergebenden Problemen, wie sie vor allem in 1 Kor 5–11 erörtert werden, zumindest grundsätzlich in gleicher Weise betroffen gewesen zu sein, wenn auch vielleicht nicht in gleichem Maße. Die Aussage in 1 Kor 8,7, dass »einige« ĞǼĝğėđĒďưǪ … ĞęȘďŭĎƶĕęğ Götzenopferfleisch essen, kann sich natürlich nur auf Christen nichtjüdischer Herkunft beziehen; aber es ist nicht zu erkennen, dass es in der in 1 Kor 8–10 erörterten Problematik zu einem ethnisch-religiösen Konflikt zwischen »den« Judenchristen und »den« Heidenchristen gekommen wäre. Die Argumentation in 2 Kor 3, wo der Mose-Dienst und der Christus-Dienst einander kontrastiert werden und die heftige Polemik des Paulus gegen die sich offensichtlich auf ihre jüdische Herkunft berufenden Verkündiger des »anderen Evangeliums« (2 Kor 10–13) lassen nicht erkennen, dass der Apostel vermutet, die jetzt von ihm attackierten Gegner hätten vor allem bei den Juden unter den Christen in Korinth ein besonders großes Maß an Zustimmung erlangt.24

22 Vgl. die wertvolle Studie von M. M. Mitchell, Paul, the Corinthians and the Birth of Christian Hermeneutics, Cambridge 2010. 23 Wolter, Paulus (s. Anm. 11), 262 f. verweist darauf, dass es in den paulinischen Gemeinden eine »Lebensgemeinschaft« nicht gab, sondern dass die Gemeinsamkeit der Christen (nur?) in der gottesdienstlichen Versammlung »erfahrbare Gestalt gewann«. 24 Zum Zusammenhang von 2 Kor 3 und 2 Kor 10–13 vgl, D.-A. Koch, Abraham und Mose im Streit der Meinungen. Beobachtungen und Hypothesen zur Debatte zwischen Paulus und seinen Gegnern in 2 Kor 11,22–23 und 3,7–18, in: Ders., Hellenistisches Christentum. Schriftverständnis – Ekklesiologie – Geschichte, hg. von F. W. Horn, NTOA / StUNT 65, Göttingen 2008, 71–89.

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2. Soziale Schichtung 1. Als ein »Schlüssel« für das Verständnis der Situation der korinthischen Gemeinde gilt weithin die in der Gemeinde vermutete soziale Schichtung. Paulus erwähnt in 1 Kor 1,26–29 ausdrücklich, dass Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Stellung zur christlichen Gemeinde gehören; dieser Sachverhalt wird nicht selten als eine entscheidende Ursache für die vor allem im Ersten Korintherbrief erörterten innergemeindlichen Probleme angesehen. Sowohl bei dem Problem der »Parteien« als auch bei der Frage des »Götzenopfermahls« wie auch insbesondere bei der besonders konfliktbeladenen Abendmahlsfeier bestehe ein Zusammenhang zwischen der sozialen Schichtung und den sichtbar werdenden innergemeindlichen Konflikten.25 Wie sind die knappen Aussagen in 1 Kor 1,26–29 zu interpretieren? Paulus warnt in 1,10–13 vor ŕěēĎďĜ und ĝġưĝĖċĞċ, und in diesem Zusammenhang erinnert er in V. 13–17 an seine – wie er betont: sehr begrenzte! – Tauftätigkeit in Korinth. Als Täuflinge nennt er zunächst lediglich die beiden Männer Crispus und Caius (1,14); dann aber erwähnt er zusätzlich und geradezu nachträglich »das Haus des Stephanas« (1,16)26, woraus wohl hervorgeht, dass in diesem Fall nicht nur ein einzelner getauft wurde, sondern mit ihm zusammen auch dessen Familie.27 Es kann sich bei den von Paulus Genannten nur um einen kleinen Teil der gesamten korinthischen Gemeinde gehandelt haben, da andernfalls die Argumentation nicht überzeugend gewesen wäre. Das wiederum bedeutet, dass die Gesamtzahl der Gemeindemitglieder in Korinth nicht zu niedrig angesetzt werden sollte, auch wenn sich über eine exakte Zahl nichts sagen läßt. Paulus betont, er sei mit der Verkündigung ęƉĔőėĝęĠưǪĕƲčęğ beauftragt worden, und dies führt dazu, die Spannung zwischen weltlicher ĝęĠưċ und dem im Kreuz sichtbar werdenden Handeln Gottes aufzuzeigen (V. 18–25). Ein konkreter Beleg dafür ist die soziale Zusammensetzung der Gemeinde, von der Paulus dann in V. 26 spricht. Die Aussage, in der Gemeinde gebe es ęƉĚęĕĕęƯĝęĠęƯĔċĞƩĝƪěĔċęƉ ĚęĕĕęƯĎğėċĞęƯĔĞĕ., ist im wörtlichen Sinne zu verstehen; unter den Christen in Korinth befinden sich also tatsächlich ĝęĠęƯĔċĞƩĝƪěĔċĎğėċĞęĉ 25

Vgl. G. Theissen, Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1 Cor XI 17–34, in: Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 21983, 290–317; ähnlich H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1–4, ÖTK 7/1, Gütersloh und Würzburg 1992, 41. 26 Nach de Boer, Composition (s. Anm. 12), 241 hat Paulus diesen Hinweis nach der Ankunft des Stephanas in Ephesus nachträglich eingefügt. »The correction, written into the margins after Stephanas’ arrival in Ephesus, was subsequently incorporated into further copies of a Corinthians.« 27 Daraus läßt sich wohl ableiten, dass dies nicht unbedingt der Regelfall war.

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und ďƉčďėďȉĜ, auch wenn deren Zahl vergleichsweise sehr gering sein wird. Gäbe es in der Gemeinde niemanden, auf den diese Charakterisierung zutrifft, so wäre die ganze Aussage ohne Funktion.28 Dass nach V. 27.28 Gott »das Törichte« und »das Schwache« erwählt hat, bedeutet nicht, dass die korinthische Gemeinde sozial einheitlich zusammengesetzt ist.29 Der Abschnitt 1 Kor 1,26–29 dient nicht dazu, die Adressaten exakt über die in ihrer Gemeinde bestehende Sozialstruktur zu informieren oder sie auch nur daran zu »erinnern«; aber Paulus verfolgt auch nicht die Absicht, Ressentiments bei den ausschließlich zur Unterschicht gehörenden Christen religiös zu bestätigen.30 Die Aussagen in 1,26–29 stehen vielmehr im Kontext der Kritik an dem Streben nach »Weisheit«; dieses ist offenbar in der Gemeinde als ganzer vorhanden, wenn man nicht annehmen will, dass sich Paulus im gesamten ersten Briefteil nur an einen (sehr kleinen) Teil der Gemeinde wendet, wofür aber nichts spricht. Paulus will der Gemeinde klar machen, dass Gottes Handeln nicht auf menschlichen Voraussetzungen oder Fähigkeiten basiert (1,25), und als erläuternden Beleg dafür (čƪě) verweist er auf die Realität der Gemeinde: Die Christen in Korinth können und sollen aus den in ihrer Gemeinde vorhandenen sozialen Gegebenheiten, also aus ihrer eigenen Erfahrung die theologische Einsicht ableiten31, dass der Maßstab der »Weisheit« vor Gott nicht gilt.32 Schon deshalb muß die Aussage in 1,26 den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen; denn ein Appell an die 28

Man braucht nicht anzunehmen, dass die von Paulus verwendeten Begriffe soziologisch exakt zu verstehen sind. Die ĎƴėċĞęē sind »die Fähigen«, ohne dass näher erklärt wird, »worin deren Fähigkeiten bestehen« (s. P. Arzt-Grabner / R. E. Kritzer / A. Papathomas / F. Winter, 1. Korinther, PKNT 2, Göttingen 2006, 105 f., [F. Winter], die ďƉčďėďȉĜ müssen nicht patrizischer »Adel« sein. 29 W. Stegemann, Das Evangelium und die Armen. Über den Ursprung der Theologie der Armen im Neuen Testament, KT 62, München 1981, 31 meint dagegen, wenn es tatsächlich »Weise, Mächtige und Adelige« in der Gemeinde gegeben hatte, wäre die paulinische Argumentation »zumindest recht befremdlich«. Vgl. auch E. W. Stegemann / W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 21997, 253 f. Allenfalls hätten sich, wie im Fall des in Röm 16,23 erwähnten Erastos, »Gefolgsleute der Oberschicht« unter den Christen in paulinischen Gemeinden befunden. 30 Vgl. D. G. Horrell, The Social Ethos of the Corinthian Correspondence. Interests and Ideology from 1 Corinthians to 1 Clement, Edinburgh 1996, 134: »The rhetorical nature of Paul’s declaration should certainly make us wary of reading 1.26 simply as a piece of sociological information (although it must broadly be true in order for Paul’s point to be plausible).« 31 Die Aufforderung ČĕƬĚďĞď zeigt, dass hier ein empirisch wahrnehmbarer Sachverhalt im Blick ist. 32 Horrell, Social Ethos (s. Anm. 31), 134: Denjenigen, die sich zu den ĝęĠęư usw. zählen, wird klar gemacht, »that these signs of worldly privilege are precisely what God is destroying. If they wish to count themselves among those called by God they must reject the valuation which society enables them to obtain.« Vgl. Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 117 f.

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eigene Erfahrung der Leserinnen und Leser wäre ja sinnlos und geradezu kontraproduktiv, wenn Paulus annehmen müßte, dass die Adressaten die von ihm erwähnte Erfahrung tatsächlich gar nicht besitzen. Wahrscheinlich gehörte ein kleiner – sicher sehr niedrig anzusetzender – Prozentsatz der korinthischen Christen zur gehobenen Schicht innerhalb der Gesellschaft Korinths. Ob die im Ersten Korintherbrief sichtbaren Gemeindeprobleme tatsächlich dadurch hervorgerufen wurden, ist eine andere Frage.33 2. Paulus kritisiert in 1 Kor 1–4 in der Debatte über das korinthische »Parteien«-Wesen insbesondere auch die Orientierung der »Parteien« an »Parteihäuptern« (1,13). Offenbar stehen vor allem Paulus selber und Apollos im Zentrum, die Rolle des Petrus bleibt eher undeutlich. Dass Apollos der einzige ist, mit dem Paulus sich auseinanderzusetzen hat34, läßt sich aber nicht wirklich belegen. Die Annahme, dass Apollos hinter dem in Korinth so hoch geschätzten Interesse an der Weisheit steht, wird im wesentlichen aus den Aussagen des Lukas über die Herkunft des Apollos aus Alexandria gefolgert (Apg 18,24–19,1); aber diese Folgerung ist nicht unproblematisch, denn selbst wenn Apollos tatsächlich ein ŁėƭěĕƲčēęĜ aus Alexandria gewesen sein sollte, so bedeutet das jedenfalls nicht, dass er etwa in die Nähe Philos zu rücken wäre. Die Erwähnung des Petrus in 1 Kor 9,5 zeigt, dass die korinthischen Christen über dessen Arbeit zumindest ansatzweise informiert sind; ob Petrus tatsächlich einmal in Korinth gewesen war, läßt sich nicht sicher sagen, aber man kann es für wahrscheinlich halten.35 Dass die Parteienbildung mit der sozialen Schichtung zusammenhängt und womöglich auf sie zurückgeht, lassen die Aussagen des Paulus nicht erkennen. Gelegentlich wird gesagt, ein solcher Zusammenhang sei von vornherein wahrscheinlich, weil allgemeine soziologische und sozialpsychologische Erwägungen und Beobachtungen dafür sprächen, dass sozial Höhergestellte auch innerhalb religiöser Gruppen über einen besonderen Einfluß verfügen36; aber die Ausführungen des Paulus lassen nicht erkennen, dass sich 33 M. de Boer, The Deniers of the Resurrection of the Dead and their Social Status in Roman Corinth, in: Belezos u.a. (ed.), Saint Paul and Corinth I (s. Anm. 2), 535–548 untersucht, ob die in 15,12 erwähnten ĞēėƬĜ mit den »Starken« und mit den Angehörigen einer gehobenen Schicht identisch sind. Er kommt zu dem m. E. wichtigen Ergebnis, dass die Starken, die er in Korinth in der Mehrheit (!) sieht, »probably did not consist exclusively of social elite from Corinthian society« (344). 34 So die Annahme von G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1 Korinther 15, FRLANT 138, Göttingen 1986, 65–69. 35 Die Frage, ob es eine »Christus-Partei« gab, kann hier offen bleiben; die Formulierung in 1 Kor 1,12 spricht m. E. aber dafür, dass Paulus mit der Existenz einer solchen »Partei« rechnete. 36 Vgl. zu dieser Position A. D. Clarke, Secular and Christian Leadership in Corinth. A Socio-Historical and Exegetical Study of 1 Corinthians 1–6, AGJU 18, Leiden 1993.

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die Angehörigen der an Paulus, Petrus, Apollos und offenbar auch Christus orientierten »Parteien« in Korinth gleichsam stellvertretend an innergemeindlichen Führern orientierten. 3. Auch im zweiten Teil des Ersten Korintherbriefes (Kap. 5–16) ist nicht zu erkennen, dass die von Paulus teilweise sehr kritisch beschriebenen Verhaltensweisen und Konflikte eine Folge der in der Gemeinde vorhandenen sozialen Unterschiede waren. Allerdings werden die in 11,17–34 geschilderten tiefgreifenden Probleme bei der Feier des Herrenmahls und die Aussagen über das »Götzenopferfleisch« in 8,1–11,1 häufig auf die sozialen Unterschiede bzw. Gegensätze in der Gemeinde zurückgeführt. 1) In der Exegese von 11,17–34 wird oft gesagt, hier gehe es darum, dass die wohlhabenderen, »reichen« Gemeindeglieder bei der Mahlfeier, möglicherweise vorab, ein reichhaltiges Sättigungsmahl zu sich genommen hätten, während für die, möglicherweise später hinzu kommenden, armen Gemeindeglieder lediglich die karge, rein sakramentale Mahlzeit übriggeblieben sei.37 Diese Auslegung entspricht aber nicht dem im Text tatsächlich Gesagten. Schon die These von der Vorwegnahme des Sättigungsmahls paßt nicht zu der von 11,17 an gegebenen Schilderung des Geschehens; Paulus setzt dort voraus, dass es sehr wohl zu einer gemeinsamen Zusammenkunft őė őĔĔĕđĝưǪ kommt (11,18), und zwar, wie er ausdrücklich sagt, őĚƯ ĞƱ ċƉĞƲ (11,20). Dass es sich dann gleichwohl als »unmöglich« erweist, das ĔğěēċĔƱėĎďȉĚėęė zu essen, liegt, wie Paulus in V. 21a betont, daran, dass jeder (ŖĔċĝĞęĜ)38 bei diesem Essen (őėĞȦĠċčďȉė) sein eigenes Mahl (űĎēęė ĎďȉĚėęė) zu sich nimmt.39 Aufgrund dieser Praxis tritt der in V. 21b erwähnte Fall ein, dass »der eine hungert, der andere betrunken« ist. Diese Aussage 37 So theissen, Soziale Integration (s. Anm. 25), 293–311. Stegemann / Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte (s. Anm. 29), 245 meinen sogar: »Möglicherweise haben die christusgläubigen Gastgeber ihren wohlhabenderen Gästen bessere (und mehr) Speisen vorgesetzt als den übrigen.« Vgl. eine ähnliche Überlegung bei Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 367: »Vielleicht tafelte der vermögende Hausherr mit Seinesgleichen im Triclinium, während die Übrigen mit dem Atrium vorlieb nehmen mussten.« 38 Vgl. dazu A. Lindemann, Jede(r). Gemeinde und Individuum im 1. Korintherbrief, in: K. Schiffner / K. Wengst / W. Zager (Hg.), Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zur biblischen Exegese und christlichen Theologie. Horst Balz zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2007, 223–234. Dagegen ist nach Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 367 Anm. 115 »ŖĔċĝĞęĜ nicht immer buchstäblich zu nehmen«, wie schon 1,12 zeige. Zeller schreibt: »Obwohl Paulus von ›jedem‹ redet, haben offenbar die Reichen beim Herrenmahl (dafür verkürzt: őėĞȦĠċčďȉė) ihre üppigen Mitbringsel selbst verzehrt, anstatt sie mit den andern weniger Begüterten zu teilen« (aaO., 367). 39 Das Verb ĚěęĕċĖČƪėģ meint für sich genommen »zuvor nehmen« (Bauer, Wörterbuch, 61988, 1418); aber durch das Subjekt ŖĔċĝĞęĜ wird der zeitliche Sinn des Ěěę- faktisch aufgehoben. Es gibt keinen Grund, ŖĔċĝĞęĜ nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen (s. die vorige Anm.).

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läßt sich nur dann auf »die Armen« und auf »die Reichen« beziehen, wenn von vornherein vorausgesetzt wird, es gehe in dem ganzen Text um diesen Gegensatz. Da aber nichts in den Formulierungen des Paulus darauf hinweist, müßte erklärt werden können, warum er die sozialen Ursachen der von ihm kritisierten Verhältnisse nicht einmal andeutend erwähnt. Die in V. 22a gestellte rhetorische Frage »Habt ihr nicht Häuser …?« wäre ausgesprochen zynisch, wenn der Apostel die angeredeten »Reichen« nicht kritisieren, sondern im Gegenteil lediglich dazu auffordern würde, ihre – offenbar vor allem alkoholischen – Schwelgereien nicht in Gegenwart »der Armen« zu begehen; es spricht aber nichts dafür, dass sich Paulus mit dem rhetorischen Hinweis auf die ęŭĔưċē nur an diejenigen wendet, die Hauseigentümer sind.40 Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass innerhalb des Gedankengangs in V. 17–22 die Adressaten auf einmal wechseln41; man müßte sonst annehmen, angeredet seien schon von V.  17 an allein »die Reichen«, was aber weder zum Duktus der Argumentation in V. 17–22 noch insbesondere zu dem in V.  18 Gesagten paßt. Die Angeredeten sind offenkundig alle Gemeindeglieder, jedenfalls nicht lediglich eine bestimmte und womöglich sozial abgegrenzte – und nach 1,26 überdies sehr kleine – Gruppe innerhalb der Gemeinde. Die These einer auf soziale Gegensätze bezogenen Auslegung wird vom Text her lediglich durch die Formulierung in 11,22b, vor allem durch die Erwähnung der ĖƭŕġęėĞďĜ unterstützt; hier scheint sich Paulus nun doch speziell an die Besitzenden zu wenden und ihnen vorzuwerfen, sie beschämten durch ihr Verhalten »die Besitzlosen« und verachteten insofern die Gemeinde als ganze. Aber die Wendung ęŮĖƭŕġęėĞďĜ muß keineswegs in einem grundsätzlichen, »soziologischen« Sinn aufgefaßt werden, zumal ihr kein ęŮŕġęėĞďĜ o.ä. gegenübersteht. Gemeint sind diejenigen, die aufgrund der in V.  21 geschilderten Situation beim gemeinsamen Mahl leer ausgehen42 – von »Besitzlosen« ist nicht die Rede.43 40

So die Erwägung bei Stegemann / Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte (s. Anm. 29), 245. 41 Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 368: »Obwohl ęŭĔưċĜŕġďēė nicht bedeuten muss, dass ihnen die Häuser gehören, wäre V. 22a ein Zynismus, wenn er den Armen gesagt wäre.« Aber der Text wendet sich nach dem Zusammenhang an die ganze Gemeinde (»ihr«). 42 In 1 Esra 9,51.54 LXX/2 Esra 18,10 LXX ( Neh 8,10 hebr. Text) heißt es, dass »alle« (ĚƪėĞďĜ) am Tag der Verlesung der Tora essen und trinken sollen und dass sie Anteil daran geben sollen ĞęȉĜĖƭŕġęğĝēė (wobei der hebr. Text in Neh 8,10 von denen spricht, »die nichts für sich bereitet haben«); dass es sich dabei um »die Bedürftigen« als gleichsam feste soziale Gruppe handelt, ist dem Text nicht zu entnehmen. 43 Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 367 Anm. 119: »Bei Ėƭ ŕġęėďĞĜ ist das Mangelnde aus dem Kontext zu ergänzen: Häuser zum Essen und Trinken.«

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Um solches »Beschämen« zu verhindern, empfiehlt Paulus den Adressaten, d.h. allen Mitgliedern der Gemeinde, sie sollten vor der gottesdienstlichen Zusammenkunft zu Hause essen (11,22a.34a). Die Umsetzung dieses Ratschlags aber wäre selber ein Zeichen der Verachtung der Gemeinde, diesmal durch den Apostel selbst, denn dann würden die sozial bedingten unterschiedlichen Speisegewohnheiten und -möglichkeiten ja regelrecht festgeschrieben. Zeller meint zwar, Paulus fordere hier »konkret auch ein bestimmtes Sozialverhalten«: »Wenn das auch nicht ausdrücklich gesagt wird, sollen die mitgebrachten Speisen verteilt werden.«44 Aber warum schreibt Paulus tatsächlich etwas ganz anderes? In 11,33 dringt Paulus abschließend darauf, bei der gemeinsamen Mahlfeier solle sichtbar werden, dass die Gemeindeglieder »einander annehmen« (ŁĕĕƮĕęğĜőĔĎƬġďĝĒď) wenn sie zusammenkommen.45 Würde diese Forderung in Korinth verwirklicht, so würden die korinthischen Christen nicht mehr das űĎēęėĎďȉĚėęė zu sich nehmen, sondern stattdessen tatsächlich das ĔğěēċĔƱėĎďȉĚėęė miteinander feiern. 2) Ähnliches gilt für das von Paulus zuvor in 1 Kor 8 und 10 behandelte Thema »Götzenopferfleisch«. Der Aspekt, dass das Einkaufen auf dem Fleischmarkt46 und der Fleischverzehr in erster Linie eine Angelegenheit der wohlhabenderen Gemeindemitglieder gewesen sein könnte, klingt nicht an; selbst wenn dies aufs Ganze gesehen tatsächlich doch der Fall gewesen sein sollte47, so nimmt Paulus darauf jedenfalls nicht Bezug.48 Die geforderte Rücksichtnahme auf den »schwachen Bruder« meint nicht den sozial schlechter gestellten, sondern den im Glauben schwachen Mitchristen, der fürchtet, sich durch das Fleisch zu verunreinigen. Die Sozialstruktur der korinthischen Gemeinde findet außer in 1 Kor 1,26–29 innerhalb des Briefes nirgendwo explizit Erwähnung, und es lassen 44

Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 368. Das Verb őĔĎƬġęĖċē bedeutet gewöhnlich »annehmen«, erst von daher dann auch »erwarten« (so Apg 17,16; 1 Kor 16,11). In der Verbindung mit ŁĕĕƮĕęğĜ ist stark die Gegenseitigkeit betont (vgl. H. Krämer, Art. ŁĕĕƮĕģė, EWNT 1, Stuttgart 1980, 151 f.; selbst wenn man an der üblichen zeitlichen Bedeutung von őĔĎƬġďĝĒď in 1 Kor 11,33 festhält, wäre klar, dass sich die Aufforderung zu warten nicht speziell an »die Reichen« richtet, sondern an alle Mitglieder der Gemeinde, weil sonst das Pronomen ŁĕĕƮĕęğĜ an dieser Stelle keinen Sinn gäbe. 46 Vgl. D.-A. Koch, »Alles, was őėĖċĔƬĕĕȣ verkauft wird, eßt …« Die macella von Pompeji, Gerasa und Korinth und ihre Bedeutung für die Auslegung von 1 Kor 10,25, in: Ders., Hellenistisches Christentum (s. Anm. 24), 165–196. 47 Vgl. dazu A. C. Andrews / Th. Klauser, Art. Ernährung, RAC 6, Stuttgart 1966, 219–239. J. J. Megitt, Meat Consumption and Social Conflict in Corinth, JThS 45 (1994) 137–141 macht aber darauf aufmerksam, dass in den »Garküchen« Fertiggerichte mit einem (sehr kleinen) Fleischanteil verkauft wurden. 48 Das gilt ebenso für die Einladungen, von denen Paulus in 10,27–30 spricht. 45

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sich auch keine indirekten Bezugnahmen darauf plausibel machen. Mit seiner Aussage in 1,26 bringt Paulus ein empirisches Argument mit Blick auf die »Weisheit« ein, aber er will offensichtlich nicht auf einen für die Lebenswirklichkeit der Gemeinde womöglich entscheidend bedeutsamen Tatbestand hinweisen.

III. »Christen« und »Heiden« in Korinth Vor allem der Erste Korintherbrief läßt erkennen, dass sowohl die einzelnen Christinnen und Christen wie auch die Gemeinde als ganze in erheblichem Maße durch ihre Beziehungen zur nichtchristlichen Gesellschaft beeinflußt sind. Dabei gehören auch die nicht zu der őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ gehörenden Juden zur »Umwelt« der Christen in Korinth; dass das korinthische Christentum nicht so etwas wie eine »jüdische Sekte« ist, geht aus 1 Kor 10,32 hervor, wo Paulus »Juden, Griechen und die Kirche Gottes« als eigene Größen nebeneinander nennt.49 Das ganz normale Alltagsleben der Christen spielt selbst in diesem Paulusbrief eine erstaunlich geringe Rolle; anders als in der christlichen Literatur des 2. Jahrhunderts wird weder die Berufswelt erwähnt noch wird etwa die Frage erörtert, ob den Christen eine Teilnahme an kulturellen Ereignissen wie etwa der Besuch des Theaters oder eine sportliche Betätigung erlaubt sei oder nicht. Zwar nennt Paulus diese Lebensbereiche im Zusammenhang von Vergleichen oder auch als Metaphern50; aber die Frage, wie in der Realität damit umzugehen sei, scheint sich (noch) nicht gestellt zu haben – jedenfalls sieht Paulus hier offenkundig keinen Regelungsbedarf. Wenn er allerdings in 10,32 nachdrücklich fordert, die Adressaten des Briefes sollten ein gegenüber Juden und Griechen und der Kirche Gottes »unanstößiges« Verhalten an den Tag legen, so weist das darauf hin, dass sie unnötige Konflikte mit der Umwelt wie auch innerhalb der eigenen Gemeinde vermeiden sollen. Dafür, wie dies im Alltagsleben zu praktizieren ist, gibt Paulus keine detaillierten Hinweise; offenbar setzt er voraus, dass dies im Normalfall gar keiner Diskussion bedarf, da darüber innerhalb der Gesellschaft als ganzer Einigkeit besteht. Die dann konkret diskutierten und von Paulus dann auch entschiedenen Problemfälle betreffen primär Ausnahmesituationen; seine Hinweise können verstanden werden als Versuche, die Anwendung des in 10,32 genannten Maßstabs zu ermöglichen. 49 Vgl. D.-A. Koch, »Seid unanstößig für Juden und für Griechen und für die Gemeinde Gottes« (1 Kor 10,32). Christliche Identität im ĖƪĔďĕĕęė in Korinth und bei Privateinladungen, in: Ders., Hellenistisches Christentum (s. Anm. 24), 145–164. 50 In 1 Kor 4,9 verweist Paulus auf das Theater (bzw. das Schauspiel) und in 9,24–27 auf verschiedene Sportarten.

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1. Das erste gravierende Problem, das Paulus im zweiten Briefteil erörtert, ist der Fall des sogenannten »Blutschänders« (1 Kor 5). Der in V. 1b von Paulus nur knapp angedeutete, den Adressaten aber natürlich bekannte Tatbestand wird von Paulus extrem negativ bewertet, insbesondere durch den allen weiteren Ausführungen vorangehenden Hinweis, es gebe eine derartige Ěęěėďưċ nicht einmal bei den ŕĒėđ. Dieser Hinweis zielt offenkundig darauf bzw. er setzt voraus, dass das von Paulus ausgesprochene Unwerturteil bei den Adressaten eigentlich nur auf Zustimmung stoßen kann.51 Paulus verweist auf die bei den ŕĒėđ anerkannten sittlichen Normen; auf die Torabestimmung in Lev 18,8, in der die Beziehung zwischen einem Mann und der »Frau seines Vaters« ausdrücklich verboten wird, geht er dagegen nicht ein.52 Dies ließe sich möglicherweise damit erklären, dass der Mann, um den es geht, ein Heidenchrist ist; aus der weiteren Argumentation geht aber hervor, dass die übrige Gemeinde dem Geschehen offenbar kommentarlos zusah, d.h. auch die aus der jüdischen Tradition kommenden Christen hatten anscheinend keinen Protest angemeldet. Paulus schließt den Abschnitt in V. 13b mit der im Deuteronomium mehrfach begegnenden Aufforderung: »Tilgt den Bösen aus eurer Mitte«.53 Will Paulus damit jedenfalls die korinthischen Gemeindeglieder jüdischer Herkunft an eine Bestimmung des biblischen Strafrechts erinnern?54 Näher liegt die Annahme, dass Paulus in V.  12 f. die Rechtsbereiche voneinander abgrenzen will: Über »die draußen« (ęŮŕĘģ) wird Gott richten, dagegen ist für ęŮŕĝģ die Gemeinde verantwortlich. Im übrigen fehlt ja auch jeder Hinweis auf den Zitatcharakter von V. 13b.55 Michael Wolter nimmt an, Paulus habe die Situation in Korinth mißverstanden  – die Gemeinde habe das Verhalten des »Blutschänders« deshalb akzeptiert, weil es tatsächlich gar nicht anstößig gewesen sei, sondern mit der römischen bzw. hellenistischen Rechtsordnung übereinstimmte. Er läßt den »sogenannten Unzuchtsünder« 51 P. J. Tomson, Paul and the Jewish Law. Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles, CRI 1, Assen und Minneapolis 1990, 101 nimmt an, dass Paulus in 1 Kor 5 halachische Rechtsnormen anwendet; der Hinweis auf die ŕĒėđ in V. 1 sei »interesting enough, but it only functions as an additional argument«. Aber dieser Hinweis steht doch sehr betont an erster Stelle. 52 Zur Frage der Voraussetzungen für die sittlichen Entscheidungen, die Paulus im 1 Kor trifft, vgl. A. Lindemann, Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 91–114. 53 Vgl. Dtn 17,7; 19,19 u.ö. Die von Paulus im Plural formulierte Anweisung ist in LXX entsprechend dem hebr. Text singularisch formuliert, weil der Adressat Israel ist: »Du sollst …«. 54 So die Annahme von Tomson, Paul and the Jewish Law (s. Anm. 51), 101 f. 55 Anders Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 209: »Ob die Korinther den Anklang an Dtn wahrgenommen haben oder nicht, Paulus setzt jedenfalls mit dem Schriftwort [!] einen gewichtigen Schlusspunkt.« Aber warum wird dieser Schriftcharakter dann nicht erwähnt?

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einen fiktiven Brief schreiben, in dem sich der Betreffende nachdrücklich gegen die Vorwürfe des Paulus wehrt. Er lebe mit der ehemaligen Konkubine seines verstorbenen Vaters zusammen, und das sei zwar nach jüdischem Verständnis Ěęěėďưċ, sei aber sonst »bei uns zwar nicht an der Tagesordnung, doch es kommt immer mal wieder vor«; die Aussage in V. 1 (… ęƉĎƫőėĞęȉĜŕĒėďĝēė) sei eine gewaltige Übertreibung.56 Wolter meint, das Verhalten des Mannes sei in Korinth als »reine Privatsache« aufgefaßt worden, während Paulus dazu neige, »sich bei der Thematik sexualethischer Fragen dezidiert jüdisch zu positionieren«; dafür spreche gleich zu Beginn der erkennbare Rückgriff auf Lev 18,8.57 Aber die Feststellung in 5,1 – unabhängig davon, ob es sich um den Hinweis auf einen Tatbestand handelt (»… kommt nicht einmal bei den ŕĒėđ vor«) oder um eine anerkannte Rechtsnorm (»… wird nicht einmal bei den ŕĒėđ geduldet«) – geht davon aus, dass der von Paulus gegebene Hinweis als zutreffend angesehen wird. Dabei bezeichnet der Begriff ŕĒėđ offensichtlich nicht »Völker« im Gegensatz zu Juden bzw. zu Israel, sondern Menschen, die nicht zur Gemeinde gehören. Dieser Sprachgebrauch liegt auch in 12,2 vor; das Gegenüber von »Heiden« und Juden drückt Paulus im 1 Kor durch ŜĕĕđėďĜ und ŵęğĎċȉęē aus.

Wenn Paulus in 5,1 auf die sittlichen Maßstäbe der Umwelt – und gerade nicht auf die jüdischen Normen – verweist, so bedeutet das nicht, dass diese von der christlichen Gemeinde generell übernommen werden sollen. Im Gegenteil: Gerade angesichts der in 5,9.10 folgenden Aussagen, wo Paulus der »Welt« pauschal Unmoral unterstellt, tritt die in V.  1 formulierte Kritik um so schärfer hervor. Aber auch in V.  9.10 fordert Paulus ausdrücklich nicht, jeder Kontakt zur »Welt« müsse abgebrochen werden. Damit korrigiert er eine in einem früheren Brief gemachte, offenbar mißverständliche und in Korinth tatsächlich mißverstandene Aussage.58 Eine prinzipielle Trennung von der umgebenden Gesellschaft, einen Rückzug aus dem ĔƲĝĖęĜ, kann und darf es für die Angehörigen der Gemeinde nicht geben. Paulus muß gerade angenommen haben, das in seinem in 5,1 vorweggenommenen Urteil vorausgesetzte kulturelle Wissen werde von den korinthischen Christen geteilt. 2. In 1 Kor 6,1–8 verwirft Paulus die von der Gemeinde offenbar ebenfalls tolerierte Praxis, dass Christen gegeneinander Prozesse vor »ungerechten« bzw. »ungläubigen«, d.h. nicht zur Gemeinde gehörenden Richtern führen. 56

M. Wolter, Der Brief des sogenannten Unzuchtsünders, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 181–196, hier: 190. 57 Wolter, Brief (s. die vorige Anm.), 192.193. 58 Der in 1 Kor 5,9 erwähnte frühere Brief ist augenscheinlich verlorengegangen; alle Versuche, ihn innerhalb der paulinischen Korrespondenz mit Korinth zu finden, sind m. E. vergeblich, denn es gibt nirgendwo eine Aussage, als deren zusammenfassende Inhaltsangabe 5,9 verstanden werden könnte. Anders G. Sellin, 1 Korinther 5–6 und der »Vorbrief« nach Korinth. Indizien für eine Mehrschichtigkeit von Kommunikationsakten im Ersten Korintherbrief, in: Ders., Studien zu Paulus und zum Epheserbrief, hg. von D. Sänger, FRLANT 229, Göttingen 2009, 53–74.

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Dabei geht es um ČēģĞēĔƪ, also vermutlich um Vermögensfragen, ohne dass damit etwas über die Höhe des jeweils rechtlich umstrittenen Betrags gesagt ist. Die Kritik des Apostels greift unmittelbar in das Alltags- und vermutlich auch in das Berufsleben zumindest einiger korinthischer Christen ein. Man braucht nicht anzunehmen, Christen in Korinth hätten gleichsam fortgesetzt gegeneinander prozessiert – im Grunde genügt die Annahme, dass Paulus von einem einzigen Fall dieser Art gehört hat.59 Entscheidend für das Urteil des Paulus ist offenbar die Tatsache, dass es überhaupt derartige Verfahren gab, die nicht nur von den unmittelbar Beteiligten selbst, sondern auch von den übrigen Gemeindegliedern als mit der christlichen Lebenspraxis durchaus vereinbar angesehen wurden. Der in 1 Kor 6,7 formulierte, an Mt 5,39–40 erinnernde Grundsatz, es sei besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, belegt, dass es bei den von Paulus erwähnten Rechtsstreitigkeiten nicht um die Ausbeutung von Armen und Wehrlosen durch Mächtige und Reiche ging, sondern um rechtliche Auseinandersetzungen unter grundsätzlich ebenbürtigen Gegnern. Ironisch fragt Paulus, ob es denn in der doch so sehr an »Weisheit« interessierten Gemeinde keinen einzigen »Weisen« gibt, der imstande wäre, bei solchen Streitigkeiten als Richter zu fungieren: Warum suchen die ņčēęē ihr Recht ausgerechnet bei den ŅĎēĔęē? Warum die Anrufung nicht-christlicher Richter durch Mitglieder der Gemeinde inakzeptabel ist, sagt Paulus nicht ausdrücklich. Möglicherweise sieht er durch solche nach außen getragenen gruppeninternen Konflikte das Ansehen oder auch die Einheit der Gemeinde gefährdet; aber denkbar ist auch, dass er das »heidnische« Gerichtswesen aufgrund der mit ihm verbundenen religiösen Aspekte ablehnt.60 3. Auch im Blick auf das in 1 Kor 6,12–20 erörterte Thema Ěęěėďưċ braucht man nicht anzunehmen, der sexuelle Verkehr mit Prostituierten habe durchgängig zum selbstverständlichen Alltag aller (männlichen) Christen in Korinth gehört. Das Problem besteht für Paulus auch hier vor allem darin, dass die Gemeinde zumindest in ihrer Mehrheit die Praxis der Ěęěėďưċ anscheinend widerspruchslos tolerierte. Paulus betont deshalb, dass die Zugehörigkeit der Christen zu Christus auch und gerade deren leibliche Existenz betrifft, weil der Leib »Tempel des heiligen Geistes« ist (6,19).61 Die in Korinth tätigen ĚƲěėċē werden nicht zur christlichen őĔĔĕđĝưċ gehört haben; denkbar ist aber, nicht zuletzt vor dem Hintergrund von 6,9–11, dass 59

Vgl. Schrage, Erster Korintherbrief I (s. Anm. 1), 406 Anm. 23. In hellenistischer und römischer Zeit gab es ein im modernen Sinn unabhängiges Gerichtswesen nicht; vgl. G. Thür / P. E. Pieler, Art. Gerichtsbarkeit, RAC 10, Stuttgart 1978, 360–492, besonders 378–383. 61 Vgl. 1 Kor 3,16, wo sich diese Wendung in ähnlicher Weise findet, freilich bezogen auf die Gemeinde. 60

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auch ehemalige Prostituierte zur Gemeinde gehörten, was freilich Spekulation bleiben muß.62 4. Die auffälligsten Aussagen über die konkreten Beziehungen von Christinnen und Christen zu Nichtchristen finden sich in 1 Kor 7,12–16; hier erörtert Paulus im Zusammenhang eines längeren Abschnitts zum Thema ›Ehe und Sexualität‹ in großer Ausführlichkeit die Situation religionsverschiedener Ehen. Zwar war es vermutlich nicht so, dass bereits zur őĔĔĕđĝưċ gehörende Männer bzw. Frauen »ungläubige« Partner geheiratet hatten – jedenfalls dürfte Paulus, sofern man seine an die Witwen gerichtete Weisung in 7,39 verallgemeinern darf, eine solche Eheschließung für ausgeschlossen gehalten haben. Aber es war offenbar nicht selten der Fall eingetreten, dass sich in einer Familie bzw. innerhalb einer Ehe nur einer der Partner für den christlichen Glauben und damit für die Zugehörigkeit zur Gemeinde entschieden hatte, der Rest des »Hauses« dagegen nicht.63 Solche »Mischehen« werden nicht der Regelfall gewesen sein; aber nach den Ausführungen in V. 2–7.8–11 machen es die den neuen Abschnitt einleitende Wendung ĞęȉĜĎƫĕęēĚęȉĜĕƬčģ (V. 12) und die dann folgende detaillierte kasuistische Argumentation im ganzen sehr wahrscheinlich, dass Paulus hier keineswegs ein lediglich sehr vereinzelt vorkommendes Phänomen womöglich nur hypothetisch erörtert.64 Paulus macht den Fortbestand einer solchen Ehe erstaunlicherweise von der Entscheidung des nicht-christlichen Partners abhängig: Will er oder sie sich vom christlichen Partner trennen, so braucht dieser – abweichend von der zunächst in V. 10 gegebenen auf Jesus zurückgeführten Weisung65 – nicht an dieser Ehe festzuhalten. Paulus spricht andererseits in V.  14 sehr betont von der »Heiligung« des »ungläubigen« Partners (und der Kinder!66) durch den christlichen Partner; möglicherweise wendet er sich damit gegen Bestrebungen, solche Ehen aufzulösen mit dem Argument, der christliche Partner werde durch den 62 Vgl. A. C. Wire, The Corinthian Women Prophets. A Reconstruction through Paul’s Rhetoric, Minneapolis 1990, 76. Vgl. vor allem R. Kirchhof, Die Sünde gegen den eigenen Leib. Studien zu ĚƲěėđ und Ěęěėďưċ in 1 Kor 6,12–20 und dem sozio-kulturellen Kontext der paulinischen Adressaten, StUNT 18, Göttingen 1994. – Dass die ĚƲěėċē im Zusammenhang kultischer (Tempel-)Prostitution tätig gewesen wären, ist sehr unwahrscheinlich; vgl. H. Conzelmann, Korinth und die Mädchen der Aphrodite. Zur Religionsgeschichte der Stadt Korinth, in: Ders., Theologie als Schriftauslegung. Aufsätze zum Neuen Testament, BEvTh 65, Münchrn 1974, 152–166. 63 Vgl. die unterschiedlichen Formulierungen in 1,14 und in 1,16. 64 Überdies sind diese Ausführungen ein weiterer Beleg für die Annahme, dass die Gemeinde zahlenmäßig nicht zu klein gedacht werden sollte. 65 Vgl. dazu: Paulus und die Jesustradition (s.o. S. 73–115, hier 82 f.). 66 Vgl. dazu A. Lindemann, … őĔĞěƬĠďĞďċƉĞƩőėĚċēĎďưǪĔċƯėęğĒďĝưǪĔğěưęğ (Eph 6.4). Kinder in der Welt des frühen Christentums, NTS 56 (2010) 169–190.

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»Heiden« bzw. die »Heidin« unrein.67 Die abschließende Überlegung des Paulus in V.  15c.16 scheint anzuzeigen, dass er es jedenfalls für möglich hält, es werde innerhalb einer religionsverschiedenen Ehe doch noch zur »Rettung« des nichtchristlichen Partners kommen.68 5. Die in 7,12–16 so differenziert dargestellten Familienverhältnisse könnten zur Entstehung jener Problemfälle beigetragen haben, von denen Paulus im folgenden Teil des Briefes spricht. Die Gelegenheit für Christen, mit »Götzenopferfleisch« in Berührung zu kommen (Kap. 8–10), wäre leicht zu erklären, wenn die Einladungen zu derartigen Mahlzeiten im familiären Rahmen erfolgten. Der »ungläubige« Ehepartner mochte erwarten oder wünschen, dass der Partner das »heidnische« Heiligtum gemeinsam mit ihm / ihr besucht und dort auch an Mahlzeiten teilnimmt (8,10). Verwandte könnten darum gebeten oder sogar verlangt haben, dass das zur »christlichen« őĔĔĕđĝưċ gehörende Familienmitglied bei bestimmten Anlässen die entsprechende Feier besucht. Paulus differenziert sehr genau: In 8,10–14 warnt er vor der möglichen Außenwirkung eines bestimmten Verhaltens, ohne dass dieses Verhalten als solches anzufechten wäre. In 10,14 warnt er pauschal vor ďŭĎģĕęĕċĞěưċ, also vor jeglicher Teilnahme an einer Kultfeier; in 10,27 dagegen schreibt er, die von einem der ŅĚēĝĞęē ausgesprochene Einladung zu einem Mahl brauche nicht abgelehnt zu werden.69 Situationen wie die in 8,10 und vor allem in 10,27 ff. beschriebenen sind gerade vor dem Hintergrund religionsverschiedener Ehen vorstellbar; es kam Paulus darauf an, im konkreten Fall dem Christen bzw. der Christin ein angemessenes Handeln nahezulegen. Maßstab für die zu treffende Entscheidung ist die Rücksichtnahme auf den ausdrücklich so bezeichneten »schwachen Bruder«, also auf diejenigen Christinnen und Christen, deren Glaube durch die an sich mögliche und dann auch praktisch vollzogene Entscheidung des anderen Christen objektiv gefährdet würde. Die Unterschiede zwischen den »Schwachen« und den anderen70 werden nicht verwischt; Paulus sagt auch nicht, die von ihm unmittelbar auf ihr mögliches Verhalten hin Angesprochenen seien in der Sache im Unrecht. Aber er betont, dass die Gemeinde und die zu ihr Gehörenden durch die Praxis des konkreten Verhaltens nicht gefährdet werden dürfen. Dies kann zu einer schwierigen Gratwanderung führen, wie durch die abschließend genannte 67

Wire, Corinthian Women Prophets (s. Anm. 52) 84–86 sieht Anzeichen dafür, »that Paul is dealing in Corinth more with women than with men who have left nonbelieving spouses. Since Paul concedes freedom to the abandoned, it is evident that those he wants to persuade to stay with spouses have taken the initiative to leave« (86). 68 Vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 167. 69 Vgl. dagegen die Mahnung in Ex 34,15. 70 Den Begriff »Starke« verwendet Paulus nicht.

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Norm in 10,32 deutlich wird: Das Verhalten der Christen, gerade auch im Zusammenhang der Götzenopferproblematik, soll sich möglichst so gestalten, dass niemandem – weder Juden noch »Griechen« noch der Kirche Gottes – ein »Anstoß« bereitet wird. 6. In den sachlichen Kontext des »Unanstößigen« gehört offenbar auch die von Paulus in 11,2–16 vorgebrachte Kritik am barhäuptigen Predigen und Beten von Frauen in der gottesdienstlichen Versammlung. Nach der vorangestellten captatio benevolentiae in V. 2 beginnt Paulus seine Kritik in V. 3 mit der Beschreibung der Beziehungen zwischen Mann, Christus, Frau und Gott.71 In V. 4.5 betont Paulus, das Auftreten von Männern und Frauen hinsichtlich Haartracht und Kopfbedeckung müsse sich unterscheiden, wobei seine Argumentation voraussetzt, dass die Adressaten dem zustimmen werden. In V. 7–10 folgt eine ergänzende schöpfungstheologische Begründung, in der Paulus implizit auf Gen 2 Bezug nimmt – die Frau ist »aus dem Mann« genommen und um des Mannes willen geschaffen worden. Paulus fügt in V. 11.12 jedoch hinzu, őėĔğěưȣ besäßen diese Perspektiven im Grunde keine Geltung – das Gesagte ist eine Korrektur und geradezu Rücknahme der Aussagen von V. 7–10.72 Der Schluß des Gedankengangs in V. 13–16, wo Paulus ganz unterschiedliche Argumente nebeneinander stellt, zeigt, dass die in V. 4 f. genannte Norm, die Paulus in Korinth durchsetzen will, letztlich weder ekklesiologisch noch christologisch noch überhaupt theologisch begründet werden kann; entscheidendes Kriterium scheint vielmehr die Rücksichtnahme auf die umgebende Gesellschaft zu sein: Was im christlichen Gottesdienst geschieht, soll von Außenstehenden nicht als »sittenwidrig« wahrgenommen werden können. Man braucht deshalb gar nicht genau zu wissen, ob Frauen in Korinth zur Zeit des Ersten Korintherbriefes in der Öffentlichkeit üblicherweise eine Kopfbedeckung trugen oder nicht.73 Die Argumentation des Paulus setzt seine Annahme voraus, dass man dem Urteil, barhäuptiges öffentliches Reden von Frauen sei »unziemlich« (V. 13), auf jeden Fall zustimmt – andernfalls wäre der Appell ĔěưėċĞď sinnlos. Die Argumentation des Apostels in 11,2–16 blickt also über die Ebene einer rein innergemeindlichen Plausibilität hinaus und nimmt die in 10,32 genannte Norm auf.

71

Es geht nicht um eine abgestufte Hierarchie, sondern um Relationen. In V. 12 wiederholt Paulus zunächst den Bezug zum Schöpfungsbericht – die Frau ist őĔĞęȘŁėĎěƲĜ (Gen 2,23 LXX); doch dann verweist er darauf, dass der Mann ebenso ĎēƩĞǻĜčğėċēĔƲĜ ist, und es heißt dann abschließend (V. 12):ĞƩĎƫĚƪėĞċőĔĞęȘĒďęȘ. Vgl. Lindemann, Erster Korintherbrief (s. Anm. 68), 243–245. 73 Vgl. C. L. Thompson, Hairstyles, Head-Coverings, and St. Paul. Portraits from Roman Corinth, BA 51 (1988) 99–115. 72

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7. Auch die in 14,23–25 geschilderten Szenen lassen sich von hier aus verständlich machen. Die ŅĚēĝĞęē oder ŭĎēƶĞċē, die als Gäste am christlichen Gottesdienst teilnehmen, könnten beispielsweise Familienangehörige sein, insbesondere der (noch) nicht für den Christusglauben gewonnene Ehepartner. Wer als ŅĚēĝĞęĜ bzw. als ŭĎēƶĞđĜ in die gottesdienstliche Versammlung kommt74, besucht diese vermutlich nicht mit Skepsis oder gar innerer Abwehr, sondern eher wohlwollend oder zumindest interessiert. In solchen Besuchen sieht Paulus eine Chancen zur Mission eröffnende Möglichkeit, die nicht dadurch verspielt werden darf, dass das Erleben einer glossolalischen Ekstase beim ŅĚēĝĞęĜ Unverständnis oder auch einfach nur Spott auslöst.75 Die gottesdienstlichen Versammlungen der őĔĔĕđĝưċ in Korinth werden kaum im strengen Sinne »öffentlich« gewesen sein; um so mehr kann man vermuten, dass es sich bei den von Paulus erwähnten ŅĚēĝĞęē und ŭĎēƶĞċē jedenfalls auch vor allem um Familienangehörige von Gemeindemitgliedern handelte. 8. Durch die familiäre Situation erklärt sich vielleicht auch die in 1 Kor 15,29 von Paulus erstaunlich »neutral« erwähnte Praxis der »Vikariatstaufe« am leichtesten. Wenn es in der korinthischen Gemeinde die »enthusiastische« Überzeugung gab, die Taufe bedeute das Hineingehen in ein vom Tod nicht mehr bedrohtes neues Leben76, so mochten Christen glauben können, dass eine für bereits Verstorbene stellvertretend empfangene Taufe auch diesen Anteil am neuen »Leben« gewähre; das ist besonders dann vorstellbar, wenn man annimmt, es sei vor allem an verstorbene Familienangehörige gedacht worden.77 Die einzelnen Christen und die christliche Gemeinde in Korinth als ganze bildeten weder so etwas wie eine »Welt für sich«, noch waren sie gar im politisch-rechtlichen Sinne ein eigenes ĚęĕưĞďğĖċ. Paulus sagt ihnen aber auch nicht, sie hätten ein »Bürgerrecht im Himmel« (so Phil 3,20), sondern Zum ďŭĝƬěġďĝĒċē als einem »Hinzukommen« zum bereits begonnenen Gottesdienst vgl. J. Chr. Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II/59, Tübingen 1994, 65. 75 Vgl. dazu Sung Bok Choi, Geist und christliche Existenz. Das Glossolalieverständnis des Paulus im Ersten Korintherbrief (1 Kor 14), WMANT 115, NeukirchenVluyn 2007. 76 Dies ist m. E. der Hintergrund der in 15,12b zitierten korinthischen Aussage ŁėƪĝĞċ ĝēĜ ėďĔěȥė ęƉĔ ŕĝĞēė; vgl. zu den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten Chr. M. Tuckett, The Corinthians Who Say »There is no resurrection of the dead« (1 Cor 15.12), in: R. Bieringer (ed.), The Corinthian Correspondance, BEThL 125, Leuven 1996, 247–275. 77 Vgl. dazu Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 1), 499 f.: Der korinthische Brauch entspringe »einer für die Volksfrömmigkeit typischen automatischen Auffassung der Sakramente«; warum es gleichzeitig aber »keinen Anhalt für ein ›mysterienhaftes Verständnis‹ der Sakramente in der korinthischen Gemeinde« gibt, ist mir nicht ganz deutlich. 74

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sie leben als unmittelbarer Teil ihrer sozialen und kulturellen Wirklichkeit. Die Folge sind gelegentliche Konflikte mit dieser Wirklichkeit, bisweilen auch Konflikte untereinander; die so gegebene Situation bietet aber zugleich auch missionarische Chancen. Mit beiden Aspekten setzt sich Paulus im Ersten Korintherbrief auseinander.

IV. Die Argumentationsrichtung der Korintherbriefe im ganzen 1. Der Erste Korintherbrief Aus den hier dargestellten exegetischen Beobachtungen Erkenntnissen ergeben sich Folgerungen für die Auslegung der Korintherbriefe im ganzen. Möglicherweise und vielleicht sogar wahrscheinlich wurde der erste der uns erhaltenen Briefe (1 Kor) von Paulus gar nicht als ein reiner »Binnentext« konzipiert, dessen argumentative Plausibilität lediglich auf der vom Autor und den Adressaten gleichermaßen anerkannten Basis eines gemeinsamen Überzeugungssystems zu funktionieren brauchte. Vielmehr scheint Paulus bei der Abfassung des Briefes – zumindest in dem in Kap. 5 beginnenden Abschnitt  – durchgängig vorausgesetzt zu haben, dass ein nicht geringer Teil der Adressaten und letztlich auch die Gemeinde als ganze in einer Art »doppelter Loyalität« lebte: Einerseits bestand selbstverständlich die Bindung an den Glauben und damit an Christus als den ĔƴěēęĜ und so auch an die in diesem Glauben stehenden ŁĎďĕĠęư, doch andererseits gab es auch eine Bindung an die »griechische« Alltagswelt, die für offenbar nicht wenige schon im engsten Familienkreis begann. Möglicherweise sind die in 1 Kor 7,32–35 ausgesprochenen generellen Warnungen vor der Ehe von dieser Situation her zu lesen. Die Adressaten des Briefes kommen für Paulus nicht allein als Mitglieder der christlichen őĔĔĕđĝưċ in den Blick, als gäbe es ausschließlich Probleme, die aus dem christlichen Glauben und aus der Zugehörigkeit zur Gemeinde resultieren und allein in diesem Rahmen gelöst zu werden brauchen. Zwar werden in 1 Kor 1–4 vor allem interne Gemeindefragen erörtert, wobei die »Welt« eher als ein fremdes Gegenüber erscheint78, aber in 1 Kor 5–16 kommen dann ganz überwiegend die Außenbeziehungen in den Blick. Spätestens hier setzt Paulus implizit eine Art »doppelter Hörerschaft« voraus: Was der Apostel jetzt den Adressaten vermittelt, soll offensichtlich auch vor dem Forum einer »ungläubigen« Umwelt bestehen können; wiederum liegt die Annahme nahe, dass dabei insbesondere an die durch die Themen 78

Dieser Aspekt wird besonders in 1 Kor 2,6–16 deutlich.

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des Briefes direkt oder indirekt mitbetroffenen nichtchristlichen Ehepartner der Christinnen und Christen zu denken ist. Die Normen und die konkreten Ratschläge, die Paulus aktuell formuliert oder aus jüdischer oder auch popularphilosophischer Tradition übernimmt, sollen auch Nichtchristen einleuchten oder bei ihnen zumindest nicht Abwehr oder inneren Widerstand auslösen. Zugespitzt gesagt: Die Argumentation zielt darauf, dass der in 1 Kor 14,23–25 beschriebene Maßstab auch für den Text des Briefes selber gelten kann. Die Berücksichtigung dieser Perspektive zeigt sich in den verschiedenen Abschnitten des Briefes auf jeweils unterschiedliche Weise. Beim Fall des »Blutschänders« (Kap. 5) wird schon in der Einleitung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch »Heiden« den vom Apostel vertretenen ethischen Standpunkt für richtig halten; die Forderung des Paulus, die Gemeinde solle den betreffenden Mann ausschließen, mußte dementsprechend als in jeder Hinsicht plausibel erscheinen. In 6,1–8 ist es das Prozessieren von Christen gegeneinander, das von Paulus rundheraus verworfen wird, andere Prozesse stehen nicht zur Diskussion. Damit stellt der Apostel zwar eine reine Binnennorm auf, doch gerade als solche konnte sie auch von Außenstehenden ohne weiteres akzeptiert werden, denn »Brüder« ziehen selbstverständlich nicht gegeneinander vor Gericht.79 Der unmittelbar anschließend verwendete »Lasterkatalog« in 6,9.10 zählt nur solche Taten (bzw. »Täter«) auf, die auch nach den sittlichen Maßstäben von »Heiden« (wenn auch nicht unbedingt in ihrer Praxis) als verwerflich gelten konnten.80 In 6,12–20 lehnt Paulus nicht die sexuelle Beziehung eines Christen zu einer heidnischen Frau ab, sondern er verwirft allein den Umgang mit der ĚƲěėđ.81 Die in den einzelnen Abschnitten in 1 Kor 7 vorgetragenen Ratschläge oder Anweisungen sind ebenfalls von solcher Art, dass Nichtchristen ihnen zumindest grundsätzlich zustimmen konnten; eine Ausnahme ist lediglich das in jeder Hinsicht ungewöhnliche Ehescheidungsverbot, für das Paulus sich ausdrücklich auf den ĔƴěēęĜ beruft – doch dieses gilt, wie sich sofort herausstellt, allein für Ehen von Christen untereinander. Auch alle weiteren Weisungen für das Verhalten von Christen führen durchweg nicht dazu, dass der Abbruch von Kontakten zu Nichtchristen unvermeidlich wird; die einzige, freilich fundamentale Ausnahme ist das Verbot der direkten Teilnahme an dem als »Götzendienst« apostrophierten heidnischen Kult (10,14–22). 79

Vgl. dazu Schrage, Erster Korintherbrief I (s. Anm. 1), 408. Vgl. Schrage, aaO., 430–432. R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality. Contextual Background for Contemporary Debate, Philadelphia 1983, 101–109, bes. 108. 81 Dieser moralischen Position könnte vermutlich die nicht der Gemeinde angehörende Ehefrau eines christlichen Mannes zugestimmt haben, auch wenn Paulus auf diesen Aspekt nicht ausdrücklich hinweist. 80

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Auf der anderen Seite lassen sowohl die Beschreibung der Kirche als eines geradezu »demokratisch« zu verstehenden »Leibes« (12,12–30) wie auch die in 1 Kor 13 ausgesprochenen Gedanken über die Liebe und nicht zuletzt sogar die explizit an allgemeine Erfahrungen anknüpfenden Ausführungen über die Totenauferstehungshoffnung (1 Kor 15, vor allem V. 35 ff.) erkennen, dass dem Apostel offensichtlich daran gelegen war, eine womöglich nur innerchristlich nachvollziehbare Logik in der Argumentation zu vermeiden. 2. Der Zweite Korintherbrief Der Zweite Korintherbrief, wie immer man ihn literarkritisch beurteilt, zeigt eine andere Tendenz. Offensichtlich waren nach Abfassung des ersten uns erhaltenen Briefes in Korinth christliche pauluskritische Prediger bzw. Missionare aufgetreten, deren Aktivität zu erheblichen Konflikten zwischen Paulus und der (Mehrheit der) Gemeinde geführt hatte. Paulus nimmt an, dass diese Missionare aus jüdischer Tradition kommen, also Judenchristen sind (11,22.23a), auch wenn nicht zu erkennen ist, dass sie von den Gliedern der Gemeinde in Korinth eine direkte Toraobservanz und womöglich die Beschneidung forderten. Möglicherweise verlangten sie eine im Vergleich zu den Aussagen des Paulus im Ersten Korintherbrief sehr viel rigidere Trennung der Christen von der sie umgebenden Gesellschaft; dabei könnten sie ihren Forderungen möglicherweise durch ihr persönliches Auftreten, insbesondere durch den Verweis auf die ihnen offenbar eigenen religiösen Qualitäten besonderen Nachdruck verliehen haben. Das Problem der Außenbeziehungen der Christen klingt in den Briefen, die in dem jetzt vorliegenden »Zweiten Korintherbrief« enthalten sind82, nur am Rande an; es wird sichtbar in dem Peristasenkatalog 6,4–1083, den Paulus bezeichnenderweise einleitet mit der an 1 Kor 10,32 erinnernden Bemerkung, es solle niemandem gegenüber eine ĚěęĝĔęĚƮ verursacht werden, damit »der Dienst« (ŞĎēċĔęėưċ) nicht »verlästert« werde.84 Zu Beginn des in 2 Kor 10–13 offenbar weitgehend vollständig erhaltenen »Kampfbriefes«85 setzt sich Paulus gegen den Vorwurf zur Wehr, er wandele ĔċĞƩ 82 Die Gründe für eine »Teilung« des 2 Kor, richtiger: für die Annahme einer sekundär erfolgten Redaktion mehrerer Briefe, die zum jetzt vorhandenen »Zweiten Korintherbrief« führte, sind trotz der Differenzen bei den Ergebnissen im einzelnen stärker als die Argumente für eine ursprüngliche Einheitlichkeit. Einen umfassenden Forschungsüberblick (mit einem Plädoyer für die Einheit) gibt R. Bieringer, in: Ders. / J. Lambrecht, Studies on 2 Corinthians, BEThL 112, Leuven 1994, 67–105.107–130.131–179. 83 M. E. stand dieser Abschnitt in dem zeitlich ersten der im 2 Kor verarbeiteten Briefe. 84 Zum Verständnis von Paulus als ĎēƪĔęėęĜĒďęȘ in 2 Kor 6,1–10 s. A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007, 122–126. 85 Dieser Brief ist m. E. nicht mit dem in 2 Kor 2,4 erwähnten »Tränenbrief« identisch; er wurde offensichtlich nach dem sog. »Zwischenbesuch« verfaßt.

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ĝƪěĔċ (10,2–3); offenbar war ihm die »weltoffene« Haltung, die der Erste Korintherbrief an etlichen Stellen erkennen läßt, als ein ĚďěēĚċĞďȉėĔċĞƩ ĝƪěĔċ ausgelegt und zum Vorwurf gemacht worden. Dass Paulus dies nicht argumentativ zurückweist zeigt, dass er sich nicht auf diese Ebene der Diskussion begeben will. Seine der Gemeinde (nicht den Gegnern!) gegenüber vorgebrachte Reaktion wird in 10,7 und dann vor allem in der »Narrenrede« (11,16–12,10) deutlich. Das theologische bzw. ekklesiologische Denken der Gegner des Paulus kommt möglicherweise in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit als unpaulinisch, womöglich sogar als antipaulinisch anzusehenden Textabschnitt 2 Kor 6,14–7,1 zum Ausdruck.86 Die in 6,14 in massiver Form vorgebrachte Forderung, Christen dürften unter keinen Umständen gemeinsame Sache machen mit den »Ungläubigen«, steht in deutlichem Widerspruch zu den Aussagen des Paulus in 1 Kor 7,12–16 oder auch in 1 Kor 10,27, wo der Apostel den Kontakt zu den »Ungläubigen« durchaus nicht verworfen hatte.87 Und während Paulus in 1 Kor 14,23–25 vorausgesetzt hatte, dass ŅĚēĝĞęē ohne weiteres an den Zusammenkünften der christlichen őĔĔĕđĝưċ teilnehmen können, wird eine solche Möglichkeit durch den in 2 Kor 6,14–16a ausgesprochenen Dualismus scharf zurückgewiesen. Die in 6,16b–18 folgenden biblischen Zitate unterstreichen das, insofern sie durchgängig auf die Forderung einer Trennung des Gottesvolkes88 von der übrigen Welt hinauslaufen und eine »Reinigung« des »Tempels Gottes« verlangen.89 Der in dieser Weise religiös begründete ethische Rigorismus der Paulusgegner in Korinth könnte in der Gemeinde einen tiefen Eindruck hinterlassen und so entscheidend zu dem in 2 Kor 10–13 sichtbar werdenden zumindest zeitweiligen Erfolg der Gegner geführt haben. Der spätere Redaktor des »Zweiten Korintherbriefes« hielt den Text 6,14–7,1 nicht für unpaulinisch, sondern verstand ihn als ein Zeugnis für den am Ende ja siegreichen Kampf des Apostels gegen Irrlehre und Irrlehrer allgemein. Aus der Sicht des Redaktors waren die ŅĚēĝĞęē von 6,14 möglicherweise geradezu die Paulusgegner selber. Die Hypothese, 2 Kor 6,14–7,1 verdanke sich der Theologie der in Korinth aktiven Gegner des Paulus, erklärt am einfachsten, auf welche Weise dieser Text in das Corpus der kleineren Korintherbriefe des Paulus 86 Für die paulinische Verfasserschaft und für die ursprüngliche Stellung hier plädieren J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14–7,4, TANZ 10, Tübingen 1993, 327–334 und M. E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians, vol. I. Introduction and Commentary on II Corinthians I–VII, ICC, Edinburgh 1994, 25–36. Zur Gegenposition vgl. vor allem V. P. Furnish, II Corinthians, AncB 32A, Garden City 1984, 371–383. 87 Diese Differenz wird natürlich auch von den Befürwortern der Authentizität des Abschnitts gesehen; Thrall (s. die vorige Anm.), 473 spricht von »Paul’s more liberal attitudes in 1 Corinthians«; Schröter (s. die vorige Anm.), 329 sieht »eine gewisse Spannung … zu Aussagen aus 1 Kor«, die dann aber nicht weiter erörtert wird. 88 Die Zitatsammlung setzt als von vornherein gegeben voraus, dass die Adressaten das Gottesvolk (ĕċƲĜ) sind; das verweist auf einen dezidiert judenchristlichen Hintergrund; bei Paulus begegnet die Bezeichnung der Kirche als »(neues) Gottesvolk« nicht. 89 Das ist die Konsequenz, die in 7,1 ausgesprochen wird. Dabei fällt vor allem die Verwendung des Verbs ĔċĒċěưĐģ ins Auge; es ist nicht nur als Vokabel, sondern auch im Zusammenhang der Sache völlig unpaulinisch; vgl. Furnish, II Cor (s. Anm. 86), 365.375.

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hineingeraten konnte, aus denen dann der »Zweite Korintherbrief« redaktionell geschaffen wurde. Dagegen vertritt Thomas Schmeller die schwierige Hypothese, der Text sei von Paulus als Teil des literarisch einheitlichen zweiten Korintherbriefes verfaßt worden, allerdings mit einer bewußt unpaulinischen Akzentuierung; er stehe jetzt an einer falschen Stelle. »Dass er bei der Entstehung der Paulusbriefsammlung herausgenommen wurde, geht vielleicht gerade auf den unpaulinischen Charakter zurück. Offenbar wurde er zunächst separat überliefert und später an der jetzigen Stelle eingefügt, weil sein ursprünglicher Ort nicht mehr bekannt war.«90

Die ekklesiologische Dimension kommt innerhalb der einzelnen Teile des Zweiten Korintherbriefes unter einem gegenüber dem ersten Brief etwas veränderten Aspekt in den Blick: In den beiden Kollektenbriefen 2 Kor 8 und 2 Kor 9 verlangt Paulus von den Adressaten die Praxis gelebter Solidarität mit anderen Kirchen91; dabei fällt im Zusammenhang der Spendenaufrufe sowohl in 8,8–15 wie in 9,6–9 auf, dass Paulus in ähnlicher Weise wie schon in 1 Kor 16,2 die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Christen berücksichtigt, was deutlich an 1 Kor 1,26 erinnert.92 Im übrigen stellt Paulus in 2 Kor 8 und ebenso in dem Brief 2 Kor 10–13 sehr betont einen Bezug her zwischen der Kirche in Korinth und den anderen őĔĔĕđĝưċē. Damit bestätigt er den schon im ersten Brief immer wieder erwähnten Aspekt, dass »Kirche« keine abstrakte Größe ist und auch nicht in der Isolierung existiert, sondern dass es zwischen den konkret an vielen Orten bestehenden őĔĔĕđĝưċē eine solidarische Beziehung gibt.93

V. Zusammenfassung Paulus sieht, dass die in einer Stadt wie Korinth unvermeidliche Verflochtenheit der christlichen Gemeinde mit der »heidnischen« Welt erhebliche Probleme für die Christinnen und Christen mit sich bringt; aber er sieht zugleich auch die in dieser Situation sich bietenden Chancen. Der Apostel 90

Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. Teilband 1: 2 Kor 1,1–7,4, EKK VIII/1, Neukirchen-Vluyn und Ostfildern 2010, 37. Vgl. auch Ders., Der ursprüngliche Kontext von 2 Kor 6.14–7.1. Zur Frage der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs, NTS 52 (2006) 219–238. 91 Der Brief 2 Kor 8 scheint unmittelbar nach Korinth gerichtet gewesen zu sein, der Brief 2 Kor 9 an weitere Gemeinden (?) in Achaja (vgl. 9,2); möglicherweise ist deshalb in 2 Kor 1,1 neben »Korinth« ausdrücklich auch »ganz Achaia« als Adresse des jetzigen 2 Kor genannt. Vgl. H. D. Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus, Gütersloh 1993. 92 Vgl. dazu meinen in Anm. 15 genannten Aufsatz. 93 Vgl. 2 Kor 8,1.18–19; 11,8.28; 12,13; 1 Kor 4,17; 7,17; 11,16; 14,33. Der Hinweis auf »alle őĔĔĕđĝưċē« in 14,33b (ƚĜőėĚƪĝċēĜĞċȉĜőĔĔĕđĝưċēĜĞȥėłčưģė) ist eher als Abschluß der Aussage von 14,32.33a zu lesen und wohl nicht als Einleitung zu dem jedenfalls als sekundäre Interpolation erkennbaren Abschnitt 14,34.35; insofern ist meine Auslegung (Lindemann, Erster Korintherbrief [s. Anm. 72], 315) zu korrigieren.

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macht – anders als seine zeitweilig in Korinth agierenden Gegner – nicht den Versuch, die Christen aus ihrer Umwelt auszugrenzen und ihnen etwa um der Bewahrung der Reinheit der Gemeinde willen eine Existenz in selbstgewählter Isolation anzuraten. Die einerseits in 1 Kor 5,9–13 und andererseits in 1 Kor 10,32 gegebenen Ratschläge sind charakteristisch für die von Paulus selbst eingenommene und von ihm den Adressaten empfohlene Haltung. In dieser durchaus ambivalent erfahrenen Situation verfolgt der Apostel mit seiner Ekklesiologie das Ziel, der Gemeinde die Praxis gegenseitiger Rücksichtnahme und Annahme – von 1 Kor 13 her dürfen wir vielleicht sogar sagen: die Praxis der Liebe – zu empfehlen, damit so bei aller Unterschiedlichkeit die Einheit der őĔĔĕđĝưċĞęȘĒďęȘ konkret nach innen wie auch nach außen wahrgenommen werden kann.

Hilfe für die Armen Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als »diakonisches Unternehmen« I. Die Geldsammlung zugunsten der Armen unter den Christen in Jerusalem ist ein in den Briefen des Apostels Paulus auffallend häufig erörtertes Thema. Paulus erwähnt die Kollekte kurz im Galaterbrief (2,10), relativ ausführlich im Ersten Korintherbrief (16,1–4) und noch einmal am Ende des Römerbriefs (15,25–31). Besonders eingehend sind die innerhalb des Zweiten Korintherbriefs enthaltenen Ausführungen in 2 Kor 8 und 2 Kor 9. Es ist hier nicht der Ort, sämtliche mit der Kollekte verbundenen historischen und theologischen Probleme umfassend zu erörtern.1 Vielmehr soll der Sachverhalt besondere Beachtung finden, dass Paulus in den genannten Briefabschnitten auffallend intensiv auf die mit der Kollekte verbundenen organisatorischen Fragen und Probleme eingeht; es handelte sich »um die größte Hilfsaktion der Urchristenheit«, und Paulus war »ihr Organisator und für sie verantwortlich«.2 Nach dem in Gal 2,1–10 gegebenen Bericht vom sogenannten »Apostelkonzil«3 war im Zusammenhang mit der zwischen den ĎęĔęȘėĞďĜĝĞȘĕęē (Jakobus, Kephas, Johannes) einerseits und Paulus sowie Barnabas (»wir«) 1

An neuerer Literatur seien genannt: D. Georgi, Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, Neukirchen-Vluyn, 21994 (dort 9–11 ein knapper Überblick über die Forschungsgeschichte bis 1965); W. Schmithals, Die Kollekten des Paulus für Jerusalem (1994), in: Ders., Paulus, die Evangelien und das Urchristentum. Beiträge von und zu Walter Schmithals, hg. von C. Breytenbach, AGJU 54, Leiden / Boston 2004, 78–106 (zur Forschungsgeschichte 78–81); D. Georgi, Art. Kollekte I. Biblisch, RGG4 4, Tübingen 2001, 1484 f. Eine umfassende Darstellung bietet D. J. Downs, The Offering of the Gentiles. Paul’s Collection for Jerusalem in Its Chronological, Cultural, and Cultic Contexts, WUNT II/248, Tübingen 2008. Weitere Literatur wird im folgenden genannt werden, ohne dass auch nur ansatzweise Vollständigkeit angestrebt wäre. 2 So J. Gnilka, Die Kollekte der paulinischen Gemeinden für Jerusalem als Ausdruck ekklesialer Gemeinschaft, in: R. Kampling/Th. Söding (Hgg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments. FS Karl Kertelge, Freiburg / Basel / Wien 1996, 301–315, hier: 301. 3 Vgl. F. Vouga, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998, 49 f.

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andererseits getroffenen Vereinbarung über die Missionsarbeit4 beschlossen worden, »wir« sollten »der Armen gedenken«.5 Gemeint war damit eine offensichtlich breit angelegte, zugleich aber auch wohl einmalige Aktion, die eine primär soziale Zielsetzung hatte: Es ging um die materielle Unterstützung von tatsächlich armen Menschen in der Gemeinde der Christusgläubigen in Jerusalem. Zwar wird Jerusalem nicht explizit erwähnt; aber der unmittelbare Kontext und vor allem die späteren Aussagen zur Kollekte in 1 Kor 16,1–4 und Röm 15,26.31 machen es überaus wahrscheinlich, dass als Empfänger der durch die Bemühungen des Paulus zu sammelnden Geldmittel die armen Christen in Jerusalem zu denken sind und nicht allgemein »die Armen«.6 Die Durchführung beanspruchte viel Zeit; es wird sich also nicht um die Überwindung einer ganz akuten Notsituation gehandelt haben.7 Die Kollekte war offenbar auch kein womöglich von Jerusalem geforderter Akt der Anerkennung seiner Vorrangstellung vor anderen Gemeinden8; jedenfalls wird ein solcher Aspekt von Paulus nirgends auch nur andeutend erwähnt, so dass man annehmen müßte, der Apostel habe seinen Gemeinden gegenüber den Sinn der Kollekte in einem entscheidenden Gal 2,9: ŞĖďȉĜďŭĜĞƩŕĒėđċƉĞęƯĎƫďŭĜĞƭėĚďěēĞęĖƮė. In der Exegese wird wohl m. R. angenommen, dass die Wendung ĖƲėęė … ĖėđĖę ėďƴģĖďė eine gewisse Einschränkung der vorangegangenen Aussage enthält, die »Säulen« hätten dem Paulus hinsichtlich seiner Missionstätigkeit keine Auflagen gemacht (V. 6: őĖęƯ čƩěęŮĎęĔęȘėĞďĜęƉĎƫėĚěęĝċėƬĒďėĞę). 6 Anders B. W. Longenecker, Dating the origin of Paul’s collection for the saints in Judaea: The Corinthian contribution, in: C.. J. Belezos, in Collaboration with S. Despotis and Chr. Karakolis (eds.), Saint Paul and Corinth. 1950 Years since the Writing of the Epistles to the Corinthians. Exegesis – Theology – History of Interpretation – Philology – Philosophy – St. Paul’s Time. International Scholarly Conference Proceedings (Corinth, 23–25 September 2007), Athen 2009, Vol. I–II, hier: II, 263–275 meint dagegen, der Begriff ęŮĚĞģġęư beziehe sich in Gal 2,10 auf »the indigenous poor that were spread throughout the Mediterranean basin«; die Jerusalemer Führer seien keineswegs an einer Geldunterstützung interessiert gewesen, da man darin nach antiken Maßstäben einen »Patronatsanspruch« seitens der Heidenchristen hätte sehen können (aaO., 266 f.). Aber dann müßte erklärt werden, warum Paulus in seinen Briefen auf dieses Thema nie mehr zu sprechen kommt. Longeneckers Vermutung, die in den Korintherbriefen erwähnte Sammlung für Jerusalem sei einige Jahre später als etwa 50 n. Chr. zu datieren, ist freilich durchaus möglich. 7 Anders verhält es sich offenbar mit dem von Lukas in Apg 11,27–30 erzählten Vorgang, über dessen historischen Hintergrund wir freilich nichts sagen können. Vgl. dazu A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007, 346–350. Sie betont, dass hier wie an anderen Stellen ĎēċĔęėưċ (11,29) nicht die Kollekte selber bezeichnet, sondern »den Botengang zur Überbringung der Spende« (348, Hervorhebung im Orig.). 8 So die oft diskutierte, aber in der Regel m. R. zurückgewiesene These von K. Holl, Der Kirchenbegriff des Paulus im Verhältnis zu dem der Urgemeinde, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. II. Der Osten, Tübingen 1928, 44–67, hier 61: »Wie jede Gemeinde verpflichtet ist, den in ihr wirkenden Apostel zu unterhalten, so sind auch die Heidengemeinden es schuldig, zum Unterhalt der Muttergemeinde beizutragen. Das ĎģěďƩėőĕƪČďĞďĎģěďƩėĔċƯĎƲĞď störte sie dabei nicht.« 4

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Punkt bewußt verschleiert.9 Gewiß hatte die Kollekte »nicht nur den Sinn einer einfachen Wohltat, sondern den eines Glaubensaktes, sofern sie den Zusammenschluß mit der Heilsgeschichte dokumentiert«.10 Aber sie war eben auch ein diakonisches »Unternehmen«11; dessen Vorbereitung und Durchführung verlangte erhebliche planerische Energie.12 Wo Paulus inhaltlich zugunsten der Kollekte argumentiert, führt er vor allem ethische Aspekte an; das zeigen 2 Kor 8 und 2 Kor 9, wo besonders ausführlich für die Beteiligung an der Kollekte geworben wird. Es fällt auf, dass die »diakonische« Begrifflichkeit, vor allem das Verb ĎēċĔęėďȉė und das Nomen ĎēċĔęėưċ, von Paulus zwar nicht ausschließlich, aber doch vergleichsweise häufig gerade im Zusammenhang der Ausführungen zur Kollekte verwendet wird.13 Angesichts dessen soll im folgenden der Versuch gemacht werden, die entsprechenden Texte vor allem unter der Perspektive zu lesen, dass diese Kollekte von Paulus geradezu »professionell« als ein »diakonisches Unternehmen« durchgeführt wurde.14 Die Kollekte war offensichtlich nicht nur »gut gemeint«, sondern sie war zugleich  – 9 Das gilt ähnlich für die Erwägung von Schmithals, Kollekten (s. Anm. 1), die Kollekte habe vermutlich (auch) dazu dienen sollen, eine judenchristliche Missionstätigkeit in den Synagogen der Diaspora zu ermöglichen. Zwar würden die Gaben »ohne ersichtliche Auflagen und ohne irgendeine Zweckbindung gesammelt und übergeben«, aber die Verbindung mit den sonstigen Vereinbarungen des »Apostelkonzils« machten die erwähnte Annahme doch wahrscheinlich (aaO., 106). Vgl. W. Schmithals, Probleme des ›Apostelkonzils‹ (Gal 2,1–10), in: Paulus, die Evangelien und das Urchristentum (s. Anm. 1), 5–38: Die Kollekte sei geradezu ein Äquivalent für die Tempelsteuer gewesen. Zur Kritik vgl. in demselben Band (s. Anm. 1) A. Lindemann, Der Galaterbrief als historische Quelle, 731–744. 10 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41961, 64. Vgl. M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 42: Paulus sah die Kollekte »als Realsymbol für die Verbundenheit und Zusammengehörigkeit von Judenchristen und Heidenchristen«. 11 Diesen Begriff verwendet Gnilka, Kollekte (s. Anm. 2), 302. 12 Darauf verweist Downs, Offering (s. Anm. 1), 71: Die chronologische Einordnung der Aussagen zur Kollekte in den paulinischen Briefen zeigt »how much time and energy Paul must have spent in the organization and delivery of the relief fund«, und deutlich werde auch »the apostle’s abiding dedication to the completion of the fund«. Problematisch scheint mir nur zu sein, dass Downs annimmt, die Briefe nach Philippi und an Philemon seien nach Abschluß der Kollekte geschrieben worden; Paulus hatte keinen Anlaß, in diesen sehr wahrscheinlich noch vor der korinthischen Korrespondenz in Ephesus verfaßten Briefen das Thema zu erwähnen (vgl. unten Anm. 16). 13 Das Verb ĎēċĔęėďȉė wird in Röm 15,25 und 2 Kor 8,19 f. im Zusammenhang der Kollekte gebraucht, außerdem in 2 Kor 3,3 und Phm 13; das Abstraktum ĎēċĔęėưċ begegnet im Zusammenhang der Kollekte in Röm 15,31 sowie in 2 Kor 8,4; 9,1.12.13 (von insgesamt 17 Belegen bei Paulus). In der Verwendung des »Titels« ĎēƪĔęėęĜ ist kein Bezug zur Kollekte erkennbar. Vgl. Hentschel, Diakonia (s. Anm. 7 ), 90–146. 14 Hentschel, Diakonia (s. Anm. 7), 146–156 will die Wortgruppe ĎēċĔ- möglichst durchweg im Sinne einer »Beauftragung« (sc. zu einem Amt) verstehen. AaO., 156: »Mit Diakonia wird von Paulus speziell die Überbringung der Kollekte bezeichnet, der er sich als übergemeindlichen und wichtigen Beauftragung selbst unterstellt weiß (2Kor 8,3–4).«

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soweit wir erkennen können – sehr gut organisiert. Das soll im folgenden näher beschrieben werden.

II. 1. Paulus erwähnt die Kollekte nicht in seinem (»ersten«) Brief nach Thessalonich15 und auch nicht in den während einer Gefangenschaft geschriebenen Briefen nach Philippi und an Philemon, sonst aber in allen anderen uns erhaltenen Briefen; offensichtlich hat er sie vor allem in der Zeit nach seiner vermutlich in Ephesus zu lokalisierenden Gefangenschaft16 besonders nachdrücklich propagiert und betrieben. Eine direkte Kommunikation zwischen Paulus und einer gegenwärtig unmittelbar an der Kollekte beteiligten Gemeinde wird allerdings allein in der korinthischen Korrespondenz sichtbar. Im Galaterbrief ist nicht klar zu erkennen, ob die in 2,10 erwähnte Sammlung zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes in Galatien selber (noch) stattfindet; im Römerbrief wird die Kollekte zwar relativ ausführlich erwähnt, doch sind die Christen in Rom natürlich nicht daran beteiligt, und Paulus deutet auch nicht an, dass sich daran etwas ändern soll. Der soziale Zweck war für Paulus nicht das allein maßgebende Motiv für die Durchführung der Kollekte. Wäre es ausschließlich um die Beseitigung materieller Not unter den »Heiligen«, also den an Jesus Christus glaubenden Juden in Jerusalem gegangen, so hätten sich etwa die Christen Makedoniens kaum – ungeachtet ihrer, wie Paulus schreibt, »tiefen Armut« (2 Kor 8,2) – an der Sammlung beteiligt. Vielmehr war die Kollekte auch 15 Aus dem Fehlen der Erwähnung der Kollekte im 1 Thess braucht nicht gefolgert zu werden, dass der Brief noch vor dem »Apostelkonzil« verfaßt wurde, wie es – wenn auch aus anderen Gründen – G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band I. Studien zur Chronologie, FRLANT 123, Göttingen, 1980 annimmt. – Die Echtheit des 1 Thess wird unter Aufnahme älterer Forschungspositionen in Frage gestellt von M. Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte, BWANT 191, Stuttgart 2010; s. dazu die Hinweise in meinem Aufsatz: Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche. Historische Beobachtungen am Neuen Testament (s. oben S. 20 f.). Angesichts der häufigen Erwähnung von Makedonien im Zusammenhang der Kollekte wäre m. E. zu erwarten, dass eine spät verfaßte pseudepigraphische Schrift, die sich auf Thessalonich bezieht, einen Hinweis auf die Kollekte enthielte. 16 Dass in der Apg eine Gefangenschaft des Paulus in Ephesus nicht direkt erwähnt wird (wohl aber eine in höchstem Maße sein Leben bedrohende Situation, Apg 19,23–40; vgl. dazu die eigenen Aussagen des Paulus in 1 Kor 15,32 und 2 Kor 1,8), ist m. E. kein Argument gegen die Annahme einer solchen Gefangenschaft; die im Phil vorausgesetzten Kontakte des Paulus zu den Adressaten sprechen gegen eine Abfassung des Briefes in Caesarea oder gar in Rom. Vgl. die m. E. schlüssige Argumentation bei H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin / New York 2002, 315–331, vor allem 326–331.

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ein Akt der Demonstration und der Verwirklichung kirchlicher Einheit; sie war insbesondere ein Zeichen der Verbundenheit der mehrheitlich heidenchristlichen paulinischen Gemeinden mit der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem.17 Sie war zum einen »das pragmatische Symbol und der Beweis der gegenseitigen Anerkennung«, nämlich des Apostolats des Paulus und des Apostolats des Petrus; sie hatte zum andern »eine symbolische, heilsgeschichtlich-eschatologische Bedeutung«, und sie war nicht zuletzt »als eine gegenseitige Mitteilung der Zusammengehörigkeit und der Dankbarkeit zu verstehen«.18 Der von Paulus in Gal 2,10b gegebene Hinweis, er habe sich seit dem Abschluß der Vereinbarung darum bemüht, entsprechend zu handeln (őĝĚęƴĎċĝċ), zeigt offenbar, dass die zuvor bestehende enge Kooperation mit Barnabas nicht mehr existierte.19 Die Adressaten in Galatien erfahren jedenfalls, dass die Kollektenaktion zum Zeitpunkt der Abfassung des Galaterbriefes noch nicht abgeschlossen ist.20 2. Im Galaterbrief erwähnt Paulus am Ende seiner Darstellung des »Apostelkonzils« (Gal 2,1–10) die Vereinbarung über die Kollekte lediglich als ein Faktum; im Ersten Korintherbrief hingegen geht er sehr konkret auf sie ein (1 Kor 16,1–4). Er sagt nichts zu den mit ihr verbundenen inhaltlichen Zielen, aber er gibt sehr detaillierte Anweisungen zu ihrer praktischen Durchführung: »Was aber die Geldsammlung für die Heiligen betrifft: Wie ich die Kirchen Galatiens angewiesen habe, so praktiziert auch ihr es! Jeweils am ersten Tag der Woche soll jeder von euch bei sich zurechtlegen und sparen, 17

So u.a. auch K. Berger, Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte, NTS 23 (1977) 180–204, hier vor allem 197 f. Allerdings ist nirgends zu erkennen, dass die Kollekte den Zweck hatte, dass die paulinischen Gemeinden dadurch »den traditionellen Status der Gruppe der ›Gottesfürchtigen‹ einnehmen können« (aaO., 200). 18 Vouga, An die Galater (s. Anm. 3), 50. 19 Auf wen genau sich die 1. Person Plur. ĖėđĖęėďƴģĖďė bezieht, läßt sich kaum sagen: Barnabas und Paulus? Die antiochenische Gemeinde? Jedenfalls unterscheidet die paulinische Formulierung deutlich zwischen »wir« in V.  10a und »ich« in V.  10b. Steckt darin ein indirekter Hinweis, dass Barnabas sich nicht an der Organisiation der Kollekte beteiligte? Vgl. M. Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT 156, Tübingen 2003, 50 Anm. 152: Paulus halte es nicht für wichtig, »ob sich auch Barnabas, von dem er sich in der Zwischenzeit getrennt hat, um die Kollekte bemüht hat«. 20 Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 30 folgert aus der Wendung őĝĚęƴĎċĝċ ċƉĞƱĞęȘĞęĚęēǻĝċē, Paulus spreche von einem bereits vergangenen Bemühen, während umgekehrt »die große Sammlung in den paulinischen Gemeinden zur Zeit der Abfassung des Galaterbriefes« noch gar nicht begonnen habe. H. D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 195 meint, es gebe keinen Grund zu der Annahme, die Galater hätten ihre Beteiligung an der Sammlung aufgekündigt; ebenso Vouga (s. Anm. 3), 50. Entscheidend ist m. E. nicht der Aor. őĝĚęƴĎċĝċ, sondern die Verwendung des Verbs ĝĚęğĎƪĐďēė, das im Rückblick auf eine bereits abgeschlossene Tätigkeit im Grunde deren Scheitern signalisieren würde.

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so viel (ihm) gelingen mag, damit nicht erst dann, wenn ich komme, Sammlungen veranstaltet werden. Wenn ich aber da bin, dann werde ich die, die ihr für geeignet haltet, mit Briefen losschicken, damit sie eure Gnadengabe nach Jerusalem überbringen. Wenn es aber richtig ist, dass auch ich reise, sollen sie zusammen mit mir reisen.«21 Die Einleitung des Textabschnitts mit der Wendung ĚďěƯ ĎƬ (16,1) braucht, anders als in 1 Kor 7,1, nicht zu signalisieren, dass die korinthischen Christen von sich aus den Apostel um eine Stellungnahme zur Kollektenthematik gebeten hatten. Das »Betreff« zeigt nur, dass Paulus nach den breiten Ausführungen in 1 Kor 15 zum Thema ›Auferstehung der Toten‹ neu einsetzt; zugleich kann aber die Kap. 15 abschließende Bemerkung in V. 58 durchaus als ein gar nicht unpassender »Anknüpfungspunkt« für das Thema Kollekte verstanden werden.22 Die Kollekte zugunsten der hier knapp als »die Heiligen« bezeichneten Christen in Jerusalem23 wird als eine ĕęčďưċ bezeichnet, also als eine (freiwillige) »Abgabe«.24 Dass Paulus nichts Genaueres sagt, läßt sich am einfachsten erklären, wenn er entweder schon in dem in 1 Kor 5,9 erwähnten früheren, uns nicht erhaltenen Brief nach Korinth die Kollekte und ihren Zweck erwähnt und näher erläutert hatte, oder wenn die korinthischen Christen bereits beim ersten Aufenthalt des Paulus in der Stadt im Zusammenhang der Entstehung der Gemeinde darüber informiert worden waren. Jedenfalls scheint es jetzt zu genügen, dass der Apostel einfach von der »Sammlung für die Heiligen« spricht.25 21

Übersetzung nach A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/1, Tübingen 2000, 374. 22 Die Wendungen ĚďěēĝĝďƴęėĞďĜőėĞȦŕěčȣĞęȘĔğěưęğ undžĔƲĚęĜƊĖȥė lassen sich jedenfalls auch auf »Kraftanstrengungen« finanzieller Art beziehen. 23 Der Begriff ęŮņčēęē ist nicht ein in besonderer Weise auf die Jerusalemer Christen bezogener Ehrentitel, wie schon aus 1 Kor 1,1 hervorgeht. Dass es tatsächlich um Jerusalem geht, setzt Paulus als den Adressaten bekannt voraus, in V. 3 wird es dann auch explizit gesagt. 24 Zu ĕęčďưċ s. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 4. Teilband. 1 Kor 15,1–16,24, EKK VII/4, Düsseldorf und Neukirchen-Vluyn 2001, 425: Der Akzent liegt auf dem »Spendencharakter«. Vgl. auch Gwang-Ho Cho, Die Vorstellung und Bedeutung von ›Jerusalem‹ bei Paulus, NET 7, Tübingen / Basel 2004, 164 f. D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 533: »Das an sich neutrale Wort ĕęčďưċ besagt nicht unbedingt eine freiwillige Sammlung. Paulus jedoch stellt sie als eine spontane karitative Maßnahme für die Armut leidende Jerusalemer Gemeinde hin.« Downs, Offering (s. Anm. 1), 127–131 meint, durch den Gebrauch des Begriffs ĕęčďưċ im Kontext kultischer Sprache werde die Kollekte gezeichnet »as a religious offering consecrated to God«; Paulus »instructs his readers in Corinth to gather these ĕęčďȉċē during Sunday meetings of the believing community«. Aber das geht deutlich über das im Text Gesagte hinaus. 25 Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 40: »Für griechisches Verständnis mußte der Ausdruck ›Sammlung für die Heiligen‹ eine Sammlung bedeuten, die den Jerusalemern ihre bisherigen kultischen Leistungen honorieren und ihnen dadurch die

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Dass es sich um ein wohlorganisiertes Unternehmen handelt und nicht etwa um eine lockere Spendenaktion26, geht aus der Tatsache hervor, dass Paulus die Adressaten in Korinth ausdrücklich über eine bereits an die »Kirchen Galatiens«27 ergangene »Anweisung« informiert: So, wie er es den Galatern gegenüber »angeordnet« hat (ĎēƬĞċĘċ), so sollen es jetzt auch die Korinther machen (ęƎĞģĜĔċƯƊĖďȉĜĚęēƮĝċĞď).28 Die Formulierung macht es wahrscheinlich, dass Paulus das ĎēċĞƪĝĝďēė nicht auf die Kollekte als solche bezieht, sondern auf die Art von deren Vollzug. Wie die praktische Durchführung konkret aussehen soll, beschreibt Paulus in V. 2a29: Jeweils am ersten Tag der Woche30 soll jeder »bei sich zurechtlegen (Ěċě’ŒċğĞȦĞēĒƬĞģ) und sparen (ĒđĝċğěưĐģė)«, soviel er oder sie zu erübrigen vermag (ƂĞēőƩėďƉęĎȥĞċē).31 Zweierlei fällt auf: Paulus spricht nicht davon, das Geld solle zentral in einer gemeinsamen Kasse gesammelt werden; zugleich setzt er voraus, dass die Gemeindeglieder die Höhe der zurückzulegenden Beträge jeweils selber festsetzen32, d.h. hier spiegelt sich offenbar die schon zu Beginn des Briefes in 1,26 f. angedeutete soziale Schichtung innerhalb der korinthischen Gemeinde.33 weitere Erfüllung ihrer Verpflichtungen ermöglichen sollte.« Ein »hierarchisches Vorrecht« sei damit zumindest in der paulinischen Interpretation nicht verbunden gewesen. 26 Vgl. dagegen Phil 4,14–20, wo Paulus sich für offensichtlich spontane Aktionen zu seiner finanziellen Unterstützung durch Christen in Philippi bedankt. 27 Zur Wendung ĞċȉĜőĔĔĕđĝưċēĜĞǻĜîċĕċĞưċĜ vgl. die Adresse des Galaterbriefs (Gal 1,2). 28 Das ƊĖďȉĜ unterstreicht das Gewicht des Imperativs. Der Impt. Aor. zielt auf den aktuellen Beginn der geforderten Praxis; s. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 161984, § 337. Dass Paulus fordert, eine bisher geübte Praxis aufzugeben, ist freilich (für uns) nicht zu erkennen. 29 Schrage, Erster Korintherbrief IV (s. Anm. 24), 427 meint, wir wüßten nicht, »woher die Korinther von diesen Anordnungen des Apostels in Galatien wissen«. Vermutlich erfahren sie davon tatsächlich erst jetzt durch die Aussagen in V. 2. 30 Dass dabei schon im eigentlichen Sinne an den »Herrentag« gedacht wäre, womöglich verbunden mit einer gottesdienstlichen Zusammenkunft, ist dem Text nicht zu entnehmen (anders Apg 20,7). Vermutlich handelt es sich einfach um ein praktikables Verfahren, wobei lediglich vorausgesetzt ist, dass die Adressaten mit dem jüdischen Wochenschema vertraut sind. 31 Zu ďƉęĎȥĞċē vgl. W. Michaelis, Art. ďƉęĎƲģ, ThWNT V, Stuttgart 1954, 113–118, hier 117: Aufgrund des Sprachgebrauchs in der LXX sei es »ratsam«, ƂĞē »als das sächliche Subj[ekt] zu ďƉęĎȥĞċē zu fassen. Zu übersetzen ist demnach: indem er sammelt alles, was jeweils gelingt (= möglichst viel)«. Die sachliche Differenz der beiden Übersetzungsmöglichkeiten ist freilich gering. Richtig ist in jedem Fall Michaelis’ Hinweis, dass sich Paulus nicht nur an solche Gemeindeglieder wendet, »die auf unerwartet hohe geschäftliche Gewinne einigermaßen leichten Herzens zugunsten der Kollekte verzichten könnten, sondern ausdrücklich an alle (vgl ŖĔċĝĞęĜ ƊĖȥė)«, d.h. die Adressaten sollen wirklich »ohne Ausnahme Woche um Woche ein wirkliches Opfer bringen«. 32 Schrage Erster Korintherbrief IV (s. Anm. 24), 429: Es hängt »von den finanziellen Möglichkeiten des einzelnen ab, was er beisteuern kann«. 33 1 Kor 1,26 f. meint nicht, dass es in Korinth gar keine Angehörigen der gehobenen städtischen Schichten gibt; es sind eben »nicht viele«, also wenige. Vgl. dazu meinen Auf-

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Paulus nennt für seinen Verfahrensvorschlag lediglich einen praktischen Grund (V. 2b): Die Sammlungen34 sollen nicht erst dann beginnen, wenn Paulus zu dem schon in 4,19 und dann nochmals in 11,34 angekündigten Besuch nach Korinth kommt; vielmehr sollen – was zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber natürlich vorausgesetzt ist – bei seinem Eintreffen bereits möglichst große Beträge bei den einzelnen zusammengekommen sein.35 Da der Apostel, wie man im nächsten Abschnitt (V. 5–9) erfahren wird, von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort Ephesus aus zunächst durch Makedonien zu reisen und erst von dort aus nach Korinth zu kommen beabsichtigt, und da er überdies ohnehin noch »bis Pfingsten« in Ephesus bleiben will, weist er unausgesprochen darauf hin, dass zwischen dem Eintreffen seines Briefes in Korinth und seiner persönlichen Ankunft in der Stadt noch geraume Zeit vergehen wird.36 Überdies plant er, dann längere Zeit in Korinth zu bleiben  – möglicherweise über den Winter hinaus (V.  6 f.). Der Apostel verlangt also nicht, die Sammlung müsse schon bei seinem Eintreffen abgeschlossen sein; vielmehr bleibt den korinthischen Christen relativ viel Zeit, die sie dazu nutzen sollen, noch möglichst viel Geld für die Kollekte zurückzulegen. Nach seiner Ankunft in Korinth (V. 3) will Paulus Vertreter der korinthischen Gemeinde mit dem jetzt als »eure Gnadengabe« (ĞƭėġƪěēėƊĖȥė)37 bezeichneten Kollektengeld nach Jerusalem schicken (ĚƬĖĢģ); sie sollen von der Gemeinde selber bestimmt werden (ęƌĜőƩėĎęĔēĖƪĝđĞď)38, womit den Korinthern offenbar von vornherein die Sorge genommen werden soll,

satz: »Juden, Griechen und die Kirche Gottes« Die paulinische Ekklesiologie und die Lebenswirklichkeit der őĔĔĕđĝưċ in Korinth (s. oben S. 226–252). 34 Der Plural ĕęčďȉċē könnte sich darauf beziehen, dass Paulus jetzt an die jeweiligen häuslichen Sparaktionen denkt. 35 Dass er bei seiner Ankunft »den Gesamtbetrag schon vorfinden« will (so Georgi, Der Armen zu gedenken [s. Anm. 1], 41), schreibt Paulus nicht. 36 Dies würde insbesondere dann gelten, wenn – wie es wahrscheinlich ist – für den vermutlich von Timotheus zu überbringenden Brief (16,10) der Seeweg von Ephesus nach Korinth gewählt wurde. Der geplante Weg des Paulus von Ephesus über Makedonien nach Korinth würde erhebliche Zeit in Anspruch nehmen. 37 Schrage, Erster Korintherbrief IV (s. Anm. 24), 430 f. möchte ġƪěēĜ nicht als »Dankesgabe« verstehen (so aber H. Conzelmann, Art. ġƪěēĜ ĔĞĕ., ThWNT IX, Stuttgart 1973, 384), sondern meint, ġƪěēĜ sei »als Ausdruck der göttlichen ġƪěēĜ zu verstehen«, und er verweist dazu auf 2 Kor 8,1.4.6 f.19; aber in 2 Kor 8,1 ist explizit von der ġƪěēĜĞęȘ ĒďęȘ die Rede, während die übrigen Belege für ġƪěēĜ in 2 Kor 8 ähnlich wie hier in 16,3 zu verstehen sein dürften. Vgl. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, KEK V, Göttingen 21981, 366: »ġƪěēĜ bezeichnet die Abgabe als freie Leistung«. 38 Nach Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 41 streicht Paulus damit »die selbständige Verantwortung der Gemeinde heraus«; inwiefern dies »sehr gut zu der vorhergehenden Polemik gegen den korinthischen Individualismus« paßt (so Georgi ebd.), ist mir freilich nicht klar.

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dass das Geld möglicherweise seinen Bestimmungsort nicht erreicht.39 Dass die korinthischen Delegierten mit (Empfehlungs-)Briefen des Paulus ausgestattet werden, muß nicht bedeuten, dass Paulus fürchtet, die Jerusalemer Christen würden den Korinthern, die das Geld nach Jerusalem bringen, mit Mißtrauen oder gar Ablehnung begegnen; vielmehr sind derartige Briefe in einer solchen Situation etwas Normales. Abschließend fügt Paulus hinzu (V.  4), er sei selber bereit, die korinthische Delegation zu begleiten. Die Formulierung … ĝƳėőĖęƯĚęěďƴĝęėĞċē zeigt dabei an, dass er in jedem Fall von Korinth aus nach Jerusalem reisen will; die Korinther können bzw. sollen entscheiden, ob ihre Vertreter unabhängig von Paulus oder aber gemeinsam mit ihm reisen sollen. Wovon das Urteil »falls das richtig (ŅĘēęė) sein sollte« abhängig sein könnte, vermögen wir freilich nicht zu erkennen; es wird jedenfalls wohl nicht davon abhängen, »ob die Kollekte es wert ist, also ein ansehnlicher Betrag zusammengekommen ist«.40 Warum gibt Paulus in 1 Kor 16,3–4 derartig komplizierte Anweisungen? Er schreibt nicht, dass das Geld zu einem von den Korinthern selbst gewählten Zeitpunkt nach Jerusalem gebracht werden kann, denn dann gäbe es überhaupt keinen Anlaß, auf sein Eintreffen in Korinth zu warten41; die Wendung ĚƬĖĢģ in V. 3 ist insofern sicherlich ernst gemeint – man soll in Korinth auf das (baldige) Eintreffen des Paulus warten. Paulus behauptet aber umgekehrt auch nicht, die korinthische Delegation könne keinesfalls ohne ihn nach Jerusalem reisen; insofern ist auch die Aussage in V. 4 ernstzunehmen und nicht als eine reine Höflichkeitsfloskel zu verstehen. Paulus will den Korinthern gegenüber offenbar einerseits signalisieren, dass er sehr wohl eine gewisse Kontrolle auszuüben beabsichtigt; er will aber andererseits nicht den Eindruck erwecken, das Überbringen der Kollekte sei womöglich von seiner persönlichen Beteiligung abhängig. Darüber, wie der beabsichtigte Transport des Kollektengeldes nach Jerusalem konkret durchgeführt werden kann, schreibt Paulus nichts; er sieht hier offenbar keine Probleme und nimmt auch nicht an, dass man in Korinth 39

Calvin betont in diesem Zusammenhang, dass die Bereitschaft zum Spenden größer sei, wenn man wisse, dass die Gabe richtig verwendet wird quia ad dandum sumus alacriores, ubi certo scimus, bene, quod damus, collatum iri (Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii, ed. A. Tholuck, Vol. V/1, Berlin 1834, 468). 40 So die Erwägung von Schrage, Erster Korintherbrief IV (s. Anm. 24), 431 f.; möglich sei aber auch, dass sich ŅĘēęė »allgemein auf die Lage und Pläne der Mission und Einschätzung der Beziehungen zu Jerusalem« bezieht. Nach Zeller, Erster Korintherbrief (s. Anm. 24), 534 kann sich ŅĘēęė nicht auf die Entscheidung der Gemeinde beziehen, denn es sei »unwahrscheinlich, dass sich der Initiator der Sammlung dermaßen dem Gutdünken einer Einzelgemeinde unterstellt«. Aber warum erwähnt Paulus diesen Aspekt dann überhaupt? 41 Die in V. 3 erwähnten »Briefe« hätten ja ohne weiteres zusammen mit dem jetzt vorliegenden Brief nach Korinth geschickt werden können.

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Probleme sehen könnte. Vermutlich müssen wir uns eine nicht ganz unerhebliche Menge an Münzen vorstellen, zu deren Transport es schon aus Sicherheitsgründen mehrerer Personen bedurfte.42 Juristisch gab es offenbar keine Hürden, um derartige Geldbeträge aus der Provinz Achaja (bzw. auch aus Makedonien und Kleinasien) nach Judäa zu transferieren; jedenfalls wird nicht angedeutet, dass hier bürokratische bzw. politische Hemmnisse bestehen könnten.43 »Paulus setzt eine monetäre Ökonomie von weltweiten Proportionen voraus, mit einer gemeinsamen Währung, der Roms, und relativ leichter Tauschmöglichkeit von anderen Währungen.«44 Für den Weg von Korinth nach Judäa legte sich der Seeweg bis an die Küste Palästinas nahe45; der Weg vom dortigen Zielhafen, vermutlich Caesarea, »hinauf« nach Jerusalem mußte dann zu Fuß oder gegebenenfalls mit einem Lasttier bewältigt werden. Dies setzt ein gewisses Organisationstalent voraus; aber Paulus nimmt offensichtlich an, die Wahl der Transportmittel und -wege werde unproblematisch sein.46 Mit keinem Wort deutet Paulus in 1 Kor 16,1–4 die Möglichkeit an, das in Korinth und in den anderen paulinischen Gemeinden gesammelte Geld werde in Jerusalem womöglich nicht willkommen sein. Aus der Perspektive der Adressaten in Korinth enthält der Text ungeachtet seiner Kürze alle erforderlichen Informationen, die es ihnen ermöglichen, mit der Durchführung der Kollektenaktion zu beginnen und sie erfolgreich abzuschließen.

42

Es war aber anscheinend nicht nötig, an einen womöglich sogar bewaffneten Schutz zu denken. 43 Vgl. zum antiken Geldwesen, insbesondere zum Geldtransfer nach Jerusalem, A. Ben-David, Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit der Mischna und des Talmud. Band I. Hildesheim / New York 1974, 252–257; ferner E. M. Smallwood, The Jews under Roman Rule from Pompey to Diocletian. A study in political relations, SJLA 20, Leiden 21981, 126–128. Vgl. auch D.-A. Koch, Kollektenbericht, ›Wir‹-Bericht und Itinerar. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem, in: Ders., Hellenistisches Christentum. Schriftverständnis  – Ekklesiologie  – Geschichte, hg. von F. W. Horn, NTOA / StUNT 65, Göttingen 2008, 318–339, hier 330 mit A 41. Ausführliche Information über mit der Kollekte vergleichbare monetäre Aktionen im jüdischen und auch im paganen Raum gibt Downs, Offering (s. Anm. 1), 73–119. 44 Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 123. »Das bedeutet, daß er sich der Existenz einer städtischen Gesellschaft mit einer universalen Marktstruktur bewußt ist.« 45 Vgl. die instruktive Beschreibung des Reisens in der Antike durch L. Casson, Reisen in der Alten Welt, München 1976. 46 Vgl. andererseits aber die Peristasenkataloge innerhalb des 2 Kor, vor allem 11,25 f. mit den Hinweisen auf die Gefahren während des Reisens; s. M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus, fzb 66, Würzburg 1991, 137–141. Solche Hinweise bedeuteten aber natürlich nicht, dass Paulus deshalb das Reisen als »zu gefährlich« eingestuft hätte.

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III. 1. Der im Ersten Korintherbrief mehrfach angekündigte Besuch des Paulus in Korinth fand offenbar erheblich später statt als vorgesehen, und er verlief vermutlich völlig anders, als es der Apostel und wohl auch die korinthischen Christen erwartet hatten. Es kam zu einem schweren Konflikt und zur vorzeitigen Abreise aus der Stadt; der Plan von 1 Kor 16,3 f. zur Überbringung der Kollekte wurde nicht realisiert. Paulus schrieb aus Ephesus und auch aus Makedonien mehrere Briefe nach Korinth; sie lassen auf einen längeren Zeitraum für ihre Abfassung schließen und bilden vermutlich den jetzt vorliegenden »Zweiten Korintherbrief«.47 Hintergrund war ein vor allem durch in Korinth aktiv gewordene fremde ĢďğĎċĚƲĝĞęĕęē (2 Kor 11,13) ausgelöster Konflikt zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde, der schließlich durch das diplomatische Geschick des von Paulus nach Korinth entsandten Titus gelöst wurde.48 Die Kollekte ist das Thema in den Kapiteln 8 und 9 des »Zweiten Korintherbriefes«; vermutlich handelt es sich um zwei ursprünglich selbständige »Verwaltungsbriefe«49, die die ausführlichste inhaltliche Erörterung des Kollektenthemas innerhalb des Corpus der paulinischen Briefe enthalten. Der Brief 2 Kor 8 könnte unmittelbar an die Gemeinde in Korinth gerichtet gewesen sein; mit dem eine etwas andere Tendenz zeigenden Brief 2 Kor 9 hingegen scheint sich Paulus, wie aus 9,2 hervorgeht, an Christen im übrigen Achaja zu wenden50; die beiden Briefe könnten praktisch zeitgleich verfaßt worden sein. Sie scheinen weitgehend vollständig erhalten zu sein; lediglich 47 Vgl. E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen / Basel 2002, vor allem 94–102. Zur These der Einheitlichkeit des 2 Kor vgl. B. Bosenius, Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm. Der zweite Korintherbrief als Beispiel für die Brieflichkeit der paulinischen Theologie, TANZ 11, Tübingen / Basel 1994. 48 Zum möglichen Geschehensablauf vgl. die Skizze bei H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB 52, Tübingen 142004, 271–273. Die Annahme einer literarischen Einheitlichkeit des 2 Kor vertritt demgegenüber U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 62007, 96–104: Die Gemeindesituation habe sich in der Zeit zwischen der Abfassung von 2 Kor 1–9 und 2 Kor 10–13 verändert, jedoch nicht »grundlegend«. Paulus polemisiere in 10–13 nicht gegen die Gemeinde, sondern gegen Dritte. Aber innerhalb von 10–13 deutet nichts darauf hin, dass Paulus nach Abschluß des Briefteils 1–9 neue Informationen erhalten hatte, die sich von den durch Titus erhaltenen Nachrichten ganz sehr erheblich unterschieden; vgl. dagegen etwa 1 Kor 5,1. 49 H. D. Betz, 2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus, Gütersloh 1993; ähnlich E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 8,1–13,13, ÖTK8/2, Gütersloh 2005, 18–22, der freilich gegenüber einer allzu präzisen rhetorischen Analyse skeptisch ist. Für die Einheitlichkeit von 2 Kor 1–9 argumentiert u.a. V. P. Furnish, II Corinthians, AncB 32A, Garden City 1984. 50 Durch die Aufnahme des an die Christen in Achaja gerichteten Briefes in den redaktionell geschaffenen »Zweiten Korintherbrief« erklärt sich die besondere Adresse in 2 Kor

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das jeweilige Präskript und das Postskript wurde im Zusammenhang der Redaktion zum »Zweiten Korintherbrief« entfernt.51 Wann sie im Zuge der Korrespondenz verfaßt wurden, läßt sich nicht sagen; von der Konfliktsituation, wie sie insbesondere in dem Brief 2 Kor 10–13 sichtbar ist, lassen sie nichts (mehr?) erkennen. 2. Der Brief 2 Kor 8,1–24 besteht aus zwei großen Teilen: In V.  1–15 erläutert Paulus den Sinn und das Ziel der Kollekte, wobei er die Adressaten dazu auffordert, dem Vorbild der őĔĔĕđĝưċē in Makedonien zu folgen. In V. 16–22 gibt er »(verwaltungs-)technische« Anweisungen für den Vollzug des Kollektenunternehmens. Am Ende steht in V. 23 die von Paulus betont ausgesprochene Bevollmächtigung der Abgesandten, also des Titus und der »Brüder«, und dann bildet V. 24 den Abschluß des Ganzen.52 Die Einleitung (8,1–6) besteht aus einem einzigen Satz, der auf die abschließende Aussage in V. 6 zielt: ĔċưőĚēĞďĕƬĝǹďŭĜƊĖǬĜ. Die Argumentation beginnt mit einer eindrücklichen Beschreibung der durch die ġƪěēĜ Gottes ermöglichten Handlungsweise der őĔĔĕđĝưċē Makedoniens, die sich »bewährt« haben und deren »tiefe Armut« übergeströmt ist in den Reichtum ihrer łĚĕƲĞđĜ. Der Begriff łĚĕƲĞđĜ53 meint die »Einfachheit, Geradheit«, den Verzicht auf »Nebenabsichten«54; er findet sich im Kontext moralischer Argumentation häufig in den Testamenten der zwölf Patriarchen.55 In TestSim 4,5 wird vor Eifersucht und Neid gewarnt, und es wird die łĚĕƲĞđĜ des Herzens gelobt, auf die Gott mit Gnade und 1,1–2: ĞǼőĔĔĕđĝưǪĞęȘĒďęȘĞǼęƍĝǹőėõęěưėĒȣĝƳėĞęȉĜłčưęēĜĚǬĝēėĞęȉĜęƏĝēėőėƂĕǹ ĞǼʼnġċȈǪ. 51 Zur Forschungslage s. R. Bieringer, Teilungshypothesen zum 2. Korintherbrief. Ein Forschungsüberblick, in: ders. / J. Lambrecht, Studies on 2 Corinthians, BEThL 112, Leuven 1994, 67–105, hier: 98–105. Bieringer rechnet mit der literarischen Einheitlichkeit des 2 Kor; vgl. ders., Plädoyer für die Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefes. Literarkritische und inhaltliche Argumente, aa0., 131–179, hier: 136. 52 Nach Betz, 2. Korinther 8 und 9 (s. Anm. 49) folgt der Brief im ersten Teil dem rhetorischen Muster der »beratenden Rede«, in V. 16–22 liege die epistolographische Struktur des »Verwaltungsbriefs« im engeren Sinne vor. Nach der Beglaubigung für die Abgesandten (V. 23) folge in V. 24 die peroratio. Zur Problematik einer rhetorischen Analyse von Brieftexten vgl. C. J. Classen, Paulus und die antike Rhetorik, ZNW 82 (1991) 1–33. 53 Von den fünf Belegen für łĚĕƲĞđĜ in den authentischen Paulusbriefen stehen drei in den beiden Briefen 2 Kor 8 (V. 2) und 2 Kor 9 (V. 11.13); die beiden anderen Belegstellen sind 2 Kor 11,3 und Röm 12,8. 54 T. Schramm, Art. łĚĕƲĞđĜ, EWNT I, 296 f. 55 TestRub 4,1 verbindet in weisheitlicher Sprache die łĚĕƲĞđĜ mit der »Furcht des Herrn«: Ruben fordert seine Söhne und Enkel (d.h. die Leser der Schrift) dazu auf, die Schönheit der Frauen zu meiden, stattdessen in »Herzenseinfalt« zu wandeln, sich abzumühen mit Werken und zu warten, »bis der Herr euch eine Gefährtin gibt, die er will, damit ihr nicht leidet wie ich« (Übers. J. Becker, JSHRZ III/1, 36); die abschließende Bemerkung bezieht sich auf Gen 35,22, was in TestRub 3,11–15 breit ausgeführt ist.

