Den christlichen Glauben verstehen 9783666593611, 9783525593615, 9783647593616


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Den christlichen Glauben verstehen
 9783666593611, 9783525593615, 9783647593616

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Grundwissen Christentum Herausgegeben von Markus Mühling

Band 6

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Schubert M. Ogden

Den christlichen Glauben verstehen Übersetzt von Regine Kather

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Copyright der englischen Originalausgabe: Schubert M. Ogden, The understanding of Christian faith. Eugene OR: Cascade Books 2010. Mit freundlicher Genehmigung von Wipf & Stock. www.wipfandstock.com Umschlagabbildung: Ó www.shutterstock.com, multicolored glass background, Dominique Landau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-59361-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter : www.v-r.de Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Meinen Studentinnen und Studenten

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Echte Treue zur Tradition besteht nicht in der Kanonisierung eines bestimmten Stadiums der Geschichte. Sie ist freilich immer Kritik der Gegenwart vor dem Forum der Tradition; sie ist aber ebenso auch Kritik der Tradition vor dem Forum der Gegenwart. Echte Treue ist nicht Wiederholung, sondern Weiterführung. Echte Treue ist nie repristinierende ,Wiederholung‘, sondern allein kritische Aneignung, die sich die legitimen Anliegen der Tradition zu eigen macht und sie in neuer Gestalt zur Geltung bringt. Rudolf Bultmann

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Prolegomena: Über Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.0 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Theologie im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die christliche Theologie im Besonderen . . . . . . . . . . 1.3 Christliche systematische Theologie . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerung . . . . . . . . . .

21 21 22 25 29 43

2. Über Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Frage nach Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gott, der uns durch unseren Herrn Jesus Christus siegen lässt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der dreieinige Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist .

46 46 48 52 60

3. Über die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Bedeutung des Begriffs „Schöpfung“ . . . . . . . . . . 3.2 Die Schöpfung und ihre Befreiung . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Frage nach dem Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die menschliche Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 66 67 76 79

4. Über Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.0 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.1 Die konstitutive christologische Behauptung . . . . . . . 90 4.2 Jesus, der der Christus genannt wird . . . . . . . . . . . . . 107 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Inhalt

4.3 Zur Freiheit hat uns Christus befreit . . . . . . . . . . . . . 114 5. Über den Heiligen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Benötigen wir eine „Theologie des Heiligen Geistes“? 5.2 Der Heilige Geist im christlichen Glauben und in der christlichen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Herr als Lebensspender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Leben im Geiste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Über die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.0 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Konstitution der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die charakteristische Aufgabe der Kirche . . . . . . . . . . 6.3 Die Verpflichtungen kirchlicher Mitgliedschaft . . . . . 6.4 Die Mittel zur Durchführung der kirchlichen Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133 133 136 144 146

7. Über Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.0 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Sünde, von der wir erlöst sind . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Erlösung von der Sünde aus Gnade allein durch den Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Einige Probleme bei der Entwicklung der Erlösungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166 166 167

122 126 130

151

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8. Über die letzten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die „letzten Dinge“ in der protestantischen orthodoxen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Bedeutung christlicher Hoffnung . . . . . . . . . . . . 8.3. Die Überwindung einiger Antithesen der herkömmlichen Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

9. Epilegomena: Über Theologie als christliche Berufung . . . 9.0 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die verschiedenen Bedeutungen von „Berufung“ . . . . 9.2 Theologie als christliche Berufung . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Weitere Merkmale christlicher Berufungen . . . . . . . . 9.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Index der Bibelzitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Sach- und Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

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Vorwort des Herausgebers

Mit „Den christlichen Glauben verstehen“ von Schubert Ogden erscheint hier der sechste und letzte Band der Reihe Grundwissen Christentum und damit zugleich einer ihrer wichtigsten, steht die Reihe doch in der Tradition Luthers, nach der ein Christ Kenntnis dessen besitzen sollte, was zum Leben und Sterben nötig ist. Diese Kenntnis ist aber keineswegs ein Wissen, das man auswendig lernen könnte, sondern es handelt sich darum, in der eigenen Lebenswelt den christlichen Glauben denkerisch verantworten zu können. Diese Aufgabe ist nur z. T. an Theologen delegierbar, nämlich insofern sie methodisch kontrolliert und im Gespräch mit denjenigen Wissenschaften geschieht, die nicht wie die Theologie auf das Ganze der Wirklichkeit, sondern auf Teilbereiche gerichtet ist. Derjenige Teil der denkerischen Verantwortung des eigenen Glaubens, der sich auf die eigene Lebenswelt, die heute zum größten Teil eine pluralistische Lebenswelt ist, bezieht, ist hingegen nicht delegierbar. Dies bezieht sich streng genommen nicht nur auf den christlichen Glauben, sondern auf jegliches Wirklichkeitsverständnis. Damit ist letztlich jeder – entgegen des allfälligen Missverständnisses, Glaube sei Privatsache und gehe daher niemanden etwas an – auskunftspflichtig über sein Wirklichkeitsverständnis, das sein Handeln motiviert und steuert. Allerdings setzt dies auch voraus, dass man verantwortungsfähig ist und für die Perspektive des christlichen Glaubens will diese Reihe zur Bildung an deren Verantwortungsfähigkeit beitragen. Deren wichtigste Aufgabe besteht darin, Glaubensfragen und -probleme zu stellen, miteinander und der Lebenswelt in Bezug zu setzen, Problemlösungen zu kennen und selbst aufgrund bestimmter Kriterien im Zusammenhang beantworten zu können. Es geht also mehr um eine Fähigkeit, die man nur durch Übung und in Ausein© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Vorwort des Herausgebers

andersetzung mit einer Position erlangen kann. Dafür liefert Schubert Ogdens Buch aus mindestens drei Gründen ganz hervorragende Voraussetzungen: 1. Ogden versteht Theologie als die kritische Aneignung und Überprüfung der Geltungsansprüche des christlichen Zeugnisses, ob sich dies nun explizit oder implizit ereignet und zeigt exemplarisch, wie eine solche kritische Aneignung und Überprüfung auch ohne jahrelanges Fachstudium gelingen kann. 2. Ogden nimmt zu diesem Zweck eine eigene Position ein, an der die Leserin und der Leser ihre eigenen Fähigkeiten, den Glauben zu verantworten, üben können. Nicht immer mag man seinen Lösungen zustimmen. Aber selbst wo man dies nicht tun mag, legt er seine Gründe und die Gegengründe doch so offen, dass deutlich ist, dass es sich um Sachentscheidungen und nicht um Geschmacksfragen handelt. 3. Schubert Ogden ist in seiner Theologie sowohl von einem bedeutenden Zweig der deutschsprachigen Theologiegeschichte des 20. Jh. als auch von der angloamerikanischen theologischen und philosophischen Tradition beeinflusst – vor allem von der Tradition Rudolf Bultmanns und der prozessphilosophischen Tradition – und zeigt so zweierlei: Theologie ist erstens nicht an Schulmeinungen gebunden und bewegt sich nicht in geschlossenen idiosynkratischen Systemen, sondern es geht ihr um Kommunikationsfähigkeit. Zweitens zeigt sich diese Kommunikationsfähigkeit auch darin, dass auch in Zeiten der Verselbständigung sowohl der Kontinentaleuropäischen als auch der angloamerikanischen Tradition fruchtbare Kommunikationen selbstverständlich sein sollten. Ogdens Buch kann daher für zwei Leserkreise geeignet sein: zum einen für jede und jeden Gebildeten, die oder der dieser nicht-delegierbaren Aufgabe der Verantwortung des Glaubens und seines Zeugnisses nachkommen will, sei es dass er damit beginnen oder seine Fähigkeiten steigern will. Zum anderen aber auch für jede und jeden, die oder der sich darauf vorbereitet, dass es seine oder ihre berufliche Hauptaufgabe sein wird, den christlichen Glauben vor einem spezifischen Forum, sei es das der Gemeinde oder das der Schule, professionell zu verantworten, d. h. die Theologiestudierende oder den Theologiestudierenden, vornehmlich am Anfang ihres oder seines Studiums. Für diesen Leserkreis war Ogdens Buch ursprünglich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Vorwort des Herausgebers

konzipiert. Es ist dabei klar, dass für diesen Leserkreis dieses Buch nicht die vielfältigen Kenntnisse, die es gilt, in Systematischer Theologie zu erwerben, ersetzen kann. Aber gerade zu Beginn des Studiums kann es zur freudigen Motivation beitragen, wie es auch die Christin oder den Christen allgemein motivieren kann, die denkerische Dimension des Glaubens zu entdecken oder zu vertiefen. Letztlich ist der mögliche Leserkreis nicht einmal auf Christinnen und Christen beschränkt, denn auch jede und jeder Andersglaubende wird, wenn er sich über das Christentum wirklich informieren will, letztlich nur aus dem kritischen, wenn auch hypothetischen Mitvollzug der kritischen Überprüfung des Zeugnisses Gewinn schöpfen, und nicht aus rein lexikalischem Wissen. Fliegenberg, 28. 4. 2014

Markus Mühling

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Vorwort

Auf Vorschlag des Verlags unterscheidet sich der Titel dieser deutschen Übersetzung meines Buches von der englischen Originalausgabe (The Understanding of Christian Faith – Das Verständnis des christlichen Glaubens). So sehr ich den neuen deutschen Titel begrüße, weil er wirkungsvoll den Zweck benennt, den mein Buch, so hoffe ich, erfüllt, so will ich auch, dass meine deutschen Leser verstehen, warum ich das Buch ursprünglich benannte, wie ich es tat. Der Originaltitel wurde aufgrund seiner Zweideutigkeit gewählt: Durch den Genitiv gewinnt der Satz „das Verständnis des christlichen Glaubens“ zwei unterschiedliche Bedeutungen: Er kann sich auf ein Verständnis beziehen, bei dem der christliche Glaube das Subjekt ist, mithin auf das, was dessen eigentlichen Inhalt als christlicher Glaube ausmacht; oder er erscheint grammatikalisch als Objekt und wird damit zum Gegenstand einer kritischen Aneignung des Inhalts, die meines Erachtens die genuine Aufgabe der christlichen systematischen Theologie ist. Ich hoffe, dass die Leser beide Möglichkeiten im Blick behalten, wenn sie sich mit meinen Argumenten auseinandersetzen. Außerdem sollten sie mein Buch als das nehmen, was es ist und nicht etwas in ihm sehen, was es nicht ist: Es ist mehr als ein Essay, eine Studie oder Aufsatzsammlung, und es ist weniger als eine vielbändige systematisch-theologische Abhandlung, wie man sie von Theologen wie mir durchaus erwarten könnte. Reichweite, Niveau und Umfang der Argumente gleichen eher denen der Einführungsveranstaltungen, die ich während meiner vierzigjährigen Lehrtätigkeit in christlicher systematischer Theologie meistens gehalten habe. Tatsächlich verdankt es seinen Ursprung den Vorlesungen, die ich für diese Kurse geschrieben und immer wieder überarbeitet habe. Die Leser, die ich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Vorwort

beim Schreiben vor allem vor Augen hatte, waren daher Theologiestudentinnen und -studenten, die denen gleichen, denen ich dieses Buch widmen möchte. Um es noch einmal in anderen Worten zu sagen: Das Buch, das ich versucht habe zu schreiben, gleicht dem, das ich mir selbst am Anfang meiner Ausbildung zu einem Berufstheologen gewünscht hätte. Noch besser wäre es natürlich, wenn es auch für andere Leser hilfreich wäre, vor allem für die zahlreichen Laientheologen, mit denen ich während meiner Lehrtätigkeit zusammen arbeiten durfte. Ich weiß aus eigener langjähriger Erfahrung, dass es innerhalb wie außerhalb der Kirchen viel mehr Menschen gibt, die imstande und willens sind, Theologie zu betreiben als nur die, die aufgrund ihrer theologischen Bildung dazu befähigt wären. Ich würde gerne drei weitere Aspekte betonen, die für meine Leser hoffentlich hilfreich sein werden. Erstens: Neben den Schriften des Neuen Testaments und dem theologischen Werk einiger weniger Zeitgenossen wurde die Struktur meines theologischen Denkens vor allem durch die orthodoxe protestantische Theologie geprägt. Mit „Struktur“ meine ich hier vor allem die grundlegenden Fragen oder Themen, mit denen ich mich als christlicher systematischer Theologe auseinandersetzen musste. Ich meine aber auch das kritisch-reflexive Vorgehen, das die Art und Weise bestimmte, wie ich mich mit ihnen zu befassen hatte. Es legt großen Wert auf die Klärung von Begriffen, indem notwendige Voraussetzungen und Implikationen analysiert und vor allem die Argumente entwickelt und beurteilt werden, die erforderlich sind, um Schlussfolgerungen zu untermauern. Zum Verständnis, wie und warum ich etwas so behandle, wie ich es tue, trägt trotz des enormen Unterschieds im Inhalt zwischen der protestantischen Orthodoxie und meiner Form der liberalen – oder, wie ich lieber sage, revisionistischen1 – Theologie, nichts mehr bei als die Kenntnis folgender Bücher: Heinrich Heppe: Die Dogmatik der Evangelisch-Reformierten Kirche (1861) und insbesondere Heinrich Schmid: Die Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche (1843). Mehr noch: Meiner Meinung nach leistet kaum etwas einen größeren Beitrag zu einer soliden Ausbildung eines systematischen Theologen 1 Anm. d. Übers.: Das Wort ,revisionistisch‘ bezieht sich hier und im Folgenden auf den englischen Terminus ,revisionary‘ und nicht auf ,revisionist‘.

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Vorwort

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als die Kenntnis derart griffiger Zusammenfassungen des klassischen christlichen Denkens. Ergänzen möchte ich außerdem, dass seit dem Beginn meiner Karriere als Theologe meine Zustimmung zu der Aussage eines Anglikanischen Bischofs aus dem 17. Jahrhundert immer mehr gewachsen ist. Voller Weisheit bemerkte er, dass „das nützlichste aller Bücher in der Theologie das mit dem Titel De Paucitate Credendorum, von den wenigen Dingen, die ein Mensch glauben müsse,“2 sei. Natürlich wäre ein Buch noch hilfreicher, das das Versprechen dieses Titels auch einlösen würde. In diesem Buch habe ich auf jeden Fall mein Möglichstes getan, um zu zeigen, dass, obwohl es viele verschiedene christliche Glaubenswahrheiten gibt, sie letztlich allesamt Ausdrucksformen ein und derselben christlichen Glaubenswahrheit sind, ihnen also dasselbe Verständnis des letzten Sinns der menschlichen Existenz zugrunde liegt. Deshalb werde ich nur dann zufrieden sein, wenn meinen Lesern schließlich die grundlegende Einfachheit des christlichen Glaubensverständnisses klar wird ¢ und nicht nur die meines armseligen Versuches, es zu verstehen. Der dritte Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte, ist, dass das in diesem Buch dargelegte Verständnis des christlichen Glaubens (gen. obj.) in allen wesentlichen Aspekten mit der Position übereinstimmt, von der aus und auf die hin ich bereits in meinen früheren Büchern und anderen veröffentlichten Schriften argumentiert habe. In ihnen werden daher die Leserinnen und Leser zu vielen der in den folgenden Kapiteln behandelten oder berührten Themen und Fragen weiterführende und mehr ins Detail gehende Erörterungen finden. Das gilt vor allem für die grundlegenden Themen über Gott und Jesus Christus, die in meinen Büchern The Reality of God (Deutsch: Die Realität Gottes) und The Point of Christology thematisiert werden. Vermutlich würden zumindest einige Leser eine weiterführende Diskussion eines wichtigen Themas begrüßen, das nicht in dieses Buch aufgenommen wurde: Es handelt sich um das Problem des christlichen Verständnisses nicht-christlicher Religionen, das ich in einer gewissen Ausführlichkeit in meinem Buch Is There Only One True Religion or Are There Many? untersucht habe.

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Zit. in: Inge, Things New and Old, 48. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Vorwort

Nun bleibt mir nur noch die freudige Pflicht, an all jene zu erinnern, die mir bei der Abfassung des Buches in besonderem Maß geholfen haben. Danken möchte ich vor allem drei engen Kollegen und Freunden, die meine Arbeit gut kennen und bereit waren, das gesamte Typoskript zu lesen und mir eine kritische Rückmeldung zu geben: Philip E. Devenish, Franklin I. Gamwell und Andrew D. Scrimgeour. Obwohl ich nicht alle Vorschläge berücksichtigt habe, ist mir bewusst, dass das Buch nun viel besser geworden ist als das ohne ihre hilfreiche Kritik der Fall gewesen wäre und dass ich allein für die verbleibenden Unzulänglichkeiten verantwortlich bin. Jedem von ihnen danke ich von ganzem Herzen für diesen erneuten Beweis ihrer langjährigen und beständigen Unterstützung und Zuneigung. Meine deutschen Leser sollten außerdem wissen, warum meine ursprüngliche Widmung des Buches an meine Studenten jetzt eine neue Bedeutung für mich bekommen hat. Denn es ist dank der Großzügigkeit einiger von ihnen, dass diese deutsche Übersetzung möglich wurde. Ihnen allen, besonders Philip Devenish, der in ihrem Auftrag handelte, meine tiefempfundene Dankbarkeit. Danken möchte ich auch meiner Übersetzerin Regine Kather und meiner Lektorin Silke Hartmann, sowie dem Herausgeber des Union Seminary Quarterly Review, der mir erlaubt hat, das Material eines meiner Essays zu benutzen, der dort ursprünglich mit dem Titel „The Meaning of Christian Hope“ (1975) publiziert wurde. Rollinsville, Colorado, November 2013

Schubert M. Ogden

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1. Prolegomena: Über Theologie

1.0 Einleitende Bemerkungen Eines der bestimmenden Merkmale der Theologie, das sie mit der Philosophie, im Unterschied zu den Einzelwissenschaften wie Biologie oder Physik, teilt, ist, dass sie zwangsläufig eine Reflexion auf sich und die eigenen Möglichkeitsbedingungen in Form einer kritischen Reflexion beinhaltet. Die Frage „Was ist Theologie?“ ist somit ihrerseits bereits eine theologische Frage, deren Antwort denselben Adäquatheitsbedingungen untersteht wie jede andere theologische Antwort. Das Verfahren sogenannter Prolegomena, in denen Theologen gemeinhin versucht haben, diese Frage zu beantworten, gehört, gemeinsam mit einem Bündel eng verknüpfter Fragen, demnach bereits zur Theologie und nicht zu einem anderen Gebiet oder einer anderen Disziplin, etwa der Philosophie, auf die man sich zuerst einlassen muss, bevor man sich der eigentlichen Theologie zuwenden kann. Ich stimme vollständig mit Karl Barth überein, dass sich das Wort „Prolegomena“ nicht auf die Dinge bezieht, die gesagt werden, bevor man sich mit Theologie befasst, sondern nur auf die, die zuerst gesagt werden, wenn man bereits Theologie treibt. Natürlich muss das, was man in einer formalen Darstellung wie dieser zuerst sagt, nicht das sein, was man zuerst tut. Für gewöhnlich sind wir damit beschäftigt, etwas Bestimmtes zu tun, lange bevor wir ausdrücklich die Frage stellen und beantworten: „Was tue ich da eigentlich genau?“ oder „Was bedeutet es, das zu tun?“ Wenn jedoch die Frage „Was heißt es, Theologie zu treiben?“ ihrerseits bereits eine theologische Frage ist, können wir nur klären, was es heißt, diese Frage zu stellen, indem wir sie beantworten; und wir können sie möglicherweise nur beantworten, wenn wir genau das tun, wonach sie fragt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Prolegomena: Über Theologie

Wir müssen Theologie treiben, wenn wir im theologischen Sinn danach fragen, was es bedeutet, genau dies zu tun. Es gibt auf jeden Fall gute Gründe dafür, ein Vorhaben mit dem Versuch zu beginnen, so gut wie möglich zu verstehen, was überhaupt unternommen werden soll und wie man dabei vorgehen sollte. Im Rahmen der Prolegomena schlage ich daher vor über die Frage „Was ist Theologie?“ im Sinn der Frage „Was heißt es, Theologie zu treiben?“ zu sprechen. Indem ich diese Frage beantworte, hoffe ich, damit auch zwei spezifischere Fragen zu beleuchten: (1) Was sollte Theologie tun? – oder, in anderen Worten: Was ist die besondere Aufgabe oder was sind die spezifischen Aufgaben von Theologie? Und: (2) Wie kann bzw. wie können sie durchgeführt werden? Was also ist die besondere Methode (oder sind die Methoden) von Theologie? Ich werde die Antworten auf diese Fragen in drei Hauptabschnitten entwickeln, indem ich mich nacheinander (1) mit Theologie im Allgemeinen, (2) mit christlicher Theologie im Besonderen und (3) mit christlicher systematischer Theologie befasse.

1.1 Theologie im Allgemeinen Vom griechischen Ursprung des Wortes her verstanden bedeutet „Theologie“ ein Denken und/oder Sprechen (logos) über Gott (theos). Für den Anfang handelt es sich um die beste Definition, die man sich wünschen kann. Denkt man jedoch nur ein wenig über sie nach, dann wird klar, dass sie erweitert werden kann und muss. Dieselbe Frage, auf die das Denken oder Sprechen über Gott eine Antwort geben soll, kann nämlich genauso gut gefragt bzw. beantwortet werden in Hinblick auf irgendetwas anderes – etwa die Natur, das Absolute, das wirkliche Selbst, das Ganze, Nirwana, das Eine oder die Idee des Guten. Der Terminus „Gott“ kann natürlich so weit gefasst werden, dass er sich nur auf die Bedeutung bezieht, die die letzte Wirklichkeit für uns hat, was auch immer diese sein mag. Spricht man weniger existentiell und mehr metaphysisch, dann könnte er die letzte Wirklichkeit in ihrer Eigenstruktur bedeuten, wie auch immer diese verstanden wird. Wenn jedoch, wie es in der Regel der Fall ist, der Terminus „Gott“ in einem engeren, spezifisch theistischen Sinn verwendet wird, dann © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Theologie im Allgemeinen

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kann die erwähnte Frage auch beantwortet werden, indem man über irgendeine Zahl von Dingen nachdenkt oder spricht, die sich von Gott unterscheiden. Die Überlegungen verdeutlichen auch, dass die anfängliche Definition noch in einer anderen Hinsicht nicht zu eng, sondern zu weit gefasst ist und eingegrenzt werden muss. Der gewohnte Gebrauch des Terminus „Theologie“ beinhaltet nicht jegliches Denken und/oder Sprechen über Gott oder die letzte Wirklichkeit. Er bezieht sich nur auf einige Aspekte davon – nämlich auf diejenigen, die entweder den Prozess oder das Ergebnis einer mehr oder weniger kritischen Aneignung des gesamten Restes beinhalten, eines Überrestes, den wir eher als „Zeugnis“ denn als „Theologie“ bezeichnen würden. Werden diese beiden Überlegungen berücksichtigt, dann kann man Theologie im Allgemeinen folgendermaßen definieren: Es handelt sich um das Denken und/oder Sprechen, das die kritische Aneignung des Zeugnisses einbezieht, indem es kritisch in Hinblick auf seine Bedeutung interpretiert und in seinen Geltungsansprüchen überprüft wird, mithin in Hinblick auf die Ansprüche, die das Zeugnis erhebt oder impliziert, einfach als und weil es ein Zeugnis ist. Mit „Zeugnis“ meine ich somit alles, was von unserem Denken und/oder Sprechen (unsere Handlungen und Redensarten eingeschlossen) entweder über Gott oder die letzte Wirklichkeit übrig bleibt. Die Rede von „Gott“ ist wiederum nur eine mögliche Weise des Denkens und/oder Sprechens über sie unter vielen. Wenn jedoch das, was treffend als „Gott“ oder „letzte Wirklichkeit“ bezeichnet wird, das ist, was niemals nicht wirklich sein kann, während alles andere bestenfalls möglich ist, dann handelt alles, was wir als Menschen in Hinblick auf irgendetwas denken, sagen oder tun, zumindest implizit von Gott und ist zumindest unausgesprochen ein Zeugnis von Gott. Daher ist nicht nur die Religion, sondern sind alle Formen der Kultur eine Art der Zeugenschaft und als solche ein Teil der Daten, die Theologie im Allgemeinen kritisch reflektiert. Da die Religion jedoch auf einem expliziten Zeugnis von Gott oder der letzten Wirklichkeit beruht, stellt sie, so kann man sagen, privilegierte Daten zur Verfügung, deren kritische Beurteilung die Aufgabe der Theologie ist. Versteht man Theologie im Allgemeinen auf diese Weise, dann ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen einer Theologie im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Prolegomena: Über Theologie

Allgemeinen im Sinne einer philosophischen Theologie auf der einen und einer Theologie im Allgemeinen im generischen/spezifischen Sinn auf der anderen Seite. Im Sinne einer philosophischen Theologie könnte und würde eine Theologie im Allgemeinen vermutlich sogar dann existieren, wenn es keine spezifische Religion oder keine Religionen gäbe. Voraussetzung wäre lediglich, dass zumindest implizit irgendetwas über Gott oder die letzte Wirklichkeit gedacht, gesagt oder getan würde und jemand fähig und willens wäre, kritisch nach der darin ausgedrückten oder auch nur enthaltenen Bedeutung und ihren Geltungsansprüchen zu fragen. Eine allgemeine Theologie im generischen/spezifischen Sinn jedoch würde und kann es ohne Bezug zu einer spezifischen Religion nicht geben. Wenn also, wie wir gesagt haben, die Religion privilegierte Daten für die Theologie im Allgemeinen im doppelten Wortsinn zur Verfügung stellt, dann liefern die für eine bestimmte Religion eigentümlichen Daten auch zweifach privilegierte Daten für eine spezifische Theologie. Nach Lage der Dinge kann eine Theologie im Allgemeinen nur in einer und für eine besondere historische Situation entwickelt werden ¢ unabhängig davon, ob es sich um eine philosophische oder eine generische/spezifische Theologie handelt, die sich auf eine besondere Religion oder ein bestimmtes Zeugnis bezieht. Sie hat ihre besonderen Probleme und Mittel für deren Lösung. Folglich kann es etwas wie die Theologie nicht geben, außer möglicherweise, wie mein Lehrer Rudolf Bultmann zu sagen pflegte, als „eschatologisches Phänomen“. Da das theologische Gespräch immer unabgeschlossen und nie abschließbar ist, muss es immer wieder neu beginnen, ab ovo – von Anfang an – in jeder neuen Situation. Auch wenn man natürlich so viel wie möglich von den vorangehenden Gesprächsphasen lernen kann und soll, wie sich das Gespräch am besten in der eigenen Zeit und am eigenen Ort fortsetzen lässt, ist ein unablässiger Neubeginn unvermeidlich. Schließlich kann eine Theologie im Allgemeinen für das Zeugnis, das sie kritisch reflektiert, nur von indirekter Hilfe sein. Wie jede andere Form kritischer Reflexion muss die Theologie die Freiheit haben, den durch ein Zeugnis erhobenen oder in ihm implizierten Geltungsanspruch zu bestätigen, oder ihn, je nach Lage der Dinge, für ungültig zu erklären. Dann aber muss der einzige Dienst an einem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Die christliche Theologie im Besonderen

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Zeugnis ein indirekter sein. Jeder direkte Dienst wäre dagegen in Ermangelung einer kritischen Reflexion keine Hilfe.

1.2 Die christliche Theologie im Besonderen Wenn man die Theologie im Allgemeinen als kritische Aneignung eines Zeugnisses definiert, die das implizite Zeugnis einer säkularen Kultur ebenso wie das explizite religiöse Zeugnis einschließt, dann kann man die christliche Theologie im Besonderen als kritische Aneignung eines spezifisch christlichen Zeugnisses bestimmen. Zu ihr gehören wiederum das implizite Zeugnis der christlich geprägten Kultur und das explizite der christlichen Religion. Daraus folgt freilich, dass man eine analoge Definition für die Form kritischer Reflexion entwickeln kann, die jeder anderen besonderen Religion oder Form des Zeugnisses entspricht. Das unverwechselbare Merkmal der christlichen Theologie im Besonderen – und, analog, von jeder besonderen Theologie – ist, dass die zweifach privilegierten Daten, auf denen sie beruht, durch die Bezeugung des Glaubens bereit gestellt werden, die sich in der christlichen Religion zum Ausdruck bringt. Bevor wir fortfahren, möchte ich noch einmal an das Argument des letzten Abschnitts erinnern. Die kritische Reflexion, wie sie für die Theologie im Allgemeinen und damit auch für die christliche Theologie im Besonderen eigentümlich ist, beinhaltet zwei Aspekte: eine kritische Interpretation der Bedeutung des Zeugnisses – im Fall der christlichen Theologie der Bedeutung des genuin christlichen Zeugnisses; und eine kritische Prüfung des Geltungsanspruchs den das Zeugnis als solches – oder das christliche Zeugnis im Besonderen – beansprucht oder voraussetzt. Um mehr über die christliche Theologie im Besonderen zu sagen, muss man daher nach den Geltungsansprüchen fragen, die das christliche Zeugnis erhebt oder impliziert. Eine annähernd vollständige Antwort auf diese Frage würde es erforderlich machen, die unterschiedlichen Arten von Geltungsansprüchen, die das christliche Zeugnis erhebt oder impliziert, gemeinsam mit allen anderen Religionen oder Formen der Bezeugung und mit allen anderen Sprechakten, die Menschen normalerweise ausführen, wenn sie denken, sprechen und handeln, gleichgültig was sie denken, sagen und tun, zu berücksichtigen. Ich werde mich jedoch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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an dieser Stelle nur auf die mehr oder weniger charakteristischen Ansprüche konzentrieren, die das christliche Zeugnis als solches erhebt oder beinhaltet – einfach als spezifisch christliches Zeugnis und weil es ein solches ist. Nach meiner Analyse handelt es sich um die beiden Ansprüche, die die zweifache Struktur des christlichen Zeugnisses ebenso wie die systematische Doppeldeutigkeit des Begriffs „Zeugnis“ spiegeln: Wir können mit ihm sowohl den Akt des Bezeugens wie den Inhalt des Zeugnisses meinen. Aufgrund dieses zweifachen Sinnes erhebt oder beinhaltet jeder Fall eines christlichen Zeugnisses zwei Geltungsansprüche: (1) dass er, als Ausdruck oder Implikation des Inhalts des christlichen Zeugnisses, inhaltlich adäquat ist; und (2) dass er, als Akt eines christlichen Zeugnisses, der in einer und für eine besondere Situation verrichtet wird, für diese geeignet ist. Der erste Anspruch beinhaltet bei genauerem Hinsehen zwei weitere Ansprüche: dass das, was durch das Zeugnis ausgedrückt wird oder in ihm impliziert ist, Jesus Christus angemessen ist, weil es in Übereinstimmung mit dem ist, was wir als das formal-normative christliche Zeugnis bezeichnen, wie es die Heilige Schrift und die übrige christliche Tradition beglaubigen; und dass das, was durch das Zeugnis ausgedrückt wird oder in ihm impliziert ist, in Hinblick auf das menschliche Leben glaubwürdig ist, weil es mit der Wahrheit über die Existenz übereinstimmt, die durch die menschliche Kultur und die Religion mehr oder weniger angemessen bestätigt wird. Wenn jedoch jeder Fall eines christlichen Zeugnisses diese zwei, oder, in Wirklichkeit sogar drei Ansprüche erhebt oder beinhaltet – nämlich adäquat und geeignet und damit auch angemessen und glaubwürdig zu sein – dann kann die Frage, ob sie gültig oder ungültig sind, niemals dadurch geklärt werden, dass sie einfach erhoben oder impliziert werden. Im Gegenteil: Diese Ansprüche sind allesamt prinzipiell problematisch. Sie werden in dem Moment zum Problem, in dem sie von Ansprüchen in Frage gestellt werden, die ein mehr oder weniger verschiedener oder gar gegensätzlicher Fall eines christlichen Zeugnisses erhebt oder in dem sie mit einem nicht-christlichen Zeugnis über die Bedeutung, die die letzte Wirklichkeit für uns hat, konfrontiert werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese bereits vorhanden oder noch zu erwarten sind. Es bleibt somit immer eine offene Frage, ob ein Zeugnis so geeignet und adäquat und damit so © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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angemessen und glaubwürdig ist, wie es dies zumindest implizit zu sein beansprucht. Die christliche Theologie im Besonderen ist entweder der Prozess oder das Ergebnis kritischer Reflexion – einer kritischen Interpretation und kritischen Beurteilung. Dadurch kann diese Frage auf einem mehr oder weniger bewussten, methodisch geleiteten und vernünftigen Weg verfolgt werden. Aufgrund meiner Analyse handelt es sich um die charakteristische Aufgabe der praktischen Theologie, den Anspruch des christlichen Zeugnisses, für eine bestimmte Situation geeignet zu sein, zu prüfen. Die eigentümliche Aufgabe der christlichen systematischen Theologie ist es dagegen, den anderen Anspruch des christlichen Zeugnisses zu beurteilen: ob es in Hinblick auf den Inhalt adäquat und damit Jesus Christus angemessen und für das menschliche Leben glaubwürdig ist. Unser besonderes Anliegen ist in diesem Buch natürlich die christliche systematische Theologie – in Verbindung mit anderen Disziplinen und Forschungsgebieten, die auf die eine oder andere Weise in die Aufgabenstellung einbezogen sind. Eine dieser Disziplinen ist das dritte Fachgebiet der spezifisch christlichen Theologie selbst ¢ nämlich die christliche historische Theologie, zu der auch die biblische Theologie gehört. Ihre Studien sind für die systematische Theologie in ihrer kritischen Beurteilung des Anspruchs des Zeugnisses, in Hinblick auf Jesus Christus angemessen zu sein, unverzichtbar, weil es mit dem formal-normativen christlichen Zeugnis, das die Heilige Schrift und die Tradition dokumentieren, übereinstimmen muss. Doch die systematische Theologie ist gemeinhin auch auf die Arbeit der säkularen Geschichtswissenschaft angewiesen. Außerdem hängt sie von der unabhängigen Disziplin der philosophischen Theologie und dem gesamten Gebiet der Philosophie vor allem in den Bemühungen um eine kritische Bewertung des anderen Anspruchs des christlichen Zeugnisses ab: glaubwürdig zu sein in Hinblick auf das menschliche Leben, weil es mit der Wahrheit über die menschliche Existenz übereinstimmt, die ursprünglich aufgrund gemeinsamer menschlicher Erfahrung und mit Hilfe der Vernunft erschlossen wird. Außerdem würde ich gerne kurz die Aufmerksamkeit auf die folgenden beiden Punkte lenken: (1) Trotz aller Unterschiede sind die drei Disziplinen der christlichen Theologie – die historische, systematische und praktische – zusammenhängende Momente einer einzigen, komplexen Bewegung kritischer Reflexion. Sie ist erforderlich, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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um zu beurteilen, ob die Ansprüche des christlichen Zeugnisses, dem Inhalt gegenüber adäquat und für die Situation geeignet zu sein, gültig sind. (2) Trotz der notwendigen Abhängigkeit von anderen Disziplinen und Forschungsgebieten wie Geschichte und Philosophie und, im Fall der praktischen Theologie, auch von den Humanwissenschaften und den verschiedenen Künsten, ist die christliche Theologie dennoch eine spezifische Form kritischer Reflexion, die sich auf keine der anderen Disziplinen reduzieren lässt. Wie die Theologie im Allgemeinen, so wird auch die christliche Theologie im Besonderen, die systematische Theologie eingeschlossen, immer in einer und für eine besondere Situation ausgeübt. Sie ist auf spezielle Probleme und die Mittel für deren Lösung bezogen. Dadurch sind unter anderem zwar die Kriterien des theologischen Urteils – d. h. Adäquatheit, Angemessenheit, Glaubwürdigkeit und Eignung – situationsinvariant und bleiben folglich beim Wechsel von einer Situation zu einer anderen stets dieselben. Doch die spezifischen Anforderungen dieser Kriterien sind situationsabhängig und weichen daher in der einen Situation mehr oder weniger stark von denen in einer anderen Situation ab. Was in einer Situation angemessen und glaubwürdig ist, gilt nicht unbedingt für eine andere; was hier geeignet ist, ist es nicht notwendig auch dort. Wie die Theologie im Allgemeinen kann auch die christliche Theologie im Besonderen dem christlichen Zeugnis nur indirekt dienen. Bei der Theologie im Allgemeinen kann es nur eine kritische Reflexion geben, wenn Ansprüche für ungültig erklärt werden können. Genauso muss auch im besonderen Fall der christlichen Theologie der Theologe die Freiheit haben, den Anspruch des christlichen Zeugnisses in Hinblick auf Adäquatheit und Eignung nicht nur zu bestätigen, sondern auch für ungültig zu erklären. Auch hier muss man grundsätzlich zwischen dem Erheben oder Implizieren von Geltungsansprüchen und der kritischen Reflexion auf diese Ansprüche unterscheiden: Ersteres ist zwangsläufig mit dem Akt verbunden, durch den man das christliche Zeugnis ablegt, letzteres erfolgt, wenn man sich mit der christlichen Theologie befasst. Leider ist dieser Punkt alles andere als unstrittige. Von der Antike bis zur Gegenwart wurden die Aufgaben von Zeugenschaft und kritisch-theologischer Reflexion immer wieder miteinander vermischt, mit der unglücklichen Folge, dass jede Form der Durchsetzung von Disziplin in der Lehre die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Ausübung theologischer Freiheit zu untergraben schien – und umgekehrt. Gemäß der hier entwickelten Auffassung stehen dagegen christliches Zeugnis und christliche Theologie in einem eigentümlich dialektischen Verhältnis zueinander: Sie sind voneinander unterschieden und dürfen nicht miteinander vermischt werden; gleichwohl sind sie auch miteinander verbunden und können nie voneinander getrennt werden. Obwohl die christliche Theologie dem christlichen Zeugnis wirklich dient, kann sie dies dennoch nur auf indirektem Weg tun. Normalerweise handelt es sich um eine besondere Art christlicher Berufung, wenn ein Christ den Beruf des Theologen ergreift. Sie befindet sich auf derselben Ebene, wie wenn ein Christ Ingenieur oder Arzt, Geschäfts- oder Hausmann wird. Doch ein Berufstheologe zu sein, ist eine Sache, ein Laientheologe zu sein, eine andere; dasselbe gilt für den Unterschied zwischen jemandem, der berufsmäßig Amtsträger ist und einem einfachen Seelsorger. Christinnen und Christen sind dazu aufgerufen, Zeugnis abzulegen und ungeachtet ihrer oder seiner besonderen Berufung oder des jeweiligen Berufs Laienseelsorger zu sein. Genauso ist jeder Christ dazu aufgerufen, zum Wohl ihres oder seines christlichen Zeugnisses und des seelsorgerlichen Dienstes auch ein Laientheologe zu sein.

1.3 Christliche systematische Theologie 1.3.0 Zwei unvermeidbare Aufgaben Da ich mich mit systematischer Theologie befassen möchte, werde ich mich fortan auf sie konzentrieren. Wenn wir davon ausgehen, dass ihr Verständnis geklärt ist, dann sind offensichtlich zwei Aufgaben mit innerer Notwendigkeit mit ihrer Funktion als theologischer Disziplin verbunden. Diese beruht darauf, daran sei nochmals erinnert, kritisch zu prüfen, ob der Anspruch des christlichen Zeugnisses adäquat zu dessen Inhalt zu sein gültig ist. Die erste Aufgabe, die angegangen werden muss, ist daher die, die ich als die „dogmatische“ Aufgabe der systematischen Theologie bezeichne. Sie beruht auf der kritischen Prüfung, ob der Anspruch des christlichen Zeugnisses, in Hinblick auf Jesus Christus angemessen zu sein, gültig ist. Bei der zweiten Aufgabe, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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die ich als „apologetische“ Aufgabe bezeichne, gilt es zu beurteilen, ob der Anspruch des christlichen Zeugnisses, für das menschliche Leben glaubwürdig zu sein, gültig ist. Meines Erachtens hat die dogmatische Aufgabe Vorrang vor der zweiten, apologetischen Aufgabe: Solange nämlich ein bestimmtes Zeugnis in Hinblick auf Jesus Christus nicht angemessen ist, kann es kein gültiges christliches Zeugnis sein, selbst wenn es für die menschliche Existenz glaubwürdig wäre. Denn sogar wenn ein besonderes Zeugnis geeignet für eine bestimmte Situation sein sollte, kann es kein gültiges christliches Zeugnis sein, solange es nicht zu dessen Inhalt adäquat und damit sowohl Jesus Christus angemessen wie glaubwürdig für die menschliche Existenz ist. Trotzdem kann die dogmatische Aufgabe der systematischen Theologie nicht die einzige Aufgabe sein. Sie ist immer mit der apologetischen Aufgabe konfrontiert, die beurteilen muss, ob der Anspruch des Zeugnisses in praktischer wie theoretischer Hinsicht glaubwürdig für die menschliche Existenz ist. Nachdem die beiden Hauptaufgaben der systematischen Theologie und damit das, was sie zu tun hat, geklärt ist, stellt sich die Frage, wie diese Aufgabe durchzuführen ist. Wie kann die systematische Theologie als theologische Disziplin ihre beiden Aufgaben erfüllen? Diese Frage zielt auf die Methode der systematischen Theologie – oder, besser ausgedrückt, ihre Methoden. Da es sich nicht nur um eine einzige Aufgabe handelt, sondern diese in sich vielfältig ist, gilt dies auch für ihre Methode. Man könnte daher sagen, dass die Methode der systematischen Theologie allumfassend ist, weil es auch ihre Aufgabe ist. Ihre Methode umgreift namentlich drei Hauptmethoden, die den drei Hauptphasen eines in sich zusammenhängenden Prozesses kritischer Reflexion entsprechen. Mit seiner Hilfe werden getreu ihrer Aufgabe die beiden aufeinanderfolgenden Beurteilungen durchgeführt. Keine der drei von der systematischen Theologie umgriffenen Methoden sind in besonderer Weise „theologisch“. Sie werden auch bei allgemeinmenschlichen Reflexionen in verschiedenen säkularen, nicht-theologischen Forschungsbereichen oder Disziplinen angewendet. Zu einer theologischen Methode werden sie erst durch die umgreifende Methode theologischer Reflexion, deren Teil sie sind und durch die charakteristischen Geltungsansprüche, deren Beurteilung ihnen aufgetragen ist. Selbstverständlich ist jede der drei Methoden, die für die eine oder andere Phase eigentümlich ist, ih© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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rerseits wieder komplex, so dass auch sie spezielle Methoden umfasst und so weiter. Für unsere Zwecke ist es jedoch nicht erforderlich, diese Frage zu sehr im Detail zu verfolgen. Ich werde daher nur diese drei Methoden mit Blick auf die drei Hauptphasen der systematischen theologischen Reflexion betrachten, ohne auf die wiederum ihnen selbst eigentümliche Komplexität einzugehen.

1.3.1 Die historische Phase Bei der ersten Phase der systematischen Theologie handelt es sich um die historische Phase und die ihr entsprechende historische Methode. In dieser Phase besteht das Ziel der theologischen Reflexion darin, die ersten beiden Bedingungen zu erfüllen, die erforderlich sind, um den Anspruch des Zeugnisses, Jesus Christus gegenüber angemessen zu sein, zu prüfen. Zur Durchführung dieser Prüfung muss die Theologie zunächst sowohl prinzipiell wie faktisch festlegen, was überhaupt als formal-normatives Zeugnis gelten kann. Unter einem „normativen Zeugnis“ verstehe ich jedes Zeugnis, das aufgrund seiner Angemessenheit seinerseits als Norm für die Beurteilung der Angemessenheit einiger oder aller anderen Zeugnisse dient. Wenn das in Frage stehende Zeugnis geeignet ist, um einige andere Zeugnisse zu bewerten, dann bezeichne ich es als „substantiell normativ“. Es stimmt im Wesentlichen mit allen anderen angemessenen Zeugnissen überein. Wenn jedoch das in Frage stehende Zeugnis geeignet ist, um die Angemessenheit aller anderen Zeugnisse zu prüfen, dann charakterisiere ich es als „formal-normativ“. Es ist das Zeugnis, mit dem alle anderen Zeugnisse im Wesentlichen übereinstimmen müssen, um angemessen zu sein. Das erste Ziel der Theologie ist es demnach herauszufinden, welches Zeugnis für eine formalnormative Funktion geeignet ist, ¢ und zwar faktisch wie prinzipiell. Dazu müssen die Bedingungen festgelegt werden, denen jedes Zeugnis genügen muss, wenn es eine formal-normative Funktion ausüben soll. Anschließend muss das besondere Zeugnis (oder müssen die besonderen Zeugnisse) identifiziert werden, das (die) diese notwendigen Bedingungen erfüllt (erfüllen). Für diese Aufgabe muss sich die systematische Theologie der historischen Methode bedienen. Was nämlich prinzipiell wie faktisch als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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formal-normatives Zeugnis gelten kann, beruht auf dem, was das Zeugnis selbst vorgibt zu sein oder zu implizieren. Da sich dieser Sachverhalt nur aufgrund einer besonderen historischen Erfahrung erschließt, benötigt man zur Bestimmung die historisch-kritische Methode. In der ersten Phase, in der diese Methode angewendet werden muss, kann sich die systematische Theologie daher nicht nur auf ihre theologische Schwesterdisziplin, die historische Theologie (zu der auch die biblische gehört) verlassen. Sie muss sich auch auf den säkularen Bereich der Geschichtswissenschaft und ihrer verschiedenen Disziplinen stützen. Die spezifische Aufgabe der historischen Theologie, die sie zu einem unablässigen Gespräch mit der säkularen Geschichtsschreibung zwingt, besteht darin, die gesamte Geschichte des christlichen Zeugnisses, beginnend mit den frühesten Traditionen, die vor die Zeit des Neuen Testaments zurückreichen und nur durch dessen Schriften zugänglich sind, zu bestimmen und zu verstehen. Bei der Durchführung dieser Aufgabe gewinnt die historische Theologie unter anderem ein Verständnis für das, was tatsächlich in den verschiedenen, nunmehr der Vergangenheit angehörenden Situationen, in denen das eine oder andere Zeugnis entstanden ist, als formal-normatives Zeugnis angesehen wurde. Genau das muss die systematische Theologie wissen, um ihre charakteristische Aufgabe ausführen und festlegen zu können, was als formal-normatives Zeugnis gelten kann. Es gibt daher gute Gründe, warum ein systematischer Theologe so viel wie möglich von all jenen lernen sollte, die sich mit historischer Theologie befassen. Hierzu gehören Bibelwissenschaftler ebenso wie säkulare Historiker. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass irgendeiner dieser Kollegen die Aufgabe eines systematischen Theologen übernehmen könnte oder er oder sie dazu verpflichtet wäre, die Ergebnisse der Untersuchung kritiklos zu übernehmen. Zwar kann nur mit Hilfe historischer Untersuchungen bestimmt werden, was als formal-normatives Zeugnis angesehen werden kann. Doch die Bestimmung selbst gehört nicht mehr zur Aufgabe eines historischen Theologen und noch viel weniger zu der eines säkularen Historikers, sondern zu der unabdingbaren Verantwortung des systematischen Theologen. Um sie zu erfüllen, sollte er oder sie auf jeden Fall kritisch gegenüber den Ergebnissen sein, die historische Theologen oder andere Historiker © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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erzielt haben. Voraussetzung jeglicher Kritik ist freilich, dass sie ihrerseits das Ergebnis sorgfältiger historischer Forschung ist. Aber obgleich nun klar ist, wie die systematische Theologie in ihrer ersten Phase vorgehen sollte, ist es, zumal in der heutigen Zeit, nicht leicht, dieses Vorgehen auch zu beherzigen. Der Grund für diese Schwierigkeit ist, dass heute beim christlichen Zeugnis und in der Theologie der Konsens darüber, was prinzipiell und faktisch als formal-normativ anzusehen ist, geringer ist als in der Vergangenheit. Zwar besteht etwa seit dem zweiten Jahrhundert eine weit verbreitete Übereinkunft über das grundlegende Prinzip: Ein Zeugnis gilt als formal-normativ, wenn es apostolisch ist in dem Sinn, dass es ursprünglich und schöpferisch und damit konstituierend für die Kirche ist. Doch jenseits dieser durch die Geschichte des Kanons belegten Tatsache gab es immer Uneinigkeit darüber, welches Zeugnis oder welche Zeugnisse genau als apostolisch zu bewerten sind. Zutiefst kontrovers blieb auch, was genau das Prinzip der Apostolizität selbst bedeutet. Obwohl protestantische, römisch-katholische und orthodoxe Christen allesamt dasselbe apostolische Prinzip akzeptiert haben, haben sie es in sehr unterschiedlicher Weise ausgelegt: Für die Protestanten gilt „allein die Schrift“ als apostolisch; römisch-katholische und orthodoxe Christen gehen dagegen von entgegengesetzten Verständnissen von „Schrift und Tradition“ als dem eigentlichen Sinn von Apostolizität aus. Und als ob dies noch nicht genug wäre, haben die revisionistischen Formen des christlichen Zeugnisses und der Theologie, die im Laufe der modernen Kirchengeschichte – im sogenannten liberalen Christentum bei römisch-katholischen wie protestantischen Gruppen – entstanden sind, das Prinzip der Apostolizität aufgegeben und es durch die Berufung auf den „historischen Jesus“ als wirklichem Prinzip eines formal-normativen Zeugnisses ersetzt. Es steht außer Frage, dass jeder Versuch eines Theologen, heute ein formal-normatives Zeugnis zu bestimmen, mehr Kontroversen auslöst als jemals zuvor. Die Bandbreite der Möglichkeiten war nie größer; und keine von ihnen ist vollständig gegen Einwände gefeit, so dass sie als die einzig vernünftige Wahl erschiene. Meiner Meinung nach bedeutet das jedoch nicht, dass es überhaupt keine Möglichkeit gibt, die im Verhältnis zu allen anderen überzeugender und deshalb zu bevorzugen ist. Zweifellos kann jedoch heute eine kritische Beurtei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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lung der Angemessenheit eines Zeugnisses niemals leicht sein. Man muss daher, will man verantwortungsbewusst systematische Theologie betreiben, mit diesen Schwierigkeiten rechnen. Meine eigene Wahl unterscheidet sich deutlich von der klassischen wie von der revisionistischen Position, auf die ich eben hingewiesen habe. Meines Erachtens können Schrift und Tradition, auf die man sich bislang in der einen oder anderen Weise als klassisches, normatives christliches Zeugnis berufen hat, heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen. Mir ist bewusst, dass es sich dabei um eine äußerst kontroverse Behauptung handelt; ich kann jedoch in diesem Rahmen meine Argumente möglicherweise nicht so ausführlich darlegen, wie ich es an anderer Stelle getan habe.1 Ungeachtet des universalen Glaubens und der Praxis, die das Gegenteil zu belegen scheinen, beinhaltet die historisch-kritische Erforschung der christlichen Vergangenheit zweifellos den vollständigen Zusammenbruch der gängigen Unterscheidung zwischen Schrift und Tradition: Die Schrift, oder, genauer, der Teil der Schrift, der den Kanon des Neuen Testaments enthält, muss nämlich aufgrund des Prinzips oder des Kriteriums, das in der Geschichte benutzt wurde, um ihn von der Tradition abzugrenzen, seinerseits als „Tradition“ bezeichnet werden. Jenes Kriterium war, wie gesagt, die „Apostolizität“ im Sinne eines einzigartigen Merkmals, das das Zeugnis der Apostel als die ursprünglichen und schöpferischen und damit konstituierenden Christen bestimmte. Mit Søren Kierkegaard gesprochen sind sie „Jünger aus erster Hand“ im Unterschied zu allen anderen Christen, die nur „Jünger aus zweiter Hand“ sein können. Aufgrund dieses Kriteriums war es erforderlich, dass ein bestimmter Text, der in gültiger Form in das Verzeichnis oder den „Kanon“ der Schriften, der das Neue Testament bildet, aufgenommen wurde, als „apostolisch“ galt, weil er von einem der Apostel verfasst worden war. Doch der anhaltende Prozess der historischkritischen Erforschung der Schriften des Neuen Testaments, der insbesondere auch die sogenannte „Quellen- und Formkritik“ einschließt, hat zweifelsfrei ergeben, dass keine der Schriften des Neuen Testaments das Kriterium „apostolisch“ erfüllt. Warum nicht? Nun, weil von allen gezeigt werden konnte, dass sie von Personen verfasst 1

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Vgl. Ogden, Point of Christology, 96 – 105; und Ogden, On Theology, 45 –

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wurden, die in ihrer oder seiner Schrift mündliche und/oder schriftliche Quellen benutzt haben, die auf ein früheres christliches Zeugnis oder frühere Zeugnisse zurückgehen. Daraus ergibt sich der unvermeidbare Schluss, dass es selbst rein formal kaum als „apostolisch“ in dem Sinn bestimmt werden kann, dass es das früheste, ursprüngliche und schöpferische und damit konstitutive christliche Zeugnis ist. Durch diese Schlussfolgerung werden zwar alle klassischen Positionen in Bezug auf die Normen des christlichen Zeugnisses wirksam untergraben, egal ob sie protestantisch, römisch-katholisch oder orthodox sind; doch der fortdauernde Prozess historisch-kritischer Studien belegt auch die Unhaltbarkeit der entgegengesetzten Position, die typischerweise von modernen revisionistischen Christen und Theologen eingenommen wird. Ich beziehe mich auf die Position, die davon ausgeht, dass die wirkliche Norm nicht das Zeugnis der Apostel und der mit ihm im Wesentlichen übereinstimmenden späteren Zeugnisse ist, mit anderen Worten, Schrift und Tradition, – sondern vielmehr das Zeugnis Jesu selbst, des sogenannten historischen Jesus, der allen Interpretationen voranging. Die unüberwindbare Schwierigkeit dieser revisionistischen Position beruht darauf, dass es schlichtweg überhaupt keine primären Quellen für das Zeugnis von Jesus selbst gibt – keine Worte aus seinem eigenen Mund, keine Schriften aus seiner Hand, und so weiter. Sogar unsere frühesten Quellen sind bestenfalls sekundär: sowohl die, die rekonstruiert werden können, indem man sich von den synoptischen Evangelien zurückarbeitet, wie die Schriften von Paulus. Sie sind allesamt Glaubenszeugnisse und keine historischen Berichte im modernen Sinn des Wortes. Rein theoretisch können wir zwar zwischen dem frühesten christlichen Zeugnis über Jesus und Jesu eigenem Zeugnis unterscheiden; dennoch ist es unmöglich, beide operativ voneinander zu trennen, um so auf zweifelsfreie Weise festzustellen, was Jesus selbst vor jeglicher Interpretation durch andere sagte und tat – gegenüber jenen, die seinem Ruf mit gehorsamem Glauben folgten und dann jeweils auf ihre Weise von seiner entscheidenden Bedeutung für die menschliche Existenz Zeugnis ablegten. Im Gegensatz zu den ständig wiederholten Ansprüchen all jener, die in den Vereinigten Staaten von Amerika durch die Arbeit des „Jesus-Seminars“ gut bekannt sind, ist daher eine Suche nach dem historischen Jesus ausgeschlossen, und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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zwar unabhängig davon, ob sie alt, neu oder erneuert ist. Die einzig legitime Möglichkeit, die sich aus der Natur unserer einzigen Quellen ergibt, ist eine völlig andere: An die Stelle einer Suche nach dem historischen Jesus muss eine, wie Willi Marxsen hervorhebt, historische Suche nach Jesus treten, deren einzig erreichbares Ziel der Jesus ist, wie ihn die frühesten, uns inzwischen zugänglichen, christlichen Zeugnissen belegen.2 Meine eigene Haltung in Bezug auf formal-normative Zeugnisse ist daher eine dritte, zwischen den beiden gängigen Extremen vermittelnde Position. Auf der einen Seite stimmt sie mit der klassischen Auffassung überein, insofern sie entgegen der revisionistischen Berufung auf den historischen Jesus das Prinzip oder Kriterium der Apostolizität akzeptiert. Auf der anderen Seite ist für sie das einzige Zeugnis, das aufgrund des apostolischen Prinzips Gültigkeit beanspruchen kann, im Unterschied zur klassischen Position, nicht der Kanon des Neuen Testaments, sondern ein Kanon vor diesem Kanon. Obwohl er, entgegen der revisionistischen Position, nicht das Zeugnis des historischen Jesus ist, ist er dennoch das früheste christliche Zeugnis über Jesus, das wir nun dank der Anwendung unserer eigenen historisch-kritischen Methoden und unseres Wissens rekonstruieren können. Obwohl ich diese Position gegenüber ihren Alternativen bevorzuge, ist auch sie nicht gänzlich frei von bestimmten Problemen. Ich wiederhole daher meine Aussage, dass heute eine kritische Beurteilung der Angemessenheit des Zeugnisses niemals leicht sein kann. Wenn man jedoch auf verantwortungsvolle Weise systematische Theologie betreiben will, kommt man nicht umhin, dies anzuerkennen.

1.3.2 Die hermeneutische Phase Ähnliches kann man über die zweite, hermeneutische Phase der systematischen Theologie sagen, die sich einer spezifisch hermeneutischen Methode bedient. Es gibt in dieser zweiten Phase zwei verschiedene Ziele der theologischen Reflexion, die freilich beide gleichermaßen dadurch erreicht werden, dass sie sich mit ein- und derselben Sache befassen. Das eine Ziel besteht darin, die zweite der 2

Vgl. Marxsen, Jesus and Easter, 21 – 23. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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beiden Bedingungen zu erfüllen, die gefordert sind, um kritisch zu prüfen, ob der Anspruch des Zeugnisses, Jesus Christus angemessen zu sein, gültig ist. Um diesen Anspruch zu beurteilen, muss die Theologie nicht nur bestimmen, welches Zeugnis in Wirklichkeit wie im Prinzip als formal-normativ gelten kann; damit es seine eigentliche Funktion als formale Norm wirklich ausüben kann, muss es auch verstanden und damit interpretiert werden. Doch die Auslegung der Norm, die für die Beurteilung der Angemessenheit des Zeugnisses erforderlich ist, ist genau das, was notwendig ist, um das andere Ziel der theologischen Reflexion in ihrer zweiten Phase zu erfüllen: Es gilt die erste der beiden Bedingungen zu erfüllen, die erforderlich sind, um den Anspruch des Zeugnisses zu beurteilen, glaubwürdig in Hinblick auf die menschliche Existenz zu sein. Bevor die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses in Bezug auf die menschliche Existenz als gültig befunden werden kann, muss man verstehen, was das Zeugnis in Hinblick auf diese Wahrheit sagen oder nicht sagen will. Und genau dazu muss das formal-normative Zeugnis auch interpretiert werden. Was ich mit der „hermeneutischen Methode“ meine, ist somit die für eine derartige Interpretation erforderliche Methode – und damit, so sollte ich vielleicht ergänzen, alles, was den Zielen des derzeitigen Argumentes dient. Man kann diese Methode auch als „exegetische Methode“ bezeichnen. Beide Namen beziehen sich auf die Vorgehensweise, der man folgen muss, um ein formal-normatives Zeugnis zu verstehen und zu interpretieren und zwar in Hinblick auf die Art von menschlicher Frage, auf die sie selbst als Antwort gerichtet ist. Gehen wir aus Gründen, die in dem Maß klarer werden, in dem ich meine Argumente weiter entwickle, davon aus, dass es sich bei der Frage, die das Zeugnis thematisiert, um die existentielle Frage nach dem Sinn handelt, den die letzte Wirklichkeit für uns hat. Dann können wir, beginnend mit dem formal-normativen Zeugnis, sagen, dass die für die Theologie geeignete hermeneutische Methode die ist, die Rudolf Bultmann und andere als „existentiale Interpretation“ bezeichnet haben. Unabhängig davon, ob wir sie nun so oder anders nennen, ist es entscheidend, dass das Zeugnis, wenn es sich auf die existentielle Frage bezieht, auch in dieser Weise verstanden und interpretiert werden muss. Es muss in Begriffen und mit einer Terminologie interpretiert werden, mit deren Hilfe die Frage heute richtig gestellt und beantwortet und in deren Rahmen über die menschliche © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Existenz nachgedacht und gesprochen werden kann. Es genügt deshalb nicht, dass sich die systematische Theologie in ihrer zweiten hermeneutischen Phase, in der sie eine derartige Interpretation erarbeiten muss, nur bei der historischen Theologie und der säkularen Geschichte nach Hilfe umschaut. Sie muss sich auch dem säkularen Feld der Philosophie und vor allem der Disziplin der philosophischen Theologie zuwenden. Es wird sich zeigen, dass sich die systematische Theologie hierbei auch auf die historische Theologie und indirekt auf die säkulare Geschichtswissenschaft stützen sollte. Die historische Theologie und insbesondere die biblische beinhaltet als Verständnis der gesamten Geschichte des christlichen Zeugnisses auch das des formal-normativen Zeugnisses. Da jedoch das Verständnis des Zeugnisses auch dessen Interpretation einschließt, ist schon die historische Theologie von der Philosophie und der philosophischen Theologie abhängig und muss es auch sein. Um das Gedachte und Gesagte innerhalb eines Schemas von Begriffen und Terminologien zu interpretieren, benötigt man nämlich immer schon ein weiteres begriffliches Schema, innerhalb von dessen Rahmen die Interpretation erfolgt. Es ist die besondere Aufgabe der Philosophie und, bei existentiellen Fragen, die durch das Zeugnis aufgeworfen werden, auch der philosophischen Theologie, das erforderliche Schema von Begriffen und Termini bereit zu stellen. Systematische Theologen haben daher allen Grund so viel wie möglich von all denen zu lernen, die sich mit säkularer Philosophie im Allgemeinen und mit philosophischer Theologie im Besonderen beschäftigen. Um es noch einmal zu betonen: Nicht gemeint ist, dass der systematische Theologe seine Eigenverantwortung entweder dem Historiker oder dem Philosophen aufbürden kann oder das, was diese sagen, unkritisch akzeptieren muss. Die Interpretation des Zeugnisses, das als formal-normativ gelten soll, liegt in der Verantwortung des systematischen Theologen. Damit ist sie oder er auch verantwortlich für die Kritik an der Arbeit von Philosophen wie Historikern. Die Voraussetzung ist lediglich, dass es sich bei der dabei verwendeten Methode auch um die hermeneutische handelt, bei deren Entwicklung sie auf ihre Weise eine Rolle spielen müssen. Wie ich schon angedeutet habe ist es jedoch vor allem heute problematisch, wie die systematische Theologie in dieser zweiten Phase tatsächlich ausgeübt wird. Der Hauptgrund für die Schwierigkeiten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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beruht in dieser Phase auf der großen Anzahl von Theologien und Philosophien, die im Lauf der Zeit immer mehr zugenommen hat. Sicherlich hat es von den ersten Anfängen der Kirche an nie nur ein einziges christliches Zeugnis gegeben. Immer schon gab es viele Zeugnisse, durch die Christen ihre Erfahrung mit Jesus ausgedrückt und seine entscheidende Bedeutung beteuert haben. Diese Mannigfaltigkeit auf der primären Ebene des Selbstverständnisses und der Lebenspraxis lässt sich kaum einschränken. Schon gar nicht lässt sie sich auf der sekundären Ebene der kritischen Reflexion begrenzen, wo es niemals nur eine Interpretation des formal-normativen Zeugnisses, sondern stets viele Deutungen gegeben hat. Der wichtigste Grund hierfür ist natürlich, dass es immer auch viele Philosophien zur säkularen Interpretation der menschlichen Kultur und von Religion im Allgemeinen gegeben hat. Je nachdem, welche dieser vielen Philosophien die grundlegenden Begriffe und Terminologien zur Verfügung stellten, entstanden auch viele Theologien. Indem immer wieder neue Philosophien entwickelt wurden, ergaben sich theologische Interpretationen, die über das hinausführten, was traditionelle Theologien bereits vertreten hatten. Heute, so kann man zusammenfassend sagen, kann man keine Interpretation eines formal-normativen Zeugnisses erwarten, die die ständig wachsende Vielfalt von Theologien und Philosophien überwindet. Bestenfalls kann sie eine Interpretation unter vielen sein. Damit muss in keiner Weise ausgeschlossen sein, dass sie, zumindest relativ gesehen, zutreffender ist als andere Interpretationen. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, die dagegen spricht, dass dies tatsächlich der Fall ist, niemals größer.

1.3.3 Die philosophische Phase Dies bringt uns zur dritten und letzten Phase der systematischen Theologie, der philosophischen Phase. Die spezifische Methode ist nun eine genuin philosophische. Ziel der theologischen Reflexion in dieser Phase ist es, der zweiten Bedingung zu entsprechen, die für die kritische Beurteilung des Anspruchs des Zeugnisses, glaubwürdig für die menschliche Existenz zu sein, erforderlich ist. Um diesen Anspruch zu prüfen, muss die Theologie das Zeugnis nicht nur in Hinblick auf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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seine formal-normative Gültigkeit interpretieren. Sie muss auch bestimmen, was in Bezug auf die menschliche Existenz sowohl prinzipiell wie tatsächlich als wahr gelten kann. Wieder gehe ich davon aus, dass die menschliche Frage, an die sich das christliche Zeugnis richtet, die existentielle Frage nach der Bedeutung der letzten Wirklichkeit für uns ist. Ist diese Annahme vernünftig, dann ist der Anspruch der Glaubwürdigkeit, den das Zeugnis erhebt oder impliziert, ein existentieller. Es lohne sich, so die Behauptung, an es zu glauben, weil es etwas Wahres ausdrückt; und bei der zum Ausdruck gebrachten Wahrheit handelt es sich um eine existentielle Wahrheit. Um diesen Anspruch zu beurteilen, muss die systematische Theologie bestimmen, was – sowohl prinzipiell wie faktisch – als eine derartige Wahrheit gelten kann. Dazu muss sie die Kriterien bestimmen, die jede Behauptung erfüllen muss, um in existentieller Hinsicht als wahr zu gelten; anschließend muss sie ein Verständnis der letzten Wirklichkeit formulieren, das diese Kriterien erfüllt. Das bedeutet natürlich, dass die spezifischen Anforderungen an diese Kriterien in einer bestimmten historischen Situation erfüllt sein müssen. Selbstverständlich ist die hierfür erforderliche Methode eine philosophische. Schließlich ist das, was sowohl prinzipiell wie faktisch als existentielle Wahrheit gelten soll das, was die menschliche Existenz selbst als solche enthüllt. Da sie, wie die Existenz, allein aufgrund gemeinsamer menschlicher Erfahrung gegeben ist, kann sie nur mit Hilfe der genuin philosophischen Methode der Reflexion bestimmt werden. Die Theologie stützt sich daher in ihrer dritten Phase, in der sie dieser Methode folgen muss, auch auf jede Form der Hilfe, die sie von dem säkularen Feld der Philosophie und ihrer Teildisziplin, der philosophischen Theologie, erhalten kann. Ungeachtet weiterer Bedeutungen verstehe ich, wie ich bereits angedeutet habe, das Wort „Philosophie“ im Sinn einer säkularen Analyse und Interpretation der menschlichen Kultur und der Religion im Allgemeinen. Aus diesem Grund hält die Theologie bei der Entwicklung ihrer eigenen Interpretation des christlichen Zeugnisses im Besonderen nach einer Unterstützung durch die Philosophie, insbesondere die philosophische Theologie, Ausschau. Aber obgleich auch die Philosophie eine hermeneutische Phase hat, ist es doch das Ziel ihrer letzten Phase, zumindest der der philosophischen Theologie, ein reflektiertes Verständnis der Wahrheit über die menschliche Existenz © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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und damit der Kriterien zu gewinnen, die für eine kritische Bewertung aller Weisen, diese Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, geeignet sind. Genau ein solches Verständnis ist die Grundlage dafür, dass die Theologie ihre spezifische Aufgabe gut erfüllen und schließlich bestimmen kann, was als existentielle Wahrheit zu gelten hat. Auch in dieser dritten Phase haben daher die systematischen Theologen gute Gründe, so viel wie möglich von den säkularen Philosophen und den philosophischen Theologen zu lernen. Noch einmal sei jedoch betont, dass dies weder beinhaltet, dass sie ihre Arbeit anderen überlassen können, noch dass sie alles, was diese herausfinden, akzeptieren müssen. Für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses bleiben sie selbst voll verantwortlich. Und um dieser Verantwortung nachzukommen, können sie nicht nur, sondern müssen sie die Ansprüche in Frage stellen, die andere in Hinblick auf die existentielle Wahrheit erheben. Vorausgesetzt wird lediglich, dass sich die Gründe hierfür aus der gewissenhaften Anwendung der philosophischen Methode der Reflexion ergeben. Doch auch in dieser Phase stößt die tatsächliche Ausübung der systematischen Theologie – vor allem heute – auf ernsthafte Schwierigkeiten. Der Hauptgrund ist natürlich, worauf schon hingewiesen wurde, die unablässig wachsende Vielfalt von Theologien und Philosophien genauso wie von Religionen und Kulturen. Das beruht nicht allein darauf, dass Menschen schon immer viele unterschiedliche und oft widersprüchliche Vorstellungen von der existentiellen Wahrheit hatten; darüber hinaus haben sie es nie geschafft, sich auf Kriterien zur Beurteilung der Unterschiede zu einigen. Tatsächlich sind einige der schmerzlichsten und hartnäckigsten menschlichen Konflikte durch unlösbare Meinungsverschiedenheiten über genau diese Kriterien und ihre spezifischen Anforderungen in einer bestimmten Situation entstanden. Außerdem ist es niemals gelungen, diese Mannigfaltigkeit auf der primären Ebene des Selbstverständnisses und der Lebenspraxis jemals entscheidend auf der sekundären Ebene, der der kritischen Reflexion und der Theoriebildung, zu reduzieren. Die eine Wahrheit über die menschliche Existenz ist auch in diesem Fall nur in den vielen Wahrheitsansprüchen präsent, von denen noch nicht einmal alle gültig sein können. Obwohl dieses Phänomen sobald Theologie betrieben wurde immer schon aufgetreten ist, ist es in unserer heutigen Situation noch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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auffallender. Zum ersten Mal in der Geschichte entsteht eine wahrhaft globale menschliche Gemeinschaft. Dadurch wird die Vielzahl der Wahrheitsansprüche, mit der die Theologie in irgendeiner Form rechnen muss, praktisch grenzenlos. Sie umfasst nun nicht mehr nur die klassischen Ausdrucksformen der Weltkulturen und Religionen, sondern auch alle mehr oder weniger radikalen Revisionen dieser Ausdrucksformen, zu denen auch der moderne säkulare Humanismus evolutionärer wie revolutionärer Prägung gehören. Von besonderer Bedeutung für die Theologie sind die charakteristischen Herausforderungen des traditionellen Wahrheitsverständnisses, die von Gruppen und Individuen kommen, die bislang marginalisiert wurden und aus Gründen der Klasse, der Rasse, des Geschlechts oder der ethnischen Zugehörigkeit ungehört blieben. Diese Herausforderungen konvergieren insofern, als mit neuer Dringlichkeit betont wird, dass die Wahrheit über die Existenz nicht nur geglaubt werden darf, sondern auch gelebt werden muss. Jeder Anspruch, der erhoben wird, muss daher in praktischer wie theoretischer Hinsicht glaubwürdig sein. Entscheidend bei all diesen Überlegungen ist, dass die christliche systematische Theologie heute vor der nahezu unlösbaren Aufgabe steht zu bestimmen, was die Wahrheit in Bezug auf die menschliche Existenz ist. Diese Aufgabe kann meiner Meinung nach dennoch erfüllt oder zumindest in vernünftiger Weise in Angriff genommen werden, weil einige Auffassungen von dieser Wahrheit glaubwürdiger sind als andere. Doch die Zeit, in der man die systematischen Theologen dafür entschuldigen konnte, dass sie bei der Entwicklung eines solchen Verständnisses nur auf eine Theologie oder Philosophie geschaut haben, ist, wenn es sie denn jemals gegeben haben sollte, längst vorbei. Heute gibt es keine Entschuldigung mehr für unseren traditionellen Provinzialismus. In den Bemühungen um eine existentielle Wahrheit müssen wir sorgfältig jede noch so kleine Spur von Dogmatismus vermeiden. Das ist also meine Antwort auf die Frage nach der Methode oder den Methoden der christlichen systematischen Theologie und damit darauf, wie wir sie heute ausüben sollten. Zugegeben: Es gibt einige Gefahren bei der von mir vorgenommenen Unterscheidung von drei verschiedenen Phasen, da sie in der falschen Weise getrennt oder ihre relative Rangordnung zu einfach konstruiert sein könnte. Trotzdem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

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sind sie genau wie die zugehörigen Methoden sowohl unterschieden wie untrennbar. Ihre Reihenfolge bleibt bestehen, obwohl offensichtlich die erste in gewisser Weise die dritte ebenso wie die zweite beinhaltet, genauso wie die zweite Phase die dritte und die erste impliziert.

1.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerung Ich werde nun die in den Prolegomena dargestellten Hauptpunkte zusammenfassen und einen abschließenden Punkt hinzufügen. Zunächst bin ich von einer fundamentalen Unterscheidung ausgegangen zwischen Geltungsansprüchen, die in unserem Selbstverständnis und in unserer alltäglichen Lebensführung erhoben werden oder impliziert sind auf der einen Seite, und einer kritischen Reflexion auf unser Selbstverständnis und unsere Lebenspraxis durch die Interpretation ihrer Bedeutung und die Beurteilung ihrer Ansprüche (die, je nach Lage der Dinge, auch für ungültig erklärt werden können) auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung habe ich verwendet, um zunächst die Theologie im Allgemeinen zu definieren. Dabei wurde die Theologie im eigentlichen Sinn des Wortes vom Zeugnis unterschieden. Der Begriff „Zeugnis“ verweist auf alles, was wir in Hinblick auf Gott oder die letzte Wirklichkeit denken, sagen und tun, ausgenommen die Gedanken und/oder Redeweisen, die zu einer kritischen Aneignung gehören, auf die der Begriff „Theologie“ verweist. Sodann habe ich die christliche Theologie im Besonderen als ein Denken und/oder Sprechen bestimmt, die eine kritische Reflexion auf die Bedeutung des spezifisch christlichen Zeugnisses und seine charakteristischen Geltungsansprüche beinhalten. Es handelt sich, so habe ich argumentiert, um zwei Ansprüche: Zum einen darum, dass das in Frage stehende Zeugnis inhaltlich adäquat ist und damit sowohl Jesus Christus angemessen wie für die menschliche Existenz glaubwürdig ist, und zum anderen darum, dass das Zeugnis für eine bestimmte Situation geeignet ist. Die kritische Prüfung des zweiten Anspruchs habe ich der praktischen Theologie zugewiesen. Die Beurteilung des ersten Anspruchs und die sich daran anschließenden Prüfung der beiden Ansprüche, die er seinerseits umfasst, gehören © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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meines Erachtens zu der eigentümlichen Aufgabe oder den Aufgaben der systematischen Theologie. Im dritten Abschnitt des Kapitels habe ich zu zeigen versucht, dass es drei verschiedene Phasen innerhalb einer einzigen Reflexionsbewegung gibt. Mit ihrer Hilfe führt die christliche systematische Theologie die beiden aufeinanderfolgenden Beurteilungen der Geltungsansprüche durch. Zu jeder dieser Phasen, so habe ich betont, gehört eine ihr entsprechende spezifische Methode. Ich habe somit versucht zu zeigen, dass und warum die Methode der systematischen Theologie in der ersten Phase historisch ist, in der zweiten hermeneutisch und in der dritten philosophisch. Außerdem habe ich mich bemüht zu erklären, warum die systematische Theologie ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie die Schwierigkeiten überwindet, die in jeder der drei Phasen auftreten. Hierzu gehören vor allem die großen historischen Schwierigkeiten zu bestimmen, was sowohl prinzipiell wie faktisch als formal-normatives Zeugnis gelten kann und die gewiss nicht weniger beeindruckenden philosophischen Probleme zu klären, was man sowohl prinzipiell wie faktisch als Wahrheit über die menschliche Existenz ansehen kann. Das führt mich zum letzten Punkt meiner Überlegungen: Betrachtet man die Schwierigkeiten, die mit der Erfüllung der Aufgabe der systematischen Theologie verbunden sind, dann erstaunt es nicht, dass nur so wenige bereit sind, sie auf sich zu nehmen, ohne zu versuchen, ihr auf die eine oder andere Weise aus dem Weg zu gehen oder sie als einfacher erscheinen zu lassen als sie es ist. Vielleicht würde ihr niemand von uns gewachsen sein, wenn wir sie richtig einschätzen und die Beschwichtigungen zurückweisen würden, durch die viele versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass die Aufgabe im Grunde genommen ganz einfach ist. Auf jeden Fall wäre sie für jeden von uns undurchführbar, wenn wir davon ausgehen würden, dass wir niemals auf verantwortliche Weise zu irgendeiner Schlussfolgerung kommen können, bevor wir nicht alle relevanten Daten und Argumente, historische, hermeneutische und philosophische, berücksichtigt haben. Doch das Kennzeichen eines rationalen Schlusses ist nicht, dass eine derart erschöpfende Abwägung bereits erfolgt ist. Entscheidend ist vielmehr, dass sie bis zu einer abschließenden Abwägung immer für Korrekturen offen bleibt und eine völlig vorbehaltlose und uneingeschränkte Kritik durch die Aussicht auf eine Korrektur begünstigt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

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Ein Weg, eine derartige Kritik zu erleichtern, besteht darin, sich zu bemühen, das zu sagen, was man meint, und zu meinen, was man sagt, indem die eigenen Schlussfolgerungen ausdrücklich auf die Beweise beschränkt werden, die argumentativ und aufgrund von Erfahrung unterstützt werden können. Noch wichtiger ist es, hart daran zu arbeiten, das ganze Ausmaß der Probleme, mit denen man konfrontiert ist, zu erfassen und alle Optionen zu bestimmen, durch die man sie möglicherweise lösen und zwischen denen man vernünftigerweise wählen kann. Zusammenfassend gesagt: Die wirkliche Prüfung der eigenen Rationalität als der eines Menschen und des eigenen guten Glaubens als des eines Theologen besteht weniger in dem, was man tut, bevor man seine Schlüsse zieht, als vielmehr in dem, was man tut, nachdem man sie gezogen hat. Wenn wir das verstanden haben, dann kann jeder von uns die Aufgabe übernehmen und so viel wie möglich zu ihrer Erfüllung beitragen. Dabei darf man nie vergessen, dass ein Gespräch in systematischer Theologie, an dem wir auf diese Weise teilnehmen, nicht nur stets unabgeschlossen, sondern auch nie abschließbar ist. Alle, die die Aufgabe im Sinne einer christlichen Berufung erfüllen, sollten sich immer auch vergegenwärtigen, dass sie in dieser Hinsicht wie in jeder anderen nie durch ihre guten Werke, sondern aus der Gnade Gottes, durch den Glauben allein gerechtfertigt sind und gerechtfertigt werden müssen.

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2.0 Einleitende Bemerkungen Die christliche systematische Theologie, so habe ich argumentiert, besteht in der kritischen Reflexion des christlichen Zeugnisses: Es gilt zu beurteilen, ob sein Anspruch, dem Inhalt adäquat zu sein, gültig ist, insofern es Jesus Christus angemessen und in Hinblick auf die menschliche Existenz glaubwürdig ist. Wenn es Jesus Christus angemessen ist, dann weil es im Wesentlichen mit dem formal-normativen Zeugnis der Apostel übereinstimmt, wie es die Schrift und die christliche Tradition bekunden; und wenn es für die menschliche Existenz glaubwürdig ist, dann deshalb, weil es die Wahrheit über die Existenz bestätigt und seinerseits von ihr bestätigt wird in einer Form, wie sie alle menschlichen Kulturen und Religionen mehr oder weniger adäquat bezeugen. Aber was genau ist das christliche Zeugnis? Vergegenwärtigen wir uns den Ausgangspunkt unserer Überlegungen: Wenn wir im buchstäblichen Sinne des Wortes „Theologie“ als ein Denken und/oder Sprechen über Gott definieren, dann können wir das christliche Zeugnis als ein Denken und/oder Sprechen über Gott bezeichnen, das aus der spezifisch christlichen Erfahrung und dem genuin christlichen Glauben erwächst. Aber was sind die spezifisch christliche Erfahrung und der genuin christliche Glaube anderes als die Erfahrung Jesu und der Glaube an Gott, der entscheidend durch ihn vermittelt wird, insoweit man entweder selbst ein Apostel ist oder jemand, der Jesus erfährt und an Gott mit den Aposteln, in einer Gemeinschaft mit ihnen, glaubt? Mit den „Aposteln“, so sollte ich an dieser Stelle erläutern, meine ich diejenigen, die als erste die Erfahrung gemacht haben, durch Jesus zu diesem Glauben an Gott zu kommen. Ihr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Einleitende Bemerkungen

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Glaubenszeugnis ist daher ursprünglich und schöpferisch. Da es damit konstitutiv für das christliche Zeugnis ist, gilt es als formalnormativ. Bemerkenswert an dem christlichen Zeugnis ist jedoch, dass die es begründende Behauptung – die Behauptung, die es ausdrücklich zu einem genuin christlichen Zeugnis macht ¢ aus zwei Momenten besteht. Es handelt sich nicht allein um eine Behauptung über Gott, sondern auch um eine über Jesus Christus. Es beinhaltet den logos über Christus ebenso wie den logos über den theos, mithin eine Christologie ebenso wie eine Theologie. Dennoch gilt für diese Darstellung dasselbe wir für die meisten klassischen Formulierungen des christlichen Glaubens in Form von Bekenntnissen und Theologien: Zunächst muss man sich mit Gott, nicht mit Christus, befassen. Wie ist das zu erklären? Warum muss die Theologie, wenn man ein Christ ist, mit Gott und nicht mit Jesus Christus beginnen? Oder muss sie das überhaupt tun? Ich glaube, dass sie es tun muss – allerdings nicht deshalb, weil eine Theologie auch anders als christozentrisch sein kann und trotzdem nach wie vor eine angemessene christliche Theologie ist. Im Gegenteil: Theologie muss aus zwei Gründen nicht trotz der sie begründenden christologischen Behauptung, sondern gerade wegen ihr mit Gott beginnen. Erstens wird, wie ich gesagt habe, das christliche Zeugnis als solches explizit nicht nur durch eine, sondern durch zwei Behauptungen begründet: durch die theologische Behauptung über Gott und durch die christologische Behauptung über Jesus. Zweitens ist die christologische Behauptung, wenn sie in Bezug auf die Frage, auf die sie eine Antwort zu geben versucht, richtig verstanden wird, nicht nur oder primär eine Behauptung über Jesus. Sie ist auch und vor allem eine Behauptung über Gott: darüber, wer Gott ist und damit auch darüber, wer jeder Einzelne von uns ist und damit ermächtigt ist, in eine Beziehung zu Gott zu treten. Mit anderen Worten: Ein gewisses Verständnis von Gott, oder besser, von der letzten Wirklichkeit in ihrer Bedeutung für uns, ist nicht nur die wichtigste Implikation der christologischen Behauptung, sondern auch ihre grundlegendste Voraussetzung. Das wird, so glaube ich, durch die Analyse des Prädikatterms der christologischen Behauptung und der Funktion dieses Terms in ihr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über Gott

klar. In der klassischen Formulierung „Jesus ist der Christus“ ist dieses Prädikat „der Christus“. Es leitet sich bekanntermaßen aus der griechischen Übersetzung des aramäischen Begriffs „Messias“ ab, der wiederum „der Gesalbte“ bedeutet und sich vor allem auf den Einen bezieht, der, folgt man einigen späten jüdisch-eschatologischen Erwartungen, als Gottes Vizeregent in den letzten Tagen regieren wird. Es wäre daher nicht sinnvoll zu sagen, dass Jesus (oder irgendjemand anders) der Christus ist, es sei denn, es gibt einen Gott, der für uns eine Bedeutung hat, so dass man von Jesus (oder irgendjemand anders) sagen kann, dass er Gott in entscheidender Weise re-präsentiert. Genau deshalb ist meiner Meinung nach ein gewisses Verständnis von Gott und von dem, was die absolut letzte Wirklichkeit ist, die grundlegendste Voraussetzung der christologischen Behauptung selbst in dieser oder jeder anderen Formulierung. Wenn wir also nach der Funktion des Prädikatterms „der Christus“ in dieser Formulierung fragen, dann dient es mit Sicherheit dazu, das Subjekt, auf das es sich bezieht, zu interpretieren und uns zu sagen, wer Jesus ist: dass er der von Gott Erwählte ist, durch den die Bedeutung Gottes für uns deutlich re-präsentiert wird. Doch er dient auch dazu, dass dieser durch das nämliche Subjekt, durch Jesus also, interpretiert wird. Indem uns also gesagt wird, wer der Christus ist, wird uns daher gleichzeitig gesagt, wer Gott ist und wer wir selbst sind und sein sollen. Ein gewisses Verständnis von Gott ist daher meiner Meinung nach auch die wichtigste Implikation der christologischen Aussage. Es ist ihre wichtigste Implikation, weil die Frage nach Gott oder danach, welche Bedeutung die absolut letzte Wirklichkeit für uns hat, die entscheidende Frage von uns als Menschen ist, und zwar einzig und allein deswegen, weil wir Menschen sind und damit die universale Wirklichkeit des Menschseins miteinander teilen.