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ĎƲĘċ und ďƉĕęčưċ antworten werde.56 Warum spricht Paulus in 2 Kor 8,2 so betont von dem ĚĕęȘĞęĜĞǻĜłĚĕƲĞđĞęĜ der makedonischen Gemeinden? Will er sagen, ihr Handeln sei ohne jeden Hintergedanken? Oder ist łĚĕƲĞđĜ hier nur ein anderer Ausdruck für »Freigebigkeit« oder »Güte«?57 Nach J. Amstutz ist mit ĞƱĚĕęȘĞęĜĞǻĜ łĚĕƲĞđĞęĜ tatsächlich die »Einfachheit im Geben«, die »Unbesorgtheit, Unbekümmertheit im Geben« gemeint, »spontanes Geben«.58 Ein ähnlicher Sprachgebrauch scheint in 2 Kor 9,11 vorzuliegen.59

Die bitter armen makedonischen őĔĔĕđĝưċē haben darum gebeten, sich nach Kräften (ĔċĞƩ ĎƴėċĖēė) und sogar darüber hinaus (ĚċěƩ ĎƴėċĖēė) an der jetzt als ĎēċĔęėưċ bezeichneten Kollekte für die ņčēęē beteiligen zu dürfen. Wenn Paulus jetzt also Titus nach Korinth sendet60, dann erhält das eben beschriebene Verhalten der makedonischen Christen Vorbildfunktion, insofern in der Tatsachenbeschreibung implizit schon ein Appell zur Nachahmung enthalten ist.61 Eigenartig ist das indikativische ĚďěēĝĝďƴďĞď in V. 7, dem ein konjunktivisch-adhortatives ĚďěēĝĝďƴđĞď folgt: Paulus spricht zwar nicht ausdrücklich von einem bei den Korinthern vorhandenen materiellen »Überfluß«, aber ein solcher Gedanke scheint doch zumindest anzuklingen. ĚưĝĞēĜ, ĕƲčęĜ und čėȥĝēĜ sind eindeutig »geistig-geistliche« Güter62, die Hinweise des Apostels auf die ĝĚęğĎƮ und auf die ŁčƪĚđ lassen sich aber am ehesten im Kontext eines moralischen Leistungsappells verstehen. Der bei Paulus häufige Begriff ŁčƪĚđ dient in 2 Kor 8,763 neben ĝĚęğĎƮ der Beschreibung der Lebenswirklichkeit der Adressaten: Die Korinther haben von Paulus (őĘŞĖȥė) das empfangen, was sie nun ihrerseits als Gegenleistung für die JerusalemKollekte praktizieren sollen, nämlich Liebe. ŁčƪĚđ ist also nicht eine Stimmung Besonders eindringlich wird in TestIss für die łĚĕƲĞđĜ geworben. So u.a. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. und B. Aland, Berlin 61988, 171. Vgl. Betz, 2 Korinther 8 und 9 (s. Anm. 49), 91: Nach antikem Ideal »erwartet man von Leuten, die das einfache Leben leben, dass sie sich freigebig und in ihrer Gastfreundschaft großzügig zeigen«. Betz verweist (ebd. Anm. 35) auf TestIss 4,2, wo der Begriff »definiert« werde: žņĚĕęğĜ »strebt nicht nach Gold, er übervorteilt seinen Mitmenschen nicht«. Vgl. allerdings die Fortsetzung (4,2b.3): »Nach zahlreicher Speise verlangt er nicht, unterschiedliche Kleidung will er nicht. Er schreibt nicht vor, er müsse lange Zeiten leben, sondern wartet allein auf den Willen Gottes« (Übers. J. Becker, JSHZ III/1, 81). Klingen diese Aspekte in der Beschreibung der Makedonen durch Paulus an? 58 J. Amstutz, ìûöúþòý. Eine begriffsgeschichtliche Studie zum jüdisch-christlichen Griechisch, Theoph 19, Bonn 1968, 104. 59 S. dazu unten S. 275 f. 60 Nach Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 26 läßt sich nicht sagen, wann Titus mit dem Kollektenwerk begonnen hat. 61 Das spricht m. E. gegen die Annahme von Betz, 2 Korinther 8 und 9 (s. Anm. 49), in 8,1–5 liege das exordium und in V. 6 die – dann ohnehin extrem kurze – narratio vor. 62 Vgl. 1 Kor 1,5. 63 Die weiteren Belege für ŁčƪĚđ in 2 Kor 8 sind V. 8 und V. 24; in 2 Kor 9 begegnet in V. 7 das Verb ŁčċĚǬė (s.u.). 56 57

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oder ein Gefühl, sondern reale Praxis der Hinwendung zum bedürftigen anderen Menschen. Ihr Wesen ist durchaus meß- und überprüfbar, wie gleich anschließend durch 8,8 belegt wird. Der Hinweis auf die ĝĚęğĎƮ anderer kann dazu dienen, die Echtheit bzw. Lauterkeit64 der eigenen Liebe unmißverständlich zu demonstrieren; dass dies gemeint ist, bestätigt 8,24.65 Im Unterschied zu der traditionellen (individual-)ethischen Aussage, es könne für die Liebe »Beweise« nicht geben, behauptet Paulus hier, dass die ŁčƪĚđ sehr wohl konkret faßbar sein kann und sein muss.

Der Aufruf ĚďěēĝĝďƴđĞď bezieht sich auf die ġƪěēĜ als das zu vollbringende »Gnadenwerk«.66 Geschickt gibt Paulus in V. 8 einen Kommentar zu der in V. 1–6.7 gegebenen Weisung, indem er erklärt, diese solle nicht als eine Anweisung (őĚēĞċčƮ)verstanden werden, vielmehr diene der Hinweis auf die ĝĚęğĎƮ der anderen der Kontrolle (ĎęĔēĖƪĐďēė) des čėƮĝēęė, also der »Echtheit« der eigenen (»eurer«) Liebe der Adressaten. Als Erläuterung fügt Paulus in V. 9 den Topos von der Umkehrung der Verhältnisse an; dabei bedient er sich nun einer unmittelbar christologischen Argumentation: Christus hat auf seinen »Reichtum« verzichtet und ist »arm« geworden »um euretwillen« (ĎēdzƊĖǬĜ), »damit ihr reich würdet«67: Der jetzige »Reichtum« der Adressaten, in V.  7 als »Überfluß« bezeichnet, ist durch die Armut Christi zustandegekommen. Natürlich läßt sich die hier verwendete Begrifflichkeit ›geistig‹ bzw. ›geistlich‹ deuten; aber im Kontext des Themas fällt es doch schwer, Begriffe wie ĚĕęȘĝēęĜ und ĚĞģġƲĜ jedenfalls nicht auch in einem materiellen Sinn zu verstehen.68 Paulus spricht nicht von einem Verzicht des irdischen Jesus auf einen ihm womöglich anfangs zur Verfügung stehenden materiellen »Reichtum«69, sondern von der in der Inkarnation angenommenen »Armut« des präexistenten Christus; aber dieser soll seitens der Adressaten offenbar die Bereitschaft zu einem materiellen Besitzverzicht zugunsten der Armen ĞƱčėƮĝēęė findet sich hier geradezu in der Bedeutung des Begriffs łĚĕƲĞđĜ. S. unten. Dort spricht Paulus im Zusammenhang mit ŁčƪĚđ von ŕėĎďēĘēĜ; vgl. die Aussage … őėĎďēĔėƴĖďėęēďŭĜĚěƲĝģĚęėĞȥėőĔĔĕđĝēȥė. 66 Vgl. dazu M. Theobald, Die überströmende Gnade. Studien zu einem paulinischen Motivfeld, fzb 22, Würzburg 1982, 281: »Somit spricht Paulus von einer ›Gabe‹, die zwar ›in‹ den Gemeinden aufgebracht wurde, aber ihren eigentlichen Ursprung als ›Gnadengabe‹ in Gott hat (ġƪěēėĞęğĒďęȘ).« 67 Die Argumentation erinnert an die ›Kenosis‹-Christologie von Phil 2,6–8; anders C. K. Barrett, The Second Epistle to the Corinthians, Black’s New Testament Commentaries, London 1990, 223 f. 68 Betz, 2 Kor 8 und 9 (s. Anm. 49), 89 sieht hier wie schon zuvor in V. 2 eine »Neubewertung der Armut«. Aber kann man davon wirklich sprechen? Und worin genau würde diese »Neubewertung« bestehen? 69 Anders Barrett, Second Corinthians (s. Anm. 67), 223: »Paul could not have written as he did had it been known that Jesus lived a kind of life radically different from that depicted in the gospels.« 64 65

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entsprechen.70 In V. 10 erläutert Paulus, ähnlich wie zuvor in V. 8, dass er dazu nun eine čėƶĖđ gibt: Er bescheinigt den Korinthern, dass ihr Handeln »nützlich« ist (ĞęȘĞęƊĖȉėĝğĖĠƬěďē), und er gibt dazu die Begründung, sie hätten »seit dem vorigen Jahr«71 nicht nur mit dem Tun begonnen, sondern auch mit dem Wollen. Damit betont der Apostel, dass nicht allein das tatsächliche Handeln im Blick ist, sondern das Handeln als ein geplantes, d.h. als eines, dessen Folgen einkalkuliert und gewollt sind. So wird durch ĞƱ ĒƬĕďēė (bzw. V. 11: ŞĚěęĒğĖưċĞęȘĒƬĕďēė) das bloße Handeln ausdrücklich auf die Ebene des reflektierten Bewußtseins gehoben.72 Gewiß darf das Gewicht der Formulierung nicht überbewertet werden; aber ein Bezug auf eine bewußte ethische Reflexion scheint doch darin enthalten zu sein.73 Auf dieser Basis führt Paulus in V. 11.12 die eigentliche inhaltliche Argumentation zugunsten der Kollekte durch: Die Bereitschaft der Adressaten zum tatsächlichen Handeln soll sich an ihrem ŕġďēė orientieren (V. 11), nicht an ihrem ęƉĔŕġďēė (V. 12). Es kommt offenbar nicht primär auf die »Gesinnung« an, sondern ganz konkret auf das Ergebnis, d.h. auf den realen Erfolg. Fragen kann man natürlich, wie sich diese Feststellung zu der Aussage in V. 3 verhält, die makedonischen Kirchen hätten über ihre Möglichkeiten hinaus (ĚċěƩ 70 Betz, 2 Kor 8 und 9 (s. Anm. 49), 116 f. folgert aus der Tatsache, dass Paulus in V. 10 den Nutzen (utile) und in V. 13 f. die Gleichheit (ŭĝƲĞđĜ, aequitas) als Argumente nennt, dass Paulus entsprechend der rhetorischen Struktur der probatio in V. 9 »das Ehrenhafte« (honestum) im Blick hat. Aber darf man tatsächlich so folgern? Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 31: Paulus spricht von der Menschwerdung des Präexistenten, und »damit wird selbstredend kein nachahmenswertes ethisches exemplum gegeben«. 71 Der damit bezeichnete genaue Zeitraum ist für uns unklar, nicht aber natürlich für die ursprünglichen Adressaten. 72 H. Lietzmann, An die Korinther I.II, HNT 9, Tübingen 51969 (ergänzt von W. G. Kümmel), 135 nimmt an, dass Paulus »sich ungeschickt ausgedrückt oder versprochen hat: wollte er nicht doch sagen ›nicht sowohl das Tun, als vielmehr das Wollen‹?« 73 Vgl. R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, KEK Sonderband, hg. von E. Dinkler, Göttingen 1976, 256, der gegen Lietzmann (s. die vorige Anm.) feststellt, es liege »kein Versehen« vor, »weil das ĒƬĕďēė das Wesentliche ist (vgl. ċƉĒċưěďĞęē in V. 3, ĚěęĒğĖưċ in V.  11 f., die ŁčƪĚđ in V.  8). Aber nun sollen die Korinther zeigen (V.  11), daß das ĒƬĕďēė ein echtes war, indem es zum Ěęēǻĝċē führt, und dieses wird als echtes aus dem ĒƬĕďēė entspringendes wieder durch das őĔĞęȘŕġďēė charakterisiert.« Vgl. die bemerkenswerte Parallele bei Seneca Ben II 1,2: Bei einem beneficium sei der Wille des die Wohltat Erweisenden (tribuentis voluntas) für den Empfangenden am angenehmsten; zögere jemand beim Geben, so zeige er damit, dass er den in die entgegengesetzte Richtung lenkenden Willen nicht beherrscht. Vgl. M. E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians. Volume II. Commentary on II Corinthians VIII–XIII, ICC, Edinburgh 2000, 536: »The initially strange order of ›acting‹ and ›willingness to act‹ is due to the desire to emphasise the willingness: ĞƱĒƬĕďēė, coming in the second half of the correlation, carries the required emphasis.« Nach Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 32 gibt Paulus die Weisung, »beim Kollektenwerk vom längst schon unter Beweis gestellten Wollen (thelein) fortzuschreiten zum Tun (poiein; das Wort steht auch sonst speziell für die Kollektenpraxis)«.

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ĎƴėċĖēė) zum Ergebnis der Kollekte beigetragen.74 Fragen kann man auch nach dem sachlichen Verhältnis zu der Überlieferung von der Spende der armen Witwe (Mk 12,41–44). Würde Paulus es für sachgemäß und womöglich geradezu für geboten gehalten haben, dass die Gemeinden in ähnlicher Weise ƂĕęėĞƱėČưęė (Mk 12,44) für die Armen geben?75

Was Paulus meint, wird deutlich in V. 13.1476: Durch die Kollekte für Jerusalem sollen die Besitzverhältnisse nicht auf den Kopf gestellt werden77, wohl aber soll es zu einem Ausgleich, womöglich sogar zu »Gleichheit« (ŭĝƲĞđĜ) kommen.78 Wie ist ŭĝƲĞđĜ an dieser Stelle zu verstehen? ŭĝƲĞđĜ begegnet bei Paulus nur hier in 2 Kor 8,13.14; der einzige weitere Beleg im NT ist Kol 4,1.79 Paulus sagt in 8,13 nicht, die Kollekte habe ŭĝƲĞđĜ als Ziel, sondern sie erfolgt (?) offenbar őĘ ŭĝƲĞđĞęĜ.80 D. Georgi meint deshalb, Paulus spreche 74 H. Windisch, Der zweite Korintherbrief, KEK VI, Göttingen 91924 (= 1970, hg. von G. Strecker), 256 f.: »Offenbar hat P[aulus] diesen Widerspruch nicht bemerkt: V. 1 ff. vergegenwärtigt er sich einfach den überwältigenden Erfolg in Maz[edonien], um damit die Kor[inther] anzufeuern, und V. 11 ff. gibt er sich den nüchternen Erwägungen hin, wie sie die Situation in Kor[inth] erfordert.« 75 Vgl. dazu D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 212; er meint, es gehe in Mk 12,41–44 darum, zu betonen, dass in der Gemeinde auch arme Witwen geachtet sein sollen. 76 In der Exegese viel diskutiert ist das syntaktische Verhältnis von V.  13 und V.  14. Barrett, Second Corinthians (s. Anm. 67), 226, zieht V. 13 und V. 14 unmittelbar zusammen und übersetzt dann so (216 f.): »For the intention is not that there should be relief for others, affliction for you, but that, as a matter of equality, at the present time your abundance may be matched against their want …« Einer solchen Exegese hatte Georgi schon in der ersten Auflage seiner Studie über die Kollekte (s. Anm. 1) widersprochen (D. Georgi, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, ThF 38, Hamburg 1965, 64): V. 14 werde so »nicht verständlicher, sondern nur gefüllter und unübersichtlicher«, und überdies erscheine der Begriff ŭĝƲĞđĜ dann zweimal in demselben Satz. Auch Furnish, II Corinthians (s. Anm. 49), 407, meint, V. 13 und V. 14 seien voneinander zu trennen; er übersetzt (399): »It is not that others should have relief and you a hard time; but rather, it is a matter of equality. Your surplus at the present time is for their need.« 77 R. B. Hays, The Moral Vision of the New Testament. Community, Cross, New Creation. A Contemporary Intrdoduction to New Testament Ethics, San Francisco 1996, 188: » Paul exhorts the Corinthians merely to contribute generously to his collection for the Jerusalem church, ›in order that there may be a fair balance‹ (isotes, 2 Cor 8:14). Paul advocates sharing, not renunciation of possessions.« Hays sieht hier eine Spannung zu dem Jesus-Logion in Lk 14,33 (»wer sich nicht lossagt von allem, was er hat, kann nicht mein Jünger sein«). 78 Das Stichwort ŭĝƲĞđĜ steht in V. 13 und in V. 14 betont am Schluß des jeweiligen Satzes. 79 Zu Kol 4,1 s. R. McL. Wilson, A Critical and Exegetical Commentary on Colossians and Philemon, ICC, London 2005, 287: Gemeint sei hier natürlich nicht »Gleichheit«, sondern »›equity‹ or ›fairness‹«. M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTK 12, Gütersloh und Würzburg 1993, 207: »Wer jedem einzelnen das Gerechte zukommen läßt, stellt ›Gleichheit‹ (aequitas) her.« 80 In 2 Kor 8,12 fehlt ein Verb; vgl. V. 12.13: ďŭčƩěŞĚěęĒğĖưċĚěƲĔďēĞċē… ęƉčƩěŲėċ ŅĕĕęēĜŅėďĝēĜƊĖȉėĒĕȉĢēĜŁĕĕdzőĘŭĝƲĞđĞęĜ. Vgl. Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 34 fordert Paulus »nach Maßgabe der Gleichheit» zu verfahren (unter Hinweis

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nicht von Maß und Ziel der Kollekte, sondern komme auf ihren Grund zurück: ŭĝƲĞđĜ sei, entsprechend ihrem Verständnis im hellenistischen Judentum, offenbar »vornehmlich als göttliche Potenz verstanden, die man sogar als Umschreibung für Gott selbst benutzen kann«, und dementsprechend habe »das őĘŭĝƲĞđĞęĜ fast die Bedeutung eines őĔĒďęȘ«.81 Demgegenüber meint C. K. Barrett82, dass ŭĝƲĞđĜ »was … a fundamentally moral concept«83, und auch V. P. Furnish versteht ŭĝƲĞđĜ im griechischen Sinne »as a moral principle«.84 Als Gegensatz zur ŭĝƲĞđĜ kann ĚĕďęėďĘưċ aufgefaßt werden85, d.h. dem Mangel an Bereitschaft zum Teilen entspricht die Habgier.86 In der griechischen (und z. T. auch in der römischen) Rechtstradition wurde ›Gleichheit‹ als hohes Gut gewertet87, aber Gleichheit in materiellen Dingen galt – mit Ausnahme der als ein Ideal verstandenen Gütergemeinschaft – nicht als erstrebenswert.88

Bemerkenswert ist in V. 14 der ausdrückliche Hinweis auf den ĔċēěƲĜ: Paulus argumentiert nicht zeitlos-prinzipiell, sondern aus der gegenwärtigen Situation heraus – jetzt (őėĞȦėȘėĔċēěȦ)89 soll das ĚďěưĝĝďğĖċ der Adressaten auf Bauer, Wörterbuch): »Nach Abgabe der Spende soll ihr Geber nicht schlechter als ihr Empfänger, dieser nicht besser als jener gestellt sein.« Wäre das eine realistische Perspektive gewesen? 81 Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 64: »Angesichts dieses Ursprungs fällt das Leistungsprinzip und alles, was daraus an Vergleichen, Messen und Urteilen folgt, dahin. ŵĝƲĞđĜ rückt so ganz nahe an den schon mehrfach gebrauchten Begriff ġƪěēĜ heran.« 82 Barrett, Second Corinthians (s. Anm. 67), 216 f. 83 Barrett, Second Corinthians (s. Anm. 67), 227. 84 Furnish, II Corinthians (s. Anm. 49), 407; als Beleg führt er u.a. Philo Her 145 an, wo Philo »Gleichheit« auch von der Proportion her definiert. Philo schreibt: »Eine angemessene Gleichheitsform (ŭĝƲĞđĞęĜŭĎƬċ) ist auch die proportionale (ŞĎēƩŁėċĕęčưċĜ), dergemäß auch Weniges Vielem und Kleineres Größerem gleich geachtet wird« (Übers. J. Cohn). Philo erwähnt als politische Parallele die proportionale Verteilung der Steuerlast. 85 Vgl. dazu K. Thraede, Art. Gleichheit, RAC 11, Stuttgart 981, 141. Zum theologischen und sozialen Verständnis von ›Gleichheit‹ im NT aaO., 145 f. 86 Vgl. őĚĕďƲėċĝďė im Zitat in V. 15 und das Subst. ĚĕďęėďĘưċ in 9,5. 87 Philo SpecLeg IV 230–232 preist die ĎēĔċēęĝƴėđ insbesondere auch wegen ihrer edlen Abkunft: őĝĞēčƩěŭĝƲĞđĜ … ĖƮĞđěĎēĔċēęĝƴėđĜ; sie sei ĠȥĜŅĝĔēęė (schattenloses Licht), ŢĕēęĜėęđĞƲĜ(geistige Sonne), ja, »alles hat die Gleichheit am Himmel und auf Erden wohl geordnet nach unverbrüchlichen Gesetzen und Normen (ėƲĖęēĜĔċƯĒďĝĖęȉĜŁĔēėƮĞęēĜ)«, übers. I. Heinemann). 88 Vgl. Thraede, Gleichheit (s. Anm. 85), 138;. G. Stählin, Art. űĝęĜĔĞĕ., ThWNT III, 346–348.355. Es fällt auf, dass Lukas in seiner summarischen Beschreibung des »Kommunismus« der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 2,42–47; 4,32–37) nicht von ŭĝƲĞđĜ spricht. 89 Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 65, meint, dass őėĞȦėȘėĔċēěȦ hier ebenso wie in Röm 3,26; 8,18; 11,5 einen Zeitraum, nicht einen Zeitpunkt meint, und zwar »die messianische Zwischenzeit«, für die nach apokalyptischer Hoffnung die Wiederholung des Mannawunders (vgl. 2 Kor 8,15) erwartet worden sei (syrBar 29,8): »Das Gnadenhandeln Gottes als der allen gleiche und alle und alles gleichmachende Ursprung betrifft gewiß die ganze Welt und auch den einzelnen in seinem Innern (őĘŭĝƲĞđĞęĜ).« Anders Furnish, II Corinthians (s. Anm. 49), 408: őėĞȦėȘėĔċēěȦ: in the present time »probably means only ›now when the saints in Jerusalem have need and your have some extra‹.« Die von Georgi genannte Stelle syrBar 29,8 spricht übrigens nicht von der Gleichheit, sondern vom Überfluß, der jenen zuteil wird, die in der Heilszeit »sich in

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in Korinth dem ƊĝĞƬěđĖċ der in Jerusalem lebenden ņčēęē zugutekommen. Das schließt jedenfalls grundsätzlich die Möglichkeit ein, dass auch der umgekehrte Fall eintreten könnte, damit ŭĝƲĞđĜ herrsche. Bezieht sich die in V.  14b als möglich angedeutete Entwicklung ebenso wie die vorangegangene Aussage in V. 14a auf den materiellen Besitz und dann sogar auf einen möglichen materiellen »Überfluß«? Oder wechselt Paulus hier unvermittelt auf die Ebene des Metaphorischen? Das läßt sich nicht sicher sagen. Betz meint, es sei »schwer vorstellbar, daß Paulus je erwartete, daß einem materiellen Mangel in Korinth vom materiellen Überfluß der Gemeinde in Jerusalem abgeholfen werden müßte. Vielmehr muß Paulus diese Worte hier metaphorisch gebraucht haben, indem er vom geistlichen Reichtum der Jerusalemer Christen sprach, dem die Korinther viel verdankten.«90 Aber einer solchen Auslegung hatte schon H. Lietzmann widersprochen, freilich mit der problematischen Begründung, dass es Paulus »sehr fern« gelegen habe, »den Korinthern geistige Speisung gerade aus Jerusalem zu wünschen«.91 Jedenfalls deutet Paulus nicht an, dass die Sprachebene in V. 14b eine andere ist als in V. 14a, sondern er scheint er bewußt sagen zu wollen, dass das Gebot der ŭĝƲĞđĜ grundsätzlich gilt und nicht nur in einer Richtung. In dem abschließenden mit ĔċĒƵĜčƬčěċĚĞċē eingeleiteten Zitat (V. 15) gibt Paulus einen biblischen Beleg für die von ihm beschriebene Praxis. Der zitierte Text bezeichnet aber weder ein Vorbild noch hat er im eigentlichen Sinne die Funktion eines »Schriftbeweises«92; Paulus verweist vielmehr auf eine biblisch bezeugte geschichtliche Parallele und zitiert dafür Ex 16,18.93 diesem Land in jenen Tagen finden« (29,2); die Erde wird ihre Früchte »zehntausendfältig« bringen (29,5), und »es wird zu jener Zeit geschehen, daß aus der Höhe Mannaschätze wiederum herniederkommen; sie werden zehren davon in jenen Jahren, weil die es sind, die ans Ende der Zeit gekommen sind« (Übers. A. F. J. Klijn, JSHRZ V/2, 142). 90 Betz, 2 Kor und 9 (s. Anm. 49), 130. Es liege derselbe Gedanke vor wie in Röm 15,27. Anders Furnish, II Corinthians (Anm. 49), 419f,: »Is is unlikely that Paul supposes the saints in Jerusalem may one day be called on to assist the poor in Corinth. Nor is it likely that he means the Jerusalem Christians will continue to exchange ›Spiritual blessings‹ with the Gentiles who, in turn, assist them materially … While this kind of exchange is mentioned in Rom 15:27, written later, there is no indication it is in Paul’s mind here. Verse 14 is a formal Statement of the principle of equality, with no special thought for what its Operation might involve in the future … The Corinthians will understand well enough what it involves for them at the present time.« 91 Lietzmann, An die Korinther (s. Anm. 72), 135. Die Motivation in Röm 15,27 sei eine ganz andere. 92 Was sollte hier auch »bewiesen« werden? 93 Das Zitat ist nicht ganz wörtlich; in 2 Kor 8,15 heißt es:žĞƱĚęĕƳęƉĔőĚĕďƲėċĝďė ĔċƯžĞƱŽĕưčęėęƉĔŝĕċĞĞƲėđĝďė, in Ex 16,18 LXX jedoch: ęƉĔőĚĕďƲėċĝďėžĞƱĚęĕƴ ĔċƯžĞƱŕĕċĞĞęėęƉĔŝĕċĞĞƲėđĝďėŖĔċĝĞęĜďŭĜĞęƳĜĔċĒƮĔęėĞċĜĚċědzŒċğĞȦĝğėƬĕďĘċė. Vgl. dazu D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 259: »Wichtig ist allein, daß durch das Zitat nochmals das Wesen der ŭĝƲĞđĜ formuliert wird,

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Jetzt steht nicht so sehr der Aspekt der Gleichheit im Zentrum, sondern das Fehlen von Überfluß einerseits und von Mangel andererseits.94 Offenbar ist ŭĝƲĞđĜ nicht im strikten Sinne der ›Gleichheit‹ – alle haben gleich viel – zu verstehen, sondern im Sinne des Ausgleichs: Weder ›Mangel‹ noch ›Überfluss‹. Paulus wird kaum beabsichtigt haben, die Korinther hätten im Rahmen der Kollektenaktion für eine rechnerische »Gleichheit« der Vermögensverhältnisse in Jerusalem und in Korinth zu sorgen.95 Aber der Begriff ŭĝƲĞđĜ zeigt doch die Richtung an, die angestrebt werden soll. In den eher »verwaltungstechnischen« Anweisungen in 2 Kor 8,16–22 gibt es keine weitere inhaltliche Argumentation für die Kollekte.96 Titus ist nach Korinth abgereist97, gemeinsam mit einem (aus Makedonien stammenden?) ŁĎďĕĠƲĜ, der dann zusammen mit Paulus die Kollekte überbringen und zwar als Ausgleich von einseitigem Mangel und Überfluß, und daß auch in der Schrift eine Begebenheit enthalten ist, deren Ergebnis sich unter dem Gesichtspunkt der ŭĝƲĞđĜ mit dem Zustand vergleichen läßt, den Paulus im Verhältnis zwischen den Gemeinden von Korinth und Jerusalem verwirklicht sehen möchte.« »Die Funktion des Zitats beschränkt sich darauf, die angestrebte ŭĝƲĞđĜ zu illustrieren.« Nach Koch (260) handelt es sich um das einzige »hinreichend deutliche« Beispiel für eine lediglich illustrierende Funktion eines Schriftzitats bei Paulus. 94 Philo RerDivHer 191 zitiert diese Stelle im Rahmen einer längeren Ausführung über das Wesen der ŭĝƲĞđĜ. Es gehe um die Speise der ĢğġƮ, also um die ĝęĠưċ; der göttliche Logos gab sie denen, die sie gebrauchen wollten, őĘ űĝęğ ĚďěēĠěęėĞēĔƵĜ ĎēċĠďěƲėĞģĜ ŭĝƲĞđĞęĜ (»mit besonderer Berücksichtigung der Gleichheit … gleichmäßig«). Aus Ex 16,18 leitet Philo ab, es sei das, was jedem zukam, so erteilt worden, »daß weder Mangel noch Überfluß war« (Übersetzung J. Cohn). Nach Windisch, Der zweite Korintherbrief (s. Anm. 74), 259, besteht »sehr wahrscheinlich« ein »Traditionszusammenhang« zwischen den Aussagen bei Philo und bei Paulus. Downs, Offering (s. Anm. 1), 137 hält es für möglich, dass mit der Betonung der ŭĝƲĞđĜ »Paul may be drawing on conventions associated with the concept of friendship in the Greco-Roman world«, aber ebenso bedeutsam sei der Bezug zu Ex 16,18. 95 Man müsste ja fragen, wie diese ›Gleichheit‹ aussehen könnte: Verfügen die Gemeinden als ganze über die gleichen finanziellen Mittel? Hat jede(r) einzelne gleich viel? Wie wäre zu verfahren, wenn in der Zukunft neue Ungleichheit entsteht? Nach Georgi, Der Armen zu gedenken (s. Anm. 1), 136–146 geht es Paulus überhaupt nicht um materielle Gleichheit, womöglich in einem monetären Sinn, sondern um deren Überwindung. »›Isotes‹ ist für ihn eine göttliche Kraft unter Menschen, die sie gleichmacht ›von Gleichheit (als göttlicher wirksamer Potenz) zu Gleichheit (als menschlicher Erfahrung in ihrer rechtlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit)‹, wie die Aussage in 2 Kor 8,13–14 in einer pointierten Form wiedergegeben werden könnte« (136). Der Hin- und Rückfluß des Geldes, von dem Paulus hier spreche, sei »nicht als Ausdruck der Abhängigkeit und Selbsterniedrigung, sondern als Demonstration und Erfahrung von Gleichheit« zu verstehen. »In diesem Prozeß wird Geld wirklich zum gleichmachenden Faktor, zum demokratisierenden Instrument« (137). Läßt sich das wirklich aus den Aussagen des Paulus über die Jerusalem-Kollekte herauslesen? 96 Windisch, Der zweite Korintherbrief (s. Anm. 74), 260 sieht in dem Abschnitt eine őĚēĝĞęĕƭĝğĝĞċĞēĔƮ für Titus und die beiden ungenannten »Brüder«. 97 Die Formulierung läßt nicht erkennen, ob Titus und die Begleiter Paulus bereits früher verlassen haben oder ob sie womöglich als die Überbringer des vorliegenden Briefes zu denken sind.

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soll.98 In V. 19 verwendet Paulus nochmals den Begriff ġƪěēĜ zur Bezeichnung der Kollekte (s.u.), jetzt unterstrichen durch den Hinweis auf die ĎƲĘċ des Herrn.99 In V. 21 wird das Vorhaben ausdrücklich als (moralisch) »gut« (Ĕċĕƪ) bezeichnet (vgl. Röm 12,17); eine wesentliche Rolle spielt nochmals der Aspekt des real meßbaren Erfolges, und zwar nicht nur őėƶĚēęėĔğěưęğ, sondern auch vor den Menschen.100 Paulus schließt in V. 23 mit einer Empfehlung für die von ihm entsandte Delegation, wobei nur Titus namentlich genannt wird.101 Ganz am Ende in V. 24 bedient sich Paulus sogar eines psychologischen Arguments: Die Adressaten sollen eine ŕėĎďēĘēĜ ihrer eigenen ŁčƪĚđ erbringen und sie sollen damit zugleich durch ihr Verhalten bestätigen, dass sich Paulus ihrer zu Recht rühmt ďŭĜĚěƲĝģĚęėĞȥėőĔĔĕđĝēȥė. Es ist bemerkenswert, dass Paulus in dem Kollektenbrief 2 Kor 8 die Notwendigkeit der Jerusalem-Kollekte im Grunde nicht wirklich belegt102; vielmehr setzt er deren Notwendigkeit als gegeben voraus und nimmt an, dies werde auch von den Adressaten in Korinth anerkannt. Die ganze Argumentation in 2 Kor 8 zielt darauf, bei den Adressaten einen Denkprozeß zu aktivieren, der von der als vorhanden vorausgesetzten Einsicht in die Notwendigkeit der Kollekte hinführen soll zum wirklichen Tun.

IV. In 2 Kor 9 sieht H. D. Betz einen an die Christen in Achaja gerichteten »Mahnbrief«. Unabhängig davon, ob sich eine exakte expistolographischrhetorische Analyse vom Text her wirklich in vollem Umfang bestätigen 98 Dass der Name des ŁĎďĕĠƲĜ nicht genannt wird, »must remain a mystery« (Furnish, II Corinthians [s. Anm. 49], 435; Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 39 zitiert diesen Satz und fügt hinzu, es sei wenigstens der Name des Titus »uns erhalten geblieben«. Aber gerade dann haben doch die Erklärungsversuche für das Fehlen des Namens jenes »Bruders« einen guten Sinn. 99 Der Hinweis auf die ĎƲĘċ Christi ist kein Indiz dafür, dass es nicht auch an dieser Stelle um organisatorische Fragen geht. 100 Paulus übernimmt hier fast wörtlich Prov 3,4 LXX: ĔċƯĚěęėęęȘĔċĕƩőėƶĚēęėĔğěưęğ ĔċƯŁėĒěƶĚģė, betont aber die Rolle der Menschen stärker (2 Kor 8,21): ĚěęėęęȘĖďėčƩě ĔċĕƩęƉĖƲėęėőėƶĚēęėĔğěưęğŁĕĕƩĔċƯőėƶĚēęėŁėĒěƶĚģė. 101 Thrall, Second Corinthians II (s. Anm. 73), 558 meint, Paulus selber habe die Namen getilgt, damit die betreffenden Personen nicht unabhängig von Titus agieren konnten. Nach Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 41 f. hätte Paulus auf die Nennung der Namen verzichtet, weil er in ihnen »nicht die von ihm entandten Delegierten sieht, sondern die der mazedonischen Gemeinden«. Doch gerade dann hätte es doch nahe gelegen, sie in dieser Eigenschaft namentlich zu nennen. 102 Natürlich könnte man vermuten, dass entsprechende Briefabschnitte bei der Redaktion des 2 Kor entfallen sind, aber das ist doch wenig wahrscheinlich.

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läßt103, gilt tatsächlich, dass die Argumentation in 2 Kor 9 einer sehr präzisen Logik folgt. 9,1 kann in dieser Form kein »Briefanfang« (nach Präskript und möglicherweise Proömium) sein, vor allem dann nicht, wenn man annimmt, dass dem čƪě Gewicht zukommt. Die einführende Wendung (ĚďěƯ … Ğǻ ĎēċĔęėưċĜ) erinnert zwar an 1 Kor 16,1; aber in jenem Brief war dem ja eine ganze Reihe entsprechender »Einleitungswendungen« vorausgegangen (1 Kor 7,1; 8,1; 12,1), während hier der Zusammenhang unbekannt ist und es kaum Sinn hat, darüber zu spekulieren, in welchem größeren Kontext die Aussage von 9,1 ursprünglich gestanden haben könnte. Dass 9,1 nicht auf Kap. 8 Bezug nimmt, liegt auf der Hand, denn direkt nach den Ausführungen in 8,1–24 wäre 9,1 im Grunde banal.104 V. 1 blickt im übrigen nicht zurück, sondern voraus.105 In V. 2 folgt eine captatio benevolentiae: Paulus, der sich jetzt offenbar in Makedonien aufhält, teilt den Adressaten mit, dass er den makedonischen Christen gegenüber den Eifer der Christen in Achaja für die ĎēċĔęėưċďŭĜĞęƳĜłčưęğĜ lobt.106 In V. 3–5a klingt dann aber Kritik an: Offenbar ist die Sammlung in Achaja ins Stocken geraten, und es droht die Gefahr, dass Paulus bei seinem Eintreffen die dortigen Christen »nicht bereit« findet; Paulus weiß oder er vermutet, dass der in Achaja bis jetzt gesammelte Betrag noch nicht seinen Erwartungen entspricht. In diesem Zusammenhang erfahren die Adressaten, dass Paulus auf die so anscheinend entstandene Situation bereits durch die Entsendung von ŁĎďĕĠęư reagiert hat.107 Jetzt führt Paulus in V. 5b eine neue Bezeichnung für die Kollekte ein, nämlich ďƉĕęčưċ: Was in 2 Kor 8 ġƪěēĜ genannt worden 103 Betz, 2 Kor 8 und 9 (s. Anm. 49), 162–165 findet auch hier ein rhetorisches Schema: Das exordium (V. 1.2) enthalte den Hinweis auf die Bereitwilligkeit der Adressaten; in V.  3–5a folge die narratio mit der Schilderung des Sachverhalts und in V.  5b.c die propositio mit der Benennung des Themas, nämlich der bei der Kollekte aufgetretenen Schwierigkeiten. In V. 6–14 schließe sich die probatio an, der Nachweis der Richtigkeit der Argumentation; V. 15 sei die peroratio als Redeschluß. Downs, Offering (s. Anm. 1), 140–145 rechnet die Kap. 8 und 9 zu demselben Brief (2 Kor 1–9; Betz wird im Literaturverzeichnis genannt, in der Arbeit selber aber offenbar nicht erwähnt). »Throughout these two chapters, Paul is at pains to emphasize the initiative and activity of God in this fundraising effort« (145). 104 Nach Hentschel, Diakonia (s. Anm. 7), 147 f. erläutert Paulus in 9,1 die Aufforderung von 8,24, »welche durch die kataphorisch wirkende Einführung der ›kirchliche[n] Öffentlichkeit‹ neuen Erklärungsbedarf mit sich bringt« (unter Verweis auf W. Kleine, Zwischen Furcht und Hoffnung, 2002, 415). Aber inwiefern bedarf 8,24 einer Erläuterung? Vgl. Grässer, Zweiter Korintherbnief II (s. Anm. 49), 48. 105 Hentschel, Diakonia (s. Anm. 7), 152. 106 Die Zeitangabe ŁĚƱĚƬěğĝē (vgl. 8,10) zeigt, dass die Aktion zum selben Zeitpunkt begonnen worden war. 107 Ob ŕĚďĖĢċ briefstilistischer Aorist ist (»ich sende [jetzt] ab«) oder ob sich Paulus auf eine bereits früher erfolgte Entsendung der ŁĎďĕĠęư bezieht, läßt sich nicht sagen. Jedenfalls ist es eine andere Gesandtschaft als die in 8,18.23 f, erwähnte; vgl. Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 49 f.

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war, heißt jetzt »Segensgabe«.108 Auffällig ist schließlich die Argumentation in V. 5c: Die Sammlung soll wirklich ƚĜďƉĕęčưċ erscheinen und nicht ƚĜ ĚĕďęėďĘưċ. Damit formuliert Paulus, freilich in verschlüsselter Form, die eigentliche Forderung: ĚĕďęėďĘưċ ist selbstverständlich auch in den Augen der Adressaten etwas Verwerfliches109, und zugleich wird indirekt auch etwas über das anzustrebende Ziel ausgesagt, auch wenn der in 2 Kor 8,13.14 so bedeutsame Begriff ŭĝƲĞđĜ in 2 Kor 9 nicht verwendet wird. Als erste Explikation (ĞęȘĞę ĎƬ) folgt in 9,6 eine weisheitliche Sentenz (»Bauernregel«), die an Prov 11,24 LXX erinnert.110 Wieder hat die Aussage den Erfolg im Blick: Wer reichlich gibt, wird reichlich belohnt.111 In der zweiten Explikation (V. 7) fordert Paulus zunächst indirekt zur Fröhlichkeit beim Geben auf – man solle geben entsprechend dem freien Entschluß der ĔċěĎưċ, nicht őĔ ĕƴĚđĜ ş őĘ ŁėƪčĔđĜ. Er unterstreicht die besondere Bedeutung dieser Mahnung durch das unvermittelt folgende, nur durch čƪě markierte Schriftwort aus Prov 22,8 LXX112, in dem Paulus allerdings nicht ďƉĕęčďȉžĒďƲĜ schreibt (so der LXX-Text), sondern ŁčċĚǭžĒďƲĜ. 108 Das Wort ġƪěēĜ kommt zwar auch in 2 Kor 9,8.14 f. vor, bezeichnet hier aber Gottes Gnade, nicht die Kollekte als »Gnadengabe«. Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 51 hält ein Wortspiel für möglich (ĕęčďưċ und ďƉĕęčưċ). 109 Vgl. dazu Grässer ebd. Ist ĚĕďęėďĘưċ möglicherweise im Sinne von »Geiz« gemeint? 110 Paulus schreibt in 9,6: þęȘĞęĎƬžĝĚďưěģėĠďēĎęĖƬėģĜĠďēĎęĖƬėģĜĔċƯĒďěưĝďēĔċƯ žĝĚďưěģėőĚdzďƉĕęčưċēĜőĚdzďƉĕęčưċēĜĔċƯĒďěưĝďē.Der LXX-Text von Prov 11,24 lautet: ďŭĝƯėęŰĞƩűĎēċĝĚďưěęėĞďĜĚĕďưęėċĚęēęȘĝēėďŭĝƯėĔċƯęŰĝğėƪčęėĞďĜőĕċĞĞęėęȘėĞċē. Er weicht erheblich ab vom hebräischen Text (ĕìĎĄöċïöĉvÎīĕœó¢ØċòÎðôìĄžĂĀìďĐĎîìčžĂĕÕð¦đċöó›Ć »Mancher spendet und wird noch reicher, und mancher spart über Gebühr nur zum Mangel«, übers. L. Zunz). Vermutlich wurde in der LXX ein hebr. Sprichwort durch ein ähnliches griechisches ersetzt. Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 53 f. 111 Windisch, Der zweite Korintherbrief (s. Anm. 74), 276, erkennt eine strikte »Äquivalenz von Leistung und Lohn«; »da hier nicht auf Guttat und Übeltat, sondern auf reichliche und kärgliche Spende spezifiziert wird«, ergebe sich »die Idee einer abgestuften Belohnung, die gut synoptisch ist (Mt 10,41 f.; Lk 19,17.19 Par.), und die auch bei P[aulus] gelegentlich anklingt« (Hervorhebung im Orig.). Windisch zitiert A. Klöpper, Kommentar über das zweite Sendschreiben des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Korinth, Berlin 1874 (Klöpper sieht in der Argumentation ein »Herabsteigen zu dem Gesinnungsniveau der Schwachen«), und meint dann, dies erkläre sich »aus der Anlehnung an die Religion der jüdisch-palästinensischen Spruchweisheit«. 112 Prov 22,8 LXX lautet: ž ĝĚďưěģė ĠċȘĕċ Ēďěưĝďē ĔċĔƪ Ěĕđčƭė Ďƫ ŕěčģė ċƉĞęȘ ĝğėĞďĕƬĝďēŅėĎěċŮĕċěƱėĔċƯĎƲĞđėďƉĕęčďȉžĒďƲĜĖċĞċēƲĞđĞċĎƫŕěčģėċƉĞęȘĝğėĞďĕƬĝďē, Paulus schreibt in 9,7 knapp: ŮĕċěƱėčƩěĎƲĞđėŁčċĚǭžĒďƲĜ. Zu dieser Verkürzung des Zitats s. Koch, Schrift (s. Anm. 93), 118: So werde die Zitataussage konzentriert auf den für Paulus entscheidenden Gesichtspunkt, nämlich die Freiwilligkeit der Kollekte. Der Wechsel von ďƉĕęčďȉ in der LXX zu ŁčċĚǬė bei Paulus könnte auf den Einfluß von Prov 22,11 LXX zurückgehen, wo es heißt: ŁčċĚǭĔƴěēęĜžĝưċĜĔċěĎưċĜĎďĔĞęƯĎƫċƉĞȦĚƪėĞďĜ ŅĖģĖęēäġďưĕďĝēėĚęēĖċưėďēČċĝēĕďƴĜ. Koch weist allerdings darauf hin, dass ďƉĕęčďȉė als Bezeichnung für das Handeln Gottes bei Paulus nur in Gal 3,9 begegnet, dort offenbar bedingt durch das Zitat von Gen 12,3 in Gal 3,8; ŁčċĚǬė bzw. ŁčƪĚđ sei für Paulus »der angemessene Ausdruck für das gegenwärtige Handeln Gottes bzw. seine Heilstat in Christus« (Koch , 140).

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Mit ŁčċĚǬė meint Paulus nicht ein »Gefühl«, das Gott dem »fröhlichen Geber« gegenüber empfindet, sondern die konkret faßbare und erfahrbare Hinwendung Gottes zum Menschen.113 Die Aussagen in 9,8–11 enthalten einerseits »Beweise« oder »Begründungen« für das Gesagte, andererseits aber auch auf die Zukunft gerichtete Zusagen. Nach V.  8 gibt Gott ĚǬĝċė ġƪěēė, damit die so ausgestatteten Adressaten befähigt werden ďŭĜĚǬėŕěčęėŁčċĒƲė.114 Wenn Paulus in V. 9 dann Ps 111,9 LXX, eingeleitet durch ĔċĒƵĜčƬčěċĚĞċē, praktisch wörtlich zitiert, dann ist aber wohl nicht Gott als Subjekt des Satzes zu denken, als würde die Aussage von V.  8 fortgesetzt115; vielmehr scheint das Zitat die Funktion zu haben, die Folge von Gottes ġƪěēĜ zu schildern, nämlich die menschliche Bereitschaft, den Armen zu geben und so Gerechtigkeit zu praktizieren.116 Darauf folgt in V. 10 die Zusage, Gott werde den Adressaten Erfolg verschaffen, wobei die Aussage an Jes 55,10 LXX erinnert. Die Basis der ethischen Argumentation wird nun ganz deutlich: Es lohnt sich, sittlich gut zu handeln117, und das gleiche wird auf andere Weise nochmals in V. 11 gesagt (őėĚċėĞƯĚĕęğĞēĐƲĖďėęēďŭĜĚǬĝċėłĚĕƲĞđĞċŢĞēĜĔċĞďěčƪĐďĞċēĎēdz 113 Das war im Kontext von 2 Kor 9 offensichtlich deutlicher durch ŁčċĚǬė aussagbar als durch das im biblischen Text ursprüngliche ďƉĕęčďȉė, zumal das Substantiv ďƉĕęčưċ in 2 Kor 9 primär auf die Kollekte als solche bezogen ist. Vgl. in der Sache M. L. Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 1998, 332: Dass Paulus die Kollekte als ďƉĕęčưċ bezeichnet, bringt zum Ausdruck, dass die diakonische Dienstleistung nicht Voraussetzung für Gottes Segnen ist, sondern deren Folge. »Die korinthischen Gemeindeglieder sollen selbständig nach dem Maß ihres eigenen Gesegnetseins die Höhe ihrer Gaben festlegen (8,11 f.); nur so kann es eine freiwillige und freudige Spende werden (9,7 f.).« Auf den Wechsel von ďƉĕęčďȉ zu ŁčċĚǭ in dem Schriftzitat in 9,7 geht sie allerdings nicht ein. Theobald, Die überströmende Gnade (s: Anm. 66), 291 meint, Paulus habe ďƉĕęčďȉ offenbar deshalb durch ŁčċĚǭ ersetzt, weil »nach dem ursprünglichen Wortlaut des Spruchs der Segen die Belohnung der Großherzigkeit ist, während für Paulus doch die großherzige Gabe selbst Gottes reicher Segen ist.« 114 In 2 Kor 9,8 fällt der häufige, betonte Gebrauch von ĚǬĜĔĞĕ. auf. Nicht ganz klar ist der Sinn des Wortes ċƉĞƪěĔďēċ: Ist wirklich »Selbstgenügsamkeit« im stoischen Sinne gemeint? Vgl. Grässer, Zweiter Korintherbrief II (s. Anm. 49), 57: Gemeint sei »in allem allezeit alles genügende Auskommen habend«. 115 So noch A. Lindemann, Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik (1986), in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 91–114, hier: 111. Ausführlich Betz, 2 Korinther 8 und 9 (s. Anm. 49), 201–204. Richtig Chr. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHKNT VIII, Berlin 1989, 186: »Der Psalm handelt vom vorbildlichen Verhalten des Gerechten (insofern wird auch für Paulus nicht etwa Gott das Subjekt der Aussage sein); dies überträgt der Apostel auf die korinthische Gemeinde.« 116 Lietzmann, An die Korinther (s. Anm. 72), 138: ĎēĔċēęĝƴėđ ist hier im gleichen Sinn wie in Mt 6,1 gebraucht. 117 Die Aussage erinnert an Hos 10,12 LXX; Paulus gebraucht sonst den Begriff ĔċěĚƲĜ, um die Folge(n) guten Handelns zu beschreiben. Vgl. dazu P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Freiburg / Schweiz und Göttingen 1993, 289 f.

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ŞĖȥėďƉġċěēĝĞưċėĞȦĒďȦ »… reich sein in allen Dingen zu aller Einfalt, die durch uns bewirkt Danksagung an Gott«). Meint Paulus wirklich, »daß der Reichtum der Achaier ›zu allseitiger schlichter Güte (und Freigebigkeit)‹ … führen soll«?118 9,13 läßt sich jedenfalls besser verstehen, wenn man łĚĕƲĞđĜ hier nicht mit »Freigebigkeit« wiedergibt, sondern in dem üblichen Sinne mit »Schlichtheit, Geradheit«: Der Lobpreis der Empfänger der Kollekte gilt Gott (ĎęĘƪĐęėĞďĜĞƱėĒďƲė) zum einen őĚƯĞǼƊĚęĞċčǼ mit Blick auf das Evangelium, zum andern (őĚƯ) łĚĕƲĞđĞēĞǻĜĔęēėģėưċĜďŭĜċƉĞęƳĜĔċƯďŭĜĚƪėĞċĜ, also für die »Geradheit« und »Spontaneität« (Amstutz) der bestehenden und in der Kollekte sichtbar werdenden Gemeinschaftsbeziehung.119 V. 12 erinnert zunächst an die Argumentation in 8,14: Die in den paulinischen Gemeinden praktizierte ĎēċĔęėưċĞǻĜĕďēĞęğěčưċĜĞċƴĞđĜ wird den Mangel der Heiligen »auffüllen«. Paulus fügt dann noch einen ergänzenden Aspekt hinzu: Es wird geradezu einen »Überschuß« geben (Ěďěēĝĝďƴęğĝċ) hinsichtlich der ďƉġċěēĝĞưċēĞȦĒďȦ, die Kollekte wird die Ehre Gottes fördern, da ihre Empfänger Gott preisen werden.120 Auch hier deutet Paulus mit keinem Wort an, die ĎēċĔęėưċ könne von den ņčēęē zurückgewiesen werden.121 In V. 13 folgt eine theologische Ergänzung zu dem bis dahin Gesagten: Die Kollekte ist eine Konsequenz aus dem »Gehorsam gegenüber eurem Bekenntnis zum Evangelium«, sichtbar werde darin die łĚĕƲĞđĜ der Gemeinschaft (Ĕęēėģėưċ) in bezug auf alle Menschen. Paulus hatte den Begriff Ĕęēėģėưċ auch in 8,4 verwendet, und in Röm 15,26 f. wird er damit die Kollekte insgesamt bezeichnen. Hier in 2 Kor 9,13 wird durch Ĕęēėģėưċ insbesondere die Tatsache hervorgehoben, dass die Kollekte gemeinschaftsstiftend ist und zugleich aus der bereits bestehenden Gemeinschaft resultiert. Da dies dann, wie Paulus in V. 14 nochmals sagt, zum Dankgebet an Gott führt (vgl. V. 11), kann er am Ende in V. 15 selber Gott Dank sagen (ġƪěēĜĞȦĒďȦ). Auch in diesem offensichtlich an Christen in Achaja außerhalb von Korinth gerichteten Kollektenbrief 2 Kor 9 steht die Basis der paulinischen So Betz, 2 Kor 8 und 9 (s. Anm. 49), 208. Betz deutet łĚĕƲĞđĜ als »Großzügigkeit im einfach Schenken«, ohne diese Wortbedeutung aber wirklich zu belegen. Zu łĚĕƲĞđĜ s. oben S. 264 f. Amstutz, ìûöúþòý (s. Anm. 58), 107 sieht eine enge Parallele bei Seneca Ben II 1,1.2: Eine Wohltat sei so zu erweisen, wie man selber sie zu empfangen wünsche: Ante omnia libenter, cito, sine ulla dubitatione (»Vor allem gern, schnell, ohne irgendein Zögern«; Übers. M. Rosenbach). Da im folgenden dubitatio mit cunctatio umschrieben werde, entspreche dies der Bedeutung von łĚĕƲĞđĜ bei Paulus. 119 Vgl. Amstutz, ìûöúþòý (s. Anm. 58), 111. 120 Vgl. Grässer, Zweiter Korinther II (s. Anm. 49), 63. 121 Hentschel, Diakonia (s. Anm. 7), 153 deutet ĎēċĔęėưċ auch hier im Sinne von »Überbringung«. 118

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Argumentation fest; der Apostel sieht keine Notwendigkeit, den Adressaten gegenüber den Sinn der Jerusalem-Kollekte argumentativ zu belegen, sondern er setzt deren Zustimmung als gegeben voraus. Mit Blick auf die Adressaten formuliert er Zusagen, in denen von einer zu erwartenden Belohnung für das »gute Werk« die Rede ist; Forderungen oder auch nur Hinweise etwa der Art, dass es doch geboten sei, sich der Armen zu erbarmen, fehlen.

V. Paulus erwähnt die Jerusalem-Kollekte zum letzten Mal in Röm 15 im Zusammenhang seiner Reisepläne. Der Römerbrief wurde sehr wahrscheinlich in Korinth verfaßt, also in jener Gemeinde, über deren Kollektenpraxis wir aus den Korintherbriefen relativ genau unterrichtet sind. Es ist also zu vermuten, dass die Kollektenaktion hinsichtlich der Sammlung des Geldes aus der Sicht des Paulus erfolgreich abgeschlossen ist, als er den Brief nach Rom schreibt. Paulus schreibt, nachdem er das Evangelium »von Jerusalem bis Illyrien« ausgebreitet habe und es nun keinen »Raum« mehr gebe für seine weitere (Missions-)Tätigkeit in diesen Gebieten, wolle er nach Spanien reisen und er hoffe, auf der »Durchreise« (ĎēċĚęěďğƲĖďėęĜ) die römischen Christen endlich122 zu »sehen« (ĒďƪĝċĝĒċē). An dieser Stelle unterbricht er seine Ausführungen, die ihre Fortsetzung erst in V. 28 f. finden; in V. 25 schiebt er den Hinweis ein, »jetzt« (ėğėư) reise er nach Jerusalem, »um den Heiligen zu dienen« (ĎēċĔęėȥėĞęȉĜłčưęēĜ).123 Was das Verb ĎēċĔęėďȉė hier konkret bedeutet, erfahren die römischen Christen aus V.  26: »Makedonien und Achaja« haben nämlich eine »Gemeinschaft« (Ĕęēėģėưċ) zugunsten »der Armen unter den Heiligen in Jerusalem« beschlossen (ďƉĎƲĔđĝċė), einen konkreten Akt geschwisterlicher Verbundenheit. Diese Darstellung macht den Eindruck, als hätten »Makedonien und Achaja« – gemeint sind natürVgl. V. 22: őėďĔęĚĞƲĖđėĞƩĚęĕĕƩĞęȘőĕĒďȉėĚěƱĜƊĖǬĜ. Nach Hentschel, Diakonia (s. Anm. 7), 156 meint ĎēċĔęėȥė, dass Paulus »in Verantwortung vor Gott und vor den ihn beauftragenden Gemeinden … als Bote (ĎēċĔęėȥė) die Geldspende nach Jerusalem bringt«. Aber die nur in Röm 15,25 belegte partizipiale Wendung ĎēĔċĔęėȥė dürfte kaum als terminus technicus zu verstehen sein.  – Downs, Offering (s. Anm. 1), 149–157 sieht schon in Röm 15,16 einen Hinweis auf die Kollekte; die Wendung ŞĚěęĝĠęěƩĞȥėőĒėȥė könne gelesen werden »as a subjective genitive and taken as an allusion to the Jerusalem collection« (156). Aber V. 25 f. machen doch eher den Eindruck, dass hier das Thema Kollekte erstmals eingeführt wird; die »Anspielung« in V. 16 wäre vermutlich kaum verstanden worden. Paulus verwendet das Wort ĚěęĝĠęěƪ nur hier (und ĚěęĝĠƬěģ gar nicht), so dass die Annahme, er denke bei der »Opfergabe« an die Kollekte, wenig wahrscheinlich ist. 122 123

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lich die őĔĔĕđĝưċē in diesen beiden römischen Provinzen – von sich aus die Ĕęēėģėưċ beschlossen (»es schien ihnen gut«, ďƉĎƲĔđĝċė). Das stünde im Widerspruch zu dem in Gal 2,10 gegebenen Bericht; aber selbst wenn man Gal 2,10 so liest, als sei Paulus auf dem »Apostelkonzil« mit der Durchführung der Kollekte regelrecht »beauftragt« worden, müßte ja sofort hinzugefügt werden, dass der Apostel keinerlei Möglichkeiten besaß, seinen Gemeinden irgendwelche Zahlungsverpflichtungen definitiv aufzuerlegen. Insofern ist die von Paulus in Röm 15,26 gewählte Formulierung durchaus nicht irreführend; denn die Entscheidung, Geld für sozial schwache Christen in Jerusalem sammeln zu wollen oder dies nicht zu tun, mußte in jedem Falle von den Gemeinden eigenverantwortlich getroffen werden. Die Beschreibung der Ĕęēėģėưċ für Jerusalem zeigt, dass es sich um ein im strikten Sinne »diakonisches Unternehmen« handelt. Die Christen in Rom erfahren, dass nicht von einer bloß symbolischen Handlung die Rede ist, mit der womöglich eine Vorrangstellung der Urgemeinde oder eine besondere Wertschätzung der dortigen Christen hätte zum Ausdruck gebracht werden sollen, und dass es sich schon gar nicht um eine reine good-will-Aktion handelt, deren materielles Ergebnis womöglich nebensächlich gewesen wäre. Empfänger sind wirklich die sozial Armen in Jerusalem, d.h. der Ausdruck ĚĞģġƲē ist nicht in einem religiös-metaphorischen Sinne gebraucht, sondern er ist konkret gemeint. In V. 27a erläutert Paulus das eben Gesagte: Die Genannten haben nämlich (čƪě) beschlossen, dass sie ihre (sc. der Jerusalemer) »Schuldner« sind, so dass die Kollekte eine Rückzahlung von Schulden ist.124 Zusätzlich folgt in V. 27b eine definitiv theologische Begründung für die Kollekte: Da ĞƩŕĒėđ Gemeinschaft haben (őĔęēėƶėđĝċė) an den (aus Jerusalem empfangenen) geistlichen Gaben (ĞęȉĜĚėďğĖċĞēĔęȉĜ), schulden sie es ihnen (ŽĠďưĕęğĝēė), ihnen ihrerseits mit materiellen Gaben (őė ĞęȉĜ ĝċěĔēĔęȉĜ) einen Dienst zu erweisen (ĕďēĞęğěčǻĝċēċƉĞęȉĜ).125 Paulus bezieht sich darauf, dass die Evangeliumsverkündigung ihren Ausgang in Jerusalem genommen hatte. Nach Abschluß des ganzen Unternehmens mit der Übergabe des Geldes (V. 28a)126 wird Paulus, wie er in Fortsetzung von V. 24 schreibt, über Rom nach Spanien reisen. In V.  30.31 bittet Paulus dann aber die Adressaten, sie möchten ihm beistehen in seinen an Gott gerichteten Gebeten, dass er vor den Gefahren, 124 Die Wendung ďƉĎƲĔđĝċė in V.  27a zielt auf eine von den Gemeinden getroffene Entscheidung im Sinne eines theologischen Urteils; einige Handschriften (P46 und »westlicher Text«) lesen stattdessen ŽĠďĕƬĞċēčƩěďŭĝưė im Sinne eines objektiven Sachverhalts. 125 Wörtlich: »das Fleischliche« (ĞƩ ĝċěĔēĔƪ). Diese Verwendung von ĝċěĔēĔƲĜ bei Paulus ist höchst ungewöhnlich. 126 Die Formulierung klingt sehr förmlich (ĞęȘĞęęƏėőĚēĞďĕƬĝċĜĔċƯĝĠěċčēĝƪĖďėęĜ ċƉĞęȉĜĞƱėĔċěĚƱėĞęȘĞęė), ohne dass wir erkennen können, was genau gemeint ist. Sollte wirklich an einer »versiegelte« Geldkiste zu denken sein?

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die von den »Ungehorsamen« in Judäa ausgehen, gerettet werde (ȗğĝĒȥ) und dass die für Jerusalem bestimmte Kollekte den »Heiligen« willkommen sei (ďƉĚěƲĝĎďĔĞęĜ). Fürchtet Paulus, das Kollektengeld werde von der Jerusalemer Gemeinde gar nicht akzeptiert werden?127 Das ist sehr unwahrscheinlich. Paulus hatte seine Gemeinden zu vermutlich erheblichen finanziellen Anstrengungen angespornt, und er hatte selber sehr viel Kraft in das ganze Unternehmen gesteckt. Wenn er jetzt die im übrigen unbeteiligten Christen in Rom über den bevorstehenden Abschluß der Aktion informiert, wird er kaum in einer kurzen Nebenbemerkung andeuten, der ganze Einsatz könne vielleicht sinnlos gewesen sein. V.  31 schließt es im Gegenteil geradezu aus, dass Paulus mit einer solchen Möglichkeit ernsthaft gerechnet hat.128 Paulus hofft, angesichts der ihm seitens der »Ungehorsamen« (ŁĚďēĒęȘėĞďĜ), also der nicht an Christus glaubenden Juden in Judäa, möglicherweise drohenden Gefahren bewahrt zu werden; und er erwartet zugleich, die »Heiligen« (ņčēęē), also die an Christus glaubenden Juden, würden seinen »Dienst« (ĎēċĔęėưċ) akzeptieren.129

127

So u.a. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHKNT 6, Leipzig 1999,

314 f. 128

W. Schmithals, Paulus und Jakobus, FRLANT 85, Göttingen 1963, 66–68 interpretiert Röm 15,31 dahin, dass Paulus gefürchtet habe, aufgrund einer drohenden Verfolgung durch die (nichtchristlichen) Juden in Jerusalem könne die (judenchristliche) Gemeinde dort veranlaßt werden, die Kollekte zurückzuweisen. »Je schärfer die Reaktion der Juden auf die Ankunft des Paulus war, um so weniger konnte den Judenchristen die von Paulus überbrachte Kollekte willkommen sein, hätten sie sie auch noch so gerne angenommen.« Vgl. Schmithals, Kollekten (s. Anm. 1), 104 f.: Paulus spreche nicht eine doppelte Befürchtung aus, »sondern er entfaltet die eine Sorge, die ihn angesichts der Ungehorsamen bewegt, nach zwei Seiten«. Die Bitte in 15,31 zielt darauf. »dass Paulus vor jüdischen Nachstellungen in Judäa bewahrt bleibt und deshalb die Christen seine Kollekte entgegennehmen können, ohne Repressalien befürchten zu müssen« (Hervorhebung im Orig.). Dagegen verweist Haacker (s. die vorige Anm), ebd. auf die Entscheidung zur Zurückweisung heidnischer Weihegeschenke zu Beginn des jüdischen Aufstands (Josephus Bell. 2, 409 ff.). »Einem solchem einschneidenden Beschluß müssen längere Diskussionen vorausgegangen sein, von denen auch Paulus Kenntnis haben konnte, und er scheint nicht auszuschließen, dass die Gemeinde in Jerusalem die Spenden der Heidenchristen ausschlagen könnte, sei es aus Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung oder sogar unter dem Einfluß dieser Abgrenzungsparolen.« Aber aus Röm 15,31 geht nicht hervor, dass Paulus mit solchen Komplikationen rechnet. 129 Wolter, Paulus (s. Anm. 10), 42 betont die freundschaftsethischen Aspekte des Kollektenunternehmens. Die freundschaftliche Verbundenheit »wird auf Seiten der heidenchristlichen Gemeinden darin erkennbar, dass sie die Kollekte aufbringen, während die Jerusalemer Seite ihr durch die Annahme des Geldes Ausdruck verleiht«. Dazu passe, dass sich Paulus in Röm 15,30 f. »darum sorgt, dass die Kollekte in Jerusalem möglicherweise nicht ›willkommen‹ ist«. Aber Paulus formuliert dort seinen Wunsch positiv.

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VI. Die Frage, ob das von Paulus in seinen Gemeinden gesammelte Kollektengeld von den ņčēęē in Jerusalem akzeptiert oder aber – aus welchen Gründen auch immer – zurückgewiesen wurde, ist angesichts der Quellenlage nicht beantwortbar. Die Apostelgeschichte schildert den Aufenthalt des aus Korinth (20,2 f.) nach einer längeren Reise in Jerusalem angekommenen Paulus sehr eingehend, erwähnt aber das Kollektenunternehmen mit keinem Wort.130 Ein entsprechender Hinweis fehlte schon in der lk Darstellung des »Apostelkonzils« (Apg 15); aber Apg 15,1–29 und Gal 2,1–10 unterscheiden sich auch sonst erheblich voneinander, so dass man nicht annehmen muß, Lukas habe bewußt etwas »verschwiegen« oder die Fakten absichtlich verzerrt dargestellt. Offenbar enthielt die Tradition, die er von der Jerusalemer Zusammenkunft besaß, keine Hinweise auf die Kollektenvereinbarung. Oft wird vermutet, bei der in Apg 20,4 genannten größeren Delegation, von der Paulus auf der Reise von Korinth nach Syrien begleitet wird, habe es sich »um die Abgeordneten [gehandelt], welche die Kollekte überbringen sollen«131; aber das läßt sich jedenfalls nicht sicher sagen, zumal Delegierte aus Achaja bzw. Korinth in Apg 20,4 gerade nicht genannt werden. Natürlich könnte die korinthische Gemeinde auf die Entsendung von eigenen Delegierten verzichtet oder sich im Gegenteil dem ganzen Unternehmen am Ende sogar entzogen haben; aber das wäre reine Spekulation132, und 130 Nach Gnilka, Kollekte (s. Anm. 2), 306 spricht »manches« dafür, »daß die Jerusalemer nicht bereit waren, die Kollekte anzunehmen«; so könne man das Schweigen der Apg zu diesem Thema »am ehesten erklären« (aaO., 314). Ähnlich Betz, Galaterbrief (s. Anm. 20), 196: Wie Paulus befürchtet hatte, führte seine Ankunft in Jerusalem »zu Unruhe und Aufruhr. Anscheinend wurde die Kollekte von den Empfängern zurückgewiesen.« Anders J. Eckert, Die Kollekte des Paulus für Jerusalem, in: P.-G. Müller / W. Stenger (Hgg.), Kontinuität und Einheit. FS Franz Mußner, Freiburg / Basel / Wien 1981, 65–80, hier 79: »Von einer Ablehnung der paulinischen Kollekte durch die Jerusalemer Urgemeinde wissen wir nichts«; Eckert hält es unter Hinweis auf Apg 21,18–26 freilich für »nicht unwahrscheinlich«, dass Paulus »durch die Übernahme der nicht unerheblichen Kosten für die Auslösung von vier armen Nasiräern seinen Beitrag zur innerkirchlichen Versöhnung geleistet hat«. Es ist aber schwer vorstellbar, dass die Kollekte im wesentlichen für diesen kultischen Akt Verwendung gefunden haben sollte. 131 So H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, HNT 7, Tübingen 21972, 124. Auch Omerzu, Prozeß des Paulus (s. Anm. 16), 277 stellt fest, der erste Hinweis auf die Jerusalemreise in Apg 19,21 sei »mit Nachrichten über die Kollektendelegation (vgl. 19,22; 20,4) verbunden worden«, aber sie ergänzt diese Feststellung mit der Anmerkung, »dieser Umstand« mache »die Nichterwähnung der Kollekte nochmals überraschender« (277 A 11). 132 Koch, Kollektenbericht (s. Anm. 43) vermutet, dass Lukas in Apg 20,4–21,18 einen Rechenschaftsbericht verwendete, der genau über die Reiseroute nach Jerusalem unterrichtete; dieser »Wir«-Bericht unterscheide sich in Stil und Tendenz deutlich von den beiden anderen »Wir«-Berichten (16,10–17,1 und 27,1–28,16), die rein lukanisch seien. Dann müßte freilich der entscheidende Punkt, nämlich der Bericht über die Übergabe des Geldes an die Jerusalemer Gemeinde, entfallen sein.

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es ist angesichts der Ausführungen in Röm 15,25–27 ja auch sehr unwahrscheinlich. Auch aus der Darstellung der Konflikte während des Jerusalem-Aufenthalts des Paulus (Apg 21 f.) läßt sich ein Fehlschlag der Kollekten-Aktion nicht ableiten. Insbesondere ist der (historisch zuverlässige?) Bericht über die Auslösung der Nasiräer wohl nicht mit dem Schweigen über die Kollekte zu verknüpfen – etwa unter der Annahme, das für die Armen in Jerusalem bestimmte Geld sei in Wahrheit für die Auslösung der Nasiräer verwendet worden.133 Eher noch ist auf Apg 24,17 zu verweisen, wo Paulus in seiner Verteidigungsrede vor dem Statthalter Felix erklärt, er sei nach Jerusalem gereist, um »Almosen für mein Volk zu überbringen und Opfer«.134 Aber wenn, wie H. Conzelmann meint, diese Anspielung kaum zu verstehen ist135, dann stellt sich die Frage, ob überhaupt eine solche vorliegt.136 Es handelt sich ja um eine Rede des Paulus vor dem römischen Statthalter Felix als Reaktion auf die Anklage des Tertullus (24,1–9); der lk Paulus muß nicht nur seinen Jerusalem-Besuch plausibel machen, sondern vor allem auch den Aufenthalt im Tempel, und dazu passen die Stichworte »Almosen« und »Opfer« hervorragend.137

133 Omerzu, Prozeß des Paulus (s. Anm. 16), 301 hält es für möglich, dass »die Annahme des Geldes an konkrete Bedingungen geknüpft wurde« (vgl. aaO., 506). Sie folgt, wie viele andere, der Erwägung von E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK III, Göttingen 61968, der schreibt (544), die Jerusalemer »Kirchenleitung« habe es dem Paulus nahegelegt, »die relativ erheblichen Kosten der Auslösung von 4 armen Nasiräern zu übernehmen«, und dann konnte man auch »die Kollekte entgegennehmen, weil eine solche Auslösung von Nasiräern für jeden Juden als besonders fromm galt«. Haenchen meint, Lukas habe von der Kollekte gewußt, doch müsse das Zögern der Urgemeinde, sie anzunehmen, »für ihn ein dunkles Rätsel gewesen sein, mit dem er nichts anzufangen wußte« (545). Georgi, Der Armen zu gedenken (Anm. 1), 89 entwirft ein recht phantasievolles Bild: Einerseits habe die von Paulus übernommene Auslöser der Nasiräer die Gemeinde in die Lage versetzt, das Kollektengeld zu akzeptieren; andererseits habe man jedes öffentliche Aufsehen vermeiden müssen, und so sei die Kollekte »anscheinend gleichsam nur im Nebenzimmer und sozusagen nur flüsternd übergeben und empfangen« worden; Lukas »konnte das Ganze mit Stillschweigen übergehen«. Haacker, Römerbrief (s. Anm. 104), 315 meint, da Lukas in Apg 11,27–30; 12,25 »von der erfolgreichen Durchführung einer vergleichbaren Spendenaktion im Auftrag der Gemeinde von Antiochien berichtet« habe, könne »sein Schweigen in Apg. 21 bedeuten, dass die Befürchtungen von Röm. 15,31 sich leider bestätigt haben«. 134 Eckert, Kollekte (s. Anm. 130) 66 f.: Hier »scheint Lukas sein Wissen um die paulinische Sammlung – wenn auch verhüllt – preiszugeben«, wobei aber aus der groß angelegten Aktion »eine Privatangelegenheit des Paulus geworden zu sein« scheint, »die seine Loyalität zur jüdischen Religion bezeugt«. 135 Conzelmann, Apg (s. Anm. 131), 142: »Der Leser der Act kann die Anspielung kaum verstehen; man sieht, daß Lk mehr weiß, als er sagt.« Haenchen, Apg (s. Anm. 133), 627 meint sogar, die ursprünglichen Leser hätten die Anspielung überhaupt nicht verstehen können. 136 Welchen Anlaß sollte Lukas gehabt haben, hier derart verschleiert auf die Kollekte hinzuweisen, nachdem er sie zuvor nicht einmal andeutend erwähnt hatte? 137 Vgl. dazu Omerzu, Prozeß des Paulus (s. Anm. 16), 302 f. und vor allem 447 f. Ob hier allerdings ein »Traditionsstrang« sichtbar wird, der ursprünglich auch vom Anlaß des Opfers sprach, wie sie annimmt, scheint mir fraglich zu sein.

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Die Kollektenaktion bleibt in der Apg nicht erst im Zusammenhang der Darstellung des letzten Jerusalem-Aufenthalts des Paulus unerwähnt, sondern durchgängig in dem ganzen Bericht über die paulinische Missionsarbeit. Lukas erwähnt sie offenbar deshalb nicht, weil er nichts von ihr weiß.138 Wir haben keinerlei Quellenmaterial, das uns über das tatsächliche Ergebnis der Aktion definitiv Auskunft geben könnte. Da Paulus als Organisator der Kollekte erhebliche Mühen für sie aufgewandt hat, ist aber jedenfalls zu vermuten, dass er persönlich stets mit einem Erfolg gerechnet hat.

VII. In seiner Studie »Das Hauptproblem der Sozialethik in der neueren Stoa und im Urchristentum«139 hat H. Greeven betont, dass Paulus sich von der Kollekte »weit mehr [versprochen habe] als eine Hilfe für die Armen in Jerusalem, nämlich Segen, Freude, Reichtum zu guten Taten, Gebetsgemeinschaft und Dank zu Gott, innige Verbundenheit der Gemeinden untereinander«; der in 2 Kor 8,13 gegebene Hinweis, man solle die eigenen Möglichkeiten nicht überstrapazieren, sei nicht etwa damit zu erklären, dass Paulus »ein Aushelfen über die eigenen Kräfte, eine Selbstaufgabe aus Vernunft- oder anderen Gründen« abgelehnt hätte. Paulus habe vielmehr die Tatsache berücksichtigt, »daß die Gemeinde, an die er sich wendet, selbst Liebespflichten gegen ihre Armen hat, die durch die Abgaben nicht Schaden leiden sollen«.140 Aber Paulus sagt nirgendwo explizit etwas über eine Verpflichtung zur Versorgung der Armen innerhalb der jeweils eigenen Gemeinde; das ganze Thema des sozialen Ausgleichs und der sozialen Fürsorge kommt ausschließlich im Zusammenhang der Jerusalem-Kollekte in den Blick. Sah der Apostel die Armenfürsorge141 ganz selbstverständlich als Bestandteil der gemeindlichen Ordnung und Praxis an, und bedurfte sie deshalb keiner besonderen Erwähnung? Dann würde sich aus den relativ breiten Ausführungen des Apostels zur Jerusalem-Kollekte die Vermutung nahelegen, dass es zumindest für die »Heidenchristen« in Galatien, Makedonien und Achaja alles andere als selbstverständlich war, für Arme in dem in jeder 138

Hat Lukas paulinische Briefe (bzw. Briefteile), in denen von der Kollekte die Rede ist, möglicherweise gar nicht gekannt? S. dazu A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und dieRezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, BHTh 58, Tübingen 1979, 163–173. 139 H. Greeven, Das Hauptproblem der Sozialethik in der neueren Stoa und im Urchristentum, NTA III/4, Gütersloh 1935 (= Münster 1983). 140 Greeven. Hauptproblem (s. die vorige Anm.), 107 f. 141 Vgl. J. J. Meggitt, Art. Armenfürsorge. V. Neues Testament, RGG4 1, Tübingen 1998, 758 f.

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Hinsicht fernen und fremden Jerusalem größere Geldmittel aufzubringen und also um derentwillen ihrerseits Verzicht zu leisten. Auffallend ist aber, dass sich Paulus außerordentlich intensiv mit der Organisation der Kollekte befaßt und die Adressaten darüber auch eingehend informiert. Dies sollte mit dazu beitragen, eventuelles Mißtrauen abzubauen und ein Klima zu schaffen, das die Adressaten veranlassen konnte, die gewünschten Geldmittel aufzubringen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Paulus von der Kollekte für die Armen in Jerusalem spricht, zeigt gerade, dass der Apostel es vermeiden will, die Kollekte als solche zum Gegenstand einer womöglich kasuistischen Argumentation zu machen und sie damit letztlich doch zur Disposition zu stellen.

»Du sollst ein Kind nicht im Leib der Mutter töten« Schwangerschaftsabbruch als ethisches Problem im antiken Judentum und im frühen Christentum* Die Frage der ethischen Rechtfertigung des Abbruchs einer Schwangerschaft, also der »Tötung der menschlichen Leibesfrucht vor ihrer Geburt, die auch als Abtreibung bezeichnet wird«1, ist auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eines der besonders intensiv diskutierten ethischen Probleme im Zusammenhang der Frage nach Recht und Grenze bei Eingriffen in das menschliche Leben; dies gilt insbesondere innerhalb der christlichen Kirchen.2 Das zeigte die heftige Diskussion über die im Jahre 1999 ergangene »Empfehlung« von Papst Johannes Paul II. an die katholischen deutschen Bischöfe, die Ausstellung der zur straffreien Abtreibung berechtigenden »Scheine« durch die entsprechenden Beratungsstellen der römisch-katholischen Diözesen zu unterbinden. Grundsätzlich stehen auch die evangelischen Kirchen der Abtreibung ablehnend gegenüber3, auch wenn im einzelnen differenzierter argumentiert wird.4 * Meiner früheren Wissenschaftlichen Assistentin Dr. Petra von Gemünden, jetzt Professorin für Bibelwissenschaft an der Universität Augsburg, danke ich auch an dieser Stelle für ihre große Hilfe bei der Suche nach Literatur und für intensive Gespräche über die hier erörterte Thematik. 1 Sabine Demel, Art. Schwangerschaftsabbruch I. Historisch, TRE 30, Berlin 1999, 630. 2 Zu den ethischen Problemen der »Biomedizin« s. U. H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, UTB 2107, Göttingen 1999, 199–232; ferner die Beiträge in dem Band H. Böhm / K. Ott (Hg.), Bioethik – Menschliche Identität in Grenzbereichen, EuG 40, Leipzig 2008. 3 Vgl. die gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz »Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens«, 1989, 65–89. Dort heißt es (68): »Schwangerschaftsabbruch soll nach Gottes Willen nicht sein«, womit an das Tötungsverbot des Dekalogs angeknüpft wird. Dennoch könnten Menschen »in ihrem Gewissen dem Konflikt ausgesetzt sein, daß sie Gottes Gebot wohl als für sich verbindlich anerkennen, aber dennoch angesichts der unerträglich erscheinenden Schwierigkeit, in die sie die Schwangerschaft gebracht hat, für sich keinen Weg sehen, das ungeborene Kind anzunehmen und also am Leben zu erhalten.« 4 So erklärte im Zusammenhang der Debatte um den Rückzug der römisch-katholischen Kirche aus der Schwangerschaftskonfliktberatung das Diakonische Werk der EKD am 14.7.1999, es trete »auch weiterhin ohne Wenn und Aber für das Leben ein« und werde auch künftig »Frauen im Schwangerschaftskonflikt in ihrer oft verzweifelten

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Die gegenwärtige (2011) Rechtslage in Deutschland stellt sich folgendermaßen dar: Nach § 218 StGB in der Fassung von 1999 wird der Abbruch einer Schwangerschaft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; begeht die Schwangere die Tat, so beträgt die Freiheitsstrafe höchstens ein Jahr. In § 218a Abs. 1 wird dann jedoch geregelt, dass der Tatbestand des § 218 nicht verwirklicht ist, wenn dem Schwangerschaftsabbruch ein Beratungsgespräch vorausgegangen ist und wenn er innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis vorgenommen wird. Nach Abs. 2 ist der Abbruch dann »nicht rechtswidrig«, wenn er »unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden« oder wenn die Schwangerschaft auf einer Vergewaltigung beruht (Abs. 3). Nach § 219 dient die nach § 218a vorzunehmende Beratung ausdrücklich »dem Schutz des ungeborenen Lebens«; sie soll die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen, wobei ihr bewußt sein soll, »daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat«.

Wesentlich für die christliche Entscheidung ist die Bejahung der Menschenwürde auch des ungeborenen Kindes. Wenn man dagegen annimmt, das noch nicht geborene Kind, der Embryo5, besitze keine eigene Würde, weil es noch keine Person ist6, dann gibt es keinen Grund, überhaupt über die Suche nach einer für sie lebbaren Lösung beraten und begleiten«, und zwar »in der Überzeugung, daß ungeborenes Leben nur mit der Frau und nicht gegen sie geschützt werden kann«. 5 Im folgenden soll (ausgenommen bei Zitaten) zwischen ›Embryo‹ und ›Foetus‹ begrifflich nicht unterschieden werden. 6 Dass der Embryo in seiner Frühform noch nicht im eigentlichen Sinne als »Person« zu gelten hat, wird im allgemeinen angenommen. Vgl. U. H. J. Körtner, Menschenwürde und Embryonenschutz  – Ethische Probleme der Reproduktionsmedizin, Amt und Gemeinde 52 (2001) 42–51 stellt verschiedene Theorien zur Frage des Personseins des Embryos dar; die von den Kirchen vertretene Position betrachte den Embryo »ab der Verschmelzung der Vorkerne als Lebewesen mit personalem Wert«. Körtner selber will zwischen Personsein und Menschsein nicht unterscheiden, er folgert aber aus den heutigen Erkenntnissen der Embryologie »eine prinzipielle Unbestimmtheit des Anfangs. Ein (Prä)embryo kann, muss aber nicht der Anfang eines oder mehrerer menschlicher Lebewesen sein.« Daraus leitet er als ethische Forderung aber gerade ab, dass »Embryonen proleptisch und vorsorglich Personsein zugesprochen bzw. ein für Personen geltender Rechtsschutz zuerkannt werden« sollte (45). – Die Debatte im Jahre 2011 war in Deutschland besonders durch die Frage bestimmt, ob eine »Präimplantationsdiagnostik« (PID) gesetzlich zugelassen werden sollte, wobei oft darauf hingewiesen wird, die PID könne dazu beitragen, die Geburt von Menschen mit Behinderungen zu vermeiden. In einer an den Deutschen Bundestag gerichteten Stellungnahme der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel vom Frühjahr 2011 heißt es dazu: »Abgesehen davon, dass die Mehrzahl der Behinderungen ohnehin nicht genetisch bedingt ist, würde damit ›Behinderung‹ im öffentlichen Diskurs als ein unerwünschter Zustand diskriminiert, den es zu eliminieren gelte«, wodurch sich Menschen mit Behinderungen »als unerwünschte Glieder der Gesellschaft stigmatisiert sehen« könnten. Das einzige überhaupt akzeptable Argument für die PID könne die Absicht sein, »Eltern, die nachweislich mit einem genetischen Risiko

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Frage eines rechtlichen Schutzes vorgeburtlichen Lebens nachzudenken. So hat Peter Singer vorgeschlagen, »dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewußtseins, der Bewußtheit, der Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person.« Singer meint, auch in einem relativ späten Stadium der Entwicklung des Embryos würden »die ernsthaften Interessen der Frau normalerweise jederzeit vor den rudimentären Interessen selbst eines bewußten Fötus Vorrang haben«. Aus dem Hinweis, der fötale Homo sapiens sei potentiell anderen Lebewesen überlegen, »folgt nicht, daß der Fötus einen größeren Anspruch auf Leben hat. Es gibt keine Regel, die besagt, daß ein potentielles X denselben Wert oder alle Rechte von X hat.«7 Martin Honecker hält dieser Argumentation »das Kriterium für eine theologische Beurteilung« entgegen: »Der Mensch ist nicht nur ›Geist‹, Bewußtsein, sondern leib-seelische Ganzheit; er ist Geschöpf in der Totalität, Einheit von Geist, Leib und Seele. Das schließt den Schutz der leiblichen Natur (auch schon in ihrer Potentialität) ein. Das werdende Leben hat außerdem vor Gott Würde, dignitas, vor aller eigenen menschlichen Leistung, auch vor aller geistigen Leistung.«8 Dieses eindeutige ethische Urteil verbindet sich allerdings mit der Einsicht, dass die Versuche, das werdende Leben primär mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen, im wesentlichen als gescheitert angesehen werden müssen.9 belastet sind, eine Schwangerschaft zu ersparen, wenn diese mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer Tot- oder Fehlgeburt oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im ersten Lebensjahr mit dem Tod des Kindes endet oder wenn die psychische Gesundheit der Mutter durch die Geburt eines behinderten Kindes schwerwiegend gefährdet ist.« Eine solche Belastung könne werdenden Eltern »von außen nicht ohne eigene Bejahung auferlegt werden«, wobei ausdrücklich gesagt wird, »die toleranten Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch« dürften nicht dazu verwendet werden, eine Lockerung des PID-Verbots zu begründen. Nach der am 7. Juli 2011 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Ergänzung des Embryonenschutzgesetzes durch einen neuen § 3a ist die Anwendung der Präimplantationsdiagnostik dann »nicht rechtswidrig«, wenn »auf Grund der genetischen Disposition der Eltern oder eines Elternteiles für deren Nachkommen eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere Erbkrankheit« besteht. »Nicht rechtswidrig handelt auch, wer eine Präimplantationsdiagnostik zur Feststellung einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos vornimmt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird.« 7 P. Singer, Praktische Ethik, Reclam Universal-Bibliothek 8033, Stuttgart 21994, 197. 199. 8 M. Honecker, Grundriß der Sozialethik, GLB, Berlin 1995, 93. 9 Vgl. den knappen historischen Überblick über die unterschiedlichen Fassungen des § 218 StGB seit 1871 bei W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 350–352. Zu der seit 1995 geltenden Rechtslage aaO., 352– 357.

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Im nachbiblischen Judentum wie auch in der Kirche der beiden ersten Jahrhunderte wurde der Schwangerschaftsabbruch ausdrücklich verworfen.10 Das ist insofern erstaunlich, als weder das Alte noch das Neue Testament Aussagen zu dieser Thematik enthalten. Mit welcher Begründung wurde die eindeutige Haltung dennoch eingenommen – und zwar in einem Umfeld, in dem Abtreibung nicht nur praktiziert, sondern auch in der ethischen Diskussion als eine nicht nur legale, sondern grundsätzlich auch legitime Handlungsweise angesehen wurde? Im folgenden sollen die historischen Bedingungen und die theologischen Gründe für die Verwerfung des Schwangerschaftsabbruchs im antiken Judentum und im frühen Christentum dargestellt werden. Zunächst (I.) wird die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs in Texten der klassischen griechischen Philosophie und in der Ethik der hellenistisch-römischen Zeit im Überblick dargestellt. Es folgt (II.) eine Beschreibung der im antiken Judentum erkennbaren Positionen. In Teil III. geht es um die entsprechenden Aussagen in den frühen christlichen Schriften bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts. In Teil IV. soll dann versucht werden, die antike jüdische und christliche Entscheidung gegen die Abtreibungspraxis theologisch zu interpretieren und zu bewerten, und schließlich (V.) soll gefragt werden, ob die in den antiken Texten erkennbare Argumentation in der modernen Debatte hilfreich sein könnte.

I. In seinem den idealen Staat beschreibenden Werk ›Politeia‹ erörtert Platon die Frage einer »erlaubten« bzw. einer »nicht erlaubten« Aufzucht von Kindern. Nach Platons Vorstellungen sollen jeweils »die besten« Männer und Frauen miteinander Kinder zeugen, ebenso auch »die schlechtesten«, wobei die Kinder der Erstgenannten aufgezogen werden sollen, die der anderen dagegen nicht; allerdings sollten die zur Regierung bestimmten Personen (Łěġċư bzw. ŅěġęėĞďĜ) dies nicht öffentlich praktizieren, um das 10

Zu nennen ist auf jüdischer Seite beispielsweise das paränetische Gedicht des PseudoPhokylides V. 184 f.: »Eine Frau bringe das ungeborene Kind im Mutterleib nicht um; und wenn sie geboren hat, werfe sie (das Neugeborene) nicht den Hunden und Geiern zum Raube vor.« Der älteste christliche Text, der den Schwangerschaftsabbruch erwähnt (und verwirft), findet sich in der Zwei-Wege-Lehre der Didache (Did 2,2): »Du sollst nicht ein Kind durch Abtreibung (őė ĠĒęěǭ) morden, und du sollst das Geborene nicht töten.« Ähnlich lautet der Paralleltext Barn 18,5. Näheres s.u. Zur weiteren geschichtlichen Entwicklung insbesondere im römisch-katholischen Kirchenrecht s. Demel (s. Anm. 1), 630 f. Vgl. ferner R. B. Hays, The Moral Vision of the New Testament. Community, Cross, New Creation. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, San Francisco 1996, 449–461.

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Aufkommen von Zwietracht zu vermeiden.11 Platon hält es für angemessen, dass Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren Kinder gebären und dass Männer im Alter zwischen 30 und 55 Jahren die Kinder zeugen; sonst liege eine für das Gemeinwesen (ĞƱĔęēėƲė) »unheilige und widerrechtliche Vergehung« (ęƍĞď Ƃĝēęė ęƍĞď ĎưĔċēęė … łĖĆěĞđĖċ) vor, und in diesem Fall solle das Empfangene entweder nicht ans Licht gebracht oder aber – sollte dies nicht verhindert werden können – ausgesetzt werden (Pol V 461 a.c). Ethische Probleme scheint Platon im Zusammenhang mit der von ihm empfohlenen Praxis nicht zu sehen.12 Auch Aristoteles will, dass der ideale Staat die Zeugung und die Aufzucht der Kinder regelt; ein Gesetz solle dafür sorgen, dass »Verstümmeltes« (ĚďĚđěģĖƬėęė) nicht aufgezogen wird; wenn die Zahl der Kinder zu groß zu werden drohe, sei – da Kindesaussetzung sittlich verwerflich sei – der frühzeitige Schwangerschaftsabbruch ein legitimes Gegenmittel.13 Eine solche Abtreibung (ŅĖČĕģĝēĜ) solle erfolgen, bevor das ungeborene Kind »Wahrnehmung« und »Leben« (ċűĝĒđĝēĜ und ĐģƮ) besitzt; davon hänge nämlich ab, was zulässig oder möglicherweise sogar geboten (ƂĝēęĜ) ist und was nicht.14 Aristoteles sieht deutliche Unterschiede zwischen der Entwicklung des männlichen und der des weiblichen Embryos: Kindsbewegungen (ĔưėđĝēĜ) seien beim männlichen Embryo am vierzigsten Tag nach der Zeugung wahrzunehmen, meist in der rechten Seite, beim weiblichen Embryo hingegen erst vom neunzigsten Tage an, meist in der linken Seite15; allerdings gebe es auch abweichende Beobachtungen.16 Inwieweit die Überlegungen Platons und des Aristoteles der in den griechischen Städten geltenden Rechtsordnung bzw. den anerkannten Sitten entsprechen oder nicht, läßt sich mangels Quellen nicht sagen.17 11

Platon Pol V 459 d–e. Die anzuwendende Praxis wird in 460 c beschrieben: Die Kinder der guten »tragen sie in das Säugehaus zu Wärterinnen, die in einem besonderen Teil der Stadt wohnen, die der schlechteren aber, und wenn eines von den anderen verstümmelt (ŁėƪĚđěęė) geboren ist, werden sie, wie es sich ziemt, in einem unzugänglichen und unbekannten Orte verbergen« (Übers. hier und im folgenden F. Schleiermacher). 12 Platon macht seine Vorstellungen nicht von der »Bevölkerungsdichte« abhängig (so aber Demel [s. Anm. 1], 630), sondern er will erreichen, »daß aus guten bessere und aus brauchbaren immer brauchbarere Nachkommen entstehen« (461 a). 13 Arist. pol VII p 1335b 19–26. Vgl. II p 1265b 6–12: Gebe man die Erzeugung von Kindern frei, so müsse dies Armut zur Folge haben. 14 Arist. pol VII p 1335b 24–26. ċűĝĒđĝēĜ meint in diesem Zusammenhang offenbar »Sinneswahrnehmung«, also möglicherweise die Reaktion auf Sinnesreize; ĐģƮ könnte sich auf die »Beseelung« des Embryo beziehen. Zur Verbindung von Đǻė und ċŭĝĒƪėďĝĒċē s. auch Aristoteles De anima II p 414a 4 ff. 15 Aristoteles Historia Animalium VII p 583b 2–4. 16 Die Theorie von der früheren Entwicklung des männlichen Embryos war in der Folgezeit überaus einflußreich. 17 Vgl. F. J. Dölger, Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und die Fruchtabtreibung in der Bewertung der heidnischen und christlichen Antike, AuC 4, 1934, 1–61,

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Von besonderer Bedeutung für die hier dargestellte Thematik ist bis in die Gegenwart hinein der sogenannte »Hippokratische Eid«, der die Selbstverpflichtung des Arztes enthält, keine Abtreibung vorzunehmen. Die Datierung der ganzen Eidesformel ist umstritten; auch ist unklar, ob die Aussage über den Schwangerschaftsabbruch von Anfang an im Text enthalten war. Über die tatsächliche Bedeutung dieses Eides in der antiken Medizin ist wenig bekannt; aber es handelt sich jedenfalls um einen frühen, vorchristlichen und auch nicht vom Judentum beeinflußten Text, der zumindest in der Schule des Hippokrates erhebliches Gewicht besaß.18 Der für unseren Zusammenhang bedeutsame Satz lautet: »Ich werde niemandem, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben (ęƉĎƫčğėċēĔƯĚďĝĝƱėĠĒƲěēęėĎƶĝģ).«19 Schon in der antiken Exegese wurde die Frage gestellt und unterschiedlich beantwortet, wie der Begriff ĚďĝĝƱĜĠĒƲěēęĜ zu interpretieren sei. Sehr wahrscheinlich war nicht gemeint, nach der Lehre der hippokratischen Schule sei Abtreibung in jeglicher Form als ethisch verwerflich anzusehen; im Corpus Hippocraticum werden nämlich durchaus Möglichkeiten erwähnt, wie eine Frau auf »natürlichem« Wege einen Schwangerschaftsabbruch herbeigeführen könne. In der hippokratischen Schrift De natura pueri 13 wird erwähnt, dass einer Prostituierten geraten worden sei, so lange auf und ab zu springen und dabei mit den Fußhacken ans Gesäß zu schlagen, bis die Leibesfrucht abgestoßen werde. Der um 100 n. Chr. in Rom wirkende aus Ephesus stammende Mediziner Soranos berichtet in seinem Buch über die Frauenheilkunde, manche Ärzte hielten nur im Fall der Lebensgefahr für die Mutter einen Schwangerschaftsabbruch für vertretbar, während andere diesen Schritt lediglich dann ablehnten, wenn er aus kosmetischen Gründen oder zur Vertuschung eines Ehebruchs vorgenommen werden solle. Zum Begriff ĚďĝĝƱĜ ĠĒƲěēęĜ im hippokratischen Eid meint Soranos, damit solle der Gebrauch eines ĠĒƲěēęė untersagt werden, also die Anwendung eines den Embryo »zerstörenden« Mittels; nicht gemeint sei ein ŁĞƲĔēęė, also ein empfängnisverhütendes Mit-

besonders 6 und 44–61; Dölger vermutet, dass Abtreibung zur Zeit des Aristoteles im allgemeinen abgelehnt worden sei. Anders Ruth Hähnel, Der künstliche Abortus im Altertum, SAGM 29 (1936/37) 224–255: Die Haltung der griechischen Gesetze in dieser Frage ist unklar (233). Vgl. H. King, Art. Abtreibung. B. Attisches Recht, DNP 1, Stuttgart 1996, 42. 18 Zur Wirkungsgeschichte s. Vivian Nutton, Art. Hippokratischer Eid, DNP 14, Stuttgart 2000, 418 f. 19 Zitiert nach W. Müri (Hg.), Der Arzt im Altertum. Griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen, Darmstadt 41979, 9.

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tel, und ebensowenig ein őČƲĕēęė, also ein Verfahren, durch das der Embryo auf »natürliche« Weise abgeht.20 Karl Deichgräber versteht ĚďĝĝƲĜ als ein medizinisches Instrument, mit dessen Hilfe ein zur Abtreibung führendes Mittel in die Scheide eingeführt werden konnte; gleichwohl bedeute dies nicht, dass sich der Eid allein gegen eine bestimmte Praxis der Abtreibung wende, vielmehr verwerfe er generell jede Form des Schwangerschaftsabbruchs.21 Es scheint aber doch möglich zu sein, ĚďĝĝƲĜ im Wortsinne zu deuten: ĚďĝĝƲĜ ist »any oval body«22, und daher könnte ein chirurgisches Instrument gemeint sein, auf dessen Anwendung der Arzt der hippokratischen Schule verzichten soll. Der Eid unterscheidet ja grundsätzlich zwischen dem Arzt und dem Chirurgen, wie die unmittelbar folgende Aussage über die Operation des Blasensteins zeigt.23 Dann würde nicht die Abtreibung als solche für (ethisch) verwerflich erklärt werden, sondern es würde lediglich die Verwendung eines bestimmten chirurgischen Instruments als mit dem Ethos des Arztes (!) unvereinbar gelten. In welchem Ausmaß Schwangerschaftsabbrüche tatsächlich vorgenommen wurden, läßt sich für die Antike noch weniger sagen als für die moderne Zeit.24 Manche Aussagen antiker Autoren machen eher den Eindruck, dass sie sich einem kultur- bzw. gesellschaftskritischen Pessimismus verdanken und weniger »statistisch« gesicherten Erkenntnissen. So konstatiert der griechische Historiker Polybios in seiner Gegenwart in Griechenland (um 145 v. Chr.)25 einen starken Bevölkerungsrückgang, der nicht auf Kriege oder Seuchen zurückzuführen sei, sondern darauf, dass »die Menschen der Großmannssucht, der Habgier und dem Leichtsinn verfallen sind (ĞȥėčƩěŁėĒěƶĚģėďŭĜŁĕċĐęėďưċėĔċƯĠēĕęġěđĖęĝƴėđėŕĞēĎƫ ȗǪĞğĖưċėőĔĞďĞěċĖĖƬėģė), weder mehr heiraten noch, wenn sie es tun, die Kinder, die ihnen geboren werden, aufziehen wollen, sondern meist nur eins oder zwei, damit sie im Luxus aufwachsen und ungeteilt den Reichtum 20 Soranos Gynaecologia I 19,60 f. In der antiken Diskussion wurde zwischen Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch nicht immer genau unterschieden. 21 K. Deichgräber, Der hippokratische Eid. Text griechisch und deutsch  – Interpretation – Nachleben, Stuttgart 41983, 35. 22 H. G. Liddell / R. Scott / H. St. Jones, A Greek-English Lexicon, Oxford 1968, 1396. 23 »Auch werde ich den Blasenstein nicht operieren, sondern es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist« ęƉ ĞďĖƬģ Ďƫ ęƉĎƫ Ėƭė ĕēĒēȥėĞċĜ őĔġģěđĝģ Ďƫ őěčƪĞǹĝēė ŁėĎěƪĝēė ĚěƮĘēęĜĞǻĝĎď (zitiert nach Müri, Arzt im Altertum [s. Anm. 21] ebd). 24 Laut Mitteilung des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahre 2009 in Deutschland 110 700 Abbrüche vorgenommen, die dem Amt gemeldet wurden, etwa 3 % weniger als im Jahr zuvor. Im Jahre 2000 waren etwa 134 000 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet worden. 25 Zu Polybios s. B. Dreyer, Art. Polybios [2], DNP 10, Stuttgart 2001, 41–48.

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ihrer Eltern erben«.26 Im 1. Jahrhundert n. Chr. plädiert der römische philosophische Autor Musonius Rufus dafür, dass Familien möglichst viele Kinder haben sollten; da die Gesetzgeber einst Kinderlosigkeit als etwas Unglückliches (ŁĕğĝēĞďĕƬĜ), Kinderreichtum dagegen als etwas Glückliches (ĕğĝēĞďĕƬĜ) ansahen, hätten sie den Frauen verboten, Abtreibungen vorzunehmen (ŁĖČĕưĝĔďēė).27 Auf welche Epoche der Rechtsgeschichte sich die Aussage des Musonius bezieht, ist allerdings unklar; möglicherweise steht dahinter gar kein historisches Wissen, sondern Musonius polemisiert gegen eine von ihm wahrgenommene Praxis in manchen Familien seiner Zeit. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Musonius jeden sexuellen Akt, der nicht der Fortpflanzung dient, als unsittlich und unrecht (ŅĎēĔċ ĔċƯĚċěƪėęĖċ) ansieht, und zwar auch innerhalb der Ehe.28 Unter Augustus traten Gesetze in Kraft, die die Ehe rechtlich stärker sichern und zugleich die Abtreibungspraxis eindämmen sollten.29 In der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. wendet sich der stoische Philosoph Epiktet mit sarkastischer Polemik gegen Epikur, der zwar richtig erkannt habe, dass die Menschen soziale Wesen (ĔęēėģėēĔęư) sind, der aber gleichwohl dem Weisen davon abgeraten habe, Kinder aufzuziehen. Dagegen stellt Epiktet fest: Wenn das Kind erst einmal geboren ist, dann steht es gar nicht mehr in unserer Macht, es nicht zu lieben oder nicht für es zu sorgen – kein Schaf und kein Wolf käme auf den Gedanken, die eigene Nachkommenschaft zu verstoßen oder auch nur zu vernachlässigen.30 Es ist kaum möglich, aus philosophisch-moralischen Positionen oder auch aus den Bestimmungen der augusteischen Gesetzgebung auf die tatsächlichen Verhältnisse zurückzuschließen: Waren Abtreibung und Kindesaussetzung allgemein »üblich«, wie es nach den zitierten Aussagen den Anschein haben könnte? Oder waren sie faktisch doch eher eine Ausnahme? Tacitus berichtet, bei den germanischen Stämmen gelte es als ein schändli26 Polybios Historiae XXXVI 17,7. Um den geschilderten Mißstand zu beseitigen, brauche man nicht die Götter zu befragen, sondern es genüge, dass »wir uns andere Ziele und Ideale setzen, und falls dies nicht geschieht, Gesetze geben, die dafür sorgen, daß die Kinder, die geboren werden, aufgezogen werden« (Übers. H. Drexler). 27 Musonius Rufus Diatribe 15 A (»Ob man alle Kinder, die einem geboren werden, aufziehen soll«). In 15 B kritisiert Musonius die bei wohlhabenden Leuten zu beobachtende Praxis, nachgeborene Kinder (őĚēčēėƲĖďĖċĞƬĔėċ) nicht aufzuziehen, weil sie den Wohlstand der früher geborenen Kinder nicht schmälern wollen. 28 Musonius Diatribe 12. In diesem Zusammenhang erklärt Musonius sexuelle Beziehungen unter Männern für widernatürlich (ĚċěƩĠƴĝēė). 29 Sueton Augustus 34; Tacitus Annales III 25. Vgl. G. Delling, Art. Ehegesetze, RAC 4, Stuttgart 1959, 677–680. 30 Epict Diss I 23,1.5–7. »Wer, dessen Kind hingefallen ist und weint, wird [sc. dem Rat Epikurs folgen und] es nicht aufheben? Ich glaube, daß auch wenn deine [Epikurs] Mutter und dein Vater vorhergesehen hätten, daß du solches sagen würdest, sie dich nicht ausgesetzt haben würden« (23,9–10).

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ches Vergehen (flagitium), die Zahl der Kinder zu begrenzen oder eines der »nachgeborenen« Kinder zu töten.31 Auch die Juden betrachteten dies als ein Verbrechen (nefas), da ihnen daran gelegen sei, ihre Zahl zu vergrößern.32 Tacitus sieht die Germanen als ein Vorbild für Rom; den betreffenden Abschnitt in seiner Schrift ›Germania‹ schließt er mit dem Hinweis, dass »dort gute Sitten mehr Wert besitzen als andernorts gute Gesetze« (ibi boni mores valent quam alibi bonae leges), womit er sich offensichtlich kritisch auf die zeitgenössische römische Gesellschaft bezieht.33 Dass Abtreibung bzw. Kindestötung keineswegs als alltägliche Praxis angesehen wurden, zeigt der Abscheu, mit dem Sueton und Plinius d. J. davon berichten, dass Domitian die Tochter seines Bruders nicht nur vergewaltigt sondern dann auch zur Abtreibung gezwungen habe, an deren Folgen sie gestorben sei.34 Die theoretische Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs basierte in Rom auf der philosophischen These und zugleich auf der medizinischnaturwissenschaftlich begründeten Annahme, dass das Kind bis zur Geburt Teil der Mutter sei und dass der Vater als pater familias das Recht habe, über das Leben seiner Nachkommen frei zu entscheiden.35 Ein eigenes Lebensrecht des noch nicht geborenen Kindes wurde ebensowenig angenommen wie ein (Mit-)Entscheidungsrecht der Mutter in dieser Frage. So schreibt im Jahre 1 v. Chr. der ägyptische Lohnarbeiter Hilarion an seine Frau Alis: »Ich bitte Dich und flehe Dich an, sorge für das Kindchen … Wenn du – gebierst, wenn es männlich war, laß es (leben), wenn es weiblich war, setze es aus.«36 Damit ist freilich über die tatsächliche Praxis noch nichts gesagt. Das zeigt eine Erzählung innerhalb der ›Metamorphosen‹ des Apuleius: Ein Mann begibt sich auf eine Reise und trägt 31 Tacitus Germania 19: numerum liberorum finire aut quemquam ex adgnatis necare flagitium habetur. 32 Tacitus Historiae V 5,2–3. Darin steckt im wesentlichen Polemik, wie die Bemerkung des Tacitus zeigt, die zum Judentum Übertretenden (transgressi in morem eorum) würden dazu veranlaßt, die Götter zu verachten und das Vaterland zu verleugnen, sowie Eltern, Kinder und Geschwister gering zu schätzen. 33 Vgl. die Anmerkung in der Textausgabe: Tacitus, Germania, transl. by M. Hutton, revised by E. H. Warmington, LCL, London 1970, 160 Anm. 2: »an obvious reference« zur eigenen Zeit. 34 Sueton Domitianus 22; Plinius Ep IV 11,6. 35 Vgl. W. Simshäuser, Die Behandlung der Abtreibung in der antiken römischen Rechts- und Gesellschaftsordnung, FKTh 8 (1992) 174–186, vor allem 182. Ferner vor allem Christina Tuor-Kurth, Kindesaussetzung und Moral in der Antike. Jüdische und christliche Kritik am Nichtaufziehen und Töten neugeborener Kinder, FKDG 101, Göttingen 2010, 29–79. Vgl. A. Lindemann, Kinder in der Welt der Antike als Thema gegenwärtiger Forschung, ThR 76 (2011) 82–111 (zu Tuor-Kurth 98–104). 36 POxy IV 744, zitiert nach der Übersetzung von A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 41923, 134. Die Wendung ĚęĕĕƩĚęĕĕȥė in dem Satz őƩė… ĞƬĔđĜ ist nicht eindeutig und bleibt deshalb bei Deißmann unübersetzt.

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seiner schwangeren Frau auf, das Kind, sofern es dem »schwächeren Geschlecht« angehört (si sexus sequioris), sofort nach der Geburt zu töten; »als sie jedoch in der Abwesenheit des Gatten ein Mädchen gebar, überwog in ihr die natürliche Mutterliebe (nata puella insita matribus pietate), und sie gab das Kind bei Nachbarn zur Kost, während sie dem Gatten nach dessen Rückkehr mitteilte, es sei ein Mädchen geboren und getötet worden«.37 Da wir nicht über statistisches Material verfügen, sind genauere Angaben über die tatsächlichen Verhältnisse nicht möglich.38

II. In den Schriften des Alten Testaments wird das Thema Schwangerschaftsabbruch niemals auch nur andeutend erwähnt39, weder in den Rechtstexten des Pentateuch noch in der prophetischen Verkündigung noch in weisheitlicher Überlieferung; dass etwa das Dekaloggebot »Du sollst nicht töten/ morden« (Dtn 5,17; Ex 20,13) das Verbot der Tötung eines ungeborenen Kindes einschließt, ist nirgends erkennbar.40 Dieser Befund ist um so auffälliger, als die Themen Sexualität und Ehe in den biblischen Rechtstexten breit entfaltet werden. Der einzige Text, in dem ein Hinweis auf das ungeborene Kind begegnet, ist Ex 21,22–24: »Und wenn Männer miteinander zanken und stoßen ein schwangeres Weib, daß ihr die Kinder abgehen, aber es ist keine Lebensgefahr: so werde er am Gelde gebüßt, so viel ihm der Gatte des Weibes auflegt und er zahle durch die Richter. Wenn aber Lebensgefahr ist, so gib Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn.«41 Umstritten ist, ob sich die Wendung āîƜĀîĉ“ Ćíý“ēŽ ĆöĂ auf eine Totgeburt bezieht oder auf eine Frühgeburt.42 Der Kontext spricht vielleicht eher für die zweite Möglichkeit: Der Verursacher bezahlt für den von ihm angerichteten Schaden, und dazu gehört die Verletzung der schwangeren Frau offenbar ebenso wie 37

Apuleius Met X 23,3–5. Apuleius, Lateinisch und deutsch. Der goldene Esel. Metamorphosen, hg. und übers. von E. Brandt, zum Druck besorgt von Wilhelm Ehlers, München 1958. 38 Vgl. J. Wiesehöfer, Art. Familienplanung, DNP 4, Stuttgart 1998, 422 f.; Helen King, Art. Geburt I. Medizinisch, aaO., 835–837; Claudia Englhofer, Art. Geburt II. Kultur- und religionswissenschaftlich, aaO., 837–842. 39 S. dazu K. A. Tångberg, Die Bewertung des ungeborenen Lebens im alten Israel und im alten Orient, SJOT 1 (1987) 51–65. 40 Vgl. aber später die Auslegung bei Philo (s.u.). 41 Zitiert nach der Übersetzung von L. Zunz. Zur kritischen Analyse vgl. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh 1992, 175–177. 42 Ersteres nimmt Crüsemann, Tora (s. die vorige Anm.) an, letzteres vermutet B. S. Jackson, The Problem of Exodus 21:22–5 (ius talionis), in: Ders., Essays in Jewish and Comparative Legal History, SJLA 10, Leiden 1975, 75–107.