2.1 Die Frage nach Gott Die Hauptthese, die ich nun erklären und argumentativ vertreten werde, ist, dass die Frage nach Gott die spezielle Form der allgemeineren Frage nach der letzten Wirklichkeit und, noch präziser, nach der absolut letzten Wirklichkeit ist. Ich meine mit dem Begriff „Wirklichkeit“ im Allgemeinen, in den Worten von William James ge© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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sprochen, etwas, „dem wir selbst irgendwie Beachtung schenken müssen.“1 Diese Definition erlaubt den Schluss, dass „die letzte Wirklichkeit“ alles umfasst, dem wir letztlich allein deshalb Rechnung tragen müssen, weil wir als Menschen existieren, und zwar unabhängig davon, welche Dinge wir sonst noch beachten oder auch nicht beachten, wenn wir unser je eigenes, individuelles Leben führen und die für uns die „unmittelbare Wirklichkeit“ ausmachen. In diesem Sinne verstanden beinhaltet die letzte Wirklichkeit alles, was für unsere Erfahrung oder unser Selbstverständnis notwendig ist und sich von allen anderen Dingen unterscheidet, die wir erfahren oder auch nicht erfahren können, weil sie in Bezug auf unsere schlechthinnige Existenz lediglich kontingent sind. Was auch immer die letzte Wirklichkeit sonst noch beinhaltet, sie umfasst auf jeden Fall unsere eigene Existenz als ein Selbst zusammen mit all dem, was in irgendeiner Weise eine notwendige Bedingung der Möglichkeit dieser Existenz ist. Es spielt keine Rolle, ob es sich dabei um andere Menschen oder die größere Welt untermenschlicher oder möglicherweise sogar übermenschlicher Seiender handelt, mitsamt dem, was diese ihrerseits wiederum zwangsläufig voraussetzen. Offenkundig gehört zu diesen notwendigen Bedingungen jede Art der Wirklichkeit, von der man sagen kann, dass sie die „absolut letzte“ ist, weil sie die notwendige Bedingung der Möglichkeit nicht allein der menschlichen Existenz, sondern von jeglicher Existenz ist. Die absolut letzte Wirklichkeit ist daher das, was nicht nur wir, sondern jedes mögliche Seiende zumindest in dem vollkommen allgemeinen Sinn irgendwie beachten muss, dass es wirklich innerlich mit ihr verbunden und deshalb von ihr abhängig und von ihr betroffen ist. Nun können wir nach der letzten Wirklichkeit, die absolut letzte Wirklichkeit eingeschlossen, in zwei klar unterschiedenen, wenngleich eng verbundenen Weisen fragen: Fragen wir nach ihrer Bedeutung für uns, dann fragen wir in einer konkreteren oder existentielleren Weise; wir fragen gleichzeitig nach ihr und danach, wie wir uns selbst verstehen und unser Leben in Beziehung zu ihr führen sollten. Wenden wir die Aufmerksamkeit von uns selbst und unserer Beziehung zu ihr ab und fragen nur nach ihrer Struktur in sich selbst, dann fragen wir auf eine abstraktere, intellektuellere Weise. Die konkretere, 1

James, Some Problems of Philosophy, 101. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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existentiellere Weise zu fragen beinhaltet bzw. umschließt mit Notwendigkeit die abstraktere, intellektuellere. Indem wir nämlich nach der Bedeutung fragen, die die letzte Wirklichkeit für uns hat, fragen wir implizit auch nach ihrer Struktur an sich. Wenn jedoch die existentielle Art der Fragestellung intellektuelle – genauer gesagt, metaphysische – Implikationen hat, dann beinhaltet sie auch ethische. Warum ist das so? Wenn wir wissen wollen, wie wir uns selbst in Beziehung zur letzten Wirklichkeit verstehen, dann fragen wir – teils direkt, teils indirekt – auch danach, wie wir handeln und was wir tun sollen. Die existentielle Frage nach der letzten Wirklichkeit hat, so zeigt meine Analyse, somit zwei Aspekte: einen metaphysischen und einen ethischen. Sie ist mit der genuin metaphysischen Frage auf der einen Seite und mit der eigentümlich ethischen Frage auf der anderen Seite zugleich eng verbunden und doch von ihr unterschieden. Wenn wir nun fragen: Was macht die existentielle Frage nach der letzten Wirklichkeit überhaupt möglich?, dann lautet meine Antwort: ein grundlegender Glaube an die Bedeutung des Lebens oder der letzten Wirklichkeit, auch der absolut letzten Wirklichkeit, für uns. Indem wir also in existentieller Weise fragen, fragen wir nicht danach, ob die letzte Wirklichkeit eine Bedeutung für uns hat und uns so ermächtigt, uns selbst auf die eine oder andere Weise zu verstehen. Wir fragen nur danach, was sie für uns für eine Bedeutung hat und wie sie es uns gestattet, uns selbst zu verstehen und unser Leben zu führen. Doch warum ist es eigentlich notwendig, diese existentielle Frage zu stellen? Hier müssen wir meines Erachtens mindestens zwei Faktoren berücksichtigen: Zunächst einmal stellen die negativen Aspekte unserer tatsächlichen Existenzweise – zum Beispiel Schuld, Leiden, Einsamkeit und Tod – alle Antworten in Frage, die wir normalerweise hauptsächlich deshalb geben, weil wir in einer bestimmten Weise in einer besonderen Gesellschaft und Kultur, zu der auch die jeweilige Religion gehört, erzogen wurden. Zweitens aber sind wir, insofern uns die Vielzahl der Antworten auf die Frage bewusst wird, die tatsächlich von verschiedenen menschlichen Gruppen und Individuen gegeben wurden, selbst in der Lage, nach der entscheidenden Antwort zu suchen. Diese beantwortet, indem sie wahr ist, unsere Frage und befähigt uns dazu, verantwortlich gegenüber all den anderen Antworten zu entscheiden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Die Frage nach Gott, so meine These, auf die das christliche Zeugnis ¢ und damit die beiden Behauptungen, die das Zeugnis konstituieren, die christologische wie die theologische ¢ eine Antwort gibt, ist eine spezielle Form der existentiellen Frage nach der Bedeutung, die die letzte Wirklichkeit für uns hat. Es handelt sich um die Form, die die existentielle Frage annimmt, nachdem einmal eine bestimmte Antwort gegeben wurde – nämlich die, die der von mir so genannte „radikale Monotheismus“ gibt, für den Gott die absolut letzte Wirklichkeit ist. Das bedeutet natürlich umgekehrt, dass die absolut letzte Wirklichkeit, mit der wir alle auf irgendeine Art zu tun haben, der Eine ist, den radikale Monotheisten „Gott“ nennen. Lassen Sie mich diesen Gedanken auch auf das Risiko hin, dass eine äußerst komplexe Geschichte zu sehr vereinfacht wird, auf folgende Weise ausdrücken: Der Begriff „Gott“ im Sinne des radikalen Monotheismus beinhaltet zwei Aspekte: Auf der einen Seite ist Gott die absolut letzte Wirklichkeit, der nicht nur wir, sondern auch alles andere, das in irgendeiner Weise möglich ist, in irgendeiner Weise Rechnung tragen muss; auf der anderen Seite ist Gott die Art von Wirklichkeit, die uns beachten kann und es auch tut, die innerlich wirklich mit uns verbunden ist, die von uns berührt wird und sogar von uns abhängig ist – der gegenüber wir, in irgendeiner Weise, von Bedeutung sind. Mit anderen Worten: Gott ist nicht nur die Wirklichkeit, die absolut letzte Wirklichkeit; Gott ist auch eine konkrete Wirklichkeit, genauer gesagt, eine individuelle Wirklichkeit, die man mehr oder weniger zutreffend in personalen Begriffen symbolisieren kann. Der radikale Monotheismus versteht Gott daher als das eine absolut letzte Individuum, dessen Wirkungsbereich in Bezug auf sich und andere absolut unbegrenzt ist. Gott kann auf alle Seienden, mögliche ebenso wie wirkliche, einwirken und auf sie antworten. Es ist nicht nur wahr, dass alle Seienden auf innerliche Weise wirklich mit Gott verbunden sind; es ist genauso wahr, dass Gott, auf den sie alle bezogen sind, auf innerliche Weise wirklich mit ihnen verbunden ist. Kurz: Für den radikalen Monotheismus ist es wahr, dass nicht nur oder primär alle Seienden auf Gott bezogen sind, sondern dass Gott seinerseits auf alle Seienden bezogen ist. Diese Überzeugung ist freilich in einem offenen Dialog, der die ganze Bandbreite an Wahrheitsansprüchen in unterschiedlichen menschlichen Situationen umfasst, immer wieder strittig. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Versteht man jedoch die absolut letzte Wirklichkeit erst einmal in dieser radikal monotheistischen Weise, dann nimmt die existentielle Frage nach ihr und ihrer Bedeutung für uns die spezielle Form der Frage nach Gott an, danach, was Gott für uns bedeutet und daher auch danach, was uns dazu ermächtigt, uns selbst und alles andere aus der Beziehung zu Gott zu verstehen.

2.2 Gott, der uns durch unseren Herrn Jesus Christus siegen lässt Bisher habe ich mich bemüht, meine Behauptung zu erläutern und zu begründen, dass ein gewisses Verständnis von Gott die grundlegendste Voraussetzung des christlichen Zeugnisses ist. Sie wird von beiden Behauptungen, die das Zeugnis ausdrücklich konstituieren, der christologischen und der theologischen, notwendig vorausgesetzt. Die Frage, auf die das Zeugnis eine Antwort gibt, ist, so habe ich argumentiert, nicht nur oder primär die Frage: „Wer ist Jesus?“, sondern auch und vor allem die Frage: „Wer ist Gott?“. Sie beinhaltet natürlich immer auch die Frage: „Was bedeutet Gott für uns?“ Wie sollen wir uns selbst in Hinblick auf die absolut letzte Wirklichkeit, die wir in Gedanken und Worten treffend als „Gott“ bezeichnen, verstehen und unser Leben führen? Die grundlegendste Voraussetzung dieser Frage ist, wie gesagt, ein gewisses Verständnis Gottes, als des Gottes, der die absolut letzte Wirklichkeit unserer eigenen Existenz ist, als dem Gott des radikalen Monotheismus, als des einen, universalen Individuums, dessen Wirkungsbereich sich auf alle Seienden erstreckt und der daher zugleich deren erster Ursprung und ihr letztes Ziel ist. Mit den Worten von Paulus gesprochen: „Von ihm stammt alles, und wir leben auf ihn hin“(1Kor 8,6; vgl. auch Röm 11,36: „Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung.“). Wäre die elementarste Annahme des radikalen Monotheismus nicht wahr, dann könnte die Frage nach Gott, auf die das christliche Zeugnis eine Antwort gibt, noch nicht einmal gestellt werden. Wenn aber ein derartiges Verständnis von Gott die grundlegendste Voraussetzung des christlichen Zeugnisses ist, dann ist es auch dessen wichtigste Implikation. Es kommt in den beiden Behauptungen, die das Zeugnis konstituieren, explizit oder implizit zum Ausdruck. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Wenn Jesus tatsächlich der Christus ist, dann wird das, was Christus ist, entscheidend durch Jesus re-präsentiert. Das kann wiederum nur bedeuten, dass das, wodurch Gott Gott selbst ist, entscheidend durch Jesus re-präsentiert wird. Gott wird re-präsentiert, wieder präsentiert, ein zweites Mal, ausdrücklich präsentiert, nachdem Gott immer schon einmal präsentiert wurde, das erste Mal implizit in und mit der Existenz jedes einzelnen Menschen sobald und solange sie oder er Menschen sind. Wenn wir daher im Prolog des Johannesevangeliums lesen: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“(Joh 1,18), dann wird nicht nur behauptet, das Jesus der einzige Sohn Gottes ist, sondern zugleich der einzig wahre Gott seinerseits der Vater von Jesus ist. Meine Aufgabe wird es folglich in diesem und in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels über Gott sein, zumindest die Umrisse des Gottesverständnisses zu skizzieren, das im christlichen Zeugnis notwendig enthalten ist und dem die größte Bedeutung zukommt. Diese verdankt es der Tatsache, dass es von beiden für das Zeugnis konstitutiven Behauptungen ausgedrückt oder in ihnen impliziert ist und allein dazu dient, die Frage zu beantworten, die für uns als Menschen die wichtigste ist. Es handelt sich um die existentielle Frage nach dem Sinn, den die letzte Wirklichkeit für uns hat. Sobald wir über die letzte Wirklichkeit in den Begriffen des radikalen Monotheismus denken und sprechen, den das christliche Zeugnis mit innerer Notwendigkeit voraussetzt, dreht es sich um die Frage nach der Bedeutung Gottes für uns. Ich werde im letzten Teil dieses zweiten Abschnitts versuchen, diese Frage zu lösen, indem ich in den Worten von Paulus über Gott spreche als den, „der uns durch unseren Herrn Jesus Christus siegen lässt“. In Abschnitt 2.3 werde ich sodann kurz darauf eingehen, warum und in welcher Bedeutung, wenn es denn eine gibt, dieser Gott als der dreieinige Gott bezeichnet werden kann und sollte: als der Vater, Sohn und Heilige Geist der christlichen Tradition. Wenn die christliche Antwort auf die Frage, wer Gott wirklich ist, in der Antwort auf die Frage enthalten ist, wer Jesus wirklich ist – und dies, wie ich argumentiert habe, der Sinn der christologischen Behauptung ist – dann hängt offensichtlich die Beantwortung der Frage nach Gott in christlicher Sicht davon ab zu bestimmen, wer Jesus wirklich ist. Wer also ist Jesus, den wir den Christus nennen, und wer ist dementsprechend der Gott, der uns durch ihn den Sieg verlieh? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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An diesem entscheidenden Punkt meiner Argumentation muss ich die Gültigkeit einer Antwort auf die Frage, wer Jesus ist, annehmen. Erst im Lauf der weiteren Ausführungen zu Jesus Christus werde ich die Gründe für diese Annahme darlegen können. Gestatten Sie mir jedoch, obwohl die weitere Diskussion noch in der Schwebe bleiben muss, zwei grundlegende Bemerkungen: Die eine bezieht sich darauf, wer Jesus in formaler Hinsicht ist, die andere darauf, wer Jesus in materialer Hinsicht ist. Ist meine Antwort auf die Frage des formal-normativen christlichen Zeugnisses richtig, wie ich sie in den Bemerkungen in Kapitel 1 über Theologie kurz erörtert habe, dann kann Jesus in formaler Hinsicht nur der sein, den das Zeugnis der Apostel darstellt, das allein für das gesamte christliche Zeugnis und die Theologie formal-normativ ist. Dieser Standpunkt entspricht freilich dem des apostolischen Prinzips, wonach Jesus und die Apostel voneinander abhängig sind und durch Begriffe, die aufeinander bezogen sind, bestimmt werden müssen. Wer Jesus ist, definiert, wer die Apostel waren, und umgekehrt, wer die Apostel waren, bestimmt, wer Jesus ist. Die Apostel sind die ursprünglichen, schöpferischen und damit konstitutiven christlichen Zeugen, deren Zeugnis aus ihrer unmittelbaren Erfahrung von Jesus selbst erwächst und das nur durch ihn seine Autorität erhält. Jesus seinerseits ist der eine, den die Apostel bezeugen und den alle anderen Christen ausschließlich vermittelt durch das Zeugnis der Apostel erfahren. Doch der erste Aspekt, wonach Jesus formal der Eine ist, den die Apostel bezeugen, enthält noch nicht die Antwort auf die Frage, wer Jesus in materialer Hinsicht ist, was also seine Identität ausmacht. Es bleibt somit die Frage: „Wer ist der Jesus, den die Apostel als den Christus bezeugen?“ Obwohl ich auch den zweiten Gesichtspunkt, den es zu thematisieren gilt, an dieser Stelle nicht vertiefen kann, kann ich ihn vielleicht am besten dadurch darstellen, dass ich meine Leser an die Antwort erinnere, die Charles Wesley auf diese Frage in einer Zeile seines bekannten Hymnus „Love Divine, All Loves Excelling“ gibt: „Jesus, du bist allumfassendes Mitgefühl, reine, grenzenlose Liebe bist Du.“ Wenn ich richtig liege, dann fasst diese Antwort prägnant zusammen, wer Jesus ist, wenn er in materialer Hinsicht im Zeugnis der Apostel dargestellt wird. Wie ich in meinen späteren Überlegungen zur Christologie weiter ausführen werde, wird Jesus in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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den frühesten uns nun zugänglichen christlichen Zeugnissen als derjenige dargestellt, der auf verschiedene Weise – durch das, was er sagte, tat und litt – die Zeugen ausdrücklich und entscheidend mit der Gabe und dem Anspruch von Gottes Liebe konfrontierte. Dadurch befähigte er sie, in gehorsamem Glauben zu leben. Dieser Glaube, wie ihn meiner Meinung nach die Zeugen selbst verstanden haben, beinhaltet ein rückhaltloses Vertrauen in die Liebe Gottes für sie und alle anderen sowie eine bedingungslose Treue gegenüber der Sache der Gottesliebe. Indem sie Gott und den Nächsten wie sich selbst lieben, legen sie von Jesus und von Gott, der ihn gesandt hat, Zeugnis ab, so dass wiederum andere auf ebendiese Weise leben können. Ich möchte den Leser darum bitten, die Frage, ob ich mit diesem Verständnis der materialen Bedeutung Jesu richtig liege, zu verschieben, bis ich die Christologie erörtert habe. Bis dahin sollte einfach davon ausgegangen werden, dass die frühesten Zeugen Jesus in dieser Weise gesehen haben, um mit mir darüber nachzudenken, was diese Annahme für das christliche Verständnis Gottes beinhaltet. Sie impliziert, einfach formuliert, dass Gott ¢ und damit die absolut letzte Wirklichkeit, die wir, insofern wir radikale Monotheisten sind, als Gott denken – in diesem Sinne verstanden allumfassendes Mitgefühl, reine, unbegrenzte Liebe ist, deren Gabe und Anspruch ausdrücklich und entscheidend durch Jesus re-präsentiert werden. Wie aber lässt sich dieser Gedanke verstehen? Der erste Schritt zu einer Antwort besteht darin, über den Sprachgebrauch nachzudenken, der damit einhergeht, dass die absolut letzte Wirklichkeit, die als „Gott“ bezeichnet wird, Liebe ist. „Liebe“ ist auf jeden Fall ein Begriff, dessen gewöhnlicher Gebrauch sich auf den Bereich unserer persönlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen erstreckt. In ihnen erfahren wir uns selbst als Subjekte und Objekte der Liebe, als die, die andere lieben und als die, die von ihnen geliebt werden. Dabei mag es sich um andere Personen oder um andere Kreaturen handeln, die ebenfalls in irgendeiner Form fähig sind, Liebe zu geben und zu empfangen. Wenden wir jedoch diesen Begriff auf Gott und damit auf die absolut letzte Wirklichkeit an, ohne die es überhaupt nichts geben würde noch könnte, dann können wir ihn offensichtlich nicht mehr im gewohnten Sinn gebrauchen. Denn Gott kann nicht im selben Sinn wie ein Mitmensch einfach eine weitere liebenswerte Person sein. Derselbe Einwand gilt natürlich für den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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größten Teil unserer Rede von Gott, die ebenfalls nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen ist. Je mehr die Art zu sprechen aus einer ursprünglich religiösen Erfahrung und einem genuin religiösen Verständnis entspringt und sich damit von der sekundären theologischen und philosophischen Reflexion über die Erfahrung unterscheidet, desto mehr hat die Sprache nur eine symbolische und keine buchstäbliche Bedeutung. Und doch kann nicht unsere gesamte Sprache über Gott symbolisch sein, aus Furcht, dass keine symbolisch sein könnte. Wären nicht wenigstens einige Aussagen über Gott im buchstäblichen und nicht nur im symbolischen Sinn gemeint, könnten wir nie wissen, ob das, was wir als Vermutung auf symbolische Weise über Gott sagen, etwas ist, das wirklich über Gott gesagt wird und sich damit vom bloßen Gefühlsausdruck, subjektiven Entscheidungen oder dem Missbrauch der Sprache unterscheidet, deren eigentliche Verwendung nicht nur nicht darin besteht, über Gott zu sprechen, sondern damit sogar unverträglich ist. Wenn also zu lieben im eigentlichen Wortsinn bedeutet, jemand anders oder etwas anderes als sich selbst als Liebenden zu lieben und mit diesem Anderen wirklich innerlich verbunden zu sein, so dass der Andere einem etwas bedeutet, dann beinhaltet sogar die symbolische Rede von Gott als Liebe, dass diese nicht nur im symbolischen, sondern auch im buchstäblichen Sinn wahr sein muss. Das gilt in dem doppelten Sinn, dass es etwas oder jemand anders als Gott selbst als Liebenden gibt, das oder der das Objekt von Gottes Liebe ist und dass Gott innerlich wirklich mit diesem anderen verbunden ist, der dadurch Gott wirklich etwas bedeutet. Wenn also die absolut letzte Wirklichkeit nicht im buchstäblichen Sinne ein Individuum, sondern auch universal ist, oder wenn es nicht im buchstäblichen Sinne jemanden oder etwas anderes als das universale Individuum als Liebenden gibt, oder wenn das universale Individuum nicht buchstäblich wirklich und auf innerliche Weise mit diesem anderen verbunden ist, so dass dieser ihm wirklich etwas bedeutet, dann kann die Aussage, dass „Gott Liebe ist“ noch nicht einmal im symbolischen Sinne wahr sein. Aber was genau beinhaltet die symbolische Aussage, dass Gott Liebe ist – und damit „all-umfassendes Mitgefühl“, „reine, unbegrenzte Liebe“ im buchstäblichen Sinn? Wenn Gott Mitgefühl oder Liebe ist, muss Gott ein konkretes Individuum sein, das nicht nur auf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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anderes einwirkt, sondern auf das seinerseits eingewirkt wird, so dass es mit anderen interagiert („Mitgefühl“ an sich beinhaltet im buchstäblichen Sinn ein „Mitleiden“). Auf der anderen Seite muss Gott, indem Gott allumfassendes Mitgefühl oder reine, grenzenlose Liebe ist, das eine und einzige universale Individuum sein, dessen Wirkungsbereich vollkommen unbeschränkt ist. Nichts von all dem, was möglich ist, könnte sich folglich außerhalb oder neben Gottes Liebe befinden oder befindet sich dort, weil Gott im eigenen Wesen Liebe ist. Dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich unvermeidlich aus der Zusammenfassung des Gesetzes durch Jesus in zwei Geboten: dass wir Gott unseren Herrn mit ganzer Seele lieben sollen; und dass wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst. Wenn es Gott ist, den wir mit all unserer Kraft lieben, dann muss Gott ein wohlunterschiedenes Individuum sein, auch wenn Gott gleichzeitig untrennbar von allen Anderen ist, deren Interessen wir berücksichtigen und zu verwirklichen trachten können. Wenn wir den einen individuellen Gott mit all unserer Kraft lieben, sogar während wir unsere Nächsten wie uns selbst annehmen und so handeln, dass wir auch ihre Interessen allesamt verwirklichen, dann muss Gott ebenfalls universal sein und alles einschließen. Es kann daher keine Interessen weder von uns noch von irgendeinem unserer Nächsten geben, die nicht in irgendeiner Weise in die Interessen Gottes einbezogen sind. Wenn freilich Gott, um voller Mitgefühl und reine, unbegrenzte Liebe zu sein, ein universales Individuum sein muss, dann muss die Struktur Gottes Seins in sich selbst dipolar und nicht monopolar sein. Es kann nicht nur den relativ eher aktiven Pol von Gottes Wirken geben, durch den Gott auf alle anderen einwirkt; es muss auch den relativ eher passiven Pol geben, durch den alle anderen auf Gott einwirken, so dass Gott mitleiden kann. Die absolute Einzigkeit Gottes – mithin Gottes Transzendenz – kann, wie Charles Hartshorne richtig argumentiert, relativ zu allen anderen nur eine „duale Transzendenz“ sein. Gott ist in jeder Hinsicht einzigartig und damit in gewissem Sinn unvergleichlich. Und Gott muss es auch sein, weil Gott, nach der berühmten Formulierung von Anselm von Canterbury, per definitionem der Eine ist, „worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“. Wenn aber die Struktur von Gottes Sein in sich selbst dipolar ist, dann ist Gott nicht nur in einer, sondern in zwei Hinsichten un© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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überbietbar und deshalb einzigartig und unvergleichlich. Gott ist nicht nur in unübertreffbarer Weise aktiv, weil Gott auf alle anderen einwirkt; Gott ist auch in unüberbietbarer Weise passiv, weil alle

anderen auf Gott einwirken und Gott daher mit allen anderen mitleidet. Nebenbei bemerkt entspricht diese notwendige Dipolarität in der wesenhaften Struktur von Gottes Sein in sich selbst der wesenhaften Dualität oder Dipolarität des christlichen Glaubens an Gott: Er umfasst den relativ eher passiven Pol des vorbehaltlosen Vertrauens in Gott oder der Zuversicht ebenso wie den relativ eher aktiven Pol der bedingungslosen Loyalität oder Treue zu Gott und Gottes Sache. Wenn, und nur wenn Gott in unüberbietbarer Weise aktiv ist, indem Gott alles Erdenkliche tut, um die Bedingungen, unter denen alle handeln und die Handlungen anderer erleiden, zu optimieren, ist es sinnvoll, die Menschen zu vorbehaltloser Zuversicht und vorbehaltlosem Vertrauen aufzufordern. In ähnlicher Weise ist es sinnvoll, Menschen zu einer bedingungslosen Loyalität oder Treue gegenüber Gott aufzurufen – wie es das erste, große Gebot tut – wenn, und nur wenn Gott in unüberbietbarer Weise passiv ist, indem Gott alles erdenkliche Leiden erträgt, um den Handlungen und Leiden aller eine immerwährende Bedeutung zu verleihen. In diesem Gedanken, so möchte ich betonen, ist nicht nur meine Glaubenslehre enthalten, sondern auch meine Lehre von Gott als Schöpfer und Vollender aller Dinge, und daher als Befreier und Retter der Welt und Erlöser aller Menschen – letztlich aller vernunftbegabter Lebewesen, die dadurch moralisch frei sind – insoweit sie die Gabe und die Herausforderung von Gottes Erlösung durch den Glauben annehmen. Zu diesen Lehren werde ich jedoch in der folgenden Diskussion noch mehr zu sagen haben. Folgende Schlussfolgerung ergibt sich aus der Argumentation in diesem Abschnitt: Wenn Jesus tatsächlich der ist, als den die Christen ihn bezeugen – nämlich allumfassendes Mitgefühl und reine, grenzenlose Liebe – dann kann die absolut letzte Wirklichkeit, die die radikalen Monotheisten „Gott“ nennen, treffend nur als das eine absolut universale Individuum verstanden werden, dessen Sein in sich selbst, in seiner wesenhaften Struktur, dipolar ist. Es erscheint zugleich als Gegenstand vorbehaltlosen Vertrauens und bedingungsloser Treue, die für den christlichen Glauben bestimmend sind. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Diese genuin dipolare Art und Weise, Gott zu begreifen, entspricht allerdings nicht der Sicht der christlichen Tradition. In den stärker mythologischen Formulierungen der Tradition erscheint Gott zwar auch als ein konkretes Individuum, allerdings nur um den Preis, dass Gott nicht vollständig universal zu sein scheint. Auf der anderen Seite kommt in den mehr metaphysischen Formulierungen der Tradition die Universalität Gottes zwar tatsächlich zum Ausdruck, allerdings um den Preis, dass Gott zu einer bloßen Abstraktion wird und Gottes einzigartige Individualität entschwindet. Kurz: Es gibt, wie Hartshorne gerne sagt, nicht nur eine Form, sondern „zwei Formen von Götzendienst“: nicht nur den konkreten Götzendienst der herkömmlichen Mythologie, sondern auch den abstrakten Götzendienst der traditionellen Metaphysik.2 Ich möchte noch einmal kurz auf die Überlegungen zur Sprache zurückkommen. Wenn Gott, wie ich argumentiert habe, im buchstäblichen Sinn als ein Individuum gedacht und bezeichnet werden kann, dann habe ich nicht gesagt und wollte damit nicht sagen, dass Gott im buchstäblichen Sinn als Person gedacht und bezeichnet werden soll. Warum nicht? Jede Rede von Gott als Person kann, so denke ich, bestenfalls symbolisch und nicht buchstäblich gemeint sein. Wie die symbolische Rede von Gott im Allgemeinen ist ihr Zweck weniger intellektuell oder metaphysisch, sondern vielmehr existentiell. Sie dient weniger dazu, die Struktur Gottes in sich selbst zu beschreiben, als die Bedeutung Gottes für uns auszudrücken. Wenn also eine derartige Redeweise dem existentiellen Zweck dient, uns in unserem Leben zu einem gehorsamen Glauben anzuhalten, ist das völlig in Ordnung. Falls sie das nicht leistet, kann und sollte sie zugunsten geeigneterer Symbole aufgegeben werden. Wenn es jedoch wahr ist, dass man Gott nur symbolisch als Person denken und bezeichnen kann, dann ist es a fortiori auch wahr, Gott als männliche Person zu denken und zu bezeichnen und Gott mit Hilfe aller anderen noch genderspezifischeren Termini wie „Vater“ oder „König“ zu beschreiben.

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Vgl. Hartshorne, „Two Forms of Idolatry“. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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2.3 Der dreieinige Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist Im vorangehenden Abschnitt habe ich versucht zu erklären, in welchem Sinn ein gewisses Verständnis von Gott nicht nur die grundlegendste Voraussetzung des christlichen Zeugnisses von Jesus als Christus ist, sondern auch seine wichtigste Implikation. Aber für viele Menschen sowohl innerhalb wie außerhalb der christlichen Tradition bedeutet die Rede über das Gottesverständnis des christlichen Zeugnisses vor allem eine über den dreieinigen Gott, mithin über Gott als Trinität. Ist es also nicht geradezu notwendig über die Trinität zu sprechen, wenn man in christlicher Weise über Gott sprechen will? Die offensichtliche Antwort lautet: Es ist in der Tat notwendig, darüber zu reden, weil so viele, die uns in der christlichen Tradition vorangegangen sind, sehr viel über die Trinität gesprochen und sogar erklärt haben, dass dies für alle, die Christen sein wollen, unabdingbar sei. Aber meine Frage zielt darauf, hinter diese nur auf den ersten Blick offensichtliche Antwort zu schauen und zu ergründen, ob unsere Vorgänger mit ihrer Auffassung Recht oder Unrecht hatten. Meines Erachtens kann diese Frage mit Gewissheit nur beantwortet werden, wenn oder insofern die spezifisch christliche Erfahrung, aus der das normative christliche Zeugnis erwächst, die Rede über Gott als dreieinigen rechtfertigt oder fordert. Eine unmittelbar mit dieser Antwort verbundene Schwierigkeit besteht natürlich darin, dass das, was unsere Erfahrung rechtfertigt oder fordert, in gewissem Grad immer von den besonderen Begriffen und der Terminologie abhängt, auf die wir angewiesen sind, um uns die Erfahrung überhaupt ausdrücklich bewusst machen zu können. Einige Philosophen haben überzeugend argumentiert, dass wir uns der Wirklichkeit immer nur im „Rahmen einer vorgegebenen Beschreibung“ (Nelson Goodman) nähern können. Aber unabhängig davon, ob diese Aussage uneingeschränkt wahr ist, kann man zweifellos nichts wirklich ohne ein gewisses Vorverständnis verstehen; und es ist keineswegs leicht zu bestimmen, welche Aspekte unseres Verständnisses sich aus unserer tatsächlichen Erfahrung ableiten und welche auf unserem Vorverständnis beruhen – auf all den Annahmen, die wir mitbringen oder mitbringen müssen, um etwas überhaupt zu verstehen. Aus diesem Grund ist die Berufung auf eine spezifisch christliche Erfahrung ebenso wie auf eine allgemeinere Erfahrung nie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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so eindeutig, wie wir gerne glauben. Das, was wir mit gutem Gewissen als eine Wirkung der Erfahrung ansehen, ist möglicherweise kaum mehr als die Folge des Denkens und Sprechens unserer Vorgänger, ¢ ohne die unsere Erfahrung nicht das sein könnte, wofür wir sie halten. Es gibt jedoch noch eine weitere, meines Erachtens viel aufschlussreichere Überlegung: Wenngleich einige unserer christlichen Vorfahren es für notwendig erachtet haben, über Gott als dreieinig zu sprechen, haben keineswegs alle in dieser Weise über Gott geredet, geschweige denn dies für unabdingbar gehalten. Das gilt offensichtlich nicht nur für alle Autoren des Neuen Testaments; von keinem von ihnen kann ohne Anachronismus behauptet werden, dass er ein trinitarisches Gottesverständnis hatte. Wenngleich vielleicht etwas weniger offenkundig gilt das auch für die frühen Kirchenväter. Nach dem Patristiker Maurice Wiles kann man sagen: „Das Denken der ersten Väter [d.h. vor Nicäa] über Gott war in seiner Art keineswegs ausnahmslos dreifaltig, so dass sie gezwungen gewesen wären, in trinitarischen Begriffen zu denken. Ihr Denken über Gott war mindestens ebenso binitarisch wie trinitarisch.“3 Es lässt sich zwar kaum behaupten, dass wir von Gott als dreieinig sprechen müssen, um alle Implikationen des christlichen Zeugnisses in Hinblick auf das Gottesverständnis darzulegen; trotzdem könnte es möglicherweise sehr gute Gründe geben, so dass man von Gott auf diese Weise sprechen darf. Bedenken wir daher das folgende Argument: Jeder Christ erfährt Gott durch Jesus, um sich Gottes als der transzendentalen, ursprünglichen Quelle bewusst zu werden, die ihre oder seine Existenz ermächtigt, in gehorsamem Glauben durch Liebe zu wirken und der Liebe sich als Gerechtigkeit zu inkarnieren. In diesem Fall hat die Ermächtigung eine zweifache Bedeutung: Sie verleiht das Recht bzw. berechtigt jemanden dazu, im Glauben zu existieren und sie verleiht die Kraft bzw. befähigt jemanden dazu, auf diese Weise zu existieren. Wenn das der Fall ist, dann enthüllt sich Gott jedem Christen zumindest implizit in seiner oder ihrer Erfahrung als dreieiniger Gott. Mit anderen Worten: Christen erfahren Gott zugleich als die ursprüngliche Quelle, die sie zu einer Existenz im Glauben und in der Liebe ermächtigt (Gott als Vater); als das Wort, 3

Wiles, Working Papers in Doctrine, 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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das ihnen das Recht oder die Berechtigung zu einer solchen Existenz verleiht (Gott als Sohn); und als den Geist, der die Kraft oder die Befähigung verleiht, auf diese Weise zu existieren (Gott als Heiliger Geist). Es ist allerdings wichtig zu beachten, dass ich konditional formuliere: Meines Erachtens könnte man einen Grund haben, über Gott als dreieinigen zu denken und zu sprechen, insofern als man die Ermächtigung Gottes, im Glauben zu existieren, treffend durch die Unterscheidung der beiden Momente von Berechtigung und Befähigung analysieren könnte. Meiner Meinung nach ist diese Bedingung tatsächlich erfüllt. Doch Berechtigung und Befähigung sind auf jeden Fall sehr eng miteinander verknüpft. Deshalb wäre der Schluss, dass Gott als die ursprünglich ermächtigende Quelle einer gläubigen und liebenden Existenz weniger trinitarisch als vielmehr binitarisch verstanden werden kann, nicht unbegründet. Ich selbst bin aufgrund dieser Schlussfolgerung nicht sonderlich beunruhigt, da ich kein Interesse daran habe aufzuzeigen, dass wir Gott, wenn wir Gott christlich verstehen wollen, dreieinig denken müssen; aber wir dürfen Gott meiner Meinung nach auf diese Weise denken. Deshalb habe ich mich bemüht einen Weg zu beschreiben, der dies ermöglichen würde. Eine eng damit verbundene Überlegung eröffnet noch einen anderen Weg: Man könnte mit guten Gründen argumentieren, dass die erste Quelle, die zu einer gläubigen Existenz ermächtigt, bei genauem Hinsehen sowohl einen noetischen wie einen ontischen Aspekt haben muss. Der ontische Aspekt der Quelle ist Gott selbst, in der Bedeutung, die Gott, insofern Gott entscheidend durch Jesus re-präsentiert wird, für uns hat; der noetische Aspekt aber ist unsere eigene Erfahrung von Gott als entscheidend re-präsentiert. Unsere Existenz im Glauben ist – für uns ¢ noch nicht autorisiert, soweit und bis wir tatsächlich Gottes Liebe durch Jesus erfahren und uns selbst als zu einer gläubigen Existenz berechtigt und befähigt erkennen. Die Frage ist jedoch, wie wir eine derartige Erfahrung machen können; und die Antwort lautet, dass der Glaube selbst fordert, dass allein Gott selbst sie ermöglicht. Impossible est sine Deo – discere Deo – es ist unmöglich, Gott zu erkennen ohne Gott. Gott selbst muss daher nicht nur auf der ontischen Seite der ursprünglichen Quelle der Ermächtigung das Objekt unserer Erfahrung sein; Gott muss auch auf der noetischen Seite deren Subjekt sein. Ohne Gottes ermächtigende Gegenwart würden noch könnten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wir Subjekte dieser Erfahrung sein. Natürlich kann man hier dieselbe Art der Frage stellen, die wir bei der Unterscheidung zwischen den Momenten der Berechtigung und der Befähigung im Begriff der Ermächtigung zugelassen haben: Bis zu welchem Ausmaß ist die Unterscheidung zwischen der ontischen und der noetischen Seite der ursprünglich ermächtigenden Quelle der christlichen Existenz ausreichend klar und scharf, um die Unterscheidung von Gott als Vater und als Sohn auf der ontischen Seite und als Heiligem Geist auf der noetischen Seite der göttlichen Ermächtigung zu rechtfertigen, ohne die sie für uns weder eine noetische Seite haben würde noch könnte? Trotzdem handelt es sich in etwa um die Perspektive, unter der ich bereit wäre, die sogenannte ökonomische Trinität oder die „Trinität der Offenbarung“, also die Trinität, die sich aufgrund der Reflexion auf die grundlegende Erfahrung jedes Christen ergibt, der zum Glauben findet, neu zu formulieren. Ich würde gerne zugestehen, dass keine der Unterscheidungen, auf die ich mich gestützt habe – die zwischen Berechtigung und Befähigung und die zwischen der ontischen und der noetischen Seite der ursprünglich ermächtigenden Quelle – so klar und scharf sind, dass sie eine wirkliche, mithin mehr als bloß verbale oder begriffliche, Unterscheidung zwischen dem Sohn Gottes und Gott als Heiligem Geist ergeben. Auf jeden Fall bleibt die Frage nach der sogenannten immanenten oder essentiellen Trinität oder nach der, wie sie manchmal auch genannt wird, „ontologischen Trinität“ bestehen. Damit ist die Trinität gemeint, die christliche Theologen herkömmlicherweise in Gott selbst, in Gottes eigenen Wesen, angenommen haben. Sie unterscheidet sich von der Trinität der Offenbarung, die sich ergibt insofern sich Gott uns offenbart. Darf man auch in diesem Sinn Gott als dreieinigen bezeichnen? Obwohl ich auch hier jeden Anspruch, dass man es tun muss, zurückweisen würde, bin ich überzeugt, dass man es tun darf. Alles, was man in christlicher Hinsicht von Gottes Wesen sagen muss, ergibt sich aus dem, was sich zwangsläufig aus der an uns gerichteten Offenbarung Gottes durch Jesus entscheidend ergibt. Wenn ich Recht habe, dann liegt das legitime Motiv noch für die spekulativsten Lehren über die immanente Trinität genau hier. Als Christen sind wir überzeugt, dass der Gott, an den wir glauben, niemand anders oder weniger als Gott selbst ist. Wenn sich uns daher Gott als dreieiniger © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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offenbart, und wenn diese Offenbarung, wie wir glauben, die Offenbarung von Gottes eigenem Wesen ist und keine bloße Erscheinung von Gott oder von etwas, das Gott nur akzidentell zugehört, dann ist Gott und muss Gott in sich selbst ebenso wie in Gottes Selbstoffenbarung dreieinig sein. Mutatis mutandis könnte man sagen: Wenn wir Gott auf der Grundlage unserer christlichen Erfahrung Gottes durch Jesus als dreieinig denken und bezeichnen dürfen, dann dürfen wir Gott auch in sich selbst als dreieinig denken und bezeichnen. Aber auf welche Weise kann man Gott als dreieinigen denken und von Gott sprechen, wenn man Gott als die ursprüngliche Quelle der Ermächtigung, der Berechtigung und der Befähigung zu einer gläubigen Existenz, die durch Liebe wirkt, versteht? Wenn Gott, wie ich behaupte, das eine absolut universale Individuum ist, dessen Wesen, in symbolischen Begriffen gesprochen, „allumfassendes Mitgefühl, reine, unbegrenzte Liebe“ ist, dann kann man Gott zugleich als das universale Subjekt und das universale Objekt der Liebe bezeichnen. Gott liebt alle Seienden, Gott selbst ebenso wie alle anderen. Alle Seienden, insoweit sie überhaupt sind, existieren nur, weil oder insofern jede von ihnen auf ihre Weise Gott liebt, oder in irgendeiner Weise innerlich mit Gott verbunden ist und so an Gottes Liebe partizipiert. Dann aber hat das Wesen Gottes eindeutig eine dreifache Struktur, insofern als Gott (1) die primordiale Einheit des Liebens und des von allen Seienden Geliebtwerdens ist, von Gott selbst wie von allen anderen (Gottvater); und Gott deren primordialer Unterschied ist, d. h. (2) das eine integrale Objekt aller Liebe, von Gottes eigener Liebe wie von der Liebe aller anderen (der Gottessohn), und Gott (3) das eine, alles einschließende Subjekt der Liebe ist, von Gott selbst wie von allen anderen (Gott als Heiliger Geist). Meiner Meinung nach kann Gott in einer derartigen Weise als dreieinig bezeichnet werden und zwar nicht nur in Hinblick auf Gottes Offenbarung, sondern auch in Hinblick auf Gottes Wesen. Man könnte übrigens diesen Gedanken in den Begriffen der traditionelleren Trinitätslehre folgendermaßen ausdrücken: In dem einen Akt, in dem Gott alle Seienden liebt, Gott selbst wie alle anderen, „zeugt“ der Gottvater den Sohn als integrales Objekt Gottes Liebe, in und mit dem Gott alle anderen Seienden liebt; und durch den Gottessohn „haucht“ Gottvater den Heiligen Geist als das alles © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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einschließende Subjekt von Gottes Liebe, durch den Gott alle Seienden liebt. Meines Erachtens manifestiert sich dieser eine Akt der Liebe, durch den Gott in sich selbst (ad intra) und in Gottes Selbstoffenbarung dreieinig ist, nach außen (ad extra) als Gottes Schöpfung und Vollendung einer Welt von Kreaturen, die anders als und unterschieden von Gott selbst sind. Da nichts vollendet werden kann, was nicht zuvor geschaffen wurde, ist das nächste Thema, das logisch folgerichtig behandelt werden muss, nachdem die Gotteslehre bis zum gegenwärtigen Punkt entwickelt wurde, die Schöpfung.

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3. Über die Schöpfung

3.1 Die Bedeutung des Begriffs „Schöpfung“ In der Regel kann der Begriff „Schöpfung“ im christlichen Zeugnis und in der christlichen Theologie entweder eine oder auch zwei verschiedene, obgleich eng miteinander verbundene Bedeutungen annehmen. Er kann erstens den Akt oder die Aktivität Gottes ad extra bedeuten, ohne die nichts außer Gott sein könnte. Und er kann zweitens die Gesamtheit aller Seienden, die sich von Gott unterscheiden, beinhalten, die man gemeinhin auch als „die Welt“ bezeichnet, die das Selbst und alle anderen Seienden, die wirklich und möglich sind, umschließt. In Bezug auf die erste Bedeutung des Begriffs beinhaltet „Schöpfung“ den Akt oder die Aktivität Gottes. Deswegen wird Gott treffend als „der Schöpfer“ im Sinne der einzigen, ursprünglichen Quelle alles Seienden bezeichnet. Im Sinne der zweiten Bedeutung des Begriffs umfasst die „Schöpfung“ alle wirklichen und möglichen Geschöpfe, die Gott als deren einzige, ursprüngliche Quelle oder als ihr Schöpfer entweder geschaffen hat, gerade erschafft oder noch erschaffen wird. Vom Standpunkt des christlichen Zeugnisses und der christlichen Theologie aus gesehen ist zu sein gleichbedeutend damit entweder Gott selbst oder eine Gottes Kreaturen zu sein: entweder der Schöpfer, durch dessen eminente Kreativität alles entweder war, ist oder sein kann, oder ein Geschöpf dieses Schöpfers, ein Ergebnis der Schöpfung im ersten Sinne des Begriffs und ein Teil der Schöpfung in dessen zweitem Sinn. Bei der Entwicklung des christlichen Gottesverständnisses habe ich bewusst mit dem christlichen Zeugnis und vor allem mit der es konstituierenden christologischen Behauptung begonnen: mit der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Die Schöpfung und ihre Befreiung

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Behauptung, dass Jesus eine entscheidende Bedeutung für die menschliche Existenz hat, weil er die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung Gottes und damit der absolut letzten Wirklichkeit für uns ist. Indem ich sodann den Anspruch des radikalen Monotheismus vorausgesetzt habe, dass Gott die absolut letzte Wirklichkeit ist und dass umgekehrt diese ihrerseits Gott ist, habe ich versucht darzulegen, was die christologische Behauptung in Hinblick auf unser Gottesverständnis zwangsläufig beinhaltet, wenn man von der weiteren Annahme ausgeht, dass Jesus selbst Liebe ist. An dieses elementare Vorgehen, mit dessen Hilfe die sich daraus ergebenden Implikationen des christlichen Zeugnisses und seiner christologischen Behauptung von der entscheidenden Bedeutung Jesu aufgezeigt wurden, muss sich nun all das anschließen, was über alle anderen theologischen Themen, zu denen auch die Schöpfungslehre gehört, zu sagen ist. Was ergibt sich also für das Verständnis der Schöpfung im doppelten Wortsinn, wenn Jesus die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung ist, die Gott für uns hat?

3.2 Die Schöpfung und ihre Befreiung Ich möchte noch einmal an das erinnern, was ich über die christliche Gotteslehre gesagt habe: Um das Objekt eines uneingeschränkten Vertrauens und bedingungsloser Treue zu sein, wie sie für den christlichen Glauben bestimmend sind, muss Gott das eine universale Individuum sein, das die einzige, ursprüngliche Quelle und das einzige und letzte Ziel aller Seiender ist. Mit anderen Worten: Gott muss Schöpfer und Vollender und damit auch Befreier und Retter von allem sein, was existiert. Gott muss nicht nur allem Vergänglichen einen bleibenden Sinn verleihen und es damit von dem erlösen, was Paulus als „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ (Röm 8,21) bezeichnet; sondern Gott muss zunächst alle Seienden als Momente einer in sich geordneten Welt ermöglichen. Ich meine damit eine Welt mit Kreaturen, in der aufgrund des schöpferisch-befreienden Aktes durch Gott eine Ordnung gestiftet wird, in der die Möglichkeiten für die Eigenaktivität der Kreaturen am günstigsten sind: Die Wahrscheinlichkeit, dass aus ihr etwas Gutes entsteht ist größer als die, dass etwas Böses daraus folgt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über die Schöpfung

Dieser Gedanke würde vielleicht von vielen, wenn nicht gar den meisten christlichen Theologen heute ebenso wie in der Vergangenheit akzeptiert. Außerdem würden sie möglicherweise der Auffassung zustimmen, dass Gottes Aktivität ad extra, als Schöpfer und Vollender, und als Befreier und Retter aller Seiender vollkommen frei und grundlos ist. Im Akt der Weltschöpfung bewirkt Gott den Übergang von der völlig abstrakten, unbestimmten Möglichkeit irgendeiner Welt zu der konkreteren, bestimmten Möglichkeit – der wirklichen Möglichkeit ¢ dieser oder jener Welt. Dieser Prozess beinhaltet freilich, dass es sowohl in Gott selbst wie in der Welt Kontingenz geben muss: Wenn nämlich Gottes schöpferischer Akt wirklich frei und grundlos ist, dann hätte alles anders kommen können als es tatsächlich der Fall ist. Dasselbe gilt auch für die von Gott erschaffene Welt. Aber schon an dieser Stelle entstehen in der klassischen christlichen Theologie ernsthafte Schwierigkeiten. Klassische Theologen, die das bestreiten, was ich die wesenhafte Dipolarität Gottes genannt habe, leugnen in der Regel, dass es in Gott überhaupt irgendetwas Kontingentes gibt oder geben könnte. Daraus folgt unvermeidlich das wohlbekannte Paradoxon, dass ein gänzlich notwendiger Gott der vollständig freie und grundlose Schöpfer einer durch und durch kontingenten Welt ist. Außerdem sind klassische Theologen und viele, die ihnen nach wie vor folgen, gewöhnlich davon ausgegangen, dass Gott, wenn Gott die positive Freiheit hat diese oder jene mögliche Welt zu erschaffen, auch die negative Freiheit haben muss, überhaupt keine Welt zu erschaffen. Die mit dieser Annahme verbundenen Schwierigkeiten sind jedoch mindestens genauso groß, wenn nicht sogar noch größer. Denn was spricht dafür, dass es besser ist, dass Gott die Freiheit hat, etwas nicht zu tun als es zu tun? Da irgendeine Welt besser ist als überhaupt keine Welt, da das Nichtsein keinerlei Wert hat, wäre es entweder falsch oder töricht von Gott, wenn Gott nicht zumindest irgendeine Welt erschaffen würde, wenn Gott dazu die Macht hat. Doch die Annahme, dass Gott jemals entweder falsch oder töricht handeln würde, widerspricht vollständig der Logik, nach der Gott als unüberbietbar gedacht wird. Natürlich gehen einige herkömmliche Vorstellungen von Gott davon aus, dass jeder mögliche Wert schon in Gottes eigenem Sein wirklich ist, unabhängig davon, was sonst noch existiert oder auch nicht existiert oder ob überhaupt etwas existiert. Wenn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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jedoch die Auffassung, dass Gott in jedem Fall bereits alle möglichen Werte besitzt, bedeutet, dass es für Gott in keiner Weise besser ist, irgendeine Kreatur zu erschaffen als keine zu erschaffen, dann folgt daraus, dass die Kreaturen keinen letzten Wert haben. Ihre Existenz würde dem ewigen Wert Gottes nichts hinzufügen. Dann aber ist unser Leben als Kreatur letztlich genauso sinnlos wie jedes andere Geschöpf. Wenn jedoch irgendetwas kontraintuitiv ist, dann ist es dieser Gedanke, so dass ihn niemand mit guten Gründen für wahr halten kann: Schon der Akt, an ihn zu glauben, impliziert seine eigene Falschheit, weil bereits der Glaube an das, was wahr ist im Unterschied zu dem, was falsch ist, in sich nicht sinnlos, sondern sinnvoll ist. Zumindest einige Theologen kamen daher mit guten Gründen zu dem Schluss, dass, gerade weil es in Gott wie in der Welt als Schöpfung Kontingenz geben muss, es auch Notwendigkeit geben muss, – und zwar sowohl in Hinblick auf Gottes Akt als Schöpfer wie in Bezug auf die Welt als Manifestation von Gottes Akt, d. h. in Hinblick auf die Schöpfung im zweiten Sinn des Wortes. Mit anderen Worten: Obwohl Gottes Schöpfungsakt und jede Welt, die Gott erschafft, vollkommen frei und grundlos und damit gänzlich kontingent und nicht notwendig sind, erschafft Gott, der allwissend, allgütig und allmächtig ist, dennoch irgendeine Welt mit Kreaturen und Gott muss es tun. Deshalb ist es unvorstellbar, dass es überhaupt keine Welt mit Kreaturen geben könnte. Selbstverständlich ist der einzige Grund für dieses „Muss“ Gottes eigenes wesenhaftes Sein – als allumfassendes Mitgefühl und reine, grenzenlose Liebe, als universales Individuum, das zugleich unüberbietbar aktiv und unüberbietbar passiv ist, empfänglich für die Handlungen aller anderen und daher unüberbietbar wissend, gut und mächtig. An sich ist Gott daher gänzlich bedürfnislos. Gott fehlt es an nichts, was Gottes wesenhafte Natur, Gott zu sein, nicht bereitstellen könnte. Aus keinem erdenklichen Grund benötigt Gott irgendetwas außer Gottes eigenen wesenhaften Natur als allumfassender Liebe, die allwissend und allgütig und allmächtig ist. Von diesem Standpunkt aus ist es vollkommen verständlich, dass du und ich niemals existiert haben könnten, dass die Erde als unsere Heimat niemals existiert haben könnte, dass unser Sonnensystem und die Galaxis niemals existiert haben könnten, und dass sogar die gegenwärtige kosmische Epoche des Universums niemals existiert haben könnte. Denn nur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Gott allein existiert mit innerer Notwendigkeit und damit ohne jede erkennbare Alternative. Doch diese Theologen bestreiten, dass daraus folgt, dass Gott jemals vollkommen allein gewesen sein könnte, weil es nichts anderes außer Gott gegeben hat. Wenn Gott, so argumentieren sie, tatsächlich allumfassendes Mitgefühl, reine, unbegrenzte Liebe ist, dann ist es vernünftiger zu glauben, dass Gottes unüberbietbare schöpferische Macht immer die eine oder andere Welt erschaffen muss. Die Welt freilich, die Gott erschafft, ist vollständig kontingent und sie muss es sein. Sie kann nicht mit innerer Notwendigkeit existieren. Auch Gottes schöpferischer Akt, der völlig frei und grundlos ist, ist gleichermaßen kontingent. Nur Gott selbst muss existieren, doch weder ich selbst noch du selbst müssen existieren, ebenso wenig wie die Welt oder irgendetwas anderes. Das einzige, was, abgesehen von Gott, zwangsläufig existiert, ist irgendeine Welt mit Kreaturen. Doch keine dieser Kreaturen existiert mit innerer Notwendigkeit oder könnte es tun. Ihre Existenz ist ganz und gar kontingent. Ein zeitgenössischer Theologe, der eine ähnliche Position vertritt, ist John Macquarrie in seinen Principles of Christian Theology1. Ich selbst bin dann wohl ein anderer: Vor dem Hintergrund des christlichen Zeugnisses und der für es konstitutiven christologischen Behauptung, von deren notwendigen Implikationen die christliche Theologie mit ihrer kritischen Reflexion ausgehen muss, erscheint mir persönlich jede andere Position als inkonsistent. Die Schöpfung muss im doppelten Wortsinn in einer Hinsicht notwendig und in anderer Hinsicht kontingent sein, wenn man davon ausgeht, dass das „allumfassende Mitgefühl, die reine, unbegrenzte Liebe“, deren Gabe und Anspruch für uns entscheidend durch Jesus re-präsentiert werden, keine bloße Erscheinung sind oder etwas, das für Gott nur von akzidenteller Bedeutung ist, sondern Gottes ureigensten Wesen entsprechen und Gott damit grundsätzlich mit innerer Notwendigkeit zukommen. Geht man, wie ich es tue, davon aus, dass nur Gott mit innerer Notwendigkeit existiert, während alle anderen Individuen und Ereignisse bloß kontingent sind, dann muss Gottes Liebe für andere Wesen auch kontingent sein. Insofern müssen die Liebe Gottes für 1

Macquarrie, Principles of Christian Theology, 211 – 238. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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andere und Schöpfung und Vollendung als ihre beiden wesentlichen Aspekte ihrerseits kontingent sein. Wenn aber Gott andere nicht bloß akzidentell und nur sich selbst wesentlich liebt – was, so behaupte ich, die christologische Behauptung impliziert, wenn die materiale Bedeutung Jesu für uns Liebe ist – dann gibt es immer einige andere, die Gott lieben muss. Und da Gott immer der Schöpfer dieser anderen ebenso wie ihr Vollender ist, sind diese Aspekte von Gottes Liebe auch notwendig und nicht kontingent. In dieser Hinsicht ist die Existenz der Welt, von irgendeiner Welt, im Unterschied zu der des Selbst, zweifellos auch notwendig. Der Begriff „Welt“, verstanden als Verweis auf die zwangsläufig nicht leere Klasse aller Seiender, die sich von Gott unterscheiden und deren Mitglieder bloß kontingent existieren oder sich ereignen, ist strikt korrelativ zu dem Begriff „Gott“. Der Standardweg, bei dem die Prämisse dieses Arguments, dass Gott wesensmäßig Liebe zu anderen ist, akzeptiert wird, beruht darauf zu behaupten, dass Gott in Gottes Dreieinigkeit wesentlich Liebe zu Anderen ist, dass jedoch die einzigen „Anderen“, die notwendig sind, die drei Personen in der Einheit Gottes selbst sind. Auf diese Weise wird meine Schlussfolgerung, dass irgendeine Welt ebenso notwendig sein muss wie Gott, freilich verworfen. Meines Erachtens ist es jedoch wenig sinnvoll zu empfehlen, sich in irgendeiner Form darum zu bemühen, die klassische Doktrin, dass Gott alleine ohne eine Welt mit Kreaturen existieren könnte und es irgendwann auch getan hat, zu verteidigen. Denn entweder bewahrt die Liebe des dreieinigen Gottes die fundamentalen Grundannahmen des radikalen Monotheismus: In diesem Fall ist Gott einer und die Liebe Gottes zu sich ist weniger Liebe zu anderen als vielmehr reine Selbstliebe. Oder aber die Liebe Gottes zu sich in Gottes Dreieinigkeit ist wirkliche Liebe zu anderen und nicht bloß zu sich selbst; dann aber geht die wesentliche Wahrheit des radikalen Monotheismus verloren, indem eine Form des Monotheismus bejaht wird, der sich nur verbal von einem Tritheismus unterscheidet. Außerdem bleibt das Problem bestehen, dass es entweder besser ist, dass es irgendeine Welt gibt als überhaupt keine; in diesem Fall könnte Gott nur dadurch überhaupt keine Welt schaffen, indem Gott sich irrt, töricht ist oder in Gottes schöpferischen Kraft überbietbar werden kann. Oder aber unsere eigene Existenz und alle anderen Existenzformen wären letztlich sinnlos, was niemand von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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uns glaubt noch jemals glauben kann, wenn der Maßstab unseres Glaubens nicht das ist, was wir sagen, sondern was wir tun. Weil jedoch die Schöpfung im doppelten Wortsinn in einer Hinsicht notwendig und in anderer Hinsicht kontingent ist, kann die traditionelle Lehre „der Schöpfung aus dem Nichts durch Gott“ (creatio ex nihilo a Deo) nicht so verstanden werden, dass sie einen absoluten Anfang entweder von Gottes schöpferischer Aktivität oder von irgendeiner Welt mit Kreaturen impliziert. Beide sind die absolut letzte Wirklichkeit und daher ohne jeden Anfang. Stattdessen muss man die „Schöpfung aus dem Nichts durch Gott“ so verstehen, dass es einen Anfang für jede einzelne Welt oder Kreatur genauso wie für Gottes besonderen Schöpfungsakt, durch den Gott sie erschafft, gibt. Deshalb gab es einstmals im Fall jeder einzelnen Kreatur oder Welt, dass sie noch nicht da war, weil Gott sie noch nicht geschaffen hatte. Jede besondere Welt oder Kreatur partizipiert daher soweit wie möglich nicht nur am eminenten Sein Gottes (a Deo), sondern auch am absoluten Nichts des Überhaupt-Nicht-Seins (ex nihilo). Auch wenn sie irgendwann einmal entstehen, gab es Zeiten, in denen sie nicht existierten; und alles deutet darauf hin, dass sie irgendwann nicht mehr sein werden. Da jedoch jede Kreatur oder Welt nur durch die Teilhabe am eminenten Sein Gottes entstehen kann, sind sie Gott mehr oder weniger ähnlich und müssen es auch sein. Gott absolut unähnlich zu sein würde bedeuten, dem Sein selbst absolut unähnlich zu sein; das wiederum wäre dasselbe wie nichts zu sein, was in sich widersprüchlich wäre. Alles, was in irgendeiner Weise ist, ist nur aufgrund der Teilhabe an Gott mehr als bloß nichts und ähnelt dadurch Gott selbst. In einem bestimmten Sinn sind nicht nur Frau und Mann, sondern sind jede Kreatur und jede Art der Kreatur im Bilde Gottes geschaffen. Dennoch gibt es, wie wir noch sehen werden, eine ausgezeichnete Weise, in der man ausschließlich von Menschen sagen kann, dass sie im Bilde Gottes geschaffen sind. Alles, was ist, ist deshalb auch gut; weil es am Sein Gottes teilhat, partizipiert es auch an dessen Güte. Das Sein Gottes und Gottes Gutsein sind, wie die Scholastiker sagten, „austauschbar“, oder, wie wir lieber sagen, „koextensiv“. Alle Seienden sind wesentlich gut durch ihre Teilhabe an Gott. Auf der anderen Seite sind auch alle Seienden aufgrund von Gottes all-liebender Partizipation an ihnen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wesentlich heilig. Genau diese Partizipation Gottes im Sein der ganzen Schöpfung ist mit ihrer „Vollendung“ in Gott und ihrer „Rettung durch Gott“ gemeint. Es handelt sich um den anderen wesentlichen Aspekt ein- und derselben göttlichen Liebe, die wesentlich auch „Schöpfung“ und „Befreiung“ oder, in traditionellen Begriffen ausgedrückt, „Schöpfung“ und „Vorsehung“ ist. Nachdem ich diese traditionelle Unterscheidung eingeführt habe, möchte ich jedoch sofort betonen, dass sie in dem Moment aufhört klar, scharf und notwendig zu sein, in dem man den Begriff eines absoluten Anfangs der Schöpfung im doppelten Wortsinn verwirft: von Gottes schöpferischer Aktivität und irgendeiner von Gott geschaffenen Welt mit Kreaturen. Weil die Welt als solche keinen absoluten Anfang hat, obwohl jede Kreatur in der Welt ebenso beginnt wie der göttliche Schöpfungsakt, durch den jede Kreatur ins Sein gerufen wird, lässt sich die Schöpfung nicht eindeutig von der Vorsehung in dem dreifachen Sinn unterscheiden, den sie im traditionellen Denken hat: (1) die Erhaltung aller Kreaturen durch Gott, nachdem sie geschaffen wurden; (2) das Mitwirken Gottes mit diesen Kreaturen in ihren eigenen schöpferischen Akten; und (3) das Lenken des gesamten Prozesses kreatürlicher Aktivität durch Gott. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass vieles von dem, was in der traditionellen Diskussion über Vorsehung gesagt wurde, seinen Platz in einer adäquat entwickelten Schöpfungslehre finden kann und sollte. Außerdem gibt es zumindest eine Unterscheidung, die bei jedem kreatürlichen Individuum oder jedem Aggregat von Individuen, die eine gewisse Zeit überdauern, auf jeden Fall gemacht werden kann. Es gibt einen Unterschied zwischen irgendeinem Individuum oder Aggregat, das als genau dieses Individuum oder Aggregat entsteht und diesem, jenem oder einem anderen Zustand, in dem es sich zu irgendeinem Zeitpunkt „zwischen“ dem Anfang und dem Ende seiner Existenz befindet. So muss man zum Beispiel differenzieren zwischen der Art, in der dieses besondere menschliche Individuum, das ich bin und auf das mein Eigenname verweist, entsteht und der Entwicklung eines besonderen Zustandes oder bestimmter Bedingungen, in denen es sich befindet. Zu ihnen gehört etwa, dass ich gerade an meinem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer sitze und diese Sätze schreibe, anstatt dass ich mit den vielen anderen Dingen beschäftigt bin, die ich gewöhnlich tue. Dieser Gedanke lässt sich durch ein weiteres Beispiel © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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veranschaulichen: Es gibt einen einigermaßen ähnlichen Unterschied zwischen dem Entstehen des riesigen Aggregats von Individuen und Ereignissen, das wir als unser „Sonnensystem“ bezeichnen und dem Entstehen eines besonderen Zustandes oder bestimmter Bedingungen, in denen sich das Aggregat zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet, so etwa nach der Emergenz einer Anzahl von Wirbeltierarten, aber vor der Emergenz hominider Lebensformen. Diese Unterscheidung bietet, wenn man will, die Möglichkeit, zwischen Schöpfung und Vorsehung als Akten Gottes zu differenzieren: Sie sind notwendig, damit entweder durch die Schöpfung ein Individuum oder ein Aggregat überhaupt entsteht oder es sich aufgrund der Vorsehung in einem besonderen Zustand oder unter speziellen Bedingungen befindet. Nebenbei bemerkt kann man eine analoge und ähnlich klare Differenzierung zwischen Vollendung und Rettung als Akten Gottes vornehmen. Sie bezieht sich darauf, dass Gottes Sein das alleinige und letzte Ziel aller Dinge ebenso wie ihr alleiniger und erster Ursprung ist. Der Begriff „Vollendung“ bezieht sich genaugenommen auf Gottes Aktivität in Hinblick auf jedes Individuum oder Aggregat, die auf das Ende seiner Existenz als solcher folgt; der Begriff der „Rettung“ bezieht sich dagegen auf Gottes Aktivität in Bezug auf jedes Individuum oder Aggregat, die auf das Ende seiner Existenz in genau diesem oder jenem oder irgendeinem anderen tatsächlichen Zustand oder unter besonderen Bedingungen folgt. Für die darüber hinausgehende traditionelle Unterscheidung zwischen allgemeiner und besonderer Vorsehung kann ich jedoch keine sinnvolle Verwendung mehr erkennen. Meines Erachtens ist jede Vorsehung speziell, insofern Gott kontinuierlich als Antwort auf die Aktionen jeder Kreatur immer wieder aufs Neue agiert, um die optimalen Bedingungen für die Eigenaktivitäten der Geschöpfe im Zusammenspiel mit ihren Mitgeschöpfen zu erwirken. Einige Leser werden nun jedoch sicher fragen: Wenn das alles ist, was zur speziellen Vorsehung gehört, was hat es dann mit der „außergewöhnlichen Vorsehung“ oder sogenannten Wundern im Sinne spezieller göttlicher Interventionen auf sich, die über die gerade beschriebenen vorsehenden Handlungen hinausgehen? Meines Erachtens besteht das Problem der Wunder nicht darin, ob Gott sie jemals ausführen kann oder will. Wenn Gott, wovon ich überzeugt bin, grundsätzlich an © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Weisheit, Güte und Macht unüberbietbar ist, dann gehe ich davon aus, dass Gott zweifellos eingreifen könnte und würde, wenn dadurch die Prozesse im Kosmos besser geleitet würden. Aber meines Erachtens besitzt kein Mensch die Kompetenz zu beurteilen, ob diese Bedingung jemals erfüllt oder nicht erfüllt ist. Ich bin auch überzeugt, dass die Berichte über derartige Interventionen in der christlichen Tradition vernünftiger erklärt werden können, vor allem wenn man sie im Sinne des Autors des vierten Evangeliums als „Zeichen“ betrachtet. Ich halte jedoch, wie ich an anderer Stelle ausführlich erklärt habe, daran fest, dass man von Gottes schöpferischer Aktivität sowohl als befreiend wie als kreativ sprechen und sie in diesem Sinne als „Befreiung“ verstehen kann. Die andere Bedeutung von „Befreiung“ bringt Gottes „rettende“ Aktivität zum Ausdruck.2 Da Gottes schöpferische Aktivität lediglich die andere, wesentliche Seite Gottes unüberbietbaren Liebe ist, die auch vollendend wirkt, ist die schöpferische Macht, die Gott über alle anderen hat, allsegenbringend oder allgütig, genauso wie allgewaltig oder allmächtig. Es ist daher das einzige Ziel oder die einzige Absicht Gottes bei der Ausübung Gottes Macht, die bestmögliche Form der Selbsterschaffung aller Kreaturen zu gewährleisten. Sie sind allesamt Mitwirkende an Gottes eigener Selbsterschaffung und wirken in diesem Sinne zur Ehre Gottes. Gott übt somit unermüdlich Gottes Macht aus, um die Grenzen der eigenen freien Entscheidungen der Kreaturen zu optimieren. Würden die Grenzen ihrer Selbsterschaffung und der Erzeugung anderer in anderer Form gezogen, dann wäre die Möglichkeit zum Guten im Vergleich zu der zum Bösen nicht genauso vorteilhaft. Gott wirkt, indem Gott die fundamentalen Grenzen der kosmischen Ordnung, oder, wie wir normalerweise sagen, die „Naturgesetze“ bestimmt. Hätten die Kreaturen mehr oder weniger Freiheit als es diese Gesetze erlauben, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass aus ihren Handlungen Böses statt Gutes entsteht, größer als umgekehrt. Aus diesem Grund ist Gottes schöpferische Aktivität aufgrund ihrer ureigensten Natur befreiend. Indem sie die Freiheit der Kreaturen in bestmöglicher Weise begrenzt, gewährt sie ihnen den Freiraum, sich selbst und einander zu erschaffen. 2

Vgl. Ogden, Faith and Freedom, 68 – 79. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Unter den zahlreichen Aspekten, die dieser Gedanke beinhaltet, möchte ich nur folgenden erwähnen: Gottes schöpferische oder befreiende Aktivität „ergreift eindeutig Partei“, insofern Gott immer so wirkt, dass Gott die Möglichkeiten zum Guten maximiert und die Gefahren des Bösen minimiert. Obwohl also die Liebe Gottes für andere und damit deren Annahme grenzenlos ist, beinhaltet diese Annahme in keiner Weise, dass Gott allem zustimmt. Tatsächlich ist Gottes Zustimmung zu allem Möglichen streng an die unüberbietbare Güte des Zieles Gottes gebunden: dass sich nämlich jede einzelne Kreatur und alle Kreaturen gemeinsam der bestmöglichen Selbsterschaffung als Beitrag zur Ehre Gottes erfreuen sollten.

3.3 Die Frage nach dem Bösen Was aber hat es mit der Wirklichkeit des Bösen auf sich? Entscheidend für jede theologische Erörterung dieser Frage ist die Differenzierung zwischen dem „metaphysischen Bösen“ und dem „faktischen Bösen“, wie sie manchmal gemacht wurde. Dazu kommt eine weitere Differenzierung zwischen den zwei Haupttypen des Letzteren: dem „natürlichen Bösen“ (malum physicum) und dem „moralischen Bösen“ (malum morale). Mit dem „metaphysischen Bösen“ ist die Form des Bösen gemeint, das meines Erachtens als das sogenannte Böse zu jeder kreatürlichen Existenz als solcher gehört. Es ist der Preis, der, wenn man so will, dafür bezahlt werden muss, dass es überhaupt eine kreatürliche, und das heißt eine kontingente Existenz gibt. Mit dem „natürlichen Bösen“ auf der einen und dem „moralischen Bösen“ auf der anderen Seite sind die beiden Typen des Bösen gemeint, die sich aus faktischen Entscheidungen ergeben, egal ob diese kreatürlich, göttlich oder beides sind, und die über die rein metaphysische Wirklichkeit der kreatürlichen Existenz hinausgehen. Das moralisch Böse unterscheidet sich vom natürlichen Bösen, da es sich aus wirklichen Entscheidungen ergibt, die die moralische Freiheit beinhalten, also jene besondere Art der Freiheit, die sich auf einem hohen Niveau befindet und über die, soweit wir bisher wissen, unter allen Erdenbewohnern nur Menschen verfügen. Aufgrund der unüberbietbaren Güte Gottes beruhen die beiden Formen des faktischen Bösen, sofern es die Wirklichkeit des Bösen betrifft, nicht auf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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göttlichen, sondern vollständig auf kreatürlichen Entscheidungen. Gleichwohl ist die faktische Möglichkeit zum Bösen ebenso wie die faktische Möglichkeit zum Guten durchaus und sogar primär eine Folge göttlicher Entscheidungen. Das faktische Böse beinhaltet den relativen Verlust des konkreten Guten, der sich aus zwei entgegengesetzten Gründen ereignen kann: Entweder weil sich ein Konflikt zwischen Gütern nur um den Preis von Langeweile oder Monotonie erreichen lässt; oder weil die Monotonie des Guten nur um den Preis eines Konflikts vermeidbar ist. Mit dem Guten im Gegensatz zum Bösen ist daher die Verwirklichung einer konkreten Einheit in der Verschiedenheit oder einer konkreten Harmonie des Guten gemeint, die Gemeinschaft des Guten, wenn man so will, die die Wirklichkeit schlechthin ist. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass die Behauptung, dass alles natürliche Böse in irgendeiner Form die Folge menschlicher Sünde oder des moralischen Bösen ist, keineswegs das geringste Problem darstellt, das ich mit dem sogenannten anthropozentrischen Zugang zur Schöpfungslehre habe. Als jemand, der selbst bis zu einem gewissen Grad immer stärker unter Arthritis leidet, habe ich die Entdeckungen einiger Paläontologen, die Wirbeltiere erforschen, nicht nur beiläufig zur Kenntnis genommen: Die Fossilien der Gelenke gewisser Dinosaurier belegen eindeutig, dass sie mehr oder weniger stark unter Arthritis litten. Die Arthritis, unter der ein Dinosaurier litt, lange bevor diese in irgendeiner erkennbaren Weise eine Folge der menschlichen Sünde sein konnte, ist meines Erachtens etwas Böses. Ohne es wäre die gegenwärtige kosmische Epoche des Universums ein besserer Platz, als er es faktisch war und ist, und zwar nicht nur für die Dinosaurier und alle anderen Kreaturen, die davon in irgendeiner Weise betroffen sind, sondern auch und vor allem für Gott. Natürlich nehme ich aufgrund meines christlichen Gottesglaubens an, dass Gott noch nicht einmal die faktische Möglichkeit, dass Dinosaurier Arthritis bekommen, zugelassen hätte, wenn dadurch nicht verhindert worden wäre, dass das Verhältnis zwischen den Möglichkeiten zum Guten und den Gefahren des Bösen als Ergebnis kreatürlicher Handlungen weniger günstig gewesen wäre. Mit anderen, unter ihnen Thomas von Aquin, teile ich auch die Überzeugung, dass für den christlichen Standpunkt das einzige unabänderliche Böse in dem Verlust der Möglichkeit besteht, dass die Geschöpfe durch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Gott errettet und in Gott vollendet werden. Schließlich ist Gott nicht nur ihr Schöpfer und Befreier und damit die einzige ursprüngliche Quelle aller Seienden, sondern auch ihr Vollender und Retter und daher das einzige letzte Ziel von allem. Da die Menschen, wie ich bereits erwähnt habe und in Kürze noch erklären werde, in einzigartiger Weise im Bilde Gottes geschaffen sind, müssen ihre Rettung und Vollendung durch die spezifische Art ihrer Freiheit und Verantwortung vermittelt werden: durch die moralische Freiheit und Verantwortung. Ihr Leben kann also errettet und vollendet werden, wenn, und nur wenn sie auch erlöst werden. Sie müssen daher Gottes freie Annahme ihrerseits durch gehorsamen Glauben annehmen und somit in Gottes Liebe vertrauen und allein ihr gegenüber treu sein, so dass sie sowohl in authentischer Freiheit von sich selbst wie von der Welt und zugleich für sich selbst und für die Sache Gottes existieren. In Hinblick auf dieses letzte menschliche Ziel, die Möglichkeit erlöst zu werden oder verloren zu gehen, sind alle anderen Formen des Bösen nicht untilgbar. Wie real und schwerwiegend sie auch sein mögen, sie lassen sich tilgen. Noch einmal anders und mit Worten gesagt, die sich möglicherweise dem von mir kritisierten anthropozentrischen Ansatz annähern: Alle anderen Formen des Bösen lassen sich nur dann nicht tilgen, wenn oder insoweit sie die Gelegenheit zu dem einzig untilgbaren Bösen sind. Es beruht darauf, dass man von Gott getrennt bleibt, indem man die gnädige Annahme durch Gott durch den Gehorsam im Glauben beharrlich verweigert. Entgegen dem Anschein, den anthropozentrische Annäherungen an die Schöpfungslehre normalerweise vermitteln, entspricht jedoch die Unterscheidung zwischen dem untilgbaren und dem tilgbaren Bösen nicht der zwischen dem wirklichen Bösen auf der einen und dem bloß scheinbaren Bösen auf der anderen Seite. Soweit es das sogenannte Problem des Bösen betrifft, handelt es sich meines Erachtens in Wirklichkeit um ein Scheinproblem. Es entsteht nur, wenn man von einigen unhaltbaren Annahmen des klassischen Theismus ausgeht, die völlig unabhängig von der Tatsache des Bösen inkohärent sind. Vor allem die Schlussfolgerung, dass die Rede von „omnipotent“ oder „allmächtig“ alle Macht, die es gibt, impliziert, ist widersprüchlich. „Macht“ ist per definitionem ein durch und durch soziales Konzept. Sie lässt sich nur dann begreifen, wenn sie, wie groß sie auch sein mag, zwangsläufig von einer anderen Macht ausgeht, auf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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die sie sich bezieht. Wenn demnach „Omnipotenz“ überhaupt ein in sich stimmiger Begriff ist, dann kann er nicht alle Macht, die es gibt, bedeuten. Er kann nur die Macht beinhalten, die irgendein Individuum unter der Voraussetzung hat, dass auch andere Individuen existieren, die die Macht haben, über die die omnipotente Macht ausgeübt werden kann. Versteht man Omnipotenz jedoch auf diese Weise, dann ist man bereits dem vermeintlichen Trilemma entronnen, wonach entweder (1) verneint werden muss, dass Gott allmächtig ist; (2) Gottes All-Güte geleugnet werden muss; oder (3) die Wirklichkeit des Bösen abgelehnt werden muss. Obwohl Gott in Hinblick auf Macht und Güte nicht übertroffen werden kann und daher allmächtig und allgütig im einzig möglichen kohärenten Sinn dieser Worte ist, kann das Böse wirklich sein und ist es wirklich, weil die Kreaturen tatsächlich die Macht besitzen, ebenfalls Entscheidungen zu fällen. Es handelt sich um Entscheidungen, die Gott nicht fällt und nicht fällen kann, und zwar nicht etwa deshalb, weil Gottes Macht irgendwie begrenzt oder „endlich“ wäre, sondern einzig und allein deswegen, weil überhaupt zu sein und eine wie geringfügige Macht auch immer zu besitzen zwei Weisen sind, über ein und dieselbe Sache zu sprechen.

3.4 Die menschliche Existenz 3.4.0 Einleitende Bemerkungen Auch hier, ebenso wie in Hinblick auf die Gottes- und Schöpfungslehre im Allgemeinen, müssen wir mit dem normativen christlichen Zeugnis, vor allem mit dessen konstitutiver christologischer Behauptung beginnen, um dann deren notwendige Implikationen und Voraussetzungen zu untersuchen. Welche Implikationen und Voraussetzungen hat es für die menschliche Existenz, wenn Jesus die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung ist, die die letzte Wirklichkeit für uns hat und er seinerseits Liebe bedeutet? Ich werde versuchen, diese Frage zu beantworten, indem ich drei Problemkreise betrachte: (1) die Hauptmerkmale, die die menschliche Existenz definieren; (2) die Bedeutungen von „Sünde“; und (3) die missliche Lage der Menschheit. Voraussetzung ist, dass die „menschliche Existenz“, die das allgemeine Thema dieses Abschnitts © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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bildet, zweierlei beinhaltet: das, was wir wesentlich sind und was wir folglich nicht verfehlen können, sobald und solange wir überhaupt Menschen sind; und das, was wir existentiell sind, in dem Zustand oder der Verfassung, in der wir uns wirklich befinden, indem wir so existieren, wie Menschen überall und immer während der gesamten Menschheitsgeschichte vermutlich existiert haben.

3.4.1 Die Hauptmerkmale der menschlichen Existenz Das normative christliche Zeugnis setzt vier entscheidende Aussagen über die Hauptmerkmale der menschlichen Existenz voraus bzw. impliziert sie: Erstens gilt für Menschen dasselbe wie für alles andere, das nicht Gott ist: Als Gottes Geschöpf wurden er oder sie aus dem Nichts von Gott geschaffen. Im Unterschied zu Gott, der allein mit innerer Notwendigkeit existiert, existieren Frau und Mann nur aufgrund kontingenter Bedingungen: Es gab Zeiten, in denen sie nicht existiert haben. Als Kreaturen nehmen sie dadurch nicht nur an dem relativen Nichts unverwirklichter Möglichkeiten teil, sondern partizipieren auch an dem absoluten Nichts des Nicht-Seins. Gleichwohl haben Frau und Mann auf ihre Weise auch Anteil am Sein Gottes. Wie alle anderen Kreaturen in der Welt haben sie an Gottes unerschaffener Güte Anteil und sind so wesentlich auch gut. Der große Renaissancedenker und Kirchenmann Nikolaus von Kues ging daher so weit, die Welt als einen „geschaffenen Gott“ (Deus creatus) und den Menschen als einen „verursachten Gott“ und „vermenschlichten Gott“ (Deus occasionatus und Deus hominatus) zu bezeichnen.3 Zweitens geht das christliche Zeugnis davon aus, dass Frau und Mann am Sein und an der Güte Gottes in charakteristischer Weise partizipieren: Sie sind nicht nur, wie jede andere Kreatur, innerlich oder aufgrund von Erfahrung mit dem Sein und der Güte Gottes verbunden, so dass sie diese, wie vermutlich alle Tiere, erleben oder fühlen können; sie können den Bezug auch verstehen und haben dadurch eine unverwechselbare moralische Freiheit und Verantwortung. Mensch zu sein bedeutet daher nicht nur Gott in einer Weise ähnlich 3

Dolan, (Hg.), Unity and Reform, 41 – 42. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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zu sein, wie es alles sein muss, wenn es überhaupt existieren soll; es bedeutet auch, in einem einzigartigen Sinn das „Bild Gottes“ (imago Dei) zu sein. In der orthodoxen Theologie wird den Menschen aufgrund dieses einzigartige Geschaffenseins im Bilde Gottes die „Herrschaft über die Erde“ (dominium terrae) verliehen. Nach den Worten von Genesis 1,26ff sagt Gott: „Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.“ Häufig haben Theologen diese Herrschaft als einen Hinweis auf das Recht und die Macht von Menschen verstanden, nicht nur alle anderen Kreaturen auf der Erde, sondern auch sich selbst als Individuen und, zumindest im Fall einiger weniger ausgewählter Weiser und Heiliger, ihre Mitmenschen zu beherrschen. Aber angesichts der Schattenseiten wie der Vorteile der wachsenden Herrschaft von Menschen über die übrige Natur, ganz zu schweigen von der Herrschaft über andere Menschen, möchten wir gerne wissen, worauf eigentlich dieses Recht und die Macht zu herrschen beruhen. Ich vermute, dass sie sich darauf stützt, dass Menschen die Zuständigkeit und damit das Recht und die Macht besitzen, „kleinere lokale Ordnungen, die wir treffend als ,Gesellschaften‘ oder ,Kulturen‘ bezeichnen“, zu errichten, zu erhalten und zu transformieren, und zwar analog zu Gottes eigener einzigartigen und archetypischen Herrschaft. Sie manifestiert sich im Errichten, der Erhaltung und der Transformation „der größeren, kosmischen Ordnung der Natur“4, von der die menschliche nur ein Abbild ist. Selbstverständlich gilt die von menschlichen Gesellschaften und Kulturen gebildete Ordnung unmittelbar und direkt nur für Menschen. Aber sie beeinflusst, wie wir inzwischen nur allzu gut wissen, alle anderen Kreaturen auf der Erde und erstreckt sich, so zeigt sich nun, auf alles, was in den menschlichen Herrschaftsbereich gerät. Meines Erachtens ist es ein Verdienst dieser Überlegung, dass die genuin menschliche Herrschaft in den Begriffen des spezifisch politischen Aspekts von moralischer Freiheit und menschlicher Verantwortung gedacht wird. Dadurch ist es möglich, nicht nur innerhalb vorgefundener sozialer und kultureller Strukturen zu handeln, sondern diese Strukturen auch selbst zu erzeugen. 4

Ogden, Faith and Freedom, 77. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Die dritte Behauptung, die das christliche Zeugnis in Bezug auf die charakteristischen Merkmale von Menschen beinhaltet, ist, dass wir, weil wir in einem einzigartigen Sinn im Bilde Gottes (imago) geschaffen sind, fähig und berufen sind, Gott ähnlich (similitudo) zu werden. Das erste Bild wird manchmal als das formale Bild Gottes in uns bezeichnet, das zweite als Gottes materiales Bild. Menschlich zu sein bedeutet daher, dass wir, als Gottes Geschöpfe, das einzigartige Bild Gottes in einem zweifachen Sinn sind oder sein können. Insofern wir überhaupt Menschen sind, sind wir mit Erkenntnisvermögen ausgestattet und daher moralisch freie und verantwortliche Wesen. Sogar nach dem Sündenfall oder im Zustand und unter den Bedingungen der Sünde, bleibt jeder von uns in dem ersten, formalen oder, wie es auch heißt, allgemeinen Sinn (imago Dei generaliter) im Bilde Gottes geschaffen. Doch wir haben alle die Aufgabe und sind dazu berufen, das Bild Gottes auch in dem zweiten, materialen oder speziellen Sinn (imago Dei specialiter) zu verwirklichen. Wir haben die Aufgabe und sind aufgerufen in der authentischen Freiheit eines gehorsamen Glaubens zu leben, der durch Liebe wirkt. Genau in diesem Sinn können wir das Bild Gottes allerdings auch verlieren. Folgt man dem christlichen Zeugnis, dann besteht unser gegenwärtiger Zustand oder unsere Verfassung als Menschen genau darin, unser authentisches Sein durch Sünde verloren zu haben und dadurch der Wiederherstellung durch Gottes Gnade entscheidend durch Jesus Christus zu bedürfen. Gemäß der vierten Behauptung, die das normative christliche Zeugnis in Hinblick auf die Menschen beinhaltet, schließt unser Sein als im Bilde Gottes geschaffen sowohl die kategoriale Ebene der Lebenspraxis wie die transzendentale Ebene des Selbstverständnisses mit ein. Alles, was wir denken, sagen und tun, mithin unsere Lebensführung insgesamt, erfolgt vor dem Hintergrund unseres Selbstverständnisses, und damit so, wie sich jeder oder jede in seinem oder ihrem unmittelbaren Lebensumfeld und in Bezug auf das letzte Ziel selbst versteht. Wie wir uns selbst im Licht des letzten Ziels, vor allem in Hinblick auf die absolut letzte Wirklichkeit, selbst verstehen, hat Auswirkungen auf alles und jedes, was wir über uns selbst und alles andere glauben und auf alles, was wir in Bezug auf unsere eigenen Interessen und die aller anderen, die von unseren Handlungen tangiert werden, unternehmen. Schließlich sind wir nicht einfach ein © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Die menschliche Existenz

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Selbst, sondern ein verleiblichtes Selbst, das in Beziehung zu anderen steht, die nur gemeinsam mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen und Arten von Wesen in der Welt existieren können. Als ein Selbst überschreiten wir immer schon in fundamentaler Weise uns und unsere Körper hin zu anderen Selbsten und bilden so soziale Beziehungen. Getrennt von anderen sind auch wir niemals wir selbst. Wie wir uns selbst verstehen hat somit Auswirkungen auf das, was wir glauben und wie wir handeln. Hierzu gehört auch all das, was wir in Hinblick auf andere tun. Die gerade vollzogene Unterscheidung zwischen dem Selbstverständnis auf der transzendentalen Ebene und der konkreten Lebensführung auf der kategorialen Ebene (d. h. zwischen Selbstverständnis und Lebenspraxis) ist meines Erachtens grundlegend, um eine Anzahl von Begriffen und Unterscheidungen klären zu können, die sich für die christliche Theologie als mehr oder weniger unverzichtbar erwiesen haben. So wird etwa der traditionelle theologische Begriff des „Glaubens“ rein formal als „authentisches Selbstverständnis“ definiert; „gute Werke“ oder das „Zeugnis“ sind rein formal gesehen Angelegenheiten der „Lebenspraxis“. „Sünde“ (im Singular und im spezifisch theologischen Sinn) wiederum gilt, rein formal betrachtet, als „inauthentisches Selbstverständnis“, während „Sünden“ (im Plural), wie wir gleich sehen werden, sich in einem bestimmten Wortsinn von „Sünde“ auf den Ausdruck des inauthentischen Selbstverständnisses in der „Lebenspraxis“ beziehen.