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die »unzeitige« Geburt des Kindes.43 Im Falle der Gefährdung des Lebens oder gar im Fall des Todes der Frau oder ihres Kindes gilt das ius talionis (V. 23–25). Gibt es eine Erklärung dafür, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch in den Schriften der hebräischen Bibel keine Erwähnung findet? Fehlgeburt und Totgeburt waren natürlich bekannt und wurden sogar theologisch reflektiert44; die bewußt herbeigeführte Fehlgeburt, also der Abbruch einer Schwangerschaft, konnte daher nicht außerhalb des Erfahrungshorizontes liegen. Ein zentraler Aspekt des Selbstverständnisses Israels war aber die Nachkommenverheißung für Abraham (Gen 12,2; 15,5), verbunden mit dem Segen der Fruchtbarkeit und des langen Lebens.45 Kinderlosigkeit galt dementsprechend für eine Frau als schweres Unglück oder auch als Strafe für von ihr begangene Verfehlungen46; und zugleich wissen die Frommen, dass Gott sie schon als Kind im Mutterleib gesehen hat.47 So scheint die Erwägung, eine Schwangerschaft abzubrechen, tatsächlich jenseits dessen gelegen zu haben, worüber ernsthaft hätte nachgedacht werden müssen. Dass Abtreibungen in Israel zu biblischer Zeit schlechterdings nicht vorgekommen sind, wird man vermutlich nicht sagen dürfen; aber sie müssen überaus selten gewesen sein, so dass zu einer rechtlichen Bewertung offenbar wirklich kein Anlaß bestand; das gilt ähnlich anscheinend auch für die Empfängnisverhütung.48 Das Judentum, das in späterer Zeit der hellenistischen Gesellschaft begegnete, sah sich dann aber neuen Herausforderungen konfrontiert. Das wird deutlich in der LXX-Fassung von Ex 21,22 f. Abweichend vom hebräischen Text wird in der griechischen Bibel ein Unterschied gemacht, ob das durch die »Rauferei« der Männer »herauskommende« Kind noch nicht voll ausgebildet ist (őĘƬĕĒǹĞƱĚċēĎưęėċƉĞǻĜĖƭőĘďēĔęėēĝĖƬėęė), oder ob dies doch schon der Fall ist (őĘďēĔęėēĝĖƬėęė); dementsprechend ist entweder 43 Vgl. dazu Ann Loades, Art. Schwangerschaftsabbruch II. Ethisch, TRE 30, Berlin 1999, 633 f. Loades meint, der Text habe wahrscheinlich den Zweck gehabt, »Männer davon abzuhalten, ihre Konflikte in der Nähe von schwangeren Frauen auszutragen, besonders wenn einer von ihnen mit ihr verwandt war, so daß die Frau möglicherweise eingreifen würde«. 44 S. dazu die Vergleiche, die in Num 12,11 f. und 2 Kön 19,3 gezogen werden. 45 Vgl. Ex 23,26: »Keine Fehlgebärende und Unfruchtbare wird sein in deinem Lande, die Zahl deiner Tage werde ich voll machen« (Übers. L. Zunz). 46 Vgl. 1 Sam 1,6 f. In äthHen 98,4 f, heißt es: Die Sünde ist »nicht auf die Erde geschickt worden, sondern die Menschen haben sie aus sich selbst erschaffen, und denen, die sie begehen, wird eine große Verfluchung widerfahren. Und die Unfruchtbarkeit ist einer Frau nicht gegeben, sondern wegen des Werkes ihrer Hände stirbt sie ohne Kinder« (Übers. S. Uhlig, JSHRZ V/6, Gütersloh 1984, 722 f.). 47 Vgl. Ps 139,14–16; Jer 1,5. Dazu Tångberg, Bewertung des ungeborenen Lebens (s. Anm. 42), 58–64. 48 Vgl. Gen 38,8 f.

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ein angemessener Schadensersatz zu leisten (ĎƶĝďēĖďĞƩŁĘēƶĖċĞęĜ), oder es gilt der Grundsatz: »Leben für Leben« (ĎƶĝďēĢğġƭėŁėĞƯĢğġǻĜĔĞĕ). Das in der LXX nur hier belegte Verb őĘďēĔęėưĐęĖċē bezieht sich offenbar darauf, dass der Embryo entweder bereits als ein menschlich geformtes Wesen (ďŭĔƶė) erkannt wird, oder dass dies noch nicht der Fall ist.49 Im Hintergrund könnte der Bezug auf die schöpfungstheologische Aussage stehen, dass der Mensch geschaffen ist ĔċĞdzďŭĔƲėċĒďęȘ (Gen 1,27, vgl. 1,26).50 Philo von Alexandria geht in seiner breiten Auslegung des biblischen Tötungsverbots (ĔċĞƩŁėĎěęĠƲėģė)51 auch auf den in Ex 21,22 f. beschriebenen Fall ein. Abweichend vom LXX-Text spricht er von einem absichtlich erfolgten Schlag gegen den Körper der schwangeren Frau. Wenn das auf diese Weise Abgetriebene (ĞƱ ŁĖČĕģĒƬė) unausgeformt und unausgebildet ist (ŅĚĕċĝĞęėĔċƯŁĎēċĞƴĚģĞęė), dann hat der betreffende Mann die Geldbuße zu zahlen, weil er »eine frevelhafte Gewalt übte und der Natur in den Weg trat, die das herrlichste Wesen, einen Menschen, kunstreich schaffen wollte«; wenn das Kind dagegen bereits voll gestaltet war (šĎđĖďĖęěĠģĖƬėęė), so soll der Täter sterben, da er einen Mord begangen hat: »Denn solch ein Wesen ist ein Mensch, den jener gemordet hat, während er sich noch in der Werkstatt der Natur befand, die noch nicht die Zeit für gekommen hielt, ihn ans Tageslicht zu befördern.«52 Philo verwendet den stoischen Begriff ĠƴĝēĜ, meint aber natürlich Gott als den Schöpfer allen Lebens. Aus der von ihm zitierten biblischen Bestimmung folgert Philo, dass damit zugleich auch der noch schlimmere Frevel (ŁĝƬČđĖċ) untersagt sei, nämlich die Kindesaussetzung, die von vielen Völkern aufgrund ihrer natürlichen Menschenfeindschaft (ĠğĝēĔƭ ŁĚċėĒěģĚưċ) praktiziert werde.53 Philo weiß, dass Ärzte und Naturforscher den Embryo als Bestandteil der Mutter ansehen. Aber jedenfalls das geborene Kind gilt ihm von Anfang an als ein vollgültiges Lebewesen, dem nichts mehr fehlt; »daher ist unstreitig der ein Mörder, der ein kleines Kind tötet, da das Gesetz nicht den an einem bestimmten Lebensalter, sondern den an dem Menschengeschlecht verübten Frevel verdammt.« Hier zeigt sich übrigens, dass Philo in der Anweisung 49 Möglicherweise besteht eine sachliche Nähe zu den Beobachtungen des Aristoteles hinsichtlich ĐģƮ und ċűĝĒđĝēĜ (s. oben). 50 Nach Loades, Art. Schwangerschaftsabbruch (s. Anm. 43), 634 galt für die jüdische Tradition, dass ein Kind erst dann Gottes Ebenbild besaß, »wenn sein Kopf und ein Großteil seines Körpers geboren war«. 51 Philo Spec Leg III 83–119. 52 Philo Spec Leg III 108 f. (Übers. I. Heinemann, Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung II, Berlin 21962, 216 f.). 53 Spec Leg III 110. Etwas später (113) heißt es: »Welche Menschen müßten aber eher Menschenfeinde heißen als die Hasser und schonungslosen Feinde ihrer Kinder?« In diesem Zusammenhang erklärt Philo den Geschlechtsverkehr ohne Zeugungsabsicht für moralisch verwerflich, ähnlich wie etwa zur selben Zeit auch Musonius (s. oben).

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von Ex 21,22 f. und in den nach seiner Auslegung damit verbundenen Weiterungen nicht eine allein für Juden gültige Norm sieht, sondern eine den Erhalt der Menschheit als ganze (őĚƯĞȦčƬėďē) betreffende Weisung.54 Auch Flavius Josephus, für den ähnlich wie für Philo Sexualität und Nachkommenschaft untrennbar zusammengehören55, betont, alle Kinder müßten aufgezogen werden und den Frauen sei die Abtreibung untersagt.56 Diese Einstellung war nichtjüdischen Autoren schon früh bekannt. Der bei Diodor von Sizilien zitierte Historiker Hekataios von Abdera (4. Jh. v. Chr.) schreibt, Mose habe die im Land Siedelnden angewiesen, ihre Kinder aufzuziehen (ĞďĔėęĞěęĠďȉė); und dank der damit verbundenen geringen Kosten sei das Volk der Juden stets zahlreich gewesen (ŁďƯ ĞƱ čƬėęĜ Ğȥė ŵęğĎċưģėƊĚǻěġďĚęĕğƪėĒěģĚęė).57 Ein ausdrückliches Verbot der Abtreibung begegnet in einer jüdischen Schrift erstmals in dem paränetischen Lehrgedicht des Pseudo-Phokylides: »Eine Frau bringe das ungeborene Kind im Mutterleib nicht um; und wenn sie geboren hat, werfe sie (das Neugeborene) nicht den Hunden und Geiern zum Raube vor.«58 Diese Weisungen stehen innerhalb eines Textabschnitts, der sich als ein »Proselytenkatechismus« möglicherweise an Leser wendet, die eben erst zum Judentum konvertiert waren.59 Ob die Weisung primär das Lebensrecht des Kindes im Blick hat, möglicherweise unter der Per54

Spec Leg III 118. Josephus Contra Apionem II 199: »Das Gesetz erkennt nur den naturgemäßen Verkehr (ĞƩĠƴĝēė) mit dem Weibe an, und zwar zum Zweck der Kindererzeugung« (ďŭĖƬĕĕęē ĞƬĔėģėŖėďĔċčưėďĝĒċē, übers. H. Clementz). 56 Contra Apionem II 202: »Den Weibern ist es verboten, die Leibesfrucht abzutreiben (ŁĖČĕęȘė ĞƱ ĝĚċěƬė) oder sonst zu vernichten; wird eine dabei ertappt, so soll sie als Kindsmörderin (ĞďĔėĞƲėęĜ) angesehen werden, weil sie ein Leben im Keime erstickt (ĢğġƭėŁĠċėưĐęğĝċ) und die Nachkommenschaft verringert hat« (Übers. H. Clementz). 57 Diodorus Siculus XL 3,8. Vgl. dazu M. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, ed. with Introductions, Translations and Commentary. Vol. I: From Herodotus to Plutarch, Assen 1976, 26–35. Ferner H. Conzelmann, Heiden – Juden – Christen. Auseinandersetzungen in der Literatur der hellenistisch-römischen Zeit, BHTh 62, Tübingen 1981, 56–58. 58 Ps-Phokylides 184 f. (Übers. N. Walter, JSHRZ IV/3, Gütersloh 1983, 213). Die Datierung des Gedichts ist schwierig; nach P. W. van der Horst, The Sentences of Pseudo-Phocylides. With Introduction and Commentary, SVTP 4, Leiden 1978, 82 »the most probable date would seem to be somewhere between, say, 30 B. C. and 40 A. D.«, vermutlich jedenfalls nicht später. Vgl. den etwa zeitgleichen Text Sap Sal 12,4–6: Gott hat die Kanaanäer gehaßt, und zwar »wegen ihrer Werke der Zauberei und ihres unheiligen Kultes, wegen ihres unbarmherzigen Kindermordens … und wegen der Eltern, die ihre hilflosen Kinder umbrachten« (Übers. H. Hübner, Die Weisheit Salomos. Liber Sapientiae Salomonis, ATD Apokryphen 4, Göttingen 1999, 158). Es läßt sich freilich nicht sicher sagen, ob sich diese Aussagen auch auf eine kanaanäische Abtreibungpraxis beziehen. 59 Vgl. Walter (s. die vorige Anm.), 185 f., der allerdings selber dieser Interpretation widerspricht, da in diesem Fall kaum das Pseudonym eines als ein »Weiser« geltenden griechischen Autors gewählt worden wäre (aaO., 192 f.). 55

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spektive der Verheißung der Nachkommenschaft, oder ob es in erster Linie um die Ehemoral geht, läßt sich kaum sagen; für letzteres spricht der Kontext, denn in Ps-Phocyl 177–183 und 188–194 werden Probleme der Sexualmoral erörtert, nicht Fragen des Lebensrechts. Zu beachten ist, dass in diesen Weisungen durchweg der Mann der Angeredete ist, während die Frau nur indirekt in den Blick kommt.60 In den Sibyllinischen Orakeln heißt es, Gottes Zorn werde diejenigen treffen, »die ihr eigenes Fleisch mit Unzucht befleckten, und alle, die den jungfräulichen Gürtel gelöset und heimlich Beilager suchten, und Frauen, die töten im Leibe die Frucht (őėƯ čċĝĞƬěē ĠƲěĞęğĜ őĔĞěƶĝĔęğĝēė), und Welche das neugeborene Kind gesetzlos verwerfen«.61 Unabhängig von der Frage, ob dieser Textabschnitt zu den erst christlich interpolierten Teilen der Or Sib gehört62, zeigt sich hier jedenfalls deutlich, dass ein Zusammenhang gesehen wird zwischen dem Schwangerschaftsabbruch und Formen illegitimer Sexualpraxis. Da im unmittelbaren Kontext (V. 283) von Giftmischern und Giftmischerinnen die Rede ist (ĠċěĖċĔęƳĜ ş ĠċěĖċĔưĎċĜ), könnte sich die Frage stellen, ob Warnungen vor ĠċěĖċĔďưċ auch in anderen Texten, beispielsweise in Gal 5,19–21, in eine ähnliche Richtung weisen.63

III. Neutestamentliche Schriften enthalten erstaunlicherweise keinerlei Aussagen zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Überraschend ist dies vor allem aus zwei Gründen: Zum einen widmen sich jüdische Texte, die in derselben Zeit entstanden sind. dieser Thematik durchaus; es wäre also zu erwarten, dass auch urchristliche Autoren darauf eingehen. Zum andern stehen die Glieder der christlichen Gemeinden noch viel stärker als Juden im direkten Gegenüber zum zeitgenössischen hellenistisch-römischen Den60 Hier liegt ein deutlicher Unterschied zu den Haustafeln der deuteropaulinischen Briefe, mit denen Ps-Phocyl. 175–227 oft verglichen wird (vgl. P. W. van der Horst, Pseudo-Phocylides and the New Testament, ZNW 69 (1978) 187–202, vor allem 196 f.). 61 Or Sib II 279–282, zitiert nach: A. Kurfess, Sibyllinische Weissagungen. Urtext und Übersetzung, München 1951, 62 f. 62 In dem ursprünglich jüdischen zweiten Buch der Or Sib gibt es eine christliche Redaktion, vgl. J. J. Collins, in: J. H. Charlesworth (ed.), The Old Testament Pseudepigrapha. Volume 1. Apocalyptic Literature and Testaments, London 1983, 333. In den oben im Text zitierten Versen sind Spuren einer christlichen Bearbeitung m. E. aber nicht zu erkennen. 63 Zur Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs im antiken rabbinischen Judentum vgl. É. Levine, Marital Relations in Ancient Judaism, BZAR 10, Wiesbaden 2009, 325–330. Zur jüdischen Kritik an der Praxis der Kindesaussetzung s. Tuor-Kurth, Kindesaussetzung (s. Anm. 35), 80–192.

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ken und zur gesellschaftlichen Praxis64, so dass man es als ausgeschlossen ansehen kann, dass sie mit dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs überhaupt nicht konfrontiert wurden. Gleichwohl findet sich beispielsweise in keinem der Lasterkataloge ein Hinweis darauf. Paulus macht in 1 Kor 7,2–5 in erstaunlicher Breite Aussagen zur sexuellen Praxis (innerhalb der Ehe), geht dabei aber mit keinem Wort auf Schwangerschaft und Nachkommenschaft ein, geschweige denn auf die (Un-)Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs.65 Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass das Urchristentum eine Pflicht zur Heirat und zur Zeugung von Nachkommenschaft nicht proklamierte; es finden sich ja im Gegenteil Tendenzen, die erkennen lassen, dass die Ehelosigkeit als eine gegenüber der Ehe höherwertige Lebensform eingeschätzt wurde, wie in 1 Kor 7,7 angedeutet wird und wie es in der Jesus-Überlieferung in Mt 19,12 klar zu erkennen ist. Eine veränderte Haltung zeigt sich anscheinend erst in der Phase der offenen Auseinandersetzung mit der sich entwickelnden Gnosis, die aus weltanschaulichen Gründen eine asketische Lebenspraxis forderte.66 Der Verfasser der Pastoralbriefe warnt vor denen, die unter anderem auch das Heiraten verbieten wollen (1 Tim 4,3: ĔģĕğƲėĞģėčċĖďȉė), und er hält dem entgegen, dass die Frau »gerettet wird durch Kindergebären« (1 Tim 2,15: ĞďĔėęčęėưċ).67 Der »Paulus« der Pastoralbriefe gebietet sogar, junge Witwen sollten wieder heiraten und Kinder bekommen (1 Tim 5,14), und zwar aus sozialen Gründen68 wie auch um der sonst drohenden Versuchungen durch den Satan willen.69 Sind die Verwendung des Begriffs ĠċěĖċĔďưċ im Lasterkatalog in Gal 5,19–21 und die Verwerfung der ĠċěĖċĔęư in Apk 9,21; 21,8; 22,15 indirekte Verweise auf die Abtreibung? In Ps-Phocyl 149 heißt es ja: »Bereite nicht Zaubertränke (ĠƪěĖċĔċĖƭĞďƴġďēė) – halte dich fern von Zauberbüchern (ĖċčēĔȥėČưČĕģė)«, und es folgt dann unmittelbar in V. 150 die Mahnung: 64

Die christliche Mission bemüht sich ja in besonderer Weise darum, diese Menschen für den Glauben an Jesus Christus zu gewinnen. 65 Vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 156–161. Auch in 1 Kor 6,12–20 klingt dieses Thema nicht an. 66 Vgl. H.-F. Weiss, Frühes Christentum und Gnosis. Eine rezeptionsgeschichtliche Studie, WUNT 225, Tübingen 2010, 38: Die Bezugnahmen in 1 Tim 4,3 »auf bestimmte asketische Forderungen im Sinne der Enthaltung von bestimmten Speisen sowie von der Ehe« sind zu verstehen im Sinne »eines für die Gnosis charakteristischen asketischen Radikalismus mit dem ursprünglichen Hintergrund biblisch-jüdischer Speise- und Reinheitsgebote«. 67 Unmittelbarer Kontext ist hier der Sündenfall, für den in erster Linie Eva verantwortlich gemacht wird; vgl. J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1988, 139–142. 68 1 Tim 5,16: ĖƭČċěďȉĝĒģŞőĔĔĕđĝưċ. 69 1 Tim 5,14: ĖđĎďĖưċėŁĠęěĖƭėĎēĎƲėċēĞȦŁėĞēĔďēĖƬėȣĕęēĎęěưċĜġƪěēė.

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»Lege nicht gewalttätig (deine) Hand an zarte Unmündige (ėđĚēƪġęēĜ ŁĞċĕęȉĜ)«; so erscheint es jedenfalls als denkbar, dass mit den ĠƪěĖċĔċ hier Abtreibungsmittel gemeint sein könnten. Der früheste Beleg für die Verwerfung des Schwangerschaftsabbruchs in einer christlichen Schrift findet sich innerhalb der Didache, und zwar in der Zwei-Wege-Lehre in der Beschreibung der žĎƱĜĞǻĜĐģǻĜ (2,2): »Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht Knaben schänden, du sollst nicht huren, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht Zauberei treiben, du sollst nicht Gift mischen, du sollst nicht ein Kind durch Abtreibung morden (… ęƉ ĠęėďƴĝďēĜ ĞƬĔėęė őė ĠĒęěǭ), und du sollst das Geborene nicht töten.«70 Offensichtlich sieht die Zwei-Wege-Lehre einen Zusammenhang zwischen der »Zauberei« und der Abtreibung; das entspricht bestimmten Überlieferungen der antiken Medizin, aber auch Praktiken des Aberglaubens, in denen sowohl wirksame als auch unwirksame bzw. für die Frauen sogar gefährliche Abtreibungs»rezepte« entwickelt worden waren.71 Ėċčďȉċē und ĠċěĖċĔưċē werden in der Zwei-Wege-Lehre nochmals in der Beschreibung des »Weges des Todes« in Did 5,1 (vgl. Barn 20,1) innerhalb eines umfangreichen Lasterkatalogs genannt; es heißt dann (5,2), dass diejenigen, die solches tun, Verfolger des Guten und Hasser der Wahrheit sind, außerdem »Mörder der Kinder, Verderber des Gottesgeschöpfes (ĠęėďȉĜ ĞƬĔėģėĠĒęěďȉĜĚĕƪĝĖċĞęĜĒďęȘ) …, durch und durch sündig«. Sollte der Begriff ĞƬĔėċ hier die noch ungeborenen Kinder einschließen, so würde dies bedeuten, dass nicht nur eine sittliche Weisung, sondern verbunden damit zugleich eine theologische Argumentation vorgetragen wird: Das Kind ist schon vor der Geburt ein Geschöpf Gottes (ĚĕƪĝĖċ ĒďęȘ)72, auch wenn nicht gesagt wird, von welchem Zeitpunkt an diese »Definition« gilt. Was die Zwei-Wege-Lehre fordert, ist nach den Aussagen der Apologeten des 2. Jahrhunderts tatsächlich christliche Praxis. So schreibt der Autor des Diognetbriefs (5,6), dass die Christen »heiraten wie alle und Kinder bekommen (čċĖęȘĝēėƚĜĚƪėĞďĜĞďĔėęčęėęȘĝēė)«, dass sie aber die Neugeborenen nicht aussetzen (ęƉȗưĚĞęğĝēĞƩčďėėƶĖďėċ). Athenagoras setzt sich in seiner vermutlich im Jahre 178 geschriebenen Apologie mit dem Vorwurf ausein70

Zitiert nach: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, hg. von A. Lindemann und H. Paulsen, Tübingen 1992. Zur Auslegung vgl. K. Niederwimmer, Die Didache, KAV I, Göttingen 1989, 119: Die Aussage ist aus dem zugrundeliegenden jüdischen Traktat übernommen (vgl. Barn 19,5). Niederwimmer hält es für »Zufall«, dass »ein explizites Verbot im Neuen Testament fehlt«. 71 Vgl. dazu J. T. Noonan, Empfängnisverhütung. Geschichte ihrer Beurteilung in der katholischen Theologie und im kanonischen Recht, WSAMA.T, Mainz 1969, 16 f. 72 Vgl. W. M. Gessel, Frühchristliche Voten für das ungeborene Leben, FKTh 8 (1992) 187–195, hier: 187: »Der Ausdruck ›Kindermörder‹ wird durch die Identifizierung mit dem Ausdruck ›Vernichter des Geschöpfes Gottes‹ näher erklärt und die Tat selbst als unmittelbar gegen Gott gerichtet qualifiziert.«

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ander, die Christen hielten gottlose Mahlzeiten und übten sexuelle Promiskuität, sie seien sogar Menschenmörder (ŁėĎěęĠƲėęē); diese Behauptungen seien absurd, da die Christen ja im Gegenteil sogar den Schwangerschaftsabbruch verwerfen und diejenigen Frauen, die bei einer Abtreibung helfen, als Mörderinnen bezeichnen: »Wer nämlich der Überzeugung ist, daß der Embryo ein lebendes Wesen (ĞƱĔċĞƩčċĝĞěƱĜĐȦęėďųėċē) und deshalb Gegenstand der göttlichen Fürsorge ist (ĖƬĕďēėĞȦĒďȦ), der mordet dies Wesen nicht, wenn es zur Welt gekommen; ebenso räumt niemand ein aufgenährtes Menschenkind aus dem Wege, der zur Vermeidung des Kindesmordes das Neugeborene auszusetzen sich in Acht nimmt.«73 Ähnlich argumentiert zu Beginn des 3. Jahrhunderts der Apologet Minucius Felix: Der Vorwurf, Christen würden kleine Kinder schlachten und deren Blut trinken, könne nur von jemandem geglaubt werden, der selber so etwas praktiziert: »Ich sehe vielmehr, daß ihr selbst eure eigenen neugeborenen Kinder bald wilden Tieren und Vögeln aussetzt, bald durch Erwürgen eines elenden Todes sterben laßt. Und es gibt Frauen, die im eigenen Leibe den Keim des künftigen Menschen (originem futuri hominis) mit Gifttränken (medicaminibus et potis) zum Absterben bringen; sie begehen Kindesmord (parricidium), noch ehe sie gebären.«74 Hier findet sich ausdrücklich die Vorstellung, dass der Embryo zwar noch nicht Mensch im eigentlichen Sinne (homo) ist, dass er aber Mensch sein wird (futurus homo) und dass deshalb seine Tötung geradezu als ein parricidium anzusehen ist, als ein dem Vatermord entsprechendes Verbrechen. Bereits Tertullian hatte in seinem im Jahre 197 verfaßten ›Apologeticum‹ behauptet, die Verbrechen, derer die Christen angeklagt würden, kämen bei den Heiden selber vor, »teils offen, teils insgeheim« (Apol 9,1), wozu Tertullian auf entsprechende mythische Erzählungen und zeitgenössische religiöse Bräuche hinweist (9,2–5). Er schildert die Praxis der Kindestötung bzw. -aussetzung und hält dem dann entgegen (9,8): »Wir hingegen dürfen, nachdem uns ein für allemal das Töten eines Menschen verboten ist, selbst den Embryo im Mutterleibe, solange noch das Blut sich für den neuen Menschen absondert, nicht zerstören. Ein vorweggenommener Mord ist es, wenn man eine Geburt verhindert; es fällt nicht ins Gewicht, ob man einem Menschen nach der Geburt das Leben raubt oder es bereits während der Geburt vernichtet.« Mit der unmittelbar darauf folgenden Aussage trifft Tertullian die für seine Argumentation entscheidende Feststellung: »Ein Mensch ist auch schon, was erst ein Mensch werden soll (homo est et qui est 73

Athenagoras Supplicatio pro Christianis 35,2 (Übers. A. Bieringer). Minucius Felix: Octavius 30,2 (zit. nach B. Kytzler, M. Minucius Felix. Octavius. Lateinisch  – Deutsch, München 1965, 168f.). Für die von Minucius Felix aufgestellte Behauptung, dem Jupiter Latiaris würden Menschenopfer dargebracht (30,3–4), gibt es allerdings keine römischen Belege. 74

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futurus) – auch jede Frucht ist schon in ihrem Samen enthalten.« Zwar ist diese Argumentation nicht wirklich logisch, da zwischen Same und Frucht zweifellos zu unterscheiden ist. Gleichwohl hat gerade dieser Gedankengang eine weitreichende Wirkung entfaltet: Der »zukünftige Mensch« ist tatsächlich jetzt schon »Mensch«. Die Frage, wie dies im einzelnen zu verstehen ist, wird von Tertullian in seiner 210/213 verfaßten montanistischen Schrift De anima (»Über die Seele«) näher expliziert. Anders als im ›Apologeticum‹ wendet sich Tertullian in De anima nicht gegen heidnische Vorwürfe, sondern er setzt sich mit der griechischen Philosophie auseinander, vor allem mit dem Platonismus, dessen Denken von Teilen der christlichen Gnosis rezipiert worden war. Die Seele des Menschen hat nach Tertullian einen Anfang (initium), entgegen der Lehre Platons ist sie also nicht ungeboren und ungeschaffen (IV,1). Den Stoikern sei zuzustimmen, wenn sie sagen, dass die Seele, obwohl unsichtbar, ein Körper (corpus) ist; andernfalls wäre sie ja ein Nichts (VII,3).75 Gerade auch empirische Gründe sprächen für die Annahme, dass der Mensch schon bei seiner Geburt beseelt ist – das Kind nimmt doch von Anfang an wahr, dass es geboren ist (XIX,7–9). Falsch ist nach Tertullian die gnostische Lehre, dass die Seele bei der Geburt aus dem Himmel herabsteigt und dann dorthin zurückkehrt (XXIII); jede Schwangere und jede Mutter könne bezeugen, dass die Seele nicht erst mit der Geburt dem Menschen eingeflößt wird, da doch schon das noch ungeborene Kind durch seine Bewegungen anzeigt, dass es lebendig ist und spielt. Tertullian schildert sehr beredt, dass die Schwangere das noch ungeborene Kind als ein durchaus eigenständiges, »fremdes« Wesen wahrnimmt (XXV,3).76 Im übrigen belege gerade die Tatsache, dass es auch Totgeburten gibt, dass das im Mutterleib empfangene Kind ein lebendiges Wesen gewesen war (animal esse conceptum). Tertullian geht auch auf die Möglichkeit ein, dass der Embryo etwa bei einer Querlage vor der Geburt getötet werden muß, wenn nur so das Leben der Frau gerettet werden kann.77 75 Tertullian argumentiert mit Aussagen stoischer Philosophen und mit Aussagen des Mediziners Soranos sowie mit biblischen Texten, darüber hinaus aber auch mit Hinweisen auf Visionen, die einer geistbegabten Christin in seiner Gemeinde zuteil geworden seien (IX,4): »Unter anderem wurde mir die Seele gezeigt in körperlicher Gestalt (corporaliter). Sie erschien mir wie ein Hauch (spiritus uidebatur), aber nicht von leerer und hohler Beschaffenheit, sondern vielmehr so, daß sie sich sogar festhalten zu lassen versprach, zart leuchtend, luftfarbig (tenera et lucida et aerii coloris), mit einer in jeder Hinsicht menschlichen Gestalt (et forma per omnia humana).« (Übers. J. H. Waszink, Tertullian. Die Seele ist ein Hauch. Über die Seele. Das Zeugnis der Seele. Vom Ursprung der Seele, Zürich, 21986, 64 f.). 76 Er stellt die rhetorische Frage: an aliquam in fetu sentiatis uiuacitatem alienam de uestro. 77 Tertullian (De anima XXV,4) nennt dies eine »notwendige Grausamkeit« (necessaria crudelitas), und er beschreibt das Vorgehen der Ärzte mit eindringlichen Worten (XXV,5).

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Die schon von Aristoteles referierte These, dass das Kind bei der Geburt die Seele (ĢğġƮ) erhält durch den Anprall der Kälte (ĢȘġęĜ), die es nun umgibt78, erklärt Tertullian für unhaltbar (XXV,6): Es gebe viele Sprachen, in denen zwischen den Worten für »Seele« und für »Kälte« überhaupt kein Zusammenhang besteht; Kinder würden auch in Weltgegenden geboren, in denen ein heißes Klima herrscht, und überdies seien die Räume, in denen die Kinder zur Welt kommen, meist sehr gut geheizt. Schließlich müßten – die Richtigkeit der ĢğġƮ / ĢȘġęĜ-Theorie vorausgesetzt  – Menschen in kalten Regionen wie Germanien und Skythien geistig beweglicher sein als die in den warmen Ländern des Südens geborenen, das aber sei ja keineswegs der Fall. Die für Christen entscheidenden Beweise findet Tertullian in der Bibel. Er verweist auf den Streit zwischen Jakob und Esau im Mutterschoß der Rebekka (Gen 25,22 f.), und er erinnert an die durch den noch nicht geborenen Johannes seiner Mutter Elisabeth vermittelte Einsicht, dass ihr in Maria die Mutter ihres Herrn begegnet (Lk 1,41–43); das Magnificat habe Maria nur sprechen können, weil Christus bereits lebendig in ihrem Leibe war. Alle diese Texte belegen für Tertullian, dass diese Kinder längst vor ihrer Geburt ihre Seele besaßen (XXVI,2–4). Wenn man Jer 1,5 (»Bevor ich dich im Mutterschoße bildete, kannte ich dich«, LXX:ĚěƱĞęȘĖďĚĕƪĝċēĝďőė ĔęēĕưǪ) von Gen 2,7 her lese (ŕĚĕċĝďėžĒďƱĜĞƱėŅėĒěģĚęė…ĔċƯőčƬėďĞę žŅėĒěģĚęĜďŭĜĢğġƭėĐȥĝċė), dann zeige sich, dass der noch ungeborene Mensch bereits vollständig (totus) war (XXVI,5). Das bedeute, dass Körper und Seele des Menschen bei der Zeugung gleichzeitig empfangen werden, und es zeige sich, »daß kein Augenblick bei der Empfängnis dazwischentritt, wodurch eine zeitliche Aufeinanderfolge entstehen könnte« (XXVII,1).79 Der aus Seele und Fleisch bestehende Mensch erhalte unmittelbar bei der Zeugung auch sein Geschlecht (XXXVI,2); zwar sei das männliche Wesen früher ausgebildet als das weibliche80, denn es entstand zuerst Adam, danach erst Eva. Aber bei der Erschaffung der Frau würde Gottes Hauch auch sie 78 Aristoteles De anima 1,2 p 405b: Jene Philosophen, die nur einen Urgrund annehmen, setzen die Seele als eines an, Feuer oder Luft, andere setzen auch die Seele aus Gegensätzen zusammen. »Diejenigen, die nur die eine Seite der Gegensätze, wie warm oder kalt oder sonst etwas Gleichartiges als Urgrund annehmen, setzen entsprechend auch die Seele als eines davon an. Deshalb folgen sie auch den Wörtern (treiben Etymologie); die Vertreter des Warmen weisen darauf, daß nach diesem (zeon) auch das Leben (zen) heiße, die des Kalten (psychron) darauf, daß nach dem Einatmen und der Abkühlung (katapsyxis) die Seele (psyche) benannt sei« (Übers. W. Theiler, Aristoteles Über die Seele, Darmstadt 1959, 11 f.). 79 Tertullian nimmt an, dass das semen animale zugleich mit dem semen corporale den Mann verlasse, wie es am Erschlaffen des Mannes nach dem Geschlechtsakt erkennbar sei (XXVII,6); Tertullian schreibt in diesem Zusammenhang, er wolle lieber die Schamhaftigkeit (uerecundia) als den Beweis (probatio) in Gefahr bringen. 80 Das war die allgemeine Überzeugung in der Antike; s. oben.

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beseelt haben, wenn nicht zusammen mit dem Fleisch auch bei der Seele eine fortpflanzende Übertragung stattgefunden hätte (XXXVI,4). Es gelte deshalb: »Von jenem Augenblick an, in dem die Form ausgebildet ist, ist also die Frucht in der Gebärmutter ein Mensch«; dies, so betont Tertullian, werde durch das Gesetz des Mose bestätigt.81 Das Thema von Tertullians Schrift De anima ist nicht der Schwangerschaftsabbruch; vielmehr erörtert er grundsätzlich und umfassend die Frage des Wesens der menschlichen Existenz. Was Tertullian anima nennt, ist im Grunde das Leben als solches, die Lebendigkeit des menschlichen Wesens. Es kommt ihm auf die Feststellung an, dass die anima nicht präexistent ist, das sie weder zuvor im Himmel noch in der umgebenden Luft existiert und sich also nur zeitweise mit dem fleischlichen Menschen verbindet; vielmehr bestimmt die anima das Wesen des Menschen, sie macht ihn zum Menschen im eigentlichen Sinne. Deshalb gehört sie von Anbeginn an zum Menschen, existiert aber nicht früher als er. Als so entstandene ist sie dann aber unsterblich; sie hat also keine Präexistenz, wohl aber eine Postexistenz. Der physische Tod des Menschen bedeutet, dass das Leben, eben die anima, ihn verläßt – das Werk des Todes ist die Trennung von Fleisch und Seele (hoc igitur opus mortis: separatio carnis atque animae, LII,1).82

IV. Die Geschichte des jüdischen und des christlichen Umgangs mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch läßt sich von der Antike an kontinuierlich bis in die Gegenwart verfolgen.83 Aus welchen Gründen trafen Juden und Christen die grundsätzliche Entscheidung gegen den Schwangerschafts-

81 XXXVII,2, unter Verweis auf Ex 21,22 f. Ob Tertullian hier tatsächlich unterscheidet zwischen einem foetus a quo forma completa est und einem noch nicht fertig ausgebildeten Foetus (so die Erwägung von Waszink [s. Anm. 75], 275 f. Anm. 272), läßt sich nicht sagen; explizit trifft er diese Unterscheidung jedenfalls nicht. Möglicherweise geht Tertullians Aussage einfach auf die Erfahrung zurück: Wenn der Embryo noch nicht über eine forma completa verfügt, wird er gar nicht als solcher wahrgenommen, d.h. eine Schwangerschaft wird möglicherweise noch gar nicht als gegeben betrachtet. 82 Vgl. J. H. Waszink, Art, Beseelung, RAC 2, Stuttgart 1954, 176–183. 83 Vgl. Noonan, Empfängnisverhütung (s. Anm. 71); D. M. Feldman, Birth Control in Jewish Law. Marital Relations, Contraceptioon, and Abortion as set forth in the classic texts of Jewish Law. An examination of the relevant precepts of the Talmud, Codes, Commentaries, and, especially, rabbinic Responses through the present day, with comparative reference to the Christian exegetical tradition, Westpoint 1968; R. Jütte (Hg.), Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart, BsR 1018, München 1993. Zum römisch-katholischen Kirchenrecht und zur Entwicklung des angelsächsischen Rechts s. Loades (Anm. 43), 636–638.

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abbruch – und dies in einer gesellschaftlichen Umgebung, in der diese Praxis nicht nur faktisch geübt wurde, sondern auch als ethisch legitimierbar galt? 1. Bemerkenswert ist das Schweigen der biblischen Schriften zu dem Thema. Angesichts der Tatsache, dass im nachbiblischen Judentum wie auch im entstehenden Christentum die Verwerfung jeglicher Abtreibungspraxis offenbar als selbstverständlich galt, wird man mit allem Vorbehalt folgern dürfen, dass es in früher Zeit tatsächlich keine Veranlassung gab, das Thema überhaupt zu erörtern. 2. Wenn später jüdische und christliche Autoren auf das Thema eingehen, deuten sie niemals an, hier könne ein zu diskutierendes ethisches Problem vorliegen; vielmehr ist für sie der Schwangerschaftsabbruch keinesfalls eine als ethisch vertretbar angesehene Handlungsmöglichkeit. 3. Philo von Alexandria scheint der erste jüdische Autor zu sein, der sich reflektiert und eingehend mit dem Thema befaßt. Für ihn ist der Schwangerschaftsabbruch deshalb inakzeptabel, weil Gott den Fortbestand der Menschheit will und weil nichts erlaubt ist, was dieses Ziel gefährden könnte. Gottes Nachkommenverheißung für das Volk Israel wird von Philo ausgeweitet auf die Menschheit als ganze, durchaus in Übereinstimmung mit Gen 1, aber offenbar ohne einen ausdrücklichen Verweis auf diesen Text. Insofern berührt sich die Haltung Philos mit derjenigen, die in der stoischen Ethik etwa bei Musonius und in der römischen Staatsideologie etwa bei Tacitus zu beobachten ist. 4. Spezifisch christliche Gründe für die Verwerfung der Abtreibungspraxis scheint es in der frühen Kirche nicht gegeben zu haben; deren Fehlen scheint den christlichen Autoren offenbar kaum zum Bewußtsein gekommen zu sein. Eine zumindest auch theologisch begründete Beweisführung liefert erstmals Tertullian; für ihn steht fest, dass der Embryo, der bereits im Mutterleib eine Seele besitzt, ein menschliches Wesen im Sinne der biblischen Schöpfungserzählung ist, und dementsprechend unterscheidet er nicht zwischen Abtreibung und Mord.

V. Welche Bedeutung könnten die in der Antike vertretenen Positionen für die heutige ethische Diskussion besitzen? Zunächst ist auf zwei ganz äußerliche Sachverhalte aufmerksam zu machen: Alle thematisch einschlägigen Texte, die uns erhalten sind, stammen von Männern und bringen offenbar deren Perspektive zum Ausdruck; Tertullian schreibt zwar, eigentlich dürften nur Frauen, näherhin Schwangere oder Mütter, bei diesem Thema zu Wort kommen, aber dabei geht es nicht um die Frage einer möglichen Abtreibung, sondern um die Erfahrung der Lebendigkeit des ungeborenen Kindes (s.o.).

»Du sollst ein Kind nicht im Leib der Mutter töten«

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In der heutigen Diskussion ist klar, dass sich das mit dem Schwangerschaftsabbruch verbundene ethische Dilemma in erster Linie den Frauen stellt und zuerst von ihnen bewältigt werden muß84, wenn möglich gemeinsam mit den betreffenden Männern. Zum andern ist das in der Antike einhellig genannte Argument gegen den Schwangerschaftsabbruch, er führe zum Aussterben des Menschengeschlechts, heute kaum relevant; denn angesichts der globalen Bevölkerungsentwicklung läßt sich eher das Gegenteil sagen, auch wenn in einzelnen Regionen oder Staaten auch eine – wie immer entstandene – niedrige Geburtenrate zu sozialen Problemen führen kann. Wie sind die ethischen Argumentationen der antiken Autoren heute zu bewerten? Der Feststellung Tertullians homo est qui est futurus wird man so kaum zustimmen können, denn zwischen dem Embryo auf seinen verschiedenen Entwicklungsstufen und dem geborenen Kind bestehen Unterschiede, die auch ethisch zu berücksichtigen sind. Die Aussage »Abtreibung ist Mord« übersieht, dass rechtlich wie moralisch ein Unterschied besteht zwischen dem geborenen Kind, das zu töten ein Verbrechen ist85, und der befruchteten Eizelle in ihrem Ursprungsstadium, die jedenfalls noch nicht als Mensch angesehen wird. Allerdings läßt sich heute ebensowenig wie in der Antike ein Zeitpunkt angeben, bis zu dem der Embryo noch nicht als Mensch gilt und dementsprechend noch nicht als uneingeschränkt schützenswert anzusehen ist86; die im deutschen Strafrecht für eine straffreie Abtreibung genannte Zwölf-Wochen-Frist ist insofern durchaus willkürlich, und sie gewinnt ihre Logik eher vom Schutz der Mutter vor den gesundheitlichen Risiken des Schwangerschaftsabbruchs her als vom Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Zwischen allgemein verbindlichen rechtlichen Regelungen einerseits und persönlich begründeten moralischen Entscheidungen andererseits muß differenziert werden. Martin Honecker stellt im Zusammenhang der Frage 84 Loades, Schwangerschaftsabbruch (s. Anm. 43), 634 f. spricht unter Verweis auf Lk 1,34–38 von der »Gnade des Einverständnisses mit der Schwangerschaft«, die natürlich nicht erzwungen werden könne. Schwangerschaft sei »zutiefst ein Symbol für gegenseitige menschliche Abhängigkeit, da ein neues Leben im Leben der Frau heranwächst, und auch für die gegenseitige Abhängigkeit von menschlichem Leben und Gott als dem Geber des Lebens«. »Die Gefährdung dieser gegenseitigen Abhängigkeit hat weitreichende Folgen«, die von Loades dann allerdings nicht näher benannt werden. 85 Den gesonderten Straftatbestand der Kindestötung, begangen von einer Mutter an ihrem nichtehelichen Kind bei oder unmittelbar nach der Geburt (so § 217 StGB in der Fassung noch von 1975), gibt es nicht mehr. 86 Vgl. Hays, The Moral Vision (s. Anm. 10), 454 f. problematisiert die zum Begriff »Lebensrecht« geführte Diskussion: »In Scripture, there is no ›right to life‹. Life is a gift from God, a sign of grace. No one has a presumptive claim on it. Nor, on the other hand, do any of us – male or female – have a ›right‹ to control our own bodies autonomously« (unter Verweis auf 1 Kor 6,19 f.). »We are always accountable to God for our decisions and actions.«

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II Aspekte neutestamentlicher Ethik

»Wie ist das Lebensrecht eines Foetus rechtlich und ethisch zu bewerten?« fest: »Die Strafbarkeit des Abortus und eine ethische Mißbilligung sind dabei zu unterscheiden.«87 Die in der früheren Diskussion in Deutschland als »Fristenlösung« bezeichnete Regelung, also die grundsätzliche Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche88, mag rein pragmatisch gut handhabbar sein, ist aber keine Antwort auf das eigentliche ethische Problem. Die in der deutschen Rechtsordnung faktisch geltende »Indikationenlösung«, die einen Schwangerschaftsabbruch vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen abhängig macht, bedeutet aber hinsichtlich der Frage des Lebensrechts des Embryos keine wirkliche Alternative.89 Die entscheidende Frage lautet, ob dem Embryo, der nach der Befruchtung der Eizelle zweifellos ein lebendiges, wenn auch außerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähiges Wesen ist, ein uneingeschränktes Lebensrecht zugestanden wird oder nicht. Hier berührt sich die antike Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch mit der in jüngster Zeit möglich (und nötig) gewordenen Debatte über Chancen und Grenzen der »Bioethik«, insbesondere über die ethische Berechtigung eines »therapeutischen Klonens«, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.90 87

Honecker, Grundriß (s. Anm. 8), 94. Eine solche Regelung existiert in vielen europäischen Ländern. 89 Honecker, Grundriß (s. Anm. 8), 95: Bei der Fristenlösung kommt es »prinzipiell zur Infragestellung des Lebensrechts des ungeborenen Lebens«, beim Indikationenmodell »wird eine Güterabwägung vorgenommen: Werdendes Leben des Ungeborenen wird gegen andere Güter abgewogen«. Faktisch gelte heute, dass »ein Anspruch auf Abbruch bei ungewollter Schwangerschaft besteht (soziale Indikation). Das hat Rückwirkungen auf das Wertbewußtsein: Ungeborenes Leben ist im allgemeinen Bewußtsein oft kein eindeutig zu schützendes Gut mehr. Der Abbruch wird gar zum Mittel der Geburtenplanung« (aaO., 99). 90 S. dazu u.a. den in Anm. 6 genannten Aufsatz von Körtner; ferner Anja Haniel, Therapeutisches Klonen, Univ. 56 (2001) 228–238. Dazu wurde eine Diskussion geführt unter der Überschrift: »Wo beginnt die Menschenwürde? Therapeutisches Klonen von Embryonen« (Univ. 56, 398–406). Dieter Birnbacher argumentierte folgendermaßen (aaO., 400): »Wenn einem frühen, empfindungslosen menschlichen Embryo ›Würde‹ zukommt, dann allenfalls in jenem schwachen Sinn, in dem wir auch dem menschlichen Leichnam ›Würde‹ zusprechen und die eine Abwägung gegen andere wichtige Belange nicht ausschließt. Bei dieser Art ›Würde‹ handelt es sich eher um eine Frage der Pietät als um einen unbedingten Rechtsanspruch«, wobei er als Parallele ausdrücklich auf die rechtliche Möglichkeit der straffreien Abtreibung verweist. Ähnlich, aber mit entgegengesetzten Ergebnis, argumentiert N. Knoeppfler (aaO., 405): Sprechen wir dem Embryo den moralischen Status einer menschlichen Person zu, »egal ob er gezeugt oder durch somatischen Klonieren gewonnen wurde, dann ist der Embryo gemäß dem Prinzip der Menschenwürde und durch das ärztliche Berufsethos geschützt. Sein Leben darf nicht mit anderen Gütern verrechnet werden. Das therapeutische Klonen wäre nicht zulässig, da hier ein Embryo dazu verwendet wird, sich zu bestimmten Geweben auszudifferenzieren, sich also nicht als Mensch weiterentwickeln kann.« Auf die besondere Problematik des therapeutischen Klonens im Blick auf die Würde und die Selbstbestimmung der Frau verweist der Beitrag von Ingrid Schneider (aaO., 401–404). 88

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Eine prinzipielle Nähe zu der in der Antike geführten Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch besteht heute bei der Frage nach der Präimplantationsdiagnostik. Wenn die befruchtete Eizelle von Anbeginn an als »Mensch« anzusehen ist, dann kann es das Recht zu einer Auswahl nicht geben; andererseits kann es in bestimmten Fällen zulässig und vielleicht sogar ethisch geboten sein, bei der Implantation befruchteter Eizellen eine Auswahl zu treffen, auch wenn eine Grenzziehung kaum möglich ist. Auch bei natürlichen Schwangerschaften kann es Gründe geben, in bestimmten Ausnahmesituationen den Schwangerschaftsabbruch als ethisch »legitimiert« anzusehen, auch wenn er mit Blick auf das Lebensrecht des Embryos in keinem Fall als ethisch »gut« oder gerechtfertigt bezeichnet werden kann.91

91 Huber, Gerechtigkeit und Recht (s. Anm. 9), 352 f. verweist auf die Spannung zwischen der in § 218 StGB ausgesprochenen »Verpflichtung des Staates auf den Schutz des ungeborenen Lebens« und der in § 219 niedergelegten Verpflichtung des Staates, »Frauen in Schwangerschaftskonflikten eine eigenständige Gewissensentscheidung einzuräumen«. Dieser Konflikt könne durch das Strafrecht nicht gelöst werden. »Im Fall der Fristenregelung mit Beratungspflicht liegt das Mißverständnis nahe, ein Schwangerschaftsabbruch, der gemäß den Vorschriften des § 218a Absatz 1 erfolgt sei, stelle keine Tötung dar, da der Tatbestand des § 218 ›nicht verwirklicht‹ sei. Einem solchen Mißverständnis gegenüber ist nach Huber die Klarstellung nötig, dass der Verzicht auf einen rechtlichen Schuldvorwurf die moralische Schuld nicht aufhebt, die mit der Tötung werdenden Lebens verbunden ist.« In der in Anm. 4 zitierten Erklärung des Diakonischen Werkes der EKD heißt es, die Schwangerschaftskonfliktberatung geschehe in dem »Wissen darum, daß im Schwangerschaftskonflikt alle Beteiligten in jedem Fall schuldig werden können und daß es keine glatten und eindeutigen Lösungen gibt«.

III Studien zur Auslegungs- und Theologiegeschichte

Einleitung Die fünf in diesem Kapitel enthaltenen Studien gehen auf sehr unterschiedliche Anlässe zurück. Der Aufsatz Eigentum und Reich Gottes. Die Erzählung »Jesus und der Reiche« im Neuen Testament und bei Klemens von Alexandrinus verdankt sich einer Lehrveranstaltung zum Thema ›Armut und Reichtum im Neuen Testament und in der Alten Kirche‹. Einer der dabei gelesenen Kirchenvätertexte war Klemens’ Schrift Quis dives salvetur?, bei deren Lektüre wir die Entdeckung machten, dass Klemens ganz offensichtlich nicht den »reichen Jüngling« aus Matth 19 als Modell für seine aktuelle theologisch-ethische Argumentation gewählt hat, sondern die Markus-Fassung dieser Erzählung. So schien es mir reizvoll sein, der Traditionsgeschichte der erzählten Szene von Mk 10,17–31 über die beiden anderen synoptischen Evangelien bis zur Fassung bei Klemens nachzugehen. Den dann in der »Zeitschrift für Evangelische Ethik« veröffentlichten Aufsatz1 habe ich für die jetzt vorliegenden Fassung durchgesehen und vor allem auch in den exegetischen Einzelheiten weiter präzisiert. Der Aufsatz »Erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt«. Zum Verständnis der Prädestination im Römerbrief, im Epheserbrief und bei Johannes Calvin verdankt sich einem Vortrag, den ich im Rahmen der mehrjährigen Diskussionen in der Gruppe der »Reformierten Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer« über das Verständnis der Prädestinationslehre Calvins und deren exegetischer Verankerung gehalten habe. Alle Beiträge zu dieser Diskussion wurden 2004 veröffentlicht.2 Für die jetzt vorliegende Fassung habe ich den Text durchgesehen und an etlichen Stellen nicht unerheblich erweitert, insbesondere auch mit Blick auf neuere exegetische Literatur zum Römer- und zum Epheserbrief. Man braucht die Theologen der Reformationszeit nicht nur als Denker der Vergangenheit zu verstehen, sondern man kann auch versuchen, sie als Autoren von möglicherweise immer noch theologisch und exegetisch relevanten Texten und damit als quasi »zeitgenössische« Gesprächspartner zu lesen. 1

ZEE 50 (2006) 89–109. M. Beintker (Hg.), Gottes freie Gnade. Studien zur Lehre von der Erwählung. foedus-Verlag, Wuppertal 2004. Mein Beitrag in dem Band trägt den Titel: »Erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt« (Eph 1,4). Zum Verständnis der Prädestination im Römer- und im Epheserbrief und bei Johannes Calvin«, aaO., 41–67. 2

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III Studien zur Auslegungs- und Theologiegeschichte

Die Studie Johannes Calvin als Exeget verdankt sich dem »Calvin-Jahr«, das 2009 im Rahmen der Reformationsdekade begangen wurde. Geplant war ein Gemeindevortrag für den festlichen Abend am 10. Juli jenes Jahres in der Reformierten Süsterkirche in Bielefeld; dann aber habe ich meine Beobachtungen zu Calvins Bibelauslegung auch schon während der Pfingsttagung 2009 der Evangelischen Forschungsakademie in Drübeck (Harz) vorgetragen3, im Herbst desselben Jahres in weiteren Gemeinden in Westfalen. Vor allem wurde er auch im Rahmen der »Reformierten Sommeruniversität« in Münster zur Diskussion gestellt. In der jetzt vorliegenden Fassung ist der Text gegenüber den Vortragsfassungen erheblich erweitert und ausgearbeitet.4 Das Ziel ist, wie der Titel erkennen läßt, Calvins exegetische Arbeit zumindest in kleinen Ausschnitten vorzustellen und ihn so auch als einen möglichen gegenwärtigen Gesprächspartner in der biblischen Exegese zu verstehen. Der Aufsatz Neutestamentliche Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Von der Tübinger Schule bis zu Rudolf Bultmann und in die Gegenwart geht auf einen Vortrag zurück, der zur Eröffnung des Kolloquiums zur Emeritierung von Otto Merk in Erlangen gehalten wurde.5 Die jetzt vorliegende Fassung stellt eine Erweiterung dar, insofern neue Literatur eingearbeitet und die skizzierte theologiegeschichtliche Linie bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ausgezogen wurde. Der Beitrag Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozialismus. Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg entstand im Rahmen der im Wintersemester 1988/1989 veranstalteten Ringvorlesung »Theologie und ihre Nachbarwissenschaften in der Zeit des Nationalsozialismus«, die aus Anlaß des 50. Jahrestages der Schließung der »Theologischen Schule« am 23. März 1939 stattfand. In »Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel« wurden sieben der damals gehaltenen Vorlesungen aus

3

Calvin als Schriftausleger, in: Chr. Ammer (Hg.), Einsichten aus Wissenschaft und Kunst. Vorträge der 123. Tagung der Evangelischen Forschungsakademie, UEK Hannover 2009, 47–68. – Der Vortrag wurde auch in Universitäten in Korea gehalten; eine koreanische Übersetzung wurde in dem Band Gottes Reich und Welt (Aufsätze und Predigten in koreanischer Übersetzung). Hana Bible Institute Publishers, Bucheon 2010, veröffentlicht. 4 Michael Beintker danke ich herzlich dafür, dass er mich zur Ausarbeitung und Veröffentlichung ermutigt hat. 5 Der Vortrag wurde publiziert unter dem Titel: Grundzüge und Erträge der kritischen neutestamentlichen Wissenschaft. Von der Tübinger Schule bis zu Rudolf Bultmann, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, NET 6, A. Francke Verlag, Tübingen 2003, 1–34.

Einleitung

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den Bereichen Altes Testament6, Neues Testament7, Kirchengeschichte8, Praktische Theologie9 und Klassische Philologie10 veröffentlicht. Für den jetzt vorliegenden Band wurde der Aufsatz ganz erheblich erweitert, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen seit 1989 zu dieser Thematik publizierten Literatur und neu edierten Quellen.

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F. Crüsemann, Tendenzen der alttestamentlichen Wissenschaft zwischen 1933 und 1945, WuD NF 20 (1989) 79–103. 7 F. Vouga, Paulus und die Juden. Interpretation aus der Zeitstimmung, aaO. (s. die vorige Anm.), 105–120. Mein Beitrag erschien unter dem jetzt beibehaltenen Titel aaO., 25–52. 8 G. Ruhbach, Die Herausforderung von Theologie und Kirche durch den Nationalsozialismus, WuD NF 20 (1989) 13–23. 9 T. Stählin, Zur Stellung Karl Fezers im Nationalsozialismus, aaO. (s. Anm. 6), 121–138; K. Winkler, Karl Fezers Einstellung in psychologischer Sicht, aaO. (s. Anm. 6), 139–153. 10 J.-U. Schmidt, Platon und die nationale Erziehung, aaO. (s. Anm. 6), 53–77.

Eigentum und Reich Gottes Die Erzählung »Jesus und der Reiche« im Neuen Testament und bei Klemens von Alexandria Die Frage der Bewertung des Eigentums ist ein ethisches und darin zumindest implizit auch ein theologisches Grundproblem. Nach Martin Honecker ist Eigentum »eine anthropologische Grundgegebenheit« und gehört »zur menschlichen Lebensgestaltung«; aber zugleich kann Eigentum »den Menschen beherrschen« und »soziale Konflikte auslösen«. Die Tradition, so Honecker, »spricht von der Versuchung und dem Laster des Geizes, der Habsucht, der Besitzgier«, das Neue Testament »warnt vor dem Mammon und empfiehlt sogar E[igentums]verzicht«.1 Schon die früheste christliche Theologie hat sich in Anknüpfung an alttestamentliche Positionen und an Aussagen Jesu mit dieser Thematik befaßt. Dabei spielt vor allem die Erzählung von der Begegnung Jesu mit dem »reichen Jüngling« bis heute eine erhebliche Rolle. In der EKD-Denkschrift »Gemeinwohl und Eigennutz« aus dem Jahre 1992 heißt es unter der Überschrift »Armut und Reichtum«, die ungleiche Güterverteilung verlange nach Ausgleich, und dabei begegne »im Lebensrecht der Armen … in besonderer Weise der Anspruch der Gerechtigkeit Gottes an die Reichen«. Als biblischer Beleg folgt zunächst Ps 82,3 (»Schaffet Recht dem Armen und der Waise und helft dem Elenden und Bedürftigen zum Recht«); dann wird die Frage des reichen Jünglings aus Mt 19,16 zitiert: »Was soll ich Gutes tun, dass ich das ewige Leben erwerbe?« mit Jesu Antwort (19,21): »Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.« Die Denkschrift zitiert dann den weiteren Text (19,24 f.): »Es ist leichter daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. Als das seine Jünger hörten, entsetzten sie sich und sprachen: Ja, wer kann dann selig werden?«2 Von der biblischen Kritik am Reichtum, so heißt es dann in der Denkschrift, seien alle Menschen angesprochen, »weil 1 M. Honecker, Art. Eigentum IV. Kirchen- und theologiegeschichtlich, ethisch, RGG4 2, Tübingen 1999, 1151. 2 Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1992, 92.

Eigentum und Reich Gottes

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jedermann dazu neigt, sein Herz an materiellen Besitz zu hängen und sich darauf wie auf ein ewiges Gut zu verlassen«.3 Eine nähere Kommentierung der neutestamentlichen Erzählung erfolgt nicht. Die Erzählung vom »reichen Jüngling« wird bisweilen dahin gedeutet, dass es im Grunde christlich angemessen sei, zugunsten der Armen auf materiellen Besitz oder jedenfalls auf »Reichtum« zu verzichten, auch wenn die menschliche Wirklichkeit zeige, dass solche Praxis allenfalls ein »Ideal« sein kann. Die Folgerung, um der Nachfolge Jesu willen müsse man jeglichen Besitz aufgeben, ist in der Kirchengeschichte durchaus gezogen worden, etwa im Mönchtum; es ist aber umgekehrt auch oft gesagt worden, die Forderung an den reichen Jüngling sei gerade die besondere Ausnahme, da Jesus ja sonst von niemandem ausdrücklich verlangt habe, auf sämtlichen Besitz zu verzichten.4 Das Verständnis der Erzählung vom »reichen Jüngling« war, insbesondere hinsichtlich der in ihr intendierten Bestimmung des Verhältnisses von »Nachfolge« und »Reichtum«, offenbar von Anfang an erheblichen Veränderungen unterworfen. Das zeigt schon die Traditions- und Redaktionsgeschichte dieser Erzählung in den neutestamentlichen Evangelien; es lohnt sich deshalb, die Geschichte ihrer Rezeption und Auslegung näher zu betrachten. Überdies liegt hier der besondere Fall vor, dass Klemens von Alexandria um das Jahr 200 eine vergleichsweise detaillierte Auslegung jener neutestamentlichen Erzählung verfaßt hat, die unter dem Titel »Welcher Reiche wird gerettet werden?« überliefert ist. Im folgenden soll zunächst der Ausgangstext Mk 10,17–31 analysiert und interpretiert werden (I.); dann folgen die Auslegung der Textfassungen im Lukas- und im Matthäusevangelium (II.) sowie eine knappe Skizze der vermuteten Traditionsgeschichte (III.). Unter IV. folgt die Auslegung der erwähnten Schrift des Klemens, verbunden (V.). mit Hinweisen auf andere Auslegungen des Klemenstextes. Abschnitt VI. bietet dann eine knappe systematische Zusammenfassung.

3 Ebd. Die Fortsetzung ist etwas überraschend: »Das Evangelium, das Jesus den Armen gepredigt hat, lehrt uns: Nicht einmal der Reiche [!] kann sich mit der Hingabe seines Reichtums einen ›Schatz im Himmel‹ erwerben. Das Evangelium ist das Geschenk der Freiheit von materieller Sorge um das letztgültige Gelingen des Lebens.« 4 Einen Überblick über die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Erzählung vom »reichen Jüngling« gibt U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband Mt 18–25, EKK I/3, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1997, 131–137. Luz stellt eingangs fest, »leider« gelte »auf weite Strecken der Satz Ernst Blochs [Atheismus im Christentum, 1968, 171], daß ›die Kirche … das Nadelöhr sehr erweitert‹ habe, um den Reichen den Weg ins Himmelreich zu ebnen und sich selbst den Text bequemer zu machen« (131).

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III Studien zur Auslegungs- und Theologiegeschichte

I. Die literarisch älteste Fassung der Erzählung von der Begegnung mit dem Reichen5 liegt in Mk 10,17–31 vor.6 Sie ist in ihrer jetzt vorliegenden Gestalt in drei (bzw. vier) einzelne Szenen gegliedert, die Jesus jeweils im Gespräch mit unterschiedlichen Personen zeigen. In der ersten Szene (V. 17–22) begegnet Jesus einem nicht näher beschriebenen Mann, der an Jesus eine Frage richtet, die dann zu einem kleinen Dialog führt; in der zweiten Szene (V. 23–27) folgt ein daran anknüpfendes Gespräch Jesu mit seinen Jüngern; die dritte Szene (V. 28–30) ist ein Dialog zwischen Petrus und Jesus. Das Thema ist durchgehend die Frage nach dem Verhältnis von Besitz und endzeitlichem Heil; insofern bilden die drei Szenen eine erzählerische Einheit (V. 17–30).7 Der abschließende Satz in V. 31 ist dagegen »eine allgemeine Regel«8, die mit dem zuvor Erzählten nicht in direktem Zusammenhang steht. Die erste Szene (V. 17–22) wird damit eröffnet, dass sich »jemand« (ďŴĜ) an Jesus wendet9 mit der Frage, welche Lebenspraxis für ihn nötig sei (»Was soll ich tun?«), um das ewige Leben zu »erben«.10 Die Anrede Jesu als »Lehrer« ist bei Markus ganz üblich11, das Attribut »gut« hingegen begegnet sonst nicht; es scheint hier vor allem deshalb verwendet worden zu sein, damit Jesus es zurückweisen und auf Gott als den allein Guten verweisen kann (V. 18).12 Unmittelbar anschließend gibt Jesus in V. 19 die Antwort auf die ihm gestellte Frage, indem er an »die Gebote« erinnert, die dem Fragesteller bekannt seien; dazu zitiert er ausdrücklich mehrere Gebote aus 5

Erst bei Mt ist der Gesprächspartner Jesu zum »Jüngling« geworden (s.u.). Der ganze Textabschnitt Mk 10,1–31 bildet sachlich eine Einheit zum Thema »Haus«, insofern es in V. 1–12 um Ehe und Ehescheidung geht, in V. 13–16 um Kinder, und in V. 17–31 um Besitz und Familie. Vgl. D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 173.176 f. Vgl. ferner R. Busemann, Die Jüngergemeinde nach Markus 10. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung des 10. Kapitels im Markusevangelium, BBB 57, Königstein / Ts. 7 Nach J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband Mk 8,27–16,20, EKK II/2, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1979, 91 ist die Episode V. 28–31 »als selbständige Einheit aufzufassen«, insofern sie »ein neues Thema« einbringt, nämlich »das des Jüngerlohnes«. Ob das der Fall ist, kann hier offen bleiben; jedenfalls bilden V. 17–30(31) auf der literarischen Ebene des Mk eine Einheit. 8 Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 6), 174. 9 Die Erzählung wird vor ihrer Eingliederung in den jetzigen mk Kontext mit dem in V. 17b geschilderten Vorgang eingeleitet worden sein; die jetzige Einleitung in V. 17a dürfte redaktionell mk sein, denn sie knüpft mit dem őĔĚęěďğęĖƬėęğċƉĞęȘ an das in V. 10 erwähnte »Haus« an, in dem sich Jesus bis dahin aufgehalten hatte. 10 Zur Verwendung des Verbs »erben« (ĔĕđěęėęĖďȉė) in diesem Zusammenhang vgl. 1 Kor 6,9 f.; 15,50; Gal 5,21. 11 Mk 4,38; 9,17.38 u.ö. 12 Das betonte ďŴĜžĒďƲĜ erinnert an das Schema in Dtn 6,4, aber auch an die Einleitung zum ersten Gebot des Dekalogs. 6

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der zweiten Tafel des Dekalogs.13 Der Mann antwortet, dies alles habe er gehalten »seit meiner Jugend« (V. 20); daraufhin, so stellt der Erzähler fest, »gewann« Jesus ihn »lieb« (ŝčƪĚđĝďėċƉĞƲė) und sagte zu ihm: »Eines fehlt dir, geh hin, verkaufe, was du hast und gib es den14 Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben. Und auf, folge mir nach« (V. 21). Die Reaktion des Mannes aber ist »Trauer«, die auch sichtbar wird15, und der Mann geht weg (ŁĚǻĕĒďėĕğĚęƴĖęĜ, V. 22a); abschließend informiert der Erzähler über die Ursache dieses Verhaltens: Der Mann besaß »viele Güter« (V. 22b). Woher der Erzähler dieses Wissen hat, wird nicht gesagt; es ist aber für die Pointe der Erzählung wichtig, dass die Information auf der Erzählebene erst ganz am Ende eingebracht wird und nicht etwa schon zu Beginn. Mit V. 22 könnte die Erzählung zu Ende sein, und möglicherweise war das auf einer frühen Überlieferungsstufe auch tatsächlich der Fall. Formgeschichtlich betrachtet läge dann ein »biographisches Apophthegma« vor, das allerdings nicht mit dem Wort Jesu endet16, sondern mit dem Hinweis auf das Verhalten des Mannes, der sich dem Ruf Jesu verweigert.17 Die Absicht der Erzählung wäre es dann gewesen, an einem konkreten Beispiel die Unvereinbarkeit von (großem) Besitz und Nachfolge Jesu aufzuzeigen. Dabei mag offenbleiben, ob im Hintergrund die Erfahrung stand, dass wohlhabende Menschen in der Regel tatsächlich nicht dazu bereit waren, Jesus zu folgen bzw. sich der nachösterlichen Gemeinde anzuschließen, oder ob mit der Erzählung gesagt werden sollte, dass Reiche nicht zur Gemeinde gehören durften, wenn sie nicht dazu bereit waren, auf ihren Besitz vollständig zu verzichten.

Im griechischen AT (LXX) sind die Gebote als verneinte Futura formuliert (ęƉ ĠęėďƴĝďēĜ usw.), im Mk-Text dagegen als Handlungsanweisungen (ĖƮ mit Konj. Aorist); das Elterngebot begegnet hier wie dort als Imperativ. Das Gebot »Du sollst nicht berauben« (ĖƭŁĚęĝĞďěƮĝǹĜ) steht so nicht im Dekalog, aber es dürfte eine Kurzfassung des zehnten Gebots sein; anders Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 87, der hier eine Anspielung auf Sir 4,1 in Verbindung mit Dtn 24,14 sieht, demzufolge der Lohn des Armen nicht zurückgehalten werden dürfe; das passe »vortrefflich zur Unterweisung des reichen Mannes«. Aber von Reichtum ist bislang nicht die Rede; vgl. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 6), 175. 14 Ob der bestimmte Artikel zu lesen ist oder nicht, ist textkritisch unsicher. 15 Auffallend sind die beiden mit dem Verb ŁĚǻĕĒďė verbundenen Partizipien ĝĞğčėƪĝċĜ (»sein Antlitz verfinsterte sich«) und ĕğĚęƴĖďėęĜ (»er wurde traurig«). 16 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 101995, 20. Nach Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 84 findet sich »das apoftegmatische Wort« in V. 21. 17 Nach W. Zimmerli, Die Frage des Reichen nach dem ewigen Leben, in: Ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze, ThB 19, München 1963, 316–324 steht hinter Mk 10,17–22 nicht eine Schulbelehrung, sondern vermutlich »eine sehr konkrete Erinnerung« an eine am Reichtum des Fragers gescheiterte Jüngerberufung durch Jesus (323). 13

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Die zweite Szene, eingeleitet durch ĔċƯĚďěēČĕďĢƪĖďėęĜ (V. 23–27), beginnt damit, dass sich Jesus an seine Jünger wendet18 und ihnen gegenüber die unmittelbar an die Aussage von V. 22b anschließende Feststellung trifft, »die Besitzenden«19 würden nur »schwer« ins Gottesreich hineinkommen.20 Auffallend ist der Wechsel der Begrifflichkeit: Der Mann hatte nach dem »Erben« des ewigen Lebens (Đģƭ ċŭƶėēęĜ) gefragt, und Jesus hatte darauf mit der Verheißung des »Schatzes im Himmel« geantwortet; jetzt liegt die »Reich-Gottes«-Terminologie vor, ohne dass aber in der Sache etwas anderes gemeint ist. Jesus erklärt den Jüngern (V.  23), dass Reichtum in hohem Maße das »Hineingehen« ins Reich Gottes gefährdet21; möglicherweise zeigt die rhetorisch formulierte Feststellung ĚȥĜĎğĝĔƲĕģĜ sogar an, dass Jesus »Reichtum und Gottesherrschaft … für unvereinbar« hält.22 Als daraufhin die Jünger erschrecken (V. 24a), scheint Jesus seine Aussage fast wörtlich zu wiederholen (V.  24b: ĚȥĜ ĎƴĝĔęĕƲė őĝĞē), doch ist jetzt der Kreis der Betroffenen ein anderer. Nach der überwiegend für ursprünglich gehaltenen Lesart sagt Jesus, es sei überhaupt »schwierig«, ins Gottesreich hineinzugehen23, während er nach einer von vielen anderen Handschriften gebotenen Lesart sagt, es sei »für die auf ihren Besitz Vertrauenden« schwierig, ins Gottesreich zu kommen.24 Unabhängig von der 18 Die Jünger waren zuletzt zu Beginn der vorangegangenen Szene erwähnt worden, als sie meinten Jesus vor der Belästigung durch die Kinder bewahren zu sollen (10,13). 19 In V. 22 war der Reiche als ŕġģėĔĞĈĖċĞċĚęĕĕĆ charakterisiert worden, jetzt ist von ęŮĞƩġěĈĖċĞċŕġęėĞďĜ die Rede; s. dazu unten. 20 Denkbar ist, dass V. 23 die in V. 17 ff. erzählte Szene abschließt, so dass das Apophthegma stilgemäß mit dem Jesuswort abgeschlossen würde; aber das einleitende ĚďěēČĕďĢƪĖďėęĜ (vgl. 3,5.34; 5,32; 9,8; 11,11) signalisiert deutlich einen Neuanfang, und das spricht eher für mk Redaktion. Nach Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 84 f. wurden V. 23.25 bereits vormarkinisch an V. 17–22 angefügt (s.u.). 21 Das entspricht der in der vorangegangenen Perikope von Jesus und den Kindern verwendeten Begrifflichkeit (vgl. Mk 10,15). Vgl. meinen Aufsatz: Die Kinder und die Gottesherrschaft. Markus 10,13–16 und die Stellung der Kinder in der späthellenistischen Gesellschaft und im Urchristentum, in: A. Lindemann, Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 109–134. 22 So W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 51989, 109 unter Bezug auf Mk 10,23. – Die Begriffe ĎğĝĔƲĕģĜ bzw. ĎƴĝĔęĕęė sind wohl nicht so zu deuten, dass reiche Menschen nur »unter Schwierigkeiten« ins Gottesreich gelangen, während anderen dies ganz problemlos möglich ist; gemeint ist eher, dass es Reichen »schwer« wird, ihren Besitz aufzugeben, um ins Gottesreich zu kommen. 23 Die bei Nestle-Aland, NT Graece27 gedruckte Lesart von V. 24 (ĞƬĔėċĚȥĜĎƴĝĔęĕƲė őĝĞēė ďŭĜ Ğƭė Čċĝēĕďưċė ĞęȘ ĒďęȘ ďŭĝďĕĒďȉė) wird im wesentlichen von den Codices Vaticanus (B) und Sinaiticus (ý) vertreten, also den beiden Hauptzeugen des alexandrinischen Texttyps. 24 Die Textzeugen für diese Lesart (ĚȥĜĎƴĝĔęĕƲėőĝĞēėĞęƳĜĚďĚęēĒƲĞċĜőĚƯġěƮĖċĝēė ĔĞĕ.) gelten zwar als weniger »gut« im Vergleich zu B und ý, aber diese Lesart ist weit verbreitet, und die Zeugen sind sehr viel zahlreicher. H. Greeven druckt diesen Text in seiner Synopse.

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textkritischen Entscheidung enthält V.  24 jedenfalls eine grundsätzliche inhaltliche Veränderung der Erzähltendenz: Entweder ist gesagt, der Zugang zum Gottesreich werde nicht durch materiellen Besitz als solchen erschwert oder gar verhindert, sondern nur durch eine bestimmte Einstellung dem Besitz gegenüber (»Vertrauen«); oder die Erzählung hat ihren spezifischen Bezug zum Problem des Besitzes bzw. des Reichtums ganz verloren, insofern in V. 24 überhaupt nicht mehr vom Besitz die Rede ist. In jedem Fall zeigt V. 24, dass die Tradenten nicht davon überzeugt waren, es sei richtig zu sagen, Menschen könnten allein aufgrund ihres materiellen Besitzes des Heils verlustig gehen.25 Dann aber bezieht sich das übergangslos angeschlossene sprichwortartige Logion in V. 25 wieder ausschließlich auf reiche Menschen: Das paradoxe Bild »Kamel26 und Nadelöhr« sagt eindeutig, dass es für sie unmöglich ist, ins Gottesreich zu gelangen. Wenn, wie in der Exegese oft angenommen wird, auf einer früheren Überlieferungsstufe die Aussage in V. 25 direkt auf das in V. 23 Gesagte gefolgt sein sollte27, dann hätte Jesus damit definitiv den Ausschluß reicher Menschen aus dem Gottesreich behauptet.28 Durch die Verbindung mit der zuvor erzählten Szene V.  17–22 wären allerdings zumindest indirekt die Reichen aufgefordert, ihren Besitz zugunsten der Armen aufzugeben, um so doch noch Zugang zum Gottesreich zu erlangen. Im jetzt vorliegenden Zusammenhang (V. 17–22.23–25) ist gesagt, dass es zwar für Menschen generell »schwierig« ist, ins Gottesreich zu kommen, dass es aber für Reiche völlig unmöglich ist, sofern sie nicht auf ihren Besitz verzichten. Erstaunlicherweise ist die Szene mit V.  25 noch nicht abgeschlossen. Vielmehr erfolgt, analog zu V. 24a, abermals eine Reaktion der Jünger; sie sind »über die Maßen erschrocken« (V. 26)29 und sprechen miteinander dar25

Nach Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 6), 174 gehen V.  24b als Wiederholung des Jesuswortes von V. 23b sowie das erneute Erschrecken der Jünger (V. 26a) auf mk Redaktion zurück. 26 Einige wenige späte Handschriften lesen statt ĔƪĖđĕęė »Kamel« das Wort ĔċĖưĕęė »Schiffstau«; das ist sicher sekundär, stellt aber keine »Erleichterung« dar, insofern die Unmöglichkeit auch bei dieser Lesart bestehen bleibt. Das Schiffstau entspricht im Bild eher dem Nadelöhr; aber der Sinn des Logions scheint gerade in der grotesken Paradoxie von dem durch ein Nadelöhr hindurchgehenden Kamel zu liegen. 27 Wenn V.  24 tatsächlich redaktionell sein sollte, wäre eine ursprüngliche Textfolge V. 23.25 gut vorstellbar, so z. B. Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 85. In der Lesart des Codex D folgt das Logion V. 25 tatsächlich unmittelbar auf V. 23; das ist textgeschichtlich sekundär, zeigt aber den Duktus der Erzählung an. 28 Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Logion 10,25 um ein authentisches Jesuswort handelt. Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 89: »Die provozierende Sprache und die kritische Einstellung gegenüber dem Reichtum befürworten dies. Jesus hat auch sonst den Mammonismus angeprangert.« 29 Die Wendung ĚďěēĝĝȥĜőĘďĚĕƮĝĝęėĞę in V. 26 steigert das őĒċĖČęȘėĞę von V. 24.

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über30, wer denn angesichts der eben gehörten Aussage Jesu überhaupt »gerettet werden« könne. Das Verb ĝȤĐďēė ist eschatologisch gemeint, d.h. mit dieser Frage der Jünger ist nun auch der Gerichtsgedanke in die Erzählung eingebracht worden; sachlich meinen »Erben des ewigen Lebens« (V. 17), »Schatz im Himmel« (V. 21), »Hineingehen ins Reich Gottes« (V. 23.24.25) und »gerettet werden« (V.  26) offenbar dasselbe. Jesus reagiert auf dieses Gespräch der Jünger31 mit der Aussage (V. 27), diese »Rettung« sei überhaupt nicht eine menschliche, wohl aber Gottes Möglichkeit; damit ist die zuvor in V. 23b.25 ausgesprochene scharfe Unterscheidung zwischen den reichen Menschen und den anderen aufgehoben. Mit der auf Gottes Allmacht verweisenden Aussage in V. 27 könnte die Erzählung zu Ende sein, und möglicherweise war das auf einer traditionsgeschichtlich früheren Stufe auch einmal der Fall.32 Die V.  17–27 umfassende Erzählung hatte dann die Funktion, zunächst die negative Reaktion des Reichen auf Jesu Forderung zu beschreiben (V.  17–22) und dann die folgenden Worte Jesu über den für reiche Menschen unmöglichen Zugang zum Gottesreich (V. 23.25) durch Jesu Dialog mit den Jüngern (V. 26.27) zu korrigieren: Allein Gott entscheidet über den Zugang zum Gottesreich, und deshalb kann und darf – ungeachtet aller notwendigen Warnungen – ein prinzipieller Ausschluß bestimmter Menschen aus dem Gottesreich bzw. aus dem ewigen Leben nicht behauptet werden. »Damit ist die Schlußfolgerung vermieden, daß Nachfolge in jedem Fall Aufgabe von Besitz bedeuten müsse.«33 Oft wird gesagt, hinter der Erzählung in V. 17–22.23.25 habe eine Gemeinde gestanden, »die das Armutsideal ernstnimmt«34; die durch V. 24.26 f. eingetretene Änderung der ursprünglichen Tendenz gehe dann darauf zurück, dass man Besitzende, die sich der christlichen Gemeinde anschließen wollten, nicht verprellen wollte.35 Dann hätte hinter der ursprünglich vertretenen Position (»Reichtum und Gottesherrschaft schließen einander aus«) in erster Linie ein grundsätzliches soziales Ressentiment gegenüber »den Reichen« gestanden, das aus missionstaktischen Erwägungen später preisgegeben worden wäre. Auszuschließen ist das natürlich nicht. Aber das Motiv für den mit V. 24 und vor allem mit V. 26–27 verbundenen Tendenzwechsel dürfte eher die Einsicht gewesen sein, dass die Behauptung einer Nach einigen Handschriften, darunter auch B und ý (s.o.), wenden sich die Jünger mit ihrer Frage an Jesus; das ist aber sicher sekundär. 31 Die Wendung őĖČĕƬĢċĜċƉĞęȉĜ erinnert an ĚďěēČĕďĢƪĖďėęĜ in V. 23. 32 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 16), 20 f. 33 Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 6), 175. 34 So Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 85. 35 Diese Überlegung findet sich in der Literatur oft mit Blick auf die Entwicklung im 2. Jh., so etwa bei W.-D. Hauschild, Christentum und Eigentum. Zum Problem eines altkirchlichen »Sozialismus«, ZEE 16 (1972) 34–49, hier: 36. 30

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endgültigen eschatologischen Verurteilung »reicher« Menschen theologisch nicht verantwortbar ist.36 Die dritte Szene beginnt mit dem durch die redaktionell mk Wendung šěĘċěĞęĕƬčďēė und die namentliche Nennung des Petrus deutlich markierten Neueinsatz in V. 28: Petrus als Sprecher der Jünger nimmt das Wort Jesu aus V. 21 auf, und er stellt nun fest: »Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.«37 Diese Feststellung enthält zwar keine Frage, aber sie zielt dennoch auf eine das so beschriebene Verhalten der Jünger kommentierende Antwort Jesu. Das dann als Reaktion Jesu überlieferte zweigliedrige Wort in V. 29 f. könnte ursprünglich ein isoliertes Logion gewesen sein, zumal ein Bezug zum jetzigen literarischen Kontext fehlt.38 Jesus spricht in dem sehr feierlich eingeleiteten Amen-Wort in V. 29 nicht primär von der Preisgabe des materiellen Besitzes, sondern vor allem von der Aufgabe aller sozialen Bindungen. Lediglich »das Haus« und »die Äcker« beziehen sich auf den Besitz bzw. sogar konkret auf Grundeigentum39, doch im Zentrum stehen die Mitglieder der Familie, die – mit Ausnahme der Ehefrau, was nach 10,2– 12 freilich nicht erstaunlich ist40  – »um meinetwillen« verlassen wurden. Die wahrscheinlich redaktionell mk Ergänzung »und um des Evangeliums willen« zeigt, dass der Evangelist auch und vor allem die nachösterliche Perspektive im Blick hat: Nachfolge geschieht nicht mehr buchstäblich, sondern sie verwirklicht sich in der Annahme der Christusbotschaft, des Evangeliums.41 Als Ausgleich empfängt der Mensch nach V. 30 jetzt (őėĞȦ 36 Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 88: »Es gibt auch andere Hindernisse neben dem Reichtum, die den Eintritt in das Reich Gottes unmöglich machen.« 37 Das »wir« ist durch ŞĖďȉĜ ŁĠƮĔċĖďė betont; das Verlassen von »allem« (ĚƪėĞċ) geht über den Verkauf des Besitzes hinaus. Zum Gebrauch des Verbs ŁĠưđĖē vgl. die Berufungsgeschichten Mk 1,18.20. Für G. Theißen ist die Aussage von Mk 10,28 Anknüpfungspunkt für seine Beschreibung der sozialen Wirklichkeit der ›Jesusbewegung‹ innerhalb der Gesellschaft in Palästina; vgl. G. Theissen, »Wir haben alles verlassen« (Mc. X,28). Nachfolge und soziale Entwurzelung in der jüdisch-palästinischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts n.Chr., in: Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 21983, 106–141. 38 Nach Gnilka, Evangelium nach Markus (s. Anm. 7), 91 macht die Antwort Jesu »einen stark erweiterten Eindruck«; sie habe ursprünglich mit dem Hinweis auf den »hundertfachen Empfang« geschlossen. 39 Möglicherweise bezieht sich das Stichwort »Haus« in erster Linie auf die häusliche Gemeinschaft und weniger auf das Gebäude als Immobilie. 40 Sehr viele Handschriften haben şčğėċȉĔċ ergänzt, und so lautet jedenfalls die Aussage in Lk 18,29 (s.u.); aber das entspricht sicher nicht dem ursprünglichen Mk-Text. Lk hatte Mk 10,1–12 nicht übernommen, so dass kein direkter Widerspruch entsteht; wohl aber bietet Lk in 16,18 das Q-Logion mit den Verbot der Ehescheidung und der Wiederheirat. 41 Der Hinweis auf das ďƉċččƬĕēęė entspricht den programmatischen Aussagen in Mk 1,1.14 f. Die Aussage geht über die erzählte Zeit Jesu hinaus in die Gegenwart der Rezipienten des Textes. Vgl. W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 21959, 82 f.

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ėȘėĔċēěȦ) »hundertfachen« Ersatz für alles, was er zuvor verlassen hatte42, freilich »unter Verfolgungen«; im Eschaton (őėĞȦċŭȥėēőěġęĖƬėȣ)43 empfängt er das »ewige Leben«. Damit ist nun die Frage nach dem Verhältnis von Nachfolge und Besitz so beantwortet, »daß Nachfolge durchaus auch geschehen kann innerhalb von sozialen Strukturen des ›Hauses‹, nicht nur als Herauslösung aus ihnen«.44 Zugleich hat sich durch die Wiederaufnahme des Begriffs ĐģƭċŭƶėēęĜ der Kreis der ganzen Erzählung geschlossen: Die eingangs gestellte Frage des (reichen) Mannes nach dem ewigen Leben (V.  17) führt am Ende zu der Antwort, dass jeder, der um Jesu bzw. um des Evangeliums willen »alle« und »alles« verläßt, in der Gegenwart neue familiäre Beziehungen erhält45 und im »kommenden Äon« das ewige Leben (V.  30). Das dann zusätzlich angefügte Logion V.  31 unterstreicht diesen Aspekt des eschatologischen Wechsels.46 In ihrer traditionsgeschichtlich zu erklärenden Vielschichtigkeit läßt die Erzählung Mk 10,17–31 intensive theologische Reflexionen der Tradenten über das Verhältnis von materiellem Besitz (»Reichtum«) und Christusnachfolge erkennen: Die traditionsgeschichtlich wohl am Anfang stehende Erzählung V. 17–22 schildert anhand eines konkreten Beispiels, wie materieller Reichtum Menschen daran hindert, Jesus zu folgen; diese Tendenz wird durch die ergänzend angefügten Aussagen in V. 23.25 verallgemeinernd bestätigt. Die dann eingefügte zweimalige Reaktion der Jünger (V. 24a.26) und die darauf folgenden Antworten Jesu (V. 24b.27) führen zu einer deutlichen Korrektur: Es ist allein Gott, der dem Menschen das Heil zusprechen kann, und deshalb kann das Heil auch niemandem abgesprochen werden. Durch den abschließend angefügten Dialog in V. 28–30(31) wird dann sogar klar, dass eine mit der Nachfolge verbundene Preisgabe sozialer Beziehungen, einschließlich des Besitzes, nicht Vereinsamung und Armut bedeutet, sondern im Gegenteil »hundertfältigen« Gewinn. Zugleich zeigt sich spätestens hier, dass der Evangelist das Thema nicht mehr aus der Perspektive »wandernder« Jünger sieht, sondern dass er die Gemeinde im Blick hat, in der es 42

In V. 30 sind Väter nicht genannt, vermutlich weil Gott als der eine Vater gedacht ist. Das Gegenüber von ėȘėőėĞȦĔċēěȦĞęƴĞȣ und őėĞȦċŭȥėēĞȦőěġęĖƬėȣ läßt apokalyptisches Denken bzw. zumindest apokalyptische Begrifflichkeit erkennen. 44 Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 6), 176. Lührmann sieht hier einen Gegensatz zu der in der Logienquelle Q ausgesprochenen Tendenz, derzufolge Nachfolge und Familie einander ausschließen (Lk 14,26/Mt 10,37). 45 Von der familia Dei hatte Jesus schon in Mk 3,31–35 gesprochen. Vgl. Lührmann, Markusevangelium, 77. 46 Thea Vogt, Angst und Identität im Markusevangelium. Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag, NTOA 26, Freiburg / Schweiz und Göttingen 1993, 172: »Das Logion in V. 31 stellt also eine abschließende Bewertung des Reichtums und seiner Folgen dar: Reiche tragen die Position von ›Ersten‹ und für sie wird dieses Logion zur Warnung und zur Motivation umzukehren.« 43

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nicht nur neue zwischenmenschliche Beziehungen gibt, sondern eben auch »Häuser« und »Äcker«.47

II. Lukas und Matthäus haben die Erzählung aus Mk 10,17–31 im ganzen übernommen, sie haben sie aber z. T. auch deutlich modifiziert.48 Auffallend ist, dass beide Evangelisten den bei Markus ganz unbestimmt bleibenden Fragesteller jetzt näher charakterisieren: Bei Lukas ist er, wie man gleich zu Beginn (Lk 18,18) erfährt, ein Ņěġģė, so dass die später folgende Auskunft, er sei »sehr reich« (18,23), nicht ganz unerwartet kommt49; bei Matthäus erweist er sich im Laufe der Erzählung als ein »Jüngling« (Mt 19,20.22), wodurch seine Aussage, er habe alle Gebote gehalten, wohl plausibler gemacht werden soll.50 Im Matthäusevangelium51 ist in der ersten Szene (19,16–22) der mk Text in mehrfacher Hinsicht verändert worden: Jesus, der ähnlich wie bei Markus den Ort der Kindersegnung verlassen hatte52, wird von dem herbeigekommenen ďŴĜ nicht als »gut« angeredet, sondern dieser fragt den ĎēĎƪĝĔċĕęĜ, »welches Gute« (ĞưŁčċĒƲė) er tun müsse, um das ewige Leben zu »haben« (V. 16).53 Als Antwort verweist ihn Jesus, nicht anders als zuvor bei Markus, auf den Einen, der »der Gute« ist; damit wird die bei Markus implizit ent47 Damit dürfte allerdings nicht »persönliches Eigentum« gemeint sein, über das der einzelne hätte frei verfügen können. P. Kristen, Familie, Kreuz und Leben. Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium, MThS 42, Marburg 1995, 158 folgert aus dem Zusammenhang von V. 25 einerseits und V. 30 andererseits, »daß die neu entstandenen Gemeinschaft kollektives Eigentum hat«. 48 Im folgenden soll nur auf die für unsere Fragestellung relevanten Textänderungen hingewiesen werden. Auf die »auffallend hohe Zahl« der »minor agreements« zwischen Lk und Mt verweist M. Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 598. Gleichwohl lassen die Texte keine direkte literarische Beziehung zwischen Lk und Mt erkennen. 49 Der Begriff Ņěġģė ist insofern unbestimmt als ein Bezug fehlt (dagegen Lk 8,41: ŅěġģėĞǻĜĝğėċčģčǻĜ; 14,1: ŅěġęėĞďĜĞȥėĀċěēĝċưģė). Jedenfalls gilt der Mann als einflußreich, wobei der Erzähler nicht darüber nachdenkt, woran dies äußerlich zu erkennen ist. 50 Von der »Jugend« des Mannes war auch bei Mk gesprochen worden (őĔėďƲĞđĞƲĜĖęğ, V. 20), aber gerade im Vergleich dazu stellt der mt Hinweis, der Mann sei ein ėďċėưĝĔęĜ, eine deutliche Korrektur dar. 51 Die Chronologie der Abfassung des Matthäus- und des Lukasevangeliums spielt an dieser Stelle keine Rolle; Lk und Mt haben den Mk-Text offensichtlich unabhängig voneinander benutzt. 52 Die entsprechend Notiz (őĚęěďƴĒđőĔďȉĒďė) schließt die vorangegangene Perikope Mt 19,13–15 ab. 53 Die Verwendung des Verbs ŕġďēė bei Matthäus anstelle des mk ĔĕđěęėęĖďȉė könnte anzeigen, dass der Fragesteller in der Sicht des Mt das ewige Leben tatsächlich »haben«, und nicht »erben« will.

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haltene Aussage vermieden, Jesus selber sei nicht »gut« (V. 17a).54 Anders als bei Markus folgt nicht der erinnernde Hinweis auf die Gebote, sondern Jesus gibt dem Mann eine mit einem Bedingungssatz verbundene Weisung: »Wenn du in das Leben hineingehen willst, halte die Gebote« (V. 17b). Der Mann fragt in V. 18a etwas überraschend: »Welche?«, und Jesus nennt daraufhin in V. 19, ähnlich wie bei Markus, die offenbar als bekannt vorausgesetzten Dekaloggebote55 sowie darüber hinaus auch das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). Der in V. 20 nun erstmals als ėďċėưĝĔęĜ bezeichnete Mann antwortet ebenso wie bei Markus, dass er dies alles gehalten habe (ĞċȘĞċĚƪėĞċ őĠƴĕċĘċ); zusätzlich aber fragt er nun: »Was fehlt mir noch?« Die bei Markus der Antwort Jesu vorangehende Feststellung des Erzählers »er gewann ihn lieb« fehlt bei Matthäus – offenbar soll der Eindruck vermieden werden, Jesus habe sich in dem Mann getäuscht.56 Jesus fordert ihn auf (V. 21), seinen Besitz zugunsten der Armen zu verkaufen und ihm zu folgen; die nahezu wörtlich dem Mk-Text entsprechende Aufforderung ist nun aber ähnlich wie zuvor in V. 17 mit einem Bedingungssatz verbunden: »Wenn du vollkommen sein willst …« (ďŭ ĒƬĕďēĜ ĞƬĕďēęĜ ďųėċē …). Die Leser des Matthäusevangeliums hatten bereits in der Bergpredigt die an das Gebot der Feindesliebe anknüpfende, die Reihe der Antithesen abschließende generelle Forderung Jesu vernommen, sie sollten »vollkommen sein wie euer himmlischer Vater« (5,48).57 Im Kontext von Mt 19,16–22 scheint nun gemeint zu sein, dass die Aufgabe des Besitzes eine nicht mehr zu überbietende Steigerung gegenüber dem zuvor geforderten Halten der Gebote bedeutet: Der Frager wird vor die Entscheidung gestellt, ob er »vollkommen« sein will oder nicht.58 Sicherlich ist, wie Luz zu Recht feststellt, nicht gemeint, »daß der Mann frei sei, das nun folgende Gebot auch auf der Seite zu lassen«, denn »der Besitzverzicht, von dem Jesus jetzt spricht, ist sowenig fakultativ wie die Nachfolge oder die 54

Zur besonderen theologischen Bedeutung der Frage nach »dem Guten« im Kontext biblischer, vor allem weisheitlicher Tradition, s. U. Luck, Die Frage nach dem Guten. Zu Mt 19,16–30 und Par., in: W. Schrage (Hg.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments. FS Heinrich Greeven, BZNW 47, Berlin / New York 1986, 282–297. Luck zeigt u.a. an Dtn 30,15–20, dass die Frage nach dem Guten und die Frage nach dem Leben zusammengehören: »Der Mensch, der leben will, der sein Leben gewinnen will, der muß das Gute tun« (286). 55 Mt führt den biblischen Text mit einem die Tradition markierenden ĞƲ ein und zitiert dann, anders als Mk, den Gebotstext entsprechend der LXX (ęƉ + Ind. Futur, im Sinne des hebräischen Prohibitiv). 56 Auch Lk hat diese Notiz gestrichen, ohne dass hier eine wechselseitige Beeinflussung von Mt und Lk anzunehmen ist. 57 Mt 5,48 liest den aus der Logienquelle Q stammenden Text mit den Worten ŕĝďĝĒď ĞƬĕďēęē, in Lk 6,36 heißt es dagegen čưėďĝĒďęŭĔĞưěĖęėďĜ. Der Mt-Text dürfte hier gegenüber der Q-Vorlage korrigiert sein. 58 In V. 17b sollte das ďŭĒƬĕďēĜ offenbar sagen: »Wenn du wirklich ins Leben eingehen willst …«

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Feindesliebe«59; aber das braucht nicht zu heißen, dass im Hintergrund der hier ausgesprochenen Forderung so etwas wie ›Wanderradikalismus‹ steht, durch den Mt und seine Gemeinde historisch geprägt gewesen wären.60 Weder der Evangelist noch die ihm nahestehende Gemeinde dürften tatsächlich dieser Praxis gefolgt sein.61 Im Lukasevangelium gibt es in der ersten Szene der Erzählung (Lk 18,18– 23) zunächst keine wesentlichen Änderungen gegenüber Mk 10,17–22, abgesehen von der Einführung des Fragers als Ņěġģė.62 Der Mann, der am Ende als »sehr reich« bezeichnet wird, wird angesichts der Forderung Jesu, seinen Besitz den Armen zu geben, »traurig«(ĚďěưĕğĚęĜ őčďėƮĒđ), aber es fehlt der Hinweis, er sei »weggegangen« (Mk 10,22); vielmehr ist er als während des folgenden Gespräches anwesend gedacht, ja, er ist sogar der Adressat des Wortes Jesu in V. 24 (s.u.). Die zweite Szene bei Matthäus (Mt 19,23–26) beginnt ebenso wie bei Markus mit der Feststellung Jesu, dass ein Reicher63 »schwer« ins Gottesreich kommt (V. 23)64; dann aber fehlen sowohl die entsetzte Reaktion der Jünger als auch das Wort Jesu, dass es überhaupt »schwer« sei, ins Gottesreich zu gelangen (Mk 10,24). Vielmehr folgt in 19,24 sofort das Bildwort vom Kamel und dem Nadelöhr65, durch das die zuvor getroffene Feststellung weiter zugespitzt wird.66 Das bei Matthäus erstmalige Erschrecken der Jünger und die Antwort Jesu (V. 25 f.) entsprechen nahezu wörtlich dem Mk-Text. Gleichwohl ist durch die Straffung des Dialogs der Gedankengang klarer akzentuiert als bei Mk: Es gilt zunächst die Feststellung, dass reiche Menschen keinen Zugang zum Gottesreich haben, aber diese Aussage führt sofort zu der Frage der Jünger, wer dann überhaupt gerettet werden könne. Für Matthäus 59

Luz, Matthäusevangelium III (s. Anm. 4), 125. Luz, Matthäusevangelium III, 126 f. im Exkurs »Matthäus und der Reichtum«. Nach Luz gab es eine »grundsätzliche Identifikation der [mt] Gemeinde mit diesen radikalen Nachfolgern Jesu«. 61 Luz selber meint denn auch, dass »die seßhaften Gemeindeglieder, die den Wanderradikalen Gastfreundschaft gewähren (10,40–42), … gewiß in der Überzahl« gewesen seien (aaO., 126). 62 Anders als bei Mk fehlt der Hinweis auf den Ortswechsel; Lk 18,18 schließt unmittelbar an die Kinderszene 18,15–17 an. 63 Aus der pluralischen Wendung ęŮĞƩġěƮĖċĞċŕġęėĞďĜ in Mk 10,23 ist in Mt 19,23 ein (unbestimmt bleibendes) ĚĕęƴĝēęĜ geworden. 64 Mt schreibt in 19,23 seinem üblichen Sprachgebrauch entsprechend Čċĝēĕďưċ Ğȥė ęƉěċėȥė, er behält dann aber in 19,24 das mk Wort ČċĝēĕďưċĞęȘĒďęȘ bei (s.u. Anm. 66). 65 Vgl. die Lesart des Codex D in Mk 10,23–25. 66 Der Wechsel von »Himmelreich« (V. 23) zu »Gottesreich« (V. 24) deutet möglicherweise an, dass Mt bei der ersten Aussage an das »Hineingehen« in die eschatologisch-universale Gottesherrschaft denkt, bei der zweiten Aussage dagegen offenbar an die mögliche (bzw. unmögliche) Zugehörigkeit von Reichen zum gegenwärtigen Herrschaftsbereich Gottes (vgl. das Q-Logion Lk 11,20/Mt 12,28, wo auch bei Mt vom »Reich Gottes«, nicht vom »Himmelreich«, die Rede ist). 60

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ist also offenbar klar, dass sich das Wort Jesu auf jeden Menschen beziehen kann; deshalb antwortet Jesus, dass »bei Gott alles möglich« ist. Auch bei Lukas schließt sich in der zweiten Szene (Lk 18,24–27) die Feststellung an, dass Reiche67 »schwer« ins Gottesreich hineingehen werden (V. 24), und es folgt das Wort vom Kamel und dem Nadelöhr (V. 25). Da der »sehr reiche« Ņěġģė nach wie vor anwesend ist, wendet sich Jesus mit seinen Worten auch und gerade an ihn (ŭĎƵėċƉĞƲė, V. 24a), und es sind zudem dann nicht die Jünger, die auf das von Jesus Gesagte mit der Frage reagieren »Wer kann gerettet werden?«, sondern diese Frage wird von den im übrigen unbestimmt bleibenden ŁĔęƴĝċėĞďĜ gestellt (V. 26). Die Antwort Jesu (V. 27), dass das bei den Menschen Unmögliche bei Gott möglich ist68, dass also auch Reiche »gerettet« werden können, wird nicht nur von den Jüngern (und von den gegenwärtigen Rezipienten des Textes) gehört, sondern dies hört zusammen mit den anderen auch der sehr reiche Ņěġģė. Auf diese Weise hat die ganze zweite Erzählszene bei Lukas einen paränetischen und zugleich »einladenden« Zug erhalten – eine Tendenz, die an Lk 8,1–3 erinnert und die in Lk 19,1–10 noch deutlicher werden wird. Bei Matthäus eröffnet in der abschließenden dritten Szene (Mt 19,27– 29.30) Petrus das Gespräch, nicht anders als bei Markus. Petrus fragt nun aber ausdrücklich (V. 27), was »uns, die wir alles verlassen haben«, zuteil werden wird (ĞưŅěċŕĝĞċēŞĖȉė). Jesus antwortet darauf in V. 28 zunächst ganz anders als bei Markus, nämlich mit einer eschatologischen Verheißung, die sich auf die »Wiedergeburt«69, auf den Herrschaftsantritt des Menschensohnes und auf die damit verbundene Teilhabe der Jünger an der Herrschaft über »die zwölf Stämme Israels« bezieht.70 Erst danach folgt dann in V. 29 die Aufzählung dessen, was jemand verlassen hat »um meines Namens willen«71, verbunden mit der Verheißung des »hundertfachen« Ersatzes sowie des Erbes des ewigen Lebens.72 Die in Mk 10,30 gegebene sehr detaillierte In Lk 18,24 steht wie in Mk 10,23 ęŮĞƩġěƮĖċĞċŕġęėĞďĜ. Die Wendung in Lk 18,27 ist gegenüber Mk 10,27 verkürzt, ohne dass der Sinn ein anderer wäre. 69 Der Begriff Ěċĕēččďėďĝưċ bezieht sich auf die eschatologische Erneuerung der Welt, möglicherweise auf die Totenauferstehung (vgl. Luz, Matthäusevangelium III [s. Anm. 4], 129), jedenfalls sicher nicht wie in Tit 3,5 auf die Taufe. 70 Mt 19,28b par Lk 22,30b ist ein Q-Logion; es war möglicherweise Jesu Schlußwort in der Logienquelle. S. dazu s. J. Verheyden, The Conclusion of Q: Eschatology in Q 22,28–30, in: A. Lindemann (ed.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 695–718. Ob sich Ĕěưėďēė auf das Richten oder auf das Regieren bezieht, läßt sich kaum sagen; das Bild von den ĒěƲėęē spricht eher für letzteres, aber der sachliche Unterschied ist nicht groß, da in der Antike beides zusammengehört. 71 Damit ist die Wendung in Mk 10,29 knapp zusammengefaßt, obwohl Mt im Unterschied zu Lk den Begriff ďƉċččćĕēęė nicht vermeidet; ein absoluter Gebrauch wie in Mk 8,35; 10,29 fehlt bei Mt jedoch. 72 Zwischen der Frage des Jünglings in 19,16 und dem abschließenden Wort in 19,29 besteht eine Kongruenz, insofern hier wie dort von der ĐģƭċŭƶėēęĜ die Rede ist, aber das 67 68

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Aufzählung der zu gewinnenden Güter sowie der ausdrückliche Hinweis auf den Wechsel der »Zeiten«73 sind bei Matthäus entfallen. Das abschließende Logion in Mt 19,30 entspricht aber wieder wörtlich Mk 10,31; da es am Ende der unmittelbar folgenden Parabel von den Arbeitern im Weinberg wiederholt werden wird (Mt 20,16), gewinnt man den Eindruck, Matthäus habe dieses Gleichnis auch als eine Illustration für die zuvor dargestellte Thematik verstanden wissen wollen.74 Auch bei Lukas ist es in der dritten Erzählszene (Lk 18,28–30) Petrus, der darauf verweist, dass »wir« den Besitz verlassen haben.75 Dann aber hat Lukas in der Antwort Jesu (V. 29) die Aufzählung dessen, was verlassen wurde, gegenüber dem Mk-Text verändert: Unmittelbar nach dem Haus wird zuerst die (Ehe-)Frau genannt, von der im Mk-Text gar nicht gesprochen worden war, die bei Markus erwähnten »Brüder und Schwestern« sind in dem offenbar generisch gemeinten Begriff ŁĎďĕĠęư zusammengefaßt76, ebenso »Vater und Mutter« in dem Begriff čęėďȉĜ.77 Lukas kann sich also offenbar vorstellen, dass jemand »um des Gottesreiches willen« nicht nur Geschwister und Eltern, sondern auch die Ehefrau verläßt; dazu paßt, dass das Gespräch über die Ehescheidung in Mk 10,2–12 bei Lk fehlt.78 Die Verheißung dessen, was man als Ersatz gegenwärtig empfängt, ist auch bei Lukas gegenüber Markus stark verkürzt (ĚęĕĕċĚĕċĝưęėċ); aber die Unterscheidung zwischen der »gegenwärtigen Zeit« und dem »kommenden Äon« ist beibehalten worden, freilich ohne den Hinweis auf die Verfolgungen.79 Das abschließende Logion über »die Ersten und die Letzten« (Mk 10,31) hat Lukas nicht übernommen; es hatte schon in Lk 13,30 Verwendung gefunden.80 Verb ĔĕđěęėęĖďȉė begegnet erst im Munde Jesu, während der Jüngling das Verb ŕġďēė verwendet hatte. 73 Vgl. Mk 10,30a: őėĞȦėȘėĔċēěȦ; 10,30b: őėĞȦċŭȥėēĞȦőěġęĖƬėȣ. 74 Dafür könnte auch das explikative čƪě in der Gleichniseinleitung in 20,1a sprechen. 75 Lk schreibt ĞƩűĎēċ; möglicherweise empfand er das mk ĚƪėĞċ als zu scharf. 76 Dass Lk meint, es würden nur »Brüder«, nicht aber »Schwestern« verlassen, ist wenig wahrscheinlich. 77 Überdies hat auch Lk die mk Wendung (s.o. Anm. 56) korrigiert: ŖėďĔďė ĞǻĜ ČċĝēĕďưċĜĞęȘĒďęȘ. 78 Zu der Aussage des von Lk in 16,18 übernommenen Q-Logions (vgl. Mt 5,32) steht das nicht im Widerspruch; denn dort wird eine mit Wiederheirat verbundene Entlassung der Ehefrau verboten, und daran ist natürlich im Fall von Lk 18,29 nicht gedacht. Wolter, Lukasevangelium (s. Anm. 48), 602 deutet Lk 18,29 dahin, dass hier »aus der Perspektive des verheirateten Mannes alle familiären Relationen« genannt würden; Lukas wolle die Ehe »selbstverständlich nicht relativieren«, sondern es gehe ihm wie in 14,26 »nur um die Vollständigkeit seines Katalogs«. Der Wortlaut der Stelle weist freilich in eine andere Richtung. 79 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 603: »Jesus formuliert den Zusammenhang von Tun und Ergehen in einer Weise, die häufig in eschatologischen Diskursen anzutreffen ist: Die gegenwärtigen Differenzerfahrungen werden durch das zukünftige eschatische Heil mehr als überboten«. 80 In Lk 13,30 liegt das Logion in der Q-Fassung vor.

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III. Die unterschiedlichen Fassungen der Erzählung von der Begegnung zwischen Jesus und dem reichen Mann, wie sie in der vormarkinischen Überlieferung sowie in den Endtexten der drei synoptischen Evangelien und darüber hinaus auch in einigen Varianten von deren handschriftlicher Überlieferung vorliegen, zeigen, dass sich die frühen christlichen Gemeinden intensiv mit der Frage nach nach dem Verhältnis von Besitz und Heil81 und damit nach der ethischen Bewertung des Eigentums befaßt haben. Die Erfahrung, dass Besitz, zumal »Reichtum«82, die Nachfolge Jesu gefährden oder sogar verhindern kann, ist den Gemeinden vertraut.83 Aber die Schlußfolgerung, dass Menschen, die über (größeren) Besitz verfügen, gar nicht in die Nachfolge Jesu eintreten sollen, wurde am Ende nicht gezogen. In ihrer wahrscheinlich ältesten Fassung (Mk 10,17–22) spricht die Erzählung davon, dass der Reiche sich dem Ruf in die Nachfolge tatsächlich verweigert, weil er auf seinen Besitz nicht verzichten will; auf einer zweiten Überlieferungsstufe wurde daraus möglicherweise sogar gefolgert, dass Reiche definitiv nicht ins Gottesreich gelangen können (Mk 10,17– 22.23.25). Aber die in Mk 10,24 und vor allem in 10,26 f. vollzogenen, von Matthäus und Lukas im wesentlichen übernommenen und dann sogar noch verstärkten Veränderungen bedeuteten eine Korrektur des Gedankens, dass Menschen allein aufgrund ihrer herausgehobenen sozialen Stellung vom Heil ausgeschlossen sein könnten. Mit dem endlich obendrein angefügten Dialog zwischen Jesus und Petrus wird schließlich, vor allem in der Fassung von Mk 10,28–30.31, geradezu damit geworben, dass das Verlassen der bisherigen sozialen Bindungen um Jesu willen keineswegs in ein »Nichts« führt, sondern dass vor dem für den »kommenden Äon« verheißenen ewigen Leben schon »in der gegenwärtigen Zeit« eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit bereit steht. Weder Matthäus noch Lukas haben die Aussage aus Mk 10,30 übernommen, dass man den »hundertfachen« Ersatz des zuvor Verlassenen gegenwärtig »unter Verfolgungen« (ĖďĞƩĎēģčĖȥė) erlangt. Das muß nicht bedeuten, dass es zur Zeit und am Ort der Abfassung der beiden späteren Evangelien Verfolgungen nicht gegeben hätte; aber offenbar sahen es beide Evangelisten nicht als nötig an, Jesus diese Situation ausdrücklich erwähnen

81 »Ewiges Leben«, »Schatz im Himmel«, »Reich Gottes« und »gerettet werden« meinen inhaltlich dasselbe (s.o.). 82 Ein statistisch-soziologischer Befund hinsichtlich dessen, was mit »Reichtum« (ŕġģė ĔĞƮĖċĞċĚęĕĕƪ, Mk 10,22) gemeint ist, läßt sich aus den Texten nicht erheben; die Unterschiede zwischen »Reichtum« und »Armut« waren in der Antike extrem. 83 Vgl. auch etwa Mk 4,19.

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zu lassen. Später wird Klemens von Alexandria sogar ausdrücklich bestreiten, dass die Aussage von Mk 10,30 in dieser Form überhaupt sinnvoll sei.84

IV. Das Thema »Arm und Reich« begegnet in einigen neutestamentlichen Schriften, vor allem im Jakobusbrief, und dann natürlich auch bei späteren Autoren der Alten Kirche.85 Es war aber offenbar erst Klemens von Alexandria, der diese Problematik »monographisch« erörterte, und zwar in der Form eines ausführlichen Kommentars zu Mk 10,17–31. Welche Gründe ihn zur Abfassung seiner Schrift Quis dives salvetur? veranlaßt haben, braucht hier nicht näher erörtert zu werden.86 Für die Annahme, dass es sich um eine »Trostschrift« für reiche Christen handelt, die um ihre Seligkeit fürchten, könnte der Abschnitt 3,2–4,187 sprechen, wo den Adressaten Hoffnung zugesprochen wird; andererseits aber spricht Klemens in den Eingangsbemerkungen 1,1–2,4 von »den Reichen« in der 3. Person, und die Schrift als ganze macht jedenfalls nicht den Eindruck, als richte sie sich an eine bestimmte sozial definierte Leserschaft. Eine aktuelle Situation, durch die Klemens zur Abfassung veranlaßt wurde, sollte nicht konstruiert werden, zumal nicht einmal sicher ist, wann genau und wo die Schrift entstanden ist.88 Im folgenden soll die von Klemens vorgetragene Auslegung der neutestamentlichen Erzählung von der Begegnung Jesu mit dem Reichen nachgezeichnet und dabei in gewisser Weise als eine Fortsetzung der innerneutestamentlichen Auslegungsgeschichte des Textes aus Mk 10,17–31 begriffen werden. Angesichts der allgemeinen Bevorzugung des Matthäusevangeli84

S.u. S. 333 f. A. M. Ritter, Christentum und Eigentum bei Klemens von Alexandrien auf dem Hintergrund der frühchristlichen »Armenfrömmigkeit« und der Ethik der kaiserzeitlichen Stoa, in: Ders., Charisma und Caritas. Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche, Göttingen 1993, 283–307, hier: 287–289 gibt eine knappe Übersicht über die entsprechenden Texte. 86 Vgl. Ritter (s. die vorige Anm.), 289 f. Anm. 29. 87 Alle oben im Text genannten Stellenangaben beziehen sich auf Quis dives salvetur? Im griechischen Text folge ich der Ausgabe: Clemens Alexandrinus. Dritter Band. Stromata Buch VII und VIII. Excerpta ex Theodoto. Ecloge Propheticae. Quis dives salvetur. Fragmente, hg. von O. Stählin, in zweiter Auflage neu hg. von L. Früchtel, zum Druck besorgt von U. Treu, GCS 17, Berlin 1970, 159–191. Die deutsche Übersetzung orientiert sich weitgehend an: Klemens von Alexandrien, Welcher Reiche wird gerettet werden? Deutsche Übersetzung von O. Stählin, bearb. von M. Wacht, SKV 1, München 1983 (gelegentliche meist geringfügige Abweichungen von dieser Übersetzung werden nicht ausdrücklich vermerkt). Kurze Anspielungen auf die Erzählung von Jesus und dem Reichen zeigen sich u.a. auch in Strom II 255,18–20; IV 15,4. 88 Klemens mußte Alexandria im Jahre 202/203 verlassen. 85

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ums in der Alten Kirche89 ist es höchst überraschend, dass Klemens seinen Ausführungen nicht die populär gewordene Matthäus-Fassung (»reicher Jüngling«) zugrundelegt, sondern den nach unserer Kenntnis früher abgefaßten, in der Antike jedoch selten rezipierten Mk-Text, ohne dass die Gründe dafür zu erkennen sind.90 Klemens beginnt mit dem Hinweis darauf, dass es seelsorglich geboten sei, Reichen weder zu schmeicheln noch sie als endgültig vom Heil ausgeschlossen anzusehen. Ein besonderes Problem verbinde sich mit der Frage, wie das Logion vom Kamel und dem Nadelöhr zu verstehen sei (2,2–4). Um hier zu einer Antwort zu kommen, müsse man auf die Texte der Evangelien über die Reichen hören, damit diese Texte, wie Klemens sagt, »sich selbst erklären und zuverlässig erläutern« (4,2).91 Nach dieser hermeneutischen Vorbemerkung bietet Klemens den vollständigen Text Mk 10,17–31, und zwar über weite Strecken entsprechend der nach unserer Kenntnis ältesten erreichbaren Textfassung (»Nestle-Aland«).92 Anschließend erwähnt er ausdrücklich, so finde sich der Text »geschrieben im Evangelium nach Markus« (őėĞȦĔċĞƩ÷ǬěĔęėďƉċččďĕưȣčƬčěċĚĞċē, 5,1 [p. 163,13]); in den übrigen anerkannten Evangelien werde aber, trotz geringer Abweichungen im Wortlaut, sinngemäß dasselbe gesagt.93 Nach einigen weiteren hermeneutischen Bemerkungen (5,2–6,1) sagt Klemens in der Auslegung der ersten Szene der Erzählung (»Jesus und der Reiche«, Mk 10,17–22.23), die wichtigste der zum »(ewigen) Leben« führenden Lehren Jesu bestehe »in der Erkenntnis, dass der ewige Gott der Geber ewiger Güter und der erste und höchste und der eine und gute Gott 89

Vgl. W.-D. Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus, WUNT II/24, Tübingen 1987. 90 In der Literatur wird erstaunlicherweise immer wieder gesagt, Klemens biete eine Auslegung von Mt 19; das ist nicht der Fall. Denkbar wäre, dass es sich um ein indirektes Indiz für die Tradition der Abfassung des Mk in Alexandria handelt; aber diese Tradition ist zu dieser Zeit noch nicht belegt, s. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 6), 5. Aus dem evangelium secundum Marcum zitiert Klemens auch in einem lat. erhaltenen Fragment die Aussage Jesu vor dem Hohen Rat Mk 14,61 f. (p. 209,8–11). Namentlich erwähnt werden auch »Lukas« (zweimal) und »Matthäus« (einmal, s.u.), aber niemals verbunden mit einem derart ausführlichen Zitat wie hier der Text aus dem »Markusevangelium«. 91 p. 162,15 f.: … ŒċğĞȥėŒěĖđėƬċĜčēėęĖƬėęğĜĔċƯőĘđčđĞƩĜŁĝĠċĕďȉĜ. 92 4,4–10 (p. 162,19–163,12). Auf deutliche Abweichungen von »unserem« Mk-Text wird im Zusammenhang der folgenden Auslegung hingewiesen werden. 93 Ob Klemens damit indirekt die Kenntnis einer weiteren Textfassung andeuten will, läßt sich nicht sagen. Im sog. »Nazaräer-Evangelium«, das freilich spät entstanden sein dürfte, wird erzählt, Jesus habe dem Reichen nach dessen Weigerung, ihm zu folgen, gesagt, er habe das Gebot der Nächstenliebe mißachtet, denn »siehe, viele deiner Brüder, Söhne Abrahams, sind eingehüllt von Dreck, sterben vor Hunger, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und gar nichts kommt aus ihm heraus zu ihnen« (D. Lührmann, Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen, NT.S 112, Leiden 2004, 251).