3.4.2 Die Bedeutungen von „Sünde“ Der Terminus „Sünde“ (im Singular) kann, wenn er im absoluten Sinn und ohne jede Qualifikation benutzt wird, negativ und positiv definiert werden. Negativ verstanden handelt es sich um „die Privation oder den Mangel an ursprünglicher Gerechtigkeit“ (privatio s. carentia iustitiae originalis); positiv bestimmt bedeutet er die Verderbtheit oder die Verkehrung der eigenen Menschlichkeit, die – in den Worten von Martin Luther gesagt – darin besteht, „auf sich selbst bezogen zu sein“ (incurvatus in se). In ihrer Wurzel ist Sünde im negativen Sinn Unglaube, Misstrauen und Untreue gegenüber Gott allein als der ursprünglichen Quelle und dem letzten Ziel des eigenen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Seins und aller Wesen. Im positiven Sinn ist Sünde Götzendienst, mithin Vertrauen in und Treue gegenüber jemandem oder etwas neben Gott, der oder das als wesentlich für das eigene Sein und dessen Bedeutung, wenn nicht gar für das Sein und die Bedeutung aller anderen Seienden angesehen wird. Das Fehlen der ursprünglichen Gerechtigkeit, das in der Verkehrung oder Verderbtheit der menschlichen Natur besteht, erwächst somit aus Unglauben und Götzendienst. Orthodoxe Theologen haben gewöhnlich das, was aus Unglauben und Götzendienst erwächst, als „Stolz“ (superbia), „Selbstliebe“ (amor sui) und „Begierde“ (concupiscentia) bezeichnet. Der Terminus „ursprüngliche Sünde“ oder „Ursünde“ (peccatum originale) bezieht sich demnach auf die Sünde als einen Zustand oder eine Verfassung der menschlichen Existenz. Es handelt sich um einen inauthentischen Modus der Existenz, der auf einem Selbstmissverständnis von Gottes Liebe als der einzigen, ursprünglichen Quelle und dem einzigen letzten Ziel des eigenen Lebens und von allem anderen beruht. Im eigentlichen Sinn ist die ursprüngliche Sünde eine von zwei genuin menschlichen Urmöglichkeiten „im Angesicht Gottes“ (coram Deo) zu existieren; die andere Urmöglichkeit ist die „ursprüngliche Gerechtigkeit“ (iustitia originalis) als authentischem Existenzmodus. Er basiert auf einem Verständnis von sich und der Welt, das in den Begriffen von Gottes Liebe als einziger, ursprünglicher Quelle und einzigem letztem Ziel gedeutet wird. Der Begriff „wirkliche Sünde“ oder „Tatsünde“ im Singular (peccatum actuale) muss als der Akt verstanden werden, durch den die Urmöglichkeit zur inauthentischen Existenz durch das eigene Selbstmissverständnis im Angesicht Gottes aktualisiert wird und werden muss. Es besteht somit eine paradoxe oder auch dialektische Beziehung zwischen der ursprünglichen Sünde als dem Zustand, der Verfassung oder dem Modus der inauthentischen Existenz und der wirklichen Sünde als dem Akt, der notwendig ist, damit jemand in diesem Zustand, dieser Verfassung oder diesem Modus existiert. Genau dieselbe Art von Beziehung besteht, nebenbei bemerkt, in Hinblick auf den zweiten möglichen Urzustand: zwischen dem Glauben, der Verfassung oder dem Modus der authentischen Existenz und der Liebe, durch den der Glaube wirkt oder durch den er sich darstellt, oder auch zwischen dem, was Paulus manchmal als „aus dem Geist leben“ und „dem Geist folgen“(Gal 5,25) bezeichnet. Leben aus © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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dem Geist ist der Zustand, die Verfassung oder der Modus, authentisch zu existieren. Aber man kann in dem Zustand, der Verfassung oder dem Modus nur existieren, wenn man dem Geist wirklich folgt und authentisch existiert. Unter „wirklichen Sünden“ oder „Tatsünden“ im Plural (peccata actualia) wird schließlich die Sünde als eine Vielzahl einzelner Akte verstanden – von Gedanken, Worten und Taten. Sie drücken das eigene sündhafte Selbstmissverständnis aus. Dadurch wird es gleichzeitig fälschlicherweise gegenüber anderen als deren authentische Urmöglichkeit dargestellt. Ich möchte nach dieser allzu kurzen Klärung der unterschiedlichen Sinnebenen von „Sünde“ eine Bemerkung über die Beziehung der Sünde zum „moralisch Bösen“ ergänzen, das ich in Kapitel 3.3. thematisiert habe. Da der Terminus „moralisch“ und ähnliche Worte ebenfalls in mehr als nur einem Sinn verwendet werden, ist diese Beziehung vergleichsweise kompliziert. In einem weiten Sinn kann alles als „moralisch“ bezeichnet werden, was die charakteristische Ebene kreatürlicher Freiheit beinhaltet, die ich als „moralische Freiheit“ bezeichnet habe. Weil Sünde, so habe ich weiter argumentiert, die moralische Freiheit voraussetzt, ist sie, richtig verstanden, eine Form oder eine Ebene des moralisch Bösen. Es handelt sich vor allem um die transzendentale Form oder Ebene, bei der die moralische Freiheit mit der grundlegenden Wahl zwischen „Glaube“ und „Sünde“ oder authentischem und inauthentischem Selbstverständnis verbunden ist. Gewöhnlich werden jedoch die Sünde oder die Sünden einfach mit der anderen kategorialen Form oder Ebene des moralisch Bösen identifiziert. Danach wird man als Sünder angesehen, weil oder soweit man das moralische Gesetz überschreitet oder moralisch böse Dinge in diesem engeren Sinn des „moralisch Bösen“ tut. Doch diese konventionelle Ansicht führt in die Irre. Nicht nur lässt sich die Sünde im Singular, egal ob als Ur- oder Tatsünde verstanden, nicht mit dem moralisch Bösen im kategorialen Sinn identifizieren. Sogar der Terminus Sünde im Plural, mithin wirkliche Sünden, ist nicht nur ein anderes Wort für moralische Verstöße im strengen Wortsinn. Werden wirkliche Sünden, wie ich es getan habe, als Ausdruck und Repräsentation der wirklichen/ursprünglichen Sünde definiert, dann können sie sehr wohl die Beachtung moralischer Regeln und Werte ebenso wie deren Überschreitung und moralisch Böses im katego© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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rialen Sinn beinhalten. Denken Sie nur an die Worte von Thomas Becket in T.S. Eliots „Murder in the Cathedral“: „Die letzte Versuchung ist der größte Verrat:/die richtige Tat aus falschen Gründen zu tun.“ Das ist zweifellos wahr, selbst wenn, wie ausdrücklich betont werden sollte, es auch stimmt, dass der Sünder, gerade weil oder insoweit er oder sie ein Sünder ist und deshalb sündhaft handelt, sich bewusst ist, dass er moralisch Böses im kategorialen Sinn der Überschreitung moralischer Regeln begeht. Das gilt vor allem dann, wenn der Maßstab für die Beurteilung nicht auf bloßer Konvention beruht, sondern auf Gottes Liebesgebot und dem Gebot, Gerechtigkeit walten zu lassen, das in ihm enthalten ist. Dieser Aspekt ist übrigens eine weitere Folgerung, die sich aus der vierten Behauptung über die Hauptmerkmale der menschlichen Existenz ergibt, die ich im vorangehenden Abschnitt 3.4.1 besprochen habe. Es handelt sich, wie gesagt, um die Behauptung, dass die beiden Ebenen des transzendentalen Selbstverständnisses auf der einen Seite und der kategorialen Lebenspraxis auf der anderen Seite gleichzeitig voneinander unterschieden und aufeinander bezogen sind.

3.4.3 Die missliche Lage der Menschheit Bei der „tiefgreifenden Verderbtheit der menschlichen Natur“ als Folge der Sünde handelt es sich, richtig verstanden, um eine universale Tatsache und nicht um eine modale Notwendigkeit. Unglücklicherweise ist es jedoch das letztere Verständnis, das viele traditionelle Lehren von der Sünde entweder unverblümt ausgesprochen oder vorausgesetzt haben, und das sogar dann, wenn sie es verbal verneint haben. Die orthodoxe Lehre von der „Erbsünde“, durch die die „Nachkommen Adams“ ipso facto „unfähig sind, nicht zu sündigen“ (non posse non peccare), ist selbstwidersprüchlich: Die Sünde aller Menschen, das erste Menschenpaar allein ausgenommen, ist gerade keine Angelegenheit der Freiheit, sondern von Schicksal und Verhängnis – und in diesem Sinne das, was ich mit „modaler Notwendigkeit“ meine. Ich sollte vielleicht erklären, dass das modale Schema, das ich voraussetze, indem ich das Thema in dieser Weise darstelle, schon auf Augustinus zurückgeht. Indem er mit der Schöpfung begonnen und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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mit der Verherrlichung geendet hat, hat er alle vier Zustände oder Verfassungen der Menschen mit Hilfe modaler Termini unterschieden. In ihrem ersten Zustand unmittelbar nach der Schöpfung, aber noch vor dem Fall, sind die Menschen „fähig zur Sünde“ (posse peccare). Im zweiten Zustand nach dem Fall, aber vor der Erlösung, sind sie „unfähig nicht zu sündigen“ (non posse non peccare). Im dritten Zustand nach ihrer Erlösung, aber vor der Verherrlichung, sind sie „fähig nicht zu sündigen“ (posse non peccare). Im vierten Zustand schließlich, dem Zustand der Verherrlichung, sind sie „unfähig zu sündigen“ (non posse peccare). Angesichts all dieser modalen Formulierungen ist es meines Erachtens entscheidend, dass die missliche Lage, die sich aus dem Sündenfall ergibt, durch statistische Verallgemeinerung rein faktisch beschrieben wird: (1) Jeder Mensch neigt ständig dazu, sich selbst im Angesicht Gottes falsch zu verstehen; und (2) jeder Mensch wird in eine Menschheit hineingeboren, für die diese Verallgemeinerung bereits gilt und die daher in ihren Gedanken, Worten und Taten und ihren komplexen sozialen und kulturellen Institutionalisierungen bereits tiefgreifend korrumpiert ist. Da es sich jedoch lediglich um eine statistische Verallgemeinerung handelt, lässt diese Art, das Thema zu behandeln, Ausnahmen von der allgemeinen Regel zu. Auch wenn keiner von uns seine eigene Sünde mit den Sünden der anderen entschuldigen kann, muss jeder von uns auch vor Gott Rechenschaft ablegen dafür, dass er seinen oder ihren Bruder oder seine oder ihre Schwester straucheln ließ, indem er sie zur Sünde verführt hat. Warum ist das so? Die Urmöglichkeit, die wir uns als sündige Frauen und Männer in dem genannten Sinn ständig gegenseitig repräsentieren, beinhaltet nicht die Urmöglichkeit zu authentischem Glauben und damit zu authentischer Liebe und Hoffnung, sondern stattdessen zum Unglauben und damit zu Lieblosigkeit und Verzweiflung. Durch unsere Sünde im strengen Wortsinn aktualisiert jeder diese Urmöglichkeit; durch unsere Sünde im weiten Sinn des Wortes, der unsere Sünden ebenso wie unsere Sünde umfasst, aktualisieren wir sie nicht nur, sondern re-präsentieren sie auch anderen gegenüber fälschlicherweise als deren authentische Urmöglichkeit. Bis zu einem gewissen Grad liegt daher in dem deprimierenden Verdikt von Augustinus, dass die Menschheit eine „Masse des Verderbens“ (massa perditionis) sei, eine tiefe Wahrheit. Ohne zu zögern kann man © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Paul Tillich zustimmen, dass für jeden Einzelnen von uns „Sünde ein universales Faktum [ist], noch bevor sie zu einem individuellen Akt wird.“5 Doch sogar ungeachtet der Tatsache der Sünde und ihrer tragischen Universalität kann die menschliche Lage strenggenommen noch immer treffend als eine „missliche Lage“ bezeichnet werden. Das gilt zunächst einmal deshalb, weil Frau und Mann nach wie vor an der universalen Lage aller Kreaturen einfach deshalb teilnehmen, weil auch sie Kreaturen sind. Da sie sowohl in ihrer Existenz wie in Wirklichkeit radikal kontingent sind, müssen sie an dem absoluten Nichtsein teilhaben, das sie ständig bedroht. Zweitens müssen Frau und Mann, anders als andere Kreaturen, zumindest soweit sie uns bekannt sind, diese universale Bedrohung von jeglicher kreatürlichen Existenz wissend ertragen, mit einer mehr oder weniger großen Bewusstheit von der eigenen radikalen Kontingenz und der Kontingenz aller anderen geschaffenen Dinge. Wenn wir denn überhaupt irgendetwas wissen, dann handelt es sich darum, dass der Philosoph Bertrand Russell Recht hat, wenn er sagt, dass „auf uns und unsere ganze Rasse der langsame, sichere Untergang mitleidlos und dunkel herabsinkt.“ Es bedarf daher weder eines übersteigerten Anti-Pelagianismus, der in der Gefahr ist, die Sünde zur Notwendigkeit zu erheben noch, wie einige glauben, der Erklärung, sie sei eben „unvermeidbar“ (z. B. Reinhold Niebuhr), damit unsere menschliche Abhängigkeit von Gott und unser tiefes Bedürfnis nach Gottes Liebe nicht nur relativ, sondern absolut sind. Obgleich es zweifellos für das christliche Zeugnis und die christliche Theologie entscheidend ist daran festzuhalten, dass unsere Abhängigkeit von Gott und unser Bedürfnis nach Gottes Liebe absolut sind und bleiben, so ist es doch der falsche Weg, dies mit Hilfe einer unangemessenen Sündenlehre erreichen zu wollen. Die Grundlage ist vielmehr, wie ich in der vorangehenden Diskussion versucht habe zu zeigen, eine angemessene Schöpfungslehre.

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Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, 65. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

4. Über Jesus Christus

4.0 Einleitende Bemerkungen Bevor ich mich den Hauptthemen der Lehre über Jesus Christus zuwende, möchte ich mit einigen einleitenden Bemerkungen zu dem Vorgehen, das ich in den vorangehenden Diskussionen über Gott und die Schöpfung wie in den Prolegomena verfolgt habe, beginnen. Das von mir beschriebene (und hoffentlich auch praktizierte) Vorgehen geht von der Vorgegebenheit des christlichen Zeugnisses und insbesondere von dem, was ich die konstitutive christologische Behauptung nenne, aus. Ich habe mit dieser Behauptung, oder, präziser, mit deren Interpretation begonnen, die ihrem Anspruch nach mit dem formal-normativen Zeugnis der Apostel übereinzustimmt. Dann habe ich mich bemüht, die Möglichkeit des Selbst- oder Existenzverständnisses, das sie ausdrückt zu erläutern sowie die notwendigen Voraussetzungen und Implikationen dieser Möglichkeit, was man glaubt und tut, wenn man Christ sein will. Ich bin, unabhängig davon, ob ich die Gottes- oder Schöpfungslehre im Allgemeinen oder die Lehre von der menschlichen Existenz im Besonderen entwickelt habe, einem theologischen Vorgehen verpflichtet. Sein Anliegen ist es, „die Wahrheit, wie sie in Jesus ist“, so gut wie möglich zu erklären. Aber ich musste, wie ich mehrfach angemerkt habe, viel dogmatischer vorgehen, als ich es wollte, weil ich meine Interpretation der christologischen Behauptung angenomen habe, statt sie argumentativ zu begründen. Ich bin davon ausgegangen, dass diese Behauptung formal dazu dient, die entscheidende Bedeutung Jesu für uns, für jeden einzelnen Menschen, der existiert, zu beteuern; und ich habe © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gesagt, dass das, was material mit Jesus gemeint ist, in den Worten von Charles Wesley gesprochen, „allumfassendes Mitgefühl, reine, grenzenlose Liebe“ ist. Dabei handelt es sich um die ausdrückliche, entscheidende Ermächtigung, in gehorsamem Glauben, der durch Liebe wirkt und einer Liebe, die sich in Gerechtigkeit inkarniert, zu existieren. Von dieser Position ausgehend habe ich mich bemüht, die Bedeutung dieser Existenzform und ihre Hauptvoraussetzungen und -implikationen für ein christliches Verständnis von Gott, der Welt und uns selbst, die wir auch angesichts des Sündenfalls Gottes gute Schöpfung sind, zu erklären. Nun ist es jedoch an der Zeit, die Argumente für das zu entwickeln, was ich bisher angenomen und ohne Angabe von Gründen behauptet habe, und zwar in Hinblick auf die formale Analyse der christologischen Behauptung wie in Bezug auf ihre materiale Bedeutung aufgrund des formal-normativen Zeugnisses der Apostel. Daraus erklären sich die ersten beiden der folgenden drei Abschnitte. In ihnen werde ich damit beginnen, die christologische Behauptung rein formal zu analysieren, um dann deren materiale Bedeutung angesichts der materialen Identität Jesu, wie sie vom apostolischen Zeugnis bekundet wird, zu interpretieren. Im dritten und letzten Abschnitt werde ich mit einigen Bemerkungen zu dem zeitgenössischen Projekt einer Christologie der Befreiung und darüber, wie ich mir als einer ihrer Vertreter deren Durchführung vorstelle, schließen.

4.1 Die konstitutive christologische Behauptung Ich bitte den Leser darum, sich das, was ich schon über die christologische Behauptung am Beginn meiner Darlegung zur Gotteslehre gesagt habe, noch einmal zu vergegenwärtigen. Obwohl es nur eine kleine Überschneidung zwischen diesen früheren Aussagen und dem gibt, was ich nun sagen werde, bieten sie doch ein hilfreiches Vorverständnis für das Argument dieses ersten Abschnitts, das ich in drei Hauptschritten darlegen werde.

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4.1.1 Die klassische Formulierung der Behauptung Der erste Schritt bezieht sich auf das, was ich die „klassische Formulierung der christologischen Behauptung“ nenne. Mit dieser Redeweise setze ich voraus, dass man immer zwischen der christologischen Behauptung selbst und jeder Formulierung, die sie zum Ausdruck bringt, auch der klassischen, differenzieren muss. Aber obwohl man eine solche Unterscheidung machen kann und muss, ist es gleichwohl wahr, dass die christologische Behauptung als solche, sozusagen für sich genommen, nie der Ausgangspunkt theologischer Reflexion ist, sondern immer nur deren Gegenstand, oder, wenn man so will, deren Ziel. Die christologische Behauptung ist demnach der Gegenstand, mit dem sich die Theologie befassen muss, indem sie sich die vielen Daten kritisch aneignet, die ihr tatsächlich überhaupt zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten gesagt: Die theologische Reflexion muss sich immer auf eine besondere Formulierung oder besondere Formulierung(en) beziehen. Diese können daher noch nicht einmal im Fall der normativen oder klassischen Formulierung einfach mit der Behauptung selbst identifiziert werden. Sogar in der Formulierung „Jesus ist der Christus“, die möglicherweise den besten Anspruch auf eine klassische Formulierung erheben kann, muss die Theologie zwischen der Formulierung als solcher, die den spezifisch jüdischen Rahmen voraussetzt, der durch den Terminus „der Christus“, der der „Messias“ bedeutet, angezeigt wird und der Behauptung, die auf dieser Grundlage formuliert wird, unterscheiden. Wenn dies jedoch für die christologische Formulierung par excellence gilt – für die Formulierung, von der der Terminus „Christologie“ selbst abgeleitet wurde – dann trifft das mit Sicherheit auch für alle anderen Formulierungen, mit deren Hilfe Christen, beginnend mit den Aposteln, ihr charakteristisches Zeugnis entwickelt haben, indem ein und dieselbe christologische Behauptung geltend gemacht oder vorausgesetzt wurde. Obwohl, so kann man diesen Gedanken zusammenfassen, die christologische Behauptung selbst konstant bleibt, variiert ihre Formulierung. Immer gibt es eine Behauptung, und immer handelt es sich um eine Behauptung über ein und dasselbe Subjekt. Sie beteuert, wie wir sehen werden, stets dasselbe von diesem Subjekt: dass es nämlich eine entscheidende Bedeutung für die menschliche Existenz © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über Jesus Christus

hat. Jedes der Prädikate, das dem Subjekt zugeschrieben wird, dient dazu, eine gleichbleibende Behauptung von einem gleichbleibenden Gesichtspunkt aus aufzustellen. Dagegen sind die Prädikate selbst und damit die verschiedenen Formulierungen der Behauptung nicht eine, sondern viele, und eher variabel als konstant. Das lässt sich durch die folgende Schreibweise ausdrücken: Wenn man „Jesus ist der Christus“ schreibt, setzt man „den Christus“ in Parenthese – also „Jesus ist (der Christus)“. Dadurch wird angezeigt, dass „der Christus“ nur ein Wert der Prädikatvariable ist, wenngleich der klassische.

4.1.2 Haupttypen der christologischen Formulierungen Kommen wir nun zum nächsten Schritt und fragen nach den Haupttypen der christologischen Formulierungen, wie sie sich exemplarisch in der Geschichte des christlichen Zeugnisses und der Theologie finden. Zunächst müssen wir zwischen Formulierungen unterscheiden, die nur implizit christologisch sind, weil sie keine tatsächliche christologische Behauptung aufstellen, sondern sie nur beinhalten, und Formulierungen, die explizit christologisch sind, weil sie, auf die eine oder andere Weise und mit der einen oder anderen Begrifflichkeit, ausdrücklich behaupten, dass Jesus von entscheidender Bedeutung für die menschliche Existenz ist. Unter den Beispielen für eine implizite Christologie, die man im frühesten christlichen Zeugnis findet und die meines Erachtens als genuin apostolisch und damit als formal-normativ angesehen werden müssen, sind die folgenden repräsentativ: „Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“(Mt 11,5 – 6) „Hier aber ist einer, der mehr ist als Salomo. … Hier aber ist einer, der mehr ist als Jona.“ (Lk 11,31 – 32) „Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes bekennen; Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, der wird auch vor den Engeln Gottes verleugnet werden.“ (Lk 12,8 – 9) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Im Unterschied dazu ist ein frühes Beispiel für eine explizite Christologie die Aussage, die sich im Bekenntnis von Petrus in Cäsarea Philippi nach Matthäus 16,15 – 16 findet: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Schon lange besteht aufgrund der Studien zur historischen Theologie, insbesondere zum Neuen Testament, eine zunehmende Übereinstimmung unter den Gelehrten, dass die erste Christologie weniger explizit, als vielmehr implizit war, und zwar unabhängig davon, ob sie als eine der ersten Zeugnisse oder als die Christologie Jesu selbst angesehen wird. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass in der frühesten Schicht des christlichen Zeugnisses keine explizite Christologie erkennbar ist. Sogar in den synoptischen Evangelien in der endgültigen Form, in der sie uns nun vorliegen, gibt es nur vergleichsweise wenige explizite christologische Aussagen. Dies zeigt ein Vergleich mit dem vierten Evangelium oder auch mit den viel früheren Briefen von Paulus und Autoren der Paulinischen Tradition, denen wir vermutlich die Briefe an die Kolosser und Epheser und den zweiten Brief an die Thessalonicher verdanken. Falls diese weitgehend übereinstimmende Schlussfolgerung zutrifft, befinden wir uns natürlich in der seltsamen Situation, dass wir mit einem formal-normativen christlichen Zeugnis arbeiten müssen, das in der frühesten uns zugänglichen Form nicht explizit, sondern nur implizit christologisch ist. Das, womit jedes nachfolgende christliche Zeugnis mit seiner mehr oder weniger expliziten Christologie in substantieller Übereinstimmung sein muss, um einen gültigen Anspruch auf Angemessenheit erheben zu können, enthält somit selbst keine explizite Christologie, wie sehr auch immer die Formulierung ihrerseits diese beinhalten mögen. Doch jenseits dieser ersten, grundlegenden Unterscheidung zwischen einer impliziten und einer expliziten Christologie müssen wir verschiedene Haupttypen der expliziten Christologie differenzieren. Eine weit verbreitete Unterscheidung, die sich vor allem in Arbeiten findet, die von der zeitgenössischen Religionsgeschichte und der Umgebung des frühen Christentums ausgehen, ist die zwischen christologischen Formulierungen, deren Hauptannahmen traditionell jüdisch sind und Formulierungen, die auf die eine oder andere der vielen religiösen Ansichten nicht-jüdischen Ursprungs verweisen, die in der pluralistisch geprägten Kultur der späten Hellenistischen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Ökumene ebenfalls gegenwärtig waren. In der Tat hat sich diese Unterscheidung als wichtig erwiesen, sogar um ein und dieselbe christologischen Bezeichnung verstehen zu können. Hierzu gehört insbesondere die Bezeichnung „Sohn Gottes“. Sie wurde von den frühen Christen manchmal auf Jesus vor allem auf der Grundlage jüdischer Annahmen, die typischerweise mit dem Gebrauch dieses Terminus verbunden sind, angewendet. Bei anderen Gelegenheiten waren die zugrundeliegenden Annahmen bei der Anwendung dieser Bezeichnung jedoch nicht jüdisch, sondern hellenistisch. Sie unterschieden sich dadurch stark voneinander, wenn sie einfach als mythische oder metaphysische Behauptungen über das Sein Jesu selbst angesehen wurden. Betrachten wir zum Beispiel die sehr unterschiedlichen Christologien, die in den folgenden drei Passagen durch ein und dieselbe Bezeichnung zum Ausdruck gebracht werden: Jesus Christus, unser Herr, „der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten.“ (Röm 1,4) „Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, daß der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ (Mk 1,10 – 11) „Der Engel antwortet ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk 1,35)

Eine noch grundlegendere Unterscheidung (noch grundlegender, insofern sie quer zur ersten Unterscheidung verläuft) zwischen dem einen Typus einer expliziten Christologie und einem anderen ist die zwischen Formulierungen, die die christologische Behauptung erläutern, indem sie Jesus die eine oder andere Ehrenbezeichnung beilegen (etwa „der Christus“ oder „der Herr“, „der Gottessohn“, „der Menschensohn“, „das Wort Gottes“ oder in der späteren Tradition sogar „Gott“) und noch andere Formulierungen, die die christologische Behauptung mit Mitteln erläutern, die wir nach unserem heutigen Denken nur als mythologische oder legendäre Aussagen über Jesu Ursprung und Ziel oder seinen Lebenslauf verstehen können © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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(etwa Aussagen über seine wundersame Empfängnis und Geburt, seine Berufung zu seinem messianischen Auftrag durch die Taufe, seine Auferstehung von den Toten, den Aufstieg in den Himmel und sein Sitz zur Rechten Gottes). Es mag sich in diesem Zusammenhang lohnen darauf hinzuweisen, dass gewissenhafte Gelehrte, wie J.N.D. Kelly, die das Apostolische Glaubensbekenntnis erforschen, den zweiten Artikel als eine Verbindung dieser beiden unterschiedlichen Wege ansehen, die christologische Behauptung zum Ausdruck zu bringen: die ursprüngliche und vermutlich ältere Formulierung in Form von Ehrentiteln (aufgrund derer Jesus der Christus, Gottes einziger Sohn, unser Herr ist), die dann durch eine ganze Reihe von relativen Bestimmungen, die den einzigartigen Ursprung und das Schicksal Jesu in Gott betonen, näher beschrieben werden (etwa, dass er vom Heiligen Geist und durch die Jungfrau Maria geboren wurde und am dritten Tag von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist etc.). Offensichtlich gehören diese Formulierungen von der einen wie von der anderen Art logisch zwingend zusammen, indem sie dazu dienen, ein und dieselbe christologische Behauptung über die entscheidende Bedeutung Jesu für die menschliche Existenz aufzustellen.

4.1.3 Die formale Analyse der christologischen Behauptung Ich kann bei Inhalten, die nicht Gegenstand der systematischen, sondern der historischen, insbesondere der spezifisch biblischen Theologie und der Theologie des Neuen Testaments sind, nicht weiter ins Detail gehen. Stattdessen muss ich nun den dritten und wichtigsten Schritt unserer Überlegung über die konstitutive christologische Behauptung vollziehen und eine, wie ich es nenne, formale Analyse, präsentieren. Wie ich bereits bemerkt habe, besteht die christologische Behauptung wie jede andere aus einem Subjekt- und einem Prädikatterm, die so durch eine Copula verknüpft werden, dass der zweite Prädikatterm des Subjekts, auf den der erste Subjektterm verweist, bestätigt wird. Auffallend an dieser Behauptung ist jedoch, dass, wie wir gesehen haben, der Subjektterm „Jesus“ in allen Formulierungen konstant bleibt – egal ob sie implizit oder explizit sind, und unabhängig davon, ob in Begriffen einer Ehrenbezeichnung oder © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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in mythischen und legendären Annahmen über den Lebenslauf Jesu gesprochen wird. Der Prädikatterm dagegen, der in der klassischen Formulierung durch den Ausdruck „der Christus“ repräsentiert wird, ist variabel. Er variiert in der ganzen Bandbreite der Unterschiede, die durch die soeben betrachteten Distinktionen angedeutet wurden. Doch ungeachtet der unterschiedlichen Formulierungen erhebt auch die christologische Behauptung, wie jede andere, den Anspruch, wahr oder glaubwürdig zu sein in dem Sinne, dass sie es wert ist, an sie zu glauben. Mit anderen Worten: Jede Formulierung der christologischen Behauptung erhebt zumindest implizit den Anspruch, wahr zu sein, indem sie den variablen Prädikatterm, welcher auch immer es sein mag, auf den konstanten Subjektterm „Jesus“ bezieht. Das bedeutet außerdem, dass die christologische Behauptung jeder anderen Behauptung gleicht, die vorgibt, wahr zu sein. Sie ist in jeder ihrer Formulierungen eine Antwort auf eine Frage, die erst verstanden werden muss, wenn die Behauptung selbst verstanden und ihr besonderer Wahrheitsanspruch oder ihre Glaubwürdigkeit in angemessener Weise kritisch beurteilt werden soll. Setzt man diese elementaren Beobachtungen über die grammatische und logische Struktur voraus, dann scheint es, dass zumindest drei Fragen gestellt und beantwortet werden müssen, um mit einer formalen Analyse der christologischen Behauptung fortfahren zu können. Die Fragen, um die es sich dreht, sollten meines Erachtens in einer logischen Ordnung betrachtet werden: 1. Auf welche Frage gibt die christologische Behauptung eine Antwort? 2. Wer ist Jesus als das Subjekt, auf das sich die christologische Behauptung bezieht? 3. Was sind die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn irgendein christologisches Prädikat, das diesem Subjekt in angemessener Weise zugeschrieben wird, als glaubwürdig oder wahr gelten soll? Die Aufgabe besteht nun darin, mit einer formalen Analyse der Behauptung fortzufahren, indem diese drei Fragen kurz beantwortet werden. Auf dieser Grundlage werden wir dann in der Lage sein, über eine rein formale Analyse hinauszugehen und die materiale Bedeutung der Behauptung auf konstruktive Weise – in Abschnitt 4.2 – neu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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zu formulieren. Auf diesem Weg wird die materiale Identität von Jesus selbst bestimmt, wie sie durch das formal-normative Zeugnis der Apostel bezeugt wird. In Abschnitt 4.3 werden dann die Hauptlinien einer adäquaten Christologie der Befreiung entworfen, wie sie in der heutige Situation wünschenswert, wenn nicht gar notwendig ist. Ich bin mir sicher, dass man sofort erkennen kann, dass die Antworten, die ich auf die drei Fragen geben werde, kontrovers sind. Sie werden mehr oder weniger prononciert durch völlig andere Antworten in Frage gestellt, die durch andere Christologien, durch revisionistische ebenso wie durch klassische, gegeben wurden. Da mein Anliegen in diesem Fall primär ein konstruktives ist, werde ich nicht so vollständig wie andernorts auf die Kontroversen und deren Alternativen eingehen, die meine Antworten betreffen. Mein Leser sollte sich freilich darüber im Klaren sein, dass, wie nahezu alles, was hier oder anderswo zu diesen Themen gesagt wurde, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit einer eigenständigen theologischen Reflexion und Entscheidung des Lesers fordert. Sie oder er sollte sich eine eigene Meinung darüber bilden, wie die genannten Fragen beantwortet werden müssen, wenn die Christologie angemessen und glaubwürdig sein soll. Offensichtlich würde ich mir nicht die Mühe machen, meine Antworten darzulegen, wäre ich nicht davon überzeugt, dass sie im Vergleich zu anderen, die sie ausschließen, adäquater sind. Aber aufgrund meines eigenen Verständnisses von dem, was es heißt, ein Theologe zu sein, sind Antworten niemals so wichtig wie Fragen. Deshalb ist es meiner Meinung nach meine wichtigste Aufgabe, dem Leser so gut wie möglich eine Vorstellung von der ganzen Spannbreite möglicher Antworten zu vermitteln, zwischen denen er oder sie sich dann auf dieselbe Weise wird entscheiden müssen, in der auch ich das ständig tun muss. Ich sollte möglicherweise kurz etwas zu der Unterscheidung sagen, die ich normalerweise zwischen „klassischen Christologien“ auf der einen und „revisionistischen Christologien“ auf der anderen Seite mache und auch im Folgenden machen werde. Mit dem ersten Terminus meine ich alle Christologien, die mehr oder weniger konform mit der Christologie sind, die in der alten Kirche im Lauf der Kontroversen formuliert wurde, die gewissermaßen zum Konzil von Chalcedon im Jahr 451 n. Chr. führten und von ihm gewissermaßen bereinigt wurden. Es handelt sich um die sogenannte Christologie von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Chalcedon, die dann im Wesentlichen durch die Reformation und die Gegenreformation, und die, so darf man ergänzen, durch die spätere wesleyanische Erweckung bestätigt wurde. Sie wurde durch die orthodoxe Dogmatik des späten siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts verfeinert und weiter ausgearbeitet. Auf der anderen Seite meine ich mit „revisionistischen Christologien“ die verschiedenen Versuche, klassische Christologien mehr oder weniger gründlich zu überarbeiten, wie sie Friedrich Schleiermacher und viele andere vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart unternommen haben. Indem ich den Terminus auf diese Weise benutze, beziehe ich mit voller Absicht eine große Bandbreite von Christologien ein. Einige von ihnen haben sich um eine Revision nicht nur durch eine Neuformulierung bemüht, sondern dadurch, dass sie die klassischen Christologien ersetzt haben (wie vermutlich im Fall der meisten protestantischen Beispiele). Andere (wie etwa die römisch-katholischen Bewegungen) zielten nicht darauf ab, die klassischen Christologien zu ersetzen, sondern wollten sie nur neu formulieren. Ich sollte hinzufügen, dass ich eine vollständigere und hoffentlich adäquatere Entwicklung und Begründung meiner Antworten auf diese drei Fragen in meinem Buch The Point of Christology vorgelegt habe. Zu der in logischer Hinsicht ersten Frage, der Frage, worauf die christologische Behauptung eine Antwort gibt, möchte ich Folgendes sagen: Gemäß der Antwort, die gewöhnlich auf diese Frage in revisionistischen wie klassischen Christologien gegeben wurde, lautet die von der Christologie gestellte und beantwortete Frage: „Wer ist Jesus?“. Gefragt wird nach dem Sein von Jesus an sich, nicht nach der Bedeutung, die er für uns hat. Unabhängig davon, ob Jesus, wie in den meisten klassischen Christologien, als Gott im Menschen, als Gott selbst, der in einzigartiger Weise in und als menschliches Wesen gegenwärtig ist, verstanden wird oder, wie es typisch für revisionistischen Christologien ist, als einzigartiger Mensch Gottes, als ein menschliches Wesen, das in einzigartiger Weise offen ist für die Gabe und den Anspruch von Gottes Liebe – muss sich die Frage, die die christologische Behauptung betrifft, auf jeden Fall auf die Natur der Person Jesu beziehen, auf seine Qualitäten, seinen Seinsmodus, seine Beziehung zu Gott und so weiter. Die in Vergangenheit und Gegenwart vorherrschende Antwort ist jedoch, so mein Argument, mit dem verbunden, was Alfred North Whitehead klugerweise als den „Trug© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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schluss der unzutreffenden Konkretheit“ bezeichnet. Diesem Trugschluss verfallen wir immer dann, wenn wir etwas, das nur ein abstrakter Teil oder Aspekt eines größeren, konkreten Ganzen ist, so behandeln, als ob es schon das Ganze oder zumindest etwas Konkretes wäre. Wenn man, wie es fast alle Christologien getan haben und noch tun, davon ausgeht, dass die einzige Frage, auf die die christologische Frage antwortet, lautet: Wer ist Jesus?, dann verfällt man genau diesem Trugschluss. Etwas, das nur ein Aspekt der christologischen Frage ist, wird behandelt als ob es bereits die gesamte konkrete Frage oder zumindest eine konkrete Frage ist, die logisch unabhängig von jedem ihrer anderen Aspekte ist. Ich beziehe mich auf das, was ich die „existentiellen“ Aspekte der Frage nenne, die sich von ihrem „historischen“ Aspekt unterscheiden, die zweifellos mit der geschichtlichen Person oder dem Ereignis, das „Jesus“ genannt wird, zu tun hat. Mit den „existentiellen Aspekten“ der Frage meine ich die, die durch den variablen Prädikatterm der christologischen Behauptung erschlossen werden, ganz unabhängig davon, welcher besondere Wert der Variablen zur Formulierung dient. Wenn zum Beispiel der Prädikatterm der Behauptung „der Christus“ ist, dann ist die Frage, auf die die Behauptung antwortet, nicht nur: „Wer ist Jesus?“, sondern auch und sogar noch fundamentaler: „Wer ist der Christus?“ Die Frage, von der „Wer ist der Christus?“ nur eine besondere Formulierung ist, zielt, so zeigt die Analyse, auf das, was ich zuvor als die „existentielle Frage“ erörtert habe, wenn man von den Grundannahmen einer gewissen Form der späten jüdischen Religion ausgeht, die zur Entstehungszeit des Christentums lebendig war. An dieser Stelle sei kurz an die Diskussion über Gott erinnert: Es handelt sich um dieselbe existentielle Frage, die sich meiner Meinung nach auch in der Frage nach Gott ausdrückt, wenn man vom radikalen Monotheismus ausgeht. Es handelt sich, so habe ich argumentiert, um eine allgemein menschliche Frage, die jede Frau und jeder Mann einfach aufgrund der Tatsache stellen und beantworten, weil sie Menschen sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie oder er ausdrücklich nach Gott fragen oder Frage und Antwort auf irgendeine andere Weise auf der Ebene spezifischer Begriffe und Terminologien formulieren, die mehr oder weniger angemessen sind. Es handelt sich, kurz gesagt, um die Frage nach der Bedeutung, die die letzte Wirklichkeit für uns hat, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wir als Menschen nun einmal stellen. Ich habe bereits erklärt, dass es sich gleichzeitig um die Frage nach der letzten Wirklichkeit dreht, vor allem nach der absolut letzten Wirklichkeit und um die Frage nach uns selbst, nach unserem authentischen Selbstverständnis, wenn man das im letzten Sinne Wirkliche voraussetzt. Insofern die existentielle Frage nach der letzten Wirklichkeit fragt, hat sie einen metaphysischen Aspekt. Durch ihn ist sie eng mit der Frage nach einer geeigneten Metaphysik verbunden und doch wiederum von ihr unterschieden. Und insofern sie nach unserem authentischen Selbstverständnis fragt, danach, wodurch wir berechtigt sind, uns selbst und alles andere im Licht der letzten Wirklichkeit in ihrer Eigenstruktur zu verstehen, hat sie auch einen ethischen Aspekt. Dadurch ist sie eng verbunden und doch wieder unterschieden von der spezifischen Frage der Ethik oder der Moral. Aber es ist, wie ich ebenfalls bereits früher dargelegt habe, typisch für den radikalen Monotheismus, dass die Frage nach Gott nicht der einzige Weg ist, auf dem die existentielle Frage nach der Bedeutung, die die letzte Wirklichkeit für uns hat, gestellt wird. Wurde erst einmal der Begriff „Gott“, wie es der radikale Monotheismus in all seinen Spielarten tut, als angemessen für die absolut letzte Wirklichkeit akzeptiert, dann stellt sich die existentielle Frage nicht länger in der einfachen Form: „Was ist die Bedeutung der absolut letzten Wirklichkeit für uns?“ Stattdessen lautet sie nun: „Was ist die Bedeutung Gottes für uns?“ Wie andere Formen des Monotheismus erzeugt auch der radikale Monotheismus in diesem Zusammenhang eine weitere Ebene von Begriffen und Terminologien, in denen man über die Bedeutung, die Gott für uns hat, nachdenkt und spricht. In der Tradition der hebräischen Schriften und des Judentums, die auch von dem Zeugnis der frühesten christlichen Gemeinschaft angenommen wird, spricht man zum Beispiel vom „Geist Gottes“, „dem Wort Gottes“ oder „der Weisheit Gottes“; es sind allesamt Weisen, die Bedeutung, die Gott für uns hat, im Unterschied zum Sein Gottes, wie es in sich selbst ist, zu umschreiben. In diesem Zusammenhang entstehen noch weitere Begriffe und Symbole, um jeden oder jegliches zu bezeichnen, der bzw. das Gott repräsentiert, indem er bzw. es dessen Bedeutung für uns mehr oder weniger vollständig zum Ausdruck bringt. In der eben erwähnten jüdischen Tradition finden wir daher Begriffe wie „Prophet“, „Priester“ und „König“. Jeder einzelne Begriff © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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bezeichnet eine Gestalt, die auf die eine oder andere Weise Gott repräsentiert, indem sie auf irgendeine Art der Bedeutung Gottes für uns Ausdruck verleiht. Dasselbe gilt für begriffliche Symbole wie „der Gottessohn“, der „Menschensohn“ oder der „Messias“, die allerdings eine gewisse Mehrdeutigkeit haben können. Unklar ist, ob diese begriffliche Terminologie primär die Bedeutung Gottes für uns bezeichnet, wie es bei „der Geist Gottes“, „das Wort Gottes“ oder „die Weisheit Gottes“ der Fall ist, oder ob sie vor allem auf historische Gestalten, Personen oder Ereignisse verweist, die die Bedeutung Gottes entscheidend re-präsentieren, um unsere Frage nach Gott zu beantworten und uns zu befähigen, zwischen allen anderen möglichen Re-Präsentationen zu entscheiden. Aber was auch immer der Typus oder die Ebene der begrifflichen Symbole ist, mit deren Hilfe die Formulierung erfolgt – ob diese sich auf Gott beziehen, auf Gottes Bedeutung für uns, auf diejenigen, die die Bedeutung re-präsentieren, oder auf einen, der sie in entscheidender Weise re-präsentiert – sie alle haben die religiöse Funktion, die Währung bereit zu stellen, um die existentielle Frage nach der Bedeutung der letzten Wirklichkeit für uns ausdrücklich zu stellen und zu beantworten. Meines Erachtens gibt die christologische Behauptung, in welcher Formulierung auch immer, auch eine Antwort auf diese existentielle Frage, indem sie die Frage: „Wer ist Jesus?“ unter historischer Perspektive beantwortet. Es spielt keine Rolle, ob der Prädikatterm der Behauptung „der Christus“ ist oder irgendein anderes begriffliches Symbol, das gegenüber dem Terminus „der Christus“ funktional äquivalent und daher mit ihm vertauschbar ist. In seiner Anwendung auf Jesus hat der Prädikatterm die Funktion zu versichern, dass Jesus in bestimmender Weise die Bedeutung Gottes für uns re-präsentiert, weil er ausdrücklich unsere existentielle Frage in Hinblick auf die beiden wesentlichen Aspekte, den metaphysischen und den ethischen, beantwortet. Der Prädikatterm der Behauptung hat also immer auf die eine oder andere Weise die Funktion zu bestätigen, wer Jesus ist ¢ nämlich die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung, die die letzte Wirklichkeit für uns hat. Dennoch ist Jesus als Subjekt der Behauptung zugleich derjenige, der interpretiert, wer „der Christus“ ist oder was durch irgendeinen anderen angemessenen, funktional äquivalenten und austauschbaren Prädikatterm bezeichnet wird. Wenn also ¢ um © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wiederum das Beispiel zu verwenden, das ich schon früher in meiner Diskussion über Gott benutzt habe – der vierte Evangelist im Prolog seines Evangeliums schreibt: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“, dann meint er offensichtlich damit implizit, dass Jesus der einzige Sohn im Schoß des Vaters ist (Joh 1,18; vgl. 1,14). Doch ganz offensichtlich ist das Wichtigste an seiner Behauptung nicht, Jesus nur rein formal als den einzigen Sohn Gottes zu bestimmen; es dreht sich noch grundsätzlicher auch darum, den einzig wahren Gott material als den Vater zu identifizieren, dessen einziger Sohn Jesus ist. Dadurch werden wir zu einer Existenz im gehorsamen Glauben an diesen Gott als authentischer Möglichkeit unseres Menschseins ermächtigt. Meine Antwort auf die erste der drei Fragen lautet daher in Kürze folgendermaßen: Die Frage, die die Christologie beantwortet, lautet nicht einfach: „Wer ist Jesus?“ Sie ist komplexer: „Wer ist Jesus? Wer ist der Christus? Und daher: Wer ist Gott? Und: Wer bin ich?“ Dabei sind die letzten drei existentiellen Aspekte dieser vielschichtigen Frage ihrerseits Momente einer einzigen existentiellen Frage, die grundlegend für den ersten, historischen Aspekt ist und von ihm vorausgesetzt wird. Deshalb ist die historische Frage nach Jesus, auf die die christologische Behauptung eine Antwort gibt, keine rein empirisch-historische Frage über Jesu Sein in sich selbst in der Vergangenheit. Es handelt sich vielmehr um eine existentiell-historische Frage über die Bedeutung Jesu für uns hier und jetzt in der Gegenwart. Damit tritt bereits die zweite der drei Fragen in den Blick, die sich auf Jesus als das Subjekt richtet, auf das sich die christologische Behauptung bezieht. Es sollte inzwischen klar sein, dass der Jesus, der das Subjekt der Behauptung ist, eine historische Person oder ein historisches Ereignis ist. Nur weil es eine besondere historische Erfahrung von genau dieser Person oder diesem Ereignis gibt, ist die Frage überhaupt möglich. Zwar muss diese Erfahrung nicht unmittelbar sein, wie sie es in dem einzigartigen Fall der frühesten christlichen Zeugnisse war. Dennoch muss es sich zumindest um eine vermittelte historische Erfahrung handeln in dem Sinn, dass sie durch die Erfahrung der ersten Zeugen und jeden ihrer Nachfolger vermittelt wurde, durch die deren Erfahrung irgendwann an uns weitergegeben wurde. Wenn aber der Jesus als das Subjekt der christologischen Behauptung in diesem weiten Sinn kein anderer ist, als „der Jesus der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Geschichte“ oder „der historische Jesus“, dann müssen wir klar und eindeutig zwischen dem unterscheiden, was ich als den „empirischhistorischen“ und den „existentiell-historischen Jesus“ bezeichne. Diese Differenzierung ist notwendig, weil wir uns nicht nur auf Jesus im Besonderen auf zwei unterschiedliche Weisen beziehen können, sondern auch auf Personen und Ereignisse der Vergangenheit im Allgemeinen: entweder empirisch, darauf, wie sie in sich selbst in der Vergangenheit existierten, oder existentiell in ihrer Bedeutung, die sie für uns hier und jetzt in der Gegenwart haben. Mit dem „empirisch-historischen Jesus“ meine ich somit die geschichtliche Wirklichkeit, auf die wir uns gewöhnlich durch den Eigennamen „Jesus“ oder „Jesus von Nazareth“ beziehen. Er wird in seinem Eigensein und unter der Perspektive der Vergangenheit betrachtet, soweit wir sie heute aufgrund empirisch-historischer Untersuchungen rekonstruieren können. Mit dem „existentiell-historischen Jesus“ meine ich dieselbe geschichtliche Wirklichkeit, allerdings in der Bedeutung, die sie für uns hier und jetzt in der Gegenwart hat, soweit wir sie aufgrund der mittelbaren oder gar unmittelbaren existentiellen Begegnung kennen können. Ich möchte betonen, dass wir es in beiden Fällen mit nichts anderem oder mit nichts weniger zu tun haben als mit dem historischen Jesus oder dem Jesus der Geschichte in dem sehr weiten, unspezifischen Sinn dieses Ausdrucks. Wir könnten nämlich, so wurde bereits gesagt, noch nicht einmal nach dem empirisch-historischen oder existentiell-historischen Jesus fragen, geschweige denn unsere Fragen beantworten, wenn wir nicht eine sehr spezielle, mittelbare oder sogar unmittelbare historische Erfahrung von ihm hätten. Aber da es keine ausreichende Erfahrung von Jesus geben könnte, die es erlauben würde, diese beiden Fragen jenseits der besonderen historischen Erfahrung von ihm zu stellen oder zu beantworten, können wir, die wir weder unmittelbare Zeitgenossen noch deren frühe Nachfahren sind, eine derartige Erfahrung heute nur aufgrund der Vermittlung durch deren Erfahrung erlangen. Wir können also nur hoffen, diese beiden Fragen auf der Grundlage ihrer Erfahrung zu beantworten. Deshalb müssen wir früher oder später auf die Zeugnisse zurückgreifen, die die unmittelbaren Zeitgenossen hinterlassen haben. Nur durch sie haben wir einen Zugang zu ihrer Erfahrung. Für alle praktischen Zwecke müssen wir demnach irgendwann auf die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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früheste Schicht des christlichen Zeugnisses von Jesus zurückgreifen, die wir heute rekonstruieren können. Meines Erachtens unterscheidet sich jedoch die Funktion dieser frühesten Schicht des Zeugnisses in signifikanter Weise, je nachdem welche der beiden Fragen beantwortet werden soll. In dem Bemühen, die empirisch-historische Frage nach dem Selbstsein Jesu zu beantworten, muss das Zeugnis als primäre empirisch-historische Quelle dienen, die es allerdings nicht ist. Wird es im Unterschied dazu benutzt, um die existentiell-historische Frage nach der Bedeutung Jesu für uns zu beantworten, dann kann das Zeugnis als primäre existentiell-historische Autorität fungieren, die es aufgrund seiner Intention auch tatsächlich ist. Aufgrund dieser Überlegungen ergibt sich folgende Antwort auf die zweite Frage, die in gewisser Weise bereits durch die auf die erste Frage festgelegt wird: Jesus als Subjekt der christologischen Behauptung ist der existentiell-historische und nicht der empirisch-historische Jesus. Die christologische Behauptung bezieht sich nicht auf den Jesus, den wir aufgrund empirisch-historischer Untersuchungen, die hinter das apostolische Zeugnis zurückreichen, nur mehr oder weniger deutlich erkennen können. Sie stützt sich vielmehr auf den Jesus, den wir schon durch das Zeugnis der Apostel und natürlich durch jedes andere christliche Zeugnis, das seinerseits aufgrund der substantiellen Übereinstimmung mit deren Zeugnis legitimiert ist, mit großer Sicherheit kennen können. Vielleicht kann eine Analogie, die ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt habe, dazu beitragen, mein Argument zu verdeutlichen. Diese Analogie, die von H. Richard Niebuhr in einer inzwischen klassischen Diskussion in seinem Buch The Meaning of Revelation eingeführt wurde, handelt von der Unterscheidung zwischen dem, was er die „externe“ und die „interne“ Geschichte nennt. Nebenbei bemerkt ist diese Unterscheidung meiner Ansicht nach vergleichbar mit der Art und Weise, in der ich die „empirisch-historische“ und die „existentiell-historische“ Sichtweise in der Vergangenheit miteinander verbinde. Niebuhr kontrastiert zwei völlig verschiedene Weisen, sich auf das Ereignis vom 4. Juli 1776 zu beziehen, miteinander: In einem Fall handelt es sich um die Beschreibung des Ereignisses, wie sie von einem zeitgenössischen britischen Historiker in der Cambridge Modern History gegeben wird; im anderen Fall dreht es sich um die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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offenkundige Anspielung auf das Ereignis durch Abraham Lincoln in den Eröffnungsworten seiner Ansprache in Gettysburg. Für unseren Zweck beruht die Bedeutung dieses Beispiels auf der Klärung der Frage, was ein amerikanischer Patriot wie Lincoln meint, wenn er von einem Ereignis spricht, das der Ursprung seiner Nation war. Offensichtlich meint er damit nichts anderes oder gar weniger als ein wirkliches historisches Geschehen. Es liegt seiner eigenen patriotischen Hingabe und der aller anderen amerikanischen Patrioten, die vor ihm lebten bis hin zu den Gründungsvätern selbst, zugrunde und unterscheidet sich von ihr. Genauso eindeutig ist es freilich auch, dass das einzige Ereignis, auf das sich der Patriot zu beziehen glaubt, ein existentiell-historisches Geschehen ist. Indem es die amerikanische Nation begründet hat, wird es zu der ursprünglichen Quelle, die seinem eigenen Patriotismus und dem aller anderen Amerikaner seine Berechtigung verleiht. Die gesamte Bedeutung des Ereignisses, auf die sich Lincoln bezieht, wird daher zusammengefasst, indem es mit der Geburtsstunde „einer neuen Nation, die in Freiheit empfangen und dem Hauptsatz gewidmet wurde, dass alle Menschen gleich geschaffen sind“, identifiziert wird. Ungeachtet dessen, was empirisch-historische Forschungen über das tatsächliche Geschehen enthüllen mögen, ist das einzige, was Lincoln oder irgendeinen amerikanischen Patrioten, für den er spricht, interessiert, dass es sich um den Ursprung einer Nation handelt, die auf diese Weise empfangen und gewidmet wurde. Damit gilt es als die ursprüngliche Quelle, die ihrem eigenen wie jedem anderen authentischen Amerikanertum seine Berechtigung verleiht. In analoger Weise, so kann man sagen, gehört das Ereignis, auf das sich die Zeugen des Neuen Testaments durch den Verweis auf Jesus beziehen, zum Ursprung der Kirche, deren Mitglieder sie sind. Es handelt sich um ein wirkliches Geschehen, das älter ist und nicht nur von ihrem Glauben und Zeugnis unabhängig ist, sondern auch von dem der Apostel, die die Kirche begründet haben. Aber die Analogie reicht noch weiter: Auch in diesem Fall wird die gesamte Bedeutung des Ereignisses, soweit es das Neue Testament betrifft, in Formulierungen zum Ausdruck gebracht, die es, in der einen oder anderen Begrifflichkeit und Terminologie, als existentiell-historisches Ereignis darstellen. Es ist gleichzeitig die entscheidende Offenbarung Gottes und die ursprünglich ermächtigende Quelle von allem, das als genuin © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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christlich gilt. Der Name „Jesus“ bezieht sich in allen Formulierungen, etwa in der Formulierung „Jesus ist der Christus“, deshalb niemals auf jemanden, den wir erst durch eine mehr oder weniger genaue empirisch-historische Untersuchung kennen lernen, die hinter das Zeugnis der Apostel und spätere Zeugen, die die Schriften des Neuen Testaments verfasst haben, zurückführt. Vielmehr bezieht sich der Name „Jesus“ auf den Einen, den wir bereits mit Gewissheit durch das apostolische Zeugnis und alle anderen Glaubenszeugnisse im Neuen Testament und aus der Zeit danach kennen, insofern sie mit dem formal-normativen Zeugnis der Apostel übereinstimmen. Nun gilt es noch die dritte Frage nach den Bedingungen zu klären, die erfüllt sein müssen, damit ein christologisches Prädikat, das Jesus als Bestimmungsmerkmal zugeschrieben wird, als glaubwürdig und wahr gelten kann. Gemäß der klassischen Antwort auf diese Frage kann Jesus wirklich als Christus oder als etwas anderes, was Christen ihm als bestimmend zuschreiben, bezeichnet werden, wenn, und nur wenn er selbst auf einzigartige Weise Gott im Menschen ist. Gott selbst ist somit irgendwie auf einzigartige Weise in einem menschlichen Wesen und als menschliches Wesen gegenwärtig. Im Unterschied dazu haben moderne revisionistische Christologien typischerweise diese Frage so beantwortet, dass sie von der Annahme ausgegangen sind, dass Jesus der Christus sein kann, wenn, und nur wenn er selbst auf einzigartige Weise der Mensch Gottes ist. Er gilt als ein menschliches Wesen, das irgendwie auf einzigartige Weise für Gott offen ist, ob er sich nun in einzigartiger Weise Gottes bewusst ist, an Gott glaubt, Gott gegenüber gehorsam ist, oder wie auch immer. Doch ungeachtet aller Unterschiede zwischen diesen beiden Antworttypen sind sie, wie ich an früherer Stelle dargelegt habe, im Wesentlichen identisch. Beide setzen dieselbe Frage über die Natur Jesu voraus, die sie als die eigentümlich christologische Frage ansehen. Meines Erachtens handelt es sich dabei jedoch gerade nicht um die christologische Frage, da diese, wie ich argumentiert habe, nach der Bedeutung fragt, die Jesus für uns hat. Damit meine ich selbstverständlich für uns alle als Menschen und nicht nur für uns als Christen. Weil die Christologie eine ganz andere Frage stellt und beantwortet, müssen sich auch die Bedingungen unterscheiden, die jede wahre Antwort erfüllen muss. Meines Erachtens ist es wahr, dass Jesus der Christus ansehen oder als all das, was Christen ihm als bestim© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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mend zuschreiben oder von ihm behaupten oder stillschweigend voraussetzen, wenn, und nur wenn die Möglichkeit des Selbstverständnisses, zu dem er uns ausdrücklich als unserem authentischen Selbstverständnis in Beziehung zur letzten Wirklichkeit ermächtigt, auch tatsächlich unser authentisches Selbstverständnis ist. Es handelt sich somit in Wahrheit um das Selbstverständnis, das immer schon, zumindest implizit, durch unsere bloße Existenz, aufgrund aller Erfahrungen und unserer Vernunft einfach als menschliche Wesen von der Bedeutung, die die letzte Wirklichkeit für uns hat, ermächtigt ist. Meiner Meinung nach ist daher Jesus nur dann wirklich und wahrhaftig derjenige, für den ihn die christologische Behauptung hält – nämlich die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung der letzten Wirklichkeit für uns – wenn er uns aufgrund der Bedeutung, die er für uns hat, explizit dazu ermächtigt, in der Weise zu existieren, zu der wir aufgrund unserer gesamten Erfahrungen als Menschen implizit immer schon aufgerufen sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob er selbst in irgendeiner einzigartigen Weise Gott im Menschen oder ein Mensch Gottes ist.

4.2 Jesus, der der Christus genannt wird So viel also zu der von mir so genannten formalen Analyse der christologischen Behauptung. Ich wende mich nun der zweiten wichtigen Aufgabe zu, der materialen Interpretation. Zu diesem Zweck möchte ich die materiale Identität des Subjektes der christologischen Behauptung betrachten, mithin Jesus selbst. Da der Sinn der christologischen Behauptung grundsätzlich ein existentieller ist, ist die Frage nach dem Subjekt der Behauptung, nach seiner materialen Identität, entscheidend. Alles hängt buchstäblich davon ab zu bestimmen, wer genau Jesus ist. Einzig und allein er kann das erfüllen, was andernfalls in Bezug auf seine entscheidende Bedeutung für die menschliche Existenz und damit die Bedeutung der letzten Wirklichkeit für uns ein rein formaler Anspruch bliebe. Natürlich ist meine Antwort auf die Frage, wer Jesus material ist, bereits schriftlich dokumentiert. Ich hätte nichts von dem, was ich über Gott, die Schöpfung und die menschliche Existenz oder in Bezug auf die Theologie selbst gesagt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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habe, formulieren können, ohne dass ich bereits von einer Antwort ausgegangen wäre. Aber nun bin ich, wie ich bereits erklärt habe, dafür verantwortlich, auch für das zu argumentieren, was ich bisher einfach angenommen und von woher ich argumentiert habe. Ich muss meine Behauptung einlösen, dass Charles Wesley vollkommen Recht hatte, als er in den Worten von „Love Divine, All Loves Excelling“ bekannte: „Jesus, du bist allumfassendes Mitgefühl, reine, grenzenlose Liebe bist du.“ Ich möchte zwei Thesen in Erinnerung rufen, die schon aufgrund dessen, was ich früher in dieser oder anderen Diskussionen gesagt habe, bekannt sind: (1) dass der Jesus, der das Subjekt der christologischen Behauptung ist, der existentiell-historische Jesus ist, der sich von dem empirisch-historischen Jesus unterscheidet; und (2), dass das formal-normative Zeugnis, durch das die Angemessenheit aller anderen Zeugnisse über Jesus beurteilt wird, das ursprüngliche, schöpferische und damit konstitutive Zeugnis der Apostel ist. Das bedeutet für uns heute, nicht der Kanon des Neuen Testaments als solcher, sondern die früheste Schicht des christlichen Zeugnisses, die der „Kanon vor dem Kanon“ ist. Sie können wir nun rekonstruieren, indem wir die erhaltenen Schriften des Neuen Testaments als Quellen benutzen und unsere besten historischen Methoden und das beste Wissen einsetzen. Wenn diese beiden Thesen stimmen, dann ist der Jesus, der der Christus genannt wird, der existentiellhistorische Jesus, den die früheste Schicht der synoptischen Tradition bezeugt, mithin die Tradition, die hinter den erhaltenen synoptischen Evangelien liegt. Ich spreche, indem ich einem der führenden Kenner dieser frühesten Schicht der Jesus-Tradition, Willi Marxsen, folge, von dem „Jesus-Kerygma“. Obwohl die einzelnen Einheiten, aus denen es besteht, ein christliches Zeugnis von Jesus in Form eines Kerygmas oder einer Verkündigung und kein historischer Bericht sind, handelt es sich gleichwohl um eine Verkündigung von Jesus und nicht um eine von Christus oder gar von Jesus Christus. Mit anderen Worten gesagt: Es handelt sich lediglich um eine implizite und nicht um eine explizite Christologie. Vermutlich gilt das auch für Jesu eigene Christologie, wenn oder insofern seine Verkündigung eine solche überhaupt beinhaltet hat. Unsere Frage nach der materialen Bedeutung Jesu Christi oder – in den Worten des Neuen Testaments – nach „Jesus, der der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Christus genannt wird“, ist letztendlich die Frage nach dem Jesus, wie er durch das Jesus-Kerygma bezeugt wird. Die Gelehrten, die sich mit dem Jesus-Kerygma befassen, stimmen im Wesentlichen darin überein, dass seine religiösen Annahmen die der späten jüdischen Apokalyptik mit ihrer charakteristisch dualen, wenn auch nicht dualistischen Weltanschauung sind. Sie unterscheidet zwischen zwei Zeitaltern: dem gegenwärtig herrschenden bösen Weltzeitalter, das sich nun, wie man glaubte, dem Ende näherte; und dem neuen Zeitalter, das Gott bald zusammen mit dem Gericht und der Erfüllung des gegenwärtigen Zeitalters heraufführen würde. Dabei würde Gottes Versprechen gegenüber Israel eingelöst, durch das es für lange Zeit erhalten wurde und von dem es, als Gottes auserwähltes Volk, Zeugnis ablegen sollte. Der Unterschied gegenüber dem Jesus-Kerygma beruht freilich darauf, dass es sich um ein Zeugnis gegenüber Jesus selbst als dem entscheidenden Akt handelt, durch den das heraufziehende neue Zeitalter Gottes schon begonnen hat. Durch die Person oder das Ereignis Jesus von Nazareth hat Gott bereits in einer bestimmten Weise gehandelt, um die Gemeinde der letzten Tage aus ihrer Zerstreuung zusammen zu rufen, das neue Israel der Heiligen und Erwählten, die schon im Hier und Jetzt aus Gottes Zukunft leben. Das Entscheidende am Jesus-Kerygma ist natürlich, dass es, indem es Jesus bezeugt, auch andere zu der Entscheidung auffordert, Jesus dieselbe Bedeutung zu verleihen wie es die tun, die sich schon zur „Nachfolge“ entschieden haben und ihn nun verkünden. Doch der entscheidende Aspekt an ihrem Kerygma, durch den sich erklärt, dass es als „Jesus-Kerygma“ bezeichnet wird, ist, dass es Jesus selbst als Gottes entscheidenden Akt nur implizit verkündet, als Gottes eigenen Ruf zur Entscheidung. Jesus selbst wird dabei als derjenige dargestellt, der Gottes unmittelbar bevorstehendes Reich oder Gottes Herrschaft verkündet. Dadurch verleiht Jesus der bloßen Tatsache seiner eigenen Verkündigung eine entscheidende Bedeutung. Sie konfrontiert seine Hörer bereits mit der Entscheidung, entweder einfach im alten Zeitalter weiter zu leben oder, obgleich sie noch im alten Zeitalter verbleiben, dennoch das Wagnis einzugehen, in Gottes neuem Zeitalter zu leben. In diesem Sinne heißt es in der stilisierten Zusammenfassung am Beginn des Markus-Evangeliums: „Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,14 – 15) Viele historisch-kritische Wissenschaftler, die sich mit den christlichen Ursprüngen befassen, stimmen darin überein, dass Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich als apokalyptischer Prophet und Lehrer mit einer solchen Verkündigung aufgetreten ist. Auf der einen Seite hat er das nahe Bevorstehen von Gottes Herrschaft verkündet, auf der anderen die Möglichkeit und die Notwendigkeit betont, dass seine Hörer schon jetzt eine Umkehr in ihrem Leben vollziehen und sich selbst im Sinne der frohen Botschaft von Gottes Reich verstehen sollen. Aber ungeachtet der Frage, ob der empirisch-historische Jesus tatsächlich ein apokalyptischer Prophet und Lehrer war, so wie ihn das Jesus-Kerygma darstellt, oder nicht, liegt der Akzent des JesusKerygmas genauso wie der des späteren Christus- und des JesusChristus-Kerygmas mit den expliziteren Christologien darauf, herauszustellen, dass Jesus selbst eine entscheidende Bedeutung für jeden Hörer der Verkündigung hat, genauso wie für die, die ihn verkünden. Durch Jesus selbst, durch alles, was er als Prophet und Lehrer sagte und tat, hat bereits Gott selbst in einer Weise gehandelt. Dadurch wird jeder, der ihm begegnet, mit Gottes Gabe und Anspruch konfrontiert – entweder unmittelbar im Fall der Jünger, oder mittelbar durch die Jünger, die nun aufgrund ihrer eigenen Erfahrung und ihres Zeugnisses zu Aposteln geworden sind. Aber was genau sind, material gefragt, Gottes Gabe und Anspruch, soweit sie entscheidend durch Jesus re-präsentiert werden? Es handelt sich, mit einem Wort gesagt, um die Gabe und den Anspruch der Liebe, von grenzenloser Liebe. Sie ermächtigt die menschliche Existenz zum gehorsamen Glauben in dem doppelten Sinn von berechtigt und befähigt, zu einem Glauben, der durch Liebe wirkt und einer Liebe, die sich als Gerechtigkeit inkarniert. Nach dem Jesus-Kerygma bedeutet daher Jesus selbst mit allem was er sagt und tut Liebe. Es handelt sich um Gottes zuvorkommende Liebe für alle von uns auf der Grundlage unseres gehorsamen Glaubens an Gottes Liebe und um die erwidernde Liebe zu Gott und für alle, die Gott liebt. Hier wiederum schließen die meisten Forscher, die sich mit den christlichen Ursprüngen befassen, dass die das Jesus-Kerygma beinhaltenden Traditionen nicht nur bezeugen, dass Jesus Liebe bedeutet, sondern auch behaupten, dass er Liebe bedeutete. Mit anderen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Worten: Sie gehen davon aus, dass der empirisch-historische Jesus tatsächlich durch alles, was er sagte und tat, beabsichtigte, alle, mit denen er zu tun hatte, mit der Liebe Gottes für jeden Einzelnen und mit seinen Möglichkeiten als individueller Person zu konfrontieren. Sie sollten sich Gottes Liebe anvertrauen, um der Sache Gottes treu zu sein und ihr eigenes Leben als ein Leben in Liebe zu führen. Meines Erachtens spricht alles für diese empirisch-historische Schlussfolgerung und nichts gegen sie, außer natürlich die prinzipielle Schwierigkeit, das zu erschließen, was Jesus tatsächlich beabsichtigte oder was er wirklich sagte und tat. Es lässt sich nur durch die bestenfalls sekundären empirisch-historischen Quellen erschließen, die durch keine primären Quellen kontrolliert werden und auch nicht kontrollierbar sind. Aber was auch immer es mit dem empirisch-historischen Jesus auf sich gehabt haben mag, ob er in dem genannten Sinn Liebe bedeutete oder nicht: Der existentiell-historische Jesus, wie ihn das Jesus-Kerygma verkündet, wird als derjenige gesehen, der Liebe bedeutet – und zwar nicht nur gegenüber seinen Zeitgenossen oder denen, die ihn verkünden, sondern auch gegenüber all jenen, an die sich deren Verkündigung wendet. Durch Jesus selbst, so versichern sie, wird Gottes Liebe auch in Zukunft entscheidend re-präsentiert sein als Gabe und Anspruch, der uns dazu ermächtigt, in gehorsamem Glauben an Gott und in Liebe für ihn und für alle, die Gott lieben, zu existieren. Ich möchte jedoch noch einmal betonen, dass es entscheidend ist, dass das Jesus-Kerygma diese Behauptung über Jesus lediglich implizit macht,¢ nicht durch das, was es explizit über ihn sagt, sondern dadurch, dass es das, was es über ihn sagt, nicht als Bericht, sondern als Kerygma, als Glaubenszeugnis ausspricht. Als solches hat es einen zweifachen Sinn: Es erwächst aus der Entscheidung zum Glauben derer, die es überbringen und es ruft dabei diejenigen, denen es überbracht wird, zu derselben Glaubensentscheidung auf. Wenngleich das Jesus-Kerygma die christologische Behauptung nicht ausdrücklich ausspricht, sondern sie nur impliziert, befähigt es uns dennoch dazu, das zu verstehen, was jede Formulierung der Behauptung in der einen oder anderen Terminologie erklären muss, wenn sie das explizit machen will, was das Jesus-Kerygma in seinem Dass, wenn auch nicht in seinem Was beinhaltet. Wenn irgendeine explizite Formulierung der Behauptung in dem Sinn gültig sein soll, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über Jesus Christus

dass sie Jesus Christus gegenüber angemessen ist, weil sie im Wesentlichen mit dem formal-normativen Zeugnis der Apostel übereinstimmt, dann behauptet sie ausdrücklich, dass Jesus, insofern er Liebe bedeutet, die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung ist, die Gott für uns hat. Die Bedeutung der absolut letzten Wirklichkeit für uns ist daher nichts anderes oder gar weniger als das „allumfassende Mitgefühl“, die „reine, grenzenlose Liebe“, die Jesus selbst bedeutet. Meiner Meinung nach handelt es sich genau um das, was, auf die eine oder andere Weise und mehr oder weniger angemessen, in den verschiedenen expliziten Christologien, die sich im Neuen Testament finden, behauptet wird. Ob nur oder vorrangig in der Terminologie der späten jüdischen Tradition, der Apokalyptiker oder gar in den Begriffen der einen oder anderen nicht-jüdischen religiösen Traditionen, die in der Griechisch sprechenden Ökumene wie der Gnosis oder den Mysterienreligionen vorkamen: Die verschiedenen, mehr oder weniger expliziten Christologien, die wir in den Schriften des Neuen Testaments finden, sind nichts anderes als viele verschiedene Wege, diese grundlegende Behauptung, die schon das Jesus-Kerygma der Apostel beinhaltet, zu formulieren oder neu zu formulieren. Dieser Gedanke scheint mir vor allem in Hinblick auf die Christologie von Kreuz und Auferstehung wahr zu sein. Sie entwickelte sich schon ziemlich früh. Klare Anzeichen finden sich bereits vor Paulus, obwohl die klassische Interpretation erst in seinen Briefen vorgelegt wird. Für diese spezielle Form des Christus-Kerygmas gelten Jesu Kreuzigung und seine Auferstehung durch die Macht Gottes als das erlösende Ereignis. Es ist Gottes befreiendes Weltgericht, durch das alle, die bereit sind mit Christus zu sterben, mit ihm neu geboren werden. Erstaunlich für den Historiker des Neuen Testaments ist jedoch, dass diese explizite Christologie in den frühesten Schichten des christlichen Zeugnisses, das die implizite Christologie des JesusKergymas bildet, vollständig fehlt. Im Jesus-Kerygma sind die erlösenden Ereignisse nicht Tod und Auferstehung Jesu, sondern Jesu Verkündigung oder Zeugnis, für die das Dass, nicht das Was entscheidend ist. Das Ereignis besteht in der Verkündigung oder dem Überbringen der Botschaft und der Begegnung der Hörer mit deren Angebot. Es ist dieses Ereignis, das die synoptische Tradition im Allgemeinen in allem, was Jesus sagt und tut für das erlösende Ereignis © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Jesus, der der Christus genannt wird

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hält. In dieser gesamten Tradition gibt es folglich nur zwei Passagen, in der Jesus so dargestellt wird, dass er von seinem Tod als dem Ereignis der Erlösung spricht (eines davon ist die Passage, in der er von seinem Tod als „Lösegeld“ (Mk 10,45) redet, die andere sind die Worte, die in Verbindung mit dem letzten Abendmahl gesprochen werden (Mk 14,22 – 24)). Beide Passagen sind offensichtlich relativ spät, da sie nicht in der frühesten Gemeinde Palästinas, sondern in der späteren hellenistischen Kirche ihren Ursprung haben. Auffallend ist außerdem, dass die Sprüche der hypothetischen Quelle Q weder über das Kreuz noch über die Auferstehung als erlösendem Ereignis etwas zu sagen haben. Natürlich ist, wie Marxsen argumentiert hat, die Tatsache, dass das Jesus-Kerygma auch nach dem Tod Jesu weiter als Kerygma verkündet wurde, ein implizites Zeugnis seiner Auferstehung. Auch nach seinem Tod und ungeachtet seiner Kreuzigung wurde er von seinen Jüngern als lebendig erfahren; er erschien als derjenige, der noch immer Gottes Liebe entscheidend re-präsentiert und zum gehorsamen Vertrauen in sie und der Treue zu ihr ermächtigt. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Jesus-Kerygma keine explizite Christologie von Kreuz und Auferstehung kennt und deshalb eine derartige Christologie tatsächlich bereits eine Neuformulierung des apostolischen Zeugnisses ist. Auf den ersten Blick könnte sie im Verdacht stehen, ein „anderes Evangelium“ zu erzählen als das, das ursprünglich von den Aposteln selbst verkündet wurde. Genau aus diesem Grund bin ich absolut nicht willens, die ausdrückliche Christologie von Kreuz und Auferstehung – oder, wenn man will, von Karfreitag, Ostern und Pfingsten – als die Verkündigung des Neuen Testaments zu bevorzugen. Ich bin vollkommen damit einverstanden, dass die noch späteren expliziten Christologien von den Kindheitserzählungen oder der Himmelfahrt auf etwas Fundamentaleres zurückgeführt werden müssen, wodurch ihre Bedeutung verstanden und ihre Gültigkeit als angemessenes christliches Zeugnis bewertet werden kann. Dennoch widerspreche ich der Auffassung, dass das, worauf sie zurückverweisen, die explizite Christologie von Kreuzigung und Auferstehung ist. Diese Christologie ist nicht die Christologie, die normierend ist (christologia normans), sondern eine der Christologien, die normiert werden muss (christologia normanda) – und zwar durch die implizite Christologie der Apostel, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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mithin durch das Jesus-Kerygma, das durch die früheste Schicht der synoptischen Tradition bezeugt wird. Doch ich bin davon überzeugt, dass der einzige Punkt, den Paulus mit seiner Christologie von Kreuz und Auferstehung hervorheben wollte, im Wesentlichen derselbe ist, den die Apostel mit ihrer bloß impliziten Christologie zum Ausdruck bringen wollten. Indem Paulus Kreuz und Auferstehung Jesu als Gottes befreiendes Weltgericht darstellt – oder, wie er es auch ausdrückt, als Gottes Versöhnung der Welt mit Gott selbst (2Kor 5,18ff ) – will er nichts anderes sagen, als dass Jesus Liebe bedeutet, dass er selbst die entscheidende Re-Präsentation von Gottes Liebe für uns ist, dass er uns ausdrücklich zu unserem gehorsamen Glauben, der durch Liebe wirkt, ermächtigt und zwar in dem Doppelsinn von berechtigt und befähigt. Ich kann diesen wichtigen Aspekt an dieser Stelle nicht weiter vertiefen – indem ich etwa zeige, dass andere Christologien des Neuen Testaments, für die das entscheidende, erlösende Ereignis die Geburt Jesu oder seine Annahme durch Gott bei der Taufe ist, ebenfalls nur funktional äquivalente, austauschbare Darstellungsformen sind, die denselben existentiellen Sinn hervorheben. Ich muss mich damit begnügen, mein Argument zusammenzufassen: Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus, ist die entscheidende Re-Präsentation von Gottes Liebe. Ungeachtet aller Unterschiede in der Terminologie, in denen diese Behauptung in den einzelnen Christologien und im Vergleich zu der bloß impliziten Christologie des Jesus-Kerygmas formuliert wird, sind die expliziten Christologien des Neuen Testaments wohl allesamt mehr oder weniger angemessene Wege, genau diesen Gedanken auszudrücken, wenn man die unterschiedlichen historischen Situationen, in denen und für die sie formuliert wurden, berücksichtigt.

4.3 Zur Freiheit hat uns Christus befreit Wenn der vorangehende Abschnitt den Sachverhalt erfolgreich dargelegt hat, dann sollte der Leser jetzt zumindest ein gewisses Verständnis haben, warum ich davon ausgehe, dass die materiale Bedeutung Jesu Christi die entscheidende Re-Präsentation von Gottes © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Liebe als Gabe und Anspruch an unsere eigene Existenz in gehorsamem Glauben, der durch Liebe wirkt, ist. Damit sollte aber auch klar geworden sein, wie man meines Erachtens vorgehen müsste, um die Angemessenheit aller zeitgenössischen konstruktiven Christologien zu beurteilen. Eine Christologie, die in und für unsere heutige Situation entwickelt wurde und in Bezug auf Jesus Christus angemessen sein soll, weil sie mit dem formal-normativen Zeugnis der Apostel wesentlich übereinstimmt, muss in irgendeiner Weise die Behauptung, dass der Jesus, der Liebe bedeutet, die entscheidende Re-Präsentation der Bedeutung Gottes und damit der absolut letzten Wirklichkeit für uns ist, interpretieren und neu formulieren. Einer der Wege, auf dem eine solche zeitgenössische Christologie sicherlich entwickelt werden könnte, ist die Ausarbeitung einer adäquaten Christologie der Befreiung. Bedenkt man die Bedeutung der Frage nach Befreiung und Emanzipation heute für viele Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit, dann begreift man sehr schnell, warum sich eine ganze Reihe christlicher Denker mit einem derartigen Projekt befasst hat. Jesus selbst als Befreier und die von ihm re-präsentierte Erlösung als Befreiung zu verstehen bedeutet, in einer Terminologie zu sprechen, in der viele Menschen heute normalerweise bei der Suche nach einer Antwort auf die existentiellen Fragen, die sich ihnen als Menschen stellen, denken und sprechen. Doch damit erhebt sich natürlich sofort die Frage, ob diese Art zu denken und zu sprechen, auch Jesus Christus gegenüber angemessen und deshalb in grundlegender Übereinstimmung mit dem bloß impliziten, und dennoch formal-normativem Zeugnis der Apostel ist. Vorausgesetzt, man versteht das, was mit „Befreier“ und „Befreiung“ gemeint ist, richtig, dann ist das Projekt meines Erachtens angemessen. Wenn der Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus, der Jesus ist, der Liebe bedeutet – und zwar Gottes zuvorkommende Liebe für uns und damit unsere Möglichkeit, die Liebe zu erwidern und Gott und alle, die Gott liebt, zu lieben – wenn also dieser Jesus auf diese Weise richtig verstanden wird, dann kann man mit Sicherheit sagen, dass Jesus auch Freiheit bedeutet. Dieser Gedanke ist auf jeden Fall richtig, wenn man bereit ist zu erkennen, dass im gehorsamen Glauben an Gottes zuvorkommende Liebe für uns und in der erwidernden Liebe für Gott und den Nächsten wie sich selbst zu existieren bedeutet, in radikaler Freiheit zu existieren. Diese Freiheit hat den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Doppelsinn einer Freiheit von sich und anderem und einer Freiheit für sich selbst und alle Mitgeschöpfe. Weil Gottes Liebe für uns absolut grenzenlos ist und jedem frei angeboten wird, der bereit ist, sie zu empfangen, kann niemand von uns jemals vom letzten Sinn des Lebens getrennt werden. Das Annehmen von Gottes Liebe durch gehorsamen Glauben bedeutet daher, von sich selbst und von jeglichem befreit zu werden als einer in jeder Hinsicht notwendigen Bedingung für ein im eigentlichen Wortsinn sinnhaftes Leben. „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib; lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.“ Aus demselben Grund ermöglicht das Annehmen von Gottes Liebe durch gehorsamen Glauben die Freiheit für alle Dinge genauso wie die Freiheit von ihnen. Weil Gottes Liebe absolut grenzenlos ist und jeden und jegliches umgreift, hat alles, was ist, in Gott seinen letzten Sinn. Dadurch wird es zum Gegenstand unserer erwidernden Liebe für Gott. In Bezug auf die Mitmenschen kann man nur frei für sie sein, wenn man ihre Freiheit zu sein und sie selbst zu werden fördert. Es kommt darauf an, sie darin zu unterstützen, handelnde Subjekte oder Agenten ihrer Selbsterschaffung zu werden, anstatt bloß passive Objekte oder Opfer der Selbsterschaffung anderer. In diesem Sinne ist die Existenz in gehorsamem Glauben, dessen Möglichkeit entscheidend durch Jesus repräsentiert wird, eine befreiende ebenso wie eine befreite Existenz. Es handelt sich um eine Existenz für die eigene Freiheit und die aller anderen ebenso wie um eine Existenz in der Freiheit, die Gabe und Anspruch von Gottes Liebe ist. Aus diesem Grund scheint mir das Projekt einer Christologie der Befreiung in höchstem Maße angemessen zu sein. Wenn „Befreiung“ die Existenz radikaler Freiheit meint, die durch den gehorsamen Glauben in Gottes Liebe begründet wird und unter „dem Befreier“ der Eine verstanden wird, der zu einer derartigen Existenz in Freiheit überhaupt erst ermächtigt, dann steht es meines Erachtens außer Frage, dass die Christologie, die im Jesus-Kerygma enthalten ist, wesentlich, wenn nicht sogar formal, eine Christologie der Befreiung ist. Der Jesus, von dem sie Zeugnis ablegt, ist schließlich der Eine, der eine derartige Existenz radikaler Freiheit entscheidend re-präsentiert. Aber ist es genau diese „Christologie der Befreiung“, die die heutigen Konzeptionen meinen? Ist die Christologie der Befreiung, für deren Angemessenheit ich gerade argumentiert habe, nicht einfach die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Art von Christologie der Befreiung, die Paulus und Johannes bereits auf ihre Weise zur Zeit des Neuen Testaments entworfen haben? Und wurde nicht schon längst geklärt, dass das, was sie unter „Freiheit“ verstanden haben, nicht das ist, was mit dem Terminus „Befreiung“ und verwandten Termini, wie sie heute im christlichen Zeugnis und in der Theologie verbreitet sind, gemeint ist? Der Einwand ist gut formuliert. Soweit es mich persönlich betrifft, steht die Christologie der Befreiung, deren Umrisse ich nachgezeichnet habe, material, wenn nicht sogar formal, der Christologie, die Paulus im Brief an die Galater vorschlägt und der, die Johannes im achten Kapitel seines Evangeliums voraussetzt, sehr nahe. Wie ich ausführlich im letzten Kapitel von The Point of Christology dargelegt habe ist aber meines Erachtens eine Existenz in Freiheit in dem spezifisch christlichen Sinn des Wortes notwendig eine Existenz für die Freiheit auch in ihrer zeitgenössischen, säkularen Bedeutung von sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Freiheit. Kurz: Mein Argument ist, dass der Glaube aufgrund seiner Natur durch Liebe wirkt und dass die Liebe sich dann immer als Gerechtigkeit inkarniert, was bedeutet, jeder Person das ihr oder ihm Eigene (suum cuique) zu geben. Die Liebe tut dies, indem sie den Bedürfnissen jeder Person Rechnung trägt und dann so handelt, dass sie diesen so weit wie möglich entspricht. Aber unabhängig davon, was für frühere Generationen gegolten haben mag, wissen wir heute, dass Gerechtigkeit in diesem Sinn nicht allein dadurch erreichbar ist, dass man innerhalb der etablierten sozialen und kulturellen Ordnungen tätig ist. Diese Ordnungen sind allesamt menschliche Schöpfungen, Produkte menschlicher Entscheidungen und nicht naturgegeben oder Manifestationen der Natur Gottes. Deshalb tragen Menschen auch die Verantwortung für die Erhaltung dieser schon von ihren Vorfahren entwickelten Ordnungen und, wenn nötig, auch für deren Verbesserung und Transformation. Insoweit etablierte Strukturen der sozialen oder kulturellen Ordnung dazu beitragen, die Ziele, für die sie geschaffen wurden, zu erreichen, sollten sie erhalten werden, um auch in Zukunft diesen Zielen zu dienen. Insoweit jedoch diese Strukturen für die Realisierung der Ziele hinderlich sind, müssen sie entweder verbessert werden, so dass sie den Zielen nützen oder möglicherweise sogar radikal transformiert werden. Die Arbeit an der Erhaltung, Verbesserung und/oder Transformation sozialer und kul© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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tureller Strukturen ist in unsere Verantwortung, Gerechtigkeit zu verwirklichen, eingeschlossen, die ihrerseits mit Notwendigkeit in der fundamentalen Forderung der Liebe enthalten ist. Die christliche Freiheit unterscheidet sich zwar zweifellos von allen Formen der säkularen Freiheit. Dennoch bedeutet eine Existenz in christlicher Freiheit, in der man im Glauben existiert, der durch Liebe wirkt, die sich als Gerechtigkeit inkarniert, dass man auch um der Verwirklichung der säkularen Freiheit in all ihren relevanten Formen willen existiert. Dann aber hat die von mir vorgeschlagene Christologie der Befreiung denselben Anspruch auf diesen Namen wie jede andere. Tatsächlich ist ihr Anspruch ungleich höher: Ihre Sorge um die Wahrung der säkularen Freiheit und damit für die Befreiung in all ihren Spielarten wurde nicht von irgendwoher übernommen und einfach dem christlichen Glauben und dem christlichen Leben auferlegt. Sie ist in der Freiheit verwurzelt, zu der Christus uns befreit hat. Wenn somit mit guten Gründen von einer Christologie der Befreiung gesprochen werden kann, dann berechtigt die Inklusion einer Existenz für säkulare Freiheit als Integral einer Existenz im Glauben auch dazu, von einer Christologie der Befreiung zu reden. Dabei handelt es sich nicht um irgendeinen bloß abstrakten, ätherischen oder außerweltlichen Sinn; gemeint ist ein konkreter, irdischer, diesseitiger Sinn, der bedeutet, in Solidarität mit allen zu existieren, die unterdrückt sind und zu handeln, um sie von ihrer Unterdrückung zu befreien.