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ist« (7,1); deshalb weise Jesus als Antwort auf die Anrede »guter Lehrer« auf Gott hin (Mk 10,1894). Klemens bietet sodann eine deutlich an paulinischer Theologie orientierte Auslegung des zwischen Jesus und dem Fragesteller geführten Dialogs über das Halten der Gebote: Durch seine an Jesus gerichtete Frage lasse der Mann sein Wissen erkennen, dass das Halten des Gesetzes nicht zum Leben führt.95 Jesus verwerfe in seiner Antwort das Gesetz selbstverständlich nicht96, aber auch er wisse, dass das Halten der Gebote den Menschen nicht zur Vollkommenheit führt. Darum spreche Jesus den Fragenden mit den (freilich nur in der Mt-Fassung überlieferten) Worten an: »Wenn du vollkommen werden willst« (10,1)97; das ďŭĒƬĕďēĜ zeige, dass der Angeredete als freier Mensch die Wahl habe (10,3).98 Ungeachtet der hier verwendeten Mt 19,21 entsprechenden Formulierung wechselt Klemens nicht zum Mt-Text; das zeigt die Fortsetzung, wenn Jesus sagt: »Eines fehlt dir.«99 Dieses Eine ist für Klemens »das Gute«, das über das Gesetz hinausreicht und das der Besitz »der (wahrhaft) Lebenden« ist (10,3). Jener Mann aber ging daraufhin weg und zeigte so, dass er gar nicht wirklich das Leben hatte erlangen wollen (10,4 f.).100 Die Ursache für dieses Verhalten des Mannes war die an ihn gerichtete Forderung Jesu: »Verkaufe, was du hast …« (11,1). Auf die Frage, was diese Aussage bedeutet (ĞưĎƫĞęȘĞƲőĝĞēėà p. 166,24 f.), gibt Klemens die Antwort, es sei nicht gemeint, dass der Mann sein Vermögen wegwerfen solle; vielmehr solle er aus seiner Seele »die gedanklichen Bindungen« an den Besitz vertreiben.101 Es sei nämlich keineswegs erstrebenswert, überhaupt keinen Besitz zu haben; andernfalls müßten ja etwa Bettler, die von Gott nichts wissen, allein aufgrund ihrer Armut die glücklichsten und am meisten von Gott geliebten Menschen sein und das ewige Leben besitzen (11,3). Klemens erinnert daran, dass es freiwilligen Besitzverzicht immer schon gegeben habe; solches Handeln sei aber oft mit Übermut und Ruhmsucht und Prahlerei verbunden gewesen, als habe der Betreffende etwas eigentlich Übermenschliches geleistet (11,4–12,2). Es könne außerdem auch geschehen, dass sich jemand des Besitzes entledigt, dass aber das Verlangen nach 94

Natürlich fehlen alle »Stellenangaben«, da es eine Kapitel- und Verszählung noch nicht gab. 95 8,2–5. Klemens argumentiert mit deutlichen Anspielungen auf Gal 2,21 f. (p. 164,30 f.) und auf Röm 1,17 (p. 165,12). 96 9,1–2, mit einer Anspielung auf Röm 7,12 (p. 165,19). 97 p. 165,25: ďŭĒƬĕďēĜĞƬĕďēęĜčďėƬĝĒċē. Die Verwendung des Verbs čďėƬĝĒċē zielt offenbar darauf, dass ein bis jetzt nicht bestehender Zustand erst noch erreicht werden soll. 98 Ein Bezug auf das ďŭĒƬĕďēĜ … findet sich auch in Strom III 55,2. 99 10,3 (p. 166,4): Ŗė ĝęē ĕďĉĚďē. Diese Wendung fehlt bei Mt; der Klemenstext entspricht hier Lk 18,22. 100 Klemens verweist als Parallele auf die von Jesus an Martha gerichteten Worte in Lk 10,38–42. 101 11,2 (p. 166,26 f.): ĞƩĎƲčĖċĞċ ĚďěƯġěđĖƪĞģėőĘęěưĝċēĞǻĜĢğġǻĜ.

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Besitz damit keineswegs aufhört: »Denn es ist unmöglich und undenkbar, dass einer, dem es an dem fürs Leben Nötigen fehlt, nicht in seinem Denken niedergebeugt und von dem Höheren abgehalten wird, da sein Sinn immer darauf gerichtet ist, sich jenes auf irgendeine Weise oder irgendwoher zu verschaffen« (12,5). Klemens erinnert dann daran, dass Jesus fordert, man solle Hilfebedürftigen Gutes tun (13,2–6); Bezugspunkt ist hier vor allem das Bild vom Endgericht in Mt 25,31–46. Hätte Jesus tatsächlich befohlen, man habe auf jeglichen Besitz zu verzichten, dann würde das bedeuten: Wir hätten »zu geben und nicht zu geben, [andere] zu speisen und nicht zu speisen, aufzunehmen und wegzuschicken, Anteil zu geben und nicht Anteil zu geben, was doch alles völlig unlogisch wäre« (ƂĚďěłĚƪėĞģėŁĕęčƶĞċĞęė, 13,7 [p. 168,19–22]). Als Erläuterung zu seiner Aussage, dass man das Vermögen, das doch dem Nächsten nütze, nicht wegwerfen soll, gibt Klemens in 14,1 eine etymologische Erklärung der entsprechenden Begriffe: Es gehe zum einen um ĔĞƮĖċĞċ, die »besitzenswert« seien (ĔĞđĞƩƁėĞċ), es gehe zum andern um ġěƮĖċĞċ, die für die Menschen »von Nutzen« seien (ġěƮĝēĖċƁėĞċ ĔċưďŭĜġěǻĝēėŁėĒěƶĚģė).102 Besitz sei von Gott geschaffen, und es verhalte sich mit ihm wie mit einem Werkzeug: Wenn man es geschickt (ĞďġėēĔȥĜ) benutzt, so ist es seinerseits ebenfalls »geschickt« (ĞďġėēĔƲė őĝĞēė, 14,1 f. [p. 168,23–27]); Besitz sei dementsprechend von sich aus weder »gut« noch »schlecht«, sondern es komme darauf an, ihn »gut anwenden zu können« (14,5).103 Wolf-Dieter Hauschild hat gemeint, mit der hier von Klemens vorgetragenen Argumentation werde, »wenn man auf die Entwicklung der sozialen Praxis der alten Kirche und ihrer theologischen Fundierung blickt, eine nicht ungefährliche Bahn eingeschlagen«, da »den Reichen ein theologisches Alibi für ihren Wohlstand geliefert« werde.104 Aber solche Kritik läßt unberücksichtigt, dass Klemens in seiner Schrift nicht eine von ihm selbst entwickelte sozialpolitische Position vertritt, für die er nachträglich einen biblischen Text sucht, sondern dass er  – freilich um einer bestimmten vorgegebenen 102 Von dem Reichen wird in dem von Klemens zitierten Text in 4,7 gesagt, er besitze »viele Güter und Äcker« (ġěƮĖċĞċĚęĕĕƩĔċƯŅčěęğĜ, p. 162,28); so werden offensichtlich Mk 10,22 (ĔĞƮĖċĞċ, also vor allem Grundbesitz) und Mk 10,23 (ġěƮĖċĞċ, also vor allem Geldbesitz) miteinander verbunden. Offenbar wollte Klemens anzeigen, dass der Mann sowohl über Geld als auch über Immobilien verfügte und dass deshalb seine Entscheidung über die Nachfolge negativ ausfiel. Vgl. Ritter, Christentum und Eigentum (s. Anm. 85), 296. 103 Ähnlich heißt es in 15,5, was vernünftig gebraucht werde, bringe Nutzen; »die äußeren Güter schaden nicht« (ĞƩĎƫőĔĞƱĜęƉČĕƪĚĞďē [p. 169,27]). 104 Hauschild, Christentum und Eigentum (s. Anm. 35), 37. Klemens legitimiere mit seiner etymologischen Auslegung den Reichtum schöpfungstheologisch und damit verlasse er die frühere eschatologische Bewertung der Eigentumsproblematik.

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Thematik willen  – von einer biblischen Überlieferung ausgeht und diese »gegenwärtig« zu verstehen versucht. Die grundsätzliche Kritik an den Aussagen des Klemens wäre erst dann berechtigt, wenn sich zeigen ließe, dass er in seiner Exegese um des von ihm angestrebten Zieles willen die biblische Überlieferung mißachtet oder bewußt einer Fehldeutung unterwirft. Klemens betont, Jesus habe in die Nachfolge gerufen; damit werde er selbst zum »Weg« für den, der reinen Herzens ist (16,2). »Denn wer Vermögen und Gold und Silber und Häuser als Gottes Gaben besitzt und Gott, der es gegeben hat, damit zum Wohl der Menschen dient und sich dessen bewußt ist, dass er all dieses mehr seiner Brüder als seiner selbst wegen besitzt, und Herr seines Vermögens, nicht ein Sklave seines Besitzes ist …, der wird von dem Herrn selig gepriesen und arm im Geiste genannt, würdig, ein Erbe des Himmelreiches zu werden, nicht ein Reicher, der das (ewige) Leben nicht gewinnen kann.« Wer dagegen an seinen Besitz gefesselt sei, der werde von vornherein gar nicht nach dem Himmelreich trachten; denn er sei »ein Mensch, der nicht ein Herz, sondern einen Acker oder ein Bergwerk in sich trägt und notwendigerweise in dem erfunden werden wird, was er sich gewählt hat« (16,3). An dieser Stelle zeigt sich nach Adolf Martin Ritter »der entscheidende Differenzpunkt« zwischen Klemens und der stoischen Philosophie: Für Klemens bemesse sich der rechte Gebrauch des Reichtums in erster Linie danach, »inwieweit die Nächstenliebe in die Tat umgesetzt wird«; dies sei verbunden mit der Einsicht, »daß nunmehr Gottes- und Menschenliebe in eins gesehen werden, daß die ›Freiheit‹ des Christen in der dienstwilligen ›Unterordnung‹ unter den Nächsten ihren ›notwendigen Komplementärbegriff‹ findet und nicht länger ĚěęĔęĚƮ, sondern ęŭĔęĎęĖƮ Sinn und Ziel der Paränese ist«.105 Ausdrücklich unterscheidet Klemens einen erstrebenswerten von einem verwerflichen Reichtum, und er meint, dasselbe gelte auch von der Armut. Deshalb habe Matthäus in der ersten Seligpreisung (5,3) »hinzugefügt« (ĚěęĝƬĒđĔďė): ›Selig die Armen‹  – in welcher Weise? (ĚȥĜà)  – ›im Geiste‹« (ĞȦĚėďƴĖċĞē).106 Klemens vergleicht dann Reichtum mit körperlicher Schönheit: Niemand werde ĎēƩĔƪĕĕęĜĝƶĖċĞęĜ das (ewige) Leben gewinnen oder verlieren, sondern alles hänge ab von der Art des Umgangs mit dem eigenen Körper (18,2).107 Der reiche Mann in der Erzählung habe die Worte Jesu nicht richtig verstanden, und er habe nicht begriffen, dass man 105 Ritter, Christentum und Eigentum (s. Anm. 85), 296 f. unter Verweis auf A. Dihle, Art. Ethik, RAC VI, Stuttgart 1966, 646–749, hier: 725. 106 17,5 (p. 170,33 f.). Ebenso deutet Klemens den Makarismus Mt 5,6: Wahrhaft arm sind die, die die Gerechtigkeit Gottes nicht geschmeckt haben. 107 Klemens zitiert dazu 1 Kor 3,17: »Wer aber den Tempel Gottes zerstört, der wird (selbst) zerstört werden« (sc. von Gott).

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gleichzeitig besitzend und arm sein kann108; so habe er »das [eigentlich nur] Schwierige für sich [ganz] unmöglich gemacht« (20,1).109 Die zweite Szene »Jesus und die Jünger« (Mk 10,23–27) wird von Klemens vollständig zitiert; zu Mk 10,24 bietet er jene Lesart, die von den »auf ihren Besitz Vertrauenden« spricht.110 In der Auslegung geht er dann aber auf die Aussagen in Mk 10,23.24b gar nicht ein, sondern er bezieht sich sofort auf die Reaktion der Jünger, die angesichts der von ihnen vernommenen Weisung Jesu an den Reichen erschrecken und fragen: »Wer kann gerettet werden?« (20,3) Mit dieser Frage, so sagt Klemens, zeigen die Jünger, dass sie, anders als der reiche Mann, Jesus richtig verstanden hatten; es war ihnen nämlich bewußt, dass sie die Begierden (ĚƪĒđ) nach Besitz noch keineswegs abgelegt hatten, auf die sich – wie sie wußten – Jesus in seiner Aussage bezogen hatte. Die von Klemens verwendete Begrifflichkeit entspricht stoischer Philosophie bzw. Psychologie.111 Aber die Basis der Argumentation des Klemens ist nicht das stoische Denken112, sondern sein Bemühen, den Aussagen in Mk 10,17–31 zu folgen; schon in der mk Erzählung selber ist ja das Erschrecken der Jünger angesichts der Aussagen Jesu in V. 23.25 nur dann plausibel, wenn die Jünger selber sich in irgendeiner Weise davon angesprochen fühlen. Auf das Erschrecken der Jünger antwortet Jesus (21,1): »Was bei Menschen unmöglich ist, bei Gott ist es möglich.«113 Klemens deutet dies nicht so, als komme es auf das Tun und Denken der Menschen überhaupt nicht an; vielmehr gelte (21,2): »Wenn die Seelen ihren Willen zeigen, dann steht ihnen Gott mit seinem Geist bei; wenn sie aber in ihrem Eifer nachlassen, dann wird ihnen auch der von Gott gegebene Geist entzogen; denn jemand wider seinen Willen zu retten, ist Gewalt, jemand [sc. zu retten], der es sich wünscht, ist Gnade.« In der dritten Szene (»Petrus und Jesus«, Mk 10,28–30.31) zeigt sich nach Klemens, dass Petrus das Wort Jesu richtig verstanden hatte. Seine Aussage »Wir haben alles verlassen« beziehe sich nämlich gar nicht auf den doch 108

20,1 (p. 172,19 f.). Klemens verdeutlicht diese Dialektik durch eine Anspielung auf 1 Kor 7,29–31 (Schätze »haben und nicht haben, die Welt gebrauchen und nicht gebrauchen«). 109 Hier liegt ein Bezug zu Mk 10,24 (ĚȥĜĎƴĝĔęĕęė) und 10,27 (ŁĎƴėċĞęė) vor. 110 4,9 (p. 162,32–163,1): ĞƬĔėċĚȥĜĎƴĝĔęĕƲėőĝĞēĞęƳĜĚďĚęēĒƲĞċĜőĚƯġěƮĖċĝēėďŭĜ ĞƭėČċĝēĕďưċėĞęȘĒďęȘďŭĝďĕĒďȉė (nach Greeven ist dies die ursprüngliche Lesart in Mk 10,24, s.o.). 111 Vgl. dazu M. Pohlenz, Klemens von Alexandria und sein hellenisches Christentum (1943), in: Ders., Kleine Schriften, hg. von H. Dörrie, Band I, Hildesheim 1965, 481–558, sowie Ritter, Christentum und Eigentum (s. Anm. 85). 112 Ritter, Christentum und Eigentum (s. Anm. 85), 292: »Die Divergenzen zwischen Klemens und der Stoa [sind] weitreichender … als die unleugbaren Übereinstimmungen«; Ritter zeigt dies eingehend aaO., 292–300. 113 Die Formulierung entspricht der in 4,9 (p. 163,4f.): ƂĞēĚċěƩŁėĒěĨĚęēĜŁĎħėċĞęė ĚċěƩĒďȦĎğėċĞĦė. Gegenüber Mk 10,27 ist die Sentenz also verkürzt.

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sehr geringen materiellen Besitz, den die Jünger bei ihrer Berufung zurückgelassen hatten; sie beziehe sich vielmehr auf den »alten geistigen Besitz (ĞƩĚċĕċēƩėęđĞƩĔĞƮĖċĞċ) und die Krankheiten der Seele«, die sie um der Nachfolge willen aufgegeben hatten (21,6). Die von Jesus gegebene Antwort ist bei Klemens im ersten Teil gegenüber Mk 10,29 deutlich gekürzt: »Wahrlich, ich sage euch, wer das Seine (ĞƩűĎēċ) verläßt und Eltern und ›Brüder‹ und Besitz um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird empfangen hundertfach.«114 Damit sei keineswegs gemeint, dass man sich von seiner Familie trennen oder sie womöglich sogar »hassen« müsse115; verworfen werde vielmehr die Rücksicht auf die Verwandten, sofern solche Rücksichtnahme »dem Heil (ĝģĞđěưċ) im Wege steht« (22,6). Sei man dazu imstande, über solche Beziehungen, einschließlich des persönlichen Besitzes, Herr zu sein, so werde man von Christus all dessen durchaus nicht beraubt; sei man dazu allerdings nicht imstande, dann sei es geboten, sich sofort davon zu trennen (24,1).116 Dem entspreche Jesu Wort in Mk 10,30b, das Klemens in seiner Auslegung in 25,1 in derselben ungewöhnlichen Formulierung als eine rhetorische Frage zitiert wie eingangs im Text (4,10): »Jetzt in dieser Zeit Äcker und Besitz und Häuser und ›Brüder‹ zu haben unter Verfolgungen – wozu (ďŭĜ ĚęȘà)?«117 Klemens betont in seiner Auslegung (25,3–6), dass Jesus es ablehnt (ŁĚęĎęĔēĖƪĐďē), die irdischen Güter »unter Verfolgungen« zu haben. Es gebe nämlich zwei Arten von Verfolgung: Die eine komme »von außen« (ŕĘģĒďė), »wenn die Menschen aus Feindschaft oder Neid oder Gewinnsucht oder unter dem Einfluß des Teufels die Gläubigen verfolgen«; die andere und schlimmere Verfolgung aber sei die »von innen« (ŕėĎęĒďė), die aus der eigenen Seele komme. Letztere habe Jesus gemeint: »Wenn du mit einer solchen Verfolgung den sichtbaren Reichtum besitzest oder die leiblichen Brüder oder die anderen Pfänder der Liebe hast, so verlaß all diesen zum Unheil führenden Besitz (ĚċčĔĞđĝưċė)!«(25,7) Dazu zitiert Klemens 2 Kor 4,18: »Das Sichtbare nämlich ist vergänglich, das nicht Sichtbare aber ist ewig«, und er fügt hinzu: »In der gegenwärtigen Zeit (ĞȦĚċěƲėĞēġěƲėȣ) [gibt es] das eines schnellen Todes Sterbende (ƙĔƴĖęěċ) und Unbeständige (ŁČƬČċēċ), in der kommenden [Zeit] aber ist ewiges Leben«, und damit wird die abschließende Wendung aus Mk 10,30 aufgenommen (25,8). Den in Mk 10,30 enthaltenen positiven Bezug auf die neu zu gewinnende familia Dei erkennt Klemens nicht, oder er will ihn nicht erkennen; offenbar will er 114 Der in 4,10 p. 163,7–9 zitierte Text wird in der Auslegung wörtlich wiederholt (22,1 p. 174,11–13). 115 Klemens zitiert in 22,2 das Logion Lk 14,26. 116 Klemens führt erläuternd eine Reihe von biblischen Beispielen an, 23,1–24,2. 117 Wacht (s. Anm. 87), 17 Anm. 1 übersetzt ďŭĜĚęȘà mit: »Wozu ist das nütze?«, unter Verweis auf 25,3: ĞƱĎƫĖďĞƩĎēģčĖȥėĞċȘĞċŖĔċĝĞċŕġďēėŁĚęĎęĔēĖƪĐďē (p. 176,3 f.).

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erreichen, dass die (nur bei Mk begegnende) Wendung ĖďĞƪĎēģčĖȥė nicht als ein Teil der den Jüngern gegebenen Verheißung Jesu aufgefaßt wird.118 Schließlich zitiert Klemens das Wort aus Mk 10,31 über die Ersten und die Letzten in einer von Markus leicht abweichenden Fassung.119 Dabei betont er sofort, im Zusammenhang des Themas Reichtum sei eine Auslegung dieses Wortes unnötig: »Denn es bezieht sich nicht nur auf die Wohlhabenden (ĚęĕğĔĞƮĖęėċĜ), sondern ohne Ausnahme auf alle Menschen, die sich einmal dem Glauben hingegeben haben« (26,1). Danach stellt Klemens als ein gewisses Zwischenergebnis fest, er glaube gezeigt zu haben, dass der Heiland (žĝģĞƮě) die Reichen keineswegs vom Heil ausgeschlossen habe, »wenn sie nur fähig und willig sind, sich den Geboten Gottes zu unterwerfen, und wenn sie ihr eigenes Leben höher achten als die zeitlichen Güter und unverwandten Blickes auf den Herrn schauen« (26,2). Ausdrücklich erwähnt Klemens in 26,3 f. den Fall, dass jemand in eine reiche Familie hineingeboren wurde; dazu stellt er fest, dass Gott doch geradezu ein Unrecht beginge, wenn dieser Mensch allein aufgrund seiner Herkunft des ewigen Lebens beraubt würde. Erst jetzt (26,7) wendet sich Klemens der ĚċěċČęĕƮ vom Kamel und dem Nadelöhr zu, das in 2,2 Ausgangspunkt der ganzen Schrift gewesen war, das in der Auslegung bis dahin aber übergangen wurde. »Das Kamel, das auf einem engen und schmalen Pfad dem Reichen zuvorkommt, soll noch eine höhere Bedeutung haben«, stellt Klemens fest (ĝđĖċēėƬĞģĖƫėęƏėĞē ĔċƯƊĢđĕƲĞďěęėŞĔƪĖđĕęĜĔĞĕ, 26,8).120 Jesus habe dieses Bild gebraucht, weil es die Vermögenden lehren soll, die Sorge für ihr Heil (ĝģĞđěưċ) nicht aufzugeben, als wären sie bereits verdammt oder als sollten sie ihren Besitz ins Meer werfen; sie sollen vielmehr lernen, auf welche Weise und wie sie den Reichtum zu verwenden und wie sie das (ewige) Leben zu erwerben haben (27,1). Jesus habe, als er nach dem größten Gebot gefragt worden sei, das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe genannt (27,3–28,2) und als Erläuterung die Geschichte (ĕƲčęĜ) von dem unter die Räuber Gefallenen (Lk 10,30–37) erzählt. Der damit verbundene Dialog über die Frage, wer dem Opfer der Nächste geworden sei, und Jesu abschließendes Wort: »Geh hin und tu desgleichen« ließen erkennen, »dass aus der Liebe das Wohltun erwächst« (28,4). Klemens deutet den Samaritaner auf Christus (29,2), denn 118 Aus 25,3 war hervorgegangen, dass Klemens eine reale Verfolgung der Gläubigen durchaus kennt. 119 26,1 (p. 176,27): ŕĝęėĞċēęŮĚěȥĞęēŕĝġċĞęēĔċƯęŮŕĝġċĞęēĚěȥĞęē. 120 Die dann folgende Ankündigung, dieses »Geheimnis des Herrn« könne man in der »Erklärung der Grundursachen und der Theologie« (őėĞǼĚďěƯŁěġȥėĔċƯĒďęĕęčưċĜ őĘđčƮĝďēĖğĝĞƮěēęėĞęȘĝģĞǻěęĜ) kennenlernen (p. 175,25 f.) bezieht sich nicht auf eine weitere Schrift, sondern vermutlich auf einen möglicherweise nicht vollendeten Abschnitt in den Stromateis (s. die Einleitung zu dem in Anm. 87 genannten Band, dort p. XXV).

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er habe sich als der Nächste erwiesen (29,2–6). Also stehe an erster Stelle derjenige, der Christus liebt; an zweiter Stelle stehe der, der »diejenigen ehrt und versorgt, die zum Glauben an jenen gekommen sind«; dafür beruft sich Klemens abermals auf das in Mt 25,31–46 erzählte Bild vom Endgericht (30,2–5). In 31,1–6 belegt Klemens durch weitere biblische Zitate, darunter Lk 16,9 (»Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon«), »dass jeder Besitz, den jemand allein für sich als sein Eigentum besitzt und nicht den Bedürftigen zu allgemeinem Gebrauch zur Verfügung stellt, seinem Wesen nach ungerecht ist, dass es aber möglich ist, mit den Mitteln dieses ungerechten Besitzes auch eine gerechte und heilbringende Tat zu vollführen, nämlich einen von denen zu erquicken, die eine ewige Wohnung bei dem Vater haben« (31,6).121 Klemens betont, dass uns das Geben geboten ist, nicht etwa das Warten auf eine an uns gerichtete Bitte (31,7–9). Und er fügt in abermaliger Aufnahme des Wortes aus Lk 16,9 hinzu, zum »Freund« werde man nicht aufgrund einer einmaligen Gabe, sondern dank dauerhafter Hilfeleistung (32,6). Dabei solle man nicht selber darüber entscheiden wollen, wer der Gabe würdig und wer ihrer womöglich »unwürdig« ist. Wer nämlich »prüfen« (ĎęĔēĖƪĐďēė) wolle, ob der andere einen Anspruch darauf hat, etwas zu erhalten, stehe in der Gefahr, den Bedürftigen, den Gott liebt, zu übersehen, und dafür drohe als Vergeltung die ewige Strafe im Feuer (33,2 f.).122 Klemens folgert: »Öffne dein Herz (ĞƩĝĚĕƪčġėċ) all denen, die als Jünger Gottes eingeschrieben sind, und schau nicht verächtlich weg wegen ihres Körpers und versage ihnen deine Teilnahme nicht mit Rücksicht auf ihr Lebensalter« (33,5); anschließend stellt er weitere Beispiele für Menschen vor, die nicht verachtet werden dürfen (34,1–36,3). Im vorletzten Teil seiner Schrift (37,1–41,7) argumentiert Klemens in unterschiedlicher Weise zugunsten einer Praxis der Liebe, und er appelliert dabei an die Bereitschaft zur Umkehr. Abschließend erzählt er dann in 42,1–15 als Beispiel einen »wahren Bericht« (ęƉ ĖȘĒęė ŁĕĕƩ ƁėĞċ ĕƲčęė) über das Wirken des Apostels Johannes, »der einen abtrünnigen Schüler, der zum Räuberhauptmann geworden ist, für die Kirche zurückgewinnt«.123 Wer Buße tue, werde bei der Parusie im Gericht bewahrt bleiben; wer aber sündige »und das üppige Leben hier auf der Erde höher schätzt als das ewige 121

Zu 31,6 (sowie zu Paed II 120,2) stellt Hauschild, Christentum und Eigentum (s. Anm. 35), 40 fest: »Am Rande erwägt Klemens also, daß die derzeitige Eigentumsverteilung nicht der eigentlichen Ordnung Gottes entspricht. Aber er bestreitet nicht prinzipiell die Legitimität von Vermögensbesitz.« Klemens habe hier nicht nur Christen im Auge, »sondern ein allgemeines, schöpfungstheologisch begründetes Gesetz, wobei er stoische Gedanken mit dem Grundsatz christlicher Nächstenliebe verbindet«. 122 Klemens zitiert zusätzlich die Aufforderung, nicht zu richten (Mt 7,1 f.; Lk 6,37 f.). 123 So die Zusammenfassung der Erzählung vom »geretteten Jüngling« bei H. von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, UB 13, Stuttgart 31955, 41.

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Leben und sich wegwendet, wenn der Heiland ihm Vergebung anbietet, der soll die Schuld nicht mehr auf Gott noch auf den Reichtum noch auf seine früheren Verfehlungen schieben, sondern auf seine eigene Seele, die vorsätzlich ins Verderben geht« (42,18).

V. Die Ausführungen des Klemens von Alexandria zur Frage des Eigentums sind vielfach untersucht und kommentiert worden. Bei Ernst Troeltsch findet sich das oft zitierte Urteil, Klemens habe mit seiner »Allegorisierung der Geschichte vom reichen Jüngling, der nicht die Güter, sondern die an den Gütern hängende Gesinnung veräußern, übrigens aber den Reichtum durch Liebestätigkeit energisch nützen« solle, »die dem Reichtum günstigste und dabei ökonomisch verständigste Schrift« verfaßt, die »überdies von einer feinen und zarten Frömmigkeit erfüllt« sei.124 Für Martin Dibelius, der in manchen Aussagen der etwas früher verfaßten Schrift ›Hirt‹ des Hermas Anzeichen dafür entdeckt, wie »die Einbürgerung der Reichen in der Kirche … im Werden« gewesen sei125, zeigt die Schrift des Klemens, »in welchem Maße« diese Einbürgerung bereits »vollzogen ist«: Klemens hat »die evangelische Geschichte vom Reichen« umgedeutet und die Weisung ›verkaufe, was du hast‹ umgedeutet »auf die Reinigung der Seele von der Sucht nach Schätzen«; eine Umdeutung sei es auch, dass Klemens »die Meinung von einem religiösen Vorzug der bloßen Armut weit von sich weist«.126 In den 1970er Jahren wurde das Thema »Eigentum« auch mit Blick auf die frühe Geschichte der christlichen Kirche eingehend und kontrovers erörtert. Wolf-Dieter Hauschild untersuchte in seiner Münchner Antrittsvorlesung 1971 das »Problem eines altchristlichen ›Sozialismus‹«127, und er stellte dabei fest, für die Kirchenväter habe sich »die Eigentumsproblematik weitgehend auf die Frage nach der Berechtigung des Reichtums redu124

E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Gesammelte Schriften I, Tübingen 1912, 113 Anm. 57. Das Urteil bezieht sich auf die Zeit des von Troeltsch hier so genannten »Frühkatholizismus«. 125 M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, KEK XV, hg. und ergänzt von H. Greeven, Göttingen 111964, 66. Der ›Hirt‹ des Hermas ist eine um 150 in Rom verfaßte Schrift mit apokalyptischer Tendenz, derzufolge reiche Menschen nicht zur wahren Kirche gehören können. Vgl. D. Hellholm, Der Hirt des Hermas, in: W. Pratscher (Hg.), Die Apostolischen Väter. Eine Einleitung, UTB 3272, Göttingen 2009, 226–253. 126 Die Worte des Jak über Arm und Reich zeigen den Verfasser »als energischen Vertreter des alten und wieder neu belebten Armenstolzes«, aber sie verraten auch, »daß in der Christenheit seiner Zeit und seiner Umwelt dieser Stolz einer weltförmigeren Beurteilung des Reichtums zu weichen beginnt« (Dibelius, ebd.). 127 Hauschild, Christentum und Eigentum (s. Anm. 35).

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ziert«.128 Zunächst habe der ebionitische »Grundsatz der Unverträglichkeit von Christsein und Vermögensbesitz« gegolten; doch dann habe sich die Lage dadurch geändert, »daß in zunehmendem Maße begüterte Christen in den Gemeinden zu finden sind«, die nun »in einen Konflikt zwischen ihrem Reich-Sein und ihrem Christ-Sein-Wollen gestürzt werden«.129 Der erste christliche Autor, der die Eigentumsproblematik zum Thema gemacht habe, sei Klemens von Alexandria: Hatte bisher ein Reicher, der Christ werden wollte, dem Wort Jesu an den reichen Jüngling folgend sein Vermögen den Armen zu schenken, so habe sich jetzt Klemens »als Seelsorger der weltstädtischen höheren Gesellschaft angesprochen« gefühlt; »seine seelsorgerliche – und zweifellos großartige – Schrift [biete] eine folgenreiche ›kirchenpolitische‹ Lösung: die erste theoretische Legitimierung der Kompatibilität von Christsein und Reichtum«. Mit der These des Klemens, dass »Reichtum ein Schöpfungsgut sei und vom Christen erstrebt werden dürfe«, sei nun »die Eigentumsfrage nicht mehr von der eschatologischen Grundstimmung her betrachtet, sondern im Rahmen der Schöpfungstheologie auf einer völlig neuen Basis verhandelt« worden.130 Dabei gehöre diese Schrift zu Klemens’ »Gesamtkonzeption einer Vermittlung von Christentum und hellenistischrömischer Welt«, mit deren Hilfe er Bildung und Christentum miteinander habe verbinden wollen. Da Bildung in der Regel von Vermögen abhängig gewesen sei, mußte »auch eine Versöhnung zwischen Christentum und Vermögen erstrebt werden«. »Die programmatische Synthese von christlicher Theologie und griechischem Denken findet bei Klemens ihr Korrelat in der ebenso programmatischen Öffnung der kleinbürgerlich-pauperistischen Kirche für die Reichen«.131 Diese »Öffnung« aber habe »bedenkliche Folgen« gehabt, weil die Reichen lediglich zu Almosen aufgefordert werden konnten; in der »Volkskirche« des 4. Jahrhunderts sei es aufgrund dessen nicht »zu einer wirklichen Sozialpolitik in der Kirche und der später christlichen Gesellschaft« gekommen, sondern »nur zur auf Almosen gegründeten Diakonie«, die »nicht auf strukturelle Änderungen, sondern rein auf die 128

Hauschild, Christentum und Eigentum(s. Anm. 35), 35. Hauschild, Christentum und Eigentum (s. Anm. 35), 36. Auch Hauschild verweist auf Hermas (Vis III 6,5 f. = 14,5 f.): Diejenigen, die Glauben haben, zugleich aber auch Reichtum (dieser Welt), sind wie runde Steine, die unbrauchbar sind für den Bau der Kirche; denn »wenn Drangsal kommt, dann verleugnen sie ihren Herrn um ihres Reichtums und ihrer Geschäfte willen«, und so können die Reichen »nicht brauchbar für den Herrn werden, wenn ihr Reichtum nicht abgehauen« wird. 130 Hauschild, Christentum und Eigentum (s. Anm. 35), 37. Spätere Theologen hätten »zur Durchsetzung der Armenpflege gegen einen vulgärchristlichen ›Kapitalismus‹ kämpfen müssen, der sich demgemäß begründet: Gott mache die einen reich. Die andern arm – warum solle man da als Besitzender gezwungen sein, von seinem Vermögen abzugeben?« Als Beleg für diese Haltung verweist Hauschild auf Gregor von Nazianz, der in einer Predigt die Reichen so sprechen läßt (Or 14,29). 131 Hauschild aaO., 38 (Hervorhebung im Original). 129

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persönliche Einstellung des einzelnen« zielte.132 Zwar habe Klemens selber das Gegenteil angestrebt, da er ja gefordert habe, man solle mit dem eigenen Besitz anderen dienen; doch gerade diese Argumentation sei dazu geeignet gewesen, »neben der schöpfungstheologischen Begründung die Existenz von Reichtum zusätzlich zu legitimieren«.133 Dem hat Adolf Martin Ritter in einem zuerst 1975 veröffentlichten Aufsatz widersprochen. Wohl treffe es zu, dass Klemens »Reichtum und Eigentum primär nicht als ökonomisches, sondern als ethisch-religiöses Problem behandelt« habe; Klemens’ Überlegungen zielten auch »nicht auf strukturelle Änderungen ab, geschweige denn auf ein Wirtschaftsprogramm, wohl gar ein kommunistisches, für diese Welt, sondern auf die persönliche Entscheidung und Verantwortung des einzelnen«; und richtig sei auch, »daß auf dem von Klemens beschrittenen Wege den sich von der Mitte des dritten Jahrhunderts an zunehmend verschärfenden Mißständen in der spätantiken Wirtschaft und Gesellschaft kaum durchgreifend abzuhelfen war«. Gleichwohl sei zu fragen, ob es nicht darauf ankomme, »Worte und Taten eines Menschen zuallererst im Rahmen seiner eigenen Welt zu begreifen, nur unter Berücksichtigung der geistigen und sittlichen Möglichkeiten seiner Zeit«.134 Wenn man das tue, dann zeige sich, dass Klemens zwar keine radikale Sozialkritik übte, dass er aber sehr wohl ein »Gespür« dafür hatte, »was eigentlich ›Evangelium‹ ist: nicht die nova lex, nicht auch die privatistische Erlösungslehre, sondern die Botschaft von Gottes neuschöpferischem Handeln, das sich eben nicht darin erschöpft, einzelne Glaubende zu ermutigen und zu ermächtigen, in der Liebe weiterzugehen, als die ›Gerechtigkeit‹ verlangt und die Aufrechterhaltung des status quo notwendig macht«; das ziele »auf die Gemeinde als die ›neue Kreatur‹«, in der Gott erfahren werde.135 Auf die besondere Bedeutung der Schrift Quis dives salvetur? für die frühchristliche Ethik verwies im Jahre 1973 auch Martin Hengel. Zwar habe Klemens die Aussagen der Evangelien zum Teil umgebogen, doch es müsse »positiv gewertet werden, daß er die absolute religiös-soziale Verpflichtung des Eigentums energisch betont: Als Gottes Gabe ist es immer auch für die Not des anderen da«; so markiere diese »kleine predigtartige Schrift« einen »Umbruch in der geistigen und soziologischen Situation der Kirche«.136 Es zeige sich eine Synthese von Traditionen jüdischer Weisheit, stoischer Ethik und neutestamentlicher Verkündigung angesichts der konkreten Situation der alexandrinischen Gemeinde: »Die generelle, radikal-rigoristische Kritik 132

Hauschild aaO., 38 f. Hauschild ebd. 134 Ritter, Christentum und Eigentum (s. Anm. 85), 302.303. 135 Ritter, aaO., 307. 136 M. Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche. Aspekte einer frühchristlichen Sozialgeschichte, Stuttgart 1973, 80 (zu Klemens überhaupt aaO., 79–82). 133

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am Eigentum wurde abgemildert und verinnerlicht, wobei die Möglichkeit grundsätzlichen Eigentumsverzichts offenblieb. Reichtum wurde zwar kritisch beurteilt, jedoch nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen, vielmehr seine strenge Gemeinschaftsverpflichtung und rechte Verwendung betont. Die innere Freiheit in der Distanz des Glaubens mußte sich in großzügiger Freigiebigkeit und dem Verzicht auf Habgier und Luxus konkret bewähren.«137 Die Interpretation der Aussagen des Klemens darf nicht davon absehen, dass seine Schrift Quis dives salvetur? angelegt ist als Exegese von Mk 10,17– 31. Klemens schreibt nicht eine systematisch-ethische Abhandlung, die sich allenfalls gelegentlich und nachträglich auf biblische Texte und Aussagen bezieht; vielmehr geht er von der biblischen Überlieferung aus und betrachtet diese tatsächlich exegetisch, d.h. vom Text her. Dabei setzt er – natürlich! – die damals geltende Hermeneutik voraus, wenn er schreibt (5,2), dass der Heiland nie »nach Menschenweise« (ŁėĒěģĚưėģĜ) lehre, sondern immer »mit göttlicher und ›mystischer‹ Weisheit« (ĒďưǪĝęĠưǪĔċƯĖğĝĞēĔǼ), und dass man das Gesagte darum auch nicht in fleischlicher Weise (ĝċěĔēėȥĜ) auffassen dürfe, sondern den verborgenen Sinn erforschen müsse. Aber es trifft nicht zu, dass Klemens die Textaussagen »allegorisch« umdeutet.138 Er liest den Mk-Text auch nicht so, als bilde dieser ein »tatsächliches« Geschehen ab und als sei daher eigentlich nicht der Text als solcher zu deuten, sondern, womöglich mit Hilfe allgemeiner psychologischer Erwägungen, das Verhalten der Beteiligten. Klemens geht vielmehr unmittelbar vom Text aus, und er versucht, dessen Aussagen zu vergegenwärtigen. Die kritischen Anfragen an Klemens müssen im übrigen berücksichtigen, dass ja schon im biblischen Text selber Tendenzen sichtbar sind, die der Annahme widersprechen, dass Markus nichts anderes im Sinn hatte als eine buchstäbliche Verwirklichung der in 10,21 ausgesprochenen Forderung Jesu.139. Ritter betont zu Recht, dass Klemens »dem Sinn der Jesusworte über Armut und Reichtum jedenfalls eher auf der Spur geblieben« ist »als die Moralisten und Rigoristen vom Schlage des Jakobus oder Tertullians«; Klemens habe sich also »mindestens insoweit keiner ›Umdeutung‹ oder Abschwächung

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Hengel, Eigentum und Reichtum (s. die vorige Anm.), 82. Wenn Ritter schreibt, Klemens habe seine Text-Exegese unter der hermeneutischen Annahme verfaßt, dass der Text »nicht seinem buchstäblichen, ›fleischlichen‹ Sinn, sondern seiner tieferen, ›geistlichen‹ Bedeutung nach aufgenommen werden wolle« (Christentum und Eigentum, 285), so ist das grundsätzlich richtig; aber eine »Umdeutung« des »fleischlichen Textsinns« ist jedenfalls in dieser Schrift des Klemens damit nicht verbunden. 139 Hier unterscheidet sich Klemens grundlegend von der Textrezeption etwa bei Franziskus von Assisi (vgl. W. Egger, Nachfolge als Weg zum Leben. Chancen neuerer exegetischer Methoden dargelegt an Mk 10,17–31, ÖBS 1, Klosterneuburg 1979, 238–284). 138

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des ›Armenevangeliums‹ Jesu schuldig gemacht …, als dessen ›gesetzliche‹ Interpretation in der Tat in die Irre führen würde«.140

VI. Martin Honecker betont, die Frage des Eigentums gehöre »zu den schwierigen und problematischen Themen der Ethik«, und zwar vor allem deshalb, weil die Eigentumslehre abhängig sei »von der jeweiligen wirtschaftlichen Verfassung und der gesamten Gesellschaftsstruktur«.141 Das war schon in der Antike der Fall; es gilt nicht zuletzt auch für das Christentum der ersten Jahrhunderte. Die vorstehenden exgetischen Beobachtungen und Überlegungen hatten nicht das Ziel, einen Überblick über die Entwicklung des frühchristlichen Urteils über das Verhältnis von Arm und Reich bzw. über die theologisch-ethische Bewertung des Reichtums zu geben. Vielmehr wurde die im Zusammenhang des genannten Themas besonders häufig herangezogene Erzählung von der Begegnung Jesu mit dem Reichen in ihrer Entstehungs-, Redaktions- und Rezeptionsgeschichte näher betrachtet. Die auf diese Weise sichtbar werdende Auslegungsgeschichte zeigt, dass eine Engführung der Erzählung auf die bloße, in der Regel plakative Hervorhebung der Aussage Jesu in 10,21 oder auch auf das Logion von 10,25 offensichtlich schon auf der Ebene der synoptischen Tradition und spätestens auf der Ebene der Redaktion der Evangelien verlassen worden war. Das Nachdenken darüber, wie sich Eigentum und christliche Existenz im Gegenüber zur Hoffnung auf das ewige Leben zueinander verhalten, hat die Kirche offenbar von allem Anfang an begleitet. Dabei wurden die »einfachen Antworten« offenbar schon sehr früh als ungenügend empfunden. Klemens von Alexandria hat in seiner Schrift über das Verhältnis von »Reichtum« und ewigem Heil nachgedacht, indem er eine Exegese des biblischen Textes verfaßt hat, ja geradezu einen »Kommentar«, in dem es um die Frage geht, wie die im Markusevangelium erzählte Szene gegen140 Ritter, Eigentum und Christentum (s. Anm. 35), 291. Zur Position Tertullians vgl. dessen Schrift Apologeticum, wo es in 39,11 in deutlicher Anspielung auf Apg 4,32 heißt, die Christen seien mit Herz und Seele eins und hätten keine Bedenken, einander am Vermögen teilhaben zu lassen (animo animaqua miscemur, nihil de rei communicatione dubitamus). Zuvor erwähnt Tertullian freilich (39,5 f.), dass jeder freiwillig und in dem ihm möglichen Umfang Beiträge zahle, »gewissermaßen Darlehen der Frömmigkeit« (quasi deposita pietatis), womit klar ist, dass private Einkünfte und »Vermögen« vorhanden sind. 141 M. Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin 1995, 471. Unter Verweis auf Klemens von Alexandria stellt Honecker fest (479), die Alte Kirche habe »in der Praxis ein recht positives Verhältnis von Geld und Eigentum« gehabt, »da offensichtlich auch Gemeinden und Christen vermögend waren. In der Theorie empfanden die Kirchenväter nicht Armut und Askese, sondern Reichtum und Besitz als Problem.«

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wärtig zu verstehen und in konkretes Handeln umzusetzen ist. Während in aktuellen Stellungnahmen insbesondere zu ethischen Fragen oft die Gefahr droht, dass zunächst die inhaltliche Position entwickelt und erst dann nach biblischen Belegen dafür gesucht wird, hat es Klemens offensichtlich unternommen, vom Text her eine Antwort auf die drängende Frage zu finden, »welcher Reiche« denn »gerettet« werden könne. Zumindest in der Anwendung dieses Verfahrens kann die Schrift des Klemens bis heute ein Vorbild sein.

»… erwählt in Christus vor Grundlegung der Welt« Zum Verständnis der Prädestination im Römerbrief, im Epheserbrief und bei Johannes Calvin Die Vorstellung einer doppelten Prädestination (gemina praedestinatio), also die Lehre von der göttlichen Erwählung des Menschen zu ewigem Heil oder seiner Verwerfung zu ewiger Verdammnis, stellt den christlichen Glauben insofern vor ein kaum lösbares Problem, als sie in einem offensichtlichen Widerspruch steht zur Hoffnung auf die Gnade Gottes und seine Barmherzigkeit. Johannes Calvin hat die Aussage, Gott habe in der Verwerfung Adams alle Menschen dem ewigen Tode übergeben, ein decretum horribile genannt; dennoch müsse gesagt werden, dass Gott bei der Erschaffung des Menschen den Fall Adams nicht nur vorhergewußt, sondern auch vorherbestimmt hat (Institutio III 27,3).1 Calvin beruft sich dafür auf biblische Aussagen; teils geschieht dies eher pauschal2, meist aber bietet er eine detaillierte Exegese der von ihm als relevant angesehenen Texte, insbesondere aus dem Römer- und dem Epheserbrief.3 Im folgenden soll zunächst danach gefragt werden, welche Funktion die Exegesen der für das Thema wichtigen betreffenden Abschnitte in diesen beiden neutestamentlichen Schriften für die Entfaltung von Calvins Verständnis der Prädestinationslehre haben. Danach folgt eine eigene Auslegung der betreffenden Texte. Und dann sollen abschließend die jeweils gewonnenen Ergebnisse knapp dargestellt und aufeinander bezogen werden.

1 Die Zitate folgen der Ausgabe; Joannis Calvini Opera Selecta, ed. P. Barth / G. Niesel, Vol. III–V. Institutio Christianae Religionis 1559, München 1928/1931/1936) und der deutschen Übersetzung von O. Weber, Umterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn 21963 (neu hg. von M. Freudenberg, Neukirchen Vluyn 2008). 2 So heißt es an der oben im Text zitierten Stelle Inst III 27,3 scriptura clamat. 3 Vgl. A. Lindemann, »Decretum horribile«. Die Lehre von Gottes Gnadenwahl bei Johannes Calvin und im Römerbrief des Apostels Paulus, in: R. Mokrosch / H. Merkel (Hg.), Humanismus und Reformation. Historische, theologische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung, AHST3, Münster 2001, 136–153 (wieder abgedruckt in: H. Selderhuis [Hg.], Johannes Calvin. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2010, 105–124).

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I. Biblische Bezüge in Calvins Entfaltung der Prädestinationslehre 1. In der Institutio von 1559 unterscheidet Calvin in III, 21–24, anders als in den früheren Ausgaben, die praedestinatio ausdrücklich von der providentia4 und natürlich auch von der praescientia Gottes. In III, 21,5 gibt er dazu die folgende Definition: »Vorherbestimmung nennen wir die ewige Verfügung Gottes, durch die er bei sich selbst beschlossen hat, was hinsichtlich jedes einzelnen Menschen geschehen solle. Es werden nämlich nicht alle unter der gleichen Bedingung geschaffen: Sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verwerfung zuvor zugeordnet.«5 Calvin fährt fort: »Deshalb, wie der einzelne zu dem einen oder zu dem anderen Zweck/ Ziel geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tod vorherbestimmt.«6 Und schließlich (III,21,7): »Was also die Schrift klar zeigt, sagen wir: Gott hat in seinem ewigen und unveränderlichen Ratschluß einmal festgestellt, welche [Menschen] er einst zum Heil annehmen und welche er wiederum dem Untergang preisgeben will.«7 Calvin weist den Gedanken zurück, dass Gott womöglich nach einer absoluta potentia, also willkürlich handelt (III,23,2): »Wir erfinden keinen außerhalb des Gesetzes stehenden Gott, da er doch sich selbst das / ein Gesetz ist«.8 Dazu verweist Calvin auf die Aussage Platos, dass das Gesetz dazu da sei, die Begierden der Menschen zu bekämpfen; Gott sei davon gänzlich frei, da er »höchste Richtschnur der Vollkommenheit« und also »auch das Gesetz aller Gesetze« ist (summa perfectionis regula, etiam legum omnium lex est).9 2. In einer Predigt, die Calvin anläßlich einer »Zusammenkunft in der Kirche zu Genf, in welcher das Thema der Ewigen Erwählung Gottes ver4

Vgl. W. H. Neuser, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, in: HDThG II, Göttingen 1980, 167–352, hier: 253. Zu den diesbezüglichen Unterschieden in den Ausgaben der Institutio s. auch P. Barth, Die biblische Grundlage der Prädestinationslehre bei Calvin, EvTh 5 (1938) 159–182, hier: 161–176. Vgl. ferner E. Buess, Prädestination und Kirche in Calvins Institutio, ThZ 12 (1956) 347–361. 5 Praedestinationem vocamus aeternum Dei decretum, quo apud se constitutum habuit, quid de unoquoque homine fieri vellet. Non enim pari conditione creantur omnes: sed aliis vita aeterna, aliis damnatio aeterna praeordinatur (Inst III 23,5, Opera Selecta IV, 374,11–15). 6 Itaque prout in alterutrum finem quisque conditus est, ita vel ad vitam vel ad mortem praedestinatum dicimus (ebd., 15–17). 7 Quod ergo Scriptura clare ostendit dicimus, aeterno et immutabili consilio Deum semel constituisse, quos olim semel assumere vellet in salutem, quos rursum exitio devovere (Opera Selecta IV, 378,31–34). 8 Non fingimus Deum exlegem, qui sibi ipsi lex est (Opera Selecta IV, 396,21–22). 9 Opera Selecta IV, 396, 19 f.

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handelt wurde« im Dezember 1551 hielt10, stellt er eingangs die Frage, ob Gottes Gnade Gemeingut aller Menschen ist oder nicht; die Schrift, so erklärt Calvin, lehrt, dass dies nicht der Fall ist. 2.1. Als ersten Textbeleg nennt Calvin die Eulogie im Proömium des Epheserbriefes (1,3–14): Nach der Aussage in Eph 1,4 (ĔċĒƵĜ őĘďĕƬĘċĞę ŞĖǬĜőėċƉĞȦĚěƱĔċĞċČęĕǻĜĔƲĝĖęğ) sollen wir nicht nur davon überzeugt sein, dass Gott uns den Glauben verliehen hat, sondern wir sehen auch, »daß er ihn uns gerade deshalb verliehen hat, weil er uns vor der Erschaffung der Welt durch seinen Willen erwählt hat«. Warum Gott diese Entscheidung traf, bleibt für uns unerkennbar; wir »müssen uns jetzt mit dem begnügen, was wir begreifen können, das heißt mit dem, was uns Paulus in aller Form auseinandersetzt: Gott hat uns nach dem Vorsatz erwählt, den er bei sich selbst erwogen hatte«. Paulus, den Calvin natürlich als Autor des Epheserbriefes ansieht, habe den Eindruck zurückweisen wollen, Gott sei womöglich von außen zu seinem Tun angeregt worden; diesen Aspekt unterstreiche der Apostel in Eph 1,4 durch das betonte in Christo (őėċƉĞȦ).11 Auch der Glaube selber sei von der göttlichen Erwählung abhängig; in der finalen Bestimmung in V. 4b (»damit wir heilig seien und untadelig vor ihm in Liebe« ďųėċēŞĖǬĜłčưęğĜĔċƯŁĖƶĖęğĜĔċĞďėƶĚēęėċƉĞęȘőėŁčƪĚǹ) sei ja der Glaube mit enthalten, und dafür beruft sich Calvin auf Apg 15,9.12 2.2. Ein weiterer biblischer Beleg, auf den Calvin in jener Predigt Bezug nimmt, ist Röm 8,28–30. Hier zeige Paulus, dass die Liebe des Menschen zu Gott ihrerseits auf den göttlichen Vorsatz zurückgeht; unsinnig sei die Annahme, Gott habe vorausgesehen, dass diejenigen, die er erwählen wollte, von seiner Gnade den rechten Gebrauch machen würden. Das Subjekt der Gotteserkenntnis der Menschen ist nach Calvin vielmehr Gott selber: »Da sie erkannt sind, sind sie von ihm berufen, und diese Berufung tritt ans Licht, wenn Gott uns den Glauben schenkt.«13 Die Erwählung hat also den Vorrang, der Glaube folgt. 10 Congregation faite en l’Eglise de Geneve, en laquelle la matiere de l’election eternelle du Dieu (CR 35, 93–118). Die zitierte deutsche Übersetzung folgt Ch. Link, in: CalvinStudienausgabe Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 2002, 92–142. Im Jahre 1552 erschien Calvins umfangreiche Schrift De aeterna Dei praedestinatione Von der ewigen Vorherbestimmung Gottes, übers. und hg. von W. H. Neuser, Düsseldorf 1998. 11 »Denn in uns selbst sind wir hassenswert, wert, daß Gott uns verabscheut; aber in seinem Sohn blickt er uns freundlich an, und deshalb liebt er uns« (… mais il nous regarde en son Fils, et lors il nous aime, CR 35, 95). 12 Petrus sagt in seiner Rede auf dem »Apostelkonzil«, Gott habe keinen Unterschied gemacht zwischen Juden und Nichtjuden, »nachdem er durch Glauben ihre Herzen gereinigt hatte« (ċƉĞȥėĞǼĚưĝĞďēĔċĒċěưĝċĜĞƩĜĔċěĎưċĜċƉĞȥė). 13 Gott sage: »Vous estes des miens: Or ceux-là estans cognus, sont appelez de luy; et ceste vocation est quand Dieu nous donne la foy« (CR 35, 97). Calvin beruft sich auf Gal 4,9 (ėȘėĎƫčėƲėĞďĜĒďƲėĖǬĕĕęėĎƫčėģĝĒƬėĞďĜƊĚƱĒďęȘ) und auf Jes 65,1 (»Ich ließ mich

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2.3. Unter Verweis auf Joh 6,44 f. und 10,28 f. will Calvin zeigen, dass die Lehre von Gottes Gnadenwahl auch von Jesus selber vertreten wird. Aber von größter Klarheit sei das, was Paulus in Röm 9 dazu sage: Der Apostel zeige am Beispiel der beiden Söhne Abrahams und insbesondere am Beispiel der beiden Söhne Isaaks, dass das erwählende Handeln ausschließlich bei Gott liegt und keinesfalls beim Menschen. Dazu bemerkt Calvin ausdrücklich, dass in dem Maleachi-Wort, auf das sich Paulus beruft, vom Land Kanaan und vom Gebirge Seir die Rede ist14, aber – so stellt er fest – Kanaan ist als »Gleichnis und Abbild des himmlischen Erbes« zu verstehen.15 Wenn Paulus sage, dass Esau verworfen, Jakob aber erwählt ist, dann betone er damit, dass dies »nicht das Ergebnis irgendwelcher Werke [ist], sondern es kommt, sagt er, von Gottes Berufung«.16 2.4. In der Institutio spricht Calvin zu Beginn seiner entsprechenden Darlegungen (III, 21,1) von der »Dunkelheit« (caligo), die diese Lehre umgebe; aber, so fährt er dann fort, ohne sie gäbe es keine Erkenntnis des Heils: »Niemals werden wir so klar, wie es sich ziemt, zu der Überzeugung kommen, daß unser Heil aus der Quelle der unverdienten Barmherzigkeit Gottes fließt, bevor uns nicht seine ewige Erwählung kundgeworden ist.«17 Man dürfe in die heiligen Geheimnisse (adyta) der göttlichen Weisheit nicht eigenmächtig eindringen wollen: »Es ist nämlich nicht angemessen, daß das, was der Herr in sich selber verborgen halten wollte, ein Mensch ungestraft durchforscht.«18 Calvin rückt hier die praedestinatio und die electio zunächst ganz nahe zusammen, betont dann aber gegen Ende des Abschnitts (III,23,1), man dürfe keinesfalls behaupten, dass der Erwählung keine Verwerfung gegenüberstehe: Die Erwählung hat gar keinen Bestand, wenn es nicht auch ihr Gegenteil gibt (ipsa electio nisi reprobationi opposita non staret). 2.4.1. Auch in der Institutio belegt Calvin seine Aussagen über die Prädestination von den schon erwähnten biblischen Texten her. In Inst III,22,1.2 geht er ähnlich ausführlich wie in der Predigt vom Dezember 1551 auf Eph 1,4 ein; in III,22,4–6 findet sich dann eine breite Explikation des Gedankengangs von Röm 9–11; und in III,23,12 verweist Calvin erneut auf Eph 1,4, suchen von denen, die nicht nach mir fragten, ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten«). 14 Paulus zitiert in Röm 9,13 das Gotteswort aus Mal 1,2 f. in stark verkürzter Form. 15 Mais la terre de Canaan n’estoit-elle pas une figure et une image de l’heritage celeste? (CR 35, 102). 16 CR 35, 103. 17 Nunquam liquido ut decet persuasi erimus, salutem nostram ex fonte gratuitae misericordiae Dei fluere, donec innotuerit nobis aeterna eius electio (Opera Selecta IV, 369,10–12). 18 Neque enim aequum est, ut quae in se ipso abscondita esse voluit Dominus, impune homo excutiat (Opera Selecta IV, 370,24 f.).

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um den Gedanken abzuweisen, die Lehre von der Prädestination lasse das Streben nach Heiligung überflüssig werden. Am Ende seiner Darlegungen zu dieser Thematik zitiert er (III,24,17) nochmals Sätze aus Röm 9 (V. 24: Gott hat uns »berufen«) und aus Röm 11 (V. 32: Gott hat »alle in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme«) sowie das von ihm auch sonst oft für seine Argumentation beigezogene Wort Röm 9,20: »O Mensch, wer bist du, der du rechtest mit Gott? (O homo, tu quis es qui litigas cum Deo?)« In seinen Kommentaren zum Römerbrief (1539) und zum Epheserbrief (1548) legt Calvin Röm 9–11 und Eph 1,4 auch mit Blick auf die Prädestinationslehre aus.19 Im folgenden soll es aber nur um diejenigen Aussagen gehen, in denen Calvins systematisch-theologische »Auswertung« der biblischen Aussagen für die Prädestinationslehre erkennbar wird. 2.4.2. Im Kommentar zum Römerbrief20 findet sich der Hinweis auf eine paulinische ›Prädestinationslehre‹ in der Exegese von 8,28–30, vor allem V. 30: »Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt; die er aber gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht«. Das Stichwort »vorherbestimmt« (Ěěęƶěēĝďė) deutet Calvin nicht im generellen Sinne der Erwählung (electio), sondern er bezieht es auf Gottes »Rat und Beschluß, wodurch er den Seinen das Kreuz zu tragen auferlegte«.21 Aus der Abfolge von Ěěęƶěēĝďė (»er hat vorherbestimmt«) und őĔƪĕďĝďė (»er hat berufen«) leitet er den Gedanken ab, Gott habe seinen Ratschluß über die Erwählten nicht verborgen gehalten, sondern kundgemacht: »Die Berufung wird hier nämlich von der verborgenen Erwählung unterschieden, und gleichsam nachgeordnet. Damit also niemand sagen könne, man wisse ja gar nicht, welches Schicksal Gott einem jeden zugewiesen habe, sagt der Apostel, Gott habe durch seine Berufung öffentlich von seinem verborgenen Ratschluß Kunde gegeben.«22 Calvin geht sogar so weit, mit Blick auf die Schlußaussage őĎƲĘċĝďė (»er hat verherrlicht«), wo Paulus das Verb ĎęĘƪĐďēė ungewöhnlicherweise »secundum linguae hebraicae« im Aorist verwende, davon zu sprechen, dass wir – frei19

Zu Calvins Römerbriefauslegung vgl.: Johannes Calvin als Exeget (s.u. S. 370–410, hier: 380–387). 20 Der Text des Röm-Kommentars folgt der dritten Auflage von 1556: Iohannis Calvini Commentarius in Epistolam Pauli ad Romanos, ed. T. H. L. Parker, SHCT XXII, Leiden 1981. Dem Text und der Übersetzung des Römerbriefkommentars in der CalvinStudienausgabe. Band 5.1/Band 5.2. Der Brief an die Römer. Ein Kommentar, hg. von E. Busch, M. Freudenberg, A. Heron, Chr. Link, P. Opitz, E. Saxer, H. Scholl, NeukirchenVluyn 2005/2007 liegt die erste Auflage von 1540 zugrunde. 21 … illud [Dei] propositum [vel] decretum quo suis crucem ordinavit ferendam (ed. Parker, 183). 22 Vocatio enim hic ab arcana electione distinguitur tanquam inferior. Nequis ergo exciperet, quam cuique sortem Deus attribuerit, minime sibi constare: dicit Apostolus Deum sua vocatione palam testari de arcano suo consilio (ebd.).

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lich in Christus – unsere Herrlichkeit schon jetzt sehen: »Aus seiner Herrlichkeit erwächst für uns die Sicherheit unserer Herrlichkeit, so daß unsere Hoffnung gleichgeachtet werden kann einem gegenwärtigen Besitz.«23 Die Berufung hat hier also die Funktion, die Erwählung sichtbar und erfahrbar zu machen  – man könnte geradezu von einem Syllogismus practicus sprechen, der freilich von ganz ungewöhnlicher Art wäre. In der Exegese von Röm 9–11 wird der erste für unsere Fragestellung bedeutsame Abschnitt 9,6–9 von Calvin weniger »dogmatisch« als vielmehr »historisch« ausgelegt: Die grundsätzliche Aussage laute (V. 6b), dass »nicht alle aus Israel in Wahrheit Israel sind« (ęƉčƩěĚƪėĞďĜęŮőĘŵĝěċƭĕęƐĞęē ŵĝěċƮĕ), und in V. 7–9 zeige Paulus dann, dass dies in besonderem Maße für die erste Generation gelte, also für die beiden unmittelbaren Nachkommen Abrahams, denen der Bund Gottes durchaus nicht in gleicher Weise zugesprochen worden sei. Den zweiten Abschnitt, Röm 9,10–13, wertet Calvin dann in einer stärker theologisch grundsätzlichen Weise aus: Aus der Jakob und Esau betreffenden Aussage in 9,11 folgert Calvin, dass Gott nicht nur Israel aus den Völkern erwählt, sondern dass er auch zwischen den einzelnen Menschen innerhalb des Volkes unterschieden habe, »indem er die einen zum Heil bestimmt, die anderen zur ewigen Verdammnis (… ita eius quoque gentis homines Dei electio discernit [dum] alios ad salutem praedestinat, alios ad aeternam damnationem)«24; das geht natürlich über das im Text unmittelbar Gesagte erheblich hinaus. Die paulinische Aussage lasse überdies erkennen, dass Gott nicht etwa lediglich vorherwußte, wer von den beiden Söhnen möglicherweise »gute Werke« werde aufweisen können; vielmehr seien beide, Jakob und Esau, als Nachkommen Adams gleichermaßen von Natur aus Sünder gewesen und hätten zu ihrer Gerechtigkeit selber gar nichts beizutragen vermocht. Noch stärker vom dogmatisch-prinzipiellen Interesse geprägt ist Calvins Auslegung von Röm 9,14–18. Hier führt er den Begriff praedestinatio gleich zu Beginn ein, so dass man den Eindruck gewinnt, Paulus selber biete hier geradezu bewußt das dogmatische Lehrstück De praedestinatione. Calvin beginnt mit der Bemerkung, dass der Mensch sogleich Widerspruch anmelde, wenn der Apostel ein besonderes mysterium behandle: Praesertim vero ubi de praedestinatione audiunt homines id quod tradit Scriptura, multis tricis impediuntur. Hier zeige sich, dass es völlig unsachgemäß wäre, wenn man von dieser Lehre schweigen wollte.25 Paulus stelle nach dem einleitenden »Was sollen wir nun sagen?« die Frage, ob Gott etwa ungerecht 23 … gloria eius tantam gloriae nostrae securitatem nobis affert, ut praesenti possessioni merito aequiparetur spes nostra (ed. Parker, 184). 24 Ed. Parker, 202. 25 Ed. Parker, 204.

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sei (ĖƭŁĎēĔưċĚċěƩĞȦĒďȦ) und dann verneine er sie betont (ĖƭčƬėęēĞę); damit mache er deutlich, dass es bei Gott eine iniustitia überhaupt nicht geben könne. Die Aussage in 9,18 (Ņěċ ęƏė ƀė ĒƬĕďē őĕďďȉ ƀė Ďƫ ĒƬĕďē ĝĔĕđěƴėďē) bezeuge vielmehr, dass die Ursache für die Erwählung der einen und die Verwerfung der anderen allein in Gottes Vorsatz gesucht werden dürfe.26 Zu 9,18 schreibt Calvin, man müsse sich mit den kleinen Sätzen des Paulus (»… welchen er will«, ƀėĒƬĕďē … ƀėĒƬĕďē) abfinden, denn es sei uns nicht erlaubt, darüber hinauszugehen.27 Wenn Paulus das Verb »verstocken« verwendet (ĝĔĕđěƴėďē, indurat), dann zeigt dies klar, dass er nicht an eine bloße Zulassung (permissio) der Verwerfung durch Gott denkt, sondern an ein aktives Handeln des göttlichen Zorns (ira).28 Der vierte Abschnitt Röm 9,19–23 wird von Calvin ganz auf die Souveränität Gottes hin ausgelegt: In der rhetorischen Frage in V. 20 sei der Gedanke enthalten, dass es eine höhere Ursache (causa) als Gottes Willensentscheidung (arbitrium) nicht gibt. In V. 21, wo Paulus von dem Töpfer spricht, der über sein Werk eine uneingeschränkte potestas hat, sei keine schrankenlose Willkür Gottes ausgesprochen, sondern der Apostel weise Gott »mit höchstem Recht diese Möglichkeit zu. Er will nämlich Gott nicht eine ordnungslose Macht zusprechen, sondern ein ihm zustehendes Recht.«29 Die Frage, warum es überhaupt ›Gefäße zur Unehre‹ (in contumeliam) gebe, stelle Paulus nicht, und erst recht beantworte er sie nicht; erstaunlich sei das nicht, denn nach allem zuvor Gesagten sei ja klar, dass die Ursache in dem ewigen und unausforschlichen Ratschluß Gottes liegt.30 Gottes Gerechtigkeit sollen wir anbeten, und wir sollen nicht versuchen, sie zu durchschauen. Auf das Problem der Verstockung und ihrer Ursache kommt Calvin nochmals in der Auslegung von Röm 11,7 zu sprechen. Paulus schreibt dort im Anschluß an die an der Elia-Erzählung 1 Kön 19 orientierte Erwähnung des ›heiligen Rests‹, die »Auswahl« (őĔĕęčƮ, Vulgata: electio) habe das Heil erlangt, die übrigen hingegen seien »verhärtet« worden (őĚģěƶĒđĝċė, excaecati sunt). Auch dazu betont Calvin, die Ursache dessen sei uns verborgen und es bleibe uns nur übrig, den unbegreiflichen Ratschluß Gottes zu bewundern.31 26

… causam non alibi quam in eius propositio quaerendam esse (ed. Parker, 205). Insistere enim debemus in istas particulas, Cuius vult, et Quem vult: ultra quas procedere nobis non permittit (ed. Parker, 209). 28 … non solum permissionem (ut volunt diluti quidam moderatores) sed Divinae quoque irae actionem significat (ed. Parker, 209). 29 … optimo iure hanc facultatem ei competere. Neque enim vult Deo asserere potestatem aliquam inordinatam: sed quae merito illi sit deferenda (ed. Parker, 212). 30 … causam in aeterno ac inexplicabili Dei consilio absconditam esse: cuius iustitiam adorare magis quam scrutari conveniat (ed. Parker, 213). 31 Imo aeternae reprobationis ita abscondita est causa ut nihil aliud nobis supersit quam admirari incomprehensibile Dei consilium, sicut tandem ex clausula patebit (ed. Parker, 245). 27

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2.4.3. Im Epheserbrief32 findet Calvin in der Eulogie 1,3–14, insbesondere in V.  4, einen eindeutigen Beleg für die Prädestinationslehre; seine Aussagen zu dieser Textstelle entsprechen im Ergebnis den eben referierten Anmerkungen zum Römerbrief. Das methodische Vorgehen ist jetzt aber ein deutlich anderes: Calvin geht der Formulierung »Wie er uns berufen hat in ihm vor Grundlegung der Welt, damit wir heilig seien und untadelig vor ihm in Liebe« (ĔċĒƵĜőĘďĕƬĘċĞęŞĖǬĜőėċƉĞȦĚěƱĔċĞċČęĕǻĜĔƲĝĖęğďųėċē ŞĖǬĜłčưęğĜĔċƯŁĖƶĖęğĜĔċĞďėƶĚēęėċƉĞęȘőėŁčƪĚǹ) gleichsam Schritt für Schritt nach, und dem entspricht es, dass er jetzt nicht mit dem Hinweis auf die Prädestinationslehre einsetzt, sondern im Gegenteil diesen Begriff erst am Ende in seine Exegese einführt. Einleitend bezieht er sich auf »unsere Berufung« (vocatio nostra): In Eph 1,4 zeige sich, dass die Ursache der Berufung Gottes »ewige Erwählung« (aeterna electio) ist (őĘďĕƬĘċĞęŞĖǬĜ, elegit nos); wenn gesagt wird, dass diese Erwählung bereits »vor Grundlegung der Welt« (ĚěƱĔċĞċČęĕƭĜĔƲĝĖęğ) erfolgte, dann zeige dies, dass wir keinerlei Verdienste für diese Erwählung aufzuweisen haben. Den »sophistischen« Einwand, wir seien deshalb Erwählte, weil Gott eben zuvor schon wußte, dass wir dessen einst würdig sein würden, widerlegt Calvin durch den Hinweis auf Adam, in dem wir alle doch Verlorene seien: Würde uns Gott nicht durch seine Erwählung vom Untergang loskaufen, so würde er nichts anderes als unseren Untergang vorhergesehen haben können33;so argumentiere Paulus auch in Röm 9,11. Ähnlich wie in der Predigt zu Eph 134 hebt Calvin auch im Kommentar hervor, dass nach 1,4 die Erwählung »in Christus« geschieht (őėċƉĞȦ); er erläutert dieses in Christo durch den Hinweis: »also außerhalb von uns« (ergo extra nos). Nicht um unserer Würde (dignitas) willen, sondern durch den Gnadenakt der »Adoption« (adoptionis beneficio) habe uns Gott in den ›Leib Christi‹ eingefügt.35 In der abschließenden Wendung »damit wir Heilige seien … (ďųėċēŞĖǬĜłčưęğĜ)« findet Calvin das nächste, aber nicht wichtigste Ziel bezeichnet; unsere Heiligung habe hinter dem höchsten Ziel, nämlich der gloria Dei, zurückzustehen. So lasse Eph 1,4b erkennen, dass alle Heiligkeit (sanctitas) und Unschuld (innocentia), ja überhaupt jegliche Tugend (virtus), allein die Frucht der Erwählung (electio) Gottes ist.36 Erst jetzt spricht Calvin, gleichsam exkursartig, ausdrücklich von der Prädestinationslehre. Unvermittelt stellt er die rhetorische Frage, wo denn 32 Ioannis Calvini Commentarius in Epistolam Pauli ad Ephesios. Opera Quae Supersunt Omnia 51 (CR 79), 1895, 141–240. 33 CR 79, 147: Perditi enim omnes sumus in Adam. Itaque nisi electione sua redimat nos Deus ab interitu, nihil aliud praevidebit. 34 S. oben S. 344. 35 Vgl. den Vulgatatext von Eph 1,5: … qui praedestinavit nos in adoptionem filiorum per Iesum Christum in ipsum secundum propositum voluntatis suae. 36 CR 79, 147 f.

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nun diejenigen seien, die sich vor der Lehre von der Prädestination fürchten und vor ihr fliehen (ubi sunt qui praedestinationis doctrinam horrent ac fugiunt?). Er antwortet, diese Lehre sei weit davon entfernt, unnütz oder gar schädlich zu sein, sondern sie stelle im Gegenteil geradezu die Mitte der Theologie dar, wenn man sie nur richtig und in nüchterner Weise behandele (modo rite et sobrie tractetur), wie es Paulus hier nun tue, indem er uns durch sie die große Güte Gottes (immensa Dei bonitas) vor Augen führe.37 Die abschließende Bestimmung in V. 4b (»in Liebe«, őėŁčƪĚǹ) könne als auf Gott bezogen verstanden werden, und dann sei gesagt, dass Gott aus Liebe zu seinem erwählenden Handeln bewogen wurde; wahrscheinlicher aber sei, dass sich diese Näherbestimmung auf das Handeln der Menschen bezieht – nicht deshalb, weil Gott allein Liebe verlangen würde, sondern »weil sie die Bewährung der Gottesfurcht und des Gehorsams dem ganzen Gesetz gegenüber ist«.38 3. Die hier knapp referierte biblische Fundierung der Prädestinationslehre Calvins führt – ungeachtet der Frage, ob wir seine Exegesen nach heutigen Maßstäben im einzelnen für richtig halten oder nicht – zu dem doch bemerkenswerten Ergebnis, dass Calvin offenbar nicht das schon zuvor als dogmatisch »richtig« Angesehene und für ihn bereits Feststehende in den biblischen Texten »wiederfindet«, sondern dass er sich im Gegenteil vielfach vom Text her in eine Gedankenbewegung hineinnehmen läßt. In besonderer Weise gilt das für die Auslegung von Eph 1,4: Zwar möchte man es gerade hier als beinahe raffiniert bezeichnen, dass der Begriff praedestinationis doctrina erst am Ende in die Exegese eingeführt wird und so der Eindruck entsteht, »Paulus« habe nach Calvins Überzeugung selbstverständlich von Anfang an beabsichtigt, den Ephesern diese doctrina zu entfalten, weshalb es genüge, erst ganz am Schluß nur kurz darauf hinzuweisen. Aber gerade in der Auslegung von Eph 1,4 bezieht sich Calvin so auf den Text, dass er nicht Fertiges und womöglich Fremdes in ihn hineinliest, sondern im Gegenteil den Text selber zur Sprache kommen läßt.

II. Exegetische Hinweise zu Röm 8,28–30 und Röm 9–11 sowie zu Eph 1,4 Wie verhalten sich Calvins exegetische Begründungen der Prädestinationslehre zu den Aussagen der von ihm vor allem beigezogenen Texte nach Maßgabe dessen, wie diese Texte gegenwärtig exegetisch verantwortlich 37 38

Alle Zitate CR 79, 148. Quia probatio sit timoris Dei, et obedientiae erga totam legem, CR 79, 148.

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verstanden werden können?39 Klar ist, dass weder Paulus in Röm 8,28–30 und in Röm 9–11 noch der Verfasser des Epheserbriefes in 1,4 eine »Lehre« (doctrina) vermitteln wollen, und schon gar nicht wollen sie einen dogmatischen locus de praedestinatione entwerfen. Insofern ist die Frage nach dem Verständnis der Prädestinationslehre bei Paulus bzw. im Epheserbrief natürlich anachronistisch. Dennoch dürfte es zulässig sein, die biblischen Texte nach dem Grad gegenwärtiger exegetischer Einsicht mit Blick auf das dogmatische Thema ›Prädestination‹ zu befragen und auf diese Weise zu prüfen, ob bzw. inwieweit Calvin sie nach unserem Urteil zu Recht oder zu Unrecht für seine doctrina in Anspruch nimmt. 1. Die Aussagen in Röm 8,28–30 stehen am Ende des größeren Abschnitts 8,18–30, der seinerseits zu der großen Texteinheit 8,2–39 gehört. In einer Art Überschrift stellt Paulus in 8,18 fest, die »gegenwärtigen Leiden« (ĞƩ ĚċĒƮĖċĞċĞęȘėȘėĔċēěęȘ) seien völlig unbedeutend gegenüber der künftigen Herrlichkeit (ĖƬĕĕęğĝċĎƲĘċ). Der damit ausgesprochene Gedanke, das Gegenwärtige verweise voraus auf das Künftige, wird dann in drei kurzen Durchgängen in V.  19–22, V.  23–25 und V.  26–27 näher expliziert, und anschließend folgt in V.  28–30, eingeleitet durch »wir wissen« (ęűĎċĖďė), ein weisheitlich-formelhafter Hinweis auf das dem Menschen zugutekommende Heilshandeln Gottes. Die These lautet, dass denen, die Gott lieben (ęŮ ŁčċĚȥėĞďĜ ĞƱė ĒďƲė)40, ›alles‹ (ĚƪėĞċ) zum Guten ausschlägt; die Nachbemerkung (V. 28b: ĞęȉĜĔċĞƩĚěƲĒďĝēėĔĕđĞęȉĜęƏĝēė), die auf die Berufung gemäß Gottes »Vorsatz« zielt, macht klar, dass »lieben« (ŁčċĚǬė) nicht etwa eine eigene Leistung oder auch nur ein »Tun« des Menschen ist, sondern vielmehr Folge der Berufung (ĔĕǻĝēĜ)41, deren Urheber Gott ist.42 Sofern die Gottesbeziehung des Menschen in Ordnung ist, schlägt ihm alles zum Guten aus; das gilt insbesondere auch und gerade für die zuvor eingehend erwähnten Leiden (ĚċĒƮĖċĞċ). Damit ist natürlich nicht gemeint, es werde den »Frommen« immer gut gehen, sondern »das Gute« (ŁčċĒƲė) ist von Gott her gedacht. Paulus denkt an das eschatologisch Gute, also daran, 39

Die exegetische Literatur zum Römer- und zum Epheserbrief kann im Zusammenhang dieser Untersuchung nur in begrenztem Umfang berücksichtigt werden. 40 Vgl. Dtn 6,5 LXX: ŁčċĚƮĝďēĜĔƴěēęėĞƱėĒďƲėĝęğőĘƂĕđĜĞǻĜĔċěĎưċĜĝęğĔĞĕ. 41 U. Wilckens, Der Brief an die Römer. 2. Teilband Röm 6–11, EKK VI/2, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1980, 151 hält es für möglich, dass V. 28b ein paulinischer Nachsatz zu einer dem Paulus vorgegebenen und von ihm zitierten Tradition ist; aber das mag an dieser Stelle offen bleiben. Vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 251: Paulus nimmt »eine in der alten Welt weit verbreitete Sentenz auf und gibt ihr eine vom Gedankengang des Abschnittes bestimmte Bedeutung«. 42 Nach H. Hübner, Art. Prädestination III. Neues Testament, TRE 27, Berlin 1997, 105–110, hier: 107 ist die Aussage in Röm 8,28–30 aus dem biblischen Erwählungsgedanken abzuleiten; vgl. Dtn 7,7 LXX: ęƉġƂĞēĚęĕğĚĕđĒďȉĞďĚċěƩĚƪėĞċĞƩŕĒėđĚěęďưĕċĞę ĔƴěēęĜƊĖǬĜĔċƯőĘďĕƬĘċĞęƊĖǬĜĔĞĕ.

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dass die Gott liebenden Menschen in aller Not und Bedrängnis von Gottes Güte wissen. Der Apostel spricht an dieser Stelle ausdrücklich von dem »Vorsatz« (ĚěƲĒďĝēĜ), d.h. er verwendet einen Begriff, der bei ihm sonst nur noch in Röm 9,11 belegt ist.43 Daran wird noch einmal deutlich, dass Gottes Handeln für die Berufenen (ĔĕđĞęƯ ƁėĞďĜ) nicht etwa als eine Reaktion Gottes auf mögliche Vorleistungen der Menschen zu denken ist, sondern allein als Gottes souveräne Aktion. Man wird dies durchaus mit dem Begriff praedestinatio bezeichnen dürfen, freilich allein im Sinne der electio, ohne dass ›Nicht-Erwählte‹ überhaupt in den Blick kommen. Mit ęƌĜĚěęƬčėģ (»die hat er zuvor erkannt«) nimmt Paulus in V. 29a die vorangegangene Bestimmung ĔċĞƩĚěƲĒďĝēė (»gemäß dem Vorsatz«) auf: In der dem eigentlichen Berufungsgeschehen vorausgehenden ĚěƲĒďĝēĜ wird ein entsprechendes »zuvor Erkennen« Gottes wirksam. In V.  29.30 liegt ein Kettenschluß vor44; wichtig ist das in V. 30 ausgesprochene Ziel: Auf das vorherbestimmende Handeln Gottes (ęƌĜĎƫĚěęƶěēĝďė) folgte die Berufung (ĞęƴĞęğĜĔċƯőĔƪĕďĝďė), d.h. das Berufen kann als geschichtliche Konkretion bzw. Verwirklichung des Vorherbestimmens gedeutet werden; darauf folgte die Rechtfertigung (ĔċƯęƌĜőĔƪĕďĝďėĞęƴĞęğĜĔċƯőĎēĔċưģĝďė) die – so wird man sachlich ergänzen dürfen, auch wenn es Paulus an dieser Stelle nicht ausdrücklich sagt  – im Glauben von den Glaubenden wahrgenommen werden kann. Ob das abschließende ĞęƴĞęğĜĔċƯőĎƲĘċĝďė im strikten Sinne gemeint ist (Gott »hat uns verherrlicht«, Aorist), oder ob es sich um eine proleptische Aussage handelt, die nochmals auf die nach V. 18 ja noch ausstehende künftige Herrlichkeit (ĎƲĘċ) verweist, ist in der Exegese umstritten: Käsemann meint, Paulus zitiere hier eine enthusiastische Tauftradition, wie sie sich später auch in Eph 2,5 f. finde45; Schmithals sieht in dem őĎƲĘċĝďė den »Ausdruck höchster Hoffnungsgewißheit«46, während Haacker von der für Paulus »unverbrüchlichen Gewißheit der (künftigen) Herrlichkeit« spricht.47 Am nächsten liegt m. E. tatsächlich die auch von Calvin vertretene 43 ĚěƲĒďĝēĜ im Corpus Paulinum in ähnlicher Bedeutung in Eph 1,11; 2 Tim 1,19, darüber hinaus in Eph 3,11 und 2 Tim 3,10 in anderer Bedeutung. 44 Auf die einzelnen für Paulus sehr ungewöhnlichen Formulierungen ist hier nicht weiter einzugehen; vgl. H. Paulsen, Überlieferung und Auslegung in Römer 8, WMANT 43, Neukirchen-Vluyn 1974, 152–161. 45 E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 235 f. Vgl. Wilckens, Römerbrief (s. Anm. 41), 165. 46 W. Schmithals, Der Römerbrief. Ein Kommentar, Gütersloh 1988, 302: »In unerhörtem Vorgriff auf die Vollendung definiert er den gegenwärtigen Stand der Kinder Gottes als den der Verherrlichung und die zukünftige Herrlichkeit als gegenwärtige, wenn auch noch nicht öffentlich offenbarte (V. 18–19) Daseinswirklichkeit der Glaubenden.« 47 K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 171: Der Gebrauch des Aorist geschehe »unter Vernachlässigung des normalen temporalen Aspekts«. Lohse, Römerbrief (s. Anm. 41), 253: »Zwar noch vor der Welt verborgen, be-

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Annahme, Paulus blicke hier faktisch in die Zukunft, bringe dabei aber gerade die Gewißheit der künftigen Verherrlichung zum Ausdruck und könne deshalb den Aorist verwenden. Für diese Auslegung spricht auch die Fortsetzung 8,31–39, wo Paulus sehr wohl Gegenwart und Zukunft voneinander unterscheidet, zugleich aber mit großer Eindringlichkeit die Gewißheit ausspricht, dass in der kommenden Zukunft im Blick auf die Gottesbeziehung wirklich Neues nicht zu erwarten ist. 2. Das Thema des großen Abschnitts Röm 9,1–11,36 ist die Beziehung Gottes zu Israel. Die Notwendigkeit, dieses Thema eingehend zu erörtern, ergibt sich aus dem unmittelbaren Zusammenhang: Wenn das soeben im Schlußteil von Röm 8 Gesagte – dass nämlich nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes in Christus – wirklich gilt, dann muß der Israelit Paulus sich selber die Frage stellen, was diese Gewißheit für die an Gott, nicht aber an Christus glaubenden Israeliten bedeutet (9,1–5) und was daraus resultiert für die Frage nach der Treue Gottes. In Röm 9–11 liegt weder eine Geschichtsspekulation vor noch eine besondere Israel-Lehre; vielmehr spricht Paulus davon, wie das Handeln Gottes – der ja der Gott Israels ist – in Bezug auf eben dieses Israel theo-logisch einzuordnen ist. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Nicht zufällig spricht Paulus am Ende des Gedankengangs von einem Geheimnis (ĖğĝĞƮěēęė, 11,25), und nicht zufällig bekennt er in 11,33, dass Gottes Wege »unausforschlich« sind. Aber zwischen 9,1–5 und 11,25–36 liegt ein breites Feld von Aussagen, die gern übersehen werden, wenn – wie es zumal im Kontext kirchlicher Verlautbarungen nicht selten geschieht – pauschal auf »Römer 9–11« oder gar nur auf einzelne Sätze bzw. Nebensätze innerhalb dieser drei Kapitel verwiesen wird. Im Eingangsteil (9,1–5) hebt Paulus nicht einfach die »Vorzüge Israels« hervor, als spreche er von einer ungebrochenen Einheit Israels mit Gott; dann wären die ersten Sätze (V.  1–3) sinnlos, in denen Paulus von seiner Trauer (ĕƴĚđ) und von der Möglichkeit einer Selbstverfluchung »zugunsten meiner Brüder und meiner Verwandten nach dem Fleisch« spricht (đƉġƲĖđėčƩěŁėƪĒďĖċďųėċēċƉĞƱĜőčƵĔĞĕ.) Vielmehr ist in dem Abschnitt V. 1–5 die nicht explizit ausgesprochene, in aber V. 6 beantwortete Frage enthalten, wie es um die genannten Vorzüge Israels gegenwärtig steht. Dass vor allem V. 5 in diese Frage mündet, zeigt V. 6a, wo Paulus feststellt, dass Gottes Wort (žĕƲčęĜĞęȘĒďęȘ) »nicht hingefallen« ist; diese Aussage ist ja zu lesen als Antwort auf die implizit gestellte Frage, ob das Wort Gottes womöglich »hingefallen« ist. Ob žĕƲčęĜĞęȘĒďęȘ hier das Wort der biblischen

stimmt doch die verheißene Verherrlichung bereits die Gegenwart, in der die Glaubenden ihrer Hoffnung gewiß sind V. 24).«

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(»alttestamentlichen«) Verheißung ist, das unverändert in Geltung steht48, oder ob, wie es dem paulinischen Sprachgebrauch eher entspricht, an die christliche Verkündigung zu denken ist, die trotz des »Nein« der (Mehrheit der) Israeliten nicht »hingefallen« ist49, mag an dieser Stelle offen bleiben.50 Entscheidend ist, wie Paulus seine in V. 6a ausgesprochene Feststellung in V. 6b begründet: Es sind nämlich (čƪě) nicht alle »aus Israel« auch tatsächlich »Israel« (ęƉčƩěĚƪėĞďĜęŮőĘŵĝěċƭĕęƐĞęēŵĝěċƮĕ). Die knapp und nüchtern getroffene Feststellung, dass »Israel« keine einheitliche Größe ist, wird in V. 7–9 am Beispiel des ĝĚƬěĖċʼnČěċƪĖ näher entfaltet: Nur Isaak, der Sohn der Sara, ist wirklich ĝĚƬěĖċ entsprechend dem Schriftwort Gen 21,12 őėŵĝċƩĔĔĕđĒƮĝďĞċưĝęēĝĚƬěĖċ (V. 7).51 Die anschließende Feststellung in V.  8, dass nicht »die Kinder des Fleisches« Gottes Kinder sind, sondern dass (nur) »die Kinder der Verheißung« als ›Same‹ angesehen werden (… ĕęčưĐďĞċēďŭĜĝĚƬěĖċ), enthält eine deutliche Zuspitzung gegenüber dem in der biblischen Überlieferung Gesagten: Isaak, so behauptet Paulus, wurde ausschließlich aufgrund der őĚċččďĕưċ geboren, ohne Beteiligung der ĝƪěĘ, wie implizit aus dem in V. 9 zitierten Wort ĔċĞƩ ĞƱėĔċēěƱėĞęȘĞęėőĕďƴĝęĖċēĔċƯŕĝĞċēĞǼýƪěěǪğŮƲĜ zu folgern ist.52 Die fleischliche Verbindung mit Abraham ist von daher letztlich bedeutungslos, da alles allein von der őĚċččďĕưċ Gottes abhängt. Der Gedankengang in Röm 9,6–9 kann tatsächlich »prädestinationstheologisch« genannt werden53: Die eigene Geburt ist kein Beitrag des Men48 So eine häufige Auslegung; vgl. etwa Haacker, Römerbrief (s. die vorige Anm.), 190: »Im vorliegenden Kontext ist in erster Linie an die worthaften Begriffe der Aufzählung in V. 4 f. (Bund, Gesetzgebung, Verheißung) zu denken.« 49 So P.-G. Klumbies, Israels Vorzüge und das Evangelium von der Gottesgerechtigkeit in Römer 9–11, in: Ders., Studien zur paulinischen Theologie, Münster 1999, 80–100, hier: 86 f. 50 Lohse, Römerbrief (s. Anm. 41), 272 bezieht die Wendung auf »die besonderen Gaben, die soeben aufgezählt worden waren (V. 4 f.)«, fügt dann aber hinzu, diese Feststellung sei »nicht nur gegenüber Juden und Judenchristen, sondern auch für Heidenchristen von Bedeutung, die ihre Zuversicht darauf setzen, daß Gottes Wort ebenso wie für Israel so auch für die Kirche aus Juden und Heiden gültig ist und bleibt«. 51 Paulus läßt die Fortsetzung des Gotteswortes Gen 21,13 weg: ĔċƯĞƱėğŮƱėĎƫĞǻĜ ĚċēĎưĝĔđĜĞċƴĞđĜďŭĜŕĒėęĜĖƬčċĚęēƮĝģċƉĞƱėƂĞēĝĚƬěĖċĝƲėőĝĞēė – es würde nicht in seinen Argumentationsgang passen. Vgl. dazu unten Anm. 56. 52 Der LXX-Text Gen 18,14 lautet: ďŭĜĞƱėĔċēěƱėĞęȘĞęėŁėċĝĞěƬĢģĚěƱĜĝƫďŭĜƞěċĜ ĔċƯŕĝĞċēĞǼýċěěċğŮƲĜ. Vgl. dazu unten Anm. 55. 53 Vgl. E. Dinkler, Prädestination bei Paulus. Exegetische Bemerkungen zum Römerbrief, in: Ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen 1967, 241–269, hier: 254: In Röm 9.7 ff. liegt zweifellos der Gedanke der praedestinatio gemina vor. Ganz anders Schmithals, Römerbrief (s. Anm. 46), 341: Die ›Kinder der Verheißung‹ sind entsprechend Gal 4,21–31 »die universale christliche Gemeinde aus Juden und Heiden«, jedenfalls nicht allein die Judenchristen. Zwar lasse Paulus in 9,6–9 zunächst offen, wer diese ›Kinder‹ sind, doch gebe er die Antwort dann in V. 24–29, während in V. 10–21(23) ein »Nebengedanke« eingeschoben sei. In V. 6–9.24–29

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schen zu dem, was hier ›Berufung‹ genannt wird, sondern die Existenz des Menschen als des von Gott Berufenen hängt einzig und allein von Gott ab. Möglicherweise hat Calvin dies im Blick, wenn er in seinem Kommentar zu dieser Stelle sagt, die auf die Nachkommenschaft bezogene Erwählung werde schon in der zweiten Generation zerbrochen.54 Paulus scheint es in diesem Zusammenhang gerade darauf anzukommen, dass seine Argumentation ›schriftgemäß‹ ist, auch wenn, im Unterschied zum folgenden Abschnitt, eine Wendung wie ĔċĒƵĜčƬčěċĚĞċē o.ä. nicht vorkommt. Er bezeichnet den Satz in V. 9 als »das Wort der Verheißung«, doch dann ›zitiert‹ er nicht eigentlich aus der Schrift55, sondern er will das Verheißungswort gleichsam »direkt«, ohne Umweg über eine Zitatformel o.ä., den Lesern des Briefes übermitteln.56 In V. 10–13 führt Paulus die Kinder der Rebekka und des Isaak als zweites, das erste Beispiel steigerndes (ęƉĖƲėęėĎƬŁĕĕƩĔċƯ…) Argument für die in V. 6b formulierte These an. Waren es bei Abraham noch zwei Kinder aus unterschiedlichen Verbindungen gewesen, zwischen denen strikt unterschieden wurde, so gilt dasselbe jetzt für zwei sogar demselben Zeugungsakt entstammende Zwillingssöhne (V. 10). Das Ziel der Argumentation ist das nun durch ĔċĒƵĜčƬčěċĚĞċē ausdrücklich markierte Schriftzitat in V. 1357, auf das Paulus in V. 11.12 in geschickter Weise hinführt: Es sollte Gottes ĔċĞdzőĔĕęčƭėĚěƲĒďĝēĜ in Geltung bleiben, die allein auf Gottes Souveränität beruht und nicht etwa aufgrund der (guten oder bösen58) Werke des Menschen ergeht59; darum sei der Mutter schon vor der Geburt beider von

begegne »der Gedanke der Prädestination« gar nicht. Gegen diese Auslegung spricht aber, dass zumindest die Argumentation in V. 10–13 unmittelbar zu derjenigen in V. 6–9 gehört und nicht von ihr abgetrennt werden kann. 54 Nam siqua debuit esse genuina progenies quae a pacto non deficeret, id potissimum habere locum debuit in iis qui primum gradum obtinebant: verum quum videamus in primis Abrahae filiis, eo adhuc viventi, recenti promissione alterum a semine fuisse segregatum: quanto id magis in longa posteritate evenire potuit? (ed. Parker, 200). 55 V. 9 kann als eine Mischung aus Gen 18,10 und 18,14 LXX angesehen werden, ohne dass eine direkte Textvorlage zitiert wäre; vgl. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 141 f. und 171 f. 56 Auch in V. 7b fehlt eine formula quotationis, d.h. der Zitatcharakter ist zwar vorausgesetzt, schon durch die Verwendung der 2. Pers. Plural, aber er ist jedenfalls nicht betont. 57 Es handelt sich um ein nahezu wörtliches Zitat von Mal 1,2b.3a LXX. Das Prophetenwort ist von Hause aus nicht auf Gottes vorzeitige Gnadenwahl bezogen, zumal es geschichtlich die Völker Edom und Israel betrifft, nicht einzelne Menschen; vgl. H. Graf Reventlow, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi, ATD 25.2, Göttingen 1993, 134 f. 58 Vgl. V. 11a: ĖƮĚģčƩěčďėėđĒƬėĞģėĖđĎƫĚěċĘƪėĞģėĞēŁčċĒƱėşĠċȘĕęė. 59 V. 12: ęƉĔőĘŕěčģėŁĕĕdzőĔĞęȘĔċĕęȘėĞęĜ.

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Gott (őěěƬĒđ, Gen 25,23) gesagt worden, der Ältere werde dem Jüngeren dienen.60 Der Argumentationsgang in V.  10–13 ist so angelegt, dass schon rein sprachlich der Vorrang der göttlichen ĚěƲĒďĝēĜ zum Ausdruck kommt. Berücksichtigt man, dass in der rabbinischen Exegese die vorangehende Aussage Gen 25,2261 auf vorgeburtliche Angriffe Esaus gegen Jakob gedeutet wurde62 und dass dies möglicherweise sogar schon die Erzählintention des ursprünglichen biblischen Textes gewesen war, dann wird deutlich, wie zugespitzt Paulus die Entscheidung Gottes für Jakob und gegen Esau aufgefaßt wissen will. Es ist offenbar kein Zufall, dass Paulus in V. 12b die futurisch formulierte Zusage an Rebekka wiedergibt und dass dazu dann in V. 13 das im Aorist formulierte Schriftwort ausdrücklich als Beleg fungiert: Es galt immer schon, dass Gott den Jakob geliebt, Esau dagegen gehaßt hat, und darum konnte der Mutter von Gott gesagt werden, künftig werde der Ältere dem Jüngeren dienen. Dass in diesem Argumentationsgang ein als »prädestinationstheologisch« zu bezeichnendes Denken zum Ausdruck kommt, scheint mir deutlich zu sein; dabei wird vor allem in V. 12a der für die paulinische Theologie wesentliche systematische Kontext deutlich erkennbar: Der berufende Gott und die (menschlichen) Werke stehen einander diametral entgegengesetzt gegenüber63 – Gott handelt in freier Souveränität sowohl in seinem Erwählen (ŝčƪĚđĝċ) als auch in seinem hier nun explizit erwähnten Verwerfen (őĖưĝđĝċ). Indem Paulus ein biblisches Gotteswort als »Ich«-Wort zitiert, zeigt er, dass er von der Struktur des göttlichen Handelns spricht, dass er seine Aussage also gleichsam »aus der Perspektive Gottes« formuliert. Es geht nicht um das spekulative Nachdenken des Menschen darüber, ob er von Gott erwählt (»geliebt«) sei oder nicht (»gehaßt«); wohl aber spricht Paulus von der Gottesbeziehung des einzelnen Menschen, nicht von einem pauschal auf ganze Gruppen bezogenen Gottesverhältnis. Im folgenden Abschnitt 9,14–18 macht Paulus zunächst in V.  14 sich selber einen Einwand in Form einer Frage, die er negativ beantwortet.64 Die 60 Die Aussage žĖďưĐģėĎęğĕďƴĝďēĞȦőĕƪĝĝęėē entspricht wörtlich Gen 25,23fin LXX, wo sie freilich schon auf die Völker bezogen ist. 61 Der hebräische Text lautet in der Übersetzung von L. Zuntz: »Als aber die Kinder sich stießen in ihrem Leibe, da sprach sie: Wenn dem so, wozu bin ich dies? Und sie ging, um den Ewigen zu befragen.« 62 Vgl. die Belege zu Joh 9,2 bei (H.-L Strack / ) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II. Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, München 51969, 528 f. 63 Der Hinweis auf die ŕěčċ zeigt, dass die Terminologie und damit auch die Sache der Rechtfertigungstheologie im Blick ist, obwohl die ĎēĔċēę- Begrifflichkeit in Röm 9 zunächst ja nicht begegnet; in 9,30–10,10 verwendet Paulus sie dann aber sehr oft. 64 Dasselbe Verfahren der Argumentation wendet Paulus in Röm 6,1.2a an.

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Frage ĖƭŁĎēĔưċĚċěƩĞȦĒďȦ setzt implizit die Annahme voraus, aus den beiden Schilderungen in V. 6–9 und V. 10–13 sei möglicherweise oder sogar zwingend das Urteil ›Gott ist ungerecht‹ abzuleiten. Dem setzt Paulus sein ĖƭčƬėęēĞę entgegen, und auch das begründet er durch Schriftzitate. Das erste dieser beiden Zitate, mit dem explizierenden čƪě angeschlossen und wiederum entsprechend der zitierten Vorlage als Gottesrede im Ich-Stil formuliert, entspricht wörtlich Ex 33,19b LXX: In Ex 33,19a verspricht Gott dem Mose als Antwort auf dessen entsprechende Bitte (V.  18), er werde in seiner ĎƲĘċ an ihm vorübergehen65, und dies deutet Gott selber dann in V. 19b als einen Akt seiner freien Gnade.66 Paulus zitiert Ex 33,19b explizit als Gottesanrede an Mose, läßt aber den ursprünglichen biblischen Kontext unbeachtet; anschließend (V. 16) verweist er auf die Souveränität des Erbarmungshandelns Gottes, der sich um das ĞěƬġďēėĔċƯĒƬĕďēė des Menschen nicht kümmere. Darauf folgt als Erläuterung (čƪě) in V. 17 die Gegenaussage: Paulus zitiert wiederum eine biblische Gottesrede im IchStil, nennt dabei als Subjekt jetzt aber eigenartigerweise ›die Schrift‹.67 Er zitiert Ex 9,16 aus der Gottesrede, die Mose dem Pharao überbringen soll (Ex 9,13b–21); aber statt der biblischen Formulierung ĔċƯ ŖėďĔďė ĞęƴĞęğ ĎēďĞđěƮĒđĜ (»und deshalb bist du erhalten geblieben«, nämlich nach den bisherigen sechs Plagen) heißt es bei Paulus jetzt őĘđčďēěƪ ĝď (»ich habe dich erweckt«) – Gott hat den Pharao also überhaupt nur erschaffen, um an ihm seine Macht (ĎƴėċĖēĜ68) zu erweisen.69 Der abschließende Kommentar in V.  18 (Ņěċ ęƏė ĔĞĕ.) betont durch das zweifache ĒƬĕďē nochmals, dass Gott souverän handelt. Dabei ist ĒƬĕďē möglicherweise bewußte Wiederaufnahme der Terminologie von V. 16: Das Wollen des Menschen ist bedeutungslos, das Wollen Gottes dagegen ist identisch mit dem tatsächlich Geschehenden. Dies gilt sowohl für Gottes Erbarmen (őĕďďȉė, wie in V. 15.16) als auch für sein Verstocken, und dabei wird mit dem bei Paulus nur hier

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Der hebr. Text lautet in der Übersetzung von L. Zunz: »Ich werde vorüberführen all meine Güte an deinem Angesicht.« 66 Möglicherweise ist Ex 33,19 schon ursprünglich nicht nur kontextbezogen, sondern theologisch »grundsätzlich« gemeint; vgl. M. Noth, Das zweite Buch Mose. Exodus, ATD 5, Göttingen 51965, 212. 67 Gott selber wird bei Paulus niemals ausdrücklich als Sprecher einer biblischen Aussage eingeführt (in 9,15 wird das Subjekt zu ĕƬčďē nicht genannt). Die Wendung in 9,17 ĕƬčďēčƩěŞčěċĠƭĞȦĀċěċƶ könnte als verkürzte Redeweise gedeutet werden (»in der Schrift heißt es, Gott habe zu Pharao gesagt …«), aber es ist doch deutlich, dass der an Pharao gerichtete Spruch »nicht als unmittelbar ergangenes Gotteswort, sondern als geschriebener Satz (čěċĠƮ) eingeführt« ist (Lohse, Römerbrief [s. Anm. 41], 278). 68 Die LXX gebraucht an der von Paulus zitierten Stelle das schwächere Wort ŭĝġƴĜ. 69 Dazu Koch, Schrift (s. Anm. 55), 112: Die Änderung gegenüber dem biblischen Text entspricht »der Absicht des Paulus, mit diesem Zitat Gottes aktives Handeln zu beschreiben« (vgl. aaO., 150).

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belegten Verb ĝĔĕđěƴėďēė70 nicht nur ein neuer Begriff eingeführt, sondern vor allem auch ein neuer Sachverhalt: Gott bewirkt es, dass ein Mensch nicht dazu bereit ist, sich Gott zuzuwenden.71 Die ganze Formulierung zeigt im übrigen, dass Paulus die Kenntnis der biblischen Erzählung bei seinen Adressaten in Rom voraussetzt. Inwiefern ist mit dem antithetischen Beispiel Mose/Pharao72 die Frage von V.  14 in der Sache begründet beantwortet? Einerseits könnte gesagt werden, die Frage sei überhaupt nicht beantwortet worden, da der ŁĎēĔưċVorwurf ja nicht aus der Welt geschafft ist. Andererseits aber kann man V. 18 durchaus doch als eine Antwort lesen: Beides, sowohl der gegen Gott gerichtete Vorwurf der Ungerechtigkeit als auch umgekehrt der Versuch, Gott gegen diesen Vorwurf zu verteidigen, würde ja bedeuten, dass der Gottesgedanke nicht ernst genommen wird, insofern in beiden Fällen Gott der menschlichen Rechtsnorm angepaßt würde – und das kann selbstverständlich nicht in Frage kommen. Der mit der doppelten Frage in V. 19 beginnende Gedankenschritt zeigt, dass Paulus die offene Flanke seiner bisherigen Argumentation durchaus sieht: Wenn es Gott selber ist, der verstockt, wie kann er dann noch »tadeln« (Ğư [ęƏė] ŕĞē ĖƬĖĠďĞċē73), d.h. inwieweit kann dann noch von Gott als dem Richter gesprochen werden? Paulus führt den von ihm wiederum als Frage formulierten Einwand jetzt in der 2. Person Sing. ein (őěďȉĜĖęēęƏė), aber das bedeutet nicht, dass er jetzt einen konkreten Gesprächspartner zu Wort kommen läßt.74 Vielmehr ergibt sich der vorgetragene Einwand unmittelbar aus dem bisher Gesagten: In der bewußt das gnomische Perfekt verwendenden Frage ĞȦ čƩě ČęğĕƮĖċĞē ċƉĞęȘ ĞưĜ ŁėĒƬĝĞđĔďė ist die im 70 Das Verb ĝĔĕđěƴėďēė wird in Ex 4,21 LXX in der Ankündigung Gottes an Mose verwendet, dass er Pharaos Herz verstocken werde, und es begegnet dann mehrfach in den Plagetexten, so in Ex 9,12 LXX. Vgl. K. L. Schmidt / M. A. Schmidt, Art. ĚċġƴėģĔĞĕ., ThWNT V, Stuttgart 1954, 1024–1032, hier: 1030 f. 71 Nach Schmithals, Römerbrief (s. Anm. 46), 351 werden in Röm 9,15–18 Mose und Pharao nicht als Einzelpersonen gesehen, »sondern als Repräsentanten des Volkes Israel einerseits, der Feinde Israels andererseits«; um das Thema der Prädestination gehe es »höchstens sekundär« (vgl. schon oben Anm. 53). 72 Käsemann, An die Römer (s. Anm. 45), 258: V.  15 f. und V.  17 f. bilden »einen anithethischen Parallelismus, in welchem auf die Zitate die gleiche grundsätzliche Einsicht geradezu in Gestalt eines dogmatischen Urteils folgt«. 73 Ob ęƏė zu lesen ist, läßt sich aufgrund der Textüberlieferung kaum entscheiden. Es könnte unbewußt eingetragen sein, weil ęƏė seit V. 14 schon mehrfach verwendet worden war; es könnte aber auch den kritischen Charakter der Frage unterstreichen: »Warum also tadelt er (überhaupt) noch?!« 74 Anders Schmithals, Römerbrief (s. Anm. 46) 353: »Der Einwand von V. 19 kommt wie der Einwand von V. 14 aus dem Munde heidnischer Sympathisanten der Synagoge: Kann der gerechte Gott nur Israel erwählen und trotzdem die Heiden richten?« Paulus habe in dem ganzen Text das innersynagogale Gespräch zwischen Juden und Heiden im Auge.

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Grunde zeitlose Aussage enthalten, dass der Mensch dem Willen Gottes nicht widerstehen kann, insofern Gott tatsächlich Gott ist. Aber eben darin steckt ja gerade die kritische Anfrage: Wenn der Mensch auch beim – wahrsten Sinne des Wortes — besten Willen nicht so zu handeln vermag, dass er dem Tadel Gottes entgeht, eben weil Gott selbst ja das negative Handeln des Menschen verfügt hat, dann ist im Grunde nicht der Mensch verstockt, sondern Gott ist es, der den Menschen verstockte, indem er ihm seinen (und sei es: guten) Willen geraubt hat. Paulus antwortet darauf abermals unter Rückgriff auf die Schrift – nun freilich so, dass der Schriftbezug nicht klar erkennbar ist. Die als erste Reaktion auf den Einwand von V. 19 formulierte rhetorische Frage in V. 20a betont den unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch: Ein Handeln des Menschen gegen Gottes Willen (ŁėĞċĚęĔěưėďĝĒċē75) ist undenkbar. Der Ausruf ƟŅėĒěģĚď ist wohl nicht nur als emphatische Form der Anrede zu lesen, sondern er drückt aus, dass es tatsächlich um den Menschen geht im Gegenüber zu Gott. Wie groß der Abstand ist, zeigt das Bild in V. 20b, das deutlich an Jes 29,16 anknüpft: ĖƭőěďȉĞƱĚĕƪĝĖċĞȦĚĕƪĝċėĞēäĞưĖď őĚęưđĝċĜ ęƎĞģĜ In der ursprünglichen biblischen Überlieferung ist vom Volk die Rede, das Gott mißachtet, was genauso absurd ist, als würde der Ton den Töpfer mißachten. Auffallend ist die von Paulus vorgenommene Textänderung: Das nicht der Vorlage entsprechende ęƎĞģĜ zeigt an, dass es nicht um das Geschaffensein als solches geht, also nicht um Sein oder Nichtsein, sondern es geht um die Beschaffenheit dessen, was der Töpfer geformt hat.76 Behauptet wird damit die vollkommene Souveränität des Schöpfers seinem Geschöpf gegenüber, wie es dann auch in V. 21 durch die rhetorische Frage deutlich wird: »Oder hat nicht der Töpfer Macht über den Ton, aus derselben Masse etwas zu machen?« – und zwar »das eine Gefäß zur Ehre (ďŭĜ ĞēĖƮė, d.h. zu ehrenvollem Gebrauch), das andere zur Unehre (ďŭĜ ŁĞēĖưċė, d.h. zu schändlichem Gebrauch)?«77 In V. 22.23 stellt Paulus dann in Form eines Bedingungssatzes eine Frage, auf die er am Ende keine Antwort gibt: »Wenn aber Gott, der das Gericht erweisen und seine Macht kundtun wollte, in großer Geduld ertragen hat Gefäße des Zorns, die bereitet sind zum Verderben, damit er auch kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit über Gefäßen der Barmherzigkeit, die er Das doppelte Kompositum ŁėĞċĚęĔěưėďĝĒċē ist im NT nur hier und in Lk 14,6 belegt. 76 Eine Verwendung des Bildes vom Ton und vom Töpfer findet sich auch in 1 QS XI 21 f., dort wohl in Anspielung auf die Schöpfungserzählung. 77 C. H. Dodd, The Epistle of Paul to the Romans, London 1932, 171 hat dazu die oft zitierte Aussage gemacht, der kritische Gesprächspartner des Paulus sei im Recht. Paulus sei gezwungen zu bestreiten »that God’s freedom of action is limited (not now by physical or historical necessity, but) by moral considerations«. Zwar sei das Bild vom Töpfer eindrücklich »but the trouble is that a man is not a pot«. 75

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zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit – « Der Satz bricht an dieser Stelle ab, d.h. auf die sehr lange Protasis des Bedingungssatzes folgt keine Apodosis, sondern der Satz endet als Anakoluth.78 Das ist kein Zufall oder gar eine Nachlässigkeit in der Formulierung, sondern es entspricht im Gegenteil genau dem, was Paulus inhaltlich sagen will: Es wäre theologisch unsachgemäß, würde er abschließend erklären, Gott sei dazu »berechtigt«, so zu handeln79; denn für ihn ist klar, dass der Mensch nicht über Gott zu urteilen vermag, auch nicht verstehend-zustimmend. Paulus setzt in V. 24 neu ein, indem er einen neuen Hauptsatz formuliert (ęƌĜ ĔċƯ őĔƪĕďĝďė ĔĞĕ.). Er vermeidet es, eine Position gleichsam ›oberhalb‹ von Gott einzunehmen und Gottes Entscheidungen – und sei es auch beifällig  – zu kommentieren; vielmehr wendet sich der Blick auf »uns«, die Berufenen (őĔƪĕďĝďėŞĖǬĜ): »Gottes Gnadenentscheidung ist nicht im Schweigen Gottes verschlossen und also der Gewißheit des Glaubens entzogen, sondern kundgeworden in der ›Berufung‹ …, die an ›uns‹ ergangen ist. Die Kirche aus Juden und Heiden ist das leibhaftige Dokument des freien, grundlosen Erbarmens Gottes.«80 Das Ziel der prädestinationstheologischen Aussagen des Paulus ist also offenbar »unser« (ŞĖǬĜ) Bekenntnis zu Gottes freier Gnadenwahl, nicht das spekulative Erforschen und Betrachten eines abstrakten und dunkel bleibenden Gotteswillens.81 Die Ausführungen des Paulus in Röm 9,6–24 sind nicht als Explikation eines articulus de praedestinatione zu lesen. Das von Paulus erörterte Thema ist die Frage nach der Gottesbeziehung des nicht an Christus glaubenden Israel. Paulus konstatiert das Fehlen des Glaubens, und er nimmt zugleich die tatsächlich erfolgte Berufung ęƉĖƲėęėőĘŵęğĎċưģėŁĕĕƩĔċƯőĒėȥė wahr; daraus folgert er aber nicht die Verwerfung der gegenwärtig offensichtlich nicht Berufenen, sondern er hebt die unbedingte und unbegrenzte Souveränität des berufenden (und verstockenden) Gottes hervor. Derselbe Gedankengang findet sich in der Kette der Schriftzitate in der unmittelbaren Fortsetzung 9,25–33 und dann vor allem auch in dem Bild vom Ölbaum und 78

Auf die besondere theologische Bedeutung der Anakoluthe im Römerbrief hat G. Bornkamm, Paulinische Anakoluthe, in: Ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufsätze Band I, BEvTh 16, München 1963, 76–92, hier: 90–92 aufmerksam gemacht. 79 So aber Käsemann, An die Römer (s. Anm. 45), 257 in der Übersetzung von 9,22: »Sein gutes Recht ist es (also) …« Über Gottes »gutes Recht« macht Paulus gerade keine Aussage. 80 Bornkamm, Anakoluthe (s. Anm. 78), 92. 81 Dinkler, Prädestination (s. Anm. 53), 257: »Gottes Erwählung aktualisiert und offenbart sich im Glauben des einzelnen, sie kann nicht losgelöst werden von dieser Aktualität des Glaubens als seine zeitliche Voraussetzung. Und da für Paulus Glaube wahrgenommen wird als Aktualität und nicht als Qualität, so lassen sich weder Glaube noch Prädestination objektivieren.«

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den ausgerissenen bzw. von Gott contra naturam aufgepfropften Zweigen (11,16–24). Hans Hübner meint, in Röm 9,2–29 gehe es um Gottes prädestinierendes Ĕċĕďȉė, ohne dass Paulus von Glaube und Rechtfertigung spreche: »Der Eindruck einer gemina praedestinatio ist zunächst unvermeidlich; es scheint, als lehrte hier Paulus auch eine Prädestination zur ewigen Verdammnis.«82 Aber in 9,30–10,21 zeige sich dann ein Widerspruch dazu, insofern hier nun doch der Mensch mit seinem Gehorsam und mit seiner Verweigerung des Gehorsams im Blick sei. Dahinter stehe jedoch keine Aporie in der paulinischen Argumentation, denn Paulus wolle bewußt widersprüchlich argumentieren, weil es ja um Gottes Handeln gehe. Hübner folgert aus Röm 11, Israel werde am Ende aller Zeit »glaubend durch Gott mysterienhaft gerettet« werden; »Zugang zum Mysterium der Prädestination« gebe es mithin »nur über den Glauben, denn die Aussage der Prädestination ist in kerygmatischer Absicht Zusage an den Glaubenden, nicht aber Absage an den Nichtglaubenden«. So bleibe die Verantwortung des Menschen vor Gott erhalten, weil der Mensch »geschichtliches Wesen ist – auch angesichts der absoluten Berufungsaktivität Gottes«.83 Aber in Röm 11,25–32 spricht Paulus sowohl von der Rettung »ganz Israels« (V.  26) als auch vom Erbarmen Gottes über »alle« (V.  32), ohne dass der Glaube dabei Erwähnung findet. Der őĔýēƶė kommende Retter, vermutlich Christus in der Parusie84, wird wegnehmen die ŁĝďČďưċē ŁĚƱ ŵċĔƶČ, d.h. die Rettung des nicht an Christus glaubenden Israel geschieht am Ende nicht dadurch, dass es doch noch den Christusglauben animmt, sondern sie geschieht durch den souveränen Rettungs- bzw. Erbarmungsakt Gottes (11,32). Tobias Nicklas betont, dass in 11,25–36 anders als in 8,31–39 »an keiner einzigen Stelle eindeutig und explizit von Christus, sondern immer nur von Gott selbst die Rede« ist. Paulus scheine mit Blick auf die »Rettung ganz Israels jegliche klar christologisch zu interpretierende Sprache zu vermeiden«, er betone »stattdessen allein das, worin Christen und 82

Hübner, Art. Prädestination (s. Anm. 42), 106. Hübner ebd. 84 B. Schaller, òùðôðõýôăøúüÿú÷ðøúý. Zur Textgestalt von Jes 59:20 f. in Röm 11:26 f., in: Ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, hg. von L. Doering und A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 162–166 hält es für möglich, dass ðõ in V. 26 durch Verschreibung eines ursprünglichen ðôý zustandegekommen ist, und dass eigentlich gesagt ist: Der Retter wird »zum Zion kommen«. T. Nicklas, Paulus und die Errettung Israels. Röm 11,25–36 in der exegetischen Diskussion und im jüdisch-christlichen Dialog, EC 2 (2011) 173–197, hier: 182–186 diskutiert die Möglichkeit, dass mit dem Begriff žȗğƲĖďėęĜ Gott gemeint ist; dafür spreche zum einen das passivum divinum ĝģĒƮĝďĞċē in V. 26a und zum andern die Parallelität von ŁĚęĝĞěƬĢďē in V. 26b und ŁĠƬĕģĖċē in V. 27 – der Sprecher von V. 27 (Gott) müsse identisch sein mit dem »Retter« aus V. 26b. 83

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Juden bis heute übereinstimmen können: die Rettung durch Gott selbst«.85 Diese Beobachtungen am Text sind natürlich zutreffend; aber nach dem mit 9,1 begonnenen Gedankengang ist es wenig wahrscheinlich, dass Paulus am Ende theologisch bewußt auf das Reden von Christus verzichtet, nachdem er zuvor vor allem in 9,30–10,21 die Gottesbeziehung und die Christusbeziehung des Menschen unmittelbar miteinander verbunden hatte. Man kann natürlich fragen, ob Paulus in 11,25–32 nun womöglich doch gerade so argumentiert, wie er es in 9,22–24 durch den Anakoluth in V.  24 vermieden hatte. Er scheint in 11,25–32 objektivierend über das künftig-eschatologische Handeln Gottes zu sprechen, während doch von Prädestination in Wahrheit nur »der an sein Prädestiniertsein Glaubende verantwortlich sprechen« kann.86 Aber auch in 11,25 ff. formuliert Paulus seine Gedanken nicht von einer gleichsam ›höheren Warte‹ aus, sondern er wendet sich unmittelbar an seine Adressaten, also an die römischen Christen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft, und setzt sie zum nicht an Christus glaubenden Israel in eine bestimmte Beziehung: Am Gegenüber zu Israel, dem Gottes Erbarmen einst gelten wird, sollen die Adressaten in Rom erkennen, dass sich auch ihre eigene Gottesbeziehung nicht ihrer Leistung verdankt, sondern eben diesem Erbarmen Gottes. Erich Dinkler hat m. E. richtig gesehen, dass der Abschnitt 11,25–36 nicht wie ein apokalyptischer Offenbarungstext zu lesen ist, sondern dass er auf Hoffnung zielt.87 Wenn Paulus zu Beginn des »hymnischen« Abschlusses in V.  33–36 die Unergründlichkeit der Wege Gottes preist (V. 33) und in den aus biblischen Zitaten bestehenden rhetorischen Fragen (V. 34.35) faktisch konstatiert, dass niemand den ėęȘĜĔğěưęğ erkannt hat, dann sind das keine Floskeln; Paulus betont vielmehr die insecuritas des Menschen, der sein Berufensein dankbar annehmen und im Leben realisieren kann, der aber nicht den Anspruch erheben darf, Gott müsse sich seiner erbarmend annehmen.88 Besteht zwischen der Vorstellung von der ›Allwirksamkeit‹ Gottes für das Erbarmen einerseits und der Verantwortlichkeit des Menschen andererseits ein Widerspruch? Dinkler verweist darauf, dass Paulus in der Einleitung zu dem auf Röm 9–11 folgenden paränetischen Teil des Römerbriefes wie an kaum einer anderen Stelle von der Verantwortung des Menschen für sein Tun spricht.89 Tatsächlich darf die Abfolge der Gedanken in der paulinischen Argumentation nicht übersehen werden: Es sind die von Gott 85

Nicklas, Paulus und die Errettung Israels (s. die vorige Anm.), 184 f. Hübner, Prädestination (s. Am. 42), 107 (Hervorhebung im Orig.). 87 Offenbar hat Nicklas, Paulus und die Errettung Israels (s. Anm. 84) diesen Kommunikationsaspekt nicht hinreichend bedacht, wenn er den Schlußabschnitt von Röm 11 fast im Sinne einer »dogmatischen« Position des Paulus zu Gotteslehre und Christologie interpretiert. 88 Vgl. Dinkler, Prädestination (s. Anm. 47), 259 f. 89 Dinkler aaO., 254 f. 86

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berufenen Menschen, denen in 12,1 f. gesagt wird, sie sollten ihre ĝƶĖċĞċ hingeben zu einem Gott gefälligen ›Opfer‹ und sich verwandeln in der ŁėċĔċưėģĝēĜĞęȘėęƲĜ. Paulus sagt nicht etwa umgekehrt, erst der so verwandelte Mensch könne an sich selber die Berufung wahrnehmen. Der in 12,1 f. an die Adressaten gerichtete hohe Anspruch verfehlt nur deshalb sein Ziel nicht, weil Aussagen wie 9,24 oder 11,25–32 vorangegangen waren. 3. Im Epheserbrief findet sich die im Grunde einzige möglicherweise als »prädestinationstheologisch« zu bezeichnende Aussage gleich zu Beginn im Rahmen der langen Eulogie90: Auf die Rede vom »Segen Gottes«91 und von Gottes segnendem Handeln (V. 3) folgt in V. 4 die Beschreibung des erwählenden Handelns Gottes (őĘďĕƬĘċĞę ŞĖǬĜ) ›in Christus‹ (őė ċƉĞȦ) »vor Grundlegung der Welt« (ĚěƱĔċĞċČęĕǻĜĔƲĝĖęğ). Auffallend ist die durch ĔċĒƶĜ hergestellte Verbindung zwischen dem Segnen (ďƉĕęčƮĝċĜ) und dem Erwählen (őĘďĕƬĘċĞę); da die Konjunktion ĔċĒƶĜ sowohl begründende als auch vergleichende Funktion hat, dient der Hinweis auf den Akt der Erwählung dem Verfasser des Epheserbriefes offenbar dazu, das segnende Handeln Gottes in umfassender Weise zu interpretieren und näher zu explizieren.92 Die Verwendung des Verbs »erwählen« (őĔĕƬčęĖċē) ist überraschend.93 Wenn der Verfasser formuliert, Gott habe »uns« in Christus »erwählt«, und zwar »vor Grundlegung der Welt«, dann sind darin drei 90

Die Eulogie des Eph ist zwar keine ›Hymnus‹, aber sie läßt seht deutlich eine »gehobene Sprache« mit hymnischen Elementen erkennen. S. dazu H. Krämer, Zur sprachlichen Form der Eulogie Eph 1,3–14, WuD NF 9 (1967) 34–46. Wesentliches Strukturprinzip ist nach Krämer das betont jeweils am Ende stehende őėāěēĝĞȦ (V. 3) bzw. őė ĞȦŝčċĚđĖƬėȣ (V. 6) bzw. őėĞȦāěēĝĞȦ (V. 10.12) sowie die Reihe der betont jeweils am Anfang stehenden Relativsätze őėǞ (V. 7.11.13). 91 1,3: ďƉĕęčđĞƱĜžĒďĦĜĔĞĕ. Diese Benediktionsformel hat biblische Vorbilder (ćĂĕþ āĂāĆ, z. B. Gen 9,26; 1 Kön 1,48; vgl. 1 Chr 29,10); vgl. dazu Magdalene L. Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 1998, 134–143. 92 F. Mussner, Der Brief an die Epheser, ÖTK 10, Gütersloh und Würzburg 1982, 45 meint, der auctor ad Ephesios sei möglicherweise durch AssMos 1,13 zu seiner Aussage inspiriert worden: »V. 4 wirkt fast wie eine Parenthese.« Vgl. AssMos 1,12–14: »Denn er hat (zwar) die Welt um seines Volkes willen geschaffen, aber er hat nicht (damit) angefangen, es [sc. das Volk], den Erstling der Schöpfung, auch von Anfang der Welt an offenbar zu machen, so daß die Heiden dadurch überführt würden … Deshalb hat er mich [sc. Mose] ausersehen und gefunden, der ich von Anfang der Welt bereitet worden bin, der Mittler jenes Bundes zu werden« (Übers. E. Brandenburger, JSHRZ V/2, Gütersloh 1976, 68 f.. Brandenburger meint, statt »von Anfang der Welt« sei mit Gelasius richtiger zu lesen: ĚěƱ ĔċĞċČęĕǻĜĔƲĝĖęğ). 93 Paulus hatte das Verb nur in 1 Kor 1,27 f. gebraucht, konkret bezogen auf die Erwählung derer, die nach den Maßstäben der Welt als »töricht, schwach, unedel« gelten (vgl. dazu A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/I, Tübingen 2000, 48–53); dasAdj. őĔĕďĔĞƲĜ verwendet Paulus nur in Röm 8,33 mit theologischem Gewicht, őĔĕęčƮ in 1 Thess 1,4 sowie in Röm 9,11; 11,5.7.28.

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Aspekte enthalten: Erstens wird eine in der biblischen Überlieferung auf Israel bezogene Aussage über die Erwählung auf ›uns‹ übertragen; zweitens wird der bezogen auf Israel üblicherweise geschichtlich verstandene Erwählungsakt als »vor aller Zeit geschehen« ausgesagt; und drittens wird durch őėċƉĞȦ gesagt, dass sich dieses erwählende Handeln Gottes »in Christus« vollzogen hat, also nicht etwa »in uns«. Dies sei kurz näher erläutert. (1) In Dtn 7,6 wird zu Gottes erwählendem Handeln an Israel gesagt: »Denn ein heiliges Volk bist du dem Ewigen, deinem Gott; dich hat erkoren der Ewige, dein Gott, ihm zu sein zum Volke des Eigentums vor allen Völkern« (übers. L. Zuntz). Der vor allem für diese Schicht der deuteronomischdeuteronomistischen Theologie wichtige Erwählungsgedanke94 zeigt, dass Israel nach seinem Selbstverständnis die Erwählung nicht »verdient« hat aufgrund eigener Würdigkeit, sondern dass die Erwählung ein Akt der souveränen Setzung Gottes ist, auch wenn diese Setzung mit dem Begriff der Liebe verbunden wird (Dtn 7,8).95 Indem nun der Verfasser des Epheserbriefes von »uns« spricht, macht er deutlich, dass er vom Erwählungshandeln Gottes in existentieller Betroffenheit sprechen will; es tritt nicht etwa ›die Kirche‹ (und sei es im Sinne des Epheserbriefes die Kirche als ĝȥĖċāěēĝĞęȘ) an die Stelle Israels, sondern die hier genannten ›wir‹ sind konkret die angeredeten Leser des Textes, mit denen sich der Autor (»Paulus«) in bekenntnisartiger Rede zusammenschließt.96 Die Erwählung erscheint infolgedessen nicht als ein Abstraktum, sondern sie ist die konkret auf »uns« bezogene Zuwendung Gottes, wobei das őėŁčƪĚǹ am Ende von V. 4 einen ähnlichen Bezugspunkt herstellt, wie er in Dtn 7 vorhanden ist.97 Es scheint deshalb nicht von vornherein ausgemacht zu sein, dass die ›wir‹, von denen die Eulogie des Epheserbriefes so oft spricht, ohne weiteres als ›die Kirche‹ aufzufassen sind. Zwar meint Hübner, in 1,4 gehe es nicht um den einzelnen, sondern um die Kirche98; aber ist es wirklich nur Zufall, dass der Verfasser von der őĔĔĕđĝưċ bzw. vom ĝȥĖċāěēĝĞęȘ an dieser Stelle (noch) nicht spricht? Offenbar ist dem Verfasser tatsächlich daran gelegen, das Erwählungs94 Vgl. dazu O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Wesen und Wirken. Theologie des Alten Testaments Teil 2. Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen, UTB 2024, Göttingen 1998, 54–67. 95 Vgl. M. Rose, 5. Mose. Teilband 2: 5. Mose 1–11 und 26–34, ZBK.AT 5.2, Zürich 1994, 334 f.: »Das Verbum des ›Erwählens‹ gehört zu den Schlüsselbegriffen der Tradition des 5. Mose-Buchs und ihrer Interpretationen; es ist ein literarisches und theologisches ›Leitseil‹.« »Wenn es um das Verhältnis zwischen Gott und Volk geht, liegt der Akzent eindeutig auf dem, was Gott investiert hat« (Hervorhebungen im Original). 96 Die oft vertretene Annahme, im Eph seien »wir« die Judenchristen und mit »ihr« (erstmals in 1,13) seien dementsprechend die Heidenchristen gemeint, hat keinen Anhalt am Text. In dem »Wir« schließt sich der Autor im Stil des Bekenntnisses mit den Adressaten zusammen, mit dem »Ihr« wendet er sich an sie, um ihnen etwas zuzusprechen oder von ihnen etwas zu fordern. 97 Unklar ist, ob őėŁčƪĚǹ noch zum vorangegangenen őĘďĕƬĘċĞę gehört (so Krämer, Eulogie [s. Anm. 90], 40) oder zum unmittelbar folgenden ĚěęęěưĝċĜ ŞĖǬĜ (so u.a. H. Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf 21958, 52). Für die Annahme Krämers spricht, dass die modalen Bestimmungen, die davon sprechen, wie Gott gehandelt hat, in der ganzen Eulogie sonst niemals voranstehen. 98 Hübner, Art. Prädestination (s. Anm. 42), 109: »›Wir‹, die Kirche also, sind dazu erwählt …«

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handeln Gottes mit allen Konsequenzen auf ›uns‹ zu beziehen, wobei diese ›wir‹ natürlich nicht isolierte Individuen sind, sondern ›wir‹ als die zu Christus Gehörenden. (2) Auffallend ist die Betonung der vorzeitlichen Erwählung: Der Begriff ĔċĞċČęĕƮ bezeichnet eigentlich das »Einsäen« oder »Niederbringen« von etwas, auch das »Legen eines Fundaments«; im NT begegnet der Begriff mit Ausnahme von Hebr 11,11 ausschließlich in der Genitivverbindung ĔċĞċČęĕƭĔƲĝĖęğ, und zwar durchgängig mit einer temporalen Präposition.99 Otfried Hofius hat untersucht, ob es für den Gedanken einer vorzeitlichen Erwählung im Judentum Analogien bzw. Vorbilder gibt.100 Tatsächlich wird in der biblischen Überlieferung das Erwählungshandeln Gottes an Israel ausschließlich geschichtlich verstanden; aber in der nachbiblischen jüdischen Theologie gibt es auch Vorstellungen von einer vorzeitlichen Erwählung. Hofius verweist zum einen auf rabbinische Texte101, zum andern auf Jub 2,19 f.102 und auf JosAs 8,9.103. Das Spezifikum der Erwählungsaussage in Eph 1,4 liege darin, »daß der Verfasser des Epheserbriefes in der Kirche als dem einen Gottesvolk aus Juden und Heiden die Größe erblickt, die Gott ĚěƱĔċĞċČęĕǻĜĔƲĝĖęğ – und eben damit in freier, souveräner Gnade – zu seinem Eigentum erwählt hat«, wobei der entscheidende Gedanke die Erkenntnis sei, »daß die vorweltliche Erwählung des Volkes Gottes ›in Christus‹ erfolgt ist«.104 In Eph 1,4 wird nicht etwa ›unsere‹ Präexistenz behauptet, sondern es ist von einem ›präexistenten Geschehen‹ die Rede, von dem aller Zeit vorausliegenden Erwählungshandeln Gottes.105 99 Meist in der Aussage, etwas sei geschehen ŁĚƱĔċĞċČęĕǻĜĔƲĝĖęğ (Mt 13,35 ý*2 C D LW ó; Mt 25,34; Lk 11,50; Hebr 4,3; 9,26; Apk 13,8; 17,8); die Wendung ĚěƱĔċĞċČęĕǻĜ ĔƲĝĖęğ begegnet außer in Eph 1,4 nur noch Joh 17,24. 100 O. Hofius, »Erwählt vor Grundlegung der Welt« (Eph 1,4), in: Ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 234–246; diese Fassung des Aufsatzes ist gegenüber der Erstveröffentlichung (ZNW 61 [1971] 123–128) nicht unerheblich modifiziert worden. 101 Vgl. die Belege bei (H.-L. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III. Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung Johannis, München 51969, 579. 102 In Jub 2,14 ist von der Erschaffung des Menschen die Rede, in 2,17 f. vom Sabbat, den die Engel feiern sollen. Und dann heißt es in 2,19 f.: »Und er (Gott) sagte zu uns (den Engeln): ›Siehe, ich will schaffen und erwählen mir ein Volk mitten aus meinen Völkern. Und sie werden mir Sabbat halten. Und ich werde sie heiligen mir zu einem Volk … Und ich habe auserwählt den Samen Jakobs unter allem, was ich gesehen habe, und habe ihn mir aufgeschrieben als erstgeborenen Sohn« (Übers. K. Berger, JSHRZ II/3, Gütersloh 1981, 329). 103 Dort lautet die entscheidende Stelle: »Rechne sie (Aseneth) zu deinem Volk, welches du erwählt hast bevor alle Dinge wurden (ƀėőĘďĕƬĘģĚěƯėčďėƬĝĒċēĞƩĚƪėĞċ) und laß sie hineingehen in deine Ruhe (ďŭĜĞƭėĔċĞƪĚċğĝưėĝęğ), die du bereitet hast deinen Auserwählten«. 104 Hofius, »Erwählt vor Grundlegung der Welt« (s. Anm. 100), 245 (Hervorhebungen im Original). In ZNW 62 (1971) 128 hatte Hofius den Unterschied im Erwählungsverständnis so bestimmt: Der Gedanke der vorzeitlichen Erwählung ziele in den jüdischen Texten darauf, »die unvergleichliche Würde und Vorrangstellung des auserwählten Volkes zu bekunden«, während der Epheserbrief mit der gleichen Vorstellung sage, dass »einzig und allein Gottes freie und souveräne Gnade, die jede menschliche Leistung und Würdigkeit radikal ausschließt, … Grund der die Kirche konstituierenden Erwählung« ist. 105 Vgl. Hofius, »Erwählt vor Grundlegung der Welt« (s. Anm. 100), 245: Für den Eph hat sich im Christusgeschehen der »ewige Ratschluß« Gottes realisiert, und das bedeutet: »Von Ewigkeit her ist Gott kein anderer als der ›Gott in Christus‹, – und als dieser ist er

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(3) Dieses erwählende Handeln Gottes hat sich in Christus vollzogen (őėċƉĞȦ). Zur Wendung őėāěēĝĞȦ gibt es schon im Blick auf die paulinischen Briefe und dann vor allem auch im Blick auf den Epheserbrief eine breite exegetische Diskussion darüber, ob sie eher »räumlich« oder aber eher »instrumental« zu verstehen ist. In Eph 1,3 wird die Wendung őėĞęȉĜőĚęğěċėưęēĜ jedenfalls räumlich gemeint sein, und das wird dann auch für őėāěēĝĞȦ in 1,3 wie für őėċƉĞȦ in V. 4 gelten: Gott hat ›uns‹ in ihm, d.h. in Christus erwählt, und damit bezog sich Gottes vorzeitliches erwählendes Handeln auf ›uns‹, nicht insofern wir bereits vorzeitlich existierten, sondern insofern wir vorzeitlich ›in Christus‹ waren, dessen Präexistenz vorausgesetzt ist. Allein als Menschen in Christus sind wir also von Gott vorzeitlich Erwählte. Das őėċƉĞȦ darf dabei nicht spekulativ ausgelegt werden: Gemeint ist, dass Gott »uns ›damals‹ vor Grundlegung der Welt als solche erwählt [hat] …, die jetzt ›in Christus‹ sind«.106

In 1,4b fügt der Verfasser des Eph eine finale Bestimmung an: Gott hat uns mit einem bestimmten Ziel erwählt, nämlich dazu, dass wir heilig und untadelig sein sollen vor ihm. Diese Wendung hat er offenkundig aus Kol 1,22 übernommen107; aber was dort auf das geschichtliche Versöhnungshandeln Gottes im (Kreuzes-)Tod Jesu bezogen war (»Jetzt aber hat er uns versöhnt …«, ėğėƯĎƫŁĚęĔċĞƮĕĕċĘďėőėĞȦĝƶĖċĞēĞǻĜĝċěĔƱĜċƉĞęȘĎēƩ ĞęȘĒċėƪĞęğ), wird nun übertragen auf Gottes vorzeitliches Erwählungshandeln: Sein vorzeitlicher mit der Erwählung verbundener Plan war es, dass »wir« ihm gegenüber (őėĨĚēęėċƉĞęȘ) untadelig sein sollten.108 Heinrich Schlier hat den Gedanken zurückgewiesen, Paulus trage hier so etwas wie eine doppelte Prädestination vor: »Im Blick auf manche irrige Interpretation der Erwählung« müsse man sagen, dass es »nicht ein Erwählen [ist], dessen Motiv nur die Souveränität Gottes ist, und das deshalb in der gemina praedestinatio besteht, sondern es ist ein souveränes Erwählen der Liebe, ein Erwählen der souveränen Liebe, die – weil Gott die Liebe ist – schon von Ewigkeit ihre liebende Bestimmung trifft … Unsere ewige Erwählung in Christus ist eine allem voraus ergehende Definition der Liebe Gottes.«109 Aber hier liegt m. E. ein Mißverständnis dessen vor, was ›Prädestination‹ theologisch bedeutet: Der auctor ad Ephesios spricht gewiß nicht abstrakt von der vorzeitlichen Erwählung, aber er spricht von ihr der Juden und Heiden bereits vor ihrer Existenz gnädig zugewandte Gott.« (Hervorhebung im Original) 106 H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser, HNT 12, Tübingen 1997, 133 (Hervorhebung im Original). Hübner betont, das ĎēƩŵđĝęȘāěēĝĞęȘ in V. 5, das im ĎēƩĞęȘċŲĖċĞęĜċƉĞęȘ in V. 7 näher expliziert werde, gebe die »›instrumentale‹ Dimension der ›lokalen‹ Dimension« an. 107 Vgl. J. Eckert, Art. Erwählung III. Neues Testament, TRE 10, Berlin 1982, 192–197, hier: 195: Die Glaubenden sind »aufgrund ihrer Beziehung zu Christus, dem Präexistenten«, in ihm erwählt; sie sich daraus ergebende sittliche Verpflichtung ist in Eph 1,4 ebenso betont wie in Kol 3,12. 108 In der Sache denselben Gedanken wird der Verfasser in Eph 2,10 vortragen. 109 Schlier, Epheserbrief (s. Anm. 97), 53. Schlier hält in diesem Kommentar den Eph für paulinisch.

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konkret im Stil des Bekenntnisses (»wir«) als von der ›uns‹ widerfahrenen Erwählung; das Gegenstück, die Verwerfung, kommt ihm deshalb nicht in den Blick, weil die Verwerfung nicht Gegenstand des Bekennens sein kann. Im Bekenntnis ist die Erwählung wahr allein als ein Akt der unbedingten Souveränität Gottes; schon deshalb kann der Verwerfungsgedanke keinesfalls theologisch ausgeschlossen werden. Wenn im Zusammenhang der Erwählung von der ŁčƪĚđ gesprochen ist, dann steht diese Liebe nicht in Spannung zu Gottes Souveränität, sondern sie ist im Gegenteil ein Prädikat dieser Souveränität. ›Liebe‹ ist kein Gott übergeordnetes Prinzip, keine gleichsam »freiwillige« Selbstbescheidung Gottes, sondern sie gehört unmittelbar zum Wesen des in seinem Handeln souveränen Gottes. Die dann in Eph 1,5 folgende Aussage, Gott habe »uns vorherbestimmt zur ›Sohnschaft‹ durch Jesus Christus«, ist im Grunde eine Wiederholung von V. 4: Die Erwählung ist eine Vorherbestimmung110 zur ğŮęĒďĝưċ, wobei Jesus Christus jetzt als der »Mittler« vorgestellt ist (ĎēƩŵđĝęȘāěēĝĞęȘ).111 Wenn dabei so nachdrücklich betont wird, dass diese Vorherbestimmung geschehen sei »nach dem Wohlgefallen seines Willens« (ĔċĞƩĞƭėďƉĎęĔưċė ĞęȘĒďĕƮĖċĞęĜċƉĞęȘ), dann wird damit abermals der Aspekt der Souveränität Gottes unterstrichen: Allein Gottes Wille ist Maßstab des Handelns Gottes. Dass damit aber wiederum nicht Willkür gemeint ist, zeigt die sogleich folgende Zielbestimmung (V. 6), die explizit auf Gottes Gnade (ġƪěēĜ) verweist. Sichtbar wird dies auch in der den folgenden Abschnitt V. 7–10 einleitenden Aussage V.  7, wo »Paulus« von der Erlösung (ŁĚęĕƴĞěģĝēĜ) spricht, die ›wir‹ haben »durch sein Blut«, näher bestimmt als »Vergebung« der (d.h. unserer) Verfehlungen (ŕġęĖďė… ĞƭėŅĠďĝēėĞȥėĚċěċĚĞģĖƪĞģė). Dies wird dann verbunden mit dem Hinweis auf den »Reichtum seiner Gnade«, und so wird abermals deutlich, dass im Blick auf das souveräne Erwählungshandeln Gottes von Willkür keinesfalls gesprochen werden darf.

III. Paulus, der Epheserbrief und Calvin Weder Paulus noch der Verfasser des Epheserbriefes112 wollte auf die Frage nach dem ewigen Heil des einzelnen Menschen als eines Individuums antworten. Die Frage »Bin ich erwählt?« haben sich so vermutlich weder die 110 Der Verfasser verwendet das Verb ĚěęęěưĐďēė in derselben Weise wie Paulus in Röm 8,29 f. 111 Dies spricht dafür, dass die Näherbestimmung ďŭĜċƉĞƲė mit Krämer (s. Anm. 81) auf Gott zu beziehen ist nicht auf Christus; die »Sohnschaft« bezieht sich auf Gott, wir sind durch Christus »Söhne / Töchter« in Beziehung zu Gott. 112 Die Frage, in welcher Beziehung der auctor ad Ephesios zu Paulus stand, ist kaum zu beantworten; ein direkter »Schüler« war er vermutlich nicht, aber er gehörte sicher in das Umfeld der paulinischen Tradition und war vermutlich mit einigen Briefen des

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Adressaten des paulinischen Römerbriefes noch die Leser des nachpaulinischen Epheserbriefes gestellt, und die Autoren dieser Schriften erst recht nicht. Für den Verfasser des Epheserbriefes ist es klar, dass die Christen, also die an Gottes Handeln in Christus glaubenden Menschen, von Gott erwählt sind, und zwar entsprechend dem vor aller Zeit von Gott gefaßten Plan (1,4– 6). Diese Aussage ist für ihn aber nicht Ergebnis spekulativen Nachdenkens, sondern Inhalt der eigenen Glaubensüberzeugung. Dass es Menschen gibt (oder geben könnte), die nicht erwählt sind, steht für den Epheserbrief nicht zur Diskussion – und dies in des Wortes doppelter Bedeutung: Natürlich gibt es der Formulierung in 2,2 entsprechend Menschen, die immer noch »wandeln gemäß dem Äon dieser Welt, gemäß dem Herrscher des Machtbereichs der Luft«, d.h. es gibt Menschen, die als »Söhne des Ungehorsams« (ğŮęƯĞǻĜŁĚďēĒďưċĜ) zu bezeichnen sind. Aber der auctor ad Ephesios kommt offenbar nicht auf den Gedanken, dieser Zustand sei womöglich in dem Sinne als endgültig anzusehen, dass etwa jede missionarische Arbeit überflüssig bzw. von vornherein vergeblich wäre. Die Aussage in Eph 2,2 fragt nicht, wer sub specie aeternitatis die ğŮęƯĞǻĜŁĚďēĒďưċĜ sein könnten; gedacht ist insbesondere auch nicht an die nicht an Christus glaubenden Menschen aus dem Volk Israel, als seien diese jedenfalls verworfen. Das Thema »Juden und Heiden« ist m. E. für den Autor des Epheserbriefes ohnehin nicht bzw. nicht mehr aktuell113; das Gegenüber dieses Textes sind allgemein die Menschen, und ihnen ist nach 3,9 das bisher verborgene Geheimnis zu verkündigen. Umgekehrt genügt dem Autor die Feststellung, dass »wir« die in Christus vor Grundlegung der Welt von Gott Erwählten sind. Bei Paulus war die Situation insofern eine andere, als für ihn die Frage nach der Gottesbeziehung des nicht an Christus glaubenden Israel von existentieller Bedeutung ist. Aber auch ihm geht es nicht darum, den einzelnen Israeliten als ›erwählt‹ oder ›nicht erwählt‹ zu erweisen, und es geht ihm auch nicht darum, das Geheimnis der Erwählung zu enthüllen. Die theologische Argumentation des Paulus gründet in der im Glauben wahrgenomApostels vertraut. Ob er den Kolosserbrief, von dem er direkt literarisch abhängig ist, für authentisch paulinisch hielt, läßt sich nicht sagen. 113 Das gilt m. E. in besonderer Weise auch für Eph 2,11–22, wie vor allem 2,15 zeigt; ginge es hier um das Verhältnis der Kirche zum gegenwärtigen Israel, so würde die auf Christus bezogene Aussage ĞƱėėƲĖęėĞȥėőėĞęĕȥėőėĎƲčĖċĝēėĔċĞċěčƮĝċĜ ja bedeuten, dass die Tora vollständig beseitigt und damit die Identität Israels aufgehoben ist. G. Sellin, Der Brief an die Epheser, KEK VIII, Göttingen 2008, 216 betont, in den Wendungen in 2,15a stehe »der Aspekt des Besiegens und Unschädlich-Machens im Vordergrund«, aber er fragt nicht, was das für den Blick auf Israel bedeutet. Er stellt lediglich fest, Eph 2,15 habe »Röm 3,31 und 7,2.7 gegen sich«, was »eins der äußerlich unscheinbaren aber gewichtigen Argumente gegen paulinische Verfasserschaft des Eph« sei (aaO., 217 mit Anm. 160).

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menen Erwählung sowie in der damit selbstverständlich verbundenen Erkenntnis, dass es Nicht-Glaubende gibt. Ihnen, davon ist Paulus überzeugt, wird sich Gott gnädig zuwenden – im Eschaton, bei der Parusie. Gerade im Rahmen der Argumentation in Röm 11 gibt es keine Aussagen über endgültig Verworfene, und von niemandem wird gesagt, er sei endgültig »verloren«.114 Der Inhalt des den Adressaten in Rom mitgeteilten »Geheimnisses« (ĖğĝĞƮěēęė) ist die künftige Gnadenwahl Gottes (Röm 11,25–32).115 Der entscheidende Unterschied zwischen den Aussagen des Paulus und des Epheserbriefes einerseits und der Fragestellung Calvins andererseits liegt darin, dass es dem Genfer Reformator ausdrücklich um die Frage der Gottesbeziehung des einzelnen geht; diese Frage ist bei Paulus und auch im Epheserbrief so nicht im Blick. Aber auch Calvin kommt es darauf an, die ewige Vorherbestimmung Gottes als Gottes erwählendes Handeln zu begreifen, und er hat nicht die Absicht, spekulativ und abstrakt über Erwählung und Verwerfung nachzudenken. Insofern denkt Calvin in seiner Prädestinationstheologie in den von Paulus und dann insbesondere auch im Epheserbrief vorgegebenen Bahnen.

114 Dagegen spricht Paulus in 1 Kor 1,18 ff. von den ŁĚęĕĕƴĖďėęē als Gegenstück zu den ĝȣĐƲĖďėęē, aber auch hier werden »die, die verloren gehen«, nicht näher beschrieben, während wir diejenigen sind, »die gerettet werden«. 115 Vgl. dazu meine Überlegungen in dem Aufsatz: Israel und sein ›Land‹ im Neuen Testament (s.o S. 149–189, hier: 168–170).

Johannes Calvin als Exeget Der Genfer Reformator Johannes Calvin hat ein sehr umfangreiches exegetisches Werk hinterlassen – Kommentare zu fast allen neutestamentlichen Schriften und zu vielen Büchern des Alten Testaments, darüber hinaus theologische Reflexionen zur biblischen Hermeneutik insbesondere in seinem Hauptwerk, der Institutio Christianae Religionis. Im folgenden sollen einige Aspekte der Exegese Calvins vorgestellt und untersucht werden. Eine umfassende Auseinandersetzung in den Einzelheiten würde über den Rahmen eines Aufsatzes hinausgehen; andererseits reicht die Beschränkung auf ein bloßes Referat exegetischer Beobachtungen Calvins in seinen Kommentaren zur Bibel nicht aus. Die folgenden Überlegungen beginnen in Teil I. mit einer knappen biographischen Skizze; in Teil II. folgen Hinweise zum grundsätzlichen Ansatz von Calvins Hermeneutik, wie er vor allem in der Institutio zu erkennen ist. Sie stellen die Voraussetzung dar für seine exegetische Arbeit an den biblischen Schriften, die in Teil III. an Beispielen vorgestellt werden soll. Im kurzen abschließenden Teil IV. wird dann versucht, einige Perspektiven für eine an Calvin anknüpfende und ihn dabei kritisch aufnehmende Schriftauslegung zu beschreiben.

I. Zu Calvins Biographie Johannes Calvin1, geboren 10.7.1509 in Noyon (Frankreich), hatte ursprünglich Theologe werden sollen, wechselte aber nach einem Konflikt des Vaters mit der Kirche das Fach und studierte Jura in Orléans und in Bourges, wo er 1530 Licentiat für Rechtswissenschaft wurde. Er schrieb in diesem Zusammenhang einen Kommentar zu der im Jahre 56 vom römischen Philosophen und Politiker Seneca verfaßten Schrift De clementia. Calvin

1 Zur Biographie Calvins vgl. W. Nijenhuis, Art. Calvin, Johannes, TRE VII, Berlin 1981, 568–592, vor allem 569–578; B. A. Gerrish, Art. Calvin, Johannes, RGG4 Band 2, Tübingen 1999, 16–36, vor allem 16–23. Die »Stationen« seines Lebensweges werden dargestellt in vier Beiträgen im »Calvin Handbuch«, hg. von H. J. Selderhuis, Tübingen 2008, 24–57. Vgl. auch die knappe, aber m. E. sehr instruktive Darstellung von P. Opitz, Leben und Werk Johannes Calvins, Göttingen 2009.

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bietet in diesem Kommentar, der 1532 im Druck erschien2, den Text und eine detaillierte historisch-philologische Auslegung des Werkes mit einer Fülle von Parallelen und Erläuterungen aus anderer antiker Literatur3; der Kommentierung geht eine weithin an Tacitus orientierte kurze Darstellung der vita des Seneca voran, in dem Calvin einen Mann von großer Bildung und Eloquenz und einen hervorragenden Stilisten sieht, der die lateinische Sprache erheblich beeinflußt habe.4 Das Buch ist im ganzen eher eine breit annotierte Textausgabe als ein »Kommentar«; aber der Aufbau ist Calvins späteren Kommentaren zu den biblischen Büchern durchaus vergleichbar, und es wird vor allem schon hier deutlich, dass Calvin beim Umgang mit Texten eine philologisch genaue Untersuchung für unabdingbar hält.5 1533 muß Calvin im Zusammenhang eines mit der Reformation verbundenen »Skandals« an der Pariser Universität die Stadt verlassen6; in der Zeit zwischen 1534 und 1536 wird aus dem humanistischen Juristen der evangelische Prediger, ohne dass man von einem »Bekehrungserlebnis« sprechen könnte.7 Von 1536 bis 1538 ist er auf Wunsch Guillaume Farels als Prediger in Genf tätig; nach der vom Rat der Stadt verfügten Ausweisung wirkt er bis 1541 in Straßburg, kehrt aber auf Bitten des Genfer Rats nach Genf zurück, wo er am 27. Mai 1564 stirbt.. In Straßburg beginnt Calvin mit der Abfassung von Kommentaren zur Bibel; bereits die in Basel erarbeitete und 1536 erschienene erste Auflage der Institutio war als eine Art Bibel-Katechismus angelegt gewesen. Die Auslegung der Bibel hatte für die Reformation von Anfang an höchste Priorität. Martin Luther hielt seine Römerbriefvorlesung in Wittenberg in den Jahren 1515/16, also vor dem Thesenanschlag. Huldrych Zwingli begann sein Wirken 1519 in Zürich mit Reihenpredigten über ganze biblische Bücher (lectio continua), weil er die bis dahin üblichen »Leseordnungen« ablehnte; 1525 begründete er die biblisch-exegetisch arbeitende »Prophecey«, aus der später die Universität Zürich hervorging.8 1531 er2

F. L. Battles / A. M. Hugo, Calvin’s Commentary on Seneca’s De Clementia, with Introduction, Translation, and Notes (Renaissance Text Series III), Leiden 1969. Seneca wendet sich mit dieser Schrift an seinen Schüler Nero mit der Aufforderung, ein Herrscher müsse Milde walten lassen; Nero galt in dieser Phase seines Lebens noch als ein »guter Herrscher«. 3 Offenbar nur an einer Stelle zitiert Calvin explizit aus dem NT. Gleich zu Beginn seiner Schrift läßt Seneca den Kaiser in einem Selbstgespräch von seiner Erwählung zur Herrschaft sprechen (I, 2), und dazu nennt Calvin neben zahlreichen Parallelen von Homer bis Plutarch auch Paulus: Est etiam illa confessio religionis nostrae, non esse potestatem nisi a deo: et quae sunt, a deo ordinatas esse (Röm 13,1). Vgl. dazu die »Introduction« in der in Anm. 2 genannten Ausgabe, p. 130*. 4 So Calvin im Vorwort (vgl. in der in Anm. 2 genannten Ausgabe pp. 10–13). 5 Bezüge zu der in dieser Zeit auch in Frankreich beginnenden Reformation und zu der alsbald rasch einsetzenden Verfolgung protestantischer Christen sind nicht zu erkennen. 6 Vgl. Opitz, Leben und Werk (s. Anm. 1), 26–30. 7 S.u. zu Calvins Psalmen-Auslegung. 8 S. dazu E. Campi, Art. Prophezei, RGG4 6, Tübingen 2003, 1716.

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schien erstmals die Zürcher Bibel als erste vollständige evangelische Bibelausgabe in deutscher Sprache. Philipp Melanchthon, Martin Bucer und auch Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger in Zürich, schrieben z. T. sehr umfangreiche Kommentare, nicht zuletzt auch zum Römerbrief.

Calvin eröffnet die Reihe seiner Bibelkommentare während seiner Tätigkeit in Straßburg 1539 mit der Auslegung des Römerbriefs. Nach und nach kommentiert er fast alle neutestamentlichen Schriften – bis 1556 die Briefe, ausgenommen die beiden kleinen Johannesbriefe, dann das Johannesevangelium, schließlich die synoptischen Evangelien, allerdings nicht einzeln, sondern in einer »Harmonie«.9 Ab 1557 beginnt er die Kommentierung der Schriften des Alten Testaments, die er aber nicht mehr abschließen kann. Textbasis sind für das Neue Testament der 1516 als Beigabe zur Vulgata edierte griechische Text des Erasmus, für das Alte Testament der im Judentum gebräuchliche masoretische Text sowie die Vulgata. Calvin übersetzt jeweils aus dem Griechischen bzw. dem Hebräischen ins Lateinische, Text und Kommentar sind dann in lateinischer oder auch in französischer Sprache abgefaßt; eine eigene Textrezension nimmt Calvin nicht vor. In der Widmung des Kommentars zum Zwölfprophetenbuch an den schwedischen König Gustav I. schrieb Calvin: »Da mich Gott mit der besonderen Gabe der Schriftauslegung bedacht hat, ist es mir klar, dass ich mit äußerster Sorgfalt versuchen muß, alle fruchtlosen Quisquilien weit fortzuweisen, so sehr sie auch sonst geeignet und angebracht wären, Beachtung zu finden. Und vornehmlich muß schlichte Einfachheit die Schriftinterpretation auszeichnen, wie sie zur rechten Erbauung der Kinder Gottes dienlich ist, die sich nicht mit der Hülse zufriedengeben, sondern den Wunsch haben, zum Kern vorzudringen.« Gern, so fügt Calvin hinzu, würde er die Schriftauslegung ganz zu seinem eigentlichen Lebensinhalt machen, doch ließen dies seine weiteren Aufgaben nicht zu.10

II. Zu Calvins Hermeneutik nach der ›Institutio‹ Calvin hat keine systematische Abhandlung zu seinem Schriftverständnis verfaßt; größere zusammenhängende Darstellungen finden sich aber in der Institutio. Die Schrift ist klar verständlich11, und es ist nahezu die einzige 9 Die Johannesoffenbarung hat Calvin nicht ausgelegt; er erwähnt sie auch in der Institutio kaum. Er sagt allerdings auch nichts ausdrücklich Negatives über sie, während Luther sie ja zusammen mit dem Hebräer- und dem Jakobusbrief gern aus dem Neuen Testament entfernt hätte. 10 Zitiert in der Übersetzung von J. Rogge, Aus Calvins Schriften und Briefen [Der Ausleger und Prediger Heiliger Schrift], in: Johannes Calvin 1509–1564. Eine Gabe zu seinem 400. Geburtstag, Berlin 1963, 124. 11 Vgl. H.-H. Wolf, Die Einheit des Bundes. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament bei Calvin, Diss. Halle-Wittenberg, Bethel 1942, 113, der auf die Bedeutung des Gedankens der sich selbst auslegenden Schrift verweist, auch wenn die Aussage scriptura

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Aufgabe des Auslegers, wie Calvin in der Widmung zur ersten Auflage des Römerbriefkommentars schreibt, »die Gedanken des Schriftstellers (mens scriptoris), dessen Erklärung er sich vorgenommen hat, offen zu legen«.12 Zwar gehen die biblischen Schriften auf Gott als den Verfasser zurück, aber Gott hat sein Wort den unterschiedlichen Verstehensmöglichkeiten der Menschen angepaßt, so dass die einzelnen Schriften doch je für sich zu interpretieren sind. Allegorische Schriftauslegung lehnt Calvin grundsätzlich ab; aber bisweilen weist er eine am Wortlaut orientierte Auslegung explizit zurück. Er schreibt zu Apg 7,55, ungeachtet der Formulierung im Text, dass Stephanus im offenen Himmel die Herrlichkeit Gottes gesehen habe und den Menschensohn stehend zur Rechten Gottes, hier sei von einem körperlichen Sitzen oder Stehen Christi nicht die Rede, sondern es werde »lediglich mit bildlichem Ausdruck sein mächtiges Herrschen beschrieben« (est igitur in toto contextu metaphora …); dasselbe gelte für die Angabe »zur Rechten Gottes«, denn, so fragt Calvin rhetorisch, »wohin wollten wir wohl seinen Richterstuhl stellen …, da Gott alles erfüllt und man nicht träumen darf, daß seine Rechte ein bestimmter Ort sei«.13 Zu Apg 28,23, wo es heißt, Paulus habe bei seiner Rede an die Juden in Rom »vom frühen Morgen bis zum Abend (ŁĚƱĚěģȇŖģĜŒĝĚƬěċĜ) gesprochen«, merkt Calvin an: Paulus hat »schwerlich ununterbrochen geredet, sondern nach kurzer Darlegung des Hauptinhalts des Evangeliums die Fragen und Einwürfe der Zuhörer beantwortet« (Apostolus post summam Evangelii breviter expositam vicissim auditoribus sciscitandi locum dederit, et responderit ad obiectas sibi quaestiones).14

In der Institutio15 nennt Calvin die Heilige Schrift die caelestis doctrina; mit ihr müsse man stets den Anfang machen, um zur rechten Gotteserkenntnis sacra sui ipsius interpres sich bei Calvin »nicht wörtlich findet, sachlich aber doch zutreffend ist«. 12 Widmung des Römerbriefkommentars an Simon Grynaeus; zitiert nach: Der Brief an die Römer. Ein Kommentar, hg. von Chr. Link u.a. Calvin-Studienausgabe Band 5.1, Neukirchen-Vluyn 2005, 16/17. 13 Zitiert nach der Ausgabe von A. Tholuck, Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii, Vol. IV. Ioannis Calvini in Acta Apostolorum Commentarii. Ad editionem Amstelodamensem, Berlin 1833, 143. Deutsche Fassung: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung. 11. Band Die Apostelgeschichte, übers. von K. Müller, Neukirchen oJ, 160. Calvin fügt eine kritische Anmerkung zur Lehre von der Ubiquität hinzu: »Trotzdem ist übrigens der Schluß verkehrt, daß Christus in seiner menschlichen Natur allenthalben sei. Denn daß er sich an einem bestmmten Ort befindet, hindert ihn nicht, seine Kraft durch die ganze Welt wirken zu lassen (… quidam imaginantur Christum in humana sua natura ubique esse. Namn quod certo loco continetur, id non obstat, quin virtutem suam exserat per totum mundum)« (Tholuck 144). 14 Müller, aaO., 527/Tholuck, Acta Apost, 489. 15 Die folgenden Ausführungen zu Calvins Schriftverständnis in der Institutio Christianae Religionis beziehen sich durchweg auf die 3. Auflage von 1559. Die Belege werden jeweils oben im Text genannt; sie folgen der Ausgabe von A. Tholuck, Ioannis Calvini Institutio Christianae Religionis. Bd 1–2, Berlin 1834/1835, und der deutschen Übersetzung von O. Weber (Neukirchen-Vluyn 21963, zuletzt in der Ausgabe: Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten

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zu gelangen (I 6,2). Solche himmlischen Offenbarungen seien aber nicht »alltäglich« (non quotidiana e coelis redduntur oracula), sondern es hat Gott gefallen, sich allein auf die Schrift zu konzentrieren (I 7,1). Zwischen der Schrift und dem kirchlichen Dogma gibt es keine Differenz, aber die Kirche empfängt ihre Autorität aus der Schrift und es erhält nicht umgekehrt die Schrift ihre Autorität von der Kirche (I 7,1). Beim Trienter Konzil war ein Kanonverzeichnis aufgestellt worden, »damit kein Zweifel aufkommen kann, welche Bücher von der heiligen Versammlung anerkannt wurden«; dieses Verzeichnis entspricht der Vulgata, von der es ausdrücklich heißt, sie sei als der maßgebliche Text nach den Vorgaben der Kirche auszulegen.16 Offenbar in Bezugnahme darauf weist Calvin in der Institutio die These zurück, es hänge »von der kirchlichen Bestimmung ab, welche Verehrung der Schrift zukommt und welche Bücher ihr überhaupt zuzurechnen sind«; der Glaube werde dem Gespött der Gottlosen preisgegeben, »wenn man animmt, er müsse seine Autorität von Menschen leihen« (I 7,1). Für die Aussage, die Glaubwürdigkeit der Schrift beruhe nicht auf dem Urteil der Kirche, beruft sich Calvin auf Eph 2,20: Wenn das Fundament der Kirche die Lehre der Propheten und Apostel ist, dann muß also diese Lehre der Existenz der Kirche vorausgehen (si fundamentum est ecclesiae Prophetica et Apostolica doctrina, suam huic certitudinem ante constare oportet, quam illa exstare incipiat). Dass die Schrift von Gott kommt, ist für Calvin unmittelbar evident: Es verhält sich wie bei dem Unterschied von Licht und Finsternis, Weiß und Schwarz, Süß und Bitter – man vermag das eine wie das andere unmittelbar zu erkennen und zu unterscheiden (I 7,2). In diesem Zusammenhang geht Calvin auf die Aussage des Kirchenvaters Augustin ein, dass er dem Evangelium nicht glauben würde, wenn er nicht durch die auctoritas ecclesiae dazu gebracht würde. Damit, so führt Calvin aus, lehre Augustin nicht die Vorordnung der Kirche vor der Schrift; vielmehr zeige der Kontext, was Augustin meint: Man erfährt vom Inhalt des Evangeliums nur durch Menschen, und »deshalb lehrt Augustin hier nicht, der Glaube der Frommen sei auf die Autorität der Kirche gegründet, er will auch nicht sagen, die Gewißheit des Evangeliums hänge davon ab. Er behauptet bloß, daß die Ungläubigen nicht zur Gewißheit des Evangeliums kommen und dadurch für Christus gewonnen würden, wenn sie nicht die einhellige Überzeugung der Kirche in diese Richtung wiese« (I 7,3). Dass die Heilige Schrift von Gott kommt, »glauben wir, weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, nicht aber auf Grund des eigenen Urteils oder desjenigen anderer Leute«; die Schrift kommt »zwar durch den Dienst von Menschen, aber tatsächlich doch aus Gottes eigenem Munde zu uns« (illius ergo virtute illuminati, iam non aut nostro, aut aliorum iudicio Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008). 16 Zitiert nach J. Neuner/H. Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, neubearbeitet von K. Rahner und K.-H. Weger, Regensburg 121971, 78 f.

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credimus, a Deo esse Scripturam: sed supra humanum iudicium, certo certius constituimus … hominum ministerio, ab ipsissimo Dei ore ad nos fluxisse, I 7,5).

Calvin ist überzeugt, dass Gott selbst Autor der Schrift ist; aber er betont zugleich, dass sich Heilige Geist dem Verstehen des Menschen anpaßt. So gebe es in der Bibel Texte, die in ihrer literarischen Qualität profanen Schriftstellern ebenbürtig sind, womit Gottes Geist zeige, dass ihm eloquentia zu Gebote steht – als Belege nennt Calvin die Sprache Davids in den Psalmen oder die Sprache des Jesaja, die »sanft und lieblich« sei (suavis et iucunda). Die rauhere Sprache des Amos oder des Jeremia oder auch Sacharjas sei eher »bäurisch« (asperior sermo rusticitatem sapit, I 8,2). Von besonderer Bedeutung sei zum einen auch das hohe Alter der Schrift, wie bei Mose zu erkennen sei (I 8,3–6), zum andern das an vielen Stellen sichtbar werdende wunderbare Vorherwissen der Propheten. Wenn Jesaja in 45,1 von Kyros spricht, der doch erst lange nach dem Tod Jesajas geboren wurde, so konnten die Zeitgenossen des Jesaja diese Aussage gar nicht verstehen; dasselbe gelte für die Weissagungen Daniels (I 8,8). Wende man ein, dass diese Schriften vielleicht gar nicht von Mose oder Jesaja verfaßt wurden, so sei dies mit dem Argument zurückzuweisen, dass man Entsprechendes ja auch von Plato, Aristoteles oder Cicero sagen könnte (I 8,9). Calvin findet einen besonderen Beweis für den göttlichen Ursprung der Schrift auch darin, dass die alttestamentlichen Schriften in der Zeit der Verfolgung durch Antiochus IV. wunderbar erhalten wurden, bis hin zu der weltweit gebrauchten Septuaginta (graeca interpretatio, quae per totum orbem ea vulgaret). Vor allem aber habe Gott die Heilige Schrift dazu verwendet, die Heilslehre (salutis doctrina) zu bewahren, damit Christus zu seiner Zeit offenbar würde. Die Juden haben uns die Bücher überliefert, »die sie selber nicht zu gebrauchen wußten« (ipsi usum non habent); Augustin nenne sie daher mit vollem Recht »die Bibliothekare der christlichen Kirche« (I 8,10). Beweise dafür, dass die Schrift sich selbst durchzusetzen vermag, sieht Calvin auch darin, dass sie in der ganzen Welt gelesen wird und dass die Märtyrer von ihr Zeugnis abgelegt haben (I 8,12–13). Allerdings, so betont Calvin abschließend, ist es unmöglich, Ungläubigen beweisen zu wollen, dass die Schrift Gottes Wort ist, »denn das kann ohne den Glauben nicht erkannt werden« (quod, nisi fide, cognosci nequit, I 8,13). Nun könnte die starke Betonung der Rolle des Geistes ein Argument für diejenigen sein, die sich in »schwärmerischer« Weise auf den Geist berufen. Deshalb betont Calvin im Widerspruch zu den fanatici, dass der Geist gerade an der Übereinstimmung mit der Schrift erkannt wird. Das uns verheißene »Amt des Geistes« bestehe nicht darin, neue und unerhörte Offenbarungen zu erfinden, sondern es will uns festmachen an der uns im Evangelium anvertrauten Lehre (non ergo promissi nobis Spiritus officium

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est, novas et inauditas revelationes confingere, aut novum doctrinae genus procudere, quo a recepta Evangelii doctrina abducamur, sed illam ipsam, quae per Evangelium commendatur, doctrinam mentibus nostri obsignare, I 9,1). Der Vorwurf, damit vertrete er die von Paulus in 2 Kor 3,6 zurückgewiesene Bindung an den »Buchstaben, der tötet«, gehe ins Leere; denn dort wende sich Paulus gegen »falsche Apostel, die das Gesetz ohne Christus lehrten«, also ohne Gnade: Der Buchstabe ist tödlich, das Gesetz des Herrn tötet dort seine Leser, wo es von der Gnade Christi gelöst wird und wo man es nicht mit dem Herzen, sondern nur mit den Ohren vernimmt (emortua est igitur litera, et suos lectores necat Lex Domini, ubi et a Christi gratia divellitur, et intacto corde, auribus tantum insonat); die »Kinder Gottes«, die Gläubigen, wissen, dass allein das Wort das Organ ist, durch das Gott ihnen die Erleuchtung des Geistes zuteil werden läßt (non ignorant, Verbum esse organum, quo Spiritus sui illuminationem fidelibus Dominus dispensat, I 9,3). Calvin betont die Einheit von Altem und Neuem Testament. Sie kommt zustande durch Christus17, wie ja Christus selber sagt, dass nur »der Sohn den Vater offenbart« (Mt 11,27). Das bedeutet, dass alle Gotteserkenntnis durch Christus kommt: »Gott hat sich den Menschen niemals anders offenbart als durch den Sohn, das heißt durch seine einige Weisheit, sein einiges Licht und seine einige Wahrheit« (intelligo Deum non alia se unquam ratione manifestasse hominibus quam per Filium, hoc est, unicam suam sapientiam, lucem ac veritatem, IV 8,5). Das geschah allerdings nicht immer auf ein und dieselbe Weise; vielmehr wurde diese Weisheit zunächst in Form von mündlicher Tradition weitergegeben, dann durch die Schrift (IV 8,6), und dann wurde Gottes Weisheit im Fleisch geoffenbart: Seitdem haben wir »den vollen Glanz der göttlichen Wahrheit, so wie die Klarheit am Mittag zu sein pflegt, wenn auch das Licht zuvor einigermaßen verdüstert war«; dafür beruft sich Calvin auf Hebr 1,1 f., wobei er betont, jetzt sei das Reden Gottes ĚęĕğĖďěȥĜ ĔċƯ ĚęĕğĞěƲĚģĜ abgelöst »durch das letzte und ewige Zeugnis« in Christus (IV 8,7). Schon im biblischen Israel ging Gottes Offenbarung auf Christus zurück, denn allein dem auserwählten Volk, also Israel, war im Gesetz der Erlöser verheißen. Das aber meint zugleich, dass Gott niemals an einer Gottesverehrung Gefallen hatte, die nicht auf Christus ausgerichtet war (nullum unquam Deo cultum placuisse, nisi qui in Christum respieceret), was auch für die kultischen Opfer gelte, die auf das kommende Opfer Christi verweisen (II 6,1–2). Gott habe die ganze Nachkommenschaft Abrahams mit in seinen Bund aufgenommen, und dennoch sei Christus der eigentliche Same Abrahams, wie Paulus in Gal 3,16 feststelle: »Es hing also die Annahme des 17 Vgl. dazu H.-H. Wolf, Die Einheit des Bundes (s. Anm. 11), vor allem 117–140; W. H. Neuser, Calvins Verständnis der Heiligen Schrift, in: Ders. (Hg.), Calvinus Sacrae Scripturae Professor. Calvin as Confessor of Holy Scripture, Grand Rapids 1994, 41–71.

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erwählten Volkes von Anfang an von der Gnade des Mittlers ab« (prima itaque electi populi adoptio a gratia Mediatoris pendebat). Bei Mose sei das zwar »nicht mit ganz klaren Worten ausgedrückt« (non adeo claris verbis exprimitur apud Mosen), aber es sei dennoch offensichtlich, wie das Lied der Hanna in 1 Sam 2,10 und die dann in 2,35 folgende Verheißung zeigen18, die sich auf die von Gott gesegnete Kirche und auf Christus beziehen (II 6,2). Calvin schließt mit der Aussage, es gebe »keine heilbringende Erkenntnis Gottes ohne Christus«, und »deshalb ist seit Anbeginn der Welt (ab exordio mundo) er [Christus] allen Erwählten vor Augen gestellt worden, dass sie auf ihn schauten und ihr Vertrauen auf ihn setzten« (II 6,4).19

In Institutio II 9 geht Calvin ausführlich auf die Bedeutung Christi für das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ein, nachdem er zuvor in dem umfangreichen Kapitel II 8 den Dekalog ausgelegt hatte. In II 9,1 betont er, dass die Verheißung des mit Christus kommenden Evangeliums allein dem erwählten Volk Israel gilt, was Christus selber in Joh 8,56 zum Ausdruck bringe: »Abraham sah meinen Tag – und freute sich.« Und wenn es auch, wie Calvin erläutert, »nur ein trüber, unklarer Blick in weite Ferne« war, »so war doch die Gewißheit rechter Hoffnung vorhanden« (quia etsi obscurior fuit intuitus rei procul remotae, nihil tamen ad bene sperandi certitudinem defuit), und deshalb begleitete die Freude das Leben Abrahams bis zum Ende (II 9,1). Das Evangelium sei zu verstehen als die klare Enthüllung des Geheimnnisses Christi (Evangelium accipio pro clara mysterii Christi manifestatione), als Offenbarung der uns in Christus dargebotenen Gnade (II 9,2). Gleichwohl gebe es unerfüllte Verheißungen, denn es gelte beides: Wir besitzen in Christus alles, was zur Vollkommenheit himmlischen Lebens gehört, und doch ist der Glaube ein Schauen von Gütern, die man nicht sieht (nos possidere in Christo quicquid ad coelestis vitae perfectionem spectat, et tamen fidem esse visionem bonorum, quae non videntur, II 9,3, in Anspielung auf Hebr 11,1). Vielen Aussagen bei Paulus entsprechend gebe es tatsächlich einen Gegensatz zwischen dem Gesetz und dem Evangelium; aber das Evangelium ist nicht zu verstehen als ein anderer Weg zum Heil, sondern es ist die Beglaubigung der Verheißungen, und es fügt zum Schatten den Körper selbst hinzu (sed non ita successit Evangelium toti Legi, ut diversam rationem salutis afferret: quin potius ut sanciret rarumque esse probaret quicquid illa promiserat, et corpus umbris adiungeret, II 9,4). Zwischen dem Gesetz und dem Evangelium stehe Johannes der Täufer, der einerseits die 18 1 Sam 2,10.35: »Der Herr richtet die Enden der Erde. Seinem König gebe er Stärke, und er erhebe das Horn seines Gesalbten … Ich aber werde für mich einen treuen Priester auftreten lassen, der nach meinem Herzen und nach meinem Sinn handeln wird. Und ich werde ihm ein Haus bauen, das Bestand hat, und er soll immer vor meinem Gesalbten wandeln.« 19 Hier fügt Calvin hinzu, die Muslime (Turcae) ersetzten den wahren Gott durch einen Götzen, insofern sie Christus verwerfen (substituunt tamen in locum veri Dei idolum, dum a Christo abhorrent).

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summa Evangelii ausspreche mit seinem Wort von Christus als dem »Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt« (Joh 1,29), der aber andererseits noch nicht von der Auferstehung Christi gepredigt habe (II 9,5). In Institutio II 10 beschreibt Calvin die Ähnlichkeit (similitudo) zwischen dem Alten und dem Neuem Testament. Das Alte Testament weise mit allen seinen Aussagen in die Zukunft und enthalte die Verheißung des Evangeliums, und so fragt Calvin rhetorisch, wer denn die Erkenntnis Christi den Juden absprechen wolle, »mit denen doch der Bund des Evangeliums geschlossen worden ist« (quis igitur expertes Christi Iudaeos facere ausit, quibuscum audimus fuisse percussum Evangelii foedus, cuius unicum fundamentum Christus est?, II 10,4). Israel habe ja sogar dieselben sacramenta des Bundes empfangen, nämlich Taufe und Abendmahl, wie Paulus in 1 Kor 10 zeige (II 10,5). Die Väter hatten das Wort und den Bund, und sie sahen das ewige Leben, wie Calvin am Beispiel vieler Personen aus der Geschichte Israels und vieler alttestamentlicher Texte zeigen zu können meint (II 10,9–22). Diese Darstellung des Bundes läuft dann aber darauf hinaus, dass Calvin mit Erstaunen die Ablehnung des Evangeliums durch das jüdische Volk wahrnimmt: Sie lesen Mose intensiv und eifrig, aber sie werden durch die Decke daran gehindert, das Licht auf seinem Antlitz zu sehen; und, so schließt Calvin in Aufnahme von 2 Kor 3,14, Mose bleibt ihnen verdeckt und verhüllt, bis sie sich zu Christus hinwenden, von dem sie sich jetzt abzulösen und abzutrennen bemühen (Mosen ergo legunt, et assidue revolvunt: sed opposito velamine impediuntur, ne cernant lucem in eius vultu refulgentem: atque ita manebit manebit illis obtectus ac involutus, donec ad Christum convertantur, a quo illlum nunc quantum possunt, abducere ad distrahere student II 10,23).20 In Institutio II 11 stellt Calvin fünf Unterschiede (differentiae) zwischen den Testamenten dar. Die erste wesentliche Differenz besteht darin, dass sich Gottes Verheißungen für Israel auf irdische Güter bezogen, worin aber in Wahrheit das himmlische Erbe abgebildet sei (II 11,1). Den zweiten Unterschied sieht Calvin darin, dass das Alte Testament wegen der noch fehlenden veritas nur das »Bild« bietet, einen Schatten anstelle des Körpers (imaginem tantum et pro corpore umbram ostentabat), während das Neue Testament die gegenwärtige Wahrheit enthüllt und den Körper selbst (hoc praesentem veritatem et corpus solidum exhibet, II 11,4). Der Alte Bund war zeitlich (temporarium) und »gleichsam in der Schwebe« (veluti in suspenso erat), der Neue Bund im Blut Christi ist »neu und ewig«, wie die Abendmahlsworte zeigen, in denen Jesus sagt, der Bund Gottes gewinne »erst dann wirklich Bestand und Wahrheit, die ihn zu einem neuen und 20 Die Wiedergabe dieses Abschnitts in der deutschsprachigen Ausgabe (s. Anm. 15) ist sehr ungenau.

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ewigen Bund macht, wenn er mit seinem Blute versiegelt« ist (tum vere Dei Testamento suam constare veritatem, per quam novum fit et aaternum, dum sanguine suo obsignatur, II 11,4). Den dritten Unterschied sieht Calvin in der Verschiedenheit von Buchstabe und Geist. Er beruft sich auf Jer 31,31 ff. und deutet dann die Aussagen des Paulus über Buchstabe und Geist (2 Kor 3,6–11) von dort her nach dem Maßstab von »Gesetz und Evangelium«. Der Prophet wie der Apostel schreiben dem Gesetz nur dies zu, dass es »das Rechte verordnet, das Unrecht verbietet, denen, die Gerechtigkeit tun, den Lohn verheißt und den Übertretern mit Strafe droht  – die Verkehrtheit des Herzens aber, die doch von Natur in allen Menschen steckt (cordis pravitatem, quae cunctis hominibus naturalis inest), läßt es unterdessen unverändert und unausgefegt«. (II 11,7). Der vierte Unterschied liegt nach Calvin darin, dass wir, wie Paulus in Gal 4,22–31 schreibt, durch das Gesetz zur Knechtschaft, durch das Evangelium aber zur Freiheit neu geboren wurden: »Das Alte Testament hat dem Gewissen Schrecken und Furcht gebracht: das Neue Testament bringt uns Gottes Wohltat und erfüllt das Herz mit Freude« (Vetus Testamentum pavorem ac trepidationem incussisse conscientiis: Novi beneficio fieri, ut in laetitiam solvantur). Wo im Alten Bund die heiligen Väter den Geist des Glaubens empfangen hatten, da stammte das nicht aus dem Gesetz, sondern es war im eigentlichen Sinne eine Frucht des Neuen Testaments (II 11,9).21 Als fünften Differenzpunkt nennt Calvin die Berufung der Heiden (gentium vocatio): Gott hat allein Israel aus allen Völkern berufen; aber als »die Zeit erfüllt war« (at ubi venit plenitudo temporis, vgl. Gal 4,4), wurden alle mit Gott versöhnt und zu einem Volk gemacht (in unum populum coalescerent), wie Paulus in Gal 3,28; 6,15 sage (II 11,11). Diese Berufung der Völker sei zwar in vielen Prophetenworten verheißen worden, aber sogar Christus selbst hatte nicht von Anfang an damit begonnen, wie Mt 10,5 f. und andere Stellen zeigen. Erst die Apostel hätten schließlich die Verkündigung unter den Völkern begonnen und verwirklicht. Es sei nicht erstaunlich, dass Paulus dies ein mysterium nenne, das verborgen war a saeculis et generationibus (Kol 1,26) und das nach 1 Petr 1,12 sogar für die Engel wunderbar sei (II 11,12).

Auf die Frage, warum es diese differentia zwischen den Testamenten überhaupt gibt, wo doch Gott unveränderlich ist (perpetuo sibi constat), anwortet Calvin, Gott habe zu verschiedenen Zeiten verschiedene Einrichtungen getroffen (diversis saeculis diversas formas accomodaverit): Wenn der Bauer seinem Gesinde im Winter andere Anweisungen gibt als im Sommer, dann sei das keine Abweichung von den Regeln des Ackerbaus, sondern entspreche ihnen gerade (cum perpetuo naturae ordine coniuncta est). Und wenn ein Vater die Kinder in den unterschiedlichen Lebensaltern auf un21 In diesem Zusammenhang setzt sich Calvin mit Augustin auseinander, der das Gesetz in seiner Kraftlosigkeit (debilitas) vom Evangeliumin in seiner Festigkeit und Kraft (firmitudo) unterschieden habe; Calvin selber will unterscheiden zwischen der Klarheit des Evangeliums und der dunkleren Verlautbarung des Wortes in der vergangenen Zeit (inter Evangelii claritatem, et obscuriorem quae praecesserat verbi dispensationem distinguit, II 11,10).

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terschiedliche Weise erzieht, dann könne man nicht sagen, er sei leichtfertig oder weiche von seinen Grundsätzen ab (non propterea dicemus ipsum levem esse, aut a sua sententia discedere). Paulus vergleiche ja die Juden mit unmündigen Kindern und die Christen mit reifen Jünglingen (II 11,13, vgl. Gal 4,1 ff.). Eine Antwort auf die Frage, warum Gott so handelt, dürfe man nicht erwarten: »Wir dürfen nicht daran zweifeln, dass alles, was Gott getan hat, weise und gerecht und geschehen ist, auch wenn wir oft nicht den Grund wissen, weshalb es so geschehen mußte« (quicquid a Deo factum est, spienter et iuste factum ne dubitemus: etiamsie causam saepe nesciamus, cur ita fieri oportuerit, II 11,14).

III. Beispiele für Calvins Exegese22 1. Zur Exegese neutestamentlicher Schriften Mit den im folgenden vorgestellten Auslegungen neutestamentlicher Texte sollen einige charakteristische Aspekte der Exegese Calvins hervorgehoben werden, ohne den Versuch einer Systematisierung. Am Anfang stehen Textbeispiele aus der reformationsgeschichtlich wichtigen Exegese des Römerbriefs (1.), es folgt ein Beispiel für eine kultur- und sozialgeschichtliche Exegese eines Abschnitts im Ersten Korintherbrief (2.). Die Beispiele zu Calvins Exegese des Johannesevangeliums (3.) und der synoptischen Evangelien (4.) sollen zeigen, dass der Reformator trotz seiner grundsätzlichen Rede von Gott als dem Autor der biblischen Texte historische Fragen beachtet, wo das angesichts der überlieferten unterschiedlichen Texte auch aus seiner Sicht unumgänglich ist. 1. Der 1539 verfaßte, 1540 erstmals veröffentlichte Römerbriefkommentar23 wurde von Calvin mehrfach bearbeitet, zuletzt 1551; die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Erstauflage.24 In der Widmung an seinen Freund Simon Grynaeus25 betont Calvin, der Ausleger müsse sich möglichst 22 Im folgenden werden vor allem solche exegetischen Ausführungen Calvins referiert, die sich auf Texte beziehen, deren Interpretation durch den Reformator theologisch bedeutsam und / oder philologisch instruktiv ist. 23 Vgl. zu den beiden folgenden Abschnitten R. W. Holder, Calvin as commentator on the Pauline epistles, in: D. K. McKim (ed.), Calvin and the Bible, Cambridge 2006, 224–255. 24 Die Hgg. der neuen Studienausgabe (CStA 5,1–2; s. Anm. 12) entschieden sich für die erste Auflage, weil sie reformationsgeschichtlich bedeutsam ist. Die Belege sind oben im Text mit Nennung der Seitenzahl genannt, die Belege aus dem lateinischen Text mit vorausgesetztem p. 25 Grynaeus (1493/94–1541) war Professor für Griechisch in Heidelberg und ab 1529 in Basel.

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kurz fassen, um die Leser nicht von dem auszulegenden Text selber abzulenken. Im Blick auf bereits vorhandene Auslegungen schreibt er, Philipp Melanchthon habe [1532] einen höchst gelehrten Kommentar verfaßt, aber dabei nur das untersucht, was nach seinem Urteil besondere Aufmerksamkeit verdiente, und so habe er »mit Absicht vieles übergangen, was den Geist der Leute einigermaßen ermüden könnte« (21). Heinrich Bullinger habe in seiner Auslegung [1532] Gelehrsamkeit mit Verständlichkeit verbunden (habuit enim coniunctam cum doctrina facilitatem, p. 20), und von Martin Bucer [1536] müsse man sagen, dass niemand eine größere Sorgfalt als er auf die Auslegung der Schrift verwandt habe (21/23). Aber, so fährt Calvin fort, Melanchthon habe zwar die wichtigsten Kapitel ausgelegt, jedoch »vieles, was nicht vernachlässigt werden darf, übergangen«, und Bucers Kommentar sei zu ausführlich, als dass er »von Menschen, die mit weiteren Aufgaben beschäftigt sind, zügig gelesen« werden könnte (23, ut exiguo tempore perlegi possint, p. 22). Calvin selber will eine knappe eigene Auslegung des ganzen Textes bieten und dabei die Leser in Kürze auch über das informieren, was in den anderen Kommentaren enthalten ist. Die Einführung (argumentum) beginnt mit dem Hinweis, dass Lobreden für diesen Brief dessen Bedeutung eher verdunkeln als ihm gerecht würden, denn es sei so, »dass jeder, der einen wahren Sinn verstanden hat, die Türen zum Zugang selbst zu den verborgensten Schätzen der Schrift offen findet« (27). Der Brief sei schon in seinem exordium höchst kunstvoll gestaltet, und dazu gehöre, dass sofort das Thema des Briefes genannt werde: »Wir werden durch den Glauben gerechtfertigt« (27, Atque ita ingreditur principalem totius epistolae quaestionem, Fide nos iustificari, p. 26). Zu Röm 1,17 – im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart – fragt Calvin nach dem Sinn von iustitia Dei, eine exegetisch ja unverändert diskutierte Frage. Gemeint sei jene Gerechtigkeit, »die vor Gottes Gericht bestehen soll« (iustitia quae apud Deo tribunal approbetur, p. 72/74). Üblicherweise verstehe man unter Gerechtigkeit der Menschen (hominum iustitiam) das, was nach deren Meinung »als Gerechtigkeit gilt und beurteilt wird, auch wenn es vielleicht nur leerer Dunst ist« (quae hominum opinione habetur et censetur iustitia, licet fumus tantum sit, p. 74); das sei hier aber nicht gemeint, denn Paulus spiele offensichtlich auf viele Weissagungen an, wo »der Geist die Gerechtigkeit Gottes im kommenden Reich Christi preist« (75). Möglich sei auch, iustitia Dei als »von Gott uns geschenkte Gerechtigkeit« zu deuten (Quae a Deo nobis donatur); das sei nicht falsch, »weil Gott uns ja durch das Evangelium rechtfertigt und so rettet« (75), doch sei das zuerst genannte Verständnis angemessener (videtur mihi magis convenire, p. 74). Wichtig sei, »dass diese Gerechtigkeit nicht nur aus der in freier Gnade gewährten Vergebung der Sünden besteht, sondern teilweise auch in der Gnade der Wiedergeburt« (75, partim quoque in regenerationis

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gratia, p. 74)): »Weil Gott uns umsonst mit sich versöhnt (nos sibi gratis reconciliat Deus), werden wir gerade deswegen zum Leben erneuert« (75, in vitam restitui, p. 74). Zu Röm 3,21 stellt Calvin fest, es sei nicht klar, warum Paulus hier die durch den Glauben erlangte Gerechtigkeit ausdrücklich »Gottes Gerechtigkeit« nennt (dubium est qua ratione ›Dei iustitiam‹ appellet, quam per fidem obtinemus, p. 186): Tut er es deshalb, weil sie allein vor Gott Bestand hat, oder weil der Herr sie uns aus Barmherzigkeit schenkt (Ideone quia sola coram Deo consistit, an quod eam nobis Dominus sua misericordia largiatur, ebd.)? Jedenfalls ist diese »nach Paulus außerhalb, das heißt ohne Mithilfe des Gesetzes offenbart worden, so dass das Gesetz als Platzhalter der Werke verstanden sein will« (187, dicit revelatam citra Legem esse, id est sine Legis adminiculo, ut Lex pro operibus accepta intelligatur, ebd.). Damit sei klar, dass »Verdienste aus Werken ausgeschlossen sind« (restat ergo, ut operum merita excludi sciamus, ebd.). Damit seien nicht nur die gemeinhin »moralisch guten Werke« gemeint, non opera tantum moraliter bona (ut vulgo appellant) gemeint »oder solche, die aus natürlichem Antrieb entspringen (fiunt naturae instinctu), sondern schlechthin alle, die auch die Gläubigen ihr Eigen nennen könnten«. Unter Bezug auf 2 Kor 5,19 und Gal 3,12 betont Calvin, die Rechtfertigung geschehe »in Christus«, und das bedeute »außerhalb von uns« (Nam ideo in Christo, quia extra nos); sie geschehe »aus Glauben (fide) deshalb, weil wir uns allein auf Gottes Barmherzigkeit und seine freien Verheißungen verlassen müssen«, und sie geschehe »aus Gnade deshalb, weil Gott unsere Sünden begraben sein lässt und uns mit sich versöhnt« (189, ideo gratis, quia nos sibi reconciliat Deus, peccata sepeliendo, p. 188). Zu 3,24 schreibt Calvin dann, in der ganzen Schrift gebe es »wohl keine herausragendere Stelle, die die Kraft dieser Gerechtigkeit besser ans Licht bringen könnte« (197, nullus est forte in tota Scriptura insignior locus ad vim istius iustitiae illustrandam, p. 196). Zu dem in 3,25 verwendeten Wort ŮĕċĝĞƮěēęė schreibt Calvin, hier liege offenbar eine »Anspielung auf das Sühneritual des Alten Bundes« vor (placet esse allusionem ad vetus propitiatorium, p. 200), denn Paulus lehre, dass das in Christus real vor Augen geführt ist, was dort vorgebildet wurde (Id enim re ipsa in Christo exhibitum docet, quod illic figurabatur, ebd.). Möglich sei auch die einfache Bedeutung »Versöhnung«, aber was Paulus meine, sei jedenfalls klar: »Ohne Christus bleiben bleiben wir immer unter Gottes Zorn; durch ihn aber werden wir versöhnt, da wir ja aufgrund seiner Gerechtigkeit angenommen sind« (201, … Deum sine Christo semper iratum nobis esse, reconciliari nos per eum, dum iustitia eius accepti sumus, ebd.). Zu 3,28 (»So halten wir nun dafür …«) wendet sich Calvin gegen die Auslegung, derzufolge »der Mensch aus Glauben gerechtfertigt wird, nicht aber

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aus Glauben allein« (Fatentur quidem iustificari hominem fide; sed non sola, p. 208); Paulus betone gerade, dass sich der Glaube keinesfalls mit irgendwelchen Werken verknüpfen läßt. Dazu geht Calvin dann ausführlich auf die Frage ein, ob Jak 2,24 (őĘŕěčģėĎēĔċēęȘĞċēŅėĒěģĚęĜĔċƯęƉĔőĔĚưĝĞďģĜ ĖƲėęė) im Widerspruch zu Röm 3,28 steht.26 Calvin verneint das; Jakobus frage nämlich nicht, »wie sich Menschen vor Gott Gerechtigkeit erwerben, sondern wie sie sich als Gerechte bewähren« (211, Neque enim quaestio est, quomodo iustitiam sibi coram Deo acquirant homines, sed quomodo se probent iustos, p. 210); er wende sich »gegen Heuchler, die sich unter Berufung auf den Glauben mit leeren Worten brüsten« (211). Es sei ein krasser Fehlschluß nicht zu bemerken, »dass das Wort ›rechtfertigen‹ bei Jakobus etwas ganz anderes bedeutet als bei Paulus, wie wenn sie von verschiedenen Dingen redeten« (ebd., sicuti diversis de rebus tractant, ebd.); und auch das Wort »Glaube« werde ohne jeden Zweifel in mehrfachem Sinne gebraucht (›Fidei‹ quoque nomen esse aequivocum proculdubio apparet, ebd.). Calvin stellt allerdings nicht die Frage, was es sachlich bedeutet, wenn Paulus und »Jakobus« bei einem theologisch so bedeutsamen Thema dieselbe Terminologie offenbar in so unterschiedlicher Bedeutung verwenden können.27 Zu den unterschiedlichen Formulierungen in 3,30 (»Denn es ist der eine Gott, der rechtfertigt die Juden aus Glauben, őĔĚưĝĞďģĜ und die Heiden durch Glauben, ĎēƩ ĞǻĜ ĚưĝĞďģĜ«) schreibt Calvin, der Wechsel von őĔ zu Ďēƪ zeige nur, dass Paulus seine Freude hat an der Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten (varietate sermonis), denn inhaltlich sage er ja beidemale dasselbe.28 Möglicherweise sei aber doch zu unterscheiden: Die Juden werden aus Glauben (ex fide) gerechtfertigt, die Heiden durch Glauben (per fidem), weil die Juden geboren werden als Erben der Gnade, d.h. es geht das Recht der Adoption von den Vätern auf sie über, die Heiden dagegen werden durch Glauben gerechtfertigt, weil für sie der Bund ein neu hinzugekommenes Gut ist (quia nascuntur gratiae haeredes, dum ius adoptionis a Patribus ad eos transmittitur, Gentes vero per fidem, quia his adventitium est foedus, p. 212). Zu 3,31 (ėƲĖęėŮĝĞƪėęĖďė) schreibt Calvin, Paulus spreche weder speziell von den kultischen noch von den ethischen Geboten, sondern vom Gesetz als ganzem: Das Gesetz solle auf Christus hinführen, denn ohne ihn bleibe es kraftlos und verkünde vergeblich, was zu tun recht ist (… ad Christum adduceret; sine quo nec ipsa praestatur, frustraque clamat quid factu rectum sit, p. 214). 26

Das war ja die Annahme Luthers, der in einer Tischrede 1542 sagte, wer diese Aussagen harmonisieren könne, »dem will ich mein paret [Doktorhut] auffsetzen vnd wil mich einen narren schelten lassen« (zitiert nach: J. Armbruster, Luthers Bibelvorreden. Studien zu ihrer Theologie. AGWB 5, Stuttgart 2005, 148). Zu Luthers Kritik an der Kanonizität des Jak vgl. Armbruster, aaO., 135–149. 27 Systematisch vertieft Calvin dies in Inst. III 17,11 f. 28 Vgl. E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 98: Der Wechsel der Präpositionen ist rhetorisch, aber nicht sachlich belanglos; Juden brauchen ihre Geschichte nicht zu mißachten, über den Heidenchristen wird sichtbar, »daß Heilsgeschichte nicht in immanenter und verrechenbarer Kontinuität verläuft«. Nach E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 139 gibt es keinen Bedeutungsunterschied.

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Zu Röm 9–11 stellt Calvin einleitend fest, Paulus setze sich hier mit »den anstößigen Tatsachen« (offensionibus) auseinander, dass die Juden, denen doch Christus verheißen war, ihn ablehnten, ja »größtenteils verabscheuten« (magna ex parte abominabantur, p. 460); das hätte ja bedeuten können, dass entweder die Verheißung nicht der Wahrheit entspricht oder aber der von Paulus gepredigte Jesus nicht der verheißene Christus ist. Er verweise in 9,4 auf die Ehrenstellung des jüdischen Volkes, wobei er besonders die »Sohnschaft« (ğŮęĒďĝưċ, adoptio) des Volkes hervorhebe, um so zu zeigen, dass Gott daran festhält: »Obwohl die Juden in ihrer Abtrünnigkeit ihre gottlose Trennung von Gott vollzogen haben, ist über ihnen dennoch das Licht der göttlichen Gnade nicht geradezu erloschen«, wie schon in 3,3 gesagt worden sei (469). Die Aussage in 9,5, dass Christus »nach dem Fleisch« (secundum carnem), also seiner irdischen Herkunft nach aus dem Volk Israel stammt, belege Christi wahre Menschheit (declarat veram eius humanitatem). Zugleich spreche Paulus von den zwei Naturen Christi, wenn er in V. 5 Christus preise als »Gott über alles« (Christus ex Iudaeis secundum carnem, qui Deus est in secula benedictus, p. 472). Die Doxologie am Ende von V. 5 (žƛėőĚƯĚƪėĞģėĒďƱĜďƉĕęčđĞƱĜďŭĜĞęƳĜċŭȥėċĜŁĖƮė) ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit als Lobpreis Gottes zu verstehen, nicht als eine Aussage über Christus als Gott.29 In 9,25 zitiert Paulus ein Gotteswort aus dem Buch des Propheten Hosea (»Die nicht mein Volk sind, werde ich mein Volk nennen, und die Ungeliebte meine Geliebte.«); Hosea, so schreibt Calvin, spreche von den Israeliten, denen sich Gott künftig wieder zuwenden will, Paulus dagegen versuche, die Aussage auf die Heiden zu beziehen (Paulus autem, quod in Israelitas nominatim confertur, ad Gentes conatur applicare, p. 510). Möglicherweise aber könne schon der Prophet auch an die Heidenvölker gedacht haben, und jedenfalls meine Paulus, dass der Unterschied zwischen Israel und den Völkern nun entfallen ist. »Dadurch, dass die Juden aus der Familie Gottes vertrieben waren (Iudaei e familia Dei exterminati essent), wurden sie wieder in eine Reihe [sc. mit den übrigen Völkern] gestellt (redacti erant in vulgarem ordinem) und den Heiden gleichgemacht (pares facti)«, und so »wohnt Gottes Barmherzigkeit jetzt unterschiedslos unter allen Völkern« (post sublatum discrimen, iam Dei misericordia in omnibus Gentibus promiscue locum habet, p. 512). Die prophetische Weisung sei von Paulus richtig verstanden worden, denn in ihr »verkündet Gott, dass er sich, nachdem er die Juden den Heiden gleich gemacht hat (Iudaeos Gentibus aequavit), aus Fremden eine Kirche sammeln wird, damit die, die nicht sein Volk waren, [jetzt] ein solches werden« (513).

In der Exegese von Röm 10,4 besteht das unverändert heftig umstrittene Problem, ob die Rede vom ĞƬĕęĜėƲĖęğ meint, dass Christus das Ende des Gesetzes ist oder ob Paulus hier von Christus als dem Ziel oder als der Er29 Vgl. dazu Lohse, Brief an die Römer (s. die vorige Anm.), 269 f. mit breitem Referat der seit der Alten Kirche kontrovers geführten Diskussion. Paulus spreche ja niemals von Christus als Gott.

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füllung des Gesetzes spricht. Der Begriff complimentum, also »Erfüllung«, passe jedenfalls »nicht schlecht« (non male), zumal auch Erasmus ĞƬĕęĜ mit perfectio, »Vollendung«, übersetze; aber auch die von den meisten Auslegern bevorzugte Übersetzung von ĞƬĕęĜ mit finis passe »nicht schlecht« (non male), und so stehe dem Leser die Auslegung frei. Entscheidend sei, dass Paulus die falsche Vorstellung widerlegen will, man könne durch die Werke des Gesetzes gerechtfertigt werden: Das Gesetz wurde uns gegeben, um uns zu einer anderen Gerechtigkeit zu führen, und deshalb hat es in allen seinen Aussagen immer Christus als Ziel (Imo quicquid doceat Lex, quicquid praecipiat, quicquid promittat, semper Christum habet pro scopo, p. 528). Deshalb könne niemand das Gesetz »richtig verstehen, der nicht beständig dieses Ziel im Auge hat« (529, Itaque rectam eius intelligentiam habere nemo poterit qui non ad hunc scopum perpetuo collimet).30 Calvin folgert aus Röm 9–10, dass man auf den Gedanken kommen könnte, die Juden seien »von aller Erwartung des Heils ausgeschlossen«, aber das wird in in 11,1 selbstverständlich verneint. Die eigentliche Frage sei, ob der Bund Gottes mit den Vätern jetzt abgeschafft ist (an foedus quod Deus cum Patribus olim pepigit, sit abolitum, p. 564). Dass der Bund »durch irgendwelche menschliche Untreue (ulla hominum perfidia) ins Wanken gebracht werden könnte, wäre ja undenkbar« (565/567), denn man dürfe nicht glauben, »dass Gottes Wahrheit und Erwählung von der Würdigkeit des Menschen abhänge« (567, ne credatur Dei veritas et electio ex hominum dignitate pendere, p. 566). Dazu verweise Paulus »nebenbei« auf sein eigenes Beispiel (obiter exemplo suo probat) als Israelit.31 In Röm 11,26 (ęƎĞģĜĚǬĜŵĝěċƭĕĝģĒƮĝďĞċē ĔĞĕ.) ist, so meint Calvin, mit »universus Israel« nicht das jüdische Volk gemeint, sondern das ganze Volk Gottes32, das vollendete regnum Christi, das den ganzen Erdkreis umfaßt; dabei stehen freilich die Juden an erster Stelle. Zu dem Schriftzitat aus Jes 59,20 bietet Calvin eine besondere hermeneutische Anmerkung: Paulus zitiere nicht wörtlich, und dabei zeige sich, »wie geschickt die Apostel, was immer sie an Belegen aus dem Alten Testament heranziehen, ihrem Vorhaben dienstbar machen« (603, … probationes adducunt, p. 602). Der Prophet habe gesagt: »Es wird kommen der Erlöser für Zion (Sioni) und für die, die sich in Jakob von ihrer Ungerechtigkeit abkehren«, doch obwohl diese 30

Bei der Auslegung von Röm 10,4 ist der Zusammenhang zu beachten, den Paulus herstellt: Er erläutert ja (čƪě) die vorangegangene Aussage, derzufolge die Juden in ihrem Bemühen um Gesetzesgerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes verfehlen  – Christus ist nämlich ĞƬĕęĜėƲĖęğ für jeden Glaubenden (ĚċėĞƯĞȦĚēĝĞďƴęėĞē). Vgl. Lohse, Brief an die Römer, 291–293. 31 Dass dieser Hinweis des Paulus nur »nebenbei« erfolgt, läßt der Text allerdings nicht erkennen; das čƪě zeigt vielmehr an, dass Paulus in dieser Aussage das erste Gegenargument sieht. 32 Es liege dasselbe Verständnis vor wie in Gal 6,16.

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Redeweise für das Thema des Paulus eigentlich besser gepaßt hätte, fühlte er sich »nicht gebunden, der allgemein angenommenen Übersetzung zu folgen, wo es heißt, der Erlöser werde vom Berg Zion ausgehen« (ebd., Redemptor proditurus e monte Sion, ebd.).33 Ähnliches gelte für die Änderung im zweiten Satzteil, wo der Prophetentext von denen spreche, die sich von ihrer Ungerechtigkeit abkehren (… et qui resipuerint ab iniquitate in Iacob) und wo Paulus stattdessen schreibt, der Erlöser werde das gottlose Wesen von Jakob abwenden (avertet iniquitates a Iacob): »Weil es Christi eigens Amt ist, das abgefallene und bundesbrüchige Volk mit Gott zu versöhnen, ist gewiss eine Umkehr zu erhoffen, damit nicht alle zugleich untergehen« (603). Zu Röm 13 fragt Calvin nach dem Sinn des Begriffs őĘęğĝưċē (traditionell »Obrigkeit«). Die potestates supereminentes seien nicht nur diejenigen, die das summum imperium innehaben, sondern gemeint seien »alle, die über andere Menschen gesetzt sind«; aus der Sicht der Untergebenen werden sie magistratus genannt (661). Aufgrund welchen Rechts sie ihre Machtstellung erhielten, spiele keine Rolle, »denn sie haben sich nicht selber kraft eigener Tüchtigkeit zu dieser Stellung aufgeschwungen, sondern sind durch Gottes Hand in sie eingesetzt (manu Domini sunt impositi)«; niemand könne sich dieser allgemeinen Unterordnung entziehen (661, nequis immunitatem captet communis subiectionis, p. 660). Aber diese Gewalten stammten nicht so von Gott, »wie man von Pest, Hunger und sonstigen Sündenstrafen sagt, dass sie von ihm«, von Gott, verhängt werden; Gott habe sie vielmehr »zur rechtmäßigen und zweckdienlichen Verwaltung der Welt eingesetzt (ad legitimam rectamque mundi administrationem eas instituerit). Mögen auch Tyrannei und ungerechte Herrschaftsformen, in denen nur jede denkbare Unordnung triumphiert, nicht aus seinem wohlgeordneten Regiment stammen, so ist doch das Herrschaftsrecht selbst zum Wohle des Menschengeschlechts eine Anordnung Gottes (in humani generis salutem a Deo ordinatum est)« (663). Nicht anders als Paulus selber in Röm 13 setzt Calvin voraus, dass die Inhaber der Staatsgewalt ihre Macht nicht mißbrauchen; anders als Paulus aber spricht Calvin auch von schlechten Herrschern, die aber als eine Strafe Gottes zu verstehen seien, die man hinnehmen müsse, zumal es keine Gewaltherrschaft gebe, die »nicht wenigstens zu einem kleinen Teil der menschlichen Gesellschaft dient« (665, nulla ergo tyrannis esse potest quae non in aliqua ex parte subsidio sit ad tuendam hominum societatem, p. 664).

33 Der LXX-Text von Jes 59,20 lautet: ŢĘďē ŖėďĔďė ýēģė ž ȗğƲĖďėęĜ ĔċƯ ŁĚęĝĞěƬĢďē ŁĝďČďưċĜŁĚƱôċĔģČ. Der hebr Text lautet: þúĔ”ďĆžÐďó‘đƛþšóöĉíĉ›ýìÑČì؝ēöĉ. Die Vulgata liest: et venerit Sion redemptor et eis qui redeunt ab iniquitate in Iacob.

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Hier hat Calvin seine Position später zumindest teilweise revidiert: Im letzten Abschnitt der Institutio (IV 20,31) verweist er auf das Institut der populares magistratus, die in manchen Staatsverfassungen vorgesehen seien, um der Willkür der Herrschenden Einhalt zu gebieten. Sie würden ihr Amt mißbrauchen, wenn ihre Kontrollfunktion nicht zugunsten der Freiheit des Volkes wahrnehmen, wozu sie doch auf Gottes Anordnung hin eingesetzt worden waren. Und wenn der König einen Befehl gebe, der sich gegen Gott richtet, dann sei Ungehorsam erlaubt und geboten, denn Gott ist der König der Könige (Dominus ergo Rex est Regum). Damit, so fügt der Jurist Calvin hinzu, geschehe der Obrigkeit »keinerlei Unrecht, wenn sie im Vergleich mit dieser einzigartigen und wahrhaftig höchsten Gewalt Gottes auf den ihr zustehenden Platz genötigt wird (cui iniuria nulla fit, dum in ordinem prae sungulari illa vereque summa Dei potestate cogitur)« (IV 20,32).34

2. In seinem 1551 erschienenen Kommentar zum Ersten Korintherbrief35 verweist Calvin im Zusammenhang der Aussage über die Überordnung des Mannes über die Frau (1 Kor 11,3) auf einen bemerkenswerten Widerspruch: Der Mann werde so zwischen Christus und die Frau geschoben, als wäre nicht Christus das Haupt der Frau (hic ponitur vir medius inter Christum et mulierem, ita ut caput mulieris non sit Christus). Dabei lehre derselbe Apostel doch an anderer Stelle, dass es in Christus »nicht männlich und weiblich« gibt, und so müsse man fragen, warum er hier eine Unterscheidung statuiert, die er dort aufhebt (atqui alibi docet idem Apostolus, in Christo non esse masculum nec feminam: cur ergo hic statuit discrimen quod illic tollit?).36 Die Antwort lautet, dass man den jeweiligen Kontext berücksichtigen müsse: Im geistlichen Reich Christi gebe es tatsächlich kein Ansehen der Person (tractat de spirituali Christi regno, ubi personae non aestimantur, nec in rationem veniunt), so dass sogar der Unterschied zwischen Freien und Sklaven verschwinde, und dieses Reich habe nichts zu schaffen mit der irdischen Ordnung des Zusammenlebens, sondern beziehe sich ganz auf den Geist (nihil enim ad corpus, nihil ad externam hominum societatem, sed totum in Spiritu situm est). Damit werde die bürgerliche Ordnung jedoch nicht umgestoßen; in 1 Kor 11 gehe es um die kirchliche Ordnung, und dort gelte die Abstufung Christus – Mann – Frau (Christum vir et virum mulier sequitur, ita ut non sit idem gradus, sed locum habeat

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Als Beispiele nennt Calvin Dan 6,23 und das Wort des Petrus in Apg 5,29. Die lateinischen Zitate aus Calvins Kommentaren zum Neuen Testament sind im folgenden der von A. Tholuck besorgten Ausgabe entnommen: Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii, ad editionem Amstelodamensem, Berlin 1833 ff. Die deutsche Übersetzung orientiert sich jeweils an: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe, hg. von O. Weber, Neukirchen 1960 ff. 36 Ioannis Calvini in Novi Testamenti Epistolas Commentarii I. Epistulae ad Romanos et Corinthios, ed. A. Tholuck, Berlin 1834, 388. 35

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inaequalitas ista).37 Calvin übersieht hier freilich, dass Paulus in 1 Kor 11,3 eine solche direkt hierarchische Abfolge gerade nicht formuliert, sondern von Relationen spricht. Bemerkenswert ist Calvins Interpretation von 11,14. Paulus fragt dort rhetorisch und suggestiv, ob nicht schon die Natur lehre, dass der Mann keine langen Haare hat (ęƉĎƫŞĠƴĝēĜċƉĞƭĎēĎƪĝĔďēƊĖǬĜƂĞēŁėƭěĖƫėőƩė ĔęĖǭŁĞēĖưċċƉĞȦőĝĞēėà), und dazu stellt Calvin fest, bei dem, was Paulus naturale nenne, habe es sich eher um die bei den damaligen Griechen allgemein anerkannte Sitte gehandelt (quod autem omnium consensu et consuetudine receptum tunc erat, et quidem apud Graecos). Die männliche Haartracht sei durchaus verschieden gewesen, und als Paulus seinen Brief schrieb, sei es in Gallien und Germanien unüblich gewesen, die Haare zu schneiden. Weil in Griechenland in dieser Zeit langes Haar als unmännlich galt, sah der Apostel diese Sitte als »natürlich« an (quoniam in Graecia parum virile erat alere comam, ut tales quasi effeminati notarentur, morem iam confirmatum pro natura habet).38 3. Der Kommentar zum Johannesevangelium39erschien 1553. Calvin sah die erheblichen Differenzen zwischen dem vierten Evangelium und den synoptischen Evangelien, und er meinte, das Johannesevangelium sei als Ergänzung zu ihnen zu verstehen. In der Einleitung zur Auslegung von Joh 6 schreibt er, Johannes erzähle hier gegen seine Gewohnheit die Geschichte eines Wunders, das auch die synoptischen Evangelien überliefern; denn sonst habe er gerade diejenigen Taten und Worte Christi gesammelt, die die drei anderen Evangelisten übergangen hatten (quum facta Christi ac dicta colligere soleat Ioannes, quae praeterierant alii tres Evangelistae).40 Offenbar habe Johannes die drei anderen Evangelien gekannt und also vieles übergangen, wovon er wußte, dass schon Matthäus und die anderen es berichtet hatten.41 Dasselbe gehe auch aus 20,30 f. klar hervor, und dort werde auch deutlich, dass Johannes die anderen Evangelien nicht verdrängen wollte.42 37

Tholuck, Epistulae, 388 f. (zur deutschen Übersetzung vgl. Johannes Calvins Auslegung des Römerbriefs und der beiden Korintherbriefe, übersetzt und bearbeitet von G. Graffmann, H. J. Haarbeck, O. Weber, Neukirchen 1960). 38 AaO., 392. 39 Vgl. dazu B. Pitkin, Calvin as commentator on the Gospel of John, in: McKim. Calvin and the Bible (s. Anm. 23), 164–198. 40 Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii ad editionem Amstelodamensem. Vol. III. Ioannis Calvini in Evangelium Ioannis Commentarii, ed. A. Tholuck, Berlin 1833, 107. Zur deutschen Übersetzung vgl.: Johannes Calvins Auslegung des Johannes-Evangeliums, übers. von M. Trebesius und H. Chr. Petersen (Auslegung der Heiligen Schrift Bd. 16), Neukirchen-Vluyn 1964. 41 So zu Joh 13,1 (ed. Tholuck, Ioannis, 253). 42 Porro Ioannem non latebat, quid alii etiam Evangelistae scripsissent. Quum autem

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Im Falle von Joh 6 sei sein Vorgehen aber sehr begründet, denn dort wolle er mit diesem Wunder die »Brotrede« vorbereiten, die Jesus am nächsten Tag in Kapernaum hielt und für die es in den synoptischen Evangelien ja keine Parallele gibt.43 In der Einleitung (argumentum)44 zu seinem Kommentar erläutert Calvin zunächst die Bedeutung des Begriffs »Evangelium«; zwar gebe es Gottes Heilsangebot auch schon im Alten Testament, aber der Heilige Geist datiere die Verkündigung des Evangeliums erst vom Auftreten Christi an, und so gelte: Ac illa sit Evangelii definitio … solenne esse de patefacta in Christo gratia praeconium, wofür Röm 1,16 f. der klarste Beleg ist. Von daher hätten dann die Erzählungen über Christus die Bezeichnung »Evangelium« erhalten. Calvin weist dann auf formale und inhaltlich-theologische Differenzen zu den synoptischen Evangelien hin; vor allem trete die Lehre (doctrina) hier viel deutlicher hervor, so dass man sagen dürfe, dass die drei ersten Evangelien den Leib Christi zeigen, Johannes aber die Seele (priores illi corpus, si ita loqui fas est, in medium proferunt, Ioannes vero animam), womit dieses Evangelium geradezu der Schlüssel für die anderen sei. Ob sich die Abfassung des Johannesevangeliums wirklich gegen Irrlehrer richtete, wie Euseb und Hieronymus meinten, könne offen bleiben. Gott habe den Evangelisten diktiert, was sie schreiben sollten, damit bei allen Unterschieden zwischen ihnen doch ein einheitliches Corpus entstand (Sic ergo quatuor Evangelistis dictavi, quod scriberent, ut distributis inter ipsos partibus corpus unum integrum absolveret). Dass das Johannesevangelium im Kanon an vierter Stelle stehe, hänge mit der Abfassungszeit zusammen; beim Lesen gehe man dagegen am besten von diesem Evangelium aus. Calvin versucht, die Differenzen auszugleichen, die gerade dort auffällig sind, wo eine sachliche Nähe besteht. So nimmt er an, dass es sich bei der »Tempelreinigung«, von der Johannes am Anfang, die synoptischen Evangelien dagegen am Ende des Wirkens Jesu berichten, nicht um dieselbe, sondern um eine ähnliche Tat handele.45 In der Auslegung von Mt 4,12 parr stellt er fest, die Aussage, Jesus habe seine Predigttätigkeit nach der Verhaftung des Täufers begonnen, stehe nicht im Widerspruch dazu, dass Johannes bezeugt, der Täufer und Jesus »hätten das Lehramt zu gleicher Zeit angetreten« (Joh 3,22 ff.; 4,1). In den synoptischen Evangelien sei diese kurze Zeitspanne deshalb übergangen worden, »weil Johannes seinen Auftrag noch nicht vollendet hatte, der darin bestand, Aufnahmebereitschaft für das Evangelium Christi nihil minus illi fuisset propositum quam abolere eorum scripta, procul dubio eorum narrationem a sua non separat (ed. Tholuck, aaO., 372). 43 Ed. Tholuck, Ioannis, 107 f. 44 Ed. Tholuck, Ioannis, p. IX–X. Deutsche Übers. von A. Fürer, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung. 10. Band. Das Evangelium des Johannes, Neukirchen o. J., 3 f. 45 Bis ergo Christus templum foeda et profana negotiatione purgavit, schreibt Calvin zu Joh 2,12 (ed. Tholuck, Ioannis, 35).

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zu schaffen«. Christus habe schon gelehrt, mit der Verkündigung des Evangeliums aber erst begonnen, als Johannes abgetreten war.46

In der Auslegung der Erzählung vom Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–11) erklärt Calvin, Jesus rede seine Mutter so barsch an (V. 4: quid tibi mecum mulier?), weil er für alle Zukunft zeigen wollte, dass »keine maßlose Verehrung seiner Mutter seinen eigenen göttlichen Glanz verdunkeln dürfe« (sic ergo matrem Christus alloquitur, ut perpetuam ac communem saeculis omnibus doctrinam tradat, ne immodicus matris honor divinam suam gloriam obscuret); Jesus wende sich also gegen eine Verehrung der Maria, die ihr etwas zuspricht, was sie Gott nimmt.47 Verwunderlich sei, dass Jesus, »der uns so eindringlich eine so einfache Lebensführung lehrt, eine solche Menge Wein, und zwar von ganz hervorragender Güte, gespendet hat«. Darauf sei zu antworten: »Wenn Gott uns täglich einen so großen Vorrat Wein zur Verfügung stellt, ist es nur unser falsches Verhalten, daß wir seine gute Gabe als ein Mittel zu üppiger Lebensführung mißbrauchen«, und so sei gerade dies »erst die wahre Probe auf unsere Mäßigkeit, wenn wir mitten im Überfluß sparsam und mäßig leben«.48 Zu dem in Joh 13,34 und an anderen Stellen formulierten »neuen« Gebot der »Bruderliebe« schreibt Calvin, die Liebe solle sich »auch auf die Außenstehenden erstrecken, weil wir alle aus demselben Fleisch und alle zum Bilde Gottes erschaffen sind. Da aber bei den Wiedergeborenen das Bild Gottes heller strahlt, ist es nur billig, wenn das Band der Liebe die Jünger Christi viel enger umschlingt«.49 Zu den Abschiedsworten Jesu in 14,1 ff. und dem sich darauf beziehenden Gespräch zwischen Jesus und Thomas (14,5–6) schreibt Calvin, in den Worten des Thomas stecke die menschliche Neugier: »Gern hätte Thomas gehört, was Christus im Himmel tun würde« (libenter audisset Thomas quid acturus esset in coelo Christus). Jesu Antwort besage aber, dass demjenigen, der Christus gewinnt, nichts mehr fehlt: Christus nennt mit den Worten őčƶ ďŭĖēŞžĎƱĜĔċƯŞŁĕƮĒďēċĔċƯŞĐģƮ »drei Stufen« (tres gradus), insofern er sich als Anfang (initium), als Mitte (medium) und als Ende (finis) bezeichnet. Da Christus der Weg (via) ist, hat niemand Grund zu der Klage, Christus lasse ihn im Stich; da er Wahrheit (veritas) und Leben (vita) ist, vermag er auch für die vollkommensten Menschen »genug zu leisten« (quo perfectis46 Vgl. die Übers. von H. Stadtland-Neumann / G. Vogelbusch, Johannes Calvins Auslegung der Evangelien-Harmonie. Calvins Auslegung der Heiligen Schrift Bd. 12, Neukirchen-Vluyn 1966, 145. 47 Die Papistae hätten Maria damit ein schreckliches Unrecht zugefügt (ed. Tholuck, Ioannis, 32). 48 Calvin zu Joh 2,8 (übers. Trebesius / Petersen, Johannesevangelium [s. Anm. 38], 49). 49 Trebesius / Petersen, Johannesevangelium, 347.

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simis quibusque satisfaciat). »Wahrheit« bedeute überdies zugleich »Vollendung des Glaubens« (mihi veritas pro fidei perfectione accipi videtur).50 Zu Joh 20,30 stellt Calvin fest, Johannes habe den Anschein vermeiden wollen, sämtliche von Jesus vollbrachten Wunder beschrieben zu haben. Und die Notiz in V. 31 (»… diese sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist«) zeige, dass es unpassend ist, »den Glauben auf Wunder zu gründen, wo er doch ganz und gar auf Gottes Verheißungen und sein Wort zurückgeführt werden muß« (videtur tamen absurdum esse, fidem in miraculis fundari, quam Dei promissionibus et verbo penitus addictam esse oportet). Die Wunder sind für Johannes »Stützen für den Glauben« (ut fidei adminicula sint ac fulturae), sie zeigen den Gläubigen, dass »Gott seine mächtige Hand aus dem Himmel ausstreckt, um sie zu stützen«, aber klar sei, dass der Glaube sich allein auf das Wort bezieht (ergo quamvis proprie fides in verbum Dei recumbat, et ad verbum respiciat tanquam ad unicum suum scopum).51 4. Der 1555 erschienenen Kommentierung der drei synoptischen Evangelien52 liegt eine »Harmonie« zugrunde; Calvin wählt damit ein Verfahren, zu dem vor ihm auch schon andere reformatorische Ausleger gegriffen hatten.53 Ähnlich wie bei seinem Kommentar zum Johannesevangelium beginnt Calvin die Vorrede (argumentum)54 mit Grundsatzbemerkungen zum Begriff »Evangelium«; deutlicher als in dem früheren Buch führt er aus, dass es sich dabei nicht um eine literarische Gattung handelt. »Um die evangelische Geschichte mit Nutzen zu lesen, muß man zunächst die Bedeutung des Begriffs ›Evangelium‹ verstehen. Denn daraus wird sich erkennen lassen, was die heiligen Zeugen mit ihrem Schreiben wollten und was das von ihnen Berichtete uns angeht. Daß ihren Erzählungen jener Name nicht von Fremden, sondern von den Verfassern selbst beigelegt wurde, erhellt aus Markus, der ausdrück50

Lat. Text ed. Tholuck, Ioannis, 269 f.; übers. Trebesius / Petersen, Johannesevangelium, 353 f. 51 Lat. Text aaO., 372; deutsche Übersetzung aaO., 484. 52 Lat. Text nach der zweibändigen Ausgabe von A. Tholuck, Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commmentarii ad editionem Amstelodamensem. Vol. I. Ioannis Calvini in Harmoniam ex Matthaeo, Marco et Luca compositam Commentarii. Pars prior, Berlin 21838; deutsche Übers.: Johannes Calvins Auslegung der Evangelien-Harmonie, übers. von H. Stadtland-Neumann / G. Vogelbusch (Calvins Auslegung Bd. 12 und Bd. 13), Neukirchen-Vluyn 1966/1974. 53 Calvin nennt im argumentum Martin Bucer als Vorbild. Vgl. vor allem D. Schellong, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, FGLP 10/XXXVIII, München 1969, zum Aspekt der »Harmonie« 43–113. Ferner D. K. Flaming, Calvin as commentator on the Synoptic Gospels, in: McKim, Calvin and the Bible (s. Anm. 23), 131–163, vor allem 136–142. 54 Lat. Text ed. Tholuck (s. Anm. 52), pp. LIX–LXII; deutscher Text nach StadtlandNeumann/Vogelbusch, Evangelien-Harmonie (s. Anm. 52), 7–10. Auf Einzelnachweise für die Zitate aus dem argumentum wird verzichtet.