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5. Über den Heiligen Geist

5.1 Benötigen wir eine „Theologie des Heiligen Geistes“? Als Christ, der in der Vereinigten Methodistischen Tradition steht, wurde ich oft stillschweigend oder ausdrücklich mit der Behauptung konfrontiert, dass die Theologen dieser Tradition einen besonderen Grund haben, sich mit einer Theologie des Heiligen Geistes zu befassen. Ihr charakteristischer Beitrag zu einer ökumenischen Theologie sollte in der Tat vor allem in der Entwicklung einer derartigen Theologie bestehen. Ich bezweifle jedoch ernsthaft die Gültigkeit dieses Anspruchs. Ich bin überzeugt, dass sogar für einen Theologen, der als Christ in der Vereinigten Methodistischen Tradition steht, die Aufgabe der christlichen systematischen Theologie nicht mehr mit dem zu tun hat, was die Vereinigten Methodisten gewöhnlich geglaubt und bezeugt haben, als mit dem traditionellen Glauben und den Zeugnissen von Christen im Allgemeinen. Wenn diese Auffassung stimmt, dann gibt es für Theologen der Vereinigten Methodistischen Tradition keinen größeren Anlass als für jeden anderen christlichen Theologen, sich mit der Entwicklung einer Theologie des Heiligen Geistes zu befassen. Außerdem lassen sich, zumindest im Fall von John Wesley, die Person und das Wirken des Heiligen Geistes in keiner Weise herauslösen, um sie in einer gesonderten theologischen Abhandlung zu thematisieren. Auch die große Rolle, die Wesley zugestandenermaßen dem Heiligen Geist einräumt, erfordert keine derartige Behandlung. Im Gegenteil: Auffallend in seiner Theologie sind die ausgewogenen trinitarischen Formulierungen, die es in Fülle gibt. So schreibt er etwa in seiner Predigt „The Scripture Way of Salvation“ das göttliche Wirken in der Seele, das umgangssprachlich als „natürliches Gewis© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über den Heiligen Geist

sen“ bezeichnet wird (und das seiner Meinung nach treffender „zuvorkommende Gnade“ genannt werden sollte), nicht in besonderer Weise dem Heiligen Geist zu; es handelt sich vielmehr um die gesamte Trinität. Er entwickelt daher den Gedanken der „zuvorkommenden Gnade“, indem er sagt, dass all die „Anziehung“ des „Vaters“, das Sehnen nach Gott, die, wenn wir ihnen nachgeben, mehr und mehr anwachsen; all das „Licht“, womit der Sohn Gottes „jeden erleuchtet, der in die Welt kommt“, das jedem Menschen zeigt, „das Rechte zu tun, die Güte zu lieben und demütig mit seinem Gott zu gehen“; all die Überzeugungen, die sein Geist von Zeit zu Zeit in jedem Menschenkind erwirkt, obwohl es wahr ist, dass die Mehrzahl der Menschen sie so bald wie möglich erstickt und vergisst oder zumindest nach einer Weile leugnet, dass sie sie jemals überhaupt hatten.1

Das auffallende Fehlen der verbindenden Konjunktion „und“ in der Formulierung zwischen (1) „der Anziehung des Vaters“; (2) dem Licht, mit dem der Sohn erleuchtet; und (3) den Überzeugungen des Heiligen Geistes erlaubt es, Wesley so zu deuten, dass es sich für ihn einfach um drei verschiedene Wege handelt, um von dem einen Werk des dreieinigen Gottes ad extra, das die zuvorkommende Gnade ist, zu sprechen. Keiner dieser Wege scheint geeigneter oder wichtiger zu sein als der andere. Aber der entscheidendere Punkt, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, ist die eigenartige Stellung, die die Lehre vom Heiligen Geist in der gesamten Geschichte des christlichen Zeugnisses und der christlichen Theologie gehabt hat. Es ist wohlbekannt, dass die volle Göttlichkeit des Heiligen Geistes solange nicht eindeutig vertreten wurde, bis die des Sohnes dogmatisch bestimmt worden war. Und sogar die Endversion des Apostolischen Glaubensbekenntnisses verblüfft mit seinem einfachen, unentwickelten Bekenntnis: Die Formulierung „Ich glaube an den Heiligen Geist“ lässt dessen präzise Identität und Funktion gänzlich unbestimmt und sagt nichts über die Gleichheit des Geistes mit dem Vater. Dabei könnte man mit Fug und Recht daran erinnern, dass die anderen Überzeugungen, die im dritten Artikel bekannt werden – „Ich glaube an … die heilige, katholische Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der 1

Outler, ed. The Works of John Wesley, Bd. 2: Sermons II, 156 – 57. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

„Theologie des Heiligen Geistes“

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Sünden, die Auferstehung des Leibes und das ewige Leben“ – allesamt einige wichtige Behauptungen in Hinblick auf die Person und das Wirken des Heiligen Geistes enthalten. Außerdem wurde in vielen, wenn nicht gar den meisten theologischen Auslegungen des christlichen Zeugnisses die Bedeutung des Heiligen Geistes nicht dadurch erklärt, dass man dem Geist, wie ich es hier tue, ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Stattdessen hat man den Geist in jedem der anderen, unterschiedlichen Kapitel, wo es relevant war, thematisiert. So wurde der Heilige Geist typischerweise in der orthodoxen Dogmatik in dem Kapitel „Über die Heilige Schrift“ in Verbindung mit den Lehren von der Inspiration der Schrift und dem „inneren Zeugnis des Heiligen Geistes“ (testimonium spiritus sancti internum) behandelt. Oder der Geist wurde in dem Kapitel „Über Gott“ vor allem in dem Abschnitt „Der dreieinige Gott“ in Verbindung mit den Lehren vom „Hervorgang des Heiligen Geistes aus dem Vater und dem Sohn“ und vom „inneren“ Wirken der Trinität – Erzeugung und Beseelung – sowie die „äußeren“ Werke – Schöpfung, Erlösung und Heiligung ¢ thematisiert. Im Kapitel „Über Christus“ wurde der Heilige Geist üblicherweise in Verbindung mit den Lehren über die wunderbare Empfängnis Christi durch den Heiligen Geist und der Sendung des Geistes bei dessen Taufe berücksichtigt. In der Lehre von der Erlösung wurde der Geist behandelt, indem diese als „die angewandte Kraft (oder die Gnade) des Heiligen Geistes“ dargestellt wurde. In der Ekklesiologie wiederum wurde der Geist in Verbindung mit der Lehre vom Ursprung der Kirche an Pfingsten und der Lehre von der Natur der Kirche als communio sanctorum (als Gemeinschaft der Heiligen, heiliger Personen und/oder heiliger Dinge) erwähnt. Schließlich wurde die Bedeutung des Heiligen Geistes auch in dem Kapitel „Über die letzten Dinge“, insbesondere in Verbindung mit der Lehre von der letzten Ausschüttung des Geistes über alles Fleisch (Apg 2,17 – 21), dargelegt. Diese Skizze, die die verschiedenen Wege darstellt, auf denen in der orthodoxen Theologie der Heilige Geist gedacht und bezeichnet wurde, zeigt die umfassende Bedeutung des Heiligen Geistes für das christliche Verständnis der menschlichen Existenz. Sie verdeutlicht allerdings auch, dass es kaum nötig zu sein scheint, dem Geist ein eigenes Kapitel zu widmen, um dieser Bedeutung einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. Dabei wird freilich angenommen, dass man © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über den Heiligen Geist

davon ausgeht, dass die herkömmliche Behandlung des Heiligen Geistes in keiner Weise unangemessen ist, wenn man ihre charakteristischen Voraussetzungen und Begrenzungen akzeptiert. Die Relevanz dieses Punktes soll das unterstreichen, was bereits mehrmals gesagt oder stillschweigend impliziert wurde: Es gibt keine platonische Idee von der vollkommenen christlichen Theologie, von der jede Theologie, die verantwortlich oder adäquat sein soll, ein Abbild sein muss. Wie man sich mit dem Heiligen Geist befasst und möglicherweise sogar, ob man überhaupt eine gesonderte Lehre von dem Geist entwickelt, ist etwas, das man, bedenkt man die gesamte Geschichte des christlichen Zeugnisses und der Theologie, frei und verantwortlich auf der Grundlage des eigenen Verständnisses des christlichen Glaubensverständnisses entscheiden muss. In Bezug auf diese Frage wurde meiner eigenen Freiheit und Verantwortung, sei es zum Guten oder Schlechten, durch die Entscheidung, dem Heiligen Geist im Rahmen des christlichen Glaubensverständnisses ein eigenes Kapitel zu widmen, bereits vorgegriffen. Im Folgenden werde ich also zunächst ganz allgemein die Beziehung zwischen einem Verständnis des Heiligen Geistes und dem spezifisch christlichen Glauben und der christlichen Erfahrung erläutern. Dann werde ich die Lehre, die ich gerne in Hinblick auf die Person und das Werk des Heiligen Geistes entwickeln würde, kurz darstellen. Schließlich werde ich darauf hinweisen, was ich unter dem „Leben im Geiste“ oder „nach dem Geist“ verstehe. Hierzu gehören einige Bemerkungen darüber, was es bedeutet, so zu leben, wenn man eine besondere Berufung hat und ein repräsentativer Amtsträger der Kirche und damit auch ein professioneller Theologe ist.

5.2 Der Heilige Geist im christlichen Glauben und in der christlichen Erfahrung Der amerikanische neutestamentliche Theologe John Knox hat zwei Thesen aufgestellt, deren Verbindung mir schon vor langer Zeit als fruchtbar erschienen ist. Zum einen sagt er, dass das einzige Überbleibsel des Ereignisses Christi die Kirche war. Der einzige Unterschied zwischen der Welt, wie sie unmittelbar nach dem Ereignis © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Der Heilige Geist im christlichen Glauben

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war und der Welt, wie sie unmittelbar davor war, ist, dass nunmehr die Kirche existierte. Eine neue Art der menschlichen Gemeinschaft war entstanden, eine neue Gesellschaft geboren. Darüber hinaus gab es absolut nichts. Diese neue Gemeinschaft bewahrte lebhafte Erinnerungen an das Ereignis, das sie würdigte und dem sie ihren Anfang verdankte. Sie hatte einen neuen Glauben. Dadurch sah sie die Natur der Welt und Gottes in einem neuen Licht. Sie fand in ihrem eigenen Leben den Grund einer wunderbaren Hoffnung in Form einer vorweggenommenen Erfüllung. Aber die Erinnerung, der Glaube und die Hoffnung gehörten ihr allein; außerhalb von ihr existierten sie weder noch hatten sie eine Grundlage. Nur die Kirche existierte wirklich. Das Ereignis hatte allein für die Kirche stattgefunden.2

Ohne jeden Zweifel handelt es sich um eine provokative Darlegung des Standpunktes von Knox, von dem man einige Formulierungen gerne in Frage stellen würde. Doch meines Erachtens sagt er etwas absolut Wesentliches über das Verständnis des Christentums als historischer Wirklichkeit und über jedes adäquate theologische Verständnis der christlichen Existenz. Von einem historischen Standpunkt aus gesehen kann man ohne die Gefahr, in Widersprüche zu geraten, sagen, dass „der einzige Überbleibsel des Ereignisses Christi die Kirche war“. Dabei muss man natürlich mitdenken, dass die Kirche dann ihre Markierungen in einem sehr viel größeren historischen Umfeld auf allen möglichen direkten wie indirekten Wegen hinterlassen hat. Die Kirche hat sich selbst immer als eine Erwiderung auf ein ihr vorausliegendes Ereignis verstanden, das unabhängig von ihr war. Trotzdem hat sie immer, und zwar mit guten Gründen, behauptet, dass der einzige Zugang zu diesem Ereignis nur in und durch ihr eigenes Leben und Zeugnis möglich ist. Im Glauben und in der Erfahrung individueller Christen ist es daher immer nur in und durch die Kirche möglich, an dem Ereignis Jesu Christi teilzunehmen. Es ist nicht nur der Ursprung der Kirche in der Geschichte, sondern der prinzipielle Ursprung ihrer Existenz als Kirche. Die Kirche existiert als Kirche nur weiter, weil oder insoweit sie die Gemeinschaft einer gläubigen und Zeugnis ablegenden Erwiderung auf das Ereignis Jesu Christi ist. Dabei kann kein Christ, der die Bedingungen seiner eigenen Existenz versteht, jemals daran denken, das Ereignis gegen die 2

Knox, The Early Church and the Coming Great Church, 45. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über den Heiligen Geist

Kirche in einer Weise auszuspielen, die die Kirche als unwichtig erscheinen lässt. Dieser Gedanke gilt ungeachtet des Urteils, das sie oder er über einige oder mehrere institutionellen Kirchen fällen oder sogar für notwendig erachten. Wir mögen zwar gegenüber allen christlichen Kirchen, auch gegenüber unserer eigenen, kritisch sein und müssen es sogar immer sein. Doch der alleinige Grund für die Angemessenheit unserer Kritik und die einzige Grundlage für ein Kriterium, ist die Kirche selbst als die Gemeinschaft einer gläubigen und Zeugnis ablegenden Erwiderung auf das entscheidende Ereignis Jesu Christi. In einem anderen Abschnitt desselben Buches macht Knox jedoch eine völlig andere Aussage: [D]ie frühe Kirche teilte nicht nur eine gemeinsame Erinnerung; sie hatte auch an einem gemeinsamen Geist teil … [B]eide gehören untrennbar zusammen. Hätte man sich nicht an das Ereignis erinnert, hätte der Geist nicht kommen können; aber ohne den Geist hätte das Ereignis nicht in der Form erinnert werden können, in der es erinnert wurde, da es nicht genau so hätte geschehen können, wie es geschehen ist. Denn das Ereignis war, in seinem abschließenden Ergebnis, das Kommen des Heiligen Geistes. Nur die, die den Heiligen Geist empfangen hatten, konnten sich wirklich an das Ereignis erinnern, da nur für sie das Ereignis wirklich eingetreten war.3

Während in der ersten Aussage, die wir betrachtet haben, Knox gesagt hat, dass „die Kirche“ das „einzige Überbleibsel“ des Ereignisses war, sagt er hier, dass das „abschließende Ergebnis“ des Ereignisses im „Kommen des Heiligen Geistes“ bestand. Die Bedeutung dieses, meines Erachtens nur scheinbaren, Widerspruchs beruht darauf, dass die zweite Aussage das theologisch ausdrückt, was die erste primär historisch formuliert. Meiner Meinung nach ist es für den christlichen Glauben und die christliche Erfahrung charakteristisch, die Kirche als die Gemeinschaft des Heiligen Geistes zu denken und auf diese Weise von ihr zu sprechen. Dem entspricht, dass Christen den Heiligen Geist als die befähigende Gegenwart denken und bezeichnen, dessen fortdauerndes Wirken ausdrücklich und entscheidend vermittels der Gemeinschaft der Kirche zur Erscheinung kommt. Die Kirche ist, wie wir 3

Ibid., 55 – 56. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gleich noch detaillierter sehen werden, die Gemeinschaft, die erst als sichtbare Gemeinschaft durch das explizite Kommen des Heiligen Geistes entstanden ist. In ihr findet das Ereignis Jesu Christi, das diese Gemeinschaft konstituiert, fortwährend durch das Zeugnis des Heiligen Geistes statt. Die Existenz der Kirche als der Gemeinschaft gläubigen Gehorsams, die auf die entscheidende Selbstoffenbarung Gottes durch Jesus antwortet, verdankt sich somit der Gabe des göttlichen Geistes. Indem Christen der Kirche als dem unmittelbaren Grund ihres eigenen christlichen Glaubens und Zeugnisses begegnen, müssen sie diese Begegnung als eine Begegnung mit Gott verstehen – mit Gottes eigenem Heiligen Geist. Gerade so wie die Kirche die Gemeinschaft ist, die Gottes Heiliger Geist ins Dasein ruft, so kann die historische Gemeinschaft, die die Kirche ist, theologisch angemessen nur als die sichtbare und hörbare Gegenwart von Gottes Heiligem Geist verstanden werden. Wie Irenäus am Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus gesagt hat, „ist dort, wo die Kirche ist, der Geist Gottes, und wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und die gesamte Gnade“. Ergänzen möchte ich freilich, dass es eine implizite ebenso wie eine explizite Gegenwart der Kirche gibt, genauso wie eine implizite und eine explizite Gegenwart des Heiligen Geistes. So viel also in Form eines allgemeinen Kommentars zu der Beziehung des christlichen Verständnisses des Heiligen Geistes zum spezifisch christlichen Glauben und der genuin christlichen Erfahrung. Der Punkt, den ich hervorheben wollte, beinhaltet somit zwei Aspekte: (1) dass die Kirche als die sichtbare Gemeinschaft des Zeugnisses, das sie gegenüber Jesus Christus ablegt, an der grundlegenden Autorität der Apostel teilhat, die ausdrücklich jeden spezifisch christlichen Glauben und eine genuin christliche Erfahrung autorisiert; und (2) dass die ursprüngliche Quelle, die zu einem derartigen Glauben, einer solche Erfahrung und der Autorität der Kirche ausdrücklich ermächtigt, wesentlich das beinhaltet, was Christen unter dem „Heiligen Geist“ verstehen, genauso unbezweifelbar und fundamental wie das, was sie mit „Jesus Christus“ meinen.

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5.3 Der Herr als Lebensspender Aber wie genau ist der Heilige Geist tatsächlich in der ursprünglichen Quelle des Glaubens und der Erfahrung der Christen beinhaltet, die als solche die Mitglieder der Gemeinschaft sind, die sich Kirche nennt? Ich werde diese Frage beantworten, indem ich eine zusammenfassende Erklärung der Lehre über den Heiligen Geist anbiete, wie sie meines Erachtens entwickelt werden sollte. Das Apostolische Glaubensbekenntnis ist, wie ich bereits angemerkt habe, in Bezug auf das Sein und das Wirken des Heiligen Geistes auffallend unklar. Doch aufgrund der eindeutigeren Formulierungen des sogenannten Glaubensbekenntnisses von Nicäa wissen wir, wie der Heilige Geist seit den Zeiten des Neuen Testaments über einen langen Zeitraum verstanden wurde, nämlich als „der Herr, der Lebensspender“. Christen haben „im Heiligen Geist“ gemeinhin Gott den Lebensspender gesehen, den Einen, der im Anfang uns unser Leben als Geschöpfe gibt. Daher galt der Geist als die ursprüngliche Quelle unserer Existenz als solcher; und der Geist erschien vor allem als der Eine, der uns am Ende unser neues Leben gibt. Auf diese Weise wurde der Geist als die ursprüngliche Quelle einer authentischen Existenz in gehorsamem Glauben, der durch Liebe wirkt, begriffen. Wenn wir das Wesentliche in eine einzige These zusammenzufassen, können wir sagen: Der Heilige Geist ist die befähigende Gegenwart Gottes als der einzigen, ursprünglichen Quelle eines authentischen Glaubens und authentischer Liebe ebenso wie unserer Existenz als Kreaturen. Der zentrale Punkt wirkt weniger mysteriös oder unergründlich, wenn wir für einen Augenblick darüber nachdenken, wie es dazu kommt, dass wir tatsächlich bereit sind, unseren Glauben oder unser Vertrauen einer anderen Person zu schenken. Wo immer unser Vertrauen in jemand anders real ist, sind wir uns immer mehr oder weniger deutlich bewusst, dass wir dies nicht uns selbst verdanken, obwohl der Vertrauensakt für sich genommen mit Sicherheit unser eigener freier und verantwortlicher Akt ist. Unser Vertrauen wird vielmehr im buchstäblichen Sinn durch die befähigende Gegenwart einer anderen Person in uns hervorgerufen, die sich uns als treu und daher, wie wir sagen, als vertrauenswürdig offenbart. Kurz: Sogar in unseren gewöhnlichen zwischenmenschlichen Beziehungen ist unser Vertrauen in eine andere Person eine Gabe, etwas, das wir nicht uns © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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selbst, sondern dem Anderen verdanken. Dasselbe könnte man meines Erachtens von unserer Treue zu oder unserer Liebe für jemanden sagen. Analoges gilt für das Vertrauen in und die Treue zu Gott, oder, in anderen Worten, für den gehorsamen Glauben an Gott und die erwidernde Liebe zu Gott wie zu allen, die Gott liebt. Das christliche Zeugnis und die christliche Theologie verstehen unter dem Heiligen Geist Gott als die ursprüngliche Quelle, deren Präsenz uns zu unserer authentischen Existenz und zu unserer Existenz als solcher befähigt. Unter dem Sohn Gottes, der in Jesus Christus inkarniert ist, verstehen sie dieselbe ursprüngliche Quelle, insoweit sie uns dazu berechtigt, in authentischem Glauben und authentischer Liebe zu existieren. Ich rufe hier meine frühere Darstellung der Lehre von der Trinität noch einmal in Erinnerung. Ich habe die konventionelle Unterscheidung zwischen der „ökonomischen Trinität“ oder der „Trinität der Offenbarung“ auf der einen Seite und der „ontologischen Trinität“, der „essentiellen Trinität“ oder der „immanenten Trinität“ auf der anderen Seite akzeptiert. Die ökonomische Trinität oder die Trinität der Offenbarung wurde folgendermaßen erklärt: Gott wird durch Jesus Christus offenbart als die ursprüngliche Quelle, die uns zu unserer authentischen Existenz ermächtigt. Der Terminus „ermächtigen“ oder auch „autorisieren“ hat den Doppelsinn von berechtigen, uns das Recht geben, und von befähigen, uns die Kraft geben, uns selbst authentisch zu verstehen. Betrachtet man Gott als die ursprüngliche Quelle, die uns zu unserer authentischen Existenz ermächtigt, dann enthüllt Gott sich als der Vater; wird Gott als die ursprüngliche Quelle angesehen, die uns dazu berechtigt oder das Recht verleiht, uns selbst so zu verstehen, zeigt sich Gott als der Sohn; und betrachtet man Gott als die ursprüngliche Quelle, die uns dazu befähigt oder uns die Kraft verleiht, uns derart selbst zu verstehen, dann offenbart sich Gott als der Heilige Geist. Dann aber beinhaltet die ökonomische Trinität oder die Trinität der Offenbarung als notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit die ontologische, essentielle oder immanente Trinität. Es handelt sich somit um die Trinität, die Gott in Gottes Eigensein oder in sich selbst sein muss, um, wie Christen glauben, die ursprüngliche Quelle unserer authentischen Existenz zu sein. Geht man davon aus, dass diese ursprüngliche Quelle unserer Authentizität niemand anders als Gott © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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selbst ist und sein muss, um überhaupt Gott sein zu können, dann kann man die ontologische, essentielle oder immanente Trinität folgendermaßen charakterisieren: Mit der einen Substanz Gottes ist genau genommen der eine Gott gemeint, der als die konkrete, ursprüngliche Quelle aller Seienden ebenso wie unserer authentischen Existenz das eine universale, allumfassende Individuum ist, das zugleich liebt und von sich und allen anderen geliebt wird. Unter den drei Personen verstehen wir auf der anderen Seite die abstrakten Unterscheidungen, die notwendig in der Individualität Gottes als diesem einen universalen Individuum enthalten sind. Zusammengefasst bedeutet das: (1) Gottes Individualität als solche, als des universalen Individuums, das gleichermaßen liebt und von sich und allen anderen geliebt wird (Gott der Vater); (2) Gottes Objektivität oder Gottes Individualität in Hinblick darauf, dass Gott von sich selbst und allen anderen geliebt wird (der Gottessohn); und (3) Gottes Subjektivität oder Individualität als den alles Liebenden, der Gott selbst und alle anderen liebt (Gott als Heiliger Geist). Soweit es die Person des Heiligen Geistes betrifft, ist sie vom Standpunkt der Offenbarung aus oder ökonomisch gesehen, die befähigende ursprüngliche Quelle gehorsamen Glaubens, der durch Liebe wirkt; unter der essentiellen, ontologischen oder immanenten Perspektive ist der Heilige Geist Gott als das universale Subjekt der Liebe. Ähnlich ist der Sohn, der in ökonomischer Hinsicht die berechtigende ursprüngliche Quelle der Authentizität ist, essentiell oder ontologisch Gott als das universale Objekt der Liebe – von Gottes eigener Liebe ebenso wie von der Liebe aller Kreaturen. Was das Wirken des Heiligen Geistes angeht, insofern es das sogenannte äußere Wirken oder das Wirken ad extra betrifft, ist es nicht, noch kann es etwas anderes sein als das äußere Wirken von Vater und Sohn. Das gilt gemäß der alten Regel, dass „das äußere Wirken der Trinität ungeteilt [unter den drei Personen] ist“ (opera trinitatis ad extra indivisa sunt). Das Wirken des dreieinigen Gottes ad extra und damit auch das des Heiligen Geistes besteht darin, zu schaffen und zu vollenden, zu befreien und zu retten. Bei Menschen und anderen Wesen, die in Sünde gefallen sind, beruht es auch darauf, sie zu erlösen. Soweit es uns angeht, verleiht uns Gottes Wirken somit nicht nur unsere Existenz und befreit uns von unserer Bindung an die Verderbnis, indem es unser Leben durch Gottes Leben umfasst. Es © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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erlöst uns auch von der Sünde, indem es uns aufs Neue dazu berechtigt und befähigt, unser Leben allein Gottes Liebe anzuvertrauen und gläubig nur der Sache Gottes zu dienen, ungeachtet der Tatsache, dass wir bereits in Unglauben und Götzendienst, in Misstrauen und Untreue existiert haben. Selbstverständlich hat es auch in der theologischen Tradition die Lehre von den „trinitarischen Zueignungen“ gegeben: Das äußerliche Wirken des dreieinigen Gottes in Form der Schöpfung und der Befreiung kann der Person des Vaters „zugeeignet“ werden; das äußerliche Wirken der Vollendung und Rettung, insofern es die Rechtfertigung und Heiligung sündiger Kreaturen betrifft, kann in ähnlicher Weise der Person des Sohnes beziehungsweise der des Heiligen Geistes „zugeeignet“ werden. Die Lehre von den sogenannten Appropriationen führte jedoch allzu oft zum Festhalten an der Überzeugung, dass das äußere Wirken jeder der drei göttlichen Personen nicht voneinander unterschieden werden kann, es sei denn, es wird auf subtile Weise unterlaufen. Wie dem auch sei: Das Ergebnis des Wirkens des Heiligen Geistes bei der Erlösung unterscheidet sich nicht von dem des Vaters und des Sohnes. Da Gott dreieinig ist und auch unser Gott ist, der jeden von uns hier und jetzt mit der Gabe und dem Anspruch der Liebe konfrontiert, sind wir und sollten wir radikal frei sein – in dem doppelten Sinn von frei von uns selbst und der Welt und für uns selbst und die Welt, getragen vom allumgreifenden Schutz und im Angesicht des Anrufs von Gottes Liebe. Soweit ich mir die zuvorkommende Liebe Gottes zueigne und mit gehorsamem Glauben und erwidernder Liebe auf Gottes berechtigende und befähigende Gegenwart in meinem Leben antworte, in dem Maß ist mein Leben ein befreites Leben, befreit sowohl von der Macht wie von der Schuld der Sünde. Gleichzeitig handelt es sich um ein befreiendes Leben, frei für alle Kreaturen, um zu lieben, ihnen zu dienen und damit dazu beizutragen, sie zu befreien. Nun müsste klar geworden sein, dass ich bei der Entwicklung der Lehre vom Heiligen Geist nicht von dem Vorgehen abgewichen bin, um das ich mich in den vorangehenden Diskussionen bemüht habe. Indem ich, wie in diesem Kapitel, mit dem christlichen Glauben und der christlichen Erfahrung begonnen habe, habe ich in Wirklichkeit auch mit dem christlichen Zeugnis und der konstitutiven christolo© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gischen Behauptung angefangen. Für sie ist Jesus von entscheidender Bedeutung für die menschliche Existenz, weil er in maßgeblicher Weise die Bedeutung Gottes und damit die der letzten Wirklichkeit für uns re-präsentiert. Ich sage, dass ich mit dieser Behauptung „in Wirklichkeit“ begonnen habe, weil die christologische Behauptung in der einen oder anderen Formulierung den christlichen Glauben und die christliche Erfahrung ausdrückt. Anders als in der vorausgehenden und nachfolgenden Erörterung richtet sich im gegenwärtigen Kapitel unsere Aufmerksamkeit jedoch auf die notwendigen Implikationen dieser Behauptung und damit auf die des christlichen Glaubens und der christlichen Erfahrung, die sie ausdrückt. In diesem Fall haben wir uns weder auf die Schöpfung noch auf die menschliche Existenz konzentriert, noch auf die Person und das Wirken Jesu Christi oder das Sein und Handeln des dreieinigen Gottes. Stattdessen haben wir die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung Gottes für uns fokussiert. Als Gottes Präsenz befähigt der Heilige Geist unsere Existenz zu gehorsamem Glauben und ermöglicht allererst unsere Existenz und die aller anderen Kreaturen. Aber dank des Zeugnisses von Paulus sollte die Verbindung mit der konstitutiven christologischen Behauptung klar sein. Danach kann niemand „sagen: „Jesus ist der Herr!“, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet“; dann aber gilt auch das Umgekehrte: „Keiner, der aus dem Geist Gottes redet, sagt: Jesus sei verflucht!“(1Kor 12,3)

5.4 Leben im Geiste Es ist das befreite und befreiende Leben, auf das gerade verwiesen wurde, das Leben radikaler Freiheit, das in Gottes zuvorkommender Liebe gründet, entscheidend durch Jesus Christus re-präsentiert wird und durch den Heiligen Geist vermittels des Glaubenszeugnisses der Kirche bestätigt wird. Es handelt sich um ein Leben im Heiligen Geist, oder, wie Paulus es auch ausdrückt, um ein Leben „nach dem Geist“ (kata` pneu˜ma). Als solches ist es gleichzeitig (1) der Existenzmodus von allen, die auf die zuvorkommende Liebe Gottes mit gehorsamem Glauben, mit Vertrauen und Treue und mit erwidernder Liebe antworten, und (2) der immer neue Akt des Existierens, zu dem sie immer und immer wieder neu in jedem Augenblick ihrer Existenz © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gerufen werden. Mit anderen Worten: Ein Leben im oder nach dem Geist muss dialektisch oder paradox in indikativen wie imperativen Termini beschrieben werden. Darin folgen wir den Worten, die Paulus an die Galater richtet: „Wenn wir aus dem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen.“ (Gal. 5,25) Ich bitte den Leser darum, sich an dieser Stelle die strenge Parallele ins Gedächtnis zu rufen, die ich bereits zuvor zwischen der Existenz im Geist und der Existenz in der Sünde hervorgehoben habe. In beiden Fällen besteht dieselbe dialektische oder paradoxe Beziehung zwischen (1) dem Existenzmodus und (2) dem immer neuen Akt des Existierens. Wir sind Sünder, die in dem Zustand oder in der Verfassung der Sünde leben nur in und durch unseren immer neuen Akt des Sündigens; genauso ist unser immer neuer Akt des Sündigens der Ausdruck unseres Zustandes oder der Verfassung unseres Existenzmodus als Sünder. In ähnlicher Weise existieren wir im Geist oder nach dem Geist nur in und durch unseren immer neuen Akt des gehorsamen Glaubens, der durch Liebe wirkt; und dieser immer neue Akt des Vertrauens in Gottes Liebe und der Treue zur Sache Gottes drückt seinerseits unseren neuen Existenzmodus im Geist aus. Das Hauptmerkmal eines Lebens im Geist, das darin besteht, dem Geist zu folgen, ist ganz einfach die Liebe im Sinn der Treue zu Gott und damit zu allen, zu denen Gott treu ist. Dadurch beinhaltet es die Annahme unseres Nächsten wie unserer selbst und den aktiven Dienst an allen kreatürlichen Bedürfnissen, in denen diese ihren Ausdruck findet. Es handelt sich, mit Paulus gesprochen, um „den Glauben, der in der Liebe wirksam ist“(Gal 5,6) – und, wie ich gerne ergänze, um eine Liebe, die sich selbst als Gerechtigkeit inkarniert. Während „die Werke des Fleisches“ nach Paulus „Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Mißgunst, Trink- und Eßgelage und ähnliches mehr sind“, so ist „die Frucht des Geistes […] Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.“ (Gal 5,19 – 23) Dieses Leben der Liebe und des Dienstes im oder nach dem Geist kann und muss, so gilt es hervorzuheben, in jedem Bereich unserer Existenz in der Welt geführt werden. Es sollte daher alle Formen der Gesellschaft und der Kultur, der säkularen wie der religiösen, durchdringen. Es sollte explizit in allen Formen der Religion, aber © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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auch implizit in allen säkularen sozialen und kulturellen Formen gelebt werden: in Moral, Politik, Wissenschaft, den Künsten und so weiter. Egal, was wir denken, sprechen oder tun ist der eine Beweis der Liebe und damit eines Lebens in oder nach dem Geist, ein Leben, das erschafft und aufbaut. In den Worten von Paulus an die Korinther gesprochen: „Alles geschehe so, dass es aufbaut.“(1Kor 14,26) Für einen repräsentativen Amtsträger der Kirche und damit indirekt auch für einen professionellen Theologen bedeutet diese Lebensweise vor allem, eine Gabe des Heiligen Geistes zu kultivieren und zu praktizieren. Auf diese Gabe verweist Paulus in 1 Korinther 12,10 als der „Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden.“ Schon aufgrund seines reflexiven Charakters sollte deutlich geworden sein, dass es sich dabei gewiss nicht um die einzige oder sogar elementare Gabe des Heiligen Geistes handelt: Wäre nicht schon etwas gegenwärtig, das beansprucht, ein Werk des Geistes zu sein, dann wäre es weder möglich noch notwendig, diesen Anspruch durch die Unterscheidung der Geister zu prüfen. Es gibt, wie Paulus sagt, unterschiedliche Gaben, genauso wie verschiedene Dienste und Arbeiten. Doch keine ist grundlegender für die Kirchenleitung oder die kritische Reflexion über die Bedeutung und die Geltung ihres Zeugnisses als eben diese Gabe der Unterscheidung der Geister. Es gilt zwischen dem zu unterscheiden, was wirklich vom Geiste Gottes ist und dem, was irgendeinem anderen Geist und damit letztendlich einem bösen, dämonischen Geist entstammt, der zerstört und herabzieht, anstatt eine wahrhaft menschliche Existenz und Gemeinschaft zu schaffen und aufzubauen. Es gibt eine alte Redensart, die Martin Luther sehr liebte, gemäß der „derjenige gut lehrt, der wohl unterscheidet.“ Ich stimme ihr mit ganzem Herzen zu und möchte nur ergänzen, dass sie verallgemeinert werden kann und sollte, um nicht nur die Lehre, sondern das gesamte Wirken jedes Kirchenführers und Theologen zu umfassen. Dann aber müssen alle zur Kirchenleitung berufenen Personen in besonderem Maß für die Gabe des Geistes beten, die sich in der Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, manifestiert. Wenn ihr Gebet ernsthaft ist und nicht aus leeren Worten besteht, werden sie sich verpflichtet fühlen, kontinuierlich in allem, was sie denken, sagen und tun an der Kultivierung genau dieser Fähigkeit zu arbeiten.

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6. Über die Kirche

6.0 Einleitende Bemerkungen In der folgenden Ausführung über die Kirche möchte ich mich mit den Fragen befassen, wodurch die Kirche konstituiert wird oder was sie re-präsentiert und was die Kirche ihrerseits konstituiert oder wodurch sie re-präsentiert wird. In Hinblick auf die erste Frage werde ich drei Hauptfragen stellen und beantworten: (1) Was konstituiert die Kirche als Kirche? (2) Was ist die charakteristische Aufgabe der Kirche? (3) Was sind die Verpflichtungen der Mitgliedschaft in der Kirche? In Hinblick auf die zweite Frage werde ich mich nur zu einer einzigen Hauptfrage äußern: (4) Was sind die Mittel, mit denen die Kirche ihre charakteristische Aufgabe erfüllt? Aus diesen Fragen erklärt sich die Gliederung der Darstellung in diesem Kapitel in vier Hauptabschnitte. Ich werde durchweg mit den Grundbegriffen arbeiten, die ich vor allem in den beiden vorangehenden Erörterungen über Jesus Christus und den Heiligen Geist verwendet habe. Ich verweise auf alle Termini, die mit den Leitideen von „Autorität“ und „Ermächtigung“ verbunden sind und möchte an die zusammenfassende Stellungnahme zu meiner Christologie erinnern: Jesus Christus, so habe ich formuliert, ist das Ereignis, durch das Gott uns entscheidend zu einer authentischen Existenz ermächtigt. Sie wird verstanden als eine Existenz in gehorsamem Glauben in Gottes zuvorkommende Liebe und, auf der Grundlage dieses Glaubens, der erwidernden Liebe für Gott und alle, die Gott liebt. Bei der Formulierung der Lehre vom Heiligen Geist bin ich dann in meiner Argumentation davon ausgegangen, dass eine derartige Ermächtigung, wie jede andere, die mit Recht so genannt wird, zwei verschiedene, untrennbare Aspekte enthält: Sie berechtigt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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uns oder gibt uns das Recht zu einer solchen Existenz im Glauben, der durch Liebe wirkt und einer Liebe, die sich als Gerechtigkeit inkarniert; und sie befähigt uns oder gibt uns die Kraft, auf diese Weise zu existieren. Vor dem Hintergrund dieses Arguments hatte ich in der Darlegung über das Gottesverständnis schon vorgeschlagen, dass wir nicht über die Trinität und damit den Heiligen Geist sprechen müssen; gleichwohl dürfen und sollten wir aber über den Geist als Manifestation von Gottes eigener Gegenwart und Macht sprechen, als einer Kraft, die uns dazu befähigt, in gehorsamem Glauben, der durch Liebe wirkt, zu existieren. In vergleichbarer Weise dürfen wir auch über den Sohn als das Wort oder die wesentliche Begründung dieser selben göttlichen Präsenz sprechen, die uns dazu berechtigt oder das Recht verleiht, so zu existieren. In diesem Zusammenhang habe ich verdeutlicht, dass Jesus Christus als das Ereignis, durch das das Wort Gottes entscheidend re-präsentiert wird, die explizite, ursprünglich autorisierende Quelle eines gehorsamen Glaubens ist, der durch Liebe wirkt und einer Liebe, die sich als Gerechtigkeit inkarniert. Das normative Zeugnis der Apostel dagegen ist die primäre Autorität, die durch diese ursprüngliche Quelle vermittels des Heiligen Geistes legitimiert wird. In der Tradition der Kirchen der Reformation, in der ich selbst stehe, über die Kirche, genauer gesagt, über die sichtbare Kirche, zu sprechen, bedeutet, über die Gemeinschaft zu reden, die durch dieses normative apostolische Zeugnis konstituiert wird. Nach Paulus hat Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt und uns, mithin alle, die dazu bereit und aufgerufen sind, damit betraut, mit der Berufung der Apostel das Amt und das Wort der Versöhnung zu teilen (2Kor 5,18ff ). Die grundlegenden Ideen, die ich weiter entwickeln möchte, sind folgende: (1) die Idee des dreieinigen Gottes als der impliziten ursprünglichen Quelle einer authentischen Existenz im Glauben, der durch Liebe wirkt und einer Liebe, die sich als Gerechtigkeit inkarniert; (2) die Idee von Jesus Christus als der expliziten ursprünglichen Quelle, die zu einer solchen Existenz ermächtigt und, genauer gesagt, uns dazu berechtigt, so zu existieren; (3) die Idee des Heiligen Geistes als dem anderen wesentlichen Aspekt der Befähigung, der zu dieser ursprünglichen Quelle gehört, insofern sie implizit in unserer Existenz als solcher und explizit im normativen Zeugnis der Apostel in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Einleitende Bemerkungen

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Hinblick auf Jesus Christus ist; und (4) die Idee der sichtbaren Kirche als der Gemeinschaft, die durch die explizite ursprüngliche Quelle ermächtigt ist. Sie ist die Gemeinschaft, die durch Jesus Christus berechtigt und durch den Heiligen Geist befähigt ist, auf diese Weise zu existieren. Dadurch bildet sie die primäre Autorität, die eine solche Existenz ermächtigt. An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass diese wenigen grundlegenden Ideen zwei gleichermaßen fundamentale Unterscheidungen beinhalten: (1) zwischen der ursprünglichen Quelle der Autorität und der primären Autorität; und (2) zwischen der impliziten und der expliziten ursprünglichen Quelle der Autorität. In Hinblick auf die erste Unterscheidung genügt es darauf hinzuweisen, dass zwar jede Autorität auch eine Quelle von Autorität ist, dass jedoch die umgekehrte Aussage nicht gilt und nicht gelten kann: Nicht jede Quelle der Autorität ist auch eine Autorität im selben Wortsinn. Jede wirkliche Autorität leitet ihre eigene Autorität von irgendeiner autorisierenden Quelle ab, die ihr Recht und Macht verleiht. Dann aber würde oder könnte es keine Autorität geben, wenn sich diese nicht von einer ursprünglich autorisierenden Quelle ableiten ließe, deren eigenes Recht und deren eigene Macht, ursprünglich zu sein, gerade nicht abgeleitet sind und nicht abgeleitet werden können. Setzt man weiterhin voraus, dass für Christen, wie für radikale Monotheisten im Allgemeinen, Gott die einzige ursprünglich autorisierende Quelle ist, dann kann man strenggenommen niemals von Gott sagen, dass Gott eine Autorität ist, obwohl man sagen kann, dass Gott Autorität hat. Wenn Gott lediglich eine Autorität und möglicherweise sogar die höchste Autorität wäre, dann müsste es irgendeine andere Quelle geben, von der Gottes Autorität wiederum ableitbar wäre. In Hinblick auf die zweite Unterscheidung muss Folgendes gesagt werden: Es gehört zum eigentümlichen Sinngehalt „Gottes“, sofern man von Gott im radikal monotheistischen Sinn als der absolut letzten Wirklichkeit spricht, dass Gott in irgendeiner Weise in allem gegenwärtig sein muss, das möglich ist. Deshalb muss Gott zumindest implizit in all unseren Erfahrungen und unserem Verstehen gegenwärtig sein, in allem, was wir denken, sagen oder tun. Nach christlichem Verständnis muss außerdem der Gott, der zumindest implizit in jedem Menschen gegenwärtig ist und sein muss, sobald und solange er oder sie wirklich existieren, kein anderer als der dreieinige Gott sein, als Vater, Sohn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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und Heiliger Geist. Zumindest implizit ermächtigt, und das heißt berechtigt und befähigt Gott zu einer Existenz in gehorsamem Glauben und erwidernder Liebe als der einzigen Form einer authentischen Existenz. Und es ist niemand anders oder weniger als dieser selbe Gott, der entscheidend durch Jesus Christus re-präsentiert wird. Dieser berechtigt wiederum explizit zu dieser Existenzform als der einzigen im eigentlichen Sinne authentisch menschlichen. Das Ereignis Jesu Christi ist daher nichts anderes oder nicht weniger als dieselbe ermächtigende Quelle, die implizit immer schon in jeder menschlichen Existenz gegenwärtig ist und die jetzt in entscheidender Weise explizit wird.