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lich erklärt, er berichte den Anfang des Evangeliums von Jesus Christus (Mark. 1,1). Was ›Evangelium‹ ist, sagt Paulus deutlich und klar in Römer 1,2 ff.: es ist zuvor von Gott verheißen durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, ›von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist, der da heiligt, eingesetzt ist als Gottes Sohn in Kraft durch die Auferstehung von den Toten‹. Danach ist Evangelium erstens das Zeugnis von dem den Vätern immer wieder verheißenen und nun geoffenbarten Heil. Damit wird auch der Unterschied klar zwischen den Verheißungen, die die Hoffnung der Gläubigen in Spannung hielten, und dieser frohen Botschaft, durch die Gott bezeugt, er habe erfüllt, was er sie vormals hoffen ließ. In diesem Sinn bezeugt Paulus ein wenig später (Römer 1,17), nun werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, die doch schon ihr Zeugnis hatte von Gesetz und Propheten. An anderer Stelle (2. Kor. 5,20) nennt Paulus sie eine Botschaft, durch die die einmal durch den Tod Christi vollzogene Versöhnung der Welt mit Gott täglich den Menschen überbracht wird.« Etwas später heißt es: »Das Evangelium ist somit die feierliche Verkündigung (sollennis promulgatio) von dem Sohn Gottes, der im Fleisch erschien, um die verlorene Welt zu retten und die Menschen wieder aus dem Tod in das Leben zu versetzen. Es heißt mit Recht gute und frohe Botschaft (bonus ac laetus nuntius), weil in ihm die vollkommene Seligkeit enthalten ist: denn es will die zur himmlischen Herrlichkeit führen, in denen das Reich Gottes angefangen und der Geist sein Werk der Tötung des alten Menschen und der Erneuerung begonnen hat. … Wenn Markus 15,43 berichtet, Joseph habe das Reich Gottes erwartet, so bezieht sich das ohne Zweifel auf das Kommen des Messias. Somit ist klar: Der Name ›Evangelium‹ paßt im vollen Sinn nur auf das Neue Testament, und es entspricht nicht der Sachlage, wenn etliche es so darstellen, als hätten alle Zeiten das Evangelium gehabt und als seien die Propheten nicht anders als die Apostel Diener des Evangeliums. Ausdrücklich erklärt dagegen Christus, dass das Gesetz und die Propheten bis auf Johannes weissagten und dass erst von dieser Zeit an das Reich Gottes durch das Evangelium gepredigt wird (Luk. 16,16); und Markus stellt fest: das Evangelium beginnt mit der Predigt des Johannes.«

Die Bücher, die erzählen, wie Christus sein Mittleramt wahrnahm, würden mit Recht in besonderer Weise als »Evangelien« bezeichnet, weil uns Christus hier als der Gesandte Gottes vor Augen gestellt wird, während sich die übrigen Bücher des Neuen Testaments mehr mit der Kraft und der Wirkung seines Kommens beschäftigen. Johannes richte sein Augenmerk vor allem darauf, die Macht Christi und die sich für uns daraus ergebende Frucht darzustellen; die übrigen Evangelisten seien mehr von dem Gedanken geleitet, zu zeigen, dass Christus wirklich der Sohn Gottes, also der der Welt verheißene Erlöser ist. Es geht ihnen um den Nachweis, dass in der Person Jesu Christi erfüllt ist (impletum esse), was Gott von jeher verheißen hat. Keineswegs wollen sie dem Gesetz und den Propheten Abbruch tun, wie die Schwärmer (fanatici) meinen; das Alte Testament ist nicht überflüssig, denn aus ihm ist uns doch durch Christus und durch die Apostel die Wahrheit der göttlichen Weisheit geoffenbart worden. Die Evangelisten zeigen auf Christus und halten uns an, in ihm die Erfüllung alles dessen zu suchen, was Gesetz und Propheten von ihm bezeugen. »Wir werden also dann erst

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das Evangelium mit Nutzen lesen, wenn wir lernen, seinen Zusammenhang mit den Verheißungen der Vorzeit zu erkennen.« Zu der Frage, wer die Verfasser der Evangelien sind, schreibt er, Matthäus sei natürlich bekannt (satis notus est).55 Markus gelte als Schüler des Petrus; dazu referiert Calvin die Überlieferung, dass Petrus dem Markus das Evangelium diktiert habe, so dass der Evangelist eigentlich nur Sekretärs- oder Schreibarbeit leistete (… ut amanuensis modo vel scribae operam praestiterit). Calvin ist in diesem Punkt skeptisch; jedenfalls stellt er fest, ob es sich tatsächlich so verhalte, sei ohne Bedeutung. Entscheidend sei, dass wir Markus als wahren und von Gott verordneten Zeugen ansehen, der sich in allem durch den Heiligen Geist leiten ließ (modo teneamus legitimum ac divinitus ordinatum esse testem, qui nihil nisi praeeunte dictanteque Spiritu sancto prodiderit). Keinesfalls sei das MkEv ein Auszug aus dem MtEv, denn die beiden Bücher unterscheiden sich in der Stoffanordnung und im Umfang, indem der eine erzählt, was der andere ausläßt, oder das einzelne genauer berichtet als der andere« (Nam neque servatum a Matthaeo ordinem ubique sequitur, et ab ipso statim initio dissimilis est quantum ad tractandi rationem, et quaedam refert ab altero illo omissa, et in eiusdem rei narratione interdum prolixior est). Daher sei es viel wahrscheinlicher, dass Markus das MtEv gar nicht benutzt hat, als dass er versucht hätte, einen Auszug daraus zu machen (mihi certe magis probabile est, et ex re etiam ipsa coniicere licet, numquam librum Matthaei fuisse ab eo inspectum, quum ipse suum scriberet: tantum abest, ut in compendium ex professo redigere voluerit). Der Evangelist Lukas war für Calvin natürlich der in der Apostelgeschichte in den »Wir«-Berichten erwähnte Paulusbegleiter; die an 2 Tim 2,9 anknüpfende Erwägung des Euseb, Paulus könne Autor des LkEv gewesen sein, weist Calvin zurück.

Die Verschiedenheit (diversitas) der Evangelien gehe nicht darauf zurück, dass sich die Autoren um Unterschiede bemüht hätten, sondern jeder habe das geschrieben, was er erfahren hatte und dessen er gewiß war. »Als Anordnung wählte sich jeder die, die ihm die beste schien (rationem quisque tenuit, quam optimam fore censebat)«, aber das natürlich nicht zufällig, sondern unter Gottes leitender Vorsehung (moderante Dei providentia). So habe der Heilige Geist bei aller verschiedenen Art des Schreibens eine wunderbare Übereinstimmung herbeigeführt (ita Spiritus sanctus in diversa scribendi forma mirabilem illis consensum suggessit). Dass er den Weg der »Harmonie« wählt, begründet Calvin mit dem hermeneutisch wichtigen Hinweis, man könne keines der drei Evangelien auslegen, ohne jeweils die beiden anderen zum Vergleich heranzuziehen; schon viele Ausleger hätten einen entsprechenden Vergleich unternommen. 55

Calvin setzt voraus, Autor des MtEv sei der Zöllner Levi, der dort ja »Matthäus« heißt. Dieser sei »nicht nur Zeuge und Verkündiger der Gnade, die in Christus zur Darstellung kam, sondern (selbst) auch Zeugnis und Bild«, und seine Dankbarkeit zeige sich schon darin, »daß er sich nicht schämt, zur dauernden Erinnerung zu erzählen, was für einer er war und woher er kam« (Evangelien-Harmonie I, 263 f., zu Mt9,9–13/Mk 2,13–17). Dass Matthäus bei Mk und Lk den Namen »Levi« trägt, gehe darauf zurück, dass er als Zöllner sich einen fremden Namen zulegte.

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Um aber nun beim Lesen nicht hin- und herblättern zu müssen, würden wie in einer Tabelle die jeweiligen Darstellungen nebeneinander dargeboten, »damit die Leser sofort sehen können, worin sie übereinstimmen und worin nicht«. Calvin betont ausdrücklich, dass er nichts übergehe; aber was bei mehreren steht, »erforsche ich in einer Auslegung (ita nihil omittam, quod ab uno ex tribus scriptum sit, et quicquid apud plures exstat uno contextu exsequar)«. Ob dieses Vorgehen sinnvoll sei, müsse der Leser entscheiden. Die Auslegung läßt im ganzen eine Orientierung am MtEv erkennen; gleichwohl beginnt Calvin mit Lk 1. Wenn Lukas in 1,1 schreibe, »schon viele« hätten eine entsprechende Schrift verfaßt, so übe er damit keine offene Kritik an ihnen: »Er sagt zwar nicht, daß die übrigen keine genaue Kunde von den Tatsachen überliefert hätten; aber indem er von sich behauptet, mit den Vorgängen ganz genau vertraut zu sein, bestreitet er in bescheidener Weise, daß der Bericht jener nirgends der Ergänzung oder Berichtigung bedürfe« Gott habe sich des Lukas bedient, um überflüssige Schriften von der Kirche fernzuhalten; er habe dafür gesorgt, dass nur diejenigen Schriften allgemeines Ansehen erhielten, in denen Gottes maiestas sichtbar wird.56 Zu dem Zitat von Jes 7,14 in Mt 1,22 verteidigt Calvin gegen jüdische Einwände das Verständnis von āċîöĉ¦ďïāî als »Jungfrau« (virgo) gegen die Annahme, dass Jesaja von dem Sohn einer jungen Frau (puellae filius) spreche. Tatsächlich sei diese Bedeutung möglich, aber man müsse fragen, ob es dann nicht lächerlich wäre, einen so gewöhnlichen Vorgang so großartig anzukündigen (si tantum parituram mulierem diceret, quam ridicula fuisset magnifica illa praefatio?). Es falle ja auch auf, dass in Jes 7,14 kein Mann erwähnt wird; dem entspreche, dass die Frau später dem Kind den Namen (Immanuel) gibt, was doch eine Aufgabe sei, die sonst den Vätern zukommt.57 Einen wichtigen hermeneutischen Hinweis gibt Calvin in einer Predigt zur Weihnachtsgeschichte Lk 2. Der Erlaß des Augustus habe ja geradezu so ausgesehen, als wollte er Gott daran hindern, die Verheißungen an sein Volk wahrzumachen. Es sei aber das Gegenteil eingetroffen, und daran zeige sich die Wahrheit der Weissagung. Das bedeute aber zugleich, dass wir das Erzählte auf uns anwenden müssen: »Denn uns eben bloß die Geschichte zu erzählen, die einmal passiert ist, das war nicht die Absicht des heiligen Lukas oder vielmehr des heiligen Geistes, der durch seinen Mund geredet hat«, sondern wir sollen erkennen, dass Christus unser Erlöser ist.58

In der Auslegung der Versuchungsgeschichte Mt 4,1–11/Lk 4,1–13 polemisiert Calvin gegen die fromme Übung eines vierzigtägigen Fastens als Nachahmung Jesu; dies sei »Unsinn« (stultitia), denn Jesus habe ja nicht gefastet, um damit seine Enthaltsamkeit (temperantia) unter Beweis zu stellen; über56

Übers. Evangelien-Harmonie I, 11 f.; lat. Text I, 2. Übers. Evangelien-Harmonie I, 71; lat. Text I, 54 f. 58 Zitiert nach E. Mülhaupt, Johannes Calvin. Diener am Worte Gottes. Eine Auswahl seiner Predigten, Göttingen 1934, 105 f. 57

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dies sei solches Fasten gar kein vollständiger Verzicht auf Nahrung59, und es sei vor allem kein »verdienstvolles Werk«.60 Die erste Versuchung (»… dass diese Steine Brot werden«) sei keineswegs eine Warnung vor Schlemmerei61; vielmehr habe der Satan durch die Aufforderung zu einem Wunder Jesu Vertrauen auf Gott angreifen und so erreichen wollen, dass er von Gottes Wort abfällt und dem Unglaubens folgt.62 Dass bei Mt und bei Lk die Abfolge der zweiten und der dritten Versuchung differiere, sei ohne Bedeutung, denn die Evangelisten hätten nicht exakt dem Zeitablauf folgen, sondern die entscheidenden Ereignisse zusammenfassend darstellen wollen.63 Oft werde gesagt, Christus sei tatsächlich auf die Zinne des Tempels und auf den »hohen Berg« geführt worden (verum et realem (ut loquuntur) fuisse corporis raptum), um die Vorstellung zu vermeiden, Christus sei vom Satan getäuscht worden; aber wenn es heißt, ihm seien alle Reiche der Welt gezeigt worden, dann deute das doch eher auf eine Vision (visioni magis convenit). Calvin will aber keine endgültige Entscheidung treffen, um unnötigen Streit zu vermeiden.64 Die Bergpredigt bei Mt und die »Feldrede« bei Lk seien nicht zwei verschiedene Predigten Jesu; vielmehr verfolgten die beiden den Plan, »einmal an einer besonderen Stelle gewisse Hauptstücke der Lehre Christi zusammenzuordnen (capita doctrinae Christi colligere), die sie als Richtschnur für ein frommes und heiliges Leben betrachteten«.65 Lukas hatte zuvor die Berufung der zwölf Jünger erwähnt und dann in 6,17 von einem Feld gesprochen, wo sich zahlreiche Zuhörer versammeln; zu der in 6,20–49 folgenden Rede werde kein Ort und keine Zeit angegeben, während Matthäus zwar ebenfalls keine Zeitangabe macht, aber in 5,1 den Ort nennt (»der Berg«). Wahrscheinlich sei es (verisimile est), dass Christus so erst nach der Berufung der Zwölf predigte, obwohl diese im MtEv erst später erwähnt wird. Da aber Gottes Geist die Zeitangabe überging, brauche auch der Exeget an dieser Stelle »nicht allzu neugierig zu sein« (nolui esse minium curiosus). Frommen und bescheidenen Lesern 59 »Sie stopfen sich beim Frühstück den Magen so voll, daß sie mühelos die übrigen Mahlzeiten ohne Nahrungsaufnahme übergehen können. Worin soll dann ihre Ähnlichkeit mit dem Sohn Gottes bestehen?« nempe sic farciunt ventrem in prandio, ut coenae tempus facile absque cibo transigant. Quid simile habent cum Filio Dei? (dt. Übers. Evangelien-Harmonie I, 135; lat. Text I, 107). 60 Quod opus meritorium et partem esse pietatis et divini cultus sibi persuadent, pessima est superstitio (ebd.). 61 In der hier kritisierten Auslegung wurde die zweite Versuchung (in der Abfolge nach Mt) als Warnung vor Ehrgeiz, die dritte als Warnung vor Habsucht gedeutet. 62 Vgl. Evangelien-Harmonie I, 138. Lat. Text I, 109: Unde colligimus, Satana recta aggressum fuisse Christi fidem, ut ea exstincta Christum ad illicitos et perversos victus quaerendi modos impelleret. 63 Lat. Text I, 111: neque enim propositm Evangelistis fuit historiae filum sit contextere, ut temporis rationem semper exacteservarent, sed rerum summas colligere. 64 Evangelien-Harmonie I, 140; lat. I, 111. 65 Evangelien-Harmonie I, 169; lat. I, 135. Zu Calvins Auslegung vgl. H. StadtlandNeumann, Evangelische Radikalismen in der Sicht Calvins. Sein Verständnis der Bergpredigt und der Aussendungsrede (Matth. 10), BGLRK 24, Neukirchen-Vluyn 1966.

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müsse es genügen, dass sie »eine kurze Zusammenfassung der Lehre Christi vor Augen haben, die aus mehreren und verschiedenen seiner Predigten zusammengestellt ist« (… hic ante oculos positam habeant brevem summam doctrinae Christi, collectam ex pluribus et diversis eius concionibus).66 Zur ersten Seligpreisung67 (Mt 5,3: ĖċĔƪěēęēęŮĚĞģġęƯĞȦĚėďƴĖċĞē) stellt Calvin fest, dass sich Matthäus hier klarer ausdrückt als Lukas, der nur von den ĚĞģġęư spricht; gemeint sei natürlich dasselbe: Es werden Menschen »arm« genannt, die unter Unglück leiden und darin angefochten werden; Christus verheißt ihnen das Himmelreich und erinnert sie so an die Hoffnung auf das ewige Leben und ermuntert sie zur Geduld. Christus ermutige die Seinen also »nicht mit einer windigen Überredung«, und er beharre auch nicht, wie die Stoiker, auf eisernem Trotz (non inflet Christus suorum animos ventosa aliqua persuasione, vel ferrea contumacia obduret, ut Stoici, sed ad spem aeternae vitae ipsos revocans ad patientiam animet).68

Die Auslegung der Erzählung von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 parr.) orientiert sich an der Fassung in Mt 9,1–8; alle drei Evangelisten sprächen von demselben Ereignis, auch wenn sie es unterschiedlich darstellen.69 Calvin schildert zunächst die bei Mk und Lk geschilderte dramatische Szene, wie der Gelähmte auf seinem Bett an Stricken durch das aufgegrabene Dach zu Jesus hinuntergelassen wird; dann aber konzentriert sich die Auslegung ganz auf die Fassung bei Mt, weil dort Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung ganz im Zentrum steht. Die in Mt 9,5 gestellte Frage, ob das Wort der Sündenvergebung oder aber das Heilungswort »leichter« sei, betont Calvin, beides sei gleich schwer, und daher dürfe es nicht überraschen, dass Christus Sünden vergibt, sobald er das Wunder vollbracht hat (mirum videri non debere, quod peccata remittat, ubi alterum illud praestiterit). Calvin fügt dann aber hinzu, die von Christus gezogene Folgerung sei nicht ganz schlüssig: Da die Seele wichtiger sei als der Leib, müsse doch die Sündenvergebung der Heilung vorangehen (videtur tamen parum solide ratiocinari Christus, quia, quanto praestantior est anima corpore, tanto praecellit corporis sanitatem peccatorum remissio).70 Daran, dass Christus anders handelt, könne man erkennen, wie er seine Rede- und Argumentationsweise dem Verständnis der Menschen anpaßt, die sich durch äußere Wunder leichter beeindrucken lassen (Christus sermonem ad eorum captum accomodat, qui ut erant animales, externis signis magis movebantur).71 66

Ebd. Zu Mt 5,2 (ŁėęưĘċĜĞƱĝĞƲĖċċƉĞęȘ, aperiens os suum) verweist Calvin darauf, dass dieser ĚĕďęėċĝĖƱĜ im Hebräischen bedeutet: »Er fing an zu reden«, Exorsus est loqui. 68 Evangelien-Harmonie I, 170 f.; lat. I, 136. 69 Evangelien-Harmonie I, 259; lat. I, 209. 70 Die Frage Jesu gilt oft als unbeantwortbare »Vexierfrage«, aber tatsächlich ist die Argumentationsrichtung eindeutig: Die sichtbare Heilung des Gelähmten durch Jesus ist Beweis für sein Recht zur Sündenvergebung auf Erden. 71 Evangelien-Harmonie I, 261; lat. I, 211. 67

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In der Auslegung der Erzählung vom »reichen Jüngling« setzt sich Calvin mit der These auseinander, mit seiner Weisung »Halte die Gebote« (ĞƮěđĝęė ĞƩĜ őėĞęĕƪĜ) habe Jesus gelehrt, wir könnten durch die Einhaltung des Gesetzes das ewige Leben verdienen (Legis observatione posse nos vitam aeternam promereri)72; der junge Mann habe aus Jesu Wort gerade lernen sollen, dass er das Gesetz nicht halten kann. Wende man ein, die Gerechtigkeit aus dem Gesetz werde uns doch offenbar unnötigerweise vorgehalten, wenn ihrer sowieso niemand teilhaftig werden kann, so sei zu antworten, dass das Gesetz seinen Zweck darin hat, dass es »die Vorschule ist, die uns zu der geschenkten Gerechtigkeit hinführt« (quia rudimentum est, quo perducimur ad precariam iustitiam, minime supervacuum esse).73 Die Gebote der zweiten Tafel habe Christus deshalb ausgewählt (V.  18 f.), weil daran besser zu erkennen sei, wie jemand gesinnt ist; aber es sei ja ohnehin das ganze Gesetz gemeint. Das Gebot der Nächstenliebe sei darüber hinaus nicht etwas Neues, sondern fasse alle Gebote noch einmal zusammen. Zu der Aufforderung, alles zu verkaufen, schreibt Calvin, sie gelte nicht unter allen Umständen: Ein Bauer, der seine Familie ernährt, sündigt, wenn er ohne Notwendigkeit seinen Grundbesitz verkauft; »zu bewahren, was Gott in unsere Hand gegeben hat, wenn wir nur einfach und bescheiden uns und unsere Familie davon ernähren und einen Teil davon den Armen schenken, ist demnach eine größere Tugend als alles zu verstreuen«.74 Zu Mt 21,12–16 parr fragt Calvin, warum Christus den Tempel nur zweimal »reinigt«75, sich im übrigen aber kritiklos dort aufhält. Beim erstenmal (Joh 2,13 ff.) habe Christus die Juden aufwecken und auf sich aufmerksam machen wollen; beim zweitenmal halte er ihnen die Entheiligung (pollutiones) des Tempels vor Augen und kündige dessen Erneuerung an (restitutionem novam instare). Damit bezeuge er sich als oberster Priester, als Schutzherr des Tempels und des Gottesdienstes; deshalb dürfe niemand auf die Idee kommen, ebenso zu handeln.76 Die Opfertierhändler und die Geldwechsler seien allerdings für den Tempelbetrieb nötig gewesen, und sie hätten überdies gar nicht unmittelbar im Tempel gearbeitet, sondern im Vorhof, den man auch dem »Tempel« zurechne (nec vero in sanctuario sedebant mensarii, vel prostbant venales hostiae, sed tantum in atrio, cui nomen templi interdum tribuitur). Dennoch sei die Aktion Christi zulässig und nötig gewesen, da man – so 72

Evangelien-Harmonie II, 133; lat. II, 163. Auch die Papistae vertreten diese Auslegung. 73 Evangelien-Harmonie II, 133; lat. Text II, 164. 74 Evangelien-Harmonie II, 136. lat. Text II, 165: Peccaret enim agricola, qui labore suo victitare assuetus liberosque suos alere praediolum venderet, nulla necessitate coactus. Retinere ergo, quod in manum nostram posuit Deus, si modo parce et frugaliter nos et familiam alentes partem aliquam pauperibus erogemus, maioris virtutis est quam omnia dilapidare. 75 Calvin nimmt an, dass in Joh 2 und in Mt 21 zwei unterschiedliche Ereignisse geschildert werden (s.o.). 76 Evangelien-Harmonie II, 179; lat. II, 201. Darin ist offenbar eine indirekte Ablehnung der Bilderstürmer enthalten, die vor Calvins Zeit in Genf aktiv gewesen waren.

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Calvin – wußte, dass diese Form des Opferkults aus der schändlichen Gewinnsucht der Priester entstanden war.77 Wichtig ist für Calvin das nur von Matthäus erzählte Wunder der von Jesus bei seiner Aktion vollbrachten Heilungen (V. 14); damit bestätige Christus das Recht seines Handelns, und es werde auch deutlich, dass man solches Handeln nicht nachahmen darf, wenn man sich nicht unberechtigt auf den Thron des Messias setzen will.78 Zu der rätselhaften Aussage in Mt 27,51–53, in der Todesstunde Jesu hätten sich durch ein Erdbeben in Jerusalem die Gräber geöffnet und viele entschlafene ņčēęē seien auferstanden und vielen erschienen, schreibt Calvin, dies sei ein besonderes Wunderzeichen Gottes: In der Stunde der tiefsten Niedrigkeit Christi sei die göttliche Kraft seines Todes bis ins Totenreich hinab wirksam gewesen (quo tempore in Christi persona spectata fuit contemptibilis carnis infirmitas, magnifica et divina mortis eius virtus ad inferos usque penetravit).79 Calvin hält es allerdings für fraglich, dass sich die Gräber in der Todesstunde Jesu geöffnet hätten; vermutlich sei die Auferstehung der Heiligen erst nach Jesu Auferstehung geschehen, denn in 1 Kor 15,20; Kol 1,18 werde Christus primogenitus ex mortuis et primitiae resurgentium bezeichnet. Dass Gott nicht alle, sondern nur »viele« der Heiligen auferweckte, zeigt, dass die Zeit noch nicht reif war. Die Frage, was mit den Auferweckten geschah, sei schwer zu beantworten; aber es sei auch nicht nötig, sich darüber zu viele Gedanken zu machen: »Daß diese Auferstandenen lange unter den Menschen geweilt haben, ist unwahrscheinlich, da es genügte, daß sie kurze Zeit gesehen wurden, damit an ihnen wie in einem Spiegelbild die Kraft Christi offenbar würde« (diu in hominum coetu fuisse versatos verisimile non est: quia tantum ad breve tempus conspici oportuit, ut in illo speculo vel imagine manifesta esset Christi virtus). Aber wahrscheinlich sei ihnen das Leben nicht wieder genommen worden.80

In den Ostererzählungen sieht Calvin die Spannung, dass Jesus nach Joh 20,17 sagt, Maria Magdalena dürfe ihn nicht berühren, während es in Mt 28,9 heißt, die Frauen hätten seine Füße umfaßt. Darin liege aber kein Widerspruch: Christus wies Maria Magdalena zurück, um so ihren Aberglauben zurechtzuweisen und ihr den Zweck seiner Auferstehung klarzumachen (quia corrigenda erat superstitio, et monstrandus resurrectionis finis). Danach aber ließ er die Berührung geschehen, damit völlige Gewißheit zustande käme (ne quid ad certidudinem deesset). Dass die Frauen Jesus anbeteten (Mt 28,9: ĔċƯĚěęĝďĔƴėđĝċėċƉĞȦ), war ein Zeichen ihrer festen Überzeugung (signum fuit non ambiguae notitiae).81 Calvins Kommentare zu den neutestamentlichen Schriften bieten gewiß keine im eigentlichen Sinne »historische« Exegese, aber sie zeigen an sehr vielen Stellen, dass Calvin nicht über philologische und historische Probleme hinwegliest, sondern sich – teilweise in Auseinandersetzung mit der 77

Evangelien-Harmonie II, 180. Evangelien-Harmonie II, 182. 79 Lat. II, 379. 80 Evangelien-Harmonie II, 400 f.; lat. Text II, 379 f. 81 Evangelien-Harmonie II, 416 f.; lat. Text II, 393. 78

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Auslegungstradition  – darum bemüht, Lösungen zu finden. Gerade der nicht selten begegnende Hinweis, die endgültige Klärung eines bestimmten Problems sei nicht erforderlich, zeigt, dass Calvin seine exegetische Arbeit in einem offenen Sinn als »vorläufig« ansah. Insbesondere die Herstellung einer »Harmonie« für die Exegese der synoptischen Evangelien verdankte sich offenbar nicht dem Ziel, einen widerspruchsfreien, die historischen Ereignisse möglichst »korrekt« erfassenden Text zu schaffen. Calvin war sich des literarischen Charakters der Überlieferung bewußt, wie seine Ausführungen zu Zeitpunkt und Ort der Bergpredigt / Feldrede erkennen lassen. Und auch die Hinweise zum Verhältnis des Johannesevangeliums zu den synoptischen Evangelien lassen erkennen, dass er die Evangelien durchaus nicht »flächig« lesen, sondern jeweils für sich zur Sprache kommen lassen wollte. So ist es zwar einerseits eigentlich »systemwidrig«, dass er im argumentum zur Evangelien-Harmonie über die Beziehungen der drei synoptischen Evangelien zueinander nachdenkt, aber es wird andererseits deutlich, dass der Gedanke, Gott habe den Evangelisten die Texte »diktiert« nicht bedeutet, dass diese willenlose Werkzeuge gewesen wären. Die theologische Frage nach dem Verhältnis von »Wort Gottes« und »Menschenwort« findet bei Calvin so eine durchaus bedenkenswerte Lösung.82 2. Zur Exegese alttestamentlicher Schriften Die Kommentare zu den Schriften des Alten Testaments sind in der Regel umfangreicher als die zu den Schriften des Neuen Testaments. Im folgenden werden lediglich einige Beispiele aus den Kommentaren zum Buch Genesis, zu der von Calvin geschaffenen »Harmonie« der anderen Bücher des Pentateuch und zum Psalter vorgestellt.

1. In seinem in den Jahren 1550 bis 1554 erarbeiteten Genesis-Kommentar83 denkt Calvin in der Einleitung (argumentum)84 zuerst darüber nach, woher Mose etwas von der Weltschöpfung wissen konnte, und er gibt zwei durchaus unterschiedliche Antworten: Mose spreche ja auch von der Berufung der 82 Vgl. U. H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 84–87 (§ 5: Wort Gottes bei Calvin). Zur systematisch-theologischen Frage im Zusammenhang der Predigt aaO., 265–270. 83 Der lateinische Text wird zitiert nach der Ausgabe im Corpus Reformatorum, Vol. LI (= Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, ed. G. Baum, E. Cunitz, E. Reuss, Vol. XXIII), Braunschweig 1882. Zur deutschen Übersetzung vgl. Johannes Calvins Auslegung der Genesis. Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift I, übers. und bearb. von W. Goeters/M. Simon, Neukirchen-Vluyn 1956. Vgl. R. Zachman, Calvin as commentator on Genesis, in: McKim (ed.), Calvin and the Bible (s. Anm. 23), 1–29. 84 Lat. Text Calvini opera XXIII 5/6–11/12; deutscher Text nach Goeters / Simon (s. die vorige Anm.), 5–10. Auf Einzelnachweise für die Zitate aus dem argumentum wird verzichtet.

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Heiden (de gentium vocatione), von der er ja noch gar nichts wissen konnte; daher sei klar, dass sein Schreiben vom Heiligen Geist bestimmt war. Aber Calvin fügt ein geradezu »rationales« Argument hinzu: Die Überlieferung von der Schöpfung sei sehr alt – sie gehe auf Adam zurück und sei mündlich weitergegeben worden, bis Mose dann sichergestellt habe, dass die Überlieferung »durch Niederschrift in unveränderter Reinheit« bewahrt wurde (ergo Moses eius doctrinae quam scriptis complexus est, fidem … stabilivit). Auf die Frage, ob man aus der Schöpfung Gott erkennen könne, antwortet Calvin, das sei in gewisser Weise tatsächlich der Fall, wie es ja auch in Ps 19,1 gesagt werde.85 Entscheidend sei aber, dass man bei der Betrachtung der Natur Gott nicht vergessen dürfe: »Beides ist verkehrt: mit aller Kraft des Geistes Naturforschung treiben und dabei Gott vergessen, – und ebenso das andere, in ungesunder, törichter Neugier das reine Sein Gottes suchen wollen und dabei für die Werke des Schöpfers kein Auge haben (totam ingenii sui vim ad naturae considerationem applicant: alii autem, neglectis Dei operibus, stulta adeoque insana curiositate ad inquirendam eius essentiam involent).« Manche seien bestrebt, »Gott in seinem reinen Wesen zu erfassen« (Deum in nuda sua essentia quaerunt), übersähen aber, dass die Welt in gewisser Weise das Abbild des unsichtbaren Gottes ist (Deus enim alioqui invisibilis … mundi imaginem quodammodo induit). Aus 1 Kor 1,21 leitet Calvin ab, dass man zu Gott allein durch Christus gelangt, denn die Welt der geschaffenen Dinge führt niemanden zu Gott; daraus folge, dass man nicht bei den Elementen dieser Welt den Anfang machen kann, sondern beim Evangelium, das allein uns Christus vorstellt und sein Kreuz und in ihm uns festhält. Mose sei zuerst der Lehrer für das auserwählte Volk Israel86, und es bedeutet »eine nicht geringe Bestärkung für unsern Glauben, wenn wir uns darin zusammenfinden mit den Vätern. Für sie war unser Herr Christus, der doch erst kommen sollte, die Bürgschaft des Heils; und wir halten uns an denselben Gott, der sich schon von alters her jenen offenbart hatte.« Dieser von Anfang an gegebene Christusbezug bei der Auslegung des Alten Testaments bedeutet freilich nicht, dass Calvin in den Texten durchweg Hinweise auf Christus zu entdecken bemüht gewesen wäre. Die Polemik des lutherischen Theologen Aegidius Hunnius gegen Calvin als Calvinus iudaizans (1593) ging genau darauf zurück, dass Calvin vordergründig christusbezogene Auslegungen alttestamentlicher Texte ablehnte.87

85 »Der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes, und das Firmament verkündet das Werk seiner Hände.« 86 Vgl. dazu Zachman, Genesis (s. Anm. 83), 28 f. 87 Vgl. A. Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin (Judentum und Christentum 7), Stuttgart 2001, 7.

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Calvin betont zu Gen 1,1 als erstes, es sei leichtfertig (frivolum est), die Wendung »im Anfang« (in principio) auf Christus zu beziehen; Mose wolle einfach sagen, dass am Anfang zunächst ein Chaos geschaffen worden sei. Mit dem Verb ý£ĕ£Ð »schaffen« zeige Mose, dass die Welt aus dem Nichts entstand (quare sensus est, mundum ex nihilo conditum esse). Der Plural für »Gott« (ĊĆāòéýø) beziehe sich nicht auf die drei Personen in Gott88, sondern bezeichne in besonderer Weise Gottes Macht bei der Schöpfung (pluralis numerus Dei virtutes sonet quas in eando mundo exseruit).89 In Gen 1,26 spricht Gott im Plural (»Laßt uns Menschen machen …«). Dabei sei nicht an ein Gespräch mit Engeln zu denken, denn Gott bedurfte keines Ratgebers; schon gar nicht handele es sich um einen pluralis maiestatis, zumal diese »barbarische« Sitte erst in neuerer Zeit aufgekommen sei. Vielmehr sei gemeint, dass Gott sich bei der Erschaffung des Menschen in besonderer Weise einen Plan machte und deshalb dieses »Selbstgespräch« führte; wenn Christen hier einen Hinweis auf die verschiedenen Personen in Gott sähen, sei das allerdings nicht unpassend.90 Die beiden in Gen 1,26 verwendeten Begriffe für »Bild« (Ċĉñ‘ē und ėíċĀö, lateinisch: imago und similitudo) bezeichnen nicht etwas Verschiedenes, sondern es ist gemeint, dass der Mensch als »Bild Gottes« die Vollkommenheit der ganzen Natur wiedergibt; dementsprechend steht in 1,27 (»Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie«) lediglich das Wort Ċĉñ‘ē. Zur Erschaffung des Menschen in Gen 2,7 schreibt Calvin, wenn hier erstmals gesagt werde, dass der Mensch aus Erde gemacht ist, solle ihn das davor bewahren, hochmütig zu werden, nachdem zuvor seine Ebenbildlichkeit mit Gott so stark betont worden war. Wenn in Gen 2,8 gesagt wird, Gott habe den Garten »geflanzt«, sei das gerade angesichts der Größe Gottes eine Redeweise nach Menschenart (quia Dei maiestas, qualis est, nequit exprimi, scriptura humanitus describere eum solet).91 Und mit der Aussage, dass Gott die Frau aus der Rippe des Mannes »gebaut« habe (ȑþ’ ØïĂ), gebe Mose zu verstehen, »daß erst mit der Erschaffung des Weibes das Menschengeschlecht ganz vollendet ward, nachdem es vorher einem angefangenen Gebäude glich« (consulto etiam usus est Moses aedificandi verbo, ut doceret in mulieris persona tandem absolutum fuisse humanum genus, quod prius inchoato aedificio simile erat).92 In der Auslegung von Gen 3 fragt Calvin, warum hier von der Schlange, nicht aber vom Satan die Rede ist. Er schließt sich jener Auslegung an, derzufolge der Heilige Geist damals absichtlich dunkle Bilder gebraucht habe, um das helle Licht für das Reich Christi aufzusparen; Mose habe sich wie ein Erzieher den Verstehensmöglichkeiten der damaligen Menschen angepaßt.93 Kritik der impii an dem Sprechen der Schlange, weist Calvin zurück: »Nicht von Natur war die Schlange beredt, nach Gottes Zulassung wurde sie das Werkzeug des Satans. So mochte Gott auch zulassen, daß sich Worte und Laute bei ihr bildeten.«94 88 »Für eine so wichtige Lehre ist ein solcher Beweis durchaus unzulänglich« (parum solida mihi videtur tantae rei probatio), Genesis-Kommentar 12; lat. Calvini opera XXIII, 15. 89 Ebd. 90 Christiani igitur apposite plures subesse in Deo personas ex hoc testimonio centendunt (Calvini opera XXIII, 25). 91 Calvini opera XXIII, 36. 92 Genesis-Auslegung 37; Calvini opera XXIII, 49. 93 Vgl. Genesis-Auslegung 41; Calvini opera XXIII, 53. 94 Genesis-Auslegung 43; vgl. Calvini opera XXIII, 56.

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Bemerkenswert ist Calvins Reflexion zu Gen 3,15 (»Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen: Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihm nach der Ferse schnappen«). Die erste Aussage meine einfach, dass Menschen eine tiefe Abneigung vor Schlangen haben; der Fluch über die Schlange gelte aber eigentlich dem Satan. In der zweiten Aussage (»er wird dir den Kopf zertreten« óýÌ͓đíóƓ) liest die Vulgata feminin ipsa conteret caput tuum. Das werde bisweilen auf Maria gedeutet; aber der hebräische und der griechische Text, so betont Calvin, sprechen maskulinisch (LXX: ċƉĞƲĜ ĝęğ ĞđěƮĝďē ĔďĠċĕƮė). Der »Same« werde oft auf Christus bezogen; aber dieser Begriff bezeichne normalerweise ein Kollektiv, überdies sei von fortwährender Feindschaft die Rede, und so spreche der Text von der menschlichen Nachkommenschaft, die in dauerndem Kampf mit dem Satan steht. Da aber nur einer, Christus, den Satan wirklich besiegt habe, sei Christus, entsprechend der Aussage des Paulus (Gal 3,16) wahrhaftig »der Same«. Calvin schließt mit der Feststellung: »Darum finde ich an unserer Stelle den Sinn, daß das Menschengeschlecht, welches der Satan überwältigen wollte, seiner noch einmal Herr werden solle« (quare sensus erit (meo iudicio) humanum genus, quod opprimere conatus erat Satan, fore tandem superius).95 Der besondere Aspekt von Calvins christologischer Hermeneutik des Alten Testaments zeigt sich in seiner Auslegung der Erzählung vom Traum Jakobs in Beth-El. Die den Himmel und die Erde berührende Leiter, auf der sich oben Gott zeigt (Gen 28,12), sei, anders als jüdische Ausleger sagen, nicht ein Bild für die göttliche providentia, die Himmel und Erde regiert, sondern »wir halten uns an den Grundsatz (principium), dass Gottes Bund in Christus gegründet ist und dass dieser Christus das ewige Bild des Vaters ist« (in Christo fundatum fuisse Dei foedus, et Christum eundem aeternam fuisse imaginem patris). Damit sei klar, dass die Leiter für Christus steht, der allein der Mittler (mediator) ist, welcher Himmel und Erde verbindet; dass Gott ganz oben auf der Leiter steht, zeige, dass »die Fülle der Gottheit in Christus wohnt« (in Christo habitat plenitudo divinitatis, vgl. Kol 2,9).96 Charakteristisch ist die Erwägung des Juristen (!) Calvin zu Gen 39,19: Es sei zwar kein Wunder, dass bei Potiphar die Eifersucht auf Joseph erwachte, nachdem dieser von Potiphars Frau verklagt worden war; aber »immerhin müssen wir sagen, dass es leichtfertig war, einen erprobten Knecht ohne weiteres ins Gefängnis zu werfen … Bei Potiphar fehlte die besonnene Gerechtigkeit: er läßt gar keine Verteidigung gelten, um die Wahrheit ist es ihm nicht zu tun« (excusari tamen nequit eius levitas, quod servum, quem frugi et probum esse cognoverat, indicta causa statim in carcerem

95 96

Genesis-Auslegung 58; Calvini opera XXIII, 71. Calvini opera XXIII, 391; vgl. Genesis-Auslegug 299 f.

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detrudit … nam ita excluditur omnis aequitas, nulla admittitur iusta defensio, denique veritas et causae cognitio procul reiicitur).97

2. Bei der Auslegung der Bücher Exodus bis Deuteronomium98 wählt Calvin den sehr ungewöhnlichen Weg, eine »Harmonie« zugrundezulegen99: Er habe sich, wie er in der praefatio schreibt100, dafür entschieden, von dem abzuweichen, was der Heilige Geist dem Mose zu schreiben geboten hatte, um durch eine neue Ordnung weniger geübten Lesern die Lektüre zu erleichtern. Mose biete nämlich in diesem Teil des Pentateuch sowohl Geschichte (historiae narratio) als auch Lehre zur Unterweisung der Gemeinde in wahrer Frömmigkeit (doctrina qua instituitur ecclesia in vera pietate), halte aber diese Unterscheidung nicht durch: Zum einen werde die Geschichte nicht im Zusammenhang erzählt, zum andern werde die Lehre immer nur in Bruchstücken und »bei Gelegenheit« dargeboten (nec historiam uno contextu refert: doctrinam vero ipsam sparsim tradit pout tulit occasio). Die im Ersten Teil erzählte Geschichte Israels lasse erkennen, wie Gott sein Volk ungeachtet von dessen Ungehorsam aus Gnade geführt hat; wenn Mose den Grund dafür in Gottes freier Erwählung (gratuita adoptione) sehe, dann gelte das für uns in gleicher Weise, »seitdem der eingeborene Sohn Gottes die Scheidewand hinweggenommen hat, um auch unser König und Haupt zu werden«. Die Lehre sieht Calvin dann in vier Hauptstücken dargestellt: In der praefatio in Legem spricht Mose über die Autorität des Gesetzes; dann folgt der Dekalog, den Calvin mit anderen ähnlichen Texten aus dem ganzen Pentateuch verbindet; es folgen appendices, in denen es um gottesdienstliche Gebräuche (caeremonias et externa pietatis exercitia) und um Gebote für das menschliche Zusammenleben (leges politicas) geht. Schließlich wird der Zweck und Gebrauch des Gesetzes (finem usumque legis) dargestellt, nämlich die mit ihm verbundenen Verheißungen und Drohungen, damit wir lernen, dass wir bei Christus unsere Zuflucht suchen sollen. Calvin schließt mit der Bemerkung: »Wie notwendig diese Einteilung des Stoffes ist, erkennt man am besten aus dem 97

Genesis-Auslegung 389 f.; Calvini opera XXIII, 507 f. Die Geschichte zeige, dass die Bezeichnung »Eunuchen« sich einfach auf Hofbeamte beziehen kann und nicht unbedingt Kastraten meinen muß. 98 Übersetzung nach: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung. 2. Band: 2.–5. Buch Mose. 1. Hälfte, übers. von Ad. Müller, K. Müller, A. Lauffs, Neukirchen o. J. 3. Band: 2.–5. Buch Mose 2. Hälfte, übers. von E. Quack, Neukirchen o. J. Der lateinische Text wird zitiert nach der Ausgabe im Corpus Reformatorum, Vol. LII–LIII (= Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, ed. G. Baum, E. Cunitz, E. Reuss, Vol. XXIV–XXV), Braunschweig 1882 (Mosis Reliqui Libri quatuor in formam Harmoniae digesti a Ioanne Calvino: cum eiusdem commentariis, pars I / II). 99 Vgl. R. A. Blacketer, Calvin as commentator on the Mosaic Harmony and Joshua, in: McKim (ed.), Calvin and the Bible (s. Anm. 23), 30–52; zum methodischen Verfahren der »Harmonie« aaO., 36–44. »No previous commentator had attempted to interpret the Pentateuch in precisely the same way that Calvin does in the Mosaic Harmnony« (42). 100 Lat. Text Calvini opera XXIV 5/6–7/8; deutscher Text nach Müller u.a., 2.–5. Buch Mose (s. Anm. 98), 3–6. Auf Einzelnachweise für die Zitate aus der praefatio wird verzichtet.

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Zusammenhang« (sed quam necessaria fuerit haec distributio, melius ex contextu intelligetur).

Calvin legt zunächst unter der Überschrift Exodus die in Ex 1–19 erzählte Handlung fortlaufend aus, wobei er die analogen Abschnitte aus Dtn 1 und Dtn 5,19–28 einfügt.101 Zu Ex 3,14 schreibt er, die Wendung āƑāöýñĕ‘óý÷āƑāöýñ (sum qui sum) könne grammatikalisch auch ein Futur sein (ero qui ero); aber Gott wolle hier nicht Zukünftiges aussagen, sondern »ein Gegenwärtiges, das freilich auch in alle Zukunft währen wird«, d.h. Gott schreibt sich selber Ewigkeit zu.102 In der Auslegung von Ex 6,1–8 geht Calvin auch auf den Gottesnamen ein (Iehova, āŽĂāƓ); dieser sei für die Juden so heilig geworden, dass sie ihn nicht auszusprechen und zu schreiben wagten, sed substituunt nomen Adonai, putida est superstitio. Da dieser Name von dem Wort āĆā oder āĂā abgeleitet sei, bezeichne er das ewige Sein Gottes.103 Den zweiten Teil, die praefatio in Legem104, leitet er ein mit Ex 20,1 f./ Dtn 5,1–6/Dtn 4,20. Ex 20,2 gehöre nicht zum Ersten Gebot, sondern sei die Selbstvorstellung der Majestät Gottes; die Befreiung aus Ägypten betreffe uns nicht; »aber uns hat Gott mit einem Bande, das weit fester ist (sanctiore vinculo), an sich gekettet, durch den eingeborenen Sohn«, und dazu leitet Calvin aus Röm 14,9 ab, dass Gott »jetzt nicht nur eines Volkes Gott [ist], sondern aller Nationen, die er in seine Gemeinschaft aufgenommen und in seine Kirche berufen hat« (… ita non unius tantum populi nunc est Deus, sed gentium omnium, quas in ecclesiam communi adoptione vocavit).105 Die Auslegung zahlreicher weiterer Texte aus allen Büchern des Pentateuch nach der von Calvin als sinnvoll angenommenen Ordnung endet mit dem Kommentar zu Dtn 4,44: »Dies ist die Weisung, die Mose den Israeliten vorlegte.« Der folgende Teil unter der Überschrift Lex bietet die sehr ausführliche Auslegung des Dekalogs.106 Calvin beginnt mit Ex 20,3/Dtn 5,7 und fügt weitere Texte hinzu, die er als Erläuterungen ansieht – als erstes das Schema (Dtn 6,4.13), dann aber auch Texte zum Passafest. Die summa legis sieht Calvin in Dtn 10,12 f./Dtn 6,5/Lev 19,18 in der Auslegung betont er, das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (… sicut te ipsum) bedeute keinesfalls eine Aufforderung zur Selbstliebe, denn eine solche habe der Mensch ohnehin; vielmehr setze Gott den Nächsten gleichsam an unsere Stelle und sage, dass wir ihn nicht weniger lieben sollen als uns selbst. Wir sollen alle Menschen lieben, denn das ganze Menschengeschlecht bilde einen einzigen Leib, dessen Glieder wir sind (totum humanum genus corpus unum efficit, cuius ut singuli singuli sund membra); wie wir dabei handeln sollen, habe Christus sub 101

Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 7–222; Calvini opera XXIV, 9–208. Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 45; Calvini opera XXIV, 43. 103 Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 84; Calvini opera XXIV, 78. 104 Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 223–281; Calvini opera XXIV, 209–260. 105 Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 224 (übers. A. Lauffs); Calvini opera XXIV, 210. 106 Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 282–722; Calvini opera XXIV, 261–728. 102

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persona Samaritani hinreichend verdeutlicht.107 Abschließend betont Calvin unter der Überschrift finis et usus Legis, dass das Gesetz den Unterschied zwischen Gut und Böse lehrt; die Menschen seien zwar auch von Natur aus (naturaliter) zu dieser Unterscheidung imstande, doch sei das oberste Gebot der iustitia der Gehorsam gegen Gott, und dazu habe Gott allein dem Volk Israel das Gesetz gegeben. Paulus schreibe zwar gelegentlich so, als sei das Gesetz abgeschafft; gemeint sei aber, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird, weil dann die Glaubensgerechtigkeit abgeschafft und das Evangelium hingefallen sei.108 Ein vergleichsweise kurzer Teil unter der Überschrift Sanctiones a promissionibus et minis109 befaßt sich mit Texten, in denen »Verheißungen« und »Drohungen« ausgesprochen werden, beginnend mit Lev 18,5 (custodite statuta mea, et iudicia mea, quae homo si faciat, vivet in ipsis), verbunden mit der Szene von Segen und Fluch in Dtn 27,11–26. Der Abschnitt endet mit Aussagen zu Dtn 30,19, wo Mose von Segen und Fluch, Leben und Tod spricht. Nach der doctrina trage das Gesetz Leben und Tod in sich, und es betrüge nicht, wenn es das ewige Leben verheißt; aber da niemand den verheißenen Lohn verdient, sage Paulus zu Recht, dass es allein den Tod bringt (vitam et mortem in se continet; quia illic non fallaciter primittitur vitae aeternae merces. Sem quuum nemo reperiatur dignus mercede promissa, merito docet Paulus legem tantum esse mortiferam).110

Danach kehrt Calvin zur Geschichtsdarstellung zurück (Reditus ad historiam). Beginnend mit Ex 31 stellt er die erzählenden Texte zusammen und legt sie aus, wobei er ausführlich u.a. auf Lev 21–34 eingeht. Der Abschnitt endet mit der Einsetzung Josuas, dem Lied des Mose und dem Mosesegen (Dtn 31–33). Zu Dtn 34 stellt Calvin ausdrücklich fest, es sei unklar (incertum), wer dieses Kapitel geschrieben hat; es könnte Josua gewesen sein, vielleicht auch Eleazar, doch brauche man dieser Frage nicht zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Calvin fragt zu Dtn 34,6 (»Und er begrub ihn im Tal, im Land Moab gegenüber von Bet-Peor, und bis heute kennt niemand sein Grab«), wie es zu verstehen ist, dass Gott selbst den Mose »begrub«; da man das Grab des Mose nicht kannte, habe man annehmen müssen, dass Gott für das Begräbnis gesorgt hatte, ohne dass wir wissen müßten, auf welche Weise das geschah. Die Bemerkung in Dtn 34,10 (»Und in Israel ist nie mehr ein Prophet aufgetreten wie Mose …«) sei offensichtlich hinzugefügt worden, ut a Mose penderent filii Abrahae usque ad Christi manifestationem.111

Raymond A. Blacketer meint, die Pentateuch-Harmonie sei »arguably the crowning achievement of Calvin’s exegetical work«, da er bestrebt gewesen 107

Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 720 (übers. K. Müller); Calvini opera XXIV,

724.

108

Vgl. Schriftauslegung 2. Band (s. Anm. 98), 723; Calvini opera XXIV, 727. Schriftauslegung 3. Band (s. Anm. 98), 3–62; Calvini opera XXV, 5–58. 110 Calvini opera XXV, 56; vgl. Schriftauslegung 3. Band (s. Anm. 98), 62. 111 CR 53 (Calvini Opera 25), p. 400. Vgl. übers. (E. Quack), 441: »Diese Verherrlichung scheint hinzugefügt worden zu sein, damit die Kinder Abrahams von Mose an bis zu den Tagen Jesu voll Erwartung blieben.« 109

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sei »to make the often obscure and arcane legal and cultic material of the Pentateuch understandable and practical for preachers and students of theology«. Bemerkenswert sei, dass Calvin mit seinem Ansatz den bei der Auslegung dieser Texte oft gewählten Weg der Allegorese vermeide und das anwende »what he calls the natural or simple meaning of a passage«; statt des Versuchs »to make sense of the Pentateuch through spiritualizing forms of interpretation, Calvin prefers to categorize rather than allegorize«.112 Man wird sicherlich sagen können, dass Calvins Herstellung einer neuen Textzusammenhangs und die dem folgende Auslegung eine besondere intellektuelle Leistung darstellen; aber eine methodisch kontrollierte Begründung für sein Vorgehen gibt Calvin letztlich nicht, so dass man doch von Willkür gegenüber dem überlieferten Text sprechen muß. Das spricht freilich nicht gegen die theologische und exegetische Qualität der Auslegung der einzelnen Texte selber. 3. Der Kommentar zum Psalter erschien 1557.113 In der praefatio114berichtet Calvin von der Entstehungsgeschichte des Kommentars und gibt eine bemerkenswerte Charakterisierung dieses biblischen Buches115: Der Psalter sei eine »Aufgliederung (ŁėċĞęĖƮ) aller Teile der Seele. Denn jede Regung (affectum), die jemand in sich empfindet, begegnet als Abbild in diesem Spiegel. Ja, hier hat uns der Heilige Geist alle Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste, Verwirrungen, kurzum all die Gefühle, durch die Menschen innerlich hin und her geworfen werden, lebensnah vergegenwärtigt (ad vivum repraesentavit)«. Die übrige Schrift enthalte die Gebote (mandata), die Gott seinen Dienern mitgeteilt hat, hier dagegen reden »die Propheten selber mit Gott, und weil sie ihre geheimen Gedanken ans Licht bringen, sprechen sie jeden von uns an und bringen uns zur Selbstprüfung (trahunt ad proprium sui examen)«.116 In den Psalmen spiele das Beten eine entscheidende Rolle; wir erfahren »nicht nur, dass uns ein Weg des Vertrauens zu Gott offensteht (familiaris ad Deum pateat accessus), sondern dass wir auch unsere Schwächen, die wir aus Scham den Menschen nicht eingestehen möchten, vor ihm offen bekennen dürfen«.117 Dem entspricht es, dass Calvin in der Auslegung zahlreiche Beispiele aus dem menschlichen Leben anführt; seine eigenen Erfahrungen hätten ihm geholfen, »nicht nur die von mir [in den Psalmen] enthaltene Lehre für 112

Blacketer, aaO. (s. Anm. 99), 45. Text und Übersetzung zitiert nach: Calvin-Studienausgabe. Band 6. Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, hg. von E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2008. 114 Psalmenkommentar (s. die vorige Anm.), 18/19–40/41 (übers. M. Freudenberg). 115 Vgl. zur Sache P. Opitz, Calvin als Ausleger der Psalmen, CStA 6 (s. Anm. 113), 1–16. 116 Psalmenkommentar, 20/21. 117 Psalmenkommentar, 23. 113

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die Gegenwart nutzbar machen, sondern auch einen möglichst freien Weg gebahnt zu finden, um die Absicht der einzelnen Verfasser der Psalmen zu erkennen« (non modo ut accommodarem ad preaesentum usum quidquid licuerat doctrinae colligere, sed ut ad consilium scriptoris cuiusque psalmorum intelligendum familiarior pateret via).118 Im Rahmen dieser praefatio bietet Calvin die Skizze eine Autobiographie. Hier spricht er von der Abkehr von den superstitionibus Papatus zur subita conversio ad docilitatem119, und er berichtet von den Stationen seines Weges von Paris über Basel nach Genf, Straßburg und wieder Genf. Dabei vergleicht er seine Entwicklung einige Male mit dem Weg Davids vom Hirtenjungen bis zum König, verbindet dies freilich immer wieder mit der Feststellung, dass seine Stellung doch ungleich niedriger sei.120

Zu jedem der Psalmen bietet Calvin zuerst eine knappe Inhaltsangabe (argumentum), und dann folgt die Einzelexegese. Zu Ps 1 stellt er einleitend fest, derjenige, der die Psalmen zu einem Buch zusammengestellt hat, habe diesen Psalm offenbar nach Art einer praefatio an den Anfang gestellt, »um dadurch alle Frommen zur Betrachtung des Gesetzes Gottes zu ermuntern« (videtur operis initio Psalmum hunc locasse praefationis instar, quo pios omnes hortaretur ad Legis Dei meditationem).121 Diese kleine Notiz macht deutlich, dass Calvin annimmt, ein Buch wie der Psalter verdanke sich in seiner Endgestalt einem menschlichen »Redaktor« und offenbar nicht einem unmittelbaren Wirken Gottes. Zu Ps 8,6 (quia minuisti eum paululum a Deo »Du hast ihn [den Menschen] nur wenig geringer gemacht als Gott«) betont Calvin zuerst, der Psalm mache hier deutlich, »dass die Menschen nach dem Bild Gottes geformt und zur Hoffnung auf das unsterbliche, selige Leben geschaffen sind«; sie sind mit Vernunft begabt (ratione praediti sunt), der Same der Religion ist ihnen eingegeben (inditum est religionis semen) und die Fähigkeit zur Kommunikation (mutua est inter eos communicatio).122 Ausführlich wird die Frage erörtert, wie die Wendung ĊĆāòĉ•ýċðą¦ďÜö zu verstehen ist: Dass die Septuaginta (Graeci) ĊĆāòúĉ•ý mit Ņččďĕęē übersetzt, »gefällt mir nicht schlecht« (mihi non displicet)123, aber der Psalm spreche offensichtlich doch von Gott.124 Was in Ps 8,6 für das ganze Menschengeschlecht gesagt werde, lasse sich 118

Psalmenkommentar, 24/25. Zum Sinn dieser Wendung und zur Datierung vgl. W. H. Neuser, in: Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch (s. Anm. 1), 25 f. Mit subita conversio ad docilitatem meine Calvin nicht seine reformatorische Erkenntnis, sondern seine Hinwendeng zum wissenschaftlichen Arbeiten, die auf 1528/29 zu datieren sei. Das öffentliche reformatorische Wirken beginne mit der Erstauflage der Institutio in Basel 1535. 120 Psalmenkommentar, 25–39. Conditio quidem mea quanto sit inferior, dicere nihil attinet (aaO., 24). 121 Psalmenkommentar, 42/43 (übers. Chr. Link). 122 Psalmenkommentar, 66/67 (übers. Chr. Link). 123 Die LXX liest ŝĕƪĞĞģĝċĜċƉĞƱėČěċġƴĞēĚċědzŁččƬĕęğĜ. 124 Calvin erwähnt Hebr 2,7, wo Ps 8,6 mit dem Wort ŁččƬĕęğĜ zitiert wird, doch sei das nur ein Zeichen dafür, dass die Apostel die Schrift oft frei zitieren. 119

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auch auf die Person Christi anwenden, denn Christus ist »nicht nur der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, sondern auch der Erneuerer des Menschengeschlechts« (non tantum omnis creaturae primogenitus, sed humani generis instaurator). »Was der menschlichen Natur Christi verliehen wurde, ist ein Gnadengeschenk«, und hier erweise sich Gottes Erbarmen, »dass ein sterblicher Mensch und ein Sohn Adams Gottes einziger Sohn ist (mortalis homo et filius Adae, unicus est Dei filius): Herr der Herrlichkeit und Haupt der Engel«.125 Zu Ps 104 schreibt Calvin im einleitenden argumentum, hier sei nicht von den beneficia Gottes die Rede, sondern hier werde »in der Ordnung der Natur (naturae ordine) ein lebendiges Bild der Weisheit, Macht und Güte Gottes vor Augen« gestellt.126 Die Aussage in V.  2 (Gott ist »umhüllt mit Licht« amictus luce sicut vestimento), zeige, dass wir Gottes Herrlichkeit (gloria) zu sehen vermögen, auch wenn Gott selber unsichtbar bleibt.127 Zu V. 5 (»Gott hat die Erde fest gegründet auf ewig« fundavit terram super bases suas, non nutabit in saeculum et usque) erinnert Calvin daran, dass bisweilen ganze Städte durch Erdbeben zerstört werden; die Erde selber aber bleibt bestehen (corpus tamen ipsum terrae manet): »Ja, was immer ihr an Erschütterungen zustößt, ist nur ein umso kräftigerer Beweis dafür, dass sie in jedem Augenblick verschlungen werden könnte, wenn Gott sie durch seine verborgene Kraft (arcana Dei virtute) nicht in ihrem Bestand erhielte«.128

Im argumentum zu Ps 110 stellt Calvin fest, hier preise David das ewige König- und Priestertum Christi (celebratur aeternum Christi tam regnum quam sacerdotium). Christus selber habe ja bezeugt, dass der Psalm von ihm handelt, und es gebe dafür auch ein apostolisches Zeugnis129; aber, so fügt Calvin hinzu, eines solchen Zeugnisses bedarf es eigentlich gar nicht, den der Psalm »schreit es geradezu heraus, dass er eine andere Auslegung nicht zulässt (Psalmus ipse clamat se non aliam expositionem admittere)«.130 Zu erwähnen sei, dass als principium vel axioma allgemein anerkannt war, dass David »aus prophetischem Geist geredet und derart von Christi zukünftigen Königtum geweissagt habe«. Man dürfe folgern, »dass er auf Christus blickt, der sich später offenbaren sollte, denn er ist das oberste und einzige Haupt der Kirche«. Somit sei klar, dass Christus etwas besitzt, »das die menschliche Natur überragt, und im Blick darauf wird er der Herr seines Vaters David genannt«.131 Bestätigt werde diese Auslegung auch durch die Rede vom »Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks« in V. 4; es stehe außer Zweifel, »dass der Geist etwas schlechthin Einzigartiges meint, das diesen König von anderen unterscheiden und trennen soll«, und damit 125

Psalmenkommentar, 68/69. Psalmenkommentar, 278/279 (übers. Chr. Link). 127 Ebenda. Vgl. Institutio I 5,1. Gerade deshalb seien die Menschen unentschuldbar, wenn sie Gott nicht die Ehre geben (vgl. Röm 1,19). 128 Psalmenkommentar, 285. 129 Vgl. Mk 12,36 parr. und Hebr 1,13, wo Ps 110,1 zitiert wird. 130 Psalmenkommentar, 316/317 (übers. Chr. Link). 131 Psalmenkommentar, 321. 126

Johannes Calvin als Exeget

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könne nicht der in Gen 14,18 erwähnte unbekannte kleine König von Salem gemeint sein.132 In V. 6 (iudicabit in gentibus) bringe David zum Ausdruck, dass Christus die Herrschaft über die unbeschnittenen Völker erhält, als wollte er sagen: »Erwählt ist nicht nur der König, der an der Spitze des einzigen Volkes der Juden steht, sondern der auch die entferntesten Völker unter seine Gewalt bringt«, und zugleich kündige David die Niederwerfung der Feinde Christi an: »Alle, die Christus widerstehen werden, sollen mitsamt ihrer Hartnäckigkeit zerbrochen werden (acsi diceret, quicunque resistent Christo, cum sua duritie frangendos)«133

IV. Zusammenfassende Anmerkungen zu Calvins Schriftauslegung Calvin war kein »moderner« Exeget, auch wenn sich in seiner Schriftauslegung Aspekte erkennen lassen, die auf eine jedenfalls »historische«, d.h. die (vermutete) Entstehungszeit des jeweiligen Textes berücksichtigende Exegese verweisen. Calvins Exegese ist auch in dem Sinne »historisch« zu nennen, als ihm primär weder auf die Bestätigung dogmatischer Lehrpositionen der kirchlichen Tradition noch auf »fromme Erbaulichkeit« ankam. Im Zentrum stand sein Bemühen darum, den Sinn der einzelnen Schriftaussagen an ihrem jeweiligen Ort zu erfassen. So zeigen die Ausführungen zu 1 Kor 11134, dass er den zeitgeschichtlichen Kontext einer Schriftaussage zu beachten wußte und beispielsweise nicht annahm, den Aussagen des Paulus zu der von der »Natur gelehrten« Haartracht sei Folge zu leisten. Bei der Auslegung des Römerbriefs135 gibt es oft auch an reformationsgeschichtlich wichtigen Stellen Hinweise auf exegetische Probleme und deren unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten; selbstverständlich ist für Calvin klar, dass die Grundsatzentscheidungen der Reformation nicht zur Disposition stehen können. Aus gegenwärtiger Sicht stellt Calvins Auslegung alttestamentlicher Texte ein besonderes Problem dar. Zwar lehnte Calvin eine Auslegung ab, die gleichsam »überall« von Christus gesprochen fand; aber er war davon überzeugt, dass das Alte Testament auf Christus hin und von Christus her zu lesen sei, selbst wenn in der ursprünglichen Textsituation ein Verweis auf Christus gar nicht verstanden werden konnte. Der Verzicht auf einer derart »christologische« Exegese alttestamentlicher Texte kann allerdings nicht bedeuten, dass sie ausschließlich als Texte 132

Psalmenkommentar, 329–331. Psalmenkommentar 335. 134 S. oben S. 387 f. 135 S. oben S. 380–387. 133

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des Judentums interpretiert werden. Es ist zwischen ihrem historisch »ursprünglichen« Sinn und ihrer gegenwärtigen Bedeutung für das Judentum einerseits und der vom Glauben an Jesus Christus her gewonnenen Auslegungsperspektive andererseits zu unterscheiden. Wir können alttestamentliche Texte nicht ohne weiteres von Christus her lesen, aber es ist theologisch auch nicht möglich, ihnen gegenüber eine »Hermeneutik ohne Christus« anzuwenden, denn dann werden die Texte des Alten Testaments zu bloßen religionsgeschichtlich oder sozialgeschichtlich »interessanten« Dokumenten. Am Beispiel von Calvins Schriftauslegung läßt sich in angemessener Weise studieren, dass biblische Exegese nicht nur eine historische, sondern auch und vor allem eine theologische Aufgabe ist.

Zur neutestamentlichen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert Von der Tübinger Schule bis zu Rudolf Bultmann und in die Gegenwart Es geht in diesem Beitrag um »die kritische neutestamentliche Wissenschaft« der beiden letzten Jahrhunderte1, also um die wissenschaftlich kontrollierte Exegese der Texte des Neuen Testaments.2 Exegese ist dabei verstanden als eine Aufgabe, die im Rahmen der Theologie, näherhin: im Rahmen der Evangelischen Theologie, geleistet wird.3 Nach einer Vorbemerkung soll dazu in Teil I die zu Ferdinand Christian Baur hinführende Phase der Geschichte der Exegese kurz gewürdigt werden; in Teil II geht es dann um die »Tübinger Schule«, konkret: um Ferdinand Christian Baur. Aus der Phase zwischen Baur und Bultmann soll in Teil III die Arbeit William Wredes skizziert werden, und in Teil IV dann die »Theologie des Neuen Testaments« von Rudolf Bultmann.4 Am Ende steht in Teil V ein kurzer Blick auf einzelne Aspekte der gegenwärtigen Diskussionslage zur Frage einer »Theologie des Neuen Testaments«, und dann folgt in Teil VI ein kurzer zusammenfassender Ausblick.

1 Der Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag, der aus Anlaß der Emeritierung von Otto Merk bei einem Kolloquium in Erlangen am 25. Januar 2002 gehalten wurde. Der weit gesteckte Rahmen des dazu mir gestellten Themas »Grundzüge und Erträge der kritischen neutestamentlichen Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert« entspricht den Interessen und der Arbeit von Otto Merk, der mit diesem Beitrag geehrt werden soll. 2 Vgl. dazu die Überlegungen von O. Wischmeyer, Einführung, in: Dies. / E.-M. Becker (Hg.), Was ist ein Text? NET 1, Tübingen 2001, 1–14. 3 Selbstverständlich gibt es ebenso eine wissenschaftlich reflektierte Exegese im Kontext römisch-katholischer Theologie; aber der historische Rückblick auf diese Exegese würde schon angesichts der besonderen Rolle des kirchlichen Lehramts Aspekte zu berücksichtigen haben, durch die der Rahmen des hier Möglichen gesprengt würde. 4 F. Vouga, Une théologie du Nouveau Testament, Le Monde de la Bible 43, Genève 2001, 379–390 stellt Baur und Bultmann als die geradezu klassischen »paradigmes pour l’interpretation du Nouveau Testament« dar.

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Vorbemerkung Wenn nach Funktion und Aufgabe neutestamentlicher Exegese gefragt wird, so sind als Antwort zumindest drei unterschiedliche Positionen grundsätzlich denkbar: Die wissenschaftliche Auslegung der neutestamentlichen Texte könnte erstens verstanden werden als eine rein historische Aufgabe; es ginge in der Exegese dann darum, die Schriften eines in der Antike entstandenen Textcorpus, das in der Weltgeschichte eine außergewöhnlich große Wirkung entfaltet hat, ausschließlich oder zumindest primär als historische Dokumente der Vergangenheit zu lesen und zu verstehen, also im Blick auf die Bedingungen ihrer ursprünglichen Entstehung. Dabei könnten diese Schriften möglicherweise auch als Quellen für die Erforschung von historischen Ereignisse und Personen in Betracht kommen. Dies wäre etwa die Position einer in erster Linie religionsgeschichtlich orientierten Exegese. Die Auslegung des Neuen Testaments könnte zweitens aber auch begriffen werden als ein primär textwissenschaftliches Unternehmen. Die neutestamentlichen Schriften bzw. das Neue Testament als ganzes wären dann in erster Linie als »Literatur« definiert und beschrieben, und die Tatsache, dass es sich um antike Texte religiösen Inhalts handelt, wäre von eher geringer Bedeutung. Ansätze, die in diese Richtung weisen, lassen sich in der Methodendiskussion zur Exegese vor allem von Texten der synoptischen Evangelien gelegentlich erkennen. Neutestamentliche Wissenschaft könnte drittens verstanden werden als Teil der christlichen Theologie, diese verstanden als wissenschaftlich verantwortete Rede vom christlichen Bekenntnis, dessen Gegenstand der Gott ist, von dem der christliche Glaube spricht.5 In diesem Fall werden die neutestamentlichen Texte verstanden als diejenigen Dokumente, in denen das Bekenntnis ursprünglich bezeugt ist, und zugleich wird die Beziehung der neutestamentlichen Texte zur gegenwärtig existierenden Kirche mitbedacht. Exegese erweist sich damit in gewisser Weise als eine »kirchliche Wissenschaft« – natürlich nicht in dem Sinne, dass sie sich die Inhalte oder gar die Ergebnisse ihres Arbeitens von kirchlichen Instanzen vorgegeben sein ließe, wohl aber in dem Sinne, dass sie den unmittelbaren Bezug ihrer Texte zur gegenwärtigen Kirche erkennt und beachtet. Diesem Ansatz ließe sich die in der Tradition der dialektischen Theologie stehende hermeneutische Exegese zuordnen. Das Unternehmen »Wissenschaftliche Exegese der 5 Selbstverständlich ist auch das Alte Testament Gegenstand der wissenschaftlich kontrollierten Exegese im Rahmen der christlichen Theologie; auf die damit verbundenen besonderen theologischen und hermeneutischen Probleme kann hier aber nicht eingegangen werden; vgl. Chr. Dohmen / G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, KStTh 1,2, Stuttgart 1996; M. Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998.

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neutestamentlichen Schriften« wird, zumindest in dem gegenwärtig immer noch gegebenen beachtlichen Umfang, vermutlich nur so lange funktionieren, wie die Kirche als potentielle »Nutzerin« an dieser wissenschaftlichen exegetischen Arbeit und an deren Ergebnissen interessiert ist.6 Es wäre allerdings falsch, wollte man die drei genannten Möglichkeiten als einander ausschließende Alternativen betrachten und sie womöglich gegeneinander auszuspielen versuchen; letztlich gehören sie zusammen, und am Ende kann es wohl nur um unterschiedliche Akzentsetzungen gehen.

I. Neutestamentliche Wissenschaft bis Ferdinand Christian Baur Otto Merk hat in einem Vortrag, dessen Druckfassung er Werner Georg Kümmel zu dessen 75. Geburtstag widmete, eindrücklich die Anfänge kritischer neutestamentlicher Wissenschaft im 18. Jahrhundert beschrieben.7 Er skizziert zunächst die Entwicklung, die zur Loslösung der geschichtlichen Bibelinterpretation von der Dogmatik und zugleich – vor allem bei dem reformierten Genfer Theologen und Altphilologen Jean-Alphonse Turretini (1623–1687)  – zu einer reflektierten historischen Hermeneutik führte.8 Einen entscheidenden Einschnitt bildet dann die Arbeit von Johann Salomo Semler (1725–1791), die Merk zufolge von zwei hermeneutischen Grundthesen bestimmt ist: Zum einen gelte, dass »das Wort Gottes und die Heilige Schrift … nicht identisch« sind, denn als man erkannte, dass in den kanonischen Schriften »Gottes Wort im Menschenwort« begegnet, mußte die Inspirationslehre der konfessionellen Orthodoxie preisgegeben werden. Damit verbunden war die zweite Einsicht, dass die Zugehörigkeit einer Schrift zum Kanon als »eine rein historische Frage« anzusehen ist, da der Kanon nur »die Übereinkunft der einzelnen Kirchenprovinzen« darüber repräsentiert, »welche Schriften zur Verbreitung und zum Vorlesen zuge6 Darauf hat nachdrücklich M. Wolter, Probleme und Möglichkeiten einer Theologie des Neuen Testaments, in: R. Buitenwerf / H. W. Hollander / J. Tromp (eds.), Jesus, Paul, and Early Christianity. Studies in Honour of Henk Jan de Jonge, NT.S 130, Leiden 2008, 417–438, hier: 432 hingewiesen: »Eine Wissenschaft vom Neuen Testament gibt es nur, sofern es ein Neues Testament gibt, und das wiederum gibt es nur in seiner kanonisch gewordenen Gestalt als Geschöpf der Kirche.« In »produktionshermeneutischer Hinsicht« seien die neutestamentlichen Schriften natürlich »als Bestandteil der antiken Literaturgeschichte zu interpretieren« (Hervorhebung im Original). 7 O. Merk, Anfänge neutestamentlicher Wissenschaft im 18. Jahrhundert, in: Ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. von R. Gebauer, M. Karrer und M. Meiser, BZNW 95, Berlin 1998, 1–23. 8 Merk, Anfänge (s. die vorige Anm.), 7. Zu Turrettini vgl. M. Baumann, Art. Turretini, Jean-Alphonse, in: Metzler Lexikon christlicher Denker, hg. von M. Vinzent, Stuttgart und Weimar 2000, 699 f.

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lassen sind« und welche nicht.9 Damit habe Semler »grundlegend anerkannt, daß die historische Schriftauslegung die Geschichte des Urchristentums zu bedenken hat, wenn sie den neutestamentlichen Schriften als Zeugnissen vergangener Zeit und Epochen in je ihrer Situation gerecht werden will«.10 Merk zufolge kristallisierten sich nun vier Arbeitsfelder heraus, die als Einzeldisziplinen der neutestamentlichen Wissenschaft zu betrachten sind: die Textkritik, die Einleitungswissenschaft, die Geschichte des Urchristentums sowie die Theologie des Neuen Testaments. Die zuletzt genannte Disziplin bilde dabei einerseits »das unaufgebbare Gegenüber zur dogmatischen Theologie«, und sie sei andererseits »doch zugleich deren unwandelbares Fundament«.11 So habe zu Beginn des 19. Jahrhunderts Georg Lorenz Bauer (1755–1806) in seiner »Biblischen Theologie des Neuen Testaments« diesem Ansatz folgend die Interpretation der Texte »in den Gesamtrahmen der historisch-kritisch auf Rekonstruktion bedachten Theologie« einbezogen.12 Damit ist der für die weitere Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung des Neuen Testaments fortan entscheidende Aspekt benannt: Schriftauslegung ist nicht möglich ohne eine angemessene Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Geschichte. Es muß gefragt werden, wie sich bei der Auslegung neutestamentlicher Texte das geschichtlich Vergangene der auszulegenden Aussagen auf der einen Seite zu dem Inhalt verhält, von dem die Texte sprechen, und auf der anderen Seite zu der jeweiligen Gegenwart, in der diejenigen leben, die diese Texte auslegen. Diese Problematik hat Rudolf Bultmann im Schlußteil der Epilegomena zu seiner »Theologie des Neuen Testaments« so beschrieben13: Das Neue Testament ist »ein Dokument der Geschichte, speziell der Religionsgeschichte«, und deshalb verlangt »seine Erklärung die Arbeit historischer Forschung«. Diese Arbeit aber könne nun »von einem zweifachen Interesse geleitet« sein, nämlich entweder von dem Interesse an der »Rekonstruktion vergangener Geschichte« oder aber von dem Interesse an der »Interpretation« der neutestamentlichen Schriften. Zwar gebe es im Grunde nicht das eine ohne das andere, aber es müsse doch gefragt werden, »welches von beiden im Dienst des anderen steht«. Dazu stellt Bultmann fest: »Entweder können die Schriften des NT als die ›Quellen‹ befragt werden, die der Historiker inter9 Merk, Anfänge (s. Anm. 7), 13.14. Vgl. J. S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771), hg. von H. Scheible, Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 5, Gütersloh 1967. 10 Merk, Anfänge (s. Anm. 7), 15. Zu Semler vgl. S.-P. Bergjan, Art. Semler, Johann Salomo, in: Metzler Lexikon christlicher Denker (s. Anm. 8), 625 f. 11 Merk, Anfänge (s. Anm. 7), 22. 12 Merk ebd. Vgl. O. Merk, Art. Bauer, G. Lorenz, in: Dictionary of Biblical Interpretation, vol. I, Nashville 1999, 109 f. 13 Die folgenden Zitate bei R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, hg. von O. Merk, UTB 630, Tübingen 81980, 599.

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pretiert, um aus ihnen das Bild des Urchristentums als eines Phänomens geschichtlicher Vergangenheit zu rekonstruieren«; oder diese Rekonstruktion steht im Dienst der Interpretation der Schriften des Neuen Testaments, und zwar »unter der Voraussetzung, daß diese der Gegenwart etwas zu sagen haben«. Bultmann betont, dass für seine Darstellung der neutestamentlichen Theologie die zweite dieser beiden Möglichkeiten gilt. Den in den »Epilegomena« seiner Theologie des NT gegebenen knappen Überblick über die Geschichte des Faches Neutestamentliche Theologie leitet Bultmann ein mit kritischen Bemerkungen zur Schriftauslegung in der altlutherischen Orthodoxie und in der Theologie der Aufklärung. Beide seien von demselben Denkansatz ausgegangen: In den orthodoxen Collegia biblica sollten Schriftworte des Alten und des Neuen Testaments »als ›dicta probantia‹ den Schriftbeweis für die Sätze der Dogmatik liefern«, und dabei wurde vorausgesetzt, »daß die Sätze der Dogmatik wie die Lehre der Schrift als ›rechte Lehre‹ der Gegenstand des Glaubens sind«; die Aufklärung habe ebenso gedacht, nur habe sie vorausgesetzt, »daß das Christentum die vernünftige Religion ist«, was dann »durch die richtige Interpretation der Schrift erwiesen« wurde.14 In der Theologie der Aufklärung galt nicht anders als in der Orthodoxie die neutestamentliche Theologie »als die rechte Lehre«; der Unterschied bestand nur darin, dass diese rechte Lehre der Aufklärung zufolge »nicht auf die Autorität der Schrift gegründet, sondern vom vernünftigen Denken entwickelt und in der Schrift nur wiedergefunden wird«.15 Orthodoxie und Aufklärung, so erklärt Bultmann, stimmen »darin überein, daß sie den Unterschied von Theologie und Kerygma nicht sehen«; beide verwechseln »den Glauben an das Kerygma mit der Anerkennung theologischer Sätze«, denen dann der »Charakter allgemeiner, zeitloser Wahrheiten« zugesprochen wird.16 In der Tradition der Aufklärung seien infolgedessen solche Darstellungen der Theologie des Neuen Testaments entstanden, die an den individuellen Unterschieden der einzelnen neutestamentlichen Autoren interessiert waren und diese als »verschiedene ›Lehrbegriffe‹« charakterisierten. Man habe darum die neutestamentliche Theologie »als ein Phänomen der Religionsgeschichte verstanden«, und daraus ergab sich eine problematische Konsequenz: »Die Wissenschaft, die sie darstellt, darf, wie es scheint, als historische Wissenschaft an der Wahr14 Bultmann, Theologie (s. die vorige Anm.), 589.590. Die von der Aufklärung bestimmte Auslegung habe ihre Aufgabe darin gesehen, »alles, was in der Schrift den Prinzipien von Vernunft und Erfahrung widerspricht, als Akkomodation an ›irrige Volksbegriffe‹ zu erweisen«. 15 Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 590. Bultmann fügt hinzu, es könne »dahingestellt bleiben …, wieweit in dem, was man als Inhalt des vernünftigen Denkens festzustellen meint, christliche Tradition wirksam ist«. 16 Bultmann, Theologie, 591.

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heitsfrage nicht mehr interessiert sein«17 – eine Beobachtung, die durchaus wieder aktuelle Bedeutung besitzt.18

II. Ferdinand Christian Baur: Historie und Theologie Diese Entwicklung hätte Bultmann zufolge »verhindert werden können, wenn der Arbeit Ferd. Chr. Baurs eine entscheidende Wirkung beschieden gewesen wäre«.19 Im Unterschied zur Aufklärung habe Baur nämlich nicht unterschieden zwischen »ewigen Vernunftwahrheiten, die zeitlosen Charakter haben«, und ihrer vom aufgeklärten Verstand zu überwindenden »unvollkommenen zeitgeschichtlichen Fassung«. Vielmehr habe Baur in der Nachfolge Hegels gesehen, »daß Wahrheit überhaupt nur in jeweils geschichtlicher Form erfaßt werden kann und sich als die Wahrheit nur in der Gesamtheit des historischen Ganges der Entwicklung entfaltet«. »Wie daher geschichtliche Besinnung der Weg zur Erfassung der Wahrheit ist, so ist die geschichtliche Erforschung der Geschichte des Christentums, und zuerst seines Ursprungs und damit des NT’s, der Weg der Erfassung der Wahrheit des christlichen Glaubens, – wobei es für Baur keine Frage sein kann, daß diese Wahrheit keine andere ist als die Wahrheit des Geistes überhaupt«, der für Baur das Subjekt »der Gesamtheit des historischen Ganges der Entwicklung« ist. Baur zufolge müsse die Interpretation des Neuen Testaments »dessen Theologie also verstehen als die Explikation des christlichen Bewußtseins als einer entscheidenden Epoche in dem Zu-sichselbst-kommen des Geistes«.20 17

Bultmann ebd. Vgl. etwa den Ansatz von H. Räisänen, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 186, Stuttgart 2000, sowie  – in anderer Weise – G. Theissen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. Dazu A. Lindemann, Zur »Religion« des Urchristentums, ThR 67 (2002) 238–261. Vgl. ferner J. Becker, Theologiegeschichte des Urchristentums – Theologie des Neuen Testaments – Frühchristliche Religionsgeschichte, in: C. Breytenbach / J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007, 115–133 und in demselben Band: H. Räisänen, Towards an Alternative to New Testament Theology: Different ›Paths to Salvation‹, 175–203. 19 Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 591 f. 20 Bultmann, Theologie, 592, mit einem Zitat aus F. C. Baur, Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, 1847, 59. Der größere Zusammenhang bei Baur lautet (aaO., 31867, 59): »Ist es das Wesen des Geistes selbst, das in der Geschichte des Dogma sich aufschliesst und darlegt, so kann auch das Interesse an ihr nur darin bestehen, dass man in ihr den Wegen nachgeht, welche der Geist selbst, in seiner Entwicklung im Grossen, in den verschiedenen Richtungen seiner stets fortschreitenden Bewegung gegangen ist, um zum Bewusstsein über sich selbst und über die höchsten Interessen, die das geistige Leben bedingen, zu kommen. Was die Geschichte überhaupt ist, als der ewig klare Spiegel, in welchem der Geist sich selbst anschaut, sein eigenes Bild betrachtet, um was er an sich 18

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Ferdinand Christian Baur (1792–1860) hatte im Jahre 1831, dem Todesjahr Hegels, einen umfangreichen Aufsatz veröffentlicht, der wie eine Programmschrift dessen erscheint, was sich dann mit der Bezeichnung »(jüngere) Tübinger Schule« verband.21 Baur ging der Frage nach, wie das von Paulus in den Eingangskapiteln des Ersten Korintherbriefes dargestellte Parteiwesen zu verstehen sei und worauf sich insbesondere das őčƵ Ďƫ āěēĝĞęȘ am Ende von 1,11 beziehe.22 Seine These lautete, es habe in Korinth nicht drei Parteien – also Pauliner, Apollos-Partei und Petriner – gegeben und schon gar nicht deren vier, sondern tatsächlich nur zwei. Es sei nämlich klar, dass die Pauliner und die Parteigänger des Apollos »nicht wesentlich differiren konnten«, sondern es sich nur um zwei Namen für dieselbe Partei handelte. Dasselbe gelte auch für die Kephas- und die Christus-Partei: Es handelte sich um eine einzige Gruppe, die sich auf Petrus bezog, weil dieser »unter den Judenaposteln den Primat hatte«, und auf Christus, »weil sie die unmittelbare Verbindung mit Christus als Hauptmerkmal des ächten apostolischen Ansehens aufstellte«  – mit der Folge, dass sie Paulus nicht im vollen Sinne als Apostel anzuerkennen vermochte (24). Mit ähnlichen »judaisierenden Irrlehrern« wie in Korinth habe Paulus es auch in anderen Gemeinden, namentlich in Galatien, zu tun gehabt. Der zwischen beiden Gruppen bestehende Gegensatz lasse sich durch die ganze Frühzeit des Christentums hindurch verfolgen bis hin zu den Pseudo-Clementinen, in denen der Apostel Petrus dem Ketzer Simon Magus entgegentritt, hinter dessen Maske ja tatsächlich unschwer das Gesicht des Paulus zu erkennen ist (55–76).23 Bei diesen beiden Parteien handele es sich um »die Richtungen zweier völlig entgegengesetzter Systeme, die aus dem Gegensatz des Judaismus und des paulinischen Christenthums hervorgehen« (74 f.). Zwischen beiist, auch für sich, für sein eigenes Bewusstsein zu sein, und sich als die bewegende Macht des geschichtlich Gewordenen zu wissen, das concentrirt sich in dem engern Gebiete der Dogmengeschichte zu einer um so intensivern Bedeutung.« 21 Vgl. dazu W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg und München 21970, 156–161. Zu den verschiedenen »Tübinger Schulen« s. U. Köpf, Die theologischen Tübinger Schulen, in: Ders. (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposion, Conternubium 40, Sigmaringen 1994, 9–51. 22 F. C. Baur, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christenthums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom, in: F. C. Baur, Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hg. von K. Scholder, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, 1–146 (Einzelnachweise oben im Text). 23 Zum Paulusbild und -verständnis der Pseudo-Clementinen vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, BHTh 58, Tübingen 1979, 104– 109. 367–371; ferner G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band II. Antipaulinismus im frühen Christentum, FRLANT 130, Göttingen 1983, 228–257.

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den »Systemen« gebe es fundamentale Differenzen: »Hier ist Christus nur Lehrer, dort Erlöser im höchsten Sinne; hier wird aller religiöse Werth nur dem gesetzlichen Thun, dort dem Glauben an den Tod des Erlösers beigelegt« (76). Für das eine »System« ist die Offenbarung nur die »Enthüllung des schon früher Vorhandenen«, und sie geschieht »nur auf dem Wege der äußern Belehrung«; nach dem anderen »System« ist die Offenbarung »eine ĔċēėƭĔĞưĝēĜ« (135). In der unmittelbar folgenden Untersuchung zur Tradition vom Aufenthalt des Petrus in Rom will Baur zeigen, dass diese Legende nur in einer Gemeinde entstehen konnte, »die ihrem größten Theile nach aus Judenchristen bestund, und ihrem Judaismus einen sehr überwiegenden Einfluß gestattete« (103). Es habe in Rom also eine Partei gegeben, »in deren Interesse es lag, der Auctorität des Heidenapostels Paulus die Auctorität des Judenapostels Petrus entgegenzustellen« (114); auch in diesem Zusammenhang weist Baur den Pseudo-Clementinen eine wesentliche Bedeutung zu (128–146). Mit der Entdeckung der »Existenz zweier Parteien im Urchristentum, die sich im Kampf um die Vorherrschaft befanden, wurde«, so schreibt Klaus Scholder, »der neutestamentlichen Zeitgeschichte eine neue Dimension erschlossen. In die urchristliche Geschichte kam zum ersten Mal Bewegung: aus Parteien und ihren Gegensätzen begann Baur das Bild eines Prozesses zu entwerfen, der im Frühkatholizismus zu seinem ersten Ausgleich fand.«24 Im Jahre 1836 kam es zu einer bemerkenswerten Kontroverse: In einem Beitrag in der von dem an der Berliner Universität lehrenden Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) herausgegebenen einflußreichen konservativen »Evangelischen Kirchenzeitung«25 wurde unter der Überschrift »Die Zukunft unserer Theologie«26 zunächst David Friedrich Strauß’ »Leben Jesu« scharf angegriffen, dann aber auch Baurs im Jahre 1835 erschienene Untersuchung zu den Pastoralbriefen. In dieser Untersuchung, so schrieb der Autor des EKZ-Artikels27, trete »eine Willkühr des Skepticismus hervor«, die nur mit der Einstellung von Strauß verglichen werden könne; Baur stelle die Briefe an Timotheus und an Titus nämlich dar »als ein Machwerk des zweiten Jahrhunderts«, und er tue dies »mit einer Willkühr und Dreistigkeit der Kritik, die man von einem sonst so besonnenen Manne nicht erwarten sollte«.28 Da obendrein auch dem Ersten Petrusbrief, dem Philipperbrief und den Ignatianen die Echtheit abgesprochen werde, sollte es »uns nun nicht wundern, wenn auch noch einer auftritt und den letzten coup ausführt«, nämlich »sämmtlichen Paulinischen Briefen ihre Authentie abzusprechen«. »Alle, die es mit Christo ernst meinen«, so folgert der Autor, werden »durch diese immer größere Reife und Concentration des 24

355.

K. Scholder, Art. Baur, Ferdinand Christian, TRE 5, Berlin 1980, 352–359, hier:

25 Zu Hengstenbergs kirchlich-theologischer und politischer Position vgl. F. W. Graf, Art. Hengstenberg, Ernst Wilhelm, RGG4 III, Tübingen 2000, 1624 f. 26 EKZ XVIII (1836) 281–285.289–291. 27 Der Artikel trug keine Verfasserangabe (vgl. unten Anm. 30). 28 EKZ XVIII (s. Anm. 26), 290.

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Unglaubens dazu gedrungen, mit allem Ernste und aller Treue sich zu dem großen Kampfe der Zeit zu rüsten.«29 In seiner im selben Jahr in der »Tübinger Zeitschrift für Theologie« veröffentlichten Antwort30 stellt Baur mit rhetorischer Ironie die Frage, was denn das für ein Glaube sei, »welcher jeden Augenblick in Furcht und Angst darüber ist, es möchte ihm die Grundlage, auf welcher er ruht, das, was er als seinen theuersten und heiligsten Inhalt festhalten möchte, genommen und auf immer entrissen werden«. Im protestantischen Sinne sei der Glaube doch gerade »das gewißeste Bewußtseyn dessen, was man für wahr hält« (296), und deshalb müsse doch klar sein, »daß, wenn auch alles unter ihm wankt und weicht, doch er selbst nie wanken und weichen kann« (297). Auch den Vorwurf methodischer Willkür weist Baur nachdrücklich zurück: Angesichts der in dem EKZ-Artikel aufgestellten Behauptung, er habe die Pastoralbriefe als »Machwerke des zweiten Jahrhunderts« hingestellt und es fehle eigentlich nur noch, dass sämtliche Paulusbriefe für »unecht« erklärt würden, fragt Baur wiederum rhetorisch: »Was wäre denn das für eine Wissenschaft, die nur darauf ausgienge, einen coup auszuführen, und einzig nur in dieser Absicht bald diesem bald jenem Brief und zuletzt gar den sämmtlichen paulinischen Briefen die Aechtheit abspräche?« Wer so rede, zeige damit, »daß in ihm selbst die Idee der Wissenschaft noch nicht auch nur zu dämmern begonnen hat« (298).31 Wissenschaft, so betont Baur, ist »in fortgehender lebendiger Bewegung begriffen«, und sie wird »durch sich selbst getrieben …, ohne daß irgend eine menschliche Macht ihr in den Weg treten kann« (299). Dabei stünden Glaube und Wissenschaft »in bester Harmonie«: Denn »nur vom Glauben lernt es die Wissenschaft, sich von allem Fremdartigen und Unlautern zu reinigen, und sich ungetheilt und unbedingt der heiligen Sache der Wahrheit hinzugeben«, und umgekehrt verdankt der Glaube es der Wissenschaft, »daß er nicht in träge Ruhe übergeht, sondern in frischer lebendiger Bewegung erhalten wird, um sich seines göttlichen Inhalts immer klarer und unmittelbarer bewußt zu werden« (301). Wer den Grundsatz aufstellt, »daß das Wissen nicht mit dem Glauben in Konflikt kommen dürfe, handelt antiprotestantisch«, und er huldigt »dem katholischen Auctoritätsprincip, das, um es kantisch auszudrücken, auch das Princip der faulen Vernunft ist« (306). Zu dem Vorwurf, er sei Hegelianer32, schreibt Baur in einer längeren Fußnote, er sei »kein Anhänger irgend eines phi29

EKZ XVIII, 291. F. C. Baur, Abgenöthigte Erklärung gegen einen Artikel der evangelischen Kirchenzeitung, herausgegeben von D. E. W. Hengstenberg, Prof. der Theol. an der Universität zu Berlin, jetzt in: F. C. Baur, Historisch-kritische Untersuchungen (s. Anm. 22), 267–320 (Einzelnachweise oben im Text). 31 Baur nennt Hengstenberg nicht als Autor des in der EKZ erschienenen Aufsatzes, sondern er spricht durchweg vom »Verfasser des Artikels« oder nennt diesen »meinen Gegner« bzw. »Ankläger« (z. B. 296). Hengstenberg behauptet in seiner Replik (Die Kritik des Herrn Dr. Baur im Verhältniß zur Wissenschaft und zum Glauben, EKZ XIX [1836] 641–645.649–656.661–664) gleichwohl, Baur habe ihm die Verfasserschaft »mit der größten Zuversicht, mit der zweifelfreiesten Gewißheit« beigelegt und damit »eine recht handgreifliche Probe von dem Werthe seiner gerühmten objektiven Kritik« geliefert (Anm. auf S. 641). Auch dieser Beitrag erschien ohne Verfasserangabe; Hengstenberg versichert aber, er bekenne sich »zu dem Inhalte beider Aufsätze in seinem ganzen Umfange und eben so zu ihrem Tone«. 32 In dem EKZ-Artikel (s. Anm. 26) hieß es zu D. F. Strauß, dieser habe »das Bekenntniß abgelegt …, durch die Hegelsche Philosophie zu einer gänzlichen religiösen Voraus30

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losophischen Systems«, denn er wolle sich nicht von Menschenautorität abhängig machen; wohl aber sei er der Überzeugung, »daß sich auch von Hegel gar manches für die Theologie lernen läßt« (313).33

In den fünfziger Jahren hielt Baur seine Vorlesungen zur Theologie des Neuen Testaments, die 1864 von seinem Sohn Ferdinand Friedrich Baur posthum veröffentlicht wurden.34 In der Einleitung gibt Baur zunächst einen Überblick über »Begriff, Geschichte und Eintheilung der neutestamentlichen Theologie«35 In Auseinandersetzung mit der »Biblischen Theologie« von Gotthilf Traugott Zachariae 36, in Baurs Augen »das bedeutendste Werk aus dieser ersten Periode der biblischen Theologie«, sagt er, diese biblische Theologie habe »eine Kritik des kirchlichen Systems« sein sollen, und es sollte nach Zachariäs eigener Darstellung »dazu dienen, die systematischen und biblischen Ideen unter einander zu vergleichen und genau zu untersuchen, was bei den angenommenen systematischen Ideen, welche jederzeit ihre Quelle in gewissen biblischen Ausdrücken haben, richtig oder unrichtig sei« (4). Um dieses Ziel zu erreichen, »sollte sich das Werk auf den gesammten biblischen Grund der theologischen Lehrsätze erstrecken und dieser Einrichtung gemäss biblische Theologie heissen. Bei der Richtigkeit theologischer Lehren beruhe ja alles auf der Richtigkeit ihrer Beweise aus setzungslosigkeit gekommen zu seyn, d.h. Alles, was ihm früher als Wahrheit gegolten, alle religiösen Ansichten und alle Erfahrungen seines Lebens zu negiren« (aaO., 283). 33 Zur Frage des Baurschen »Hegelianismus« s. Scholder, Art. Baur (s. Anm. 24), 356. In Baurs dogmengeschichlichem Werk habe sich der Einfluß Hegels deutlicher gezeigt als auf anderen Gebieten. »Die Beschäftigung mit der Entwicklung des Dogmas lag in der Konsequenz des Ansatzes, der die Geschichte der Religionen wie die Geschichte des Christentums als einen großen Prozeß der Selbstdarstellung des göttlichen Geistes begriff. In der Tat definierte Baur die Veränderungen, die die Dogmengeschichte darzustellen habe, als einen ›geistigen Prozeß‹, ›in welchem, weil das Dogma selbst wesentlich geistiger Natur ist, das Wesen des Geistes selbst sich offenbart‹ (Lb. der christl. Dogmengesch. 1847, 8).« 34 Ferdinand Christian Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg. von Ferd. Fried. Baur, Leipzig 1864. 35 Baur, Vorlesungen. (s. die vorige Anm.), 1–44 (Einzelnachweise oben im Text). Vgl. dazu Chr. Senft, Wahrhaftigkeit und Wahrheit. Die Theologie des 19. Jahrhunderts zwischen Orthodoxie und Aufklärung, BHTh 22, Tübingen 1956, 59: Baur ist, in Hegels Nachfolge, der Meinung, »daß jede Wissenschaft eine Geschichte hat«; »der Gegenstand und das ihm zugeordnete Erkennen verändern sich, und also kann auch der dem Gegenstand angemessene Ausdruck der Erkenntnis nicht zu allen Zeiten der gleiche sein«. 36 Zu G. T. Zachariae (1729–1777) s. A. Bertholet, Art. Zachariae, RGG2 V, Tübingen 1931, 2062. Zachariae sei »bekannt als Begründer der Biblischen Theologie im Sinn einer ›Vorarbeit zur Verbesserung der theologischen Lehrform‹«; in der 1771–1775 unter dem Titel »Biblische Theologie oder Untersuchung des biblischen Grundes der vornehmsten theologischen Lehren« in vier Bänden erschienenen Darstellung verrate sich »bei aller dogmatischen Gebundenheit das aufkeimende Verständnis für die geschichtliche Bedingtheit der biblischen Aussagen«. Eingehend zu Zachariae O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testamens in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg 1972, 24–26.

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der heiligen Schrift«. Dabei »müsse man alle erlernte Wahrheit gleichsam vergessen, um unparteiisch genug zu sein, blos was die heilige Schrift lehrt ohne Rücksicht auf das, was diese oder jene Partei, dieser oder jener Gottesgelehrte für wahr und richtig halte, dafür zu erkennen und auszugeben« (5). Hier, so betont Baur, tritt »die kritische Tendenz, die die biblische Theologie dem kirchlichen System gegenüber sehr natürlich haben musste, … sehr bestimmt hervor«. Gleichwohl gelte: »Solange sich die biblische Theologie nur die Aufgabe setzt, das kirchliche System zu kritisiren, hat sie noch keine selbstständige Bedeutung, sie hat ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern ausser sich«; es sei »ein durchaus dogmatischer Gesichtspunkt, aus welchem die biblische Theologie behandelt wird«. Überdies sei die »Kritik des kirchlichen Systems … so ernstlich nicht gemeint« gewesen: »Man setzte doch immer wieder voraus, dass die biblische Theologie in ihren Resultaten mit der kirchlichen Lehre vollkommen übereinstimme.« Im allgemeinen »wurde alles, was man unter biblischer Theologie verstand, als eine blosse Vorarbeit für die Dogmatik betrachtet, oder sie wurde selbst zur biblischen Dogmatik« (5 f.). Baur geht dann auf Georg Lorenz Bauer ein.37 Für Bauer sei die biblische Theologie »eine reine und von allen fremdartigen Vorstellungen gesäuberte Entwicklung der Religionstheorie der Juden vor Christus und Jesu und der Apostel, nach den verschiedenen Zeitaltern und nach den verschiedenen Kenntnissen und Ansichten der h. Schriftsteller aus ihren Schriften hergeleitet«. Der notwendige »historische Charakter« der von Bauer gegebenen Darstellung sei damit zwar »deutlich bezeichnet«, aber doch nicht wirklich festgehalten. Bauer habe es nämlich auch unternommen, »zu untersuchen und zu bestimmen, was allgemein gültige Wahrheit für alle Zeiten und Orte, allgemein gültiges Christenthum sei«; dabei habe er sich zu dem »Accomodationsgrundsatz« bekannt, dass »alles, was in der Lehre Jesu und der Apostel den Principien der Erfahrung und gesunden Vernunft widerstreitet, nur Anbequemung an irrige Volksbegriffe sein sollte«.38 Und so habe sich also auch bei Bauer »doch wieder ein dogmatisches Interesse in die geschichtliche Methode eingemischt«, insofern er einen Beitrag leisten wollte zur Entscheidung der Frage, »ob das Christenthum eine vernünftige und göttliche Religion sei« (9). Richtig sei Bauers Entscheidung gewesen, die neutestamentliche Theologie nach den verschiedenen Autoren einzuteilen; im Ergebnis hätten diese allerdings »noch gar zu äusserlich und isolirt neben einander« gestanden (10). 37 Vgl. A. Beutel, Art. Bauer, Georg Lorenz, RGG4 1, Tübingen 1998, 1169. Einen umfassenden Überblick bietet Merk, Biblische Theologie (s. die vorige Anm.), 141–204. 38 »Doch sollten solche Accomodationen nur in unwesentlichen Punkten der Religion und Moral stattgefunden haben.«

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Baur selber kommt es nun darauf an, »die verschiedenen Lehrbegriffe« im Neuen Testament »als ebenso viele individuelle Gestaltungen« zu verstehen, »deren jede auf einer eigenthümlichen Grundanschauung beruht, von welcher aus der ganze Inbegriff der zusammengehörenden Vorstellungen in seinem natürlichen Zusammenhang sich entwickeln lässt«. So erscheine die neutestamentliche Theologie »als ein lebendiger Organismus, in welchem jeder Unterschied zu seinem Recht kommt, jede Individualität an ihrer Stelle ist, und je schärfer die Gegensätze sind, die ganze Entwicklung nur um so inhaltsreicher ist« (28). Die neutestamentliche Theologie ist nach Baur im Grunde also Dogmengeschichte, in der nicht danach gefragt wird, ob das Darzustellende »auch an sich wahr ist und von uns selbst zum Gegenstand des Glaubens gemacht werden muss«, sondern wo man »nur [untersucht], was überhaupt gelehrt worden ist, nicht was wir selbst glauben sollen, sondern nur, was Andere für wahr gehalten und geglaubt haben«. Eben »so verhält es sich auch mit der neutestamentlichen Theologie«: »Eine geschichtliche Behandlung« sei nicht möglich, »wenn man in der Geschichte nur das finden will, was man zu glauben hat, und der Geschichte voraus vorschreibt, was sie enthalten soll« (33); dies aber geschehe, »wenn man von der Voraussetzung ausgeht, die sämmtlichen Schriften des neuen Testaments enthalten von Anfang bis zu Ende nichts als reine Offenbarungslehre, sie unterscheiden sich dadurch von allen andern Schriften, dass ihr Inhalt vermöge ihres Offenbarungscharakters reine ungetrübte Wahrheit ist«. Indem Baur aber auf diese Weise, wie Christoph Senft formuliert, »die neutestamentliche Geschichte als Entwicklung des christlichen Selbstbewußtseins interpretiert, nicht als die geschichtliche Bezeugung der Offenbarung, gibt er allerdings den christlichen Offenbarungsgedanken preis«, und Baurs »Behauptung der Kontinuität zwischen der apostolischen und der folgenden Geschichte erscheint dann freilich auch als das Zeichen dieser Preisgabe«.39 Baur kritisiert, einerseits werde bisweilen »der Unterschied neutestamentlicher Lehrtypen so betont«, daß »eine neutestamentliche Theologie gar nicht anerkannt werden soll«; andererseits aber solle »aus der Einheit« folgen, »dass auch die einzelnen Lehren, in welchen sie sich verschieden ausprägte, nicht in wirkliche Gegensätze werden auseinandergehen können« (43). Tatsächlich aber lassen sich nach Baur »drei Perioden mit verschiedenen Lehrbegriffen unterscheiden: In der ersten stehen sich die Lehrbegriffe des Apostels Paulus und des Apokalyptikers Johannes gegenüber, in die zweite gehören die Lehrbegriffe des Hebräerbriefs, der kleinern paulinischen Briefe, des Petrus- und Jakobusbriefs, der synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte, in die dritte die der Pastoralbriefe und der johanneischen Schriften« (42). »Wie es sich wirklich mit der Einheit und 39

Senft, Wahrhaftigkeit und Wahrheit (s. Anm. 35), 80 (Hervorhebung im Original).

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Verschiedenheit verhält«, so stellt Baur am Ende des Einleitungsabschnitts fest, könne aber »nur durch die Darstellung der Lehrbegriffe selbst gezeigt werden« (44). An Baurs Ansatz und dem von ihm gewählten Aufriß mit der diesem zugrundeliegenden chronologischen Einordnung der neutestamentlichen Schriften zeigt sich allerdings ein grundsätzliches methodisches Problem, letztlich wohl eine Aporie: Jeder Versuch einer theologiegeschichtlichen Darstellung der im Neuen Testament zu Wort kommenden Theologien setzt eigentlich eine zuverlässige Rekonstruktion der Geschichte voraus, mithin möglichst eindeutige Ergebnisse hinsichtlich der Datierung und der Zuordnung der einzelnen Schriften bzw. Traditionen. Eine solche mehr oder weniger genaue Rekonstruktion ist aber in vielen Fällen gar nicht möglich, zumal sich die Datierung einer neutestamentlichen Schrift oft nur gewinnen läßt auf der Basis vermuteter theologiegeschichtlicher Entwicklungen. Es besteht also ein Zirkel, und deshalb wirft die Darstellung der neutestamentlichen Theologie im Sinne einer »Theologiegeschichte des Urchristentums« schon aus rein methodischen Gründen besondere Schwierigkeiten auf.40 Baur stellt dann im ersten Abschnitt seiner neutestamentlichen Theologie die Lehre Jesu dar. Er betont zunächst, »dass sie mit den verschiedenen Lehrbegriffen, in welche die neutestamentliche Theologie sich theilt, nicht in Eine Reihe zusammengestellt werden kann«. Das liege zum einen an der besonders schwierigen Quellenlage, doch zum andern gebe es »auch in der Natur der Sache« einen wesentlichen Unterschied: »Die Lehre Jesu ist das Principielle, zu welchem sich alles, was den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Theologie ausmacht, nur als das Abgeleitete und Secundäre verhält«, und deshalb ist sie »das über alle zeitliche Entwicklung Hinausliegende, ihr Vorangehende, Unmittelbare und Ursprüngliche«. Die Lehre Jesu, so Baur, ist »überhaupt nicht Theologie, sondern Religion«, denn Jesus ist »Stifter einer neuen Religion« (45), was vor allem in der Bergpredigt sichtbar werde (46–56): »Das Christenthum, wie es sich in seiner ursprünglichsten Gestalt als Lehre darstellt, ist eine, den reinsten sittlichen Geist athmende Religion« (64). Jesus nehme zwar den alttestamentlichen Begriff des Reiches Gottes auf, aber dieser Begriff sei durch ihn »so vergeistigt 40

Analoges gilt ja für eine an der »Entwicklung« des paulinischen Denkens orientierte Darstellung von dessen Theologie. Diese »Entwicklung«stellt sich ja höchst unterschiedlich dar, je nachdem ob man beispielsweise den Philipperbrief »früh« (vermutete Gefangenschaft in Ephesus) oder »spät« (Gefangenschaft in Rom) einordnet oder die üblicherweise angenommene Abfolge Gal–Röm umkehrt, wofür sich immerhin beachtliche Gründe anführen lassen (vgl. die Überlegungen von F. Vouga, Der Galaterbrief: kein Brief an die Galater? Essay über den literarischen Charakter des letzten großen Paulusbriefes, in: K. Backhaus / F. G. Untergassmair [Hg.], Schrift und Tradition. FS Josef Ernst, Paderborn 1996, 243–258).

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worden, dass die ČċĝēĕďưċĞęȘĒďęȘ oder ĞȥėęƉěċėȥė in seinem Sinne nur eine auf sittlich-religiösen Bedingungen beruhende Gemeinschaft ist, deren letzter Endzweck nicht in der sinnlichen, sondern der übersinnlichen Welt liegt« (70).41 Man kann hier den Eindruck gewinnen, dass Baurs Betonung der Geschichtsbezogenheit der Theologie ihre Grenze offenbar an der Person Jesu findet – Jesus, so scheint es, ist für Baur gleichsam der Geschichte entrückt. Ausdrücklich schreibt Baur zu Beginn des zweiten Abschnitts, die Periode der Lehre Jesu sei »eigentlich die Urperiode, die noch über die Sphäre der geschichtlichen Entwicklung hinausliegt«, was zum einen wieder mit der Quellenlage zu tun habe, zum andern aber auch in der »Natur der Sache« liege (122). Baur beschreibt dann den Übergang von der Lehre Jesu zu der der Apostel. Sobald »der Tod Jesu, seine Auferstehung und Erhöhung als vollendete Thatsachen vor dem christlichen Bewusstsein standen, konnte es nicht anders sein, als dass sie so, wie von den Aposteln geschah, aufgefasst und in das in jenen Dogmen ausgesprochene Verhältniss zu der Lehre Jesu gesetzt wurden« (125). Man habe zunächst nach der Deutung des Todes Jesu gefragt, dann aber vor allem nach dem Wesen der Auferstehung: »Alle, welche an kein wirkliches materielles Wunder glauben, können nur annehmen, dass der Glaube an die Auferstehung aus dem ganzen geistigen Process hervorgegangen ist, welcher nach dem Tode Jesu im Geiste der Jünger erfolgte«; es war für die Jünger »eine schlechthinnige Unmöglichkeit zu denken, dass alles, was im Glauben an Jesus nun schon als absolute Wahrheit für ihr Bewusstsein feststand, in seinem Tode mit Einem Male zu Grabe gegangen sei. Auch in seinem Tode konnten sie sich ihn nur als den Lebenden denken« (126). Seit dem Beginn dieses Glaubens an die Auferstehung sei mithin »die Lehre von der Person Jesu … das Grunddogma, auf welchem alles beruht, und von welchem aus nun auch der principielle Unterschied des Christenthums vom alten Testament, welcher in der Lehre Jesu noch zurücktritt, in seinem ganzen Umfang sich herausstellt« (127). Der weitere Aufriß von Baurs Vorlesung ist hier nicht darzustellen; erwähnt sei aber die seine Paulusdarstellung eröffnende Feststellung, der »paulinische Lehrbegriff« sei »das bedeutendste Moment in der Entwicklungsgeschichte des Urchristenthums« (128). Zum johanneischen »Lehrbegriff« heißt es zu Beginn des entsprechenden Abschnitts, in ihm erreiche »die neutestamentliche Theologie ihre höchste Stufe und ihre vollendetste Form« (351). 41 Jesus sei als »Religionsstifter und sittlicher Gesetzesreformator« aufgetreten, habe aber seine Aufgabe »auch aus dem Gesichtspunkt der nationalen Messias-Idee« aufgefaßt, »weil er anders als auf diesem Wege keinen Eingang seiner Wirksamkeit finden konnte« (Baur, Vorlesungen [s. Anm. 34], 95).

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Ernst Käsemann schreibt in der Einleitung zu Band 1 der von Klaus Scholder ausgewählten und herausgegebenen Werke Baurs, diesem sei daran gelegen gewesen, »daß Geschichte nicht bloß desillusioniert, sondern, allerdings mit dem Mittel voraufgehender Destruktion des Scheins, zugleich in ihrem geistigen Zusammenhang rekonstruiert werde«. Eben das, so heißt es in dem von Käsemann im Jahre 1962 geschriebenen Beitrag weiter, entspreche »genau dem Programm der heute proklamierten ›Entmythologisierung‹, sofern diese die existentiale Interpretation in ihrer kritischen Funktion bezeichnet«, dies »jedoch einzig als Mittel wie für die rechte Erfassung der Historie, so für den Dienst an der theologischen Wahrheit und den Aufbau der Gemeinde«.42 »Aber«, so fährt Käsemann dann fort, »Baur orientierte Existenz an Weltgeschichte, betonte Objektivität der Verhältnisse, der Wahrheit, des Geistes, der Idee und scheute sich nicht, fleißig das heute suspekt gewordene Wort ›Tatsache‹ zu gebrauchen, um auf das dem Menschen vorgegebene und über den Einzelnen hinausweisende Handeln Gottes in der Geschichte hindeuten zu können.«43 Dementsprechend sei Geschichte von Baur »als Prozeß der sich objektiv entfaltenden Offenbarung des Geistes verstanden worden«, und als solche sei sie Gegenstand der Forschung.44 Daraus ergebe sich, dass die historisch-kritische Arbeit für Baur mehr war als eine »handwerkliche Methode«, sie war für ihn vielmehr »zutiefst religiöse Aufgabe und Medium religiöser Vergewisserung«.45 Käsemann betont in diesem Zusammenhang, »daß Methodik nicht aus Prinzipien ableitbar ist, sondern als Experiment sich durch Zweckmäßigkeit ausweist und durch nichts sonst«46 – ein Hinweis, der von seiner Gültigkeit nichts eingebüßt hat. Das Ziel der historischen Exegese Ferdinand Christian Baurs war, aus dem geschichtlichen Geschehen die Wahrheit des »Geistes« zu ermitteln. Die Untersuchung der Geschichte der Kirche in neutestamentlicher und in späterer Zeit wurde von ihm nicht »voraussetzungslos« betrieben47, und sie geschah schon gar nicht in der Absicht, christliche Wahrheiten umzustürzen. Vielmehr wollte Baur die Geschichte verstehen, damit zugleich aber auch den in dieser Geschichte sich ausprägenden Gegenstand, nämlich 42

E. Käsemann, Einführung zu: Ferdinand Christian Baur, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben (s. Anm. 21), pp. VIII–XXV, hier: pp. XVII–XVIII. 43 Käsemann, Einführung (s. die vorige Anm.), p. XVIII. 44 Käsemann, Einführung, p. XIX. 45 Käsemann ebd. Freilich sei Baur auch dafür verantwortlich, »daß bereits die nächste Generation das eigentliche Zentrum seines geschichtlichen Entwurfs wie seiner Methodik« preisgab und sich im wesentlichen »der von ihm bekämpften ›negativen Kritik‹« ergab (p. XXI). 46 Käsemann, Einführung , p. XXIV. 47 Käsemann ebd. Gerade Baur beweise, »daß es voraussetzungslose Wissenschaft nicht gibt«.

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den christlichen Glauben. Insofern gilt, ungeachtet aller seit Baur erreichten Fortschritte in der historischen und theologischen Interpretation des Neuen Testaments, unverändert die Feststellung Werner Georg Kümmels: »Nur wenn man den von Baur gezeigten methodischen Grundsätzen folgt und seine geschichtliche Gesamtanschauung ersetzt oder verbessert, ist wissenschaftliche Arbeit am Neuen Testament seither möglich.«48

III. William Wrede: Neutestamentliche Theologie und urchristliche Religionsgeschichte Etwa fünfzig Jahre nach Baur leitet im Jahre 1901 William Wrede (1859– 1906) sein bis heute berühmtes Buch »Das Messiasgeheimnis in den Evangelien«49 mit einem kurzen Hinweis auf die damals aktuelle Jesusforschung ein: »Die historische Kritik« habe zweifellos »eine überaus mühevolle Arbeit an den literarischen Quellen der Geschichte Jesu gethan«, »die entscheidenden Fragen« aber seien unbeantwortet geblieben: »Was wissen wir vom Leben Jesu? Und … was wissen wir von der Geschichte der ältesten Anschauungen und Vorstellungen vom Leben Jesu?« Trete man mit diesen Fragen an die neuere Literatur heran, so stelle sich »ein Gefühl der Enttäuschung« ein: In der kritischen Forschung glaube man offenbar, man sei bereits dann »auf dem Boden des Lebens Jesu« angekommen, »wenn man durch Quellenoperationen und sachliche Reflexionen den ältesten Bericht ermittelt hat«. Diese Annahme sei aber ganz falsch, denn die Einsicht, dass die Evangelien spätere Berichte über Jesus sind, dass die Autoren also Christen sind, »die das Leben Jesu nur mit den Augen ihrer Zeit ansehen konnten«, dürfe den Forscher »keinen Augenblick verlassen«. Stattdessen aber sei in der Forschung ein ganz anderes Vorgehen zu beobachten: Um den Jesusbericht der Evangelien »für die Geschichte Jesu selbst … verwerten zu können, schneidet man unglaubliche Züge aus und legt den Sinn so zurecht, dass er historisch brauchbar wird«. So krankt die »Wissenschaft vom Leben Jesu« nach Wredes Auffassung »an der psychologischen Vermutung«, und dies habe zur Folge, dass die Geschmacksurteile blühen: »Die Zahl der willkürlichen psychologischen Interpretationen von Fakten, Worten, Zusammenhängen der Evangelien in der Literatur ist Legion«, stellt Wrede fest – und das vor mehr als einhundert Jahren!50 48

Kümmel, Das Neue Testament (s. Anm. 21), 176. W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 31963 (= 1901). Die folgenden Zitate aaO., 1–3. 50 Wrede steht damit in deutlicher Nähe zu der wenig später verfaßten »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«, die Albert Schweitzer in erster Auflage unter dem Titel »Von 49

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Im Jahre 1897 hatte Wrede eine programmatische Studie unter dem Titel »Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie« veröffentlicht.51 Gleich zu Beginn heißt es dort, er setze »den streng geschichtlichen Charakter der neutestamentlichen Theologie« voraus (82), und wenn überdies die Inspirationslehre als unhaltbar erwiesen sei (woran für Wrede kein Zweifel besteht), dann lasse sich »auch der dogmatische Begriff des Kanons nicht aufrechterhalten«, zumal »die Grenzen zwischen der kanonischen und der nächstliegenden außerkanonischen Literatur in allen Punkten durchaus fließend sind« (85)52, was, wie Wrede feststellt, »auch in bezug auf den religiösen Wert« gilt (85 Anm. 5). Eingehend erörtert Wrede die Frage, ob die Theologie der Kirche zu dienen hat. Er kommt zu einem im wesentlichen negativen Ergebnis: Ein solcher Dienst »müßte doch entweder in den Resultaten der Forschung liegen oder in der Behandlungsweise oder in den Aufgaben, die gestellt werden«; das alles müsse jedoch gänzlich außer Betracht bleiben, denn der Theologe habe allein »dem historischen Objekt« als seinem »Herrn« zu gehorchen. Die Kirche »ist auf Historisches gestellt, das Historische aber kann der Forschung nicht entzogen werden, und die Erforschung des Historischen trägt ihre Gesetze in sich selbst«. Davon, dass der historisch arbeitende Theologe der Kirche dient, könnte man nur dann sprechen, wenn man »die Erforschung der geschichtlichen Wahrheit als solche als einen Dienst für die Kirche« betrachtet (90). Wrede problematisiert das bis dahin geläufige Verfahren, nach den »Lehrbegriffen« in den neutestamentlichen Schriften zu fragen. Eine Untersuchung des Verständnisses etwa von ĚưĝĞēĜ oder ĝƪěĘ bei Paulus könne doch nur dann sachgemäß sein, wenn der Apostel »seine Begriffe systematisch durchgebildet hätte und sie mit strenger Präzision und dem scharfen Bewußtsein von ihrem Inhalt und Umfang verwendete«; ein derartiges Vorgehen sei aber allenfalls vom wissenschaftlich denkenden Dogmatiker zu erwarten, nicht jedoch von »den religiösen Schriftstellern des Neuen Testaments« (96).

Reimarus zu Wrede« veröffentlichte; Schweitzer zog aus vergleichbaren Beobachtungen freilich andere Konsequenzen als Wrede. 51 W. Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt 1975, 81–154 (die Einzelnachweise oben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). Vgl. dazu G. Strecker, William Wrede, in: Ders., Eschaton und Historie. Aufsätze, Göttingen 1979, 335–359, vor allem 336–340. 52 Dazu schreibt Wrede, Über Aufgabe und Methode (s. die vorige Anm.), 134: Eine feste literarische Grenze kann nicht genannt werden; die Grenze liege allenfalls dort, »wo neue Bewegungen in der Kirche ihren Anfangspunkt haben«, was ungefähr zusammenfalle »mit dem Übergang von den apostolischen Vätern zu den Apologeten«.

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Wrede fragt dann, ob es überhaupt neutestamentliche Autoren gibt, die als solche »einen Platz in der Darstellung der urchristlichen Entwicklung verlangen« könnten. Seine Antwort fällt differenziert aus: Wer »mit seinen Gedanken epochemachend auf die Kirche gewirkt hat« oder wer »eine überwiegend eigentümliche und selbständige Glaubensanschauung zu erzeugen vermochte«, kann tatsächlich als Einzelperson dargestellt werden; ähnliches gilt vielleicht auch noch für den, der »eine sehr ausgeprägte Eigenart zeigt« und der also eine »im ganzen charakteristische und dabei historisch faßbare Erscheinung« ist (109 f.). Daraus ergibt sich für Wrede, dass »die Predigt Jesu und ebenso das Christentum und die Theologie des Paulus« eine eigenständige Behandlung erfordern (112) und im Prinzip wohl auch das Johannesevangelium; für die übrigen neutestamentlichen Autoren aber kommt eine derartige Darstellung nicht in Betracht (112–114). Wenn daraus nun aber gefolgert würde, nicht nach der Theologie der Autoren, sondern stattdessen nach den neutestamentlichen Gedanken und Anschauungen zu einzelnen Themen zu fragen, so ergeben sich nach Wrede andere, ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten. Es wäre nämlich ganz »verkehrt«, wollte man etwa den Versuch machen, beispielsweise »alle Aussagen über die Taufe zu vereinzeln« und auf diese Weise das neutestamentliche Taufverständnis zu erfassen. Es müßte nämlich bei der Frage nach dem Taufverständnis »vor allem darauf ankomm[en], die geschichtlich maßgebenden Anschauungen über sie zu eruieren, zu zeigen, was man an ihr gehabt hat, und etwaige Entwicklungen nachzuweisen« (117); durch die Lehrbegriff-Methode könne das nicht geleistet werden, da die Quellen die Rekonstruktion einer kontinuierlichen Entwicklung überhaupt nicht zuließen (119).53 Schließlich beschreibt Wrede, wie eine Darstellung neutestamentlicher Theologie auszusehen hätte: Am Anfang müßte Jesus stehen, dessen Botschaft freilich nicht »als eine eigentliche Lehre« zu erfassen sei, da sie sich nicht lösen lasse »von der Persönlichkeit und vom erkennbaren Verlauf seines Lebens« (135). Dann wäre die älteste Geschichte des Glaubens und der Lehre der Kirche darzustellen; damit dies aber wirklich adäquat geschehen könnte, »müßten wir mehr wissen als wir wissen« (137), und daher, so stellt Wrede lapidar fest, wird dieses Kapitel »leider kurz werden« (139).54 53

Wrede fährt fort (Über Aufgabe und Methode, 119 f.): »Denn die aufeinanderfolgenden Schriften bzw. Gruppen von Schriften entsprechen nicht streng ebensovielen charakteristischen Momenten der Entwicklung und bringen die für diese wirklich bedeutsamen Momente nicht erschöpfend und scharf zum Ausdruck. Und doch wird der Schein hervorgerufen, als ob es so wäre.« 54 Die Begründung lautet, dass wir »keine direkten Quellen für diese älteste Zeit« haben, weil die unter dem Namen des Petrus bzw. des Jakobus überlieferten Schriften nicht in diese Zeit gehören und auch die Reden der Apg nicht als direkte Quellen anzusehen sind.

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Das Kapitel über Paulus stelle vor die schwierige Aufgabe, »den Glauben und die Theologie auf dem heidenchristlichen Boden zu schildern« (143); dabei komme es darauf an, »unter Verzicht auf einseitige Schemata jedem Faktor der Entwicklung zu geben, was sein ist« (144). Das Johannesevangelium schließlich werde in einer solchen Darstellung »immer etwas inselhaft dastehen«, weil wir es »wohl nicht mit Sicherheit in den Gang der Entwicklung einzuordnen« vermögen; »aber wenn wir das Ergebnis der ganzen Entwicklung ziehen«, werde es »doch auch nicht völlig isoliert« sein (147). Es gehört für Wrede zu den grundlegenden historischen Einsichten, dass sowohl die Predigt Jesu wie auch die Theologie des Paulus und die übrige urchristliche Theologie »im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Judentum wie im Gegensatz zu ihm« aufgefaßt werden müssen: »Das Judentum, nicht unmittelbar das Alte Testament, ist also die religionsgeschichtliche Basis des Christentums«, und deshalb muß »eine Darstellung der Hauptzüge spätjüdischer Religion und Theologie« am Anfang stehen (150.151). Eigentlich, so stellt Wrede abschließend fest, ist es unsachgemäß, für die so gewonnene Gesamtdarstellung den Namen »Neutestamentliche Theologie« zu verwenden. Denn zum einen handele es sich beim Neuen Testament »nicht bloß um Theologie, sondern in Wahrheit noch mehr um Religion«, und zum andern könne angesichts der Kanonsgeschichte die Bezeichnung »neutestamentlich« ohnehin nicht in Betracht kommen. Der richtige Name für das Unternehmen sei daher »urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie« (153 f.).

IV. Rudolf Bultmann: Theologische Exegese des Neuen Testaments Im Abstand von wiederum etwa fünfzig Jahren schrieb Rudolf Bultmann (1884–1976) in den Epilegomena seiner »Theologie des Neuen Testaments«, es habe in dem Programm Wredes offenbar »eine richtige Einsicht« gewirkt, insofern Wrede »die theologischen Lehren als Ausdruck und nicht als Gegenstand des Glaubens verstanden« habe. Wrede habe diese Lehren aber »nicht als die Entfaltung des glaubenden Selbstverständnisses, sondern als nachträgliche denkende Reflexion über die Objekte des Glaubens« betrachtet, und damit sei, wie Bultmann in Übernahme einer Formulierung Adolf Schlatters schreibt, »der Zusammenhang zwischen Lebens- und Denkakt … zerrissen« worden.55 Wredes Forderung, im Zusammenhang der wissenschaftlich kontrollierten Erfassung des im Neuen Testament sich aussprechenden Denkens auf den Begriff »Theologie« zu verzichten und statt55

Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 594.

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dessen von urchristlicher »Religionsgeschichte« zu sprechen, war offenbar nicht einfach eine Entscheidung über die anzuwendende Terminologie; vielmehr verband sich damit auch eine Entscheidung in der Sache: Die urchristliche Religionsgeschichte ist ein Gegenstand distanzierter historischer Betrachtung, sie ist kein Thema der eigenen theologischen Reflexion. Bereits in seinem 1925 erschienenen Aufsatz »Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments«56 hatte Bultmann geschrieben, die religionsgeschichtlich orientierte neutestamentliche Exegese wolle die Texte »aus der Distanz« lesen: »Man will sehen, ›was da steht‹, von der Voraussetzung aus, daß das wahrnehmbar, ja nur wahrnehmbar sei unter Absehen von der eigenen Stellungnahme; unter der Voraussetzung also, als könne man die Texte interpretieren, ohne zugleich die Sachen zu interpretieren, von denen sie reden«. Man wolle also Geschichte offenbar verstehen, ohne zugleich zu fragen, »ob es nicht vielleicht in der Geschichte wesentliche Realitäten gibt, die man nur in den Blick bekommt, wenn man die Distanzbetrachtung aufgibt, wenn man zur Stellungnahme bereit ist« (15 f.). Gerade dies aber sei »die entscheidende Frage: ob wir der Geschichte so gegenübertreten, daß wir ihren Anspruch auf uns anerkennen, daß sie uns Neues zu sagen hat«. Wenn man dazu bereit ist, solche Neutralität gegenüber dem Text aufzugeben, »so bedeutet das, daß die Wahrheitsfrage die Exegese beherrscht«; dann, so Bultmann weiter, ist der Exeget letztlich nicht an der Frage interessiert: »was bedeutet das im Text Gesagte (als bloßes Gesagtes) an seiner zeitgeschichtlichen Stelle, in seinem zeitgeschichtlichen Zusammenhang?, sondern er fragt letztlich: von was für Sachen ist die Rede, zu welchen Realitäten führt das Gesagte?« Da es sich dabei ja »um das Verständnis der Geschichte handelt, zu der wir selbst gehören«, laute die Frage zu dem im Text Gesagten also: »Was bedeutet es für mich und wie ist es in seiner sachlichen Begründung zu verstehen?« Bultmann notiert als »vorläufig[e]« Formulierung: »Die zeitgeschichtliche Exegese fragt: Was ist gesagt? und wir fragen statt dessen: Was ist gemeint?« (17)57 Letztlich hänge also »die Frage nach der Verständnismöglichkeit eines Textes daran, welche Aufgeschlossenheit der Exeget für seine Existenzmöglichkeit als menschlicher Möglichkeit hat, welche Auslegung von sich als Menschen der Exeget hat« (21). Dann aber werde klar, dass die »Unterscheidung einer neutralen und einer Stellung nehmenden Exegese, einer betrachtenden und einer den 56

Wieder abgedruckt in: R. Bultmann, Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, hg. von A. Lindemann, UTB 2316, Tübingen 2002, 13–38 (danach die Einzelnachweise oben im Text). 57 Bultmann räumt an dieser Stelle ein, »natürlich« frage »in gewissem Sinn auch die zeitgeschichtliche Exegese: was ist gemeint?«, aber sie stelle diese Frage so, als sei die ganze Geschichte eine Fläche oder eine Karte, auf der es um das Erkennen eines ganz bestimmten einzelnen Punktes gehe (aaO., 17 f.).

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Anspruch des Textes ergreifenden … primitiv und unzulänglich ist«, weil es eine »neutrale Exegese« in Wahrheit gar nicht gibt, denn die Auslegung des Textes ist stets verbunden »mit der Selbstauslegung des Exegeten« (21). ›Selbstauslegung‹ meint für Bultmann nicht Subjektivismus – und zwar deshalb nicht, weil der Exeget »den Anspruch, die Autorität des Textes anerkennt«. Es ist geradezu umgekehrt: Die Exegese muß »ausdrücklich von der Frage der Selbstauslegung geleitet sein, wenn sie nicht dem Subjektivismus verfallen will« (24). Klar ist für Bultmann, dass die Exegese nicht absehen kann von der konkreten Situation, in der der Exeget steht: »Diese ist aber die, daß die Exegese des Neuen Testaments zur Aufgabe wird für den, der in der Tradition der Kirche des Wortes steht« (32); vorausgesetzt sei damit eine »Bereitschaft des glaubenden Fragens« (33). Eine besondere Methode theologischer Exegese gibt es für Bultmann aber gerade nicht, ebensowenig »eine Möglichkeit, eine theologische Exegese des Neuen Testaments ›prinzipiell‹ zu rechtfertigen«; denn »die rechte Befragung des Textes kann nur eine glaubende sein, d.h. eine im Gehorsam gegen die Autorität der Schrift begründete« (33). Daraus folgt für Bultmann die Einheit von Exegese und Theologie, oder genauer: die Einheit von systematischer und historischer Theologie. Daraus ergibt sich dann auch, dass Theologie ein wissenschaftliches Unternehmen ist, insofern sie »die Aufgabe des begrifflichen Denkens ist«. Die Tatsache, »daß die zur Begrifflichkeit erhobenen Inhalte nicht rationalen Ursprungs sind«, steht für Bultmann dazu nicht im Widerspruch – für die Theologie gilt vielmehr, dass die »zweideutige Situation«, in der sie sich befindet, für sie »nur deutlicher [ist] als für jede andere Geschichtswissenschaft« (35).58 Richtig sei, dass Theologie nicht den Anspruch erheben könne, »direkt Wortverkündigung zu sein«, da sie »als wissenschaftliche Arbeit« es »immer nur zu Sätzen von relativer Gültigkeit bringen« kann, während demgegenüber die Wortverkündigung »den Anspruch des Definitiven für die konkrete Situation« erhebt – wobei Bultmann hinzufügt: »und anders als für die konkrete Situation gibt es keine Wortverkündigung« (35). Die begriffliche Arbeit der Theologie könne »nie als abgeschlossen gelten«, sondern sie stehe stets unter dem Anspruch, »daß sie immer besser werden muß«. Dementsprechend dürfe und müsse die Kirche »eine immer bessere Theologie fordern, aber nicht eine immer bessere Wortverkündigung, sondern nur Wortverkündigung überhaupt« (35).

58 Bultmann schreibt gegen Ende des Aufsatzes (38): »Im tatsächlichen Vorgang der Exegese steht die historische und die theologische Exegese in einem nicht analysierbaren Zusammenhang, weil ja die echte historische Exegese auf der existentiellen Begegnung mit der Geschichte beruht, also mit der theologischen zusammenfällt.«

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Bultmanns zwischen 1948 und 1953 in Einzellieferungen erschienene »Theologie des Neuen Testaments«59 zeigt im Aufriß eine gewisse Übereinstimmung mit den Überlegungen William Wredes, wie sie oben skizziert wurden; zugleich aber besteht eine deutliche Distanz zu Wredes Programm, denn sowohl die Bezeichnung Theologie als auch der ausdrückliche Bezug zum Neuen Testament werden von Bultmann ja gerade nicht aufgegeben. Der erste Hauptteil beginnt mit der Darstellung Jesu. Dabei spricht Bultmann weder von der ›Lehre‹ noch gar von der ›Theologie‹ oder der ›Religion‹ Jesu, sondern von dessen »Verkündigung«, die für ihn freilich nicht ein Teil der neutestamentlichen Theologie ist, sondern deren Voraussetzung.60 Die Frage nach dem messianischen Selbstbewußtsein Jesu wird von Bultmann nicht zu Beginn der Darstellung erörtert, sondern am Schluß, und sie wird negativ beantwortet.61 Bultmann spricht auch im Blick auf das anschließend dargestellte Kerygma der nachösterlichen Urgemeinde und der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus explizit nicht von Theologie, sondern eben vom »Kerygma«. Der Grund für diese Entscheidung wird deutlich im Eröffnungsabschnitt des zweiten Hauptteils, der nun explizit unter der Überschrift Die Theologie des Paulus und des Johannes steht. Paulus habe »seine Gedanken über Gott und Christus, über Welt und Mensch« zwar nicht »theoretisch und zusammenhängend« entwickelt; aber »die Art, in der er aktuelle Fragen auf eine grundsätzliche theologische Frage zurückführt, wie er konkrete Entscheidungen aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen heraus vollzieht«, zeige, »daß sein Denken und Reden aus seiner theologischen Grundposition herauswächst«. Diese Grundposition sei aber nicht »eine Konstruktion des theoretischen Denkens«, in welchem Welt und Mensch »objektiviert« würden; das theologische Denken des Paulus erhebe vielmehr »nur die im Glauben als solchem enthaltene Erkenntnis zur Klarheit bewußten Wissens«.62 Bultmann expliziert die Theologie des Paulus dann weitgehend durch die Analyse der von dem Apostel verwendeten anthropologischen Begrifflichkeit: »Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie«, und darum wird die 59 S. o. Anm. 13. Einen Überblick über die vor Bultmann erschienene Literatur zur »Theologie des NT« gibt O. Merk, Art. Biblische Theologie II. Neues Testament, TRE 6, Berlin 1980, 455–477. 60 Zur Frage, ob und warum die Verkündigung Jesu unmittelbar in eine Darstellung der neutestamentlichen Theologie gehört, vgl. A. Lindemann, Jesus in der Theologie des Neuen Testaments, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie. FS Hans Conzelmann, Tübingen 1975, 27–57 (der Aufsatz bezieht sich natürlich nur auf Werke, die bis 1975 erschienen sind). 61 Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 27–34. 62 Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 191.

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paulinische Theologie »sachgemäß … am besten entwickelt, wenn sie als die Lehre vom Menschen dargestellt wird«.63 Bultmann unterscheidet hier die Analyse des vorgläubigen menschlichen Daseins (»Der Mensch vor der Offenbarung der ĚưĝĞēĜ«) und von der Analyse des Daseins des Menschen »unter der ĚưĝĞēĜ«. Im Johannes-Abschnitt innerhalb des zweiten Hauptteils fehlt eine ausdrückliche Reflexion darüber, warum jetzt anders als etwa bei den synoptischen Evangelien ausdrücklich von einer »Theologie des JohannesEvangeliums und der Johannes-Briefe« gesprochen werden kann64; aber der den Abschnitt einleitende relativ ausführliche Vergleich des Johannesevangeliums mit Paulus und vor allem die starke Betonung der Bedeutung der in den johanneischen Schriften verwendeten Begrifflichkeit für die Interpretation des johanneischen Denkens lassen erkennen, dass Bultmann hier von denselben Voraussetzungen ausgeht wie zuvor in dem Paulusabschnitt. Der dritte Hauptteil steht unter der wohl bewußt eher unscharf formulierten Überschrift »Die Entwicklung zur Alten Kirche«. Hier zeigt sich, dass Bultmann in seiner Darstellung ungeachtet des Titels »Theologie des Neuen Testaments« die Grenzen des Kanons nicht strikt einzuhalten beabsichtigt, auch wenn er es nicht darauf anlegt, diese Grenzen programmatisch zu »sprengen«. So untersucht er unter der Überschrift »Christologie und Soteriologie« die Frage, wie in der Zeit nach Paulus und Johannes »das Verhältnis der Gegenwärtigkeit und der Zukunft des Heils genauer gedacht ist«, und dabei fragt er, ob insbesondere »das dialektische Verständnis dieses Verhältnisses, wie es bei Paulus und Joh vorlag, festgehalten worden« ist.65 Es kommen – in dieser Abfolge – der »Hirt« des Hermas, der Jakobusbrief, die Didache, der Barnabasbrief, der Hebräerbrief, schließlich die Pastoralbriefe, der Erste Clemensbrief und die Ignatiusbriefe zur Sprache. In der Sache beschreibt Bultmann nebeneinander unterschiedliche »Typen«, ohne damit den Versuch zu verbinden, eine geschichtliche Entwicklung zu re63

Bultmann, Theologie, 192 (im Original gesperrt). Diese systematische Position vertrat Bultmann bereits in seinem 1924 erstmals publizierten Aufsatz: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: R. Bultmann, Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze I, Tübingen 41961, 1–25; vgl. vor allem den Schlußsatz (aaO., 25): »Gegenstand der Theologie ist ja Gott, und von Gott redet die Theologie, indem sie redet vom Menschen, wie er vor Gott gestellt ist, also vom Glauben aus.« Weiter durchgeführt wurde dieser Ansatz dann in dem Aufsatz »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« (1925), wieder abgedruckt in: Neues Testament und christliche Existenz (s. Anm. 56), 1–12. 64 M. E. wäre es von Bultmanns eigenem Theologieverständnis her durchaus möglich gewesen, auch von einer »Theologie des Markus« usw. zu sprechen; vgl. dazu A. Lindemann, Erwägungen zum Problem einer »Theologie der synoptischen Evangelien«, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 316–345. 65 Bultmann, Theologie (s. Anm. 13), 513.

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konstruieren.66 Zuvor hatte er unter der Überschrift »Das Problem der rechten Lehre und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons« die zunächst überraschende These formuliert, die Einheit der kirchlichen Lehre sei »durch den Kanon gesichert worden und nicht durch eine normative Dogmatik«; er hatte aber hinzugefügt, dass diese Einheit »eine nur relative« sei: »Denn tatsächlich spiegelt der Kanon eine Mannigfaltigkeit von Auffassungen des christlichen Glaubens bzw. seines Gegenstandes wider«: die innere Einheit werde so »zur Frage« und komme »jedenfalls nicht in der Einheitlichkeit dogmatisch formulierter Sätze zur Erscheinung«.67 Deshalb kann Bultmann abschließend Käsemanns berühmtes Dictum zitieren, der Kanon »in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit« begründe nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielzahl der Konfessionen«.68 Dass Bultmann – ebenso wie ja auch Käsemann – bei dieser rein historischen Feststellung nicht stehen bleibt, zeigt der erste Teil der »Epilegomena«; hier setzt Bultmann als geradezu selbstverständlich voraus, dass in einer »Theologie des Neuen Testaments« die theologischen Gedanken der neutestamentlichen Schriften darzustellen sind, wobei die Frage einer bewußten Überschreitung der Kanonsgrenzen gar nicht reflektiert wird.69

V. Aspekte der gegenwärtigen Diskussion zur »Theologie des Neuen Testaments« In der gegenwärtigen theologisch-exegetischen Diskussion besitzt die Frage, ob es die »Theologie des Neuen Testaments« geben könne oder nur eine Beschreibung der unterschiedlichen theologischen Ansätze in den neutestamentlichen Schriften, möglicherweise verbunden mit einer Rekonstruktion der Geschichte der neutestamentlichen bzw. der urchristlichen Theologie(n) breiten Raum ein.70 Georg Strecker schrieb in dem von ihm 1975 heraus66

Bultmann, Theologie, 513–548. Bultmann, Theologie, 493 f. 68 Bultmann, Theologie, 494. Er zitiert E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? (1951), abgedruckt in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1964, 214–223, hier: 221. 69 Bultmann, Theologie, 585–589. Vgl. Käsemann, Kanon (s. die vorige Anm.), 223: Der Kanon ist nicht mit dem Evangelium identisch, und er ist Gottes Wort nur insofern, »als er Evangelium ist. Insofern begründet dann auch er die Einheit der Kirche. Denn allein das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten«. 70 R. Morgan, Made in Germany: Towards an Anglican Appropriation of an Originally Lutheran Genre, in: Aufgabe und Durchführung (s. Anm. 18), 85–112 führt die Abfassung solcher Werke vor allem im deutschsprachigen Raum nicht zuletzt auf die konfessionelle Struktur der Theologischen Fakultäten zurück; die starke Betonung der paulinischen Theologie sei ein Erbe der (lutherischen) Reformation. Eine anglikanische neutestamentliche Theologie (NTT) werde sich eher am Kanon orientieren und also mit 67

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gegebenen Band »Das Problem der Theologie des Neuen Testaments«71 programmatisch, das Ziel einer Darstellung der neutestamentlichen Theologie sei »primär die Erhebung der in den neutestamentlichen Schriften vorliegenden Strukturen, also des glaubenden Selbstverständnisses des jeweiligen neutestamentlichen Autors«; die Frage nach dem historischen Jesus gehöre »nur insoweit zur neutestamentlichen Theologie, als es den neutestamentlichen Schriften implizit ist«.72 Eine an den Schriften selber orientierte Theologie des Neuen Testaments müsse aus chronologischen und aus sachlichen Gründen mit Paulus beginnen; im Schlußabschnitt sei auch die nachneutestamentliche Literatur zu berücksichtigen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, »daß die Grenzen des neutestamentlichen Kanons fließend sind« und um »die historische und theologische Frage nach der Sammlung der neutestamentlichen Schriften zu beantworten«.73 Dieses Programm wurde dann durchgeführt in der von Friedrich Wilhelm Horn nach Streckers Tod 1995 herausgegebenen »Theologie des Neuen Testaments«.74 Dort heißt es ausdrücklich, das Ziel sei »nicht eine Geschichte der urchristlichen Religion oder der urchristlichen Theologie«, sondern es solle »nach den theologischen Konzeptionen gefragt werden, welche die neutestamentlichen Schriftsteller auf der Grundlage der ihnen vorgegebenen theologischen (Gemeinde-)Überlieferungen vertreten«.75 Im folgenden soll nun auf einige der zahlreichen seit Mitte der 1990er Jahre erschienenen Darstellungen neutestamentlicher Theologie hingewiesen werden76, ohne dass Vollständigkeit oder gar ein umfassender Literaturbericht angestrebt wäre.77 Neue, jeweils sehr eigenwillige Ansätze wählen den Evangelien beginnen »to affirm (what none will deny) the priority of ›the Lord‹ over ›the Apostle›, as Paul himself would wish« (107); Abschluß (und offenbar auch Höhepunkt) sei die Darstellung der lukanischen Theologie (Evangelium und Apg, 109). Die nach Paulus entstandenen Schriften seien keineswegs gering zu schätzen: »Anglicans will resist the old protestant decadence theory which some have now read back into the New Testament itself. ›Early catholic‹ is for us not a term of abuse.« (112) Der Kanon, d.h. die Johannesoffenbarung, bilde eindeutig die Grenze; man dürfe auch nicht versuchen, eine systematische Einheit anzustreben: »The 27 writings now included in the New Testament can maintain their individual integrity. The canon is a collection, not a system, and NTTs offer a set of interpretations, not a biblical dogmatics.« 71 S. Anm. 51. 72 G. Strecker, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: Problem (s. Anm. 51), 1–31, hier 27 f. 73 Strecker, Problem (s. die vorige Anm.), 29–31, Zitat 31. 74 G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments. Bearbeitet, ergänzt und herausgegeben von F. W. Horn, Berlin 1996. 75 Strecker, Theologie (s. die vorige Anm.), 3. 76 Vgl. Wolter, Probleme (s. Anm. 6), 417: »Seit der Jahrtausendwende sind so viele Werke mit dem Titel ›Theologie des Neuen Testaments‹ erschienen, dass man fast geneigt ist, von einem neuen Boom dieser literarischen Gattung zu sprechen.« 77 In seinem Beitrag zum Symposion anläßlich des 65. Geburtstags von Georg Strecker 1995 hat O. Merk die Entwicklung seit Bultmann bis etwa 1994 dargestellt. O. Merk,

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Klaus Berger und – in ganz anderer Weise – Hans Hübner. Berger nennt seine 1994 in erster Auflage erschienene Darstellung »Theologiegeschichte des Urchristentums«, er wählt dann aber als Untertitel die Bezeichnung »Theologie des Neuen Testaments«. Dazu erläutert er eingangs, Theologie sei in neutestamentlicher Zeit nicht wie heute »die tunlichst nüchterne Beschreibung und das Zuendedenken religiöser Phänomene« gewesen, sondern »in sehr viel weiterem Zugriff die Summe der sprachlichen Zeichen, in denen diese Religion [sc. das Urchristentum] sich widerspiegelt, ›reflektiert‹ wird«. Ausdrücklich überschreitet Berger die Kanongrenzen, indem er erklärt, der von ihm als »Urchristentum« bezeichnete Zeitraum erstrecke sich »im allgemeinen bis in die Mitte des 2. Jh. n. Chr.«78 Hans Hübner hat den ersten Band seiner in den Jahren 1990–1995 erschienenen dreibändigen »Biblischen Theologie des Neuen Testaments«79 strikt systematisch angelegt. Nach einer längeren Vorbemerkung, in der es unter anderem um das Verhältnis von Theologie und Kirche geht, erörtert er ausführlich die Kanonfrage: Es geht um die »theologische Rolle der Rezeption des Alten Testaments durch die neutestamentlichen Autoren«, wobei »das Neue Testament das Befragte, das Alte Testament das Erfragte« ist.80 Dementsprechend heißt das Programm dieser »biblischen Theologie« im konkreten Vollzug dann durchgängig: Vetus Testamentum in Novo receptum. Das ist ein auch in systematisch-theologischer Hinsicht bedeutsamer und wichtiger Ansatz81; ein grundsätzliches Problem liegt aber darin, dass Hübners Entwurf kaum als Gesamtentfaltung der neutestamentlichen Theologie bzw. der einzelnen im Neuen Testament enthaltenen Theologien angesehen werden kann, denn Theologie vollzieht sich in den neutestamentlichen Schriften auch außerhalb der expliziten Rezeption des Alten Testaments. Theologie des Neuen Testaments und Biblische Theologie, in: Ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. Anm. 7), 98–129, hier: 103–127. 78 K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1994, 3. Zur Kritik vgl. Merk, Theologie (s. die vorige Anm.), 106 f.: »Die notwendige Rekonstruktion erfährt nicht das kritische Korrektiv der ebenso notwendigen Interpretation … Motive werden häufig aus ihrem Zusammenhang herausgelöst … Analogien werden unter der Hand zu Genealogien im schwankend unerforschten Bereich des Urchristentums. So enthält dieses umfangreiche Werk mehr zur Diskussion anleitende Vorarbeiten und Materialien, als daß es schon zu einer ›Theologie des Neuen Testaments‹ in Gestalt einer›Theologiegeschichte des Urchristentums‹ vorgeschritten wäre.« 79 H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 1 Prolegomena, Göttingen 1990; Band 2 Die Theologie des Paulus und ihre neutestamentliche Wirkungsgeschichte, Göttingen 1993; Band 3 Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995. 80 Hübner, Theologie 1 (s. die vorige Anm.), 37. 81 Hübner macht nicht den Versuch, eine »Biblische Theologie« zu entwerfen, die in gleicher Weise Altes und Neues Testament umfaßt.

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James D. G. Dunn hat zwar keine ›Theologie des Neuen Testaments‹ geschrieben, wohl aber eine umfassende Darstellung der Theologie des Paulus. In seinem 1998 erschienenen Buch »The Theology of Paul the Apostle« erörtert er eingehend die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die Theologie des Paulus systematisch darzustellen. »The test of a good theology of Paul will be to the degree to which it enables the reader and the church not only to enter into the thought world of Paul but also to engage theologically with the claims he makes and the issues he addresses, driven thereby afresh to the text itself.«82 Es könne nahe liegen, von der »religion of Paul« zu sprechen, doch Dunn will an dem Begriff »theology« festhalten – Theologie dabei verstanden »as talk about God and all that is involved in and follows directly from such talk, including not least the interaction between belief and praxis«.83 Die Frage, wie die paulinische Theologie angemessen darzustellen sei, werde von Paulus selber durch den Römerbrief beantwortet, und an diesem Text habe sich die Darstellung zu orientieren.84 Michael Wolter eröffnet seinen im Jahre 2011 veröffentlichten »Grundriss« der paulinischen Theologie mit der knappen Feststellung, das »Dass« einer solchen Darstellung bedürfe keiner Begründung, denn die Briefe des Paulus seien »nicht nur die ältesten erhaltenen christlichen Texte überhaupt, sondern in ihnen findet auch gleich eine theologische Reflexion des christlichen Glaubens statt«.85 Wolter problematisiert den Begriff »die paulinische Theologie«, denn es gebe ja eine Mehrzahl von Briefen und darunter sei keiner, »in dem Paulus seine theologischen Überzeugungen und Vorstellungen in ihrer gesamten Breite und Vollständigkeit entfaltet hätte«. Wolle man dennoch die »Theologie des Paulus« darstellen, so sei es »erforderlich, aus den theologischen Aussagen der Briefe im Wege einer abstrahierenden und systematisierenden Neuordnung einen Sinnzusammenhang zu konstruieren, der in sich kohärent und plausibel ist«.86

Peter Stuhlmacher wählt für seine unter dem Titel »Biblische Theologie des Neuen Testaments« erschienene Darstellung87 den geläufigen chronologischen Aufriß, wie er ähnlich bei Bultmann und anderen zu finden ist. Stuhlmacher spricht allerdings durchgängig von »Verkündigung« statt von 82 J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 8 f. Dunn unterscheidet zwischen »critical desinterestedness« und »personal involvement with the subject matter« (aaO., 8; Hervorhebungen im Original). 83 Dunn, Theology, 9 (Hervorhebung im Original). Dunn lehnt hier ausdrücklich die Trennung von ›Dogmatik‹ und ›Ethik‹ ab. 84 Dunn, Theology, 25 f. »Romans provides us with an example of the way Paul himself chose to order the sequence of themes in his theology. If, therefore, we wish to grasp at and dialogue with the mature theology of Paul we cannot do better than take Romans as a kind of template on which to construct our own statement of Paul’s theology, a dominant chord by which to tune our own lesser instruments.« 85 M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 1. 86 Wolter, Paulus (s. die vorige Anm.), 2. Wolter stellt die Biographie des Paulus bis zum antiochenischen Zwischenfall dar (8–51) und wechselt dann zu den einzelnen Themen der paulinischen Theologie (u.a. Evangelium, Glaube, heiliger Geist, Rechtfertigung, Israel). 87 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band I Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992; Band II Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung, Göttingen 1999.

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Theologie, so dass die Verkündigung Jesu, der Urgemeinde, des Paulus usw. unter derselben Überschriftsformulierung stehen. Ausdrücklich im Widerspruch zu Bultmann erklärt Stuhlmacher, die Verkündigung Jesu sei »keine bloße ›Voraussetzung‹, sondern das geschichtliche Fundament der Theologie des Neuen Testaments«.88 Im Blick auf Paulus spricht Stuhlmacher dann von »(Missions-)Theologie«, in der »die wesentlichen Intentionen des Werkes und der Lehre Jesu aufgegriffen und von Ostern her begrifflich durchdacht werden«89; die Differenz zwischen ›Verkündigung‹ und ›Theologie‹ wird nicht im einzelnen reflektiert. In Teil II des Gesamtwerks wendet sich Stuhlmacher dem ›Problem des Kanons und der Mitte der Schrift« zu.90 Die Frage, »wie eine Auslegung der biblischen Bücher aussehen muß, die diesen Büchern wirklich gerecht wird«, beantwortet Stuhlmacher mit dem von Hartmut Gese formulierten »einfachen hermeneutischen Fundamentalsatz«, ein Text sei »so zu verstehen, wie er verstanden sein will, d.h. wie er sich selbst versteht«.91 Folglich habe die Auslegung »zuerst und vor allem die Eigenart der biblischen Überlieferung zu respektieren, ihre Einbettung in den biblischen Kanon zu bedenken und ihrem Anspruch standzuhalten«.92 Die hermeneutischen Einwände liegen allerdings auf der Hand: Zum einen ist die Frage, wie ein Text »sich selbst versteht«, erst durch die Auslegung selbst zu beantworten, und die Antwort darf jedenfalls nicht vorweggenommen werden.93 Zum andern ist die Einbettung der neutestamentlichen Texte in den biblischen Kanon zwar ein historisches Faktum; aber sie entspricht durchaus nicht dem Selbstverständnis der Texte, und deshalb muß die Auslegung zumindest zunächst von der Tatsache der Kanonizität der Texte absehen, eben weil diese nicht als »kanonische« Schriften verfaßt worden waren.94 88

Stuhlmacher, Biblische Theologie I (s. die vorige Anm.), 18. Jesu Verkündigung wird eingehend dargestellt (40–161), wobei voraussetzt ist, dass Jesus als »›messianischer Lehrer der Weisheit‹ (Martin Hengel) gewirkt« habe (44). 89 Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 222. Dass die Paulusbriefe »aktuelle Missionsdokumente« seien (aaO., 234), ist eine zumindest mißverständliche Formulierung. 90 Stuhlmacher, Biblische Theologie II (s. Anm. 87), 287–349. 91 Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 323 im Zitat von Gese. 92 Stuhlmacher, ebd. 93 Und was genau ist gemeint, wenn ein Verstehen gefordert wird, das dem entspricht, »wie der Text sich selbst versteht«? Geht es um die Intention des Autors oder um die Verstehensmöglichkeiten der vom Autor ursprünglich intendierten Adressaten? Oder ist, wie es die Formulierung nahezulegen scheint, der Text selber als autonome Größe im Blick? 94 Vgl. Wolter, Probleme (s. Anm. 6), 432: Das Prädikat ›kanonisch‹ verleiht »nicht etwa den einzelnen Schriften eine besondere Dignität«, sondern es zeichnet »allein den Kanon in seiner übersummativen Gesamtheit aus. Keine neutestamentliche Schrift ist für sich allein ›kanonisch‹, sondern immer nur zusammen mit anderen, theologisch gegebenenfalls völlig unterschiedlichen Schriften.« Wolter folgt (418 f.) dem Vorschlag von D. Lührmann, nicht einfach kanonisch und »apokryph« zu unterscheiden, sondern von kanonisch bzw. apokryph gewordenen Schriften zu sprechen (D. Lührmann, Fragmente

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Stuhlmacher fordert, da es um das Erkennen des Wahrheitsanspruchs der biblischen Schriften gehe, sei »die Inspiration der Heiligen Schrift ins Auge zu fassen«95 – nicht im Sinne der orthodoxen Verbalinspiration, wohl aber so, dass anerkannt wird, dass in den Schriften der Geist Gottes spricht.96 Stuhlmacher beruft sich dafür auf den Zweiten Petrusbrief; in diesem zeige sich der erste »Entwurf einer kirchlichen Hermeneutik der Bibel«, insofern der Autor in 1,16–21 betone, dass »die vom Geist Gottes erfüllten Heiligen Schriften im Lichte der (Glaubens-) Tradition auszulegen sind, die Petrus und den Aposteln von Gott durch Christus offenbart worden ist. Einer eigenmächtigen Auslegung (ŭĎưċ őĚưĕğĝēĜ), die diese apostolische Tradition kritisiert (wie es die Häretiker tun), bleibt der Sinn der Schriften verborgen«, und dies gelte nach 2 Petr 3,14–16 »auch für die Auslegung des (werdenden) Neuen Testaments«.97 Damit wird nun allerdings ein Autor zum entscheidenden Zeugen für die kirchliche Hermeneutik gemacht, der seinerseits gerade die hermeneutische Situation fingiert, indem er sich als »Petrus« und damit dezidiert als Zeuge der Verklärung Jesu ausgibt und den »Häretikern« also offenbar nur mit falscher Autorität zu begegnen weiß.

Ein wiederum ganz anderer Ansatz findet sich bei François Vouga.98 In sieben großen Abschnitten stellt er im Neuen Testament enthaltene theologische Themen so dar, dass die bei einzelnen Autoren erkennbaren unterschiedlichen, aber doch vergleichbaren Positionen einander gegenübergestellt werden.99 Dabei wird der Rahmen des Kanons zwar nicht verlassen; aber der Kanonizität der einzelnen nach ihren Positionen befragten Schriften wird auch nicht spezifisch Beachtung geschenkt. Vouga will die Pluralität des (Ur-)Christentums beschreiben und dabei herausarbeiten, dass gerade in dieser Pluralität die Einheit des Christentums begründet ist.100 apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache, MThSt 59, Marburg 2000). 95 Stuhlmacher, Biblische Theologie II (s. Anm. 74), 327 (Hervorhebung im Original). 96 Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 328. 97 Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 329 (Hervorhebung im Original). 98 F. Vouga, Une théologie du Nouveau Testament (s. Anm. 3). Vgl. Ders., Die Aufgaben der Theologie des Neuen Testaments. Verstehen als interdiszipinäre Kunst der Interpretation, in: Aufgabe und Durchführung (s. Anm. 18), 159–173. 99 Dabei gibt es oft überraschende Pespektiven; so vergleicht Vouga z. B. hinsichtlich des Gedankens der »nouvelle création« Paulus mit der Johannesoffenbarung (75–81) und hinsichtlich der Vorstellung von der Erhöhung des Sohnes (»l’élévation du fils«) das Johannesevangelium mit dem Hebräerbrief (247–258). 100 Vgl. den Schlußabschnitt bei Vouga, Une théologie (s. Anm. 3), 439–445), der unter der Überschrift steht »La diversité théologique comme principe d’unité du christianisme«. Themen sind im Anschluß an (1.) die methodologische Einleitung: (2.) »l’évangile«, (3.) »l’existence chrétienne«, (4.) das christologische Fundament, nämlich »la proclamation de la résurrection et de la mort de Jésus«, (5.) die Kirche, und nach (6.) der Darstellung der »klassischen« Positionen von Baur und Bultmann schließlich (7.) »les choses dernières«. Im Abschnitt (8.) beschreibt Vouga die theologische Vielfalt als das Prinzip der Einheit des Christentums, indem er jeweils mit wenigen Sätzen die notwendige Einheit (»l’unité nécessaire«), die notwendige Universalität (»l’universalisme nécessaire«) und den notwen-

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Eine breit angelegte, umfangreiche »Theologie des Neuen Testaments« hat im Jahre 2002 Ferdinand Hahn vorgelegt. Er unterscheidet »die Vielfalt des Neuen Testaments«101 und »die Einheit des Neuen Testaments«102, wobei die Vielfalt in einem Längsschnitt durch die Theologiegeschichte des Urchristentums sichtbar gemacht und die Einheit in einem Querschnitt zu bestimmten theologischen Themen erörtert wird.103 Ausdrücklich stellt Hahn schon im Vorwort fest, eine Theologie des NT müsse sich »auf das urchristliche Zeugnis, das im Kanon zusammengefaßt ist, konzentrieren«; die »Weiterentwicklung« und der »Übergang zur Theologie der Alten Kirche« sei zwar zu berücksichtigen, doch sei der Kanon »die eigentliche Textgrundlage«.104 Nach einem Überblick über die Geschichte der literarischen Gattung »Theologie des NT« wendet sich Hahn zwei »Grundsatzfragen« zu, nämlich der theologischen Bedeutung der Rückfrage nach Jesus und der Bestimmung des Verhältnisses von Vielfalt und Einheit des NT. Hahn begründet seine Entscheidung, die Verkündigung und das Handeln Jesu nicht als Voraussetzung, sondern als Gegenstand der neutestamentlichen Theologie zu behandeln, mit dem Hinweis auf die »Zusammengehörigkeit der vorösterlichen Tradition und des nachösterlichen Kerygmas« und mit der Feststellung, »daß mit Jesu Wirken die Gottesherrschaft bereits anbricht« und dass es also »schon in vorösterlicher Zeit um die Gegenwart des Heils und dessen endgültige Zukunft« geht. Dabei sei »die Rückfrage nach Jesus mit der Frage nach der Rezeption durch die Urgemeinde zu verbinden«105, doch habe »die Rückfrage nach Jesus theologisch nur dann Relevanz, wenn sie mit der Rezeptionsfrage verbunden wird«.106 Im Kontext einer Diskussion mit Hahns Entwurf betont Jürgen Becker, Jesus gehöre in eine Gesamtdarstellung der Theologie des NT, insofern zwischen Jesu BasileiaVerkündigung und dem Bekenntnis, Gott habe Jesus von den Toten auferweckt, eine unmittelbare Kontinuität bestehe: »Jesu Verwobenheit mit der endzeitlichen Ankunft der Herrschaft Gottes hört demnach mit seiner Kreuzigung nicht auf, digen Pluralismus (»le pluralisme nécessaire«) des Christentums darstellt. Vgl. F. Vouga, Art. Urchristentum, TRE 34, Berlin 2002, 411–436. 101 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Band I. Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002. 102 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Band II. Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 2002. 103 Inwieweit dabei wirklich die »Einheit« sichtbar gemacht wird, kann man fragen; vgl. den kritischen Hinweis bei Wolter, Probleme (s. Anm. 6), 421: Hahn komme nicht umhin, »zu den einzelnen theologischen Loci immer wieder die Unterschiedlichkeit der im Neuen Testament zugänglichen theologischen Positionen herauszuarbeiten«. 104 Hahn, Theologie I (s. Anm. 101), p. VIII. 105 Hahn, Theologie I, 20. 106 Hahn, Theologie I, 22. Hahn fügt hinzu: »Eine isolierte Rückfrage mag in bestimmten Fällen ihren Sinn haben, aber sie besitzt theologisch nur bedingt Relevanz, wenn ihre Ergebnisse nicht eingebunden bleiben in das Gesamtzeugnis des Neuen Testaments.«

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weil Gott selbst die Beziehung zu Jesus in einer ganz neuen Qualität bekräftigt.«107 Jens Schröter stellt im Blick auf die Frage nach Jesus fest, zwar habe Bultmann »die Bedeutung des irdischen Wirkens Jesu für die Ausbildung der urchristlichen Theologie deutlich zu gering gewichtet«; richtig bleibe aber Bultmanns »Einsicht, dass Jesus innerhalb einer Theologie des Neuen Testaments nur aus der Perspektive der Glaubenszeugnisse von Bedeutung ist, jedoch nicht unabhängig davon«. Nicht ein historisch-kritischer Entwurf des Wirkens Jesu könne Grundlage einer neutestamentlichen Theologie sein, »sondern nur die Bezugnahme auf den irdischen Jesus in den Glaubenszeugnissen des Urchristentums«.108 Genau dies scheint mir Bultmann allerdings mit seiner Formulierung, Jesus sei »Voraussetzung« neutestamentlicher Theologie, zum Ausdruck gebracht zu haben.

Hahn bietet dann eine dem chronologischen Ablauf folgende Darstellung der Theologien im Neuen Testament, wobei die Darstellung der Theologie des Paulus von seinem Verständnis des Evangeliums ausgeht, das als Proklamation der alttestamentlichen Heilsverheißung, sodann als Botschaft von Jesus Christus, als »Erkenntnis des Menschen«, als Heilsbotschaft für die Welt und Zeugnis der Hoffnung verstanden ist. Auch im Blick auf die »Paulusschule« spricht Hahn von ›Theologie‹, während er in den von Paulus unabhängigen hellenistisch-judenchristlichen Schriften und auch in den synoptischen Evangelien jeweils »theologische Konzeptionen« erkennt beim Johannesevangelium findet dann wieder der Begriff »Theologie« Verwendung. Schließlich folgt, ähnlich wie Bultmann, »der Übergang zur Theologiegeschichte des 2. Jahrhunderts« mit dem Judas- und dem 2. Petrusbrief sowie den Apostolischen Vätern, ohne dass ganz klar wird, inwieweit bei den Aussagen in diesen Schriften im expliziten Sinn von »Theologie« gesprochen werden kann. Der zweite Band bietet die Darstellung von fünf Themen: Das AT als Bibel des Urchristentums, Gottes Offenbarungshandeln in Christus, sowie die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension dieses Gotteshandelns. Abschließend stellt Hahn fest, es gebe bei den einzelnen Themen ein hohes Maß an Gemeinsamkeit, aber auch »Divergenzen, die nicht nur zu Spannungen führen, sondern auch Widersprüche enthalten«  – und dies bei so entscheidenden Themen wie der Frage der Gotteserkenntnis und des Sünderseins des Menschen, wo Paulus und Lukas gegeneinander stehen, beim Gesetzesverständnis und beim Thema »Glaube und Werke« (Paulus und Jak) und auch in der Eschatologie.109 Gleichwohl

107

J. Becker, Theologiegeschichte (s. Anm. 18), 124 f. (Zitat 125). J. Schröter, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments. Konzeptionelle Überlegungen angesichts der gegenwärtigen Diskussion, in: Ders., Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons, WUNT 204, Tübingen 2007, 355–377, hier: 374. 109 Hahn, Theologie II (s. Anm. 102), 803 f. 108

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gebe es bei allen diesen Themen auch eine Einheit, die freilich nicht unmittelbar vorliegt, sondern aufgezeigt werden muß.110 Udo Schnelle versteht in seiner im Jahre 2007 veröffentlichten »Theologie des Neuen Testaments« die Theologie als »Sinnbildung«: »Die Theologie des Neuen Testaments hat wie alle anderen Wissenschaften teil an der vorgängigen Sinnhaftigkeit allen Seins, die wissenschaftliches Fragen und Erkennen als Sinnbildungsleistungen überhaupt erst ermöglicht.« Die angesichts von Kreuz und Auferstehung unabwendbaren Sinnbildungsleistungen wurden von den neutestamentlichen Autoren auf unterschiedliche Weise erbracht, und demgemäß ist es die Aufgabe der Theologie des NT, »diese Sinnbildungsleistungen zu erfassen und in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen, um so eine sachgemäße Rezeption in der Gegenwart zu ermöglichen«.111 Die Darstellung der einzelnen neutestamentlichen Schriften bzw. Autoren erfolgt durchgängig nach neun »Themenfeldern« (Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie, Eschatologie und »theologiegeschichtliche Stellung«).112 In Auseinandersetzung mit Bultmann stellt Schnelle die Frage nach Jesus an den Anfang; er vertritt die These, dass es »einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma … nie gegeben« habe; deshalb müsse die Darstellung der neutestamentlichen Theologie mit Jesus beginnen.113 Schnelle setzt ein mit der Nennung der Kriterien für die historische Frage nach Jesus, und auf dieser Basis stellt er dann Verkündigung und Wirken Jesu dar. Jesus habe sich als »Menschensohn« verstanden, und zwar gerade deshalb, weil dies »kein zentraler Begriff in der jüdischen Apokalyptik war und sich als offener und nicht fest definierter Ausdruck besonders eignete, um sein Wirken zu charakterisieren«; das gegenwärtige Wirken des Menschensohnes zeige sich »nicht in seiner Macht, sondern in seinem verborgenen Wirken«.114 Historisch unsicher sei, ob Jesus den Titel »Messias« beanspruchte; aber die rasche Ausbreitung der Bezeichnung Jesu als āěēĝĞƲĜ lasse sich doch »am besten verstehen, wenn eine Verbindung mit dem Wirken und Geschick Jesu besteht«, und so lasse 110

Hahn, Theologie II, 806. U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, Göttingen 2007, 28 f.; vgl. 42–44. 112 Schnelle, Theologie (s. die vorige Anm.), 44–46. Zur Kritik vgl. Wolter, Probleme (s. Anm. 6) 427 Anm. 27: »Diese Art der Präsentation macht die einzelnen Entwürfe zwar gut miteinander vergleichbar, ob sie aber auch die Profile der individuellen theologischen Begründungszusammenhänge herauszuarbeiten vermag, ist mehr als zweifelhaft.« 113 Schnelle, Theologie, 33 f. (Zitat 33). 114 Schnelle, Theologie, 134. 111

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sich der Schluß ziehen: »Das Leben Jesu war nicht unmessianisch!«115 Zugleich falle allerdings auf, dass sich Jesu Anspruch »auch in einer merkwürdig verhüllten Weise zeigt«, nämlich »nicht in vorgegebenen, dogmatisch klaren Kategorien, sondern in zuweilen fast paradoxen Erzählungen und Worten«.116 Etwas überraschend ist es, dass Schnelle nicht darauf eingeht, dass und warum er sich in der Darstellung Jesu nicht an den sonst offenbar durchgängig anwendbaren neun »Themenfeldern« orientiert. Schnelle stellt dann »die erste Transformation« dar, die Entstehung der Christologie, die an Jesu singulären Anspruch anknüpfen konnte.117 Die »zweite Transformation« sei die frühe beschneidungsfreie Mission, und sie führt zu Paulus und zu seiner Theologie.118 Die »dritte Transformation« ist dann die Evangelienschreibung, die Schnelle mit dem Tod der Gründergestalten und der Parusieverzögerung in Beziehung setzt.119 Unter der Überschrift »Das Evangelium in der Welt« folgt die »vierte Transformation«, sichtbar in der Entstehung pseudepigraphischer Texte. Den Schluß bilden »Die johanneische Theologie« als »Einführung in das Christentum« und die Johannesoffenbarung.120

VI. Zusammenfassung und Ausblick Gefragt wurde nach Grundzügen und Erträgen der neutestamentlichen Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Folgendes läßt sich festhalten: Wenn vom Neuen Testament gesprochen wird, dann bezieht sich das auf ein eindeutig definiertes und klar umgrenztes Schriftencorpus. Die Tatsache der allmählichen Entstehung dieses Corpus ist (kirchen-)historisch höchst bedeutsam, spielt aber im Blick auf die Auslegung der Texte selber eine jedenfalls nur untergeordnete Rolle. Der neutestamentliche Kanon ist vorgegeben, und es wäre kaum sinnvoll und jedenfalls faktisch unmöglich, ihn inhaltlich modifizieren oder gar seine Zusammensetzung korrigieren zu wollen. Natürlich ist die Kanonsgeschichte so genau wie möglich zu 115

Schnelle, Theologie, 136. Schnelle ebd. 117 Schnelle, Theologie, 147: »Es gibt keine Gestalt der Antike, die einen vergleichbaren Anspruch gestellt und eine vergleichbare Wirkung erzielt hätte wie Jesus von Nazareth« (im Original kursiv). Ist diese Aussage wirklich im strengen Sinne als Aussage über Jesus als historische Gestalt verifizierbar? 118 Schnelle, Theologie, 173–180. Es fällt auf, dass im Paulusabschnitt (181–334) das Thema »Gerechtigkeit (Gottes)« eine eher untergeordnete Rolle spielt (233–244), auch wenn Schnelle abschließend feststellt, die paulinische Rechtfertigungslehre sei »eine denkerische Leistung, die in ihrer bleibenden Qualität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann« (243 f.). 119 Schnelle, Theologie, 335–340. 120 Schnelle, Theologie, 619–711; 712–733. 116

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erforschen, und dabei ist auch auf die offensichtlichen Zufälligkeiten und möglicherweise auch Fehlentwicklungen im Verlauf dieser Geschichte hinzuweisen. Es lassen sich auch Gründe für die Meinung anführen, Schriften wie etwa der Erste Clemensbrief oder die Briefe des Ignatius seien möglicherweise theologisch bedeutsamer als beispielsweise der Judasbrief oder die beiden kleinen Johannesbriefe. Aber das, was als »Neues Testament« bezeichnet wird, steht gleichwohl endgültig fest – ganz unabhängig davon, wie die theologische Qualität der einzelnen Schriften eingeschätzt wird.121 Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, dass über den neutestamentlichen Kanon in der Alten Kirche nicht »entschieden« wurde, schon gar nicht durch kirchliche »Autoritäten«; der Kanon entwickelte sich vielmehr aus dem faktischen Gebrauch der frühen Schriften in den Gemeinden122, auch wenn diese Entwicklung nicht gradlinig123 und nicht in der ganzen Kirche nach demselben Muster ablief.124 Die Anerkennung der vier dann kanonisch gewordenen Evangelien stand spätestens seit Irenäus außer Frage, ebenso die der Paulusbriefe; dass dann auch die »katholischen Briefe« den Rang als »kanonische« Schriften erhielten, dürfte, wie Dieter Lührmann gezeigt hat, darauf zurückzuführen sein, dass sie mit den von Paulus in Gal 2,9 genannten Apostelnamen Jakobus, Petrus und Johannes verbunden sind.125 Die spätere Kritik Luthers nicht nur am traditionellen alttestamentlichen Kanon der Vulgata bzw. der LXX mit der Folge der Ausscheidung der »Apokryphen«, sondern seine Kritik auch am neutestamentlichen Kanon mit der von ihm intendierten, aber nicht durchgesetzten Ausgrenzung von Hebr,

121

Vgl. dazu den Literaturbericht von H. von Lips, Was bedeutet uns der Kanon? Neuere Diskussion zur theologischen Bedeutung des Kanons, VF 51/1 (2006) 41–56. 122 Dazu H. J. de Jonge, The New Testament Canon, in: Ders. / J.-M. Auwers (eds.), The Biblical Canons, BEThL 163, Leuven 2003, 309–319, vor allem 312–318. Zur neueren Forschungsgeschichte vgl. Th. K. Heckel, Neuere Arbeiten zum Neutestamentlichen Kanon, ThR 68 (2003) 286–312.441–459; Katharina Greschat, Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Fragestellungen und Themen der neueren Forschung, VF 51/1 (2006) 56–63. 123 Greschat, Entstehung (s. die vorige Anm.), 61 erwähnt als Beispiele für die Verwerfung von zunächst anerkannten Schriften die Zurückweisung der Acta Pauli durch Tertullian, weil dort erzählt wird, dass Thekla (sich selber) tauft (bapt. 17,5) und das von Euseb (h.e. VI 12,2–6) zitierte Verbot der Lektüre eines Petrusevangeliums durch Bischof Serapion. Tertullian und Serapion beurteilen die betreffenden Schriften sowohl als von der anerkannten Lehre abweichend wie auch als Fälschungen. 124 Chr. Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 217 betont den Einfluß von »Institutionen« auf den Prozeß der Kanonisierung; die Vorstellung, der Kanon habe sich selber durchgesetzt, sei ebenso zu einfach wie der Gedanke, Bischöfe und Synoden hätten darüber entschieden (aaO., 333). 125 D. Lührmann, Gal 2,9 und die katholischen Briefe, ZNW 72 (1981) 65–87, hier: 65–72.

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Jak, Jud und Apk war historisch wie auch theologisch begründet.126 In der reformierten Tradition enthalten manche Bekenntnisschriften ausdrücklich Kanonsverzeichnisse, um im Widerspruch zu der 1546 vom Trienter Konzil beschlossenen Kanondefinition die alttestamentlichen »Apokryphen« auszuschließen, während die lutherischen Bekenntnisschriften solche Verzeichnisse nicht enthalten.127 Aber ungeachtet aller als unzureichend oder auch als falsch erkannten historischen Hypothesen oder dogmatischen Theorien zum Kanon steht zumindest für die Kirchen des Westens fest, welche Schriften zum Neuen Testament gehören und welche nicht – lediglich in der Anordnung bestehen geringfügige Differenzen.128 Die historische Exegese hat die Vielfalt der im Neuen Testament enthaltenen Theologien oder zumindest die Vielfalt der in den neutestamentlichen Schriften enthaltenen theologischen Reflexionen aufgewiesen. Dieser Sachverhalt führt nun allerdings vor die Wahrheitsfrage: Was ist angesichts der Vielfalt theologischer Positionen innerhalb des Neuen Testaments als ›wahr‹ und dementsprechend als ›verbindlich‹ anzusehen? Diese Frage muß gestellt und auch beantwortet werden; es käme jedenfalls einer Selbstaufgabe der neutestamentlichen Exegese als einer theologischen Disziplin gleich, wollte sie sich mit der distanziert »neutralen« Feststellung jener Vielfalt, also mit deren bloßer religionsgeschichtlicher »Beschreibung« begnügen.129 126

Die Kritik Luthers ging über diejenigen Aspekte hinaus, die in der Lutherbibel bis heute in der gegenüber der Tradition nachgeordneten Stellung des Hebräer- und des Jakobusbriefes sichtbar werden; im Inhaltsverzeichnis von Luthers Übersetzung 1522 waren die genannten Schriften sowie der Judasbrief und die Johannesoffenbarung nicht numeriert, was bedeutete, das sie als tendenziell »deuterokanonisch« gelten sollten. Vgl. J. Armbruster, Luthers Bibelvorreden. Studien zu ihrer Theologie, AGWB 5, Stuttgart 2005, vor allem 135–159. 127 Lührmann, Gal 2,9 (s. Anm. 125), 75–77. Vgl. zur Sache auch ders., Schriftprinzip und Lutherbibel, in: U. Andree / F. Miege / Chr. Schwöbel (Hg.), Leben und Kirche. FS Wilfried Härle, MThS 70, Marburg 2001, 43–50, vor allem 48–50. 128 Vgl. zur »Apokryphenfrage«N. Walter, »Bücher: so nicht der heiligen Schrifft gleich gehalten …«? Karlstadt, Luther – und die Folgen, in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. von W. Kraus und F. Wilk, WUNT 98, Tübingen 1997, 341–369. Zum Verhältnis von Kanonfrage und reformatorischem Schriftprinzip vgl. E. Mühlenberg., Scriptura non est autentica sine authoritate ecclesiae (Johannes Eck). Vorstellungen von der Entstehung des Kanons in der Kontroverse um das reformatorische Schriftprinzip, ZThK 97 (2000) 183–209. 129 Chr. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, WUNT 113, Tübingen 1999 untersucht in seinem umfangreichen Werk »die innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft erhobenen Wahrheitsansprüche« (3, Hervorhebung von mir), wozu aber auch gehöre, die im NT »im Medium der Sprache« erhobenen »weitreichende[n] Wahrheitsansprüche« zu erheben. »Die neutestamentliche Wissenschaft hat diese Wahrheitsansprüche zunächst als solche zu analysieren«, sie hat sie darüber hinaus aber »auch zu bewerten«, letzteres gemeint als »die in einer Wissenschaft unumgängliche logisch-semantische Beurteilung von Aussagen in deren sprachlichem Kontext«, nicht etwa im Sinne einer »ethisch-moralische[n] Auf- oder Abwertung« (ebd. mit Anm. 2; Hervorhebungen im Orig.).

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Der Verzicht auf ein theologisches Urteil wäre ein Schritt hinter Bultmann zurück130, und dieser Schritt sollte, wenn er denn gegangen wird, jedenfalls nicht als Fortschritt ausgegeben werden. Ein im strikten Sinne »dogmatisches« Verständnis des Neuen Testaments ist nicht möglich; der bloße Verweis auf die den neutestamentlichen Aussagen kirchlich zugesprochene Autorität genügt angesichts der Geschichtsbezogenheit dieser Aussagen nicht. Nun ist aber die Entdeckung dieser Geschichtsbezogenheit keineswegs eine »moderne«, womöglich von außen an die Texte herangetragene Perspektive; sie entspricht vielmehr offensichtlich dem eigenen Verständnis der Autoren dieser Texte. Keiner von ihnen hatte nämlich das Ziel, in seiner Schrift die womöglich »zeitlos« gültige Auslegung der christlichen Wahrheit auszusprechen.131 Das zeigt sich schon daran, dass in den neutestamentlichen Schriften die Form der unmittelbaren Gottesrede nicht begegnet132: Mit Ausnahme des Apokalyptikers Johannes, der seinen Adressaten schreibt, die Sendschreiben an die Ņččďĕęē der sieben kleinasiatischen Gemeinden seien ihm unmittelbar vom erhöhten Christus in die Feder diktiert worden, erklärt kein Autor die eigenen Aussagen für unmittelbar von Gott oder vom erhöhten Christus bzw. vom Geist Gottes »eingegeben«. Die Autoren der neutestamentlichen Schriften schrieben unter eigenem Namen133 oder jedenfalls unter dem Namen historischer Personen. Paulus erhebt in Gal 1,6–12 für das ihm ĎēdzŁĚęĔċĕƴĢďģĜŵđĝęȘ āěēĝĞęȘ vermittelte und von ihm verkündigte ďƉċččƬĕēęė einen Ausschließlichkeitsanspruch, und er spricht dann explizit von der Wahrheit dieses Evangeliums (2,5.14a; 5,7); aber er behauptet nicht, sein an die Christen in den galatischen Gemeinden gerichteter Brief gehe nicht auf ihn selber als Autor zurück.134 Diejenigen Autoren, die – wie die Evangelisten sowie der 130

Vgl. Landmesser, Wahrheit (s. die vorige Anm.), 197 f. zu Bultmanns »Betonung der Allgemeingültigkeit der Wahrheit des Glaubens« und zur damit verbundenen Ablehnung »jede[r] Form einer etwaigen doppelten Wahrheit« (197, Hervorhebung im Orig.). Es sei für das Verständnis von Bultmanns Wahrheitsvorstellung von Bedeutung, »daß er wesentliche Aspekte seines Wahrheitsbegriffs schon im Neuen Testament verankert sieht« (207). 131 Auch für die alttestamentlichen Prophetensprüche, die als unmittelbare Gottesrede erscheinen, gilt, dass sie nicht als »zeitlos« gültig aufgefaßt werden wollen. Durch ihre Verschriftung wurden sie zwar dem ursprünglichen Zeitbezug entnommen, aber die »Fortschreibung« etwa des Jesajabuches zeigt deutlich den Prozeß der jeweiligen Aktualisierung des ursprünglich Gesagten. 132 Eine gewisse Ausnahme ist die Ġģėƭ őĔ Ğȥė ęƉěċȥė in den Erzählungen von der Taufe Jesu durch Johannes; aber auch hier wird nicht explizit gesagt, dass Gott »spricht«. Zu nennen wäre darüber hinaus allenfalls noch Joh 12,28, wo die ĠģėƭőĔĞęȘęƉěċėęȘ eindeutig als Stimme Gottes zu denken ist, aber die Umstehenden identifizieren die Stimme als »Donner« oder als Rede eines ŅččďĕęĜ. 133 Das gilt jedenfalls für Paulus, möglicherweise auch für den »Johannes« der Apokalypse. 134 Vgl. R. Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther, hg. von E. Dinkler, KEK Sonderband, Göttingen 1976, 250 zu 2 Kor 13,8: ŁĕƮĒďēċ ist hier zu verstehen »als Wahr-

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Verfasser des Ersten Johannesbriefes und der Verfasser des Hebräerbriefes – anonym blieben, wollten den Adressaten jedenfalls nicht die Vorstellung vermitteln, Gott oder Christus oder der Heilige Geist sei als der eigentliche Textautor anzusehen.135 Bedeutet dies, dass die neutestamentlichen Schriften und ihre inhaltlichen Aussagen als »zeitbedingt«, als letztlich »zufällig« anzusehen sind? Dann wären sie in einer veränderten Situation letztlich ohne Bedeutung; sie könnten zwar als historisch und auch theologisch »interessant« betrachtet werden, doch eine theologisch normative Funktion käme ihnen nicht zu. Nun stand aber am Anfang dieser Überlegungen die Feststellung, Exegese solle verstanden werden als eine theologische Aufgabe; das bedeutet, dass der Bezug der neutestamentlichen Texte zur gegenwärtigen Kirche in der Auslegung jedenfalls mitbedacht wird. Die Kirche spricht in ihrer Verkündigung von Gott als von dem, der sich im Kreuz Jesu und in Jesu Auferweckung von den Toten geoffenbart hat136; ohne diese Glaubensaussage wäre die christliche Theologie sinnlos. Das Neue Testament ist der »Ur-Text« jener theologischen Deutungen, die mit diesem schon den neutestamentlichen Autoren selber vorgegebenen Christuszeugnis verbunden sind – »Ur-Text« sowohl in chronologisch-zeitlicher wie auch in sachlicher Hinsicht: Das Christuszeugnis hat sich zu allen Zeiten auf diesen »Ur-Text« zu beziehen und an ihm zu orientieren, ohne ihn jedoch einfach nachzusprechen.137 Die Autoren der neutestamentlichen Schriften beanspruchten in ihrer jeweils eigenen Zeit für ihre ursprünglichen Adressaten verbindlich von Gott bzw. von Christus zu reden. Sofern Exegetinnen und Exegeten dazu bereit sind, sich mit den Mitteln historischer Exegese theologisch auf die inhaltlichen Aussagen dieser Schriften einzulassen, verbindet sich damit zugleich die Bereitschaft, die in diesen Schriften erkennbare Struktur des heit, die Gott erkennen läßt, d.h. als das Evangelium im Gegensatz zu einem ŖĞďěęė ďƉċččƬĕēęė (11,4); vgl. Gal 5,7: ŁĕđĒďưǪĖƭĚďưĒďĝĒċē.« 135 E. Grässer, An die Hebräer. 1. Teilband. Hebr 1–6, EKK XVII/1, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1990, 16–18 nimmt an, dass der »paulinische« Briefschluß 13,22–25 nicht vom Autor des Hebr selber stammt; es sei »ein Postskript von fremder Hand, das dem frühchristlichen Schreiben paulinische Dignität sichern soll und – wie die Geschichte der Graduierung des Hebr zur kanonischen Schrift zeigt – tatsächlich auch gesichert hat« (18; vgl. Ders., An die Hebräer. 3. Teilband. Hebr 10,19–13,25, EKK XVII/3, Zürich und Neukirchen-Vluyn 1997, 409 f.). 136 Vgl. A. Lindemann, Auferstehung. Gedanken zur biblischen Überlieferung, Göttingen 2009. 137 »Ur-Text« heißt nicht, dass der neutestamentliche Kanon allein die ältesten christlichen, womöglich »apostolischen« Schriften umfaßt und dass alle außerkanonischen Schriften später entstanden sind. Aber es ist doch zu beachten, dass weder 1 Clem noch Did noch die Ignatianen beanspruchen, »apostolisch« zu sein. Insofern besteht durchaus ein auch theologisch bedeutsamer Unterschied zwischen den »Apostolischen Vätern« und den »apokryphen« Evangelien, Briefen und Apostelgeschichten.

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theologischen Redens – also insbesondere das Reden von Gott in seinem Bezug auf Kreuz und Auferstehung Jesu – grundsätzlich zu akzeptieren. Das aber bedeutet zugleich, dass die neutestamentlichen Texte ungeachtet ihrer Kanonizität der Sachkritik unterliegen; sie sind kritisch daraufhin zu befragen, ob bzw. inwieweit das in ihnen Gesagte wirklich auf das Reden von Gott in seinem Bezug auf Kreuz und Auferstehung Jesu ausgerichtet ist. Zwar kritisiert Michael Wolter die Praxis, nach einem »Kanon im Kanon« oder nach der »Mitte der Schrift« zu fragen; das damit verbundene Problem sei die »Abhängigkeit der Auswahlkriterien von individuellen theologischen Positionen, die von außen an die Texte herangetragen werden«, und so sei es »immer eine durch aktuelle theologische Entscheidungen gesteuerte Lektüre, die darüber entscheidet, welche Schriften zum Kanon im Kanon gerechnet werden und welche nicht, oder die den einzelnen Schriften eine Position in der Nähe oder Ferne der Mitte zuweist«. Er folgert, sowohl die Vielfalt der Schriften als auch die »Einheit des Neuen Testaments« kämen allein in der »Kanonizität des Neuen Testaments als solche[r]« angemessen zur Geltung.138 Aber die Frage nach dem »Kanon im Kanon« zielt ja nicht auf eine Textauswahl, und die Frage nach der »Mitte der Schrift« zielt nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner oder auf das aktuell vielleicht brauchbarste theologische Konzept. Gefragt wird vielmehr danach, wo innerhalb des Neuen Testaments der Glaube im Blick auf das Offenbarungsgeschehen, also im Blick auf Gottes Handeln in Kreuz und Auferstehung Jesu zur Sprache gebracht wird; diese Frage ist kein sachfremdes Kriterium. »Wahr« wären dann solche theologischen Aussagen, die in ihrer Sprach- und Denkstruktur diesem unüberholbar vorgegebenen Offenbarungsgeschehen entsprechen. Das ist in besonderer Weise in der Rechtfertigungstheologie des Paulus der Fall.139 Daraus folgt keineswegs, dass die Aussagen der paulinischen Rechtfertigungstheologie begrifflich übernommen werden müßten; wohl aber ist deutlich, dass die theologische Struktur des die Rechtfertigung des Gottlosen bezeugenden Redens des Paulus dem im Glauben bekannten Offenbarungsgeschehen von Passion 138

Wolter, Probleme (s. Anm. 6), 422–424. So E. Käsemann, in: Ders. (Hg.), Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion , Göttingen 1970, Zusammenfassung 399–410, hier: 404 f.: »Christologisch unverwechselbar und unvermeidbar sind allein solche Aussagen, welche Botschaft und Werk des Nazareners nicht überspringen und die Herrschaft des Gekreuzigten bezeugen. Sie sind umgekehrt ausreichend, um das, was Christum treibet, klar herauszustellen. Weil es sich so verhält, ist die Rechtfertigung des Gottlosen jene Mitte aller christlichen Verkündigung und darum ebenfalls der Schrift, auf welche unter keinen Umständen verzichtet werden darf.« Vgl. U. H. J. Körtner, Arbeit am Kanon. Der Beitrag Bultmanns und seiner Schüler zur Diskusson über die hermeneutische Bedeutung des biblischen Kanons, in: M. Bauspiess / Chr. Landmesser / F. Portenhauser (Hg.), Theolgie und Wirklichkeit. Diskussionen der Bultmann-Schule (Theologie interdisziplinär 12), Neukirchen-Vluyn 2011, 27–57. 139

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und Ostern entspricht.140 Texte, die eine von dieser Struktur abweichende Position aufweisen wie der Jakobusbrief oder etwa auch Teile der Bergpredigt, können infolgedessen beispielsweise in ihrer Soteriologie nicht in demselben Sinne »wahr« sein wie die paulinischen Aussagen zum selben Thema, auch wenn ihnen andererseits etwa für die Ethik ein hoher Wert zuzusprechen ist. Exegese, die sich als ein im eigentlichen Sinne des Wortes theologisches Unternehmen begreift, wird stets zu versuchen haben, im biblischen Text nicht nur ein Gegenüber zu sehen, sondern sie wird sich selber in den Prozeß der Auslegung des Bekenntnisses, wie er in den Schriften des Neuen Testaments erkennbar wird, hineinzufinden und an diesem Prozeß teilzunehmen versuchen. Das aber bedeutet, dass die Exegese stets eine prinzipiell unabgeschlossene theologische Aufgabe bleibt.

140 Vgl. dazu vor allem die Studien von M. Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theologische Erkundungen, Tübingen 1998.

Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozialismus: Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg Hans Conzelmann zum Gedächtnis*

In einer im Jahre 1940 in der Emigration in den USA verfaßten autobiographischen Skizze berichtet der Philosoph Karl Löwith von den Reaktionen in der Marburger Theologischen Fakultät auf die Ereignisse des Jahres 1933. Anfangs habe man dort dem Nationalsozialismus kritisch gegenübergestanden; dann aber habe sich die Linie geändert: »Ein Teil ging zu den ›deutschen Christen‹, ein anderer lavierte mit Kompromissen, nur Bultmann und v. Soden blieben fest und hielten sich zur Bekennenden Kirche«.1 Löwith erinnert sich, dass er am letzten Abend vor seiner erzwungenen Abreise aus Marburg von Rudolf Bultmann in dessen Haus eingeladen worden war – der evangelische Theologe als »der einzige Gastgeber eines hinausgeworfenen Juden, der in seinen Vorlesungen den Studenten der Theologie den Verfall des Christentums dargestellt hatte«.2 Auch Hans Jonas, ebenfalls Philosoph und ebenfalls Jude, berichtet, Bultmann sei der einzige gewesen, von dem er sich im Sommer 1933 verabschiedet habe.3 Die Beziehung dieser beiden Wissenschaftler war besonders eng. 1934, als Jonas sich längst im Ausland befand, drohte Bultmann mit seinem Rücktritt als Herausgeber der »Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments«, * Meinem Lehrer Hans Conzelmann (27.10.1915–20.6.1989), der in den Jahren 1936/37 in Marburg studierte, verdanke ich wichtige mündliche Hinweise aus seiner Erinnerung. – Quellen für den folgenden Aufsatz sind Bultmanns und von Sodens veröffentlichte Arbeiten aus den Jahren 1933 bis 1945 sowie inzwischen publizierte Briefe und andere Dokumente aus jener Zeit. 1 K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht (1940). Mit einem Vorwort von R. Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith, Stuttgart 1986, 81. 2 Löwith, Mein Leben (s. die vorige Anm.), 81. 3 H. Jonas, Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens, in: O. Kaiser (Hg.), Gedenken an Rudolf Bultmann, 1977, 44: »Wie der einzige, von dem ich mich verabschiedete, war er auch der erste, den ich genau zwölf Jahre später im verwüsteten Deutschland wieder aufsuchte, nachdem wir viele Jahre nichts voneinander gehört hatten.« Vgl. Ders., Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, Frankfurt am Main und Leipzig 2003, 234–240.

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falls sich der Verlag weigern sollte, Jonas’ Buch »Gnosis und spätantiker Geist« zu publizieren.4

I. Die eingangs zitierten persönlichen Erinnerungen von zwei jüngeren Kollegen Bultmanns stehen nicht aus Sentimentalität am Anfang dieser Untersuchung. Sie sollen vielmehr zeigen, dass die im folgenden darzustellende theologische und kirchenpolitische Arbeit sowohl bei Bultmann als auch bei Hans von Soden nicht von ihrer Person zu trennen ist. Die öffentliche Wirksamkeit Bultmanns und von Sodens in dem sich selbst so bezeichnenden »Dritten Reich« beginnt zu Anfang des Sommersemesters 1933. Für ihr Verständnis von Wissenschaft war es höchst ungewöhnlich und insofern für die damaligen Hörer bedeutsam und wahrscheinlich überraschend, dass Bultmann und ebenso von Soden ihre Vorlesungen mit grundsätzlichen Erklärungen zur Lage eröffneten. Bultmanns am 2. Mai abgegebene Erklärung wurde im Juni in den »Theologischen Blättern« abgedruckt5, von Sodens zwei Tage später vorgetragene Ausführungen lagen damals als Manuskript vor und wurden erst sehr viel später allgemein zugänglich.6 Damit man die besondere Akzentuierung dieser Erklärungen richtig einordnen kann, muß man den zeitgeschichtlichen Kontext beachten: Es gab im Frühjahr und Sommer 1933 eine Fülle von »freudigen«, ja z. T. geradezu begeisterten Begrüßungen der nationalsozialistischen Regierung durch Kirchen oder kirchliche Verbände unterschiedlichster Art. Im »Loccumer Manifest« vom 20. Mai, der Kundgebung des Dreimännerkollegiums und des Wehrkreispfarrers Ludwig Müller »zur Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche«, hieß es zu Beginn: »Unser heißgeliebtes deutsches Vaterland hat durch Gottes Fügung eine gewaltige Erhebung erlebt. In dieser Wende der Geschichte hören wir als evangelische Christen im Glauben den Ruf Gottes zur Einkehr und Umkehr, den Ruf auch zu einer einigen Deutschen 4

Jonas, Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens (s. die vorige Anm.), 43. Jonas schildert, wie er als britischer Soldat 1945 Bultmann in Marburg besuchte und dieser angesichts eines Buches, das er eingepackt unter dem Arm hielt, fragte: »Darf ich hoffen, daß dies der zweite Band der Gnosis ist?« (Erinnerungen, 236) 5 R. Bultmann, Die Aufgabe der Theologie in der gegenwärtigen Situation, ThBl 12 (1933) 161–166; wieder abgedruckt in: R. Bultmann, Neues Testament und christliche Existenz, UTB 2316, Tübingen 2002, 172–180. 6 H. von Soden, Erklärung in der Vorlesung. 4. Mai 1933, in: E. Dinkler/E. Dinklervon Schubert / M. Wolter (Hg.), Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933–1945, Göttingen 1984, 37–43. Dieser Band wird im folgenden zitiert als: Theologie und Kirche.

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Evangelischen Kirche.«7 Die »drei Männer« neben dem deutschchristlichen Pfarrer und späteren Reichsbischof Ludwig Müller waren immerhin der Präsident des Oberkirchenrats der altpreußischen Kirche Hermann Kapler, der hannoversche Landesbischof August Marahrens und der Moderator des Reformierten Bundes, Pastor Hermann Albert Hesse.8 Die Erklärung des (Gnadauer) »Verbandes für Gemeinschaftspflege und Evangelisation« begann mit den Worten: »Liebe Brüder! Gottes hohe Hand hat durch den nationalen Aufbruch gewaltig in unser Volk eingegriffen. Durch den Sturmwind der nationalen Bewegung hat er es von den glaubens- und vaterlandslosen Strömungen losgerissen und zurückgeführt zu den gottgegebenen Grundlagen in Ehe, Familie, Volk und Staat.« Und dann weiter: »Dankbar anbetend stehen wir vor der Tat der großen Hand Gottes, aber auch in tiefer Beugung, daß wir unserm Volk in der vergangenen Zeit nicht kraftvoller und überzeugender durch Wort und Wandel das Evangelium nahegebracht haben.«9 Demgegenüber mahnte Rudolf Bultmann die Studierenden zur Skepsis und zur kritischen Beobachtung der Entwicklung: »Wir haben hier die Ereignisse einfach daraufhin anzusehen, daß in ihnen große Möglichkeiten für die Zukunft gegeben sind, und uns zu fragen, welche Verantwortung wir gerade als Theologen angesichts dieser Möglichkeiten haben.« Bultmann zitiert den ihm sehr wichtigen Paulustext des »haben als hätte man nicht« (1 Kor 7,29–31), und er fährt dann fort: »Das bedeutet nicht, daß der Glaube ein negatives Verhältnis zur Welt habe, sondern daß das positive Verhältnis, das er zu ihr und ihren Ordnungen hat, ein kritisches ist. Denn der Glaube weiß, daß Gott der Schöpfer auch der Richter der Welt ist.« Bultmann bezieht die kritische Kraft des Glaubens dann insbesondere auch auf den Gedanken des »Volkstums« als »Schöpfungsordnung«: Es müsse die Besinnung lebendig bleiben, »daß das Volkstum zweideutig ist, und daß gerade um des Gehorsams unter das Volkstum als einer Schöpfungsordnung willen, die Frage lebendig bleiben muß, was echte Forderung des Volkstums ist, und was nicht.«. »Jeder Staat und jedes Volkstum«, so sagt Bultmann, »enthält wie die Möglichkeiten und Aufgaben zum Guten und Schönen, so auch die Versuchungen zum Bösen und Gemeinen.«10 7

G. van Norden, Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Göttingen 1979, 78 f. Van Norden bietet zahlreiche Dokumente, darunter auch die im folgenden zitierten Texte. 8 Vgl. dazu S. Lekebusch, Die Reformierten im Kirchenkampf. Das Ringen des Reformierten Bundes, des Coetus reformierter Prediger und der reformierten Landeskirche Hannover um den reformierten Weg in der Reichskirche, Köln 1994, 38–49. Vgl. zu diesem Buch meine Rez. in: JWKG 90 (1996) 313–317. 9 Zitiert nach van Norden, Protestantismus (s. Anm. 7), 72. 10 Bultmann, Aufgabe der Theologie (s. Anm. 5), 176.

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Der betonte Hinweis auf die grundsätzliche Zweideutigkeit geschichtlicher Ereignisse findet sich auch in späteren Jahren bei Bultmann immer wieder. So stellt er in seiner Predigt über die Aropagrede (Apg 17,22–32) am 7. Juni 1936 die Frage, ob denn das Erschrecken über die Erfahrungen des Weltkrieges so schnell in Vergessenheit geraten sei: »Wieder hören wir feiernde Worte über das, was Wille und Kraft in den letzten Jahren schufen, und stolze Worte angesichts der Aufgaben, die noch zu bewältigen sind. Gut und schön! Aber ist der Mensch heute nicht mehr bedroht von den finsteren Mächten des Bösen in seinem eigenen Inneren? … Muß uns nicht ein Grauen ankommen, wenn in den Worten des Stolzes und der Freude das Wissen um das Unheimliche des Bösen ganz vergessen wird?« Bultmann spricht dann von den Greueln, die sich gegenwärtig, d.h. in der Zeit der Stalinschen »Säuberungen«, in der Sowjetunion ereignen und die viele Menschen die Frage stellen lassen, wie denn Gott solches zulassen könne. Das sei verständlich; aber, so fährt Bultmann fort, »hat sich jeder Leser [sc. solcher Nachrichten] auch im eigenen Gewissen treffen lassen? Oder ist es für ihn so selbstverständlich, daß er sich nicht solcher Greuel schuldig machen kann, – daß ihm gar nicht der Gedanke, die Frage kommt, ob nicht jeder, der am Bösen teilhat, mitverantwortlich ist für das, was die Macht des Bösen auf Erden ausrichtet?«11

In seiner Vorlesung am 2. Mai 1933 verweist Bultmann unter ausdrücklicher Berufung auf Worte Hitlers auf Geschehnisse und Tendenzen, die zu Hitlers Erklärungen im Widerspruch stünden. Er nennt Hitlers Aussage, dass Andersdenkende nicht unterdrückt, sondern gewonnen werden sollten. Im Widerspruch dazu stehe aber die zu beobachtende Diffamierung der Gegner: »Ich muß als Christ das Unrecht beklagen, das gerade auch den deutschen Juden durch solche Diffamierung angetan wird.« Bultmann bezieht sich dabei auf Aussagen in einer unter dem Motto »Wir wollen die Lüge ausmerzen« kurz zuvor veröffentlichten »Kundgebung« der deutschen Studentenschaft. In offensichtlich bewußter Anknüpfung an den Jargon der Zeit sagt Bultmann dazu an die Studentinnen und Studenten gewandt: »Halten Sie den Kampf für das deutsche Volkstum rein und sorgen Sie dafür, daß edles Wollen für Wahrheit und Deutschtum nicht durch dämonische Verzerrung entstellt wird!« Abschließend warnt er eindringlich vor einer Vermengung von christlichem Glauben und völkischer Religiosität: »Es gilt: Entweder – Oder.«12 Damit ist festgelegt, was für Bultmanns Handeln im Kirchenkampf und überhaupt für sein theologisches Denken entscheidend wichtig ist: Die Unterscheidung von christlichem Bekenntnis auf der einen Seite und aktueller Weltanschauung, welcher Provenienz auch immer, auf der anderen Seite. Wie schwierig es war, gerade in der ersten Zeit des NS-Herrschaft auf die Entwicklung zu reagieren, zeigt die Predigt des Marburger Pfarrers Hans Schimmelpfeng am soeben zum staatlichen Feiertag erhobenen 1. Mai. In der Predigt zu Gal 6,2 wird 11 12

R. Bultmann, Marburger Predigten, Tübingen 1956, 9 f. Bultmann, Aufgabe (s. Anm. 5), 180.

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zunächst dankbar vermerkt: »Noch vor kurzer Zeit riß derselbe Tag tiefe Abgründe auf und zog scharfe Trennungsstriche mitten durch unser deutsches Volk. Zum ersten Mal geschiehts heute, daß die Fahne zersetzenden und scheidenden Klassenkampfes eingerollt ist, der Maientag aller Stände und Stämme alle Arbeiter von Hand und Hirn zusammenfügt zum Tag der Arbeit.« Die weitere Predigt nimmt dann aber auf die unmittelbare Gegenwart kaum Bezug, sondern ist ein Lob der (»selbstlosen«) Arbeit. Gegen Ende steht der Aufruf, die Erde fruchtbar zu machen; er ist verbunden mit der Feststellung, dass die Ernte nur gelingen kann, »so wir vorher unsere Ichsucht und Selbstliebe im Gottesdienst gezwungen und uns ins Joch, unter die Zucht des allmächtigen, alleinigen göttlichen Herrn gegeben haben. Denn Arbeiten ist Beten und Religion ist Bindung, Unterwerfung unseres Willens unter Gott den Herrn, der uns in Christo, dem gestorbenen, niedergefahrenen, auferstandenen Heiland die Sünde vergibt und den Fluchacker heiligt.«13

Hans von Soden beginnt am 4. Mai seine Vorlesung über Reformationsgeschichte ebenfalls mit einer Erklärung zur Lage. Er knüpft zunächst an den damals offenbar verbreiteten Gedanken an, dass aus der »nationalen Revolution« eine wirkliche »Reformation« werden könne und solle. Aber »es wäre schlimm, wenn es aus dieser Revolution nicht zu einer Reformation käme, es wäre sehr schlimm, wenn so große Anstrengungen, so schwere Opfer vergeblich blieben. Zum Geschehenen gibt es keine Neutralität, sondern nur die Verpflichtung, tätig zu wirken, daß es gut ausgehe.« Auch von Soden kritisiert die oben erwähnte »Kundgebung der deutschen Studentenschaft«: Es gehe nicht an, dass man sein eigenes Deutschtum dadurch unter Beweis stellen will, »daß man anderen das Recht, sich zum Deutschtum zu bekennen, und gar das Recht, deutsch zu sprechen und zu schreiben, abspricht«14 Das bezieht sich offensichtlich auf die in jener Erklärung u.a. erhobene Forderung, Juden hätten ihre Bücher in hebräischer Sprache abzufassen oder diese zumindest als »Übersetzung« zu kennzeichnen. »Das in unserem Volk lebende Judentum«, so sagt von Soden, sei zwar »ein ernstes Problem«, und die damit verbundenen »Schwierigkeiten« hätten sich »in der Entwicklung der letzten Jahre zum Teil empfindlich zugespitzt«. Aber »mit Gewalt ist das Problem nicht zu lösen, und durch Unrecht wird es nur unendlich verschärft«. Jedenfalls beweise man das eigene Deutschtum »nicht durch Kränkung von Menschen anderer rassischer Herkunft und anderen – tragischen – Schicksals, die ihre Geschichte zu Bürgern unseres Staates und Genossen unserer Kultur gemacht hat, nicht durch Verfolgung von Menschen dafür, was sie sind, ohne Unterschied dessen, was sie tun«.15 13 H. Schimmelpfeng, Arbeit: Dienst am Volk, Dienst an Gott, in: J.-Chr. Kaiser / A. Lippmann / M. Schindel (Hg.), Marburger Theologie im Nationalsozialismus. Texte zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Dritten Reich, Neukirchen-Vluyn 1998, 25–28. 14 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 38. 15 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 39.

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Von Soden schließt die Feststellung an, man dürfe »keine Politisierung der deutschen Hochschulen zulassen, die der an ihnen hochgehaltenen Wahrheitsforschung Schranken eines zeit- oder parteipolitischen Dogmas auferlegt«.16 Hier wird ein Aspekt sichtbar, der für von Soden und ebenso – auch in der Zeit nach 1945 – für Bultmanns Wissenschaftsverständnis kennzeichnend ist: Politisierung von Wissenschaft in dem Sinne, dass sich die Wissenschaft einem Primat politischer Erfordernisse unterwirft, ist in jedem Fall abzulehnen  – und zwar unabhängig davon, um welche politische Richtung es sich jeweils handeln mag. Hier zeigt sich das liberale Wissenschaftsideal, durch das beide bestimmt waren.17 Hans von Soden und Rudolf Bultmann kamen aus der Tradition liberaler Theologie. Von Soden, Jahrgang 1881, war Schüler Adolf von Harnacks gewesen18; Bultmann, 1884 geboren, hatte bei Johannes Weiß und Wilhelm Herrmann studiert.19 Bultmann hatte sich dann seit Beginn der 1920er Jahre von manchen theologischen Implikationen der liberalen Theologie distanziert20, und er gehörte zum Kreis um die Zeitschrift »Zwischen den Zeiten«; freilich war er kein »Barthianer«, was die Beziehungen zwischen ihm und Karl Barth alsbald zunehmend belastete. Hans von Soden hatte seit 1924 in Marburg einen Lehrstuhl für Neues Testament und Kirchengeschichte inne; im Vordergrund seiner wissenschaftlichen Arbeit standen die Textgeschichte des Neuen Testaments sowie Probleme der Geschichte des Urchristentums und der Alten Kirche. Bultmann, seit 1921 Professor für Neues Testament in Marburg, war vor allem durch seine 1922 erschienene »Geschichte der synoptischen Tradition«21 und durch sein 1926 erstmals publiziertes und dann immer wieder aufgelegtes Buch über Jesus hervorgetreten22, daneben 16 17

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Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 41. Vgl. dazu K. Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, 464–

18 S. dazu E. Dinkler, Einleitung. Hans Freiherr von Soden (1881–1945), in: Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 15–35. 19 Zur vita Bultmanns vom Beginn des Studiums bis zur Berufung nach Breslau 1916 s. M. Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, BHTh 74, Tübingen 1988, 22–62; Hammann, Rudolf Bultmann (s. Anm. 17), 17–79. 20 Vgl. vor allem R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), in: Ders., Glauben und Verstehen. Ges. Aufsätze I, Tübingen 1933, 8 1980, 1–25. 21 R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 1922. Die zweite Auflage erschien erheblich erweitert 1931, zuletzt mit Beiheft 91979. In der 10. Auflage 1995 wurde das Beiheft durch ein Nachwort von G. Theißen zur Erforschung der synoptischen Tradition seit Bultmann ersetzt. 22 Vgl. dazu die Beiträge in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 22006. Zur komplizierten Editionsgeschichte vor allem W. Schmithals, Jesus verkündigt das Evangelium. Bultmanns Jesus-Buch, aaO., 23–60.

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aber auch durch Aufsätze, die schon etwas von der späteren Debatte um das hermeneutische Problem in der neutestamentlichen Exegese erkennen lassen. Die meisten dieser Aufsätze erschienen dann in einem Sammelband unter dem charakteristischen Titel »Glauben und Verstehen«23, der mit Hans von Soden abgesprochen worden war.24 Weder Bultmann noch von Soden waren bis 1933 in größerem Umfang kirchenpolitisch tätig gewesen25; sie waren aber während der Zeit der Weimarer Republik zumindest zeitweise politisch aktiv, von Soden bei der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), der Partei Gustav Stresemanns, Bultmann zunächst 1918/19 im Umfeld der eher linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), dann offenbar bei der SPD, wenn auch ohne formell Mitglied zu sein.26 Im eigentlichen Sinne »politisch« waren beide nicht. Es war ihr Verantwortungsbewußtsein als Wissenschaftler, das sie veranlaßte, im Sommer 1933 im akademischen Hörsaal zur politischen und zur kirchlichen Lage kritisch Stellung zu beziehen. Aus der Sicht der späteren historischen Entwicklung mögen ihre Worte vorsichtig abwägend wirken; aber sie stehen jedenfalls in deutlichem Widerspruch zur allgemeinen Tendenz der Zeit. Man braucht sich nur vorzustellen, was 23 Der Band sollte möglicherweise noch Ende Dezember 1932 erscheinen; denn am 14.12.1932 schreibt Bultmann an Martin Heidegger, er werde ihm den ihm gewidmeten Band zu Weihnachten schicken; Rudolf Bultmann / Martin Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, hg. von A. Grossmann und Chr. Landmesser, Frankfurt / M. und Tübingen 2009, 185. Die eher systematischen Aufsätze, so schreibt Bultmann, zielen »auf die Grundfrage …, welches Verstehen im Glauben gegeben ist (und damit zugleich, welches die dem Glauben angemessene Weise zu reden ist)«, während die eher exegetischen Beiträge »nach dem Verstehen des im Neuen Testament gegebenen Kerygmas und Glaubens fragen« (ebd.). 24 So Bultmanns briefliche Mitteilung unter dem 13.12.1932 an den Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen. »Als Titel meiner gesammelten Aufsätze schlage ich nach wiederholten Beratungen mit Herrn v. Soden vor: Glauben und Verstehen [im Original unterstrichen]. Eine andere Formulierung, die knapp zum Ausdruck brächte, daß es sich in den Aufsätzen einerseits um die Frage handelt, was eigentlich als der Sinn des christlichen Glaubens zu bestimmen sei, und andrerseits um die Frage, wie die Texte, in denen sich der Glaube ausspricht, also vor allem das Neue Testament, zu verstehen seien, fanden wir nicht. Der vorgeschlagene Titel ist für den, der außerhalb der gegenwärtigen theologischen Diskussion steht, zwar nicht eindeutig; aber das wird wohl kein Schade sein.« Herrn Verleger Dr. h.c. Georg Siebeck danke ich an dieser Stelle herzlich für die Einsichtnahme in den diesen Aufsatzband Bultmanns betreffenden Briefwechsel. Zu dem Aufsatzband vgl. jetzt Hammann, Rudolf Bultmann (s. Anm. 17), 217–227. 25 Von Soden war als Professor Synodaler in der Kirche der altpreußischen Union und später in Kurhessen. 26 Zur Parteizugehörigkeit von Sodens s. dessen Autobiographische Skizze von 1945 (in: Theologie und Kirche [s. Anm. 6], 379): »Da der Anschluß an eine Partei im parlamentarischen System mir Pflicht zu sein schien, wurde ich Mitglied der ›Deutschen Volkspartei‹«. – Zur politischen Tätigkeit Bultmanns nach 1918 s. Evang, Bultmann in seiner Frühzeit (s. Anm. 19), 75–78 und Hammann, Rudolf Bultmann (s. Anm. 17), 97 mit Anm. 87.

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wohl geschehen wäre, wenn überall in deutschen Hochschulen, Schulen und Kirchen so oder ähnlich gesprochen worden wäre. Friedrich Gogarten, bis 1932/1933 mit Bultmann theologisch eng verbunden, verfaßte im Juni 1933 eine Denkschrift zum Verhältnis von Staat und Kirche, die sich an die Teilnehmer der Beratungen über eine neue Kirchenverfassung richtete. Sie beginnt mit der Aussage, »durch die nationale Erhebung« sei »das deutsche Volk in eine neue Wirklichkeit gestellt worden«. Der »neue Staat« beanspruche den Menschen »in seiner Totalität«, und das Schicksal des deutschen Volkes werde sich »daran entscheiden, ob alle Volksgenossen unter Verzicht auf die individualistische Sicherung in ihrer privaten Existenz dem Ruf dieses Staates folgen«. Aus der Sicht des Glaubens sei zu sagen, »daß in diesem staatlichen und volklichen Anspruch dem Menschen das Gesetz Gottes begegnet, durch das er seine irdische Existenz erhält«. Die Kirche verkündige den ewigen Anspruch Gottes auf den Menschen; damit mache sie zugleich »auch die staatliche Hoheit und Gewalt als in Gottes Willen begründet offenbar«. Zugleich erkenne sie an, »daß der Staat seine Hoheit aus sich selbst hat«, doch werde »diese Hoheit und der aus ihr fließende Anspruch der Staatsgewalt auf die irdische Existenz des Menschen beschränkt«.27 Zu den Unterzeichnern der Denkschrift gehörten ausweislich des Typoskripts u.a. W. Elert und J. Schniewind, und Gogarten bat auch Bultmann um dessen Unterschrift. Dieser antwortete, Gogarten habe ihn »in einer sehr schwere Situation gebracht«; er könne einerseits den Grundgedanken zustimmen, fürchte aber andererseits eine Stärkung derer, »die die Kirche zu einem Instrument des Staates machen wollen, d.h. zu einer Institution, die die Weltanschauung lehrt, in der der Staat sich gegründet weiß, und die er propagieren will«. Der Staat wolle sein Gesetz als das Gesetz Gottes ausgeben, während er tatsächlich solche Aussagen »in einem nicht-christlichen Sinne interpretiert« und so seinen »Totalitätsanspruch« deutet. Bultmann verweigert seine Unterschrift und bittet Gogarten dringend, auf die Absendung der Denkschrift zu verzichten; notwendig sei eine Denkschrift, »die gegen den Totalitätsanspruch eines Staates protestiert, der nicht nur über die politische, sondern auch über die glaubende Existenz verfügen will«.28 Offenbar wurde die Denkschrift nicht gedruckt und fand keine weitere Verbreitung.29 Offenbar führte der Vorgang zu einer längeren Verstimmung zwischen Bultmann und Gogarten; Bultmanns nächster Brief datiert erst vom 18. April 1937, und er bedankt sich freundlich für Gogartens Buch »Gericht oder Skepsis«, bringt dann aber nachdrücklich sein Unverständnis für Gogartens kirchenpolitische Haltung zum Ausdruck: »Die Gleichsetzung des Volksnomos mit dem Gesetz Gottes erscheint mir als unmöglich.«30

27

H. G. Göckeritz (Hg.), Rudolf Bultmann – Friedrich Gogarten. Briefwechsel 1921– 1967, Tübingen 2002, Anhang Nr 10, 300–302. 28 Bultmann am 26.6.1933 an Gogarten (in: Bultmann / Gogarten, Briefwechsel (s. die vorige Anm.), 209 f. Bultmann formuliert das oben Referierte zunächst in Form von rhetorischen Fragen. 29 So Göckeritz, Bultmann / Gogarten Briefwechsel (s. Anm. 27), 210 Anm. 6. 30 Bultmann / Gogarten, Briefwechsel (s. Anm. 27), 211–213.

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II. Schon kurze Zeit nach dem Mai 1933 gingen Bultmann und von Soden aus dem Hörsaal in die Öffentlichkeit, soweit eine solche zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch existierte. Anlaß war das von der Generalsynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union am 6. September 1933 beschlossene Kirchengesetz, das den sog. »Arierparagraphen« der seit April geltenden staatlichen Beamtengesetzgebung31 in den kirchlichen Raum übernahm. »Nichtarier«, also konkret: Christen jüdischer Herkunft, durften nicht mehr Pfarrer oder Kirchenbeamte sein, und das gleiche galt für mit »Nichtariern« Verheiratete. Der Landeskirchentag der kurhessischen Kirche richtete daraufhin an die theologischen Fakultäten in Marburg und in Erlangen die Anfrage, ob diese Bestimmungen dem Bekenntnis der Kirche gemäß seien oder nicht. Die Adressaten der Anfrage waren offenbar nicht zufällig gewählt worden  – jedenfalls fielen die Antworten unterschiedlich aus.32 Die Marburger Fakultät billigte am 19. September einstimmig ein von ihrem Dekan Hans von Soden erarbeitetes Gutachten, in dem die Unvereinbarkeit des Arierparagraphen mit dem Bekenntnis der Kirche festgestellt wurde. Eingeleitet wurde dieses Gutachten mit der These, die Kirche könne von vornherein nicht dazu verpflichtet sein, staatlich geltende Rechtsnormen zu übernehmen; der Auftrag der Kirche sei nicht politisch, sondern könne »gegebenenfalls auch zu kritischen Stellungnahmen gegenüber Vorgängen im staatlichen und kirchlichen Leben … verpflichten« (11). Zum konkreten Thema »Arierparagraph« heißt es dann, innerhalb der Kirche sei eine Berufung auf Rasse oder Volkstum als »Schöpfungsordnungen« nicht möglich, denn Völker und Rassen seien in der Kirche ja gerade zusammengeschlossen worden (13). Insbesondere eine Sonderstellung der Judenchristen komme nicht in Betracht: »Es ist unbestreitbar, daß Gott sein Wort in der Welt 31

Der entscheidende Gesetzespassus über den »Arierparagraphen« hatte folgenden Wortlaut: »Wer nicht arischer Abstammung oder mit einer Person nicht arischer Abstammung verheiratet ist, darf nicht als Geistlicher oder Beamter der allgemeinen kirchlichen Verwaltung berufen werden. Geistliche oder Beamte arischer Abstammung, die mit einer Person nichtarischer Abstammung die Ehe eingehen, sind zu entlassen. Wer als Person nichtarischer Abstammung zu gelten hat, bestimmt sich nach den Vorschriften der Reichsgesetze … Geistliche oder Beamte, die nichtarischer Abstammung oder mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.« 32 Zum folgenden s. H. Liebing (Hg.), Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche. Eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934, Marburg 1977. Die Seitenangaben oben im Text beziehen sich auf dieses Buch, das auch die anderen Stellungnahmen und Gutachten von Fakultäten und Hochschullehrern dokumentiert. Das Marburger Gutachten ist auch abgedruckt bei van Norden, Protestantismus (s. Anm. 7), 363–367, sowie in: Kaiser / Lippmann / Schindel (Hg.), Marburger Theologie im Nationalsozialismus (s. Anm. 13), 35–41.

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nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament durch Juden verkündigt und seinen Sohn aus den Juden erwählt hat.« Es sei überdies eine »pharisäische Verirrung«33, Jesu Kreuzigung dem jüdischen Volk als ganzem zur Last zu legen (14). Das wenige Tage später, am 25.9.1933, von der Erlanger Theologischen Fakultät verabschiedete Gutachten, das die Dogmatiker Paul Althaus und Werner Elert verfaßt hatten, geht ebenfalls von der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Menschen unterschiedlicher »Rassen« in der Kirche aus. Dann aber wird festgestellt, die Amtsträger einer Kirche sollten dem gleichen »Volkstum« angehören wie die übrigen Kirchenglieder; und da das deutsche Volk die Juden »heute« als fremdes Volkstum empfinde, sollten Judenchristen geistliche Ämter nur in Ausnahmefällen übernehmen dürfen (22 f.). Immerhin vermochte der Neutestamentler Hermann Strathmann dem so nicht zuzustimmen34; aber auch er trat dafür ein, dass sich Judenchristen bei der Erstrebung kirchlicher Ämter »größte Zurückhaltung« auferlegen sollten (27). Zwischen Mitte September und Anfang Oktober unterzeichneten 21 Neutestamentler, unter ihnen auch der Betheler Dozent Wilhelm Brandt, eine vor allem von Bultmann und von Soden verfaßte Erklärung unter dem Titel »Neues Testament und Rassenfrage«.35 Dort hieß es, Kirche sei immer Kirche aus Juden und Heiden und darum seien Juden wie Heiden gleichermaßen für alle kirchlichen Ämter geeignet; irgendwelche biologischen Unterschiede seien bedeutungslos, was sich analog ja schon daran zeige, »daß der Gedanke nie aufkommen kann, etwa gesonderte Gemeinden einzurichten, die nur aus Frauen bestehen und von Frauen geleitet werden«. Dieser Vergleich war gewiß in mehrfacher Hinsicht etwas naiv, zeigt aber die aktuelle Bedeutung der von Paulus in Gal 3,28 getroffenen Feststellung: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, nicht männlich und weiblich«.36 33

Zur Verwendung des Begriffs »Pharisäismus« s.u. H. Strathmann, Kann die evangelische Kirche Personen nichtarischer Abstammung weiter in ihren Ämtern tragen? ThBl 12 (1933) 324–327 (= Liebing, Die Marburger Theologen [s. Anm. 32], 24–27). 35 Text bei van Norden, Protestantismus (s. Anm. 7), 367–370. 36 Zum Marburger Gutachten und zur Neutestamentler-Erklärung vgl. V. Lubinetzki, Von der Knechtsgestalt des Neuen Testaments. Beobachtungen zu seiner Verwendung und Auslegung in Deutschland vor dem sowie im Kontext des »Dritten Reichs«, Münster 2000, 239–241 und 242–244. Er merkt kritisch an, dass die »Nicht-Arier« außerhalb der Kirche nicht in den Blick kommen und dass »der Judenchrist als Christ von jeglicher Verbindung mit dem Judentum abgeschnitten« wird (241). Es werde nicht gesehen, »daß die Frage der Judenchristen an die umfassendere Frage nach dem Verhältnis von Israel und Kirche angrenzt«; Röm 9–11 komme kaum in den Blick (243). Vgl. zu dem Buch meine Rez. in: ThR 68 (2003) 260–262. 34

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Kennzeichnend für das geistige Klima der Zeit war die Tatsache, dass Karl Heim in Tübingen sowie Alfred Juncker und Julius Schniewind in Königsberg ihre Unterschriften zurückzogen, als sie erfuhren, dass Werner Georg Kümmel von Zürich aus sich darum bemühte, auch ausländische Neutestamentler für eine Unterschrift unter diese Erklärung zu gewinnen.37

Über das Marburger Gutachten und über die Neutestamentler-Erklärung kam es zu einer Kontroverse zwischen Bultmann und dem Göttinger Systematiker Georg Wobbermin. Dieser hatte in einem Aufsatz im Deutschen Pfarrerblatt38 erklärt, die Position der altpreußischen Landeskirche sei sachgemäß, die sie verwerfenden Gutachten der Marburger Fakultät und der Neutestamentler seien dagegen »als voreilig und irreführend abzulehnen«: Zum einen habe die Kirche ja nur die staatliche Gesetzgebung übernommen, zum andern sei zu betonen, »daß die Judenfrage … ausschließlich  – oder jedenfalls in erster Linie und in durchaus ausschlaggebender Weise Rassenfrage ist« (im Orig. kursiv). Es liege eine »Notlage« vor, die zwar als schmerzlich empfunden werden könne; aber wenn die Kirche den staatlichen Vorgaben nicht folgen würde, so würde sie »die Einheitlichkeit des deutschen Geisteslebens gefährden, die sicherzustellen gegenwärtig so überaus wichtig ist, und zwar durchaus auch für die evangelische Kirche«. Bultmann antwortete darauf39 und gab dabei seiner Position zunehmend schärfere Konturen: Da die Predigt des Evangeliums »immer an das Volk, nie aus dem Volk« ergehe und da »nicht alle Sitten und Ordnungen eines Volkes … innerhalb der Kirche tragbar« seien, komme es überhaupt nicht in Betracht, staatliche Regelungen quasi unbesehen zu übernehmen.40 Eine Ordnung, wie sie der Arierparagraph verlangt, »widerspricht der Wahrheit der Kirche Christi«; die Kirche kenne »Juden nur in dem Sinne der Konfession, d.h. Juden sind für sie nur die Juden, die in Jesus nicht den Christus Gottes anerkennen, Judenchristen sind für sie einfach Christen«. Durch den Arierparagraphen sei »in der Kirche das Volksbewußtsein über das Kirchenbewußtsein Herr geworden«, doch die Kirche dürfe »nichts von ihrer Verkündigung preisgeben, die auch das Volksbewußtsein unter die Kritik des Wortes Gottes stellt«. Und, so fährt Bultmann fort, wenn sich das Volksbewußtsein gegen diese Kritik auflehnt, »so ist es das Bewußtsein eines unchristlichen Volkes, das seine Begrenzung durch Gott vergessen

37

S. van Norden, Protestantismus (s. Anm. 7), 370 f. Der Text von Wobbermins Aufsatz folgt dem Abdruck bei van Norden, Protestantismus (s. Anm. 7), 374–377. 39 Der Text von Bultmanns Aufsatz folgt dem (leicht gekürzten) Abdruck bei van Norden, Protestantismus (s. Anm. 7), 377–387. 40 »Für uns ist es keine Frage, daß das nicht geschehen darf, sondern daß kirchliche Gesetze dem Wesen der Kirche zu entsprechen haben« (aaO. [s. die vorige Anm.], 378). 38

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hat«.41 Damit ist im Grunde nun nicht mehr allein die kirchliche Geltung des Arierparagraphen verworfen, sondern auch der ganze dahinter stehende Gedanke. Zwar verlangt Bultmann vom Staat nicht, die dort geltenden Gesetzesnormen hätten »der Wahrheit der Kirche Christi« zu entsprechen; aber er fordert für Kirche und Theologie das Recht und sieht jedenfalls ihre Pflicht, auf den tatsächlich bestehenden Widerspruch zwischen dem staatlich geltenden Recht und der christlichen Wahrheit hinzuweisen.42 Diese Ausführungen Bultmanns Ende 1933 erfolgten zu einem Zeitpunkt, als Deutschland längst diktatorisch regiert und diese Diktatur von der großen Mehrheit des Volkes nachdrücklich bejaht wurde.43 Bultmann vertrat also nicht nur in Kirche und Theologie, sondern vor allem auch im Volk als ganzem sicher einen Minderheitsstandpunkt. Trotzdem hatten seine und seiner Kollegen Bemühungen insofern einen gewissen Erfolg, als die deutsche Nationalsynode im Herbst 1933 darauf verzichtete, den Arierparagraphen in der ganzen deutschen evangelischen Kirche einzuführen – freilich wohl weniger beeindruckt von der theologischen Argumentation der Neutestamentler, sondern vor allem durch die Drohung der schwedischen Kirche, sie werde die Beziehungen zur Deutschen Evangelischen Kirche abbrechen.44

III. Bultmann und von Soden schlossen sich im Herbst 1933 sofort nach dessen Gründung dem Pfarrernotbund an und gehörten zur Bekennenden Kirche.45 Offenbar entwickelte sich, wenn auch vielleicht nicht bewußt geplant, eine 41

Die Kirche »läßt sich sonst darauf ein, daß das Wort, das sie verkündigt, Ausdruck des Volksbewußtseins ist, seiner Ansprüche und Wertungen, Ausdruck des ›nordischen Geistes‹, oder wie man es sonst aus dem Kreis der ›Glaubensbewegung Deutsche Christen‹ klingen hört. Das Wort der Kirche aber hat allein den Anspruch Gottes zu verkünden.« (aaO. [s. Anm. 39], 385) 42 Vgl. zum weiteren Kontext der Ausführungen Bultmanns K. Hammann, Rudolf Bultmanns Begegnung mit dem Judentum, ZThK 102 (2005) 35–72. 43 Zu erinnern ist an die Reaktionen auf den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. 44 So K. Aland in der Einleitung zu dem von ihm hg. Band: Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), Berlin 1979, 134. Im Jahre 1939 wurde der »Arierparagraph« dann aber doch durch präsidiale Verordnung eingeführt (vgl. dazu und zu den Protesten seitens der Landesbruderräte J. Beckmann [Hg.], Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1933–1944, Gütersloh 21976, 316–323. 45 Es ist im Blick auf die Quellen beinahe bedauerlich, dass beide in Marburg lehrten und lebten; zum brieflichen Kontakt zwischen ihnen s. Rudolf Bultmann (1884–1976). Nachlaßverzeichnis bearb. von H. Wassmann / J. M. Osthof / A.-E. Bruckhaus, Wiesbaden 2001, Nr. 1832 (von Soden an Bultmann) und Nr. 2385 (Bultmann an von Soden).

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gewisse Arbeitsteilung: Bultmann konzentrierte sich auf seine akademische Tätigkeit und versuchte so, die Entwicklung der Kirche und der Theologie zu beeinflussen.46 Von Soden trat an die Spitze der Bekennenden Kirche in Kurhessen und Waldeck und hatte die Leitung des im August 1934 gebildeten Landesbruderrats inne, bis er sie Anfang 1940 aus gesundheitlichen Gründen niederlegen mußte. Es ist hier nicht möglich, auf alle Aspekte seiner umfangreichen Arbeit in den zahlreichen Gremien einzugehen; sein Wirken ist ganz unmittelbar mit der Geschichte des Kirchenkampfs verknüpft, es ist geradezu ein Teil dieser Geschichte. Die folgende Darstellung bezieht sich mit Blick auf von Soden deshalb vor allem auf jene Ereignisse, die mit dessen Stellung als akademischer Forscher und Lehrer in Marburg zusammenhängen.47 Am 4. August 1934, unmittelbar nach Beginn seiner leitenden Tätigkeit in der Bekennenden Kirche, wurde von Soden unter Bezugnahme auf das »Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« in den Ruhestand versetzt. Aufgrund einer von Bultmann verfaßten Eingabe, die von einer »unaufgebbaren Solidarität« der Fakultät mit Hans von Soden sprach, gelang es, die Entlassung rückgängig zu machen, und so konnte von Soden am 24. Oktober 1934 seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. Wieder eröffnete er seine Vorlesung mit einer grundsätzlichen Erklärung. Da er aufgrund seiner kirchlichen Aktivitäten aus dem Staatsdienst entlassen worden war, betonte er nun, dass die Kirche vom Staat unterschieden sei und die Theologie sich keinesfalls von der Kirche distanzieren könne. »Ich, der ich für einen Kirchenpolitiker gelte, kämpfe um gar nichts anderes als um den Primat der Theologie vor der Politik in der Kirche.«48 In dem gegenwärtigen innerkirchlichen Kampf49 habe der Theologe »nach wie vor die Aufgabe zu wachen, daß kein Friede verweigert werde, der Wahrheit und Recht zu Ehren bringt, aber auch kein Friede anerkannt werde, der dies nicht tut«.50 Wieder ist zu bedenken, in welcher Situation von Soden so sprach: Der Staat Adolf Hitlers hatte sich zunehmend konsolidiert, praktisch alle relevanten gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen waren aufgelöst oder 46

Während des Krieges gab Bultmann allerdings schulischen Religionsunterricht, und er gehörte auch dem Vorstand seiner Kirchengemeinde an. Nach Hammann, Rudolf Bultmann (s. Anm. 17), 320 war dies von 1936 bis 1951 der Fall; nach A. BultmannLemke, Der unveröffentlichte Nachlaß von Rudolf Bultmann. Ausschnitte aus dem biographischen Quellenmaterial, in: B. Jaspert (Hg.), Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, Darmstadt 1984, 195 hätte diese Tätigkeit erst 1943 begonnen. Vgl. zum Thema auch M. Hein, Nähe und Fremdheit: Rudolf Bultmann in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, JHKGV 61 (2010) 179–193. 47 Die Zitate im folgenden nach dem Band: Theologie und Kirche (s. Anm. 6). 48 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 125. 49 Das ist ja der Sinn des Begriffs »Kirchenkampf« – es geht um die Auseinandersetzung innerhalb der Kirche, nicht um den Kampf der Kirche gegen den Staat. 50 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 124.

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»gleichgeschaltet« worden. Wenn es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland freie Wahlen gegeben hätte, so wäre die Zustimmung zu Hitler vermutlich überwältigend gewesen. Zwar hatte spätestens die sog. »Röhm-Affäre« gezeigt, zu welchen Rechtsverletzungen Hitler fähig war51; aber im Grunde war man im Volke beruhigt darüber, dass die anscheinend »revolutionär« gesonnene »Sturm-Abteilung« (SA) für immer entmachtet worden war. Ein Indiz für die Stimmung war sicherlich die Tatsache, dass bei der vom Völkerbund überwachten Volksabstimmung im Saargebiet im Januar 1935 mehr als 90 % der Bevölkerung für den Anschluß an Deutschland votierten – an einen Staat, über dessen Charakter man sicherlich auch an der Saar hinreichend informiert war. In dieser Phase nationalen und doch wohl auch nationalsozialistischen Einheitsbewußtseins gab es in der Evangelischen Kirche eine organisierte Gruppe, die sich der Gleichschaltung prinzipiell widersetzte und damit den Totalitätsanspruch des Staates faktisch zurückwies; in der weitgehend von Karl Barth verfaßten Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934 fand diese Position ihren umfassend ausgesprochenen Ausdruck. Im Mai 1938 sagte Bultmann in einer Predigt unter Verweis auf das Wort der Bergpredigt, dass niemand zwei Herren dienen könne (Mt 6,24): »Allein die Existenz der christlichen Kirche in der Welt ist ein Protest gegen die Welt; ein Protest dagegen, daß die Welt sich anmaßt, letzte Bindung und Verpflichtung, letzte Erfüllung geben zu können. Ein Protest dagegen, daß die Welt sich für heilig hält … Deshalb empfindet die Welt die Kirche als Fremdkörper; und fügt sich die Kirche nicht der Macht der Welt in ihren Zielen und Gaben, nun so soll sie ihre Macht in ihrem Zorn erfahren«.52 Der »Kirchenstreit« oder »Kirchenkampf« wurde seitens der Bekennenden Kirche nicht als offener, aktiver, womöglich gewaltsamer Widerstand gegen den NS-Staat geführt; gleichwohl machte dieser innerkirchliche Kampf gegen die »Deutschen Christen« jedem deutlich, dass das »Dritte Reich« der Einheitsstaat nicht war, als welchen es seine Machthaber darstellten. Deshalb war dieser Streit für den Staat zwar nicht bedrohlich, aber 51 Der Boykott jüdischer Geschäfte schon am 1. April 1933 war öffentlich als nicht wirklich gravierend zur Kenntnis genommen und auch vielfach nicht beachtet worden. Die Aussagen Victor Klemperers in seinem Tagebuch vom 3. April lassen das große Maß an Unsicherheit erkennen: »Die Menschen strömten durch die Prager Straße und sahen sich das an [sc. die Plakate mit dem Boykottaufruf]. Das war der Boykott. … Nach einem Tage abgeblasen – der Erfolg sei da und Deutschland ›großmütig‹ … Ich habe den Eindruck, daß man rasch der Katastrophe zutreibt. Daß die Rechte nicht mehr lange mitmachen kann, die nationalsozialistische Diktatur nicht mehr lange erträgt, daß andrerseits Hitler nicht mehr frei ist und daß die Nationalsozialisten zu immer heftigerer Gewalt drängen.« V. Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941, hg. von W. Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 31995, 18. 52 Bultmann, Marburger Predigten (s. Anm. 11), 53.

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ausgesprochen unangenehm; und deshalb war man darum bemüht, die Bekennende Kirche zu zerschlagen oder ihren Einfluß zumindest einzudämmen.53 Neben vielen anderen lieferten auch Neutestamentler wie Hans von Soden und Rudolf Bultmann eine theologische Basis für die Haltung der Bekennenden Kirche, und das wurde seitens des Staates auch registriert.54 Bei von Soden kam zur theologischen Arbeit eine intensive organisatorische Tätigkeit hinzu. Am 26. Oktober 1934 schrieb er in einem Rundbrief an die Pfarrer der Bekennenden Kirche in Kurhessen und Waldeck, gefordert sei jetzt der »entschlossene Bruch mit einem Regiment der Kirche, das die biblische Botschaft und ihre Forderung … immer wieder preisgibt und der ›völkischen Idee den Vorrang vor der christlichen‹ einräumen will, und das auf Rechtsbruch, Gewalttat, Lüge eine unevangelische Herrschaft über die Gewissen errichtet, um ein unechtes ›Einigungswerk‹ durchzuführen«55, womit er sich auf die von den »Deutschen Christen« betriebene »Gleichschaltung« bezog. Von Soden versuchte auch, eine Art »alternativen« Fakultätentag zustandezubringen, zu dem die der Bekennenden Kirche angehörenden Professoren an den deutschen Fakultäten gehören sollten. Im Einladungsschreiben vom 9. Dezember 1934 vermerkt er, in Göttingen, Jena, Heidelberg und Tübingen seien ihm Kollegen, die sich zur Bekennenden Kirche halten, nicht bekannt; er bittet aber darum, dass ihm gegebenenfalls Namen genannt werden.56 53

Die Tagebücher von Joseph Goebbels mit ihren Ausfällen gegen die »Bekenntnispfaffen« lassen erkennen, wie groß der Haß auf diese Gruppe bei den NS-Führern war, aber seltsamerweise auch die Furcht vor ihr. So schreibt Goebbels (Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. v. E. Fröhlich, 1/3, München usw. 1987) unter dem 22.12.1937: Hitler will »in der Kirchenfrage … im Augenblick Ruhe … Er wartet auf den Augenblick, um die Pfaffenprozesse wieder anzudrehen. Bravo!« Am 9.2.1938: »Im Niemöllerprozeß die Bekenntnispfaffen ausgeschlossen und Schweigepflicht für alle Teilnehmer angeordnet. Darauf legen die Rechtsanwälte das Mandat nieder … [Niemöller] wollte also mit seinen Verteidigern nur Reden zum Fenster hinaus halten, der Goldjunge! Das habe ich ihm aber versalzen.« Eintragung vom 10.6.1938: »Eine Unzahl von Pastoren setzen sich in einem frechen Schreiben für Niemöller ein. Papierkorb!« Von Hitler sind entsprechende mündliche Äußerungen zahlreich überliefert. 54 So vermerkt ein hessischer Gestapo-Lagebericht vom Juli 1935: »Besonders bedauerlich ist es, daß in der theologischen Fakultät in Marburg 2 Bekenntnis-Professoren (Bultmann und von Sooden [sic!]) eine bedeutende Rolle spielen und ihren verhängnisvollen Einfluß auf die Theologiestudenten ausüben.« Zitiert nach U. Schneider, Die Bekennende Kirche zwischen »freudigem Ja« und antifaschistischem Widerstand. Das Problem eines christlich motivierten Widerstandes gegen den Faschismus unter Berücksichtigung der Entwicklung der Bekennenden Kirche in Kurhessen-Waldeck und Marburg / L., Kassel 1986, 272. 55 H. von Soden, An die Pfarrer der Bekennenden Kirche in Kurhessen und Waldeck, in: Ders., Urchristentum und Geschichte. Ges. Aufsätze und Vorträge, hg. v. H. von Campenhausen. Bd. 2: Kirchengeschichte und Gegenwart, Tübingen 1956, 294–301, hier: 294 f. 56 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 126.

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Aus der Sicht der damaligen Machthaber ist nachvollziehbar, dass im Februar 1935 ein Erlaß des Wissenschaftsministers Rust erging, Professoren dürften zum »Kirchenstreit« nicht mehr Stellung beziehen. Hiergegen protestierten Bultmann und von Soden brieflich. Von Soden erklärte, eine Stellungnahme im Kirchenstreit sei eine theologische Entscheidung: »Der Herr Minister kann der Natur der Sache nach theologische Entscheidungen weder gebieten noch verbieten, und es ist nicht an dem, daß die eigene Verantwortung der Theologie an der staatlichen Zuständigkeit des Herrn Ministers ihre Grenze fände, sondern umgekehrt.«57 Bei Bultmann liest sich dieselbe Position so: Wenn der Staat theologische Fakultäten unterhalte, dann dürfe er deren Arbeit auch nicht antasten; die Arbeit der Fakultäten ziele nur indirekt auf das Leben von Volk und Staat, direkt aber auf das Leben der Kirche, und daher ist es »m. E. völlig unmöglich, dass ich mich im Kirchenstreit einer öffentlichen Stellungnahme enthalte und nicht Partei ergreife«. Es bestehe also »zwischen dem Erlass des Herrn Ministers und der Auffassung von Theologischer Arbeit, zu der ich mich als Glied meiner Kirche wie als Volksgenosse und Staatsbeamter verpflichtet fühle, ein unvereinbarer Widerspruch«.58 Der Erlaß wurde 1936 aufgehoben. Als im Juni 1935 im Ministerium erwogen wurde, den Theologieprofessoren die Teilnahme an theologischen Prüfungen der Bekennenden Kirche zu untersagen, kündigten Bultmann und von Soden für diesen Fall ihr Ausscheiden aus der Fakultät an.59 Umgekehrt kritisierte von Soden freilich auch den Beschluß der Berliner Bekennenden Kirche, die Prüfer hätten eine zusätzliche Verpflichtungserklärung zu unterschreiben, derzufolge sie ihre Prüfungstätigkeit »im Sinn und Geist der Kirche ausüben« würden, unter Berufung auf Bibel, Bekenntnis und die »Botschaften der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem«.60 Von Soden sah hier, wohl nicht ganz zu Unrecht, die Gefahr, dass sich das theologische Denken in der Bekennenden Kirche dogmatisch verengen könne; soll es, so fragt er unter Anspielung auf die von Paulus in Gal 2 geschilderten Vorgänge, künftig nicht mehr möglich sein, dass Paulus gegen die »Säulen« aufsteht?61 Die Sorge von Sodens erwies sich spätestens in den Jahren nach 1941 als nicht unberechtigt, als in äußerst scharfer Form die Polemik einsetzte gegen Bultmanns hermeneutisches Programm der »Entmythologisierung« des Neuen Testaments, das dieser zunächst in Frankfurt/M. und dann auf der Tagung der damals neu gegründeten »Gesellschaft für evangelische Theologie« in Alpirsbach vorgetragen hatte.62 Von Soden 57

Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 139. Bultmann-Gogarten, Briefwechsel (s. Anm. 27), 303–.305, hier: 304. 59 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 150. 60 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 163. 61 Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 166. 62 Vgl. dazu Hammann, Rudolf Bultmann (s. Anm. 17), 307–319. 58

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teilte Bultmanns theologische Position an dieser Stelle nicht; aber er war erschrocken vor allem über Briefe von Hans Asmussen und von Otto Dibelius zu diesem Thema.63

Im Jahre 1935 wurde innerhalb der Bekennenden Kirche über die Gründung von »Kirchlichen Hochschulen« in Berlin und in Wuppertal-Elberfeld diskutiert.64 In Briefen an Joachim Jeremias, der eine Gefährdung des Bestands der staatlichen Fakultäten fürchtete, stellte von Soden fest, es müsse der Kirche unbenommen sein, eigene Fakultäten einzurichten, wenn kirchliche Theologie von den staatlichen Universitäten verdrängt werde, was sich in manchen Fakultäten ja bereits ereignet habe.65 Umgekehrt wurde unter Hinweis auf die Existenz der Fakultäten an den staatlichen Universitäten eine im Grunde »private« Einrichtung wie die damalige Theologische Schule Bethel im März 1939 geschlossen – jedenfalls war dies die Begründung, die Pastor von Bodelschwingh erhielt.66

IV. Das Dilemma der Stellung der staatlichen Fakultäten und insbesondere der an ihnen tätigen Hochschullehrer wurde im Winter 1934 besonders augenfällig. Anlaß war der Eid, den die Professoren als Staatsbeamte abzulegen hatten; dieser Eid band nicht an eine Verfassung oder an eine Institution, sondern direkt an die Person Adolf Hitler, und lautete: »Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.« Karl Barth in Bonn wollte diesen Eid nur mit einer eingeschobenen Ergänzung leisten: »… gehorsam sein, soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann«; er war daraufhin vom Dienst suspendiert worden. Dies teilte er Bultmann brieflich mit, verbunden mit der Bitte, auch von Soden darüber zu informieren.67 Von 63

Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 343. Von Soden wäre vermutlich entsetzt gewesen, hätte er geahnt, was sich nach 1945 und vor allem in den 1950er Jahren auf diesem Felde abspielen würde, als Bultmann von kirchlichen Gruppen und nicht zuletzt auch von Bischöfen als Häretiker gebrandmarkt wurde – oft ohne nähere Kenntnis des von Bultmann entworfenen Programms. S. dazu U. H. J. Körtner, Noch einmal Fragen an Rudolf Bultmann. Zur Kritik der Theologischen Schule Bethel am Programm der Entmythologisierung, WuD 18 (1985) 159–180 und die dort genannten Quellen. 64 Vgl. dazu G. Ruhbach, Art. Hochschulen, Kirchliche, TRE 15, Berlin 1986, 423–435. 65 Theologie und Kirche (s. Anm. 7), 169.173. 66 Vgl. dazu A. Lindemann, Das Schicksal der Theologischen Schule Bethel in den Jahren 1939 und 1945, in: G. Michaelis / A. Lindemann, Lehren und Studieren in Bethel 1934 bis 1946, Bielefeld 1999, 43–49. 67 So Barth brieflich am 27.11. 1934 an Bultmann; B. Jaspert (Hg.), Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1922–1966, Karl-Barth-Gesamtausgabe V/1, Zürich 21994, 153 f. (künftig zitiert: Barth-Bultmann Briefwechsel2). In der ersten Auflage des Briefwechsels

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Soden und Bultmann reagierten daraufhin in Briefen an Barth, in denen es um das konkrete Problem und auch grundsätzlich um die Bedeutung des Eides ging.68 Von Soden schrieb in einem ausführlichen Brief am 2.12.1934 u.a.: »Sie nehmen den Status confessionis in einer abstrakten Formalität vorweg, der doch nur in einem konkreten, aktuellen Konflikt gegeben sein kann.« Man könne einen geforderten Eid entweder nur so ablegen, wie er gefordert werde, oder man müsse ihn ganz verweigern – andernfalls könne ja jeder seinen ganz subjektiven persönlichen Vorbehalt machen, womit das Wesen des Eides erledigt sei. »Ich würde verstehen«, schreibt von Soden, »wenn Sie den Eid auf einen Menschen grundsätzlich ablehnten«; Barth aber verlange, dass der seinem Wesen nach ungläubige Staat die Glaubensverpflichtung eines Christen von vornherein zu respektieren habe, obwohl der Staat diese Verpflichtung in ihrem Gehalt ja überhaupt nicht erkennen könne.69 Einen Tag später als von Soden schrieb auch Bultmann an Barth. Die Beziehungen zwischen beiden waren nicht mehr ungetrübt, nachdem Barth in einem persönlichen Gespräch im November 1933 Bultmann gegenüber erklärt hatte, er habe erwartet, Bultmann werde zu den »Deutschen Christen« gehen. Dies hatte Bultmann verständlicherweise schwer getroffen70, und es ist wohl in der Tat nur psychologisch zu erklären: Barth konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass jemand einen anderen theologischen Standort hatte als er selbst und trotzdem kein »Deutscher Christ« geworden war. Ähnlich wie von Soden schrieb auch Bultmann an Barth, der Staat könne sich bei der Eidesleistung von Beamten niemals auf Vorbehalte einlassen, und er fügte hinzu: »Ich kann die Sache nur so ansehen, daß der von Ihnen geforderte Vorbehalt allerdings für jeden Christen selbstverständlich ist, daß der Christ aber nicht den Staat auf diesen Vorbehalt verpflichten kann, sondern daß er im Konfliktsfall auf sein unter diesem Vorbehalt übernommenes Amt verzichten muß.«71 Barth antwortete von Soden eingehend am 5. Dezember und legte einen für Bultmann bestimmten Durchschlag dieses Briefes bei. Entscheidend (Zürich 1971; künftig zitiert: Barth-Bultmann Briefwechsel1) war Barths Erklärung vor dem Landgericht Bonn vom 27.11.1934 dokumentiert, dass dieser Eid eine Verpflichtung von »unendlichem also unübersichtlichem Inhalt« sei (266). 68 Barth hatte sich, wie er Bultmann schrieb, nicht geweigert, den Eid zu leisten; der Zusatz war ein »Vorschlag«, »um mir die Leistung des Eides zu ermöglichen« (BarthBultmann Briefwechsel [s. die vorige Anm.], 154). Vgl. zum ganzen Vorgang E. Busch, Karl Barth’s Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1978, 268–271. 69 Barth-Bultmann Briefwechsel1 (s. Anm. 67), 269–273. 70 Dies schreibt er Barth am 7.7.1934 im Zusammenhang der Einladung zu einer Tagung der »Alten Marburger« zum Thema »Kirchliches Amt«; Barth-Bultmann Briefwechsel2 (s. Anm. 67), 149 f. 71 Barth-Bultmann Briefwechsel2 (s. Anm. 67), 154–156.

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sei »der besondere Inhalt dieses Eides«, insofern man es nach nationalsozialistischer Vorstellung in Hitler »mit einem inkarnierten Gott« zu tun habe. Wenn der Staat sich weigere, den von Barth formulierten Zusatz zu akzeptieren, dann zeige er damit gerade seinen Absolutheitsanspruch. Aus seiner, Barths, Sicht spreche gar nichts dagegen, wenn alle Beamten bei der Eidesleistung ähnliche Vorbehalte machen würden.72 Wenige Tage später gaben die Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche, der Moderator des Reformierten Bundes und der Vorsitzende des Coetus Reformierter Prediger in Deutschland, ohne direkte Bezugnahme auf den in Bonn anstehenden Fall, eine öffentliche Erklärung ab, derzufolge der Eid auf Hitler durch die ausdrückliche Berufung auf Gott ein Handeln ausschließe, »das wider das in der Heiligen Schrift bezeugte Gebot wäre«.73 Daraufhin erklärte sich Barth am 18. Dezember 1934 gegenüber dem Bonner Rektpr dazu bereit, den Eid auf Hitler in der vorgeschriebenen Form zu leisten74, aber die Suspendierung wurde dennoch nicht aufgehoben. Barth verließ Bonn, was für ihn als Schweizer Staatsbürger natürlich auch ohne weiteres möglich war. Der Riß zwischen Barth und Bultmann ging jedoch tief; Barth lehnte Ende Dezember 1935 Bultmanns Bitte um Aufnahme von zwei Predigten in die Reihe »Theologische Existenz heute« in sehr brüsker Form ab75, und danach war – mit einer eher belanglosen Ausnahme – der anfangs überaus rege Briefwechsel bis 1950 unterbrochen.

In dem Konflikt über den Eid wird ein Grundsatzproblem sichtbar: Barth wollte den Staat dazu veranlassen, christliche Normen zu akzeptieren, d.h. der Staat sollte das christliche Bekenntnis zum Gehorsam gegen Gott als eine auch für den Staat geltende Verpflichtung respektieren. Barth wollte die Eidesformel ja nicht deshalb ergänzen, weil er den Staat, dessen Beamter er war, als verbrecherisch ansah, oder weil er den »Führer«, an dessen Person er sich binden sollte, politisch ablehnte.76 Vielmehr sollte der Staat generell akzeptieren, dass einer seiner Beamten prinzipiell eine höhere Gehorsamspflicht als die gegenüber der geltenden Ordnung für sich in Anspruch nahm. Demgegenüber argumentierten von Soden und Bultmann, dass der Gehor72

Barth-Bultmann Briefwechsel1 (s. Anm. 67), 273–279. Zitiert nach Barth-Bultmann Briefwechsel1 (s. Anm. 67), 158 Anm. 2. 74 Ebd. Der Brief Barths an den Bonner Rektor wurde dokumentiert in: ThBl 14 (1935) 28 f. 75 Bultmann hatte geschrieben, dass es »eine Probe auf die Gemeinsamkeit« wäre, wenn die Predigten in dieser von Barth herausgegebenen Reihe erschiene; Barth lehnte (zusammen mit E. Thurneysen) die Predigten ab, da »wir« in ihnen »nicht eigentlich Christus verkündigt, sondern  – was u. E. in einer ›guten‹ Predigt nicht geschehen dürfte, den glaubenden Menschen expliziert sehen«. Barth erwähnt dabei auch, dass Bultmann »den Eid, über den ich ›gestolpert‹ bin, ruhig geschworen« habe und dass es eine »Irreführung der Leserschaft« wäre, »wenn Sie nun ganz gemächlich trotz Allem in der Theol. Ex. erscheinen würden, wo nun eben bisher mit mehr oder weniger Glück eine andere Linie zu halten versucht wurde« (Barth-Bultmann Briefwechsel2 [s. Anm. 67], 161–163 und 164 f.). 76 Dies war natürlich tatsächlich der Fall, spielte aber in der konkret gegebenen Situation offensichtlich formal keine Rolle. 73

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sam gegen Gottes Forderung grundsätzlich anders geartet sei als der Gehorsam, den der Staat fordere; Widerstand könne man deshalb nicht gleichsam prophylaktisch zu Protokoll geben, sondern Widerstand sei erst in dem konkreten Augenblick geboten, wo sich die Unterordnung unter die Norm des Staates als mit dem Bekenntnis unvereinbar erwies. Auch für Barth war dieser Augenblick im Dezember 1934 nicht gegeben, denn dann hätte er den Eid ja vermutlich rundweg verweigert. Die Position von Sodens und Bultmanns ist die systematisch klarere: Christen können sehr wohl andere ethische Maßstäbe haben als andere Bürger – ja, ihre Maßstäbe können denen der Mehrheit sogar widersprechen und gegebenenfalls gesetzwidrig sein. Christen können dann aber gegenüber der geltenden Norm kein abstraktes Recht auf Widerstand für sich reklamieren, sondern sie können nur im gegebenen Fall tatsächlich Widerstand leisten, und sie müssen dann auch bereit sein, Verfolgung und Leiden auf sich zu nehmen. Im demokratisch verfaßten Staat haben sie freilich die Chance, für ihren Standpunkt öffentlich werbend einzutreten und andere von seiner Richtigkeit zu überzeugen, so dass er möglicherweise zum Standpunkt der Mehrheit wird. Es ging im Dezember 1934 zwischen Barth und den Marburgern nicht um die Frage, ob die amtierende deutsche Regierung ein gutes Regime war oder nicht – in der negativen politischen Beurteilung Hitlers dürften sich Barth, Bultmann und von Soden einig gewesen sein. Es ging vielmehr um die richtige Bestimmung des Verhältnisses von staatlicher und kirchlicher Norm, d.h. aus der Sicht Bultmanns und von Sodens: um deren sachgemäße Unterscheidung. Dass im konkreten Konfliktfall (status confessionis) der Gehorsam aufgekündigt werden mußte und dass dann kein Eid welchen Wortlauts auch immer den Christen am Widerstand hindern konnte, stand für Bultmann und für von Soden ebenso fest wie für Karl Barth. Hans von Soden hatte sich zur Frage des Eides schon zuvor grundsätzlich geäußert. Im August 1934 war in der Deutschen Evangelischen Kirche die Einführung eines Diensteides für Geistliche und Kirchenbeamte beschlossen worden, der das rückhaltlose Eintreten für den nationalsozialistischen Staat ebenso verlangte wie die Bindung an die Ordnung der Kirche. Dazu stellte von Soden in einem Gutachten fest, eine solche Vermischung der beiden Bereiche sei unerträglich; fordere man hingegen von den Beamten einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft einen ausschließlich »politischen Amtseid«, so sei hiergegen nichts einzuwenden.77 Im Jahre 1938 wurde verfügt, dass ebenso wie die Beamten auch die Geistlichen den Eid auf 77 Theologie und Kirche (s. Anm. 7), 108–114. Das Gesetz über den Diensteid wurde nach zahlreichen Protesten im September 1934 zurückgezogen und stattdessen für Kirchenbeamte der staatliche Diensteid eingeführt.

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Hitler zu schwören hätten; dazu schrieb von Soden in einem Brief an die Pfarrerschaft in Kurhessen und Waldeck, dies sei durchaus möglich, denn das Ordinationsgelübde und der Eid könnten ihrem Wesen nach zueinander überhaupt nicht in einen Widerspruch geraten.78 Daraufhin erklärte der »Arbeitsausschuß der Marburger BK-Studenten« auf Flugblättern, ein solcher Eid mache die Kirche zur Staatskirche.79 Diese Studenten wurden verhaftet, nach intensiven Bemühungen von Sodens aber wieder freigelassen.80 Für Hans von Soden trat der entscheidende Konflikt mit seiner Landeskirche im Juni 1939 ein, nachdem die kurhessischen Kreispfarrer in einer Sitzung den »Grundsätzen für eine den Erfordernissen der Gegenwart entsprechende neue Ordnung der Deutschen Evangelischen Kirche« zugestimmt hatten. In diesen Grundsätzen wurde erklärt, die nationalsozialistische Weltanschauung sei auch für den christlichen Deutschen verbindlich und der »Kampf gegen den Einfluß der jüdischen Rasse« sei eine die Christen verpflichtende Norm. Jetzt kündigte Von Soden sofort seine Zusammenarbeit mit der Kirchenleitung von Kurhessen und Waldeck auf.81 Im Januar 1940 mußte er die Leitung der Bekennenden Kirche niederlegen, dies allerdings aus gesundheitlichen Gründen. Schwerkrank erlebte er den Krieg; 1945 nahm er noch teil an den Beratungen über eine neue Kirchenverfassung, und er galt sogar als Kandidat für den Vorsitz im Rat der neugeschaffenen Evangelischen Kirche in Deutschland. Aber am 2. Oktober 1945 brach er während eines Gesprächs mit Bultmann am Schreibtisch zusammen und starb. Bultmann hielt die Traueransprache.82

V. Für Rudolf Bultmann verliefen die Jahre 1933 bis 1945 in manchen Punkten anders. Er schrieb Aufsätze und predigte verhältnismäßig häufig; vor allem arbeitete er weiter an seinem schon zuvor begonnenen großen JohannesKommentar, der in den Jahren 1937 bis 1941 in Lieferungen herauskam, sowie an der »Theologie des Neuen Testaments«, die 1948 bis 1953 ebenfalls in Lieferungen erschien.83 Bultmanns unmittelbare Aktivität für die 78

Theologie und Kirche (s. Anm. 7), 267–270,hier: 268. Text des Flugblatts in: Theologie und Kirche (s. Anm. 7), 373–376. 80 Brief von Sodens an den Vater eines dieser Studenten unter dem 25.5.1938 (in: Theologie und Kirche [s. Anm. 7], 271–274). 81 Der Vorgang ist breit dokumentiert in: Theologie und Kirche (s. Anm. 6), 299–317. 82 R. Bultmann, »Am Sarge Hans von Sodens«. 8. Oktober 1945, in: Theologie und Kirche (s. Anm. 7), 347–351. 83 Beide Werke wurden über einen langen Zeitraum regelmäßig neu aufgelegt; sie besitzen bis heute erhebliche Bedeutung (sofern man denn dazu bereit ist, sie zur Kenntnis zu nehmen). 79

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Bekennende Kirche war geringer als die von Sodens; er war aber Mitglied des Kirchenvorstands der Gemeinde der Elisabethkirche in Marburg, ausdrücklich gewählt als Vertreter der Bekennenden Kirche.84 Die in dieser Zeit publizierten Arbeiten Bultmanns lassen nur selten einen unmittelbaren Gegenwartsbezug erkennen. Der 1933 erschienene Aufsatzband »Glauben und Verstehen« enthielt eine bis dahin unveröffentlichte umfangreiche Studie über »Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben«, die  – wohl Ende 1932 geschrieben85  – offensichtlich auf die aktuelle Debatte über die Geltung des Alten Testaments in der Kirche Bezug nimmt. Bultmanns grundsätzliche theologische Position ist klar: Nur das Neue Testament redet für Christen im strengen Sinne von der Offenbarung Gottes86, während die Geschichte Israels für Christen einen Offenbarungscharakter nicht besitzt.87 Und wenn auch gilt, dass die vom Evangelium bezeugte Freiheit vom Gesetz nur möglich ist im Gegenüber zum Gesetz, so ist doch auch klar, dass man das, was theologisch »Gesetz« meint, auch ohne das Alte Testament wissen kann; wenn in der Kirche gerade das Alte Testament als »Gesetz« in Geltung stehe, so könne das »also nur pädagogische Gründe haben«.88 Es komme nun aber ein wesentlicher Gesichtspunkt hinzu, nämlich die Tatsache, dass das im Alten Testament vorausgesetzte Daseinsverständnis mit dem christlichen identisch sei: Der Mensch wird hier wie dort gesehen in seiner Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, und aus diesem Grunde gilt, dass es für denjenigen, der auch »nur ein Minimum von geschichtlicher Besinnung vollzogen hat … sinnlos [ist], das Christentum festhalten zu wollen, und das Alte Testament zu verwerfen. Er kann sicher sein, daß das Christentum, das er festhalten will, kein Christentum mehr ist.«89 Der Band war Martin Heidegger gewidmet. Bultmann schrieb ihm am 14. Dezember, die in diesem Buch enthaltene Arbeit sei »ja zu einem großen Teil die Frucht der Gemeinschaft der Arbeit und Freundschaft«.90 In dem84

S. dazu oben Anm. 46. Bultmann schickte das Manuskript des Aufsatzes am 22.12.1932 an den Verlag in Tübingen. 86 R. Bultmann, Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 1933 (= 81980), 313–336, hier: 325. 87 Bultmann, Bedeutung (s. die vorige Anm.), 333. 88 Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 86, 319.321. 89 Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 86), 324 f. (Zitat 325). 90 Bultmann erläuterte in diesem Brief den Buchtitel. Einige der Aufsätze hätten »systematischen Charakter« und zielten auf die »Grundfrage«, »welches Verstehen im Glauben gegeben ist (und damit zugleich, welches die dem Glauben angemessene Weise zu reden ist); die exegetischen Aufsätze fragten »nach dem Verstehen des im Neuen Testament gegebenen Kerygmas und Glaubens« (Rudolf Bultmann / Martin Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, hg. von A. Grossmann und Chr. Landmesser, Frankfurt / M. und Tübingen 2009, 185). Seit der 1952 erschienenen zweiten Auflage hieß es nicht mehr 85

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selben Brief fragt er dann aber auch, ob es zutreffe, dass »Du Dich jetzt auch politisch betätigst und Mitglied der nationalsozialistischen Partei geworden« bist. Er selber habe angesichts von »prächtigen nationalsozialistischen Studenten … große Hoffnung auf die Bewegung gesetzt«, doch seien jetzt die Eindrücke »deprimierend«.91 Heidegger antwortete, er sei nicht Mitglied der NSDAP »und werde es nie sein«.92 Am 18. Juni nimmt Bultmann zu Heideggers am 27. Mai gehaltener Freiburger Rektoratsrede Stellung, die er aus Zeitungsberichten kannte. Sein Votum ist kritisch und distanziert: Er bringe »nicht den gleichen klaren Mut zur Gegenwart auf«, der aus Heideggers Rede spreche: »Wenn ich die positiven Möglichkeiten der Gegenwart sehe und an meinem Teile mitzuarbeiten versuche, so kommt das bei mir aus einer Sorge und Zerrissenheit heraus.« Die Heideggers Rede abschließende Aussage »Wir wollen uns selbst« kommentiert Bultmann mit dem Satz: »Wie blind erscheint mir dieses Wollen! Wie sehr steht dies Wollen jeden Augenblick in Gefahr, sich selbst zu verfehlen. Wie sehr hat gerade der Umschwung eine ƎČěēĜ erzeugt, die taub ist gegen die Forderung des ›Immer-neu-Erkämpfens der geistigen Welt in der äußersten Ausgesetztheit unter die Mächte des Seins‹.«93 Bultmann schreibt ausdrücklich, er sei nicht »blind« gegen die »positiven Leistungen des Neuen Reichs«, aber er spricht zugleich von einem »Mangel an Vertrauen«, der darauf gründe, »daß eine Atmosphäre der ƎČěēĜ und der verdeckten Angst sich beklemmend verbreitet«. Was ihn »in dieser Situation doch noch an die Möglichkeiten« glauben lasse, sei »neben der Treue gegen die verpflichtende Tradition nur die Tatsache, daß meine Arbeit in dem engen Kreise, in dem ich sie hier als Dozent treibe, von dem Vertrauen der Hörer erwidert wird, die ja fast alle Nationalsozialisten sind«.94 Bultmann schickt in diesem Brief an Heidegger auch seine Erklärung vom 2. Mai mit; er habe sie drucken lassen, »nicht weil ich sie für besonders gelungen halte, sondern weil es mir unerträglich war, daß noch kein Theologe »Martin Heidegger gewidmet«, sondern: »Martin Heidegger bleibt dieses Buch gewidmet in dankbarer Erinnerung an die gemeinsame Zeit in Marburg«. 91 Bultmann / Heidegger, Briefwechsel (s. die vorige Anm.), 187 f. 92 Brief vom 16.12.1932 (s. Anm. 90), 191. Heidegger trat dann aber offenbar doch am 3. Mai 1933 der NSDAP bei (ebd, Anm. 5). 93 Bultmann / Heidegger, Briefwechsel (s. Anm. 90), 194. Das Zitat in dem Brief ist eine Anspielung auf eine Aussage in Heideggers Rede. 94 Bultmann / Heidegger, Briefwechsel (s. Anm. 90), 195 (Hervorhebung von mir).  – Ein Spiegel der Einstellung mancher Theologiestudenten in der Frühphase der NS-Zeit sind die »Dienstbücher«, die vom Sommersemester 1934 bis zum Sommersemester 1936 in einem Betheler Studentenwohnheim geführt wurden. Sie sind zunächst »linientreu« im Sinne der NS-Ideologie, dann aber seit Ende 1935 zunehmend »kirchlich« (z. B. in der Wahl der morgens gesungenen Lieder). S. dazu die Dokumentation in: Michaelis / Lindemann, Lehren und Studieren in Bethel (s. Anm. 66), 51–98.

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öffentlich für die kritische Aufgabe der Theologie in der gegenwärtigen Situation eingetreten war«.95 Heideggers Antwortkarte vom 5. Juli geht weder auf Bultmanns Fragen zu der Rektoratsrede noch auf Bultmanns Erklärung ein.96 Im Jahre 1936 beteiligte sich Bultmann an der Festschrift zum 50. Geburtstag von Karl Barth. In einem Aufsatz unter dem fast philologisch klingenden Titel »Polis und Hades in der Antigone des Sophokles« bietet er eine scharfsinnige Analyse des Verhältnisses von staatlicher Macht – in der »Antigone« repräsentiert durch Kreon und das von ihm personifizierte Gesetz der Polis – und göttlicher Norm, repräsentiert durch Antigone und den von ihr verehrten Gott Hades. Kreon verweigert die Bestattung des Polyneikes und beruft sich dafür auf »eindeutig geltendes Recht der Polis«; Antigone übertritt die Gesetze »mit gutem Gewissen«, ohne eine kodifizierte Norm angeben zu können, durch die die Rechtmäßigkeit ihres Handelns gleichsam undiskutiert festgestellt werden könnte.97 Der von Antigone verehrte Gott Hades, dessen Willen sie vollzieht, ist die göttliche Macht jenseits des menschlichen Rechts, durch die »alles menschlich-gesetzliche Recht relativiert wird«; Kreon dagegen hält sein Amt für ein göttliches, er spricht daher den Gesetzen der Polis absolute Gültigkeit zu und tritt so die Ehre der Götter mit Füßen.98 Es ist deutlich, dass Kreon von Bultmann als Prototyp des totalen Staates gedeutet wird, während Antigone den Typus jenes Menschen vertritt, der sich dem totalen Anspruch verweigert, ohne sich dabei auf mehr berufen zu können als eben auf das eigene »gute Gewissen«. Vor diesem Hintergrund ist der Schluß des Aufsatzes zu lesen: »Kreon, der die Macht des Hades leugnete, ist vernichtet« und kann »am Schlusse nur die Nacht des Todes herbeiwünschen«, wozu Bultmann die entsprechenden Verse aus der »Antigone« zitiert.99 In demselben Jahr 1936 geht Bultmann in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Der Sinn des christlichen Schöpfungsglaubens«100 deutlicher auf die aktuelle Lage ein.101 Zunächst behandelt er, ausgehend vom Alten Testa95

Bultmann / Heidegger, Briefwechsel (s. Anm. 90), 196. Barths Schrift »Theologische Existenz heute!« erschien am 1. Juli 1933; Bultmann schrieb dazu an Barth im Zusammenhang mit Meldungen über die Beschlagnahme, »daß ich zu Ihrer Schrift stehe« (Brief vom 13.7., Barth-Bultmann Briefwechsel2 [s. Anm. 67], 135). 96 Am 13./14. Juli machte Heidegger einen kurzen Besuch in Marburg. In den Folgejahren versiegt der Briefwechsel fast ganz und wird erst nach 1950 wieder intensiver. 97 Der Aufsatz ist wieder abgedruckt in R. Bultmann, Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952 (= 51968), 20–31, hier. 21. 98 Bultmann, Polis und Hades (s. die vorige Anm.), 23 f. 29. 99 Bultmann, Polis und Hades (s. Anm. 97), 31. 100 ZMR 51 (1936) 1–20. 101 Offenbar deshalb wurde dieser Aufsatz nicht in eine der Aufsatzsammlungen Bultmanns aufgenommen.

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ment, verschiedene Schöpfungslehren und -mythen. Dann aber diskutiert er den damals modernen Begriff »Schöpfungsordnung«; dieser sei durchaus sinnvoll, wenn er den Tatbestand bezeichne, dass der Mensch immer in einer konkreten Lebenssituation existiert, von der er in seinem Handeln und in seinen Entscheidungen nicht absehen kann. So gehöre auch der Staat zur Schöpfungsordnung, und zwar als die »Ordnung der sündigen Schöpfung«. Alle Schöpfungsordnung, einschließlich des Staates, sei »zweideutig«, und so sei es »nicht möglich, aus den natürlichen Gegebenheiten, die jeweils unsere Situation bestimmen, eindeutige Forderungen als Gottes Forderungen abzuleiten«. Das gelte insbesondere auch für das »Volkstum«: »Kein Volkstum ist eine so eindeutige Größe, daß man jede Regung des Volkswillens für eine Forderung der göttlichen Ordnung erklären könnte.« Das Volkstum erwachse aus der Geschichte – und also, so muß man hier offensichtlich ergänzen: nicht aus den angeblich ewigen Kräften des Blutes und des Bodens, wie es die NS-Ideologie lehrte. »Jedem Volkstum [sei] die Möglichkeit zum Bösen wie zum Guten gegeben«, und es sei die Aufgabe der christlichen Verkündigung, das Wissen um diese Zweideutigkeit wachzuhalten und vor allem jeden Gedanken an eine Staatsvergötzung auszuschließen.102 Diese Aussagen entsprechen dem, was Bultmann in seiner Erklärung am 2. Mai 1933 gesagt hatte. Man muß natürlich fragen, was eine solche im Grunde doch leise Stimme ausrichten konnte, und ob Bultmann meinte, seine Worte könnten eine Wirkung haben. Aber das Problem war ja gerade, dass solche Stimmen so vereinzelt kamen, während ganz überwiegend eine Theologie der Anpassung herrschte und es sogar eine »Theologie« gab, die den Mythos von Blut und Boden voll rezipieren zu können meinte.103 Bultmanns Absicht war es offensichtlich, dagegen theologisch zu argumentieren und von hier aus dann so weit wie möglich zumindest die kirchliche Öffentlichkeit zu beeinflussen. Sehr eingehend bespricht Bultmann im Jahre 1937 die Auslegung des Johannesevangeliums durch Emanuel Hirsch. Er referiert dessen exegetische und historische Textanalyse eingehend, beobachtet dann aber die antijüdischen Aussagen bei Hirsch. So meine Hirsch in der Hirtenrede Joh 10 »das Problem des christlichen Pharisäismus behandelt zu finden: angeredet seien Anhänger Jesu, die sich doch vom Gesetzesdienst nicht frei machen können; gefordert werde, daß sich die an Jesus Glaubenden vom Judentum scheiden müssen. Das ist in den Text eingetragen, und die Deutung 102

ZMR 51 (1936) 19 f. Vgl. etwa E. Hirsch, Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen, 1933 (Auszüge bei van Norden, Protestantismus [s. Anm. 7], 182–190). Zu erwähnen ist auch das von W. Grundmann verfaßte »Volkstestament«, eine den aktuellen Bedürfnissen und Interessen entgegen kommende »Übersetzung« bzw. richtiger: Neufassung des Neuen Testaments. Vgl. Lubinetzki, Knechtsgestalt (s. Anm. 36), 298–308. 103

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des Schafstalles auf das jüdische Gesetz ist eine Unheuerlichkeit.«104 Die den Unglauben verkörpernden Gegner Jesu sind im JohEv »die Juden«, und dazu stellt Bultmann fest: »wie könnte es anders sein, wenn der Evangelist ein Leben Jesu darstellen wollte?« Dabei sei »der Kampf, den Jesus gegen die Juden kämpft, die exemplarische Darstellung des Kampfes der Offenbarung gegen die Weltlichkeit überhaupt«.105 »Die Tiefe, in der das menschliche Wesen durch Gott in Frage gestellt ist, bleibt [sc. Hirsch] verborgen, damit aber auch der eschatologische Sinn der christlichen Existenz. Es ist eine merkwürdige Ironie, daß diese Auslegung des 4. Evangeliums, die zu ihrem Leitgedanken den Kampf Jesu gegen die jüdische Gesetzlichkeit macht, im Grunde selbst in der Sphäre des Gesetzes bleibt.«106

Im Jahre 1940 schreibt Bultmann eine Studie zu dem Satz in Röm 10,4, Christus sei »das Ende des Gesetzes«.107 Am Anfang referiert er den Sachverhalt, dass das Gesetz im Judentum durchaus nicht als Last empfunden werde, worauf »die jüdischen Erklärer des Neuen Testaments« mit Recht immer wieder hinwiesen. Gesetze und Regelungen seien nun einmal bei den Völkern verschieden; was hier selbstverständlich ist, »das kommt anderen seltsam und lästig vor«.108 Der Jude Paulus habe keineswegs unter dem Gesetz gelitten und es womöglich deshalb schließlich verworfen; das eigentliche Problem des Gesetzes liege vielmehr darin, dass es den Menschen zu einem Streben nach Leistung veranlasse. Das aber sei nichts spezifisch Jüdisches, sondern etwas allgemein Menschliches  – Bultmann spricht an dieser Stelle von »Moralismus«. Es gebe auch einen Moralismus aus Geltungsbedürfnis, und dies sei »ein Typus, der vom Neuen Testament her den Titel des Pharisäers trägt, der aber bekanntlich überall in der Geschichte wiederkehrt«.109 In ähnlicher Weise hatte Bultmann zur selben Zeit in einer Predigt über Lk 18,9–14 gesagt, der in dieser Szene dargestellte Pharisäer sei nicht etwa für das Judentum typisch, sondern er stehe für das menschliche Wesen überhaupt.110 Im Jahre 1941 erscheint der kleine Band »Offenbarung und Heilsgeschehen«, der zwei Beiträge enthält – den alsbald berühmten und dann heftig 104

R. Bultmann, Hirsch’s Auslegung des Johannes-Evangeliums, EvTh 4 (1937) 115– 142, zitiert nach: R. Bultmann, Theologie als Kritik, hg. von M. Dreher und K. W. Müller, Tübingen 2002, 353–377 (hier: 364). Der joh Text verrate »überhaupt keine Spur von dem Thema des Gegensatzes der Freiheit des Evangeliums zum jüdischen Gesetzesdienst«. 105 Bultmann, Theologie als Kritik (s. die vorige Anm.), 367. 106 Bultmann, Theologie als Kritik (s. Anm. 104), 376. 107 Der Aufsatz erschien unter dem Titel »Christus des Gesetzes Ende« zusammen mit einem Beitrag von H. Schlier als Band 1 der »Beiträge zur Evangelischen Theologie«. Er wurde wieder abgedruckt in: R. Bultmann, Glauben und Verstehen II (s. Anm. 97), 32–58. 108 Bultmann, Christus des Gesetzes Ende (s. die vorige Anm.), 33 f. 109 Bultmann, Christus des Gesetzes Ende (s. Anm. 107), 39. 110 Bultmann, Marburger Predigten (s. Anm. 11), 110. Die Predigt wurde am 4. August 1940 gehalten.

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kritisierten Vortrag »Neues Testament und Mythologie«111 sowie eine Studie über »Die Frage der natürlichen Offenbarung«.112 Bultmann schreibt, eine Offenbarung Gottes in der Geschichte außerhalb des Christusgeschehens gebe es nicht: »Wer neben der Offenbarung in Christus noch nach anderen Offenbarungen fragt, der hat den Gedanken Gottes noch gar nicht ernst genommen«, heißt es113, wobei der Anklang an Barmen I deutlich ist. Eine Offenbarung gebe es weder in einem geschichtlich auftretenden Heros, noch im Gang der Geschichte als solchem. Der wirkliche Heros werde sich den Mißbrauch, dass man ihm quasi göttliche Qualitäten zuschreibt, jedenfalls »verbitten; denn nicht in der Subjektivität seiner Haltung, sondern in der Größe der Sache, für die er sich einsetzt und hinter der er immer zurückbleibt, sieht er den Sinn des Lebens«.114 Für jeden, der zu lesen verstand, war damit klar, dass Adolf Hitler ein »wirklicher Heros« nicht sein konnte, da in der nationalsozialistischen Weltanschauung die Person des Führers ja identisch war mit der Sache, um die es ging. Doch auch der Gang der Geschichte hat nach Bultmann keine Offenbarungsqualität, denn – wie es abermals heißt – jedes Phänomen der Geschichte ist zweideutig, und auch »das Wesen des deutschen Volkes liegt nicht als eindeutiges Kriterium vor«, denn es gebe neben Nationaltugenden auch Nationallaster, und die deutsche nationale »Eigentlichkeit« stehe durchaus noch nicht fest.115 Ganz ähnlich hatte Hans von Soden 1935 geschrieben, der »schwere theologische Irrtum, der unsere Zeit bedroht«, bestehe darin, »daß der Deus revelatus beiseite geschoben wird als Pfaffengott, der Deus absconditus aber als der unverborgene und jedem verfügbare behandelt wird. An den ›Gott in der Geschichte‹ zu glauben, hat nur Sinn …, wenn man die Geschichte der Welt durch Gott in Christus gerichtet weiß.«116 Es war ja von nicht wenigen Theologen gesagt worden, die Ereignisse von 1933 besäßen unmittelbare Offenbarungsqualität, wogegen sich die Verwerfung in These I der Barmer Theologischen Erklärung wendet. Im Jahre 1941 war Bultmanns Kommentar zum Johannesevangelium abgeschlossen. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Werk sind we111 Auf diesen in Alpirsbach gehaltenen Vortrag ist hier nicht einzugehen; er läßt spezifische Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen nicht erkennen, wenn man nicht einen Zusammenhang mit Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« vermuten will, der aber jedenfalls nicht expliziert ist. 112 Wieder abgedruckt in: R. Bultmann, Die Frage der natürlichen Offenbarung, in: Glauben und Verstehen II (s. Anm. 97), 79–104. 113 Bultmann, Frage (s. Anm. 112), 100. 114 Bultmann, Frage (s. Anm. 112), 91. 115 Bultmann, Frage (s. Anm. 112), 92 f. 116 H. von Soden, Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit, Pastoralblatt für Hessen-Kassel 44 (1935) 19–26; wieder abgedruckt in: Ders., Urchristentum und Geschichte II (s. Anm. 88), 248–271, hier 264.

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niger die historischen und philologischen oder auch die literarkritischen Detailentscheidungen, die in der Exegese des Vierten Evangeliums seither auf mancherlei unterschiedliche Kritik gestoßen sind117, sondern vorbildlich ist die enge Verzahnung von Exegese und theologischer Hermeneutik. Bultmann bemüht sich im eigentlichen Sinne des Wortes um das »Verstehen« des Johannesevangeliums. Zeitgeschichtlich wichtig sind Bultmanns Deutung der im Johannesevangelium oft pauschalen Rede von »den Juden« sowie seine Auslegung der Szene vom Verhör Jesu durch Pilatus. Wenn das Johannesevangelium kritisch und oft sehr polemisch von »den Juden« spricht, dann gehe es dabei nicht um die Juden als Volk oder gar als »Rasse«, sondern die »Juden« – das Wort wird von Bultmann an den entsprechenden Stellen in der Regel in Anführungszeichen gesetzt – sind für den Evangelisten Typus der Ungläubigen, also der »Welt«.118 Auch die Aussage in Joh 8,44, wo Jesus gegenüber »den Juden«, die ihn töten wollen, etwas verklausuliert vom Teufel als von »eurem Vater« spricht, meine in Wahrheit, dass die nicht an Christus Glaubenden »Kinder des Teufels« sind, weil sie sich der Gotteskindschaft verweigern.119 Das Johannesevangelium lehre weder Judenfeindschaft noch gar so etwas wie »Antisemitismus«, denn auch die an Jesus Glaubenden gehören, ebenso wie Jesus selber und vermutlich auch der Evangelist selber, dem jüdischen Volk an. Die Kritik gelte denen, die die Sendung Jesu verwerfen und die sich damit auch gegenüber Gott als »Ungläubige« erweisen. In der Auslegung der Szene Jesus / Pilatus in Joh 18,28–19,16 schreibt Bultmann zu Jesu Wort an Pilatus in Joh 19,11 (»Du hättest keine Gewalt über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre«): Jesu »Worte besagen, daß die Autorität des Staates nicht aus der Welt stammt, sondern durch Gott begründet ist. Nicht erst das Wissen um den Bezug zu Gott stellt die Autorität her; sie ist mit dem Amte gegeben … Aber um sein Amt sachlich gegenüber der Verführung durch die Welt verwalten zu können, soll er darum wissen. Pilatus versteht das Wort, und versteht, wie V. 12 zeigt [Pilatus wollte Jesus deshalb freilassen], daß er die Konsequenz daraus zu ziehen hat. Wird er, nachdem er ausdrücklich auf seine Verantwortung vor 117

Vgl. M. Labahn, Bultmanns Konzeption der existenzialen Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas am Beispiel seiner Exegese des Corpus Johanneum. Versuch einer Annäherung im Spiegel der neueren Johannesauslegung, in: U. H. J. Körtner / Chr. Landmesser / M. Lasogga / U. Hahn (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 171–207. Zur neuesten Debatte vgl. U. Schnelle, Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1994–2010. Erster Teil: Die Kommentare als Seismographen der Forschung, ThR 75 (2010) 265–303. 118 Vgl. schon Bultmanns Kritik an Hirsch (s. Anm. 105). 119 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen 1941 (211986), 240.

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Gott aufmerksam gemacht ist, die Kraft zur reinen Sachlichkeit und d.h. zur Entscheidung gegen die Welt finden?« Bultmann fügt hinzu, »auf die eigentümliche Zwischenstellung des Staates zwischen Gott und Welt« weise auch die Fortsetzung des Jesuswortes hin (»Deshalb hat der, der mich dir überliefert hat, größere Sünde«, Joh 19,11b). »Der Staat«, so schreibt Bultmann, »vollzieht, sofern er wirklich als Staat handelt, seine Handlungen ohne persönliches Interesse; handelt er sachlich, so kann von einer łĖċěĞưċ bei ihm überhaupt nicht die Rede sein. Handelt er unsachlich, indem er sich von der Welt für ihre Wünsche mißbrauchen läßt – wie Pilatus zu tun in der Gefahr ist und dann auch wirklich tut  –, so behält sein Handeln doch immer noch etwas von seiner Autorität; noch ist wenigstens die Form des Rechtes gewahrt und damit die Autorität des Rechtes anerkannt, sodaß sich der ungerecht Verurteilte zu fügen hat … Der Staat kann, so lange er noch in irgendeinem Grade staatlich handelt, nicht mit der gleichen persönlichen Feindschaft, mit dem gleichen leidenschaftlichen Haß handeln, wie es die Welt tut, – wie sehr er auch durch Unsachlichkeit seine Autorität ruinieren mag. Er kann der Welt verfallen; aber seine Motive sind nie mit denen der Welt identisch. Und im vorliegenden Falle ist es klar: Pilatus hat gar kein persönliches Interesse am Tode Jesu; er verfolgt ihn nicht mit dem Haß wie die Juden, die ihm Jesus überliefert haben. Sie tragen die größere Sünde, die eigentliche Verantwortung. Und ihre Sünde ist sozusagen doppelt, weil zu ihrem Haß gegen Jesus noch der Mißbrauch des Staates für ihre Zwecke kommt.«120

Der Sinn dieser Aussagen ist deutlich: Der Staat, wie er nach dem Johannesevangelium durch Pilatus repräsentiert wird, ist immer noch besser als das gegenwärtig in Deutschland herrschende Regime; denn dieses Regime wahrt nicht einmal mehr die Form des Rechts, sondern es handelt im Gegenteil »mit der gleichen persönlichen Feindschaft, mit dem gleichen leidenschaftlichen Haß«, wie ihn im Johannesevangelium die gottfeindliche Macht der »Welt«, repräsentiert durch »die Juden«, Jesus gegenüber an den Tag legt. Der NS-Staat ist also in Bultmanns Perspektive im Lichte des Johannesevangeliums gar nicht »Staat«, sondern »Welt« – die manifeste Macht des Bösen. Wahrscheinlich wußte Bultmann schon beim Schreiben dieser Zeilen, dass durch diese Auslegung die Grenze des exegetisch Möglichen im Grunde überschritten wurde; so hat er später diese Passage erheblich verändert.121 Alle diese Äußerungen Bultmanns waren natürlich keine Widerstandshandlungen, wenn man Widerstand dahingehend definiert, dass auf einen mehr oder weniger gewaltsamen Umsturz hingearbeitet wird. Aber im Rahmen seines kirchlichen Auftrags und mit seinen Mitteln als wissenschaftlich 120

Bultmann, Evangelium des Johannes (s. die vorige Anm.), 512 f. Ergänzungsheft zum Kommentar (Neubarbeitung 1957), 54 (zu S. 512 f.). Vgl. zu diesem auffälligen und sehr ungewöhnlichen Wechsel in Bultmanns Exegese: D. Lührmann, Der Staat und die Verkündigung. Rudolf Bultmanns Auslegung von Joh 18,18 bis 19,16, in: C. Andresen / G. Klein (Hg.), Theologia Crucis – Signum Crucis, FS E. Dinkler, Tübingen 1979, 359–375. 121

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arbeitender Exeget hat Bultmann die staatliche Wirklichkeit der Gegenwart in aller Schärfe kritisiert, so dass jedenfalls Pfarrer, die ihn zu lesen vermochten, verstehen konnten, worum es ging und die Chance hatten, für ihre eigene Verkündigung daraus Folgerungen zu ziehen. Als am Sonntag, dem 22. Juni 1941, der deutsche Angriff auf die UdSSR beginnt, eröffnet Bultmann seine an diesem Tage gehaltene Predigt über Lk 14,16–24 mit dem eindringlichen Hinweis auf »die große Sorge, die heute auf uns allen liegt«; er spricht dann explizit davon, dass »Deutschland heute kein christliches Land mehr ist, daß das kirchliche Leben nur noch ein Rest ist, und daß manche wünschen und hoffen, daß auch dieser Rest bald verschwinde«.122 Was eine solche Predigt, die, von Studenten illegal vervielfältigt, in der Bekennenden Kirche in Kurhessen-Waldeck kursierte123, damals bedeutete, kann man ermessen, wenn man sie vergleicht mit dem Telegramm, das der Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche anläßlich des deutschen Angriffs auf die Sowjet-Union an Hitler schickte: Der Rat »versichert Ihnen, mein Führer, in diesen hinreißend bewegten Stunden aufs neue die unwandelbare Treue und Einsatzbereitschaft der gesamten evangelischen Christenheit des Reiches. Sie haben, mein Führer, die bolschewistische Gefahr im eigenen Lande gebannt und rufen nun unser Volk und die Völker Europas zum entscheidenden Waffengange gegen den Todfeind aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur auf.« Und weiter: »Der allmächtige Gott wolle Ihnen und unserem Volk beistehen, daß wir gegen den doppelten Feind den Sieg gewinnen, dem all unser Wollen und Handeln gelten muß.«124 Ein Vorwurf, Bultmann habe mit Sätzen wie den am 22. Juni 1941 gesprochenen zu wenig getan, wäre also fehl am Platze; wohl aber haben viel zu wenige so gesprochen wie Bultmann.

VI. Hans von Soden setzte sich in Vorträgen und in Buchbesprechungen immer wieder mit der aktuellen Entwicklung auseinander. Als der damals noch junge Neutestamentler Walter Grundmann mit pseudowissenschaftlichen Argumenten beispielsweise die These vertrat, Jesus als Galiläer sei gar kein Jude gewesen125, wies von Soden minutiös den historischen Sachverhalt auf, dass Jesus Jude war und blieb, und dass dies von allen neutestamentlichen 122

Bultmann, Marburger Predigten (s. Anm. 11), 129. Schneider, Bekennende Kirche (s. Anm. 55), 520. 124 Zitiert nach Beckmann (Hg.), Kirchliches Jahrbuch (s. Anm. 44), 458. 125 W. Grundmann, Jesus der Galiläer und das Judentum, Leipzig 21941. 123

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III Studien zur Auslegungs- und Theologiegeschichte

Texten einhellig bezeugt wird.126 Sehr eingehend bespricht er das »Volkstestament«, eine »Übertragung« der synoptischen Evangelien ins Deutsche, die unter Federführung Grundmanns unter dem Titel »Die Botschaft Gottes« 1940 erschien. Das Ziel des »Volkstestaments« ist es, »Legenden« und die »Verunstaltung, die im wesentlichen judenchristlichem Einfluß zu verdanken ist«, zu beseitigen, denn darin liege »der Hauptanstoß der heutigen deutschen Menschen, zumal wenn sie um die geschichtsnotwendige Auseinandersetzung zwischen Deutschtum und jüdischer Überfremdung wissen«.127 Von Soden geht nun sehr ausführlich und geduldig auf exegetische Grundentscheidungen ein und kritisiert Auslassungen und z. T. unsachgemäße »Erklärungen« zur Übersetzung. Er stellt dann aber fest, dass »das Evangelium an nicht wenigen und nicht unwesentlichen Punkten verkürzt und verändert« ist. Ein »Rätsel« sei ihm, wie sich die Herausgeber die Wirkung des Buches denken: »Sie können doch unmöglich meinen und wollen, daß der von ihnen hergestellte Text von den Benutzern für eine wissenschaftliche Entdeckung gehalten wird, die unter ›jüdischem Einfluß‹ bisher von der Kirche dem Volke vorenthalten wurde … Sehen wir von den wenigen ab, die etwa wirklich meinen könnten, das VT. biete echte und richtige, die Lutherbibel falsche Überlieferung, so werden die einen klagen, daß ihnen hier ein anderes Evangelium verkündigt werde, und andere werden den Vorwurf erheben, daß die Herausgeber in unredlicher Weise für Jesus werben, indem sie ihn anders erscheinen lassen, als ihn die neutestamentliche Überlieferung darstellt.«128 Im übrigen publizierte von Soden nach 1933 wenige neutestamentliche Forschungsarbeiten, sondern er hielt vor allem Vorträge zu theologischen oder kirchenpolitischen Themen und Problemen. Im Jahre 1937 sprach er vor Pfarrern der Bekennenden Kirche über Artikel I der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche und über die Barmer Theologische Erklärung.129 In diesem Vortrag, der ihm eine Rüge des Wissenschafts126 H. von Soden, Jesus der Galiläer und das Judentum, DtPfrBl 46 (1942) 49–51, abgedruckt in: Ders., Urchristentum und Geschichte. Ges. Aufsätze und Vorträge, hg. v. H. von Campenhausen. Bd. 1: Grundsätzliches und Neutestamentliches, Tübingen 1951, 150–158. 127 Zitiert nach: H. von Soden, Die synoptische Frage und der geschichtliche Jesus, Essen (als Handschrift gedruckt) 1941, abgedruckt in: Ders., Urchristentum und Geschichte I (s. die vorige Anm.), 159–213, hier: 160. 128 Von Soden, Synoptische Frage (s. die vorige Anm.), 204f. Abschließend erwähnt von Soden, die Herausgeber betonten, »daß sie in einer deutschen Verantwortung ihr Werk tun«, und dazu stellt er die rhetorische Frage: »Sollte diese eine andere sein können als die, daß das deutsche Volk kein anderes und ärmeres Neues Testament hat als die christliche Welt?« (213) 129 H. von Soden, Artikel 1 der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom Juli 1933 und die Barmer Theologische Erklärung, in: Ders., Urchristentum und Ge-

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ministeriums eintrug130, zeigte er in sorgfältiger systematisch-theologischer Argumentation, dass die Lehre der »Deutschen Christen« mit dem genannten Verfassungsartikel unvereinbar ist, während die Barmer Erklärung ihm vollständig entspricht. Von Soden weist auch in diesem Vortrag eine Vermischung von staatlichen und kirchlichen Regelungen und Normen zurück. Ein Thema ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der möglichen »Eigengesetzlichkeit« staatlicher Bestimmungen, und dabei erörtert von Soden, ohne ausdrückliche Erwähnung der Nürnberger Gesetze, eingehend die Frage der Ehe zwischen Menschen unterschiedlicher »Rassen«. »Es mag ja z. B. sein, daß die Eigengesetzlichkeit der Ehe als der natürlichen Institution, in welcher das Volk sich fortpflanzt und erhält, das Konnubium verschiedener Rassen beschränkt oder verbietet … Überzeugt sich davon die Regierung eines Volksstaates, so kann ihr das Recht nicht abgesprochen werden, entsprechende Gesetze zu erlassen. Wider Gottes Ordnung«, so sagt er, »ist eine Ehe von Menschen verschiedener Rasse an sich nicht«, doch er fährt dann fort: »Wider Gottes Ordnung wäre jedoch die Ehe, die den Gesetzen des Staates, in welchem Christen leben, nicht entspräche.«131 Plädiert von Soden damit für eine Respektierung der seit Herbst 1935 in Deutschland geltenden Bestimmungen? Offenbar nicht, denn es heißt dann weiter: »Gegen diese Gesetze darf er [der Christ] nur handeln, wenn ein positives Gebot Gottes es fordert, und wenn er bereit ist, dafür zu leiden. Es ist nicht zu erwarten, daß die Welt Gottes Gebote ernst nimmt, wenn sie der bekennende Christ nicht ernst nimmt.«132 Von Soden macht damit deutlich, dass es im Unrechtsstaat keinen Rechtsanspruch auf die Anerkennung einer »gemischtrassigen«, also gesetzwidrigen Ehe gibt; aber der einzelne Christ ist von Gottes Gebot her dazu berechtigt, das staatliche Gesetz zu verletzen, und dann muß er bereit sein, die entstehenden Konsequenzen zu tragen. Welche Haltung von Soden persönlich einnahm, zeigen seine Ausführungen in einem weiteren im Jahre 1937 gehaltenen Vortrag, in dem er auch auf den »modernen Rassengedanken« zu sprechen kommt. Die Vorstellung eines unterschiedlichen Wertes der »Rassen« und eines daraus resultierenden Herrschaftsanspruchs enthalte »unzweifelhaft ein sehr subjektives Moment …; es ist etwas sehr anderes, sich in seiner Art zu erkennen und zu bejahen als in seinem Wert. Überwertigkeitsgefühle sind hier wie auch im Einzelschichte II (s. Anm. 55), 272–293. Der Text des Art. 1 der Kirchenverfassung lautete: »Die unantastbare Grundlage der DEK ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die Vollmachten, deren die Kirche für ihre Sendung bedarf, bestimmt und begrenzt.« 130 Theologie und Kirche (s. Anm. 7), 262–265. 131 Von Soden, Artikel 1 (s. Anm. 129), 281 f. 132 Von Soden, Artikel 1 (s. Anm. 129), 282.

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leben von Minderwertigkeitsgefühlen schwer zu unterscheiden.«133 Von Soden sagt das zu einer Zeit, in der die »wissenschaftlich begründete« Lehre von der Überlegenheit der »arischen Rasse« über die anderen, insbesondere über die jüdische »Rasse« in Deutschland als absolut verbindliche Erkenntnis und Norm gilt. Die Kirche, so betont von Soden, ist »der Volksgemeinschaft zu Dienst befähigt und verpflichtet, weil sie in ihr einen Schöpfungsbefehl erkennt«, aber damit ist sie »insoweit auch den nichtchristlichen Gliedern der Volksgemeinschaft voll verpflichtet«, und von diesem Auftrag kann sie sich nicht befreien lassen. »Mit ihrem Schöpfungsglauben muß die Kirche jedoch auch in dem Sinne ernst machen, daß Schöpfung für den Christen auch der Volksfremde und der Volksfeind ist.«134 Im Kontext des demokratisch verfaßten Staates fällt es nicht leicht, den Gedanken nachzuvollziehen, dass auch fundamental ungerechte Rechtsnormen zu respektieren sind, wie es von Soden voraussetzt; die Befolgung ungerechter Gesetzesforderungen kann selber ein Akt des Unrechts sein. Tatsächlich steht hinter von Sodens Haltung offenbar die unserem Denken nicht entsprechende Auffassung, dass es keine spezifische Affinität der Kirche und des Christentums zu einer bestimmten Staatsform gibt und dass die Kirche als solche also nicht den Auftrag hat, eine bestimmte Staatsform zu fördern oder eine andere zu verwerfen.135 Ähnlich wie Bultmann in seiner Predigt vom 7. Juni 1936136 spricht auch von Soden in der Zeit des Stalinschen Terrors in dem erwähnten Vortrag über die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche und die Barmer Erklärung explizit von der Lage der christlichen Kirche in Rußland: Man dürfe von ihr nicht verlangen, sie müsse den Sowjetstaat ablehnen und sich im Widerstand gegen ihn aufreiben lassen.137 Denn, so heißt es an anderer Stelle, der Gehorsam des Christen gegen den Staat und dessen Gesetze kann nicht davon abhängig gemacht werden, wie sich dieser Staat der Kirche

133

H. von Soden, Der Dienst des Staates und der Kirche an der Volksgemeinschaft, Evangelisch-Sozial 42 (1937) 77–101; abgedruckt in: Ders., Urchristentum und Geschichte II (s. Anm. 55), 219–247, hier: 224. 134 von Soden, Dienst (s. die vorige Anm.), 243 f. 135 Vgl. demgegenüber die Denkschrift der EKD »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie«, Gütersloh 1985, in der schon in der Einleitung festgestellt wird, sie wolle »die Zustimmung evangelischer Christen zur demokratischen Staatsform des Grundgesetzes begründen und ihre Konsequenzen für das Leben als Bürger in unserem Staat erörtern« (17). Zwar vertrete die Kirche »aus Gründen des Glaubens heute so wenig wie sie das in der Geschichte getan hat eine abstrakte, allgemeine Staatstheorie«, aber »wir wollen daran mitwirken, daß der Staat nach menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen auf demokratische Weise dem gerecht wird, was ihm nach Gottes Willen aufgegeben ist« (18). 136 S. oben bei Anm. 11. 137 von Soden, Artikel 1 (s. Anm. 129), 288.

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gegenüber verhält.138 Deshalb stehe auch in Deutschland »der Kirche als solcher« kein Urteil darüber zu, ob die Ablösung des liberalen Staates durch den totalen Staat etwas Gutes sei oder nicht. Wohl aber müsse sich die Kirche dagegen wehren, vom Staat gleichgeschaltet zu werden; sie dürfe »ihre eigene Aufgabe um keinen Preis dem Staat überlassen, wie immer er weltanschaulich gerichtet und politisch verfaßt sei«.139 Welchen Sinn eine derartige theologische Position hat, kann man sich verdeutlichen angesichts der – theoretischen – Möglichkeit eines im strikten Sinne »christlichen Staates«: Auch in einem solchen Staat wäre die Kirche keineswegs überflüssig, sondern sie behielte ihre spezifische Verpflichtung und Funktion zur Verkündigung – »›zur Zeit und zur Unzeit‹, sei es den Politikern und den Staatsmännern gefällig oder mißfällig«. Aber die Kirche »hat keine eigentlich politische Sendung, sie hat den Staat nicht zu regieren. Sie ist sacerdotium und nicht imperium.« Es begegnet der Kirche »freilich immer wieder, wenn sie sich so aus der Politik heraushalten will, der Vorwurf, sie politisiere, weil sie sich von den Politikern nicht vorschreiben lassen kann, was die Kirche zur Kirche macht …; sowenig, wie der Politiker, der seine Verantwortung wahrnimmt, sich vom Mann der Kirche vorschreiben läßt, was der Staat fordere und ertrage. Auf seine eigene Verantwortung und Gefahr muß der Politiker sich davor hüten, daß er nicht politisch verstehe und behandle, was dies gar nicht ist, und sich dadurch schließlich politischen Widerstand schaffe. Die schwere Aufgabe der Kirche ist, sich im Bunde mit dem Staat nicht binden zu lassen – denn sie ist nicht Staat, sondern Kirche – und im Kampf mit ihm sich nicht von ihm scheiden zu lassen, denn sie ist Kirche im Staate. Für sie als Kirche ist jeder Kampf gegen Menschen, der ihr aufgenötigt wird, ein Kampf um diese Menschen, ›daß sie gerettet werden‹; sonst ist sie nicht mehr Kirche, nicht mehr Kirche Christi, nicht die Kirche seines Kreuzes.«140 Von Soden formuliert dies im Kontext eines Staates, der von allen seinen Gliedern die aktive, ja möglichst – um im NS-Jargon zu sprechen – eine »fanatische« Zustimmung zu seiner Politik verlangt (und von den meisten zu diesem Zeitpunkt wohl auch erhielt), und für den es unerträglich ist, wenn ihm diese Zustimmung verweigert wird. Auch für von Soden gibt es aber die Situation, in der aktiver Widerstand geboten ist: Einem Befehl der Regierung, »der nach meiner Überzeugung wider Gottes Wort ist und mich zur Sünde zwänge, … müßte ich Widerstand leisten und das Zeugnis des Leidens übernehmen, das dann etwa über mich verhängt würde« – dies freilich nicht deshalb, weil womöglich »das Christentum über der Nation stände« oder gar weil es »international (bes138

Von Soden, Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit (s. Anm. 116), 269. von Soden, Artikel 1 (s. Anm. 129), 288. 140 Von Soden, Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit (s. Anm. 116), 251 f. 139

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ser: universal) ist«, sondern deshalb, »weil der Anspruch der Obrigkeit an Gottes Wort seine Grenzen hat und weil ich meinem Volk, meiner Nation das Zeugnis für Gottes Wort schuldig bin, den Protest schuldig bin gegen die Sünde einer Obrigkeit, welche etwas gegen Gottes Wort befehlen und dadurch das Volk gefährden würde.«141 Hier wendet sich von Soden ganz ausdrücklich gegen die Vorstellung, der Hinweis auf »das Nationale« hebe die Bindung an Gottes Gebot auf.142

VII. Hans von Soden und Rudolf Bultmann waren von ihrem theologischen Ansatz her unterschiedlich denkende Wissenschaftler.143 Bultmann allerdings hatte das Lager der liberalen Theologie verlassen, umgekehrt war von Soden das Denken der Dialektischen Theologie fremd geblieben. Was sie nach 1933 eng miteinander verband, war die vom Neuen Testament her gewonnene Überzeugung, dass sich die Kirche unter keinen Umständen mit staatlich geltenden Normen und gar mit einer staatlich verordneten Weltanschauung verbinden und womöglich vermischen dürfe. Was sie verband, war – etwas abgekürzt gesprochen – das reformatorische »solus Christus«; dabei spielte es keine Rolle, dass beide von ihrer subjektiven politischen Überzeugung her ohnehin keine Anhänger Hitlers waren. Es ging nicht darum, dass sie für ihre bereits vorhandene politische Einstellung eine theologische Begründung zu finden versuchten, und ihre theologische Denkarbeit zielte auch nicht darauf ab, eine bekenntnisgemäße Überhöhung für ohnehin bereits als politisch richtig Angesehenes zu formulieren. Sie handelten als Theologen im Raum der Kirche aus der Erkenntnis heraus, dass nur eine Kirche, die wirklich Kirche blieb, als Gegengewicht zu dem sich immer mehr ausbreitenden totalen Staat erkannt und anerkannt werden konnte. Konsequenterweise verwarf Bultmann deshalb eine »politische Theologie« nicht nur dann, wenn er, wie im Fall der »Deutschen Christen«, mit deren politischer Tendenz inhaltlich nicht übereinstimmte. In den fünfziger Jahren widersprach Bultmann der Forderung, die Kirche müsse in konkreten politischen Fragen »klare Weisung« geben; wer das fordere, so schrieb 141

Von Soden, Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit (s. Anm. 116), 263. Von Soden, Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit (s. Anm. 116), 263 f. 143 Als sie 1928 gemeinsam das Neuerscheinen der »Theologischen Rundschau« vorbereiteten, betonten sie in dem an künftige Mitarbeiter gerichteten Rundbrief, es sei »als Mitarbeiter jeder willkommen, dem der Ernst und die Wahrhaftigkeit der theologischen Wissenschaft am Herzen liegt. Nicht die Zugehörigkeit zu einer Richtung oder Schule ist für die Gewinnung der Mitarbeiter maßgebend, sondern die sachliche Eignung« (zitiert nach: Göckeritz, Bultmann-Gogarten Briefwechsel [s. Anm. 27] Anhang Nr. 7, 289–291). 142

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Bultmann 1958, der »mutet der Kirche Unmögliches zu. Denn die Kirche, die hier Weisung geben soll, besteht ja in concreto aus den Männern des Kirchenregiments, und diese können nur ihr persönliches Urteil abgeben«.144 Die Theologie habe »streng darüber zu wachen, daß keine Vermischung des christlichen Glaubens mit einem politischen Programm eintritt«.145 Bultmann hätte diese Sätze auch zwanzig Jahre früher so geschrieben haben können. Dennoch berücksichtigt er, dass im politischen Raum eine grundlegende Veränderung eingetreten war.146 Die Existenz des demokratischen Staates bedeutet zwar nicht, dass nun auch die Theologie eine andere zu sein hat; aber da die Beteiligungsrechte der Bürger an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen sich nun grundsätzlich anders darstellen, entsteht für die Kirche der Auftrag, die Christen als Bürger im demokratischen Staat an ihre Verantwortung für die politischen Entscheidungen zu erinnern und ihnen diese Verantwortung in »der Predigt einzuschärfen«, wie Bultmann sagt. Aber, so fährt er fort, »Theologie und Kirche haben nicht die Aufgabe, politisch verbindliche Regeln aufzustellen und damit den einzelnen Menschen die Verantwortung für die eigene Entscheidung abzunehmen.«147 Hans von Soden und Rudolf Bultmann haben sich in der Zeit des Nationalsozialismus der deutschchristlichen politischen Theologie prinzipiell verweigert. Dies war kein taktisches, politisch begründetes und also subjektives Nein; sondern es war ein Nein, das unmittelbar aus dem Glauben und aus der theologischen Reflexion resultierte und das deshalb von ihnen auch mit so beeindruckender Konsequenz durchgehalten worden ist.

144

R. Bultmann, Gedanken über die gegenwärtige theologische Situation (1958), in: Ders., Neues Testament und christliche Existenz (s. Anm. 5), 267–273, hier: 272. Die Wendung »Männer des Kirchenregiments« entspricht der damaligen kirchlichen Wirklichkeit. 145 Ebd. 146 Vgl. etwa Bultmanns 1952 erstmals publizierten Aufsatz: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur, in: Glauben und Verstehen II (s. Anm. 97), 274–293 und den Aufsatz: Der Gedanke der Freiheit nach antikem und christlichem Verständnis (1958), in: R. Bultmann, Neues Testament und christliche Existenz (s. Anm. 5), 274–283. 147 Bultmann, Gedanken (s. Anm .144), 273.

Register Stellen 1. Altes Testament Genesis 1,1 1,26 f. 2,7 3 3,13 12,2 15,3 f. 15,5 15,6 28,12 39,19

178 295, 401 401 401 f. 71 294 179 294 63 f. 402 402 f.

Exodus 3,5 3,14 6,1–8 16,18 20,1 ff. 20,12 20,13 21,22–24 21,22 f. LXX 23,26

179 404 404 270 f. 404 f. 179 293 293 f. 294 f. 294

Deuteronomium 5,16 179 5,17 293 6,5 174 17,7 240 19,19 240 24,14 315 30,12–14 125 30,19 405 34,6 405

1. Könige 17,22

128

1 Esra (LXX) 9,51.54

237

2 Esra (LXX) 18,10

237

Psalmen 1 6,9 LXX 8,3 8,6 16,8–11 18,5 LXX 19,1 24,1 LXX 37,11 36,11 LXX 50,6 LXX 69,10 104 110 110,1 111,9 LXX 118,22

407 209 220 407 f. 134, 136 164 400 179 181 216 56 222 f. 408 408 f. 11, 17, 137, 144 275 211

Sprüche 22,8.11

274

Jesaja 6,9 f. 7,14 8,23–9,1 28,16 52,7

156 394 180 164 176

488

Register

11,2 f.7 f. 14 17 17,21–26 18 18,3

176 54 f., 57, 65 67 f. 142 68 64

55,10 LXX 56,7 65,17–25 66,1 f.

275 203, 205, 214, 220 186 179

Jeremia 1,5 7,11 31,15

60 203, 220 215

Ezechiel 36,38

183

Pseudo-Phokylides 177–194 297 184 f. 287, 296

Hosea 6,2 10,12 LXX

10 275

Syrischer Baruch 29,8 269

Amos 9,11 f.

155

äthiopisches Henochbuch 98,4 f. 294

Micha 7,6

218

Sacharja 14,21

222

2. Jüdische Schriften außerhalb des Alten Testaments

Apokalypse Abrahams 29,3–11 30

Testamente der zwölf Patriarchen Simeon 4,5 264 f. Ruben 4,1 264 Qumran und rabbinische Literatur 4Q pNah I–II 39 4Q 171 181 bPes 88a 177 bPes 113a 176 f.

1. Makkabäer 3,6

209

3. Jüdisch-hellenistische Literatur

2. Makkabäer 8,23 14,17

213 213

Flavius Josephus Vita 9–11 34

4. Makkabäer 2,6

70

Weisheit Salomos 12,4–6 296 Psalmen Salomos 2,15–18 53 8,24–26 53 f. 9,1 f. 54 9,9 64 10,4 65

Antiquitates Iudaicae XIII 171–173 37 XIII 297 f. 37 f. XVII 41 39 XVIII 11–15 37 XVIII 63 f. 30 Bellum Iudaicum II 119–166 38 f. II 409 ff. 279

489

Stellen

Contra Apionem II 199–202 296 Philo von Alexandria De Confusione Linguarum 68 45 Legatio ad Gaium 330 178 In Flaccum 76

178

Quis rerum divinarum heres sit 145 269 191 271 313 177 f. De Specialibus Legibus III 83–119 295 IV 230–232 269 Oracula Sibyllina II 279–282 297

4. Neues Testament Matthäusevangelium 1,18–23 17 1,22 394 2,16 f. 215 2,19–21 180 4,1–11 394 f. 4,15 f. 180 4,23–25 216 5,3 396 5,5 180–183, 187, 216 5,9 217 5,13 183 5,21–26 217 5,31 f. 122 5,39 f. 242 5,43–48 217 f. 5,44 122, 195 6,10 178, 183 f. 7,12 208 8,5–13 173 8,28–34 216

10,5 f. 10,15 10,34–37 10,34 10,37 10,39 11,20–24 11,27 12,9–14 12,28 12,30 14,1–12 19,12 19,16–22 19,23–26 19,27–30 19,28 20,26 21,10–22 21,12–16 21,23 22,2–10 22,11–14 23,15 23,33 25,14–30 25,31–46 26,51 f. 27,51–53 28,18–20 28,18

173 208 218 195 211 202 218 376 40 121 210 215 298 321–323 323 324 f. 142, 182 197 220 397 f. 220 219 219 35 f. 219 212 219 221 398 28, 174, 189 216 f.

Markusevangelium 1,1 319 1,14 f. 198 1,14 319 1,21–28 198 2,1–12 396 2,23–3,6 38 2,27 122 3,15 195 3,22–30 200 3,30 198 3,31–35 320 5,1–20 199 f. 6,7 195 7,15 122 7,19 122

490 8,27–30 8,35 9,40 9,42 9,43–48 10,2–12 10,17–31 10,21 10,25 10,28–30 10,37–43 10,45 11,9 f. 11,15–19 11,15–17 12,1–12 12,13–17 12,35–37 12,41–44 15,2 15,11–13 15,40 f.

Register

141 201 f. 210 201, 205 201 83, 319 314–320, 397 339 f. 340 121, 211 197 98 141 202–205 8 201 197, 224 18, 99 268 123 f. 135 121

Lukasevangelium 1,30–35 17 1,34–38 305 2,14 205 f. 2,22–39 214 2,41–50 214 3,7–14 207 4,29 206 6,27 195, 207 6,29 207 6,32–36 208 7,1–10 173 7,10 87 8,1–3 121 9,50 210 9,53 ff. 213 10,2–12 208 10,13–15 208 f. 10,18 120 11,2–4 7 f. 11,14–23 209 f. 11,20 121 11,37–52 39 f. 12,49–53 210 13,1–5 212

13,23–30 13,31 13,32 13,34 14,16–24 14,26 f. 14,28–32 16,18 17,1 f. 17,20–37 18,9–14 18,18–23 18,24–27 18,28–30 18,29 19,12–27 19,37 f. 19,38 19,45 f. 19,47 f. 20,9–19 21,5–38 22,28–30 22,30 24,9–12 24,13–35 24,21 24,34 24,36–43 24,47

209 206 123 23 479 211 212 f. 83, 122 211 41 41 f. 323 324 325 319 212 213 206 214 214 211 213 f. 142 212 136 135 f., 147 152 137 135, 137 28

Johannesevangelium 1,31 174 1,47 174 1,48 173 2,1–11 390 2,13–22 185, 222 f. 3,3–10 175 3,16 223 3,22 179 8,44 28 9,22 29 13,34 390 14,1 ff. 390 f. 15,1–17 185 16,33 223 18,28–19,16 477 f. 19,12 8

491

Stellen

19,15 20,18 20,30

174 f. 144 f. 391

Apostelgeschichte 1,6 152 f., 184 2,1–4 138 2,14–36 132–140 2,14 152 3,1 13 5,29 153 6,8–15 151 6,8–10 188 7 179 7,55 373 7,60 108 8–10 14 f. 8,1.3 14 8,1 48, 152 9,1 13, 49 9,19–22 108 f. 9,20–22 188 9,22 155 9,23–30 109 9,26 ff. 106 10,34 f. 154 11,25–30 109 11,27–30 254 11,29 18 13,9 46 13,15–41 110 13,38 f. 57 14,15 178 15,1–29 110 15,13–21 155 17,1–9 21 18,6 231 18,24–19,1 235 20,2–4 280 20,17–35 110 21,18–26 280 21,28 152 21,39 44, 109 22,1–21 43 23 43 24,1–9 281 24,17 281 26,2–23 43

28,23 28,24–29 Römerbrief 1,3–4 1,16 f. 1,17 1,25 3,21–30 3,28–30 3,29 4,13–18 4,13 7,5 f. 7,7–14 8,28–30 9,1–11,36 9,3–5 9,4 9,6 10,2 f. 10,4 10,9 10,14–16 10,17 11,1–6 11,1 11,8 11,13–15 11,17–24 11,21–23 11,25 f. 11,31 12,9–21 12,18 13 15,8 15,26 f. 15,26.31 15,30 f. 15,31

373 156 91 f. 389 381 f. 147 382 f. 62 26 64 185 69 70 f. 344, 346, 351–353 159–172, 345–348, 353–363, 384–386 185 f. 156 24 51 125, 163, 475 124–131, 138–140 130 140 24 155 f., 165 166 23 24 171 25 169 f. 90 225 386 f. 61 f. 276–278 254 278 f. 186

1. Korintherbrief 1,11–17 228 1,11 417 1,12 235 1,13–17 233

492 1,26–29 1,26 f. 4,11–13 5,1–13 5,9 6,1–8 6,9 f. 6,12–20 6,19 f. 7,1–16 7,1 7,2–5 7,10 f. 7,12–16 7,18 f. 7,29–31 7,32–35 8,6 8,7 8,10–14 9,8–11 9,14 f. 9,14 9,15–18 9,19–23 10,14–22 10,18 10,26 10,32 11,2–6 11,3 11,14 11,17–34 11,23–25 12,12 12,27 14,23–25 15,3–7 15,4 15,5–7 15,5 15,6 15,9 15,12 15,20 15,23–28 15,29 15,32

Register

233–235, 238 259 90 228, 240 f. 241 228, 241 f., 248 248 242 f., 248 305 80–86 228 298 89, 111 243 f. 231 452 247 126, 147 f. 232 244 232 87 f. 111 88 f. 23 248 156, 172 179 239, 245 245 387 f. 388 236–238 10, 75, 92 f., 99, 127 f. 229 229 246, 248 93–96, 99 10 f. 127 120 138 140 228, 235 146 67 246 50

16,1–4 16,2

254, 247–262 251

2. Korintherbrief 1,8 50 2,12 f.; 7,5–16 229 3,6 376 3,7–11 232 3,14 378 4,6 79 5,16 76, 78, 127 6,4–10 249 6,14–7,1 250 f. 8,1–24 251, 255, 264–272 8,1 260 8,2 256 8,13 282 9,1–15 251, 255, 272–277 9,11 265 11,13 263 11,16–12,10 230, 250 11,22 f. 249 11,22 44 f. 11,23–25 46 f., 188 11,32 f. 102, 109 Galaterbrief 1,6–12 1,11–24 1,11 f.18 f. 1,13 1,14 1,15 f. 1,16 1,18 1,23 2,1–10 2,10 2,11–14 2,15 2,21 3,8 f. 3,10–14 3,13 3,16 f. 3,21 3,28 4,4–6

446 100–107 75 13, 48, 79 14 58–60, 66 18 f. 127 15 f., 47 107, 253 f. 254, 256 f., 278 107 f. 62 72 274 64 f. 115 376 f. 72 26 f., 459 96 f.

493

Stellen

4,4 4,8–10 4,22–31 5,11 5,19–21 6,2 6,16

99 59 f. 379 36 297 f. 453 f. 156–158, 172

Epheserbrief 1,4 2,2 2,12 2,20 3,9 6,3

344 f., 349 f., 363–367 368 175 374 368 179 f.

Philipperbrief 2,6–11 2,8 3,5 f.

Offenbarung des Johannes 7,4 175 21,1–8 186 f. 21,12 175

5. Altkirchliche Literatur Athenagoras Supplicatio 35,2 299 f. 1. Clemensbrief 1,2–2,8 229 Clemens Alexandrinus Quis dives salvetur? 327–336 Didache 2,2 3,7 5,1 f.

287, 299 181 f. 299

Diognetbrief 5,2–5 5,6

187 f. 299

Tertullian De anima XXV XXXVII LII

301–303 301–303 303

Apologeticum 9

300 f.

1. Timotheusbrief 2,15 298 4,3 298 5,14 298

Minucius Felix Octavius 30,2

300

Hebräerbrief 8,8–12 11,8–10 11,22

175 179 175

Apuleius Met X 23

2. Petrusbrief 3,14–16

339

3,7–9 4,14–20

97 f. 130 33, 42, 44 f., 47, 49, 156 49–51 259

Kolosserbrief 4,1

268

1. Thessalonicherbrief 1,9 f. 19–21, 59, 66 2,14–16 22 f., 61, 98 f. 4,13–18 66 4,15–17 91, 111 5,1–11 90 f. 5,3 21

6. Pagane antike Schriftsteller 292 f.

Aristoteles De anima II 414 288 Hist An VII 583 288 Pol II 1265 288 Pol VII 1335 288

494

Register

Diodorus Siculus XL 3,8 296

Seneca Ben II 1,2

267, 276

Epiktet Diss I 23

Soranos Gyn I 19,60

289 f.

Suetonius Augustus 34 Domitian 22

291 292

Tacitus Ann III 25 Germania Hist V 5

291 291 f. 292

291

Musonius Rufus Diatr 15 291 Platon Pol V 459

288

Plinius Ep IV 11,6

292

Polybios Hist 36, 17,7

290 f.

Autoren Aland, Kurt 461 Allison, Dale C. 36, 76, 90, 95, 142, 173 f., 181, 216 Amstutz, Jakob 265, 276 Andrews, Alfred C. 238, Armbruster, Jörg 383, 445 Arzt-Grabner, Peter 81, 234 Atkinson, Kenneth 53, 67 Ådna, Jostein 203 f., Bachmann, Michael 157 f. Backhaus, Knut 120, 175, Barrett, Charles K. 133, 155, 266, 268 Barth, Gerhard 9 f. Barth, Karl (s. Sach- und Themenregister) Barth, Peter 343 Bauer, Johannes B. 202 Baumann, Michael 413 Baumert, Norbert 84, 86 Baumgarten, Albert I. 35 f., 47 Baur, Ferdinand Christian (s. Sachund Themenregister) Becker, Eve-Marie 60, 263 Becker, Jürgen 5, 8, 11, 33, 35 f., 50,

52 f., 66, 71, 78, 92, 107 f., 118, 120, 127, 129, 264 f., 416, 441 Behrens, Achim 63 Beintker, Michael 50, 449 Ben-David, Arye 262 Berger, Klaus 257, 436 Bertholet, Alfred 420 Betz, Hans Dieter 14, 216, 251, 257, 263–267, 270, 273, 275 f., 280 Beutel, Albrecht 421 Bieringer, Reimund 249, 264 Billerbeck, Paul 8, 177, 181, 356, 365 Blacketer, Raymond A. 403 Bleicken, Jochen 206 Böhlemann, Peter 207 Borg, Marcus J. 205 Bornkamm, Günther 36, 117, 162, 360 Bosenius, Bärbel 263 Bovon, François 56, 206, 208, 210 Boyarin, Daniel 15 Brandenburger, Egon 363 Braun, Herbert 52, 57 Breitenstein, Jules 74 Breytenbach, Cilliers 60 Büchsel, Friedrich 60 Buess, Eduard 343

Autoren

Bultmann, Rudolf 4, 24, 75, 117 f., 127, 164, 255, 267, 315, 318, 414–416, 446 f. (s. auch Sach- und Themenregister) Bultmann-Lemke, Antje 462 Burchard, Christoph 58, 66 Busemann, Rolf 314 Calvin, Johannes 161, 261 (s. auch Sach- und Themenregister) Campenhausen, Hans von 335 Campi, Emidio 371 Caragounis, Chris 227 Catchpole, David 83 f. Cho, Gwang-Ho 258 Choi, Sung Bok 246 Chojecka, Ewa 2 Clarke, Andrew D. 235 Classen, Carl Joachim 264 Collins, John J. 297 Conzelmann, Hans 43, 85, 87, 90, 93, 105, 110, 117, 127 f., 132 f., 153, 215, 243, 260, 263, 280 f., 296 Crüsemann, Frank 293, 310 Crüsemann, Marlene 20–23, 60 f., 98 f., 256 Dalferth, Ingolf U. 146 Danz, Christian 118 Davies, W. D. 36, 95, 142, 173 f., 181, 184 f., 216 De Boer, Martinus 230, 233, 235 Dechow, Jens 200 Deichgräber, Karl 290 Deines, Roland 34 Deißmann, Adolf 292 De Jonge, Henk Jan 92–94, 444 Delling, Gerhard 25, 82, 291 Demel, Sabine 284, 287, Denaux, Albert 212 Detmers, Achim 400 De Vos, J. Cornelis 178 Dibelius, Martin 336 Dihle, Albrecht 208, 331 Dinkler, Erich 141, 354, 360, 362, 455 Dobschütz, Ernst von 21 Dodd, Charles H. 359 Dohmen, Christoph 149, 412

495

Dölger, Franz Joseph 288 f. Downing, Francis Gerald 121 Downs, David J. 253, 255, 262, 271, 273, 276 Drescher, Richard 74 Dreyer, Boris 290 Dunn, James D. G. 36, 101, 103, 437 Du Toit, David S. 117, 196 Ebner, Martin 46, 230 f., 262 Eckert, Jost 280 f., 366 Egger, Wilhelm 339 Ehrlich, Ernst Ludwig 32 Elliger, Winfried 227 Engels, Donald 227 f., Englhofer, Claudia 293 Ernst, Josef 119, 123, 161 Evang, Martin 455 Fascher, Erich 85 f. Fee, Gordon D. 84, 86 Feine, Paul 74 Feldman, David M. 303 Fitschen, Klaus 196 Fitzmyer, Joseph 28, 213 Flaming, Darlene K. 391 Flusser, David 32, 124 Frenschkowski, Marco 14 Frettlöh, Magdalene L. 275 Frey, Jörg 105, 130, Freyne, Sean 35 Frickenschmidt, Dirk 119 Furnish, Victor Paul 98, 127, 250, 263, 268–270, 272 Gemünden, Petra von 70, 203, 275 Georgi, Dieter 253, 257 f., 260, 262, 268 f. Gerrish, Brian A. 370 Gessel, Wilhelm 299 Gnilka, Joachim 253, 255, 280, 314 f., 317–319 Göckeritz, Hermann G. 457, 484 Goebbels, Joseph 464 Gogarten, Friedrich 457, 465 Graf, Friedrich Wilhelm 418 Gräßer, Erich 28, 127, 174, 179, 188, 263, 265, 267–269, 272–276, 447 Greeven, Heinrich 282

496

Register

Greschat, Katharina 444 Grundmann, Walter 474, 479 Gutbrod, Walter 44, 156 Guttenberger, Gudrun 109

Jervell, Jacob 110, Jonas, Hans 450 f. Jülicher, Adolf 74 Jütte, Robert 303

Haacker, Klaus 25, 166, 279, 281, 352–354 Hackl, Ursula 102 Haenchen, Ernst 281 Hahn, Ferdinand 5, 440–442 Hähnel, Ruth 289 Hammann, Konrad 455 f., 461 f., 465 Haniel, Anja 306 Hartenstein, Friedhelm 200 f., Hauschild, Wolf-Dieter 318, 330, 335–338 Häußer, Detlev 77 f., 95–99, Hays, Richard B. 268, 287, 305 Heckel, Theo K. 444 Heidegger, Martin 456 (s. auch Sachund Themenregister) Heil, Christoph 39, 181–183, Hein, Martin 462 Hellholm, David 336 Hengel, Martin 31, 35, 44–47, 49, 95, 105 f., 127, 204, 209, 338 f. Hentschel, Anni 249, 254 f., 273, 276 f., Heusler, Erika 110 Hirsch, Emanuel (s. Sach- und Themenregister) Hirschberg, Peter 186 f. Hoffmann, Paul 39 Hofius, Otfried 69, 103, 125 f., 158 f., 163, 365 Holder, R. Ward 380 Holl, Karl 254 Holm-Nielsen, Sven 34, 52–55, 65, 67 f., 142, 176 Holtz, Traugott 22, 59 f., Honecker, Martin 286, 306, 312 f., 340 Horrell, David G. 234 Hovhanessian, Vahan. 229 Huber, Wolfgang 224, 286, 307 Hübner, Hans 36, 64, 175, 296, 351, 361 f., 364, 366, 436

Kaftan, Julius 74 Kaiser, Otto 52 f., 364 Käsemann, Ernst 26 f., 62, 116 f., 125, 162, 167, 169, 352, 358, 360, 383, 425, 434, 448 Kertelge, Karl 85, 87 f., Kim, Seyoon 78, 90, King, Helen 289, 293 Kirchhof, Renate 243 Klauser, Theodor 238 Klausner, Josef 76 Klemperer, Victor 463 Klöpper, Albert 274 Klumbies, Paul-Gerhard 12, 60, 62, 126, 129 f., 160, 170, 184, 354 Knauf, Ernst A. 102 Knoeppfler, Nikolaus 306 Koch, Dietrich-Alex 17, 25, 45, 60, 65, 120, 162, 164, 169, 232, 238 f., 262, 270, 274, 280, 355, 357 Köhler, Wolf-Dieter 328 Kölbing, Paul 74 Konradt, Matthias 20 f., 217 Köpf, Ulrich 417 Korn, Manfred 133 Körtner, Ulrich H. J. 25, 147, 207, 284 f., 399, 448, 466 Köster, Helmut 80, 88 f., Krämer, Helmut 238, 363 f., Krauter, Stefan 49, 70 Kretschmar, Georg 151 Kristen, Peter 210 f., 320 Kritzer, Ruth E. 81, 84 Küchler, Max 187 Kuhn, Heinz-Wolfgang 80, 88 Kümmel, Werner Georg 74–77, 131, 417, 426

Jackson, B. S. 293 Jantsch, Torsten 67

Laaksonen, Jari 7, 182 f., Labahn, Michael 209, 477 Landmesser, Christof 445 f. Lange, Armin 157 Lattke, Michael 52

Autoren

Lee, Eung-Bong 26 Lekebusch, Sigrid 452 Levine, Amy-Jill 28, 174 Levine, Étan 297 Lichtenberger, Hermann 70 f., 157 Liebing, Heinz 458 Lienemann, Wolfgang 194–196, Lietzmann, Hans 84, 267, 270, 275 Lips, Hermann von 444 Loader, William R. G. 7 Loades, Ann 294 f., 303, 305 Lohmeyer, Ernst 42 Lohse, Eduard 51, 61, 91, 126, 166, 170, 351, 354, 383–385, Longenecker, Bruce W. 254 Löwith, Karl 450 Lubinetzki, Volker 459, 474 Luck, Ulrich 321 Lüdemann, Gerd 11, 16, 73, 138, 146, 230, 256, 417 Lührmann, Dieter 5, 21, 38 f., 52, 65, 119, 122, 136, 141, 173, 203–205, 208, 212, 217, 226, 268, 314, 317 f., 320, 328, 438 f., 444 f., 478 Luz, Ulrich 1, 8, 35–37, 40, 122, 180 f., 183, 202, 208, 210, 217, 219, 313, 322 f., Maier, Johann 29 f., 35, 37, 181, Marguerat, Daniel 13, 131 Markschies, Christof 444 Marxsen, Willi 124, 145 f., 319 März, Claus-Peter 202 Mason, Stephen 37, 41 Meeks, Wayne A. 18 Megitt, Justin J. 238, 282 Mell, Ulrich 121, 201 Mendels, Doron 176 Merk, Otto 86, 413 f., 420 f., 432, 435 f., Merkel, Helmut 7 Merklein, Helmut 81, 91, 233 Merz, Annette 141 f., Metzdorf, Christina 204 Metzger, Bruce M. 59, 162, 170 Metzner, Rainer 9 Michaelis, Gottfried 466, 472 Michaelis, Wilhelm 259 Mitchell, Margaret M. 230, 232

497

Morgan, Robert 434 f. Mühlenberg, Ekkehard 445 Mülhaupt, Erwin 394 Müller, Karlheinz 8 Müller, Ulrich B. 5 Müri, Walther 289 f. Murrmann-Kahl, M. 118 Murphy-O’Connor, Jerome 80, 89 f., 227 Mussner, Franz 60, 363 Neuser, Wilhelm H. 343, 376, 407 Neusner, Jacob 5 Neyrinck, Frans 76 f., 80, 83, 87 Nicklas, Tobias 361 Niebuhr, Karl-Wilhelm 34, 44 Niederwimmer, Kurt 299 Nietzsche, Friedrich 147 Nijenhuis, Willem 370 Nolting, Torsten 35, 44 Noonan, John T. 299, 303 Noth, Martin 357 Nutton, Vivian 289 Oberdorfer, Bernd 12 Oegema, Gerbern S. 18 Oeming, Manfred 63 f., 412 Öhler, Markus 18, 221, 257 Öhler, Theodor 74 Oldenhage, Tania 201 Omerzu, Heike 256, 280 f., Opitz, Peter 370 f., 406 Ostmeyer, Karl-Heinrich 7, 39, 123 Otto, Eckart 194 f. Pannenberg, Wolfhart 146 Paulsen, Henning 352 Peerbolte, Lietaert L. J. 44, 48 f., 58 Pesch, Rudolf 203 Petzke, Gerd 212 Pieler, Peter E. 242 Pilhofer, Peter 45 Piper, Ronald A. 143 Pitkin, Barbara 388 Plümacher, Eckhard 58, 132 Pohlenz, Max 332 Pratscher, Wilhelm 16, 96, Puig i Tàrrech, Armand 119 f.

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Register

Raber, Fritz 82 Räisänen, Heikki 416 Rau, Eckhard 79 Reinmuth, Eckart 91 Resch, Alfred 74 Reventlow, Henning Graf 355 Richter Reimer, Ivonni 230 f. Riesner, Rainer 46, 102, 106 Ringleben, Joachim 146, 224 Ritter, Adolf Martin 327, 330–332, 338, 340 Rogge, Joachim 372 Roloff, Jürgen 141, 298 Rose, Martin 364 Rösel, Martin 17, 126 Rosenberg, Alfred 76 Rottzoll, Dirk U. 63 Rubinkiewicz, R. 30 Ruhbach, Gerhard 311, 466 Sabbe, Maurice 8 Saldarini, Anthony J. 34 f., 40 Salzmann, Jorg Christian 246 Sanders, E. P. 52, 57 Sänger, Dieter 10, 65, 115, 144 Sass, Gerhard 61 Sauter, Gerhard 189 Schäfer, Peter 30 Schäfer, Ruth 47 f., 51, 59, 100, 102, 104, Schaller, Bernd 25, 37, 169, 178, 361 f., Schellong, Dieter 391 Schimmelpfeng, Hans 454 Schlier, Heinrich 364, 366 Schmälzle, Udo Friedrich 195 Schmeller, Thomas 251 Schmidt, Jens-Uwe 311 Schmidt, Karl Ludwig 116, 358 Schmithals, Walter 79, 82, 164, 197, 199 f., 202, 253, 255, 279, 352, 354, 358, 455 Schneider, Ingrid 306 Schneider, Ulrich 464, 479 Schnelle, Udo 35 f., 50, 52, 54 f., 91, 222, 263, 442 f., 477 Scholder, Klaus 418 Scholtissek, Klaus 73, 114 Schottroff, Luise 219

Schrage, Wolfgang 59, 157, 226, 242, 248, 258–261, 316 Schramm, Tim 264 Schrenk, Gottlob 55 f., Schröder, Bernd 47 Schröter, Jens 5, 7, 30, 52, 93, 111, 117 f., 130 f., 195 f., 208, 250, 441 Schürmann, Heinz 77 Schweitzer, Albert 116, 426 f. Schweitzer, Friedrich 194 Schwemer, Anna Maria 95, 101, 105, 127 Scroggs, Robin 248 Selderhuis, Herman J. 370 Sellin, Gerhard 180, 235, 241, 368 Senft, Christoph 420, 422 Simshäuser, W. 292 Singer, Peter 286 Sjöberg, Erik 21 Smallwood, E. Mary 262 Soards, Marion L. 132, 151, 153 Soden, Hans von 450–485 Söding, Thomas 149 Spiegel, Egon 196 Squires, John T. 133 Stadtland-Neumann, Hiltrud 395 Stähli, Hans-Peter 31, 149 Stählin, Gustav 21, 201 Stählin, Traugott 311 Starnitzke, Dirk 51, 63, 158, Stegemann, Ekkehard W. 234, 236 f., Stegemann, Wolfgang 46, 234, 236 f., Stemberger, Günter 34, 36 f., 149, 412 Stendahl, Krister 189 Stern, Menahem 296 Strathmann, Hermann 134, 459 Strecker, Christian 198 Strecker, Georg 31, 35, 44, 113, 427, 435 Stuhlmacher, Peter 77, 112, 128, 140 f., 437–439 Taeger, Jens-W. 7 Tångberg, Karl Arvid 293 f. Telford, William R. 203 Theißen, Gerd 6 f., 141 f., 199, 205, 233, 236, 319, 416 Theobald, Michael 28, 266 Thoma, Clemens 31, 161

Sachen und Themen

Thompson, Cynthia L. 245 Thraede, Klaus 269 Thrall, Margaret E. 45 f., 188, 250, 267, 272 Thür, Gerhard 242 Thyen, Hartwig 28, 222 f., Tilly, Michael 31, 222 Tomson, Peter J. 240 Traub, Helmut 21 Trilling, Wolfgang 77 Troeltsch, Ernst 336 Trunk, Dieter 200, 216 Tuckett, Christopher 4, 89, 173, 246 Tuor Kurth, Christina 292, 297 Ulrichs. Karl Friedrich 49 Vahrenhorst, Martin 185 f. Van der Horst, Pieter W. 296 f. Van Henten, Jan Willem 10 Van Norden, Günther 452, 459 f. Verheyden, Joseph 134, 142, 173, 212, 324 Vogt, Thea 320 Vögtle, Anton 4, 120 Vollenweider, Samuel 97 Vouga, François 7, 30, 59, 139, 155, 157 f., 253, 257, 310, 411, 423, 439 f. Wacht, Manfred 327, 333 f. Wahlen, Clinton 198, 200, 215 Walter, Nikolaus 76, 82 f., 85, 90 f., 104, 109, 112, 151, 160, 167, 296, 445 Walther, Wilhelm 74 Wander, Bernd 151 Waschke, Ernst-Joachim 67 Wassmuth, Olav 1

499

Waszink, Jan Hendrik 301, 303 Weiß, Hans-Friedrich 298 Weiß, Johannes 78 f., 84 Weiß, Konrad 33 Wengst, Klaus 28 Wenham, David 73, 99, 102 Wiesehöfer, Josef 293 Wilckens, Ulrich 27, 167, 351 Wilken, Robert L. 18 Wilson, Robin McL. 268 Windisch, Hans 268, 271, 274 Winkler, Klaus 311 Winninge, Mikael 52 Winter, Dagmar 6 f. Winter, Franz 234 Wire, Antoinette C. 243 f., Wischmeyer, Oda 411 Wiseman, James 227 Wolf, Hans-Heinrich 372 f., 376 Wolff, Christian 87, 89, 275 Wolff, Katherine Elena 180, 182–185, Wolter, Michael 9, 48, 64, 73, 81, 98, 101, 115, 119, 121–123, 131, 137, 152, 156, 178, 187, 206 f., 213, 229, 232, 241, 255, 268, 279, 321, 325, 413, 435, 437 f., 440, 448 Wrede, William (s. Sach- und Themenregister) Zachman, Randall C. 399 f. Zeller, Dieter 67, 81, 86 f., 157, 226, 234, 236–238, 240, 246, 258, 261 Zimmerli, Walther 315 Zimmermann, Christiane 12, 148 Zimmermann, Mirjam 73, 80 Zimmermann, Ruben 73, 80

Sachen und Themen Achtzehn-Gebet 8, 177 Allegorie 373 łĚĕƲĞđĜ 264 f. Apollos 235 Arabia 102 f. »Arierparagraph« 458–461 Augustinus 374

Barmer Theologische Erklärung 197, 463, 476 Barth, Karl 466–470 Baur, Ferdinand Christian 417–426 Bekennende Kirche 461–466, 480 Bergpredigt 395 f.

500 Bultmann, Rudolf 429–434, 450–485 Bürgerrecht (des Paulus) 46 f. Calvin, Johannes 342–350, 369, 370–410 Christologie 16–18, 140–148, 402 Corpus Hippocraticum 289 »Damaskus-Erlebnis« 79 f. Erster Korintherbrief 247–249 (s. auch Korinth) Eschatologie 66–68 Evangelium 391 f. Exegese 412 f., 445–449 Exorzismus 198–200 Galiläa 123 Geldtransport 261 f. Gerechtigkeit (Gottes) 50–57, 63 f., 163 f. Gesetz und Evangelium 377–380 Gewalt(losigkeit) 194–225 Gott 12 f., 19, 59 f., 62, 120, 122, 129, 153 f., 295, 362, 375, 400 f., 447 Heidegger, Martin 471–473 Heidenmission 19–22, 154 f. Hirsch, Emanuel 474 f. Hitler, Adolf 453, 466 f., 476 Inspiration(slehre) 375–377, 439 ŭĝƲĞđĜ 268–271 Israel 150–175 Jakobus (Herrenbruder) 16, 155 Jesus (»historischer J.«) 5–9, 116–124 Johannes der Täufer 207 Kanon 435 f., 438, 444 f., 448 Kerygmata Petrou 112–114 Kindesaussetzung 288

Register

Kirche 10–16, 150–152, 171 f., 188 f., 226–252 Klemens von Alexandria 327–341 Kollekte (Jerusalem-Kollekte) 253–283 Korinth 226–252 Kreuzestod Jesu 8–10, 124, 144 Kyrios 16–18, 87–90, 124–131 »Land« (Israel) 7, 176–188 Luther, Martin 444 f. Maranatha 16 f., 143 Menschensohn 4, 17 Menschenwürde 286 Messias, Messianismus 17 f., 67 f., 142 Ostern, Auferstehung Jesu 10–16, 144–147 Paulus passim (s. Inhaltsverzeichnis) Petrus 104 f., 107, 132–137, 145 Pharisäer 33–42 Prädestinationslehre 343–350, 354–356, 361, 363–367 Präimplantationsdiagnostik 285 f. Psalmen Salomos 52–57, 67 f. Schwangerschaftsabbruch 284–307 Seneca 371 Soden, Hans von 450–485 Soziale Schichtung (Korinth) 233–239 Sünde 69–72 Tertullian 300–303 Theologie des NT 434–443 Tora 7 f., 14, 49, 69 f., 72 Wrede, William 426–429 Zweiter Korintherbrief 249–251, 263 f. Zwölf, die 120 f.