6.1 Die Konstitution der Kirche Nach dieser Erläuterung einiger Grundbegriffe und Unterscheidungen wende ich mich nun zunächst der ersten der Fragen zu, die ich stellen und beantworten möchte: Was konstituiert die Kirche als Kirche? Meines Erachtens ist es hilfreich und sogar notwendig, auf diesem Weg auch auf einige traditionelle Unterscheidungen zurückzugreifen, die vor allem in der Ekklesiologie, die in der orthodoxen protestantischen Theologie entwickelt wurde, eine wichtige Rolle spielen. Besonders wichtig ist die fundamentale Unterscheidung zwischen (1) der Kirche im strengen oder eigentlichen Sinn (ecclesia stricte s. proprie dicta) und (2) der Kirche im weiten Sinn des Wortes (ecclesia late dicta). Die Kirche im strengen oder eigentlichen Sinn wird auch als die unsichtbare Kirche bezeichnet (ecclesia invisibilis), während die Kirche im weiten Wortsinn als die sichtbare Kirche (ecclesia visibilis) verstanden wird. Dieselbe Unterscheidung lässt sich noch einmal ausdrücken, indem unterschieden wird zwischen (1) der Kirche der Auserwählten oder Auserkorenen, mithin der Gemeinschaft der wahrhaft Glaubenden und Heiligen (ecclesia electorum s. coetus vere credentium et sanctorum); und (2) der Kirche oder der Gemeinschaft der Berufenen (ecclesia s. coetus vocatorum). Meines Erachtens handelt es sich trotz aller Einwände, die nicht selten gegen sie erhoben werden, um eine absolut fundamentale ekklesiologische Unterscheidung. Gewöhnlich stellt sich heraus, dass diese Einwände auf der Annahme © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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beruhen, der Zweck der Unterscheidung bestehe darin, in irgendeiner Weise zwischen einer idealen, wahren Kirche auf der einen Seite und der wirklichen, weniger wahren oder sogar falschen Kirche auf der anderen Seite zu differenzieren. Aber zumindest soweit es die traditionelle orthodoxe Unterscheidung betrifft, entbehrt diese Annahme jeglicher Grundlage. In Wirklichkeit ist der Grund dieser Unterscheidung die im strengen Wortsinn zwangsläufig unsichtbare Natur des Glaubens, der durch Liebe wirkt. Ob und in welchem Ausmaß jemand auf Gottes Ruf antwortet, um ihn als wirklich und wahr in authentischem Glauben und in Liebe anzunehmen, ist ein Urteil, dass allein Gott fällen kann. Glaube und Liebe im eigentlichen Sinn betreffen die „innere Person“ oder das „Herz“, so dass nur Gott ihre Anoder Abwesenheit wirklich beurteilen kann. Auf der anderen Seite behauptet die orthodoxe Theologie mit Recht, dass du und ich im Prinzip in der Lage sind zu urteilen und deshalb das Recht und die Verantwortung haben, die Grenzen der sichtbaren Kirche festzustellen. Schließlich ist das, was die sichtbare Kirche konstituiert, seinerseits etwas Sichtbares: die Verkündigung des reinen Gotteswortes und die richtige Verwaltung der Sakramente zusammen mit der öffentlichen Bekundung des christlichen Glaubenszeugnisses als Antwort. In den Religionsartikeln meiner eigenen Vereinigten Methodistischen Kirche heißt es daher zum Beispiel: „Die sichtbare Kirche Christi ist eine Gemeinschaft von Gläubigen, in welcher das reine Wort Gottes gepredigt wird und die Sakramente in allen notwendig zu denselben gehörigen Stücken nach Christi Anordnung richtig verwaltet werden.“(Art. XIII) Ich werde innerhalb der Begrifflichkeit dieser Unterscheidung arbeiten. Danach beruht die grundlegende Natur der Kirche darauf, dass sie, im Fall der unsichtbaren Kirche, die Gemeinschaft authentischen Glaubens ist, der durch Liebe wirkt als Antwort auf die gnädige Annahme Gottes. Im Fall der sichtbaren Kirche handelt es sich um die Gemeinschaft des gültigen impliziten wie expliziten christlichen Zeugnisses. An erster Stelle wird daher die unsichtbare Kirche durch Gottes Annahme und den Ruf konstituiert, der an jeden einzelnen Menschen ergeht und die Annahme Gottes zumindest impliziert. An zweiter Stelle beruht sie auf der Annahme von Gottes Annahme durch Frauen und Männer vermittels ihres gehorsamen Glaubens, der durch Liebe wirkt und sich als Gerechtigkeit inkarniert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über die Kirche

Die sichtbare Kirche auf der anderen Seite wird an erster Stelle durch die entscheidende Re-Präsentation von Gottes Annahme durch Jesus Christus und den expliziten Aufruf zum Glauben und zur Liebe. An zweiter Stelle entsteht sie durch ein gültiges Zeugnis gegenüber Jesus vermittels der Werke des Glaubens, der durch Liebe wirkt: explizit durch die sozialen und kulturellen Formen der Religion und implizit durch alle anderen sogenannten säkularen Formen der Gesellschaft und der Kultur. Selbstverständlich gibt es bestimmte Unterschiede zwischen dieser Auffassung von dem, was die Kirche konstituiert und dem, was die traditionelle protestantische Orthodoxie mit den von mir verwendeten Begriffen verbindet. Vielleicht hat der Leser einen dieser Unterschiede bemerkt, als ich soeben gesagt habe, dass die sichtbare Kirche sich nicht dadurch konstituiert, dass sie das reine Wort Gottes verkündet und die Sakramente richtig verwaltet, sondern einfach dadurch, dass sie vom christlichen Glauben Zeugnis ablegt. Meines Wissens verwerfe ich damit die klassisch-protestantische Sicht, für die sich die sichtbare Kirche durch das Wort und die Sakramente konstituiert. Für diese Ablehnung gibt es zwei Gründe: Zunächst lässt die klassische Sicht eine „religiöse Voreingenommenheit“ erkennen, insofern sie davon ausgeht, dass die Kirche allein auf dem expliziten Glaubenszeugnis beruht und nicht, wie ich behaupte, auf beiden, dem expliziten wie dem impliziten Zeugnis. Eine Folge dieser Voreingenommenheit ist, dass die Verantwortlichkeit der Christen in und für das Ganze der menschlichen Gesellschaft und der Kultur als im besten Fall etwas Unwesentliches oder Unwichtiges erscheint, im schlimmsten Fall sogar als etwas, das man ohne Risiko ignorieren oder vernachlässigen kann. Obwohl ich weit von der Annahme entfernt bin, dass sich ein christliches Leben allein in „säkularen“ oder „nichtreligiösen“ Ausdrucksformen führen lässt, bin ich zutiefst davon überzeugt, dass es auch in solchen Formen geführt werden muss. Ein zweiter Grund dafür, das klassisch-protestantische Verständnis der Konstitution der sichtbaren Kirche zu verwerfen, ist jedoch, dass es auch die von mir so genannte „klerikale Voreingenommenheit“ zugunsten repräsentativer Formen des expliziten Zeugnisses, das für die sichtbare Kirche konstitutiv ist, verrät. Das Wort zu verkünden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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und die Sakramente zu verwalten, selbstverständlich in Verbindung mit dem Hören des Wortes und dem Empfang der Sakramente, sind nicht die einzigen Formen des expliziten Glaubenszeugnisses, obwohl sie die repräsentativen Formen sind. Mir geht es keineswegs darum, die große Bedeutung von Verkündigung und Sakrament in Frage zu stellen und, so sollte ich ergänzen, die eines repräsentativen Amtes, dessen vorrangige Aufgabe die Verkündigung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente ist. Doch was wichtig, sogar sehr wichtig, ist für die Kirche, ist eine Sache, was die Kirche konstituiert, eine andere. Meines Erachtens sind Verkündigung und Sakramente genauso wie ein repräsentatives Amt zwar sehr wichtig, aber nicht konstitutiv. Anders gesagt: Sie sind nicht konstitutiv für die Kirche, sondern werden durch die Kirche konstituiert und sind so repräsentativ für sie. Es kann nicht nur eine sichtbare christliche Kirche sogar ganz ohne Verkündigung und Sakramente geben, die die reformatorischen Definitionen der Kirche typischerweise für wesentlich oder konstitutiv ansehen; es hat sie offensichtlich auch gegeben. Das zeigt eindeutig nicht nur die Existenz einer unbestreitbar christlichen Gemeinschaft wie „der Gesellschaft der Freunde“, der Quäker also, sondern auch die erste apostolische Gemeinschaft selbst, von der wir zweifellos nichts Gegenteiliges wissen. Auf der anderen Seite kann es überhaupt keine sichtbare Kirche ohne das Glaubenszeugnis geben, das die Verpflichtung jedes einzelnen Christen und die seiner Gemeinschaft beinhaltet. Zusammenfassend kann man sagen: Ich unterscheide mich von dem klassischen protestantischen Verständnis der sichtbaren Kirche, indem ich versuche, die religiösen und klerikalen Voreingenommenheiten gleichermaßen zu überwinden. Sie scheinen mir das Verständnis der Kirche, wie es im apostolischen Zeugnis beinhaltet ist, zu verfälschen. Außerdem unterscheide ich mich in einem wichtigen Punkt von dem klassisch protestantischen Verständnis der unsichtbaren Kirche. Danach ist die Mitgliedschaft in der sichtbaren Kirche von Wort und Sakrament zwar keine hinreichende Bedingung für die Mitgliedschaft in der unsichtbaren Kirche der wahren Gläubigen und Heiligen, aber zumindest eine notwendige Bedingung. Obwohl man ein Mitglied der sichtbaren Kirche ist, gibt es keine Garantie dafür, auch zur unsichtbaren Kirche zu gehören; aber zweifellos gehört man zur zweiten nur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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dann, wenn man auch zur ersten gehört. Im Gegensatz dazu bin ich der Auffassung, dass der Ruf zur Mitgliedschaft in der unsichtbaren Kirche in keiner Weise schlichtweg identisch ist mit dem Ruf zu Mitgliedschaft in der sichtbaren Kirche. Der erste Ruf, so glaube ich, ist der universale Ruf Gottes, der zumindest implizit an jeden Menschen in jedem Augenblick seiner oder ihrer Existenz ergeht; und die einzige Bedingung für das Annehmen dieses Rufs ist die Annahme der eigenen Existenz und jeglicher Existenz als von Gottes Liebe unbedingt angenommen. Es handelt sich um eine Existenz, die immer schon von der Last der Vergangenheit befreit ist und damit frei für die Verantwortung gegenüber der Zukunft. Genau dieser Ruf, der zumindest implizit an jede Frau und an jeden Mann ergeht, richtet sich dann auch an alle, die ihn nicht nur explizit, sondern entscheidend durch Jesus Christus vernehmen, wie ihn das christliche Glaubenszeugnis bestätigt. Der Eintritt in die sichtbare Kirche ist somit weder der einzige Zugang zur unsichtbaren Kirche noch kann er es sein. Das, was die unsichtbare Kirche in der sichtbaren ausmacht, ist die Gemeinschaft derer, die Gottes Annahme durch ihren gehorsamen Glauben, der durch Liebe wirkt und sich selbst als Gerechtigkeit inkarniert, akzeptieren; Zu dieser Gemeinschaft stellt die sichtbare Kirche einen Zugang dar. Das bedeutet unter Anderem, dass, obwohl ich demnach von der sichtbaren Kirche, geschweige denn von irgendeiner institutionellen Kirche, nicht sagen kann, dass „es außerhalb der Kirche kein Heil gibt“ (extra ecclesiam nulla salus), zögere ich nicht, genau dies von der unsichtbaren Kirche zu sagen. Denn erlöst zu werden und ein Mitglied der unsichtbaren Gemeinschaft zu sein, die durch Gottes zuvorkommende Liebe durch gehorsamen Glauben, der durch erwidernde Liebe wirkt, konstituiert wird, sind ein und dasselbe. In diesem Sinn kann ich von der unsichtbaren Kirche in ihrer Beziehung zur Welt dasselbe sagen wie Frederick Denison Maurice: Die Welt beinhaltet die Elemente, die die Kirche ausmachen. In der Kirche werden diese Elemente von einer vereinigenden, versöhnenden Kraft durchdrungen. Die Kirche ist daher die menschliche Gesellschaft in ihrer normalen Verfassung; die Welt ist dieselbe Gesellschaft in einem irregulären und anormalen Zustand. Die Welt ist die Kirche ohne Gott; die Kirche ist die Welt, deren Beziehung zu Gott wieder hergestellt wurde, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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die durch Gott in den Zustand zurückversetzt wurde, für den Gott sie geschaffen hat.1

Es gibt noch zwei weitere Punkte, die ich erwähnen muss, bevor ich zur nächsten Frage übergehe. Der erste besteht darin, eine weitere Unterscheidung zwischen der sichtbaren Kirche auf der einen und der institutionellen Kirche oder den Kirchen auf der anderen Seite zu vollziehen. Die sichtbare Gemeinschaft, von der klassischerweise die protestantische Theologie spricht und die auch in der erneuerten Lehre von der Kirche gemeint ist, die ich hier skizziere, darf niemals, einfach mit der institutionalisierten Kirche oder den Kirchen, weder individuell noch kollektiv, identifiziert werden. Der Grund wird im Bekenntnis von Westminster in geschickter Weise zum Ausdruck gebracht, indem gesagt wird, dass die sichtbare Kirche „manchmal mehr, manchmal weniger sichtbar war“ (28,4). Mit anderen Worten: Was mit der sichtbaren Kirche gemeint ist, ähnelt dem, was mit dem christlichen Glaubenszeugnis gemeint ist. Es ist niemals einfach als solches als Zeugnis vorhanden, sondern nur in und durch die vielen Zeugnisse und deren Variationen. In jedem von ihnen wird es mehr oder weniger adäquat ausgedrückt und ist daher mit keinem von ihnen einfach gleich zu setzen. So verhält es sich auch mit der sichtbaren Kirche. Tatsächlich begegnen wir ihr nur in und durch die vielen institutionalisierten Kirchen. In jeder von ihnen ist sie nur mehr oder weniger sichtbar und deshalb mit keiner von ihnen, weder einer einzelnen noch allen gemeinsam, zu identifizieren. Sogar wenn alle institutionalisierten Kirchen zu einer einzigen Kirche vereinigt oder zumindest zu einer Gemeinschaft institutionalisierter Kirchen in einem universalen Austausch verbunden würden, bliebe noch immer ein wichtiger Unterschied zwischen der institutionalisierten Kirche oder der Gemeinschaft institutionalisierter Kirchen und der sichtbaren Kirche, von der ich gesprochen habe. Bezeichnenderweise scheint dieser Gedanke einst sogar von der Römisch-Katholischen Kirche offiziell zugestanden worden zu sein. Jedenfalls ist nach der Lehre der Dogmatischen Konstitution über die Kirche des II. Vatikanischen Konzils eine einfache Identifikation der sichtbaren Kirche mit der Römisch-Katholischen Kirche verfehlt. 1

Maurice, Theological Essays, 276 – 77. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Denn „die eine Kirche Christi, die im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bekannt wird … ist in der katholischen Kirche verwirklicht, die von dem Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm gelenkt wird, obwohl außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind.“(I,8) Meiner Meinung nach handelt es sich genau um das, was jeder Christ in Hinblick auf seine oder ihre institutionalisierte Kirche sagen darf. Denn die Kirche, an die ein Christ glaubt, indem er oder sie sagt, „Ich glaube … an die heilige, katholische Kirche“ oder, in den Worten des Bekenntnisses von Nicäa, „ich glaube … an eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ meint keine institutionalisierte Kirche, sondern die sichtbare Kirche – und durch sie hindurch natürlich auch die unsichtbare Kirche, von der die sichtbare das primäre Zeichen ist. Das führt mich zu dem anderen Punkt, den ich in Hinblick auf die grundlegende Natur oder die Konstitution der christlichen Kirche betonen möchte: Die sichtbare Kirche, obgleich unter den gegebenen Umständen eine partikulare menschliche Gemeinschaft unter anderen, hat grundsätzlich eine universale Bedeutung. Indem sie die apostolische Autorität besitzt, die durch die ursprünglich ermächtigende Quelle, die Gott selbst ist, vermittelt durch Jesus Christus und den Heiligen Geist ermächtigt ist, ist sie das erste Zeichen oder Sakrament der Erretung der Welt und damit der Erlösung der gesamten Menschheit. Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Definition der Kirche berufen, die durch das II. Vatikanische Konzil vorgeschlagen wird: Danach ist die Kirche „das Sakrament der Erlösung der ganzen Welt“ (sacramentum salutis totius mundi). Nach dem Konzilstext, [den Karl Rahner interpretiert,] ist die Kirche nicht die Gemeinschaft derer, die allein zum Heil gelangen, sondern das Zeichen der Erlösung für diejenigen, die, insofern es sich um ihre historischen und sozialen Strukturen handelt, nicht zu ihr gehören. Durch ihr Bekenntnis des Glaubens, ihren Gottesdienst und ihr Leben bilden die Menschen in der Kirche gleichsam die eine Manifestation der verborgenen Gnade, die der ganzen Welt versprochen und angeboten wird. Durch die Kirche steigt diese aus den Abgründen der menschlichen Seele in den Bereich der Geschichte und Gesellschaft auf. Was davon zum Ausdruck gebracht wird, mag auf taube Ohren und ein verhärtetes Herz beim Einzelnen stoßen und für diesen das Gericht anstelle der Erlösung brin© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gen. Aber es ist das Zeichen der Gnade, die tatsächlich das bringt, was sie ausdrückt und zwar nicht nur in den Fällen, in denen sie vom Hörer in einer solchen Weise vernommen wird, dass dieser in sichtbarer und historisch greifbarer Weise sich denjenigen zugesellt hat, die das Wort Gottes der Welt mitteilen und bezeugen. Die Kirche ist das Sakrament der Erlösung der Welt sogar dort, wo die Welt noch nicht und vielleicht nie Kirche sein wird. Sie ist die berührbare, geschichtliche Manifestation der Gnade, in der sich Gott selbst mitteilt als absolut gegenwärtig, nah und verzeihend, der Gnade, die überall am Werk ist, niemanden übergeht, die Gott jedem darbietet und jeder Wirklichkeit in der Welt eine verborgene, sinnvolle Ausrichtung hin auf die intrinsische Ehre Gottes gibt. Die Kirche ist nicht nur das Zeichen der Barmherzigkeit Gottes für diejenigen, die ausdrücklich zu ihr gehören. Sie ist die mächtige Proklamation der Gnade, die bereits der Welt gegeben wurde und des Sieges dieser Gnade in der Welt.2

In dieselbe Richtung zielt die Argumentation von Juan Luis Segundo: Die Kirche, so sagt er, sei nicht deshalb notwendig, weil ihre Abwesenheit die Abwesenheit von Gnade in der Welt bedeuten würde, sondern weil ohne die Kirche die Gnade, die immer schon der Welt zuteilwird, nicht adäquat kundgetan würde. Folglich ist der Weg, den Christen gehen, weit davon entfernt, ein Weg zu sein, der sich – dank einiger spezieller Privilegien, die ausschließlich ihnen durch die Offenbarung Gottes in Christus gewährt sind – von dem unterscheidet, den alle anderen Frauen und Männer beschreiten. Der christliche Weg ist „derselbe Weg“, der von allen anderen beschritten wird, mithin „ein Weg der Selbsthingabe durch Liebe.“ Christen unterscheiden sich von anderen Menschen lediglich dadurch, dass sie durch Gottes entscheidende Offenbarung durch Christus „das Mysterium der Reise, [auf der sich alle befinden], kennen. Und was sie wissen, wissen sie, um einen Beitrag zu der gemeinsamen Suche zu leisten.“ Ihr Weg ist kein „anderer Weg“, sondern besteht in „einer neuen Verantwortlichkeit“.3 Die sichtbare Kirche ist demnach die Gemeinschaft derer, die wissen. Ihnen wurde das Wissen verliehen, um denen gegenüber Zeugnis abzulegen, die nicht auf dieselbe ausdrückliche Weise wie die Kirche über Wissen verfügen. 2 3

Rahner, Schriften zur Theologie 6, 483 f. Segundo, Community Called Church, 32, 34. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Dieser bezeichnende Kommentar der neuesten römisch-katholischen Theologie scheint mir der profundeste und bisher zutreffendste in der zeitgenössischen Kirchenlehre zu sein. Folgt man dem Verständnis dieses Sachverhaltes im Neuen Testament, dann beruht die wesentliche Natur der sichtbaren Kirche darauf, ein besonderes Zeichen des universalen Erlösungswillens Gottes zu sein: Nach diesem Willen sollen nicht nur Christen, sondern alle Frauen und Männer überall in der Welt erlöst werden. Selbstverständlich könnte man – und nach meiner Auffassung sollte man – sagen, dass es Jesus Christus selbst ist, nicht die Kirche, der das ursprüngliche Sakrament von Gottes universaler Gnade ist; genauso ist er allein die ursprüngliche Quelle, die ausdrücklich zu einer authentischen Existenz berechtigt. Wenn jedoch dieses ursprüngliche Sakrament ein Sakrament für alle Frauen und Männer ist, dann kommt man nicht umhin zu betonen, dass es als Sakrament weiterhin für sie gegenwärtig sein sollte. Das ist jedoch nur möglich in und durch die sichtbare Kirche als der menschlichen Gemeinschaft, die durch ein gültiges Zeugnis gegenüber Jesus Christus konstituiert wird. Es ist nur in und durch dieses Zeugnis, dass Jesus Christus konkret gegenwärtig ist als die explizite, ursprüngliche Quelle und damit als das ursprüngliche Sakrament von Gottes Gnade, die uns zu unserer authentischen Existenz berechtigt. In diesem Sinn oder deshalb darf die sichtbare Kirche, obgleich sie nicht das ursprüngliche Sakrament des Erlösungswillens Gottes ist, mit Recht als das primäre Sakrament bezeichnet werden. Sie ist das primäre Zeichen, das in der Welt begründet wurde, um zu bekunden, dass der letzte Sinn der menschlichen Existenz ebenso wie aller Existenzformen in ihrer bedingungslosen Annahme durch Gottes Liebe besteht. Für diese Liebe ist nichts gleichgültig, da alles einen unvergänglichen Wert besitzt.

6.2 Die charakteristische Aufgabe der Kirche Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu : Was ist die charakteristische Aufgabe der Kirche? Hervorgehoben werden sollte zum einen, dass diese Frage sich auf die Aufgabe der sichtbaren Kirche richtet; zweitens wurde die Antwort auf diese Frage eigentlich bereits durch das gegeben, was soeben über die Konstitution der Kirche © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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und insbesondere die der sichtbaren Kirche gesagt wurde. Die sichtbare Kirche und damit jede institutionalisierte Kirche, durch die sie eher mehr als weniger sichtbar wird, wird, so habe ich argumentiert, konstituiert, um ein grundlegendes Zeichen oder Sakrament der Erlösung der gesamten Welt zu sein. Dann aber besteht die charakteristische Aufgabe der sichtbaren Kirche in nichts anderem als genau darin, ein solches Zeichen oder Sakrament zu sein. Diese Überschneidung zwischen unseren beiden Fragen ist natürlich zu erwarten, denn schließlich beinhaltet die Frage nach der Konstitution von etwas über kurz oder lang in der Regel die nach der charakteristischen Aufgabe. Das, was etwas aufgrund seiner Konstitution sein soll, ist letztlich nichts anderes, als das, was für seine Tätigkeit bezeichnend ist. Auf jeden Fall ist es die spezifische Aufgabe der Kirche, das Glaubenszeugnis abzulegen, durch das sie selbst als sichtbare Kirche konstituiert wird. Sie existiert, um der Welt gegenüber Zeugnis abzulegen – gegenüber jedem einzelnen Menschen. Dessen eigene Berufung, die zumindest implizit schon in ihrer oder seiner Verfasstheit als Mensch beinhaltet ist, ist dieselbe Berufung zum Glauben, der durch Liebe wirkt und zu einer Liebe, die sich als Gerechtigkeit inkarniert, zu dem sie oder er ausdrücklich und entscheidend durch das christliche Glaubenszeugnis berufen werden. Anders ausgedrückt: Die charakteristische Aufgabe der sichtbaren Kirche besteht darin, explizit eine Antwort auf die universale menschliche Frage zu geben – auf die existentielle Frage nach dem letzten Sinn des menschlichen Lebens. Diese Aufgabe erfüllt sie, indem sie die Antwort vermittelt, die in entscheidender Weise durch Jesus Christus gegeben wurde. Wie Segundo richtig sagt, ist der Weg, den die sichtbare Kirche beschreitet, kein anderer, als der, der von allen Menschen beschritten wird – „der Weg der Selbsthingabe durch Liebe“, dessen Anfang und Ende die unbedingte Annahme von Gottes Gnade bedeutet. Christen wurde jedoch das Privileg zuteil, das, wie alle Privilegien, auch die Verantwortung beinhaltet, diesen Weg allen anderen ausdrücklich bekannt zu machen, die ihn, wenngleich nur implizit und inadäquat, gemeinsam mit ihnen beschreiten. Oder der Christ, wie Rahner formuliert, indem er die alte Metapher der kämpfenden Kirche aufgreift,

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kann sich und die namentlichen Christen nur sehen als den Vortrupp derer, die auf den Straßen der Geschichte in das Heil Gottes und seine Ewigkeit hineinwandern. Die Kirche ist ihm gewissermaßen der uniformierte Teil der Streiter Gottes, jener Punkt, an dem das innere Wesen des menschlich-göttlichen Daseins auch geschichtlich und soziologisch in Erscheinung tritt, besser: am deutlichsten in Erscheinung tritt, weil für den erhellten Blick des Glaubens auch außerhalb der Kirche die Gnade nicht aller Leibhaftigkeit entbehrt..4

Natürlich könnte die charakteristische Aufgabe der sichtbaren Kirche, ein gültiges Zeugnis von Jesus Christus abzulegen, auch anders als in Analogie zu den Sakramenten ausgedrückt werden. Aus Gründen, die ich in Kürze erläutern werde, sind Verkündigung und Sakramente gleichermaßen repräsentative Formen des einen Wortes oder Glaubenszeugnisses. Die Voraussetzung ist freilich, dass man den Akt der Verkündigung richtig im Sinne eines hörbaren Sakraments versteht und die Sakramente im Sinne des „sichtbaren Wortes“. Darüber hinaus ist die Kirche autorisiert oder beansprucht zumindest zu Recht die Autorität, die religiöse Wahrheit und mit ihr auch die metaphysische und ethische Wahrheit zu lehren. Deshalb wurde und kann die Kirche mit guten Gründen analog zu einer Schule oder der Körperschaft von Lehrern und Lernenden verstanden werden, die mit der Verantwortung betraut sind, die menschliche Spezies zu unterrichten. Diese oder jede derartige Analogie zielt darauf, die charakteristische Aufgabe der Kirche auszudrücken. Sie besteht darin, autorisiert zu sein, Zeugnis von Gott in der Welt abzulegen, als Gemeinschaft derer, denen, durch die Versöhnung der Welt mit Gott durch Christus, das Wort und das Amt der Versöhnung übergeben wurde (2Kor 5,18ff ).

6.3 Die Verpflichtungen kirchlicher Mitgliedschaft Dieser Gedanke führt uns zur dritten Frage: Was sind die Pflichten einer Mitgliedschaft in der Kirche? Man wird, so habe ich argumentiert, ein Mitglied der unsichtbaren Kirche, indem man Gottes Annahme durch gehorsamen Glauben, der durch Liebe wirkt, seinerseits annimmt. Ein Mitglied der sichtbaren Kirche wird man, weil 4

Rahner, Schriften zur Theologie 6 (1965), 484. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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und insofern man, implizit wie explizit, ein gültiges Zeugnis von Jesus Christus ablegt als dem Einen, durch den Gottes Annahme entscheidend re-präsentiert wird. Wenn wir nun nach den Verpflichtungen der Mitglieder der sichtbaren Kirche fragen, dann muss die Antwort lauten: Sie umfassen alles, was die eine integrale Funktion der Kirche beinhaltet, nämlich ein gültiges Zeugnis von Jesus Christus als entscheidender Offenbarung Gottes abzulegen. Alle, die zu der sichtbaren Kirche gehören oder gehören möchten, sind nicht nur ausdrücklich dazu verpflichtet, von dem Zeugnis der Kirche und aller besonderen Mittel, durch die das Zeugnis verwirklicht wird, wirksamen Gebrauch zu machen; sie sind auch und vor allem dazu angehalten, an der gültigen Verwaltung des Zeugnisses und der spezifischen Mittel, es an andere weiter zu geben, teilzunehmen. Kurz gesagt: Jedes Mitglied der sichtbaren Kirche ist dazu verpflichtet, den kirchlichen Dienst selbst anzunehmen und gleichzeitig an ihm in Bezug auf die Welt teilzunehmen – mithin den Dienst zu empfangen und ihn auszuüben, ihn in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig anderen zu dienen. Jeder, der zur sichtbaren Kirche gehört oder zu ihr gehören will, darf die Privilegien der Mitgliedschaft folglich nicht nur empfangen; er muss auch Verantwortlichkeiten akzeptieren. Jedes Kirchenmitglied muss daher immer zunächst für die Welt, für die gesamte Menschheit also Sorge tragen, zu deren Wohl die Kirche existiert. Um dieses Zieles willen müssen sie oder er sich dann auch um die Kirche kümmern, um die Gültigkeit des Zeugnisses der Kirche, um dessen Klarheit und Transparenz als dem primären Zeichen oder Sakrament von Gottes universaler Gnade. Vielleicht sollte ich eingestehen, dass hier ein Punkt erreicht ist, an dem mein eigenes theologisches Denken gerade eine gewisse Veränderung durchläuft. Wie viele andere meiner Generation habe ich mich scharf gegen den traditionellen Ekklesiozentrismus der Kirche gewandt. Die Frage nach den Verpflichtungen der Mitgliedschaft in der Kirche habe ich gewöhnlich mit einer ausschließlichen Fokussierung oder zumindest starken Betonung der Verpflichtung jedes Mitglieds oder künftigen Mitglieds beantwortet, sich am Dienst der Kirche in der Welt zu beteiligen. Das lag natürlich daran, dass an der paulinischen Lehre festgehalten wurde, die die gesamte Diskussion durchdrungen hat. Danach besteht der Akt Gottes, durch den Gott die Welt mit sich selbst durch Christus versöhnt hat, genau darin, dass © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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allen Mitgliedern der sichtbaren Kirche das Amt oder Wort der Versöhnung verliehen wurde. Trotzdem habe ich nie vollständig vergessen, dass das allumfassende Ausmaß der Liebe Gottes für uns bedeutet, dass Liebe und Dienst an anderen nur dann authentisch sein können, wenn sie gleichzeitig eine authentische Liebe und einen Dienst an sich selbst beinhalten – mithin gegenüber dem Selbst, das Gott nicht weniger, wenngleich auch nicht mehr liebt als die anderen Selbste und Kreaturen, die gleichermaßen von Gottes Liebe umfasst werden. Außerdem habe ich nicht vergessen, dass die dritte der Allgemeinen Regeln von John Wesleys Vereinigten Gesellschaften und damit meiner eigenen Vereinigten Methodistischen Kirche vorschreibt, dass man das eigene Bedürfnis nach Erlösung bekundet, „indem man alle Anordnungen Gottes befolgt“. Hierzu gehören zum Beispiel „die öffentliche Verehrung Gottes; das Amt des Wortes, das entweder gelesen oder erläutert wird; das Abendmahl; das Gebet in der Familie und für sich allein; das Erforschen der Heiligen Schriften; Fasten oder Abstinenz.“ Ich habe immer mehr begriffen, dass es nicht damit getan ist, die Verpflichtung zum Dienst gegenüber anderen zu Lasten der Verpflichtung zu betonen, selbst einen Dienst von anderen zu empfangen – und damit durch den Einen, von dem sie ihrerseits allesamt Diener sind. Mir ist freilich noch nicht so klar, wie ich es mir wünschen würde, was die Umsetzung dieser Gedanken bedeutet und wie die Analyse der Implikationen möglicherweise meine Antwort auf die dritte Frage beeinflussen wird. Mir ist jedoch klar, und zwar klarer als jemals zuvor, dass aus der Mitgliedschaft in der sichtbaren Kirche die Verpflichtung entsteht, an dem einen konstitutiven Dienst der sichtbaren Kirche teilzunehmen, um vor der ganzen Welt ein gültiges Zeugnis von der Versöhnung Gottes mit der Welt und deren Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus abzulegen. Das bedeutet auf der einen Seite, dass man immer verpflichtet ist, das Zeugnis, das die Kirche bereits hervorgebracht hat, zu interpretieren und neu zu formulieren. Nur so kann es weiterhin glaubwürdig sein und für die neue Situation geeignet sein, in und für die die Kirche nun verantwortlich ist. Auf der anderen Seite ist man immer dazu verpflichtet, das Zeugnis, das die Kirche noch immer übermittelt, zu disziplinieren und zu reformieren, damit es weiterhin Jesus Christus in derselben Situation entspricht. Das Kunststück besteht also darin, beide Aspekte im Bewusstsein zu behalten, ohne den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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einen zugunsten des anderen zu vernachlässigen. Indem man jedoch beides tut, sowohl das Zeugnis der Vergangenheit interpretiert und reformiert wie das Zeugnis für die Zukunft diszipliniert und reformiert, muss man sich mit der Art von kritischer Reflexion befassen, die ich unter „Theologie“ im präzisen Sinn des Wortes verstehe. Man muss demnach das Zeugnis der Kirche im Rückblick und im Vorblick bestimmen, damit seine Geltungsansprüche in Hinblick auf den Inhalt adäquat und in Bezug auf die Situation geeignet sind. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, das jedes Mitglied der sichtbaren Kirche verpflichtet ist, ein repräsentativer oder professioneller, geschweige denn ein akademischer Theologe zu sein. Das wäre gleichbedeutend mit der Aussage, dass jedes Mitglied der Kirche, weil es dazu berufen ist, den Dienst der Kirche in die Welt zu tragen, deshalb auch ein repräsentativer oder berufsmäßiger Amtsträger sein sollte. Aber so wie jedes Mitglied dazu berufen ist, durch ein gültiges Zeugnis von Jesus Christus ein Diener zu sein, so sollte jedes Mitglied der Kirche auch ein Theologe sein, der an dem fortschreitenden Prozess der kritischen Reflexion teilnimmt, um die Gültigkeit der verschiedenen christlichen Zeugnisse und die Arten des Zeugnisses kontinuierlich kritisch zu beurteilen. Konzentrieren wir uns nun auf die vergleichsweise aktive Seite unserer Verpflichtungen als Kirchenmitglieder. Sie lässt sich in der Aussage zusammenfassen, dass jeder von uns ein gültiges christliches Zeugnis überbringen und sich um die Gültigkeit des Zeugnisses kümmern sollte, das die institutionalisierte Kirche, zu der wir gehören, hervorgebracht hat. Damit verbunden ist die Verpflichtung, kritisch über die Gültigkeit unseres Zeugnisses und des Zeugnisses unserer Kirche in dem größeren Zusammenhang aller anderen christlichen Zeugnisse und Arten des Zeugnisses zu reflektieren. Meines Erachtens könnte man eine ergänzende Formulierung vorschlagen, um die vergleichsweise passive Seite unserer Verpflichtungen als Kirchenmitglieder zusammenzufassen. Falls nämlich das einzige Zeugnis, das wir empfangen müssen, ein gültiges christliches Zeugnis ist, dann sind wir auch verpflichtet, uns in derselben Art kritischtheologischer Reflexion zu üben, ohne die wir unsere grundlegende Verpflichtung nur rein zufällig erfüllen könnten. Ich habe allerdings, wie ich bereits gesagt habe, diese Gedanken noch nicht so sorgfältig durchdacht, wie es nötig wäre. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Um ein mögliches Missverständnis von dem, was ich gesagt habe, zu vermeiden, möchte ich einen Punkt hervorheben, den ich zuvor bereits mehrmals betont habe. Die charakteristische Aufgabe der Kirche, ein gültiges christliches Zeugnis zu überbringen und damit ein grundlegendes Zeichen oder Sakrament der Erlösung der Welt aus Gott zu sein, beinhaltet nicht nur ein explizites, sondern auch ein implizites Zeugnis. Folgt man der eindeutigen Lehre der synoptischen Tradition, dann kam Jesus nicht nur, um die unmittelbar bevorstehende Herrschaft oder Regentschaft Gottes, seiner Gabe und seiner Forderung an das menschliche Leben zu verkünden; er kam auch, um Krankheiten zu heilen und sich mit denen anzufreunden und zu speisen, die in seiner Gesellschaft marginalisiert wurden oder ausgestoßen waren. Zu ihnen gehörten auch Frauen und Kinder. Das eigene Glaubenszeugnis Jesu war daher nicht nur ein explizites Zeugnis des nun erscheinenden Ereignisses der Gnade Gottes, von Gottes Gabe und Gottes Forderung; indem es die Form einfacher menschlicher Hilfsbereitschaft gegenüber denen annahm, die aufgrund ihrer natürlichen oder historischen Umstände in Not waren, handelte es sich auch um ein implizites Zeugnis dieser Gnade. Doch Jesus, darin ist die Tradition ziemlich eindeutig, verstand seine Heilungen und seine Solidarität mit den Verachteten als ein implizites Zeugnis der Gabe und der Forderung von Gottes Herrschaft. „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen.“(Lk 11,20) Auf ähnliche Weise ist jedes Mitglied der sichtbaren Kirche verpflichtet, ein implizites und ein explizites christliches Zeugnis abzulegen, und zwar in repräsentativer wie konstitutiver Form. Man darf in dieser Hinsicht keinen Fehler begehen: Es gibt repräsentative Formen eines impliziten wie eines expliziten christlichen Glaubenszeugnisses. Auf der einen Seite gibt es Kulträume, in denen das reine Wort Gottes gepredigt und die Sakramente richtig verwaltet werden; es gibt kirchliche Schulgebäude und theologische Schulen, in denen ein gültiges christliches Zeugnis lehrend und lernend kommuniziert wird und bei denen es sich um repräsentative Formen des expliziten Zeugnisses der Kirche handelt. Auf der anderen Seite gibt es Heime für ältere Menschen und Waisenkinder, Schutzhäuser für geschlagene Frauen und Obdachlose ebenso wie Hospitäler, Hochschulen und Universitäten, die allesamt repräsentative Formen des impliziten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Glaubenszeugnisses sind. Weil auch das implizit ausgeübte Zeugnis zur Zeichenfunktion der Kirche gehört, haben alle Verpflichtungen, die die Verkündigung des Zeugnisses und damit die kritische theologische Reflexion betreffen, auch eine Anwendung. Die Kirche lässt sich nicht auf ihre repräsentative Funktion beschränken, und sie ist keineswegs nur eine religiöse Gemeinschaft. Sie ist, wie Dietrich Bonhoeffer formuliert, „nichts anderes als ein Teil der Menschheit, in der Christus wirklich Gestalt angenommen hat. … Was in der Kirche von Bedeutung ist, ist nicht die Religion, sondern die Form Christi und seine Gestaltwerdung inmitten einer Gruppe von Menschen.“5 Daher umfassen die Verpflichtungen, die aus der Kirchenmitgliedschaft entspringen, all jene Verpflichtungen, die „die Bildung der Kirche in Übereinstimmung mit der Gestalt Christi“6 beinhaltet.

6.4 Die Mittel zur Durchführung der kirchlichen Aufgabe 6.4.0 Einleitende Bemerkungen Ich möchte diesen letzten Abschnitt mit der Erinnerung an zwei Punkte beginnen, die bereits in früheren Abschnitten erwähnt oder vorausgesetzt wurden. Die charakteristische Aufgabe der sichtbaren Kirche, die durch ein gültiges christliches Zeugnis konstituiert wurde, besteht darin, ein primäres Zeichen der zuvorkommenden Gottesliebe für jede einzelne Kreatur zu sein, sogar für sündige, sich selbst missverstehende Geschöpfe. In diesem Sinne ist sie „das Sakrament der Erlösung der ganzen Welt.“ Die sichtbare Kirche als solche ist somit das primäre Mittel der Erlösung. So wie sie die einzige, primäre Autorität für den christlichen Glauben, das christliche Zeugnis und die christliche Theologie ist, so ist sie auch das einzige, primäre Sakrament oder Mittel der Erlösung. Alle anderen Sakramente oder Mittel der Erlösung sind dagegen sekundär, weil sie durch die sichtbare Kirche konstituiert werden und damit repräsentativ für sie sind. Man muss allerdings eine berechtigte und wichtige Unterschei5 6

Bonhoeffer, Ethik, 21. Ibid. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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dung zwischen dem christlichen Zeugnis als solchem und gewissen repräsentativen Formen des christlichen Zeugnisses machen. Auf dieser Basis muss dementsprechend auch eine Unterscheidung zwischen der gesamten sichtbaren Kirche (ecclesia synthetica) und der repräsentativen sichtbaren Kirche (ecclesia repraesentativa) gemacht werden. Wir müssen uns natürlich immer bewusst bleiben, dass es explizite und implizite Arten des Zeugnisses gibt, die in der traditionellen Theologie etwa von John Wesley systematisch als „Werke der Frömmigkeit“ und „Werke der Barmherzigkeit“ unterschieden werden. Man muss daher repräsentative Formen des impliziten Zeugnisses oder der Werke der Barmherzigkeit genauso wie die Formen des expliziten Zeugnisses oder der Werke der Frömmigkeit erkennen. Ein solches Zeugnis kann, wie ich soeben gesagt habe, durch die Gründung von Hospitälern und die Errichtung von Universitäten genauso gut wie durch den Bau von Kirchen und theologischen Schulen abgelegt werden. Aber sei es, wie dem sei: Mein Hauptargument ist, dass die fundamentale Unterscheidung zwischen dem christlichen Zeugnis an sich und dessen repräsentativen Formen, impliziten wie expliziten, in einer wichtigen Unterscheidung zwischen der sichtbaren Kirche insgesamt und der repräsentativen sichtbaren Kirche gründet. Diese Unterscheidung ist wesentlich für die Beantwortung unserer vierten Frage nach den Mitteln, mit deren Hilfe die sichtbare Kirche ihre charakteristische Aufgabe erfüllt. Sie befähigt uns dazu, zwei entscheidende Aspekte zu erkennen, die bereits betont wurden: Die sichtbare Kirche als solche wird allein durch das Zeugnis der Apostel und die gültige Fortsetzung ihres Zeugnisses durch jeden einzelnen Christen konstituiert. Gleichwohl ermöglicht sie gewisse repräsentative Formen des christlichen Zeugnisses und damit der sichtbaren Kirche, die, obwohl in keiner Weise für die Kirche selbst konstitutiv, sondern von ihr konstituiert, trotzdem echte „Mittel der Erlösung“ (media salutis) sind. Die wichtigsten, wenngleich keineswegs einzigen repräsentativen Formen, sind, so sollte ich an dieser Stelle erwähnen, genau diejenigen, die in den klassischen protestantischen Definitionen der sichtbaren Kirche als für sie konstitutiv ausgewählt wurden: das Verkünden des wahren Gotteswortes durch die Predigt und die richtige Verwaltung der Sakramente, insbesondere der beiden Sakramente der Taufe und des Abendmahls. Zu ihnen, so sollte ich ergänzen, tritt als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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dritte repräsentative Form des Zeugnisses das Pfarramt im Sinne eines besonderen oder repräsentativen Kirchenamtes hinzu. Obwohl keine dieser drei Formen das ist, was oft als „konstitutiver Faktor“ der sichtbaren Kirche bezeichnet wurde, ist jede von ihnen eine repräsentative Form des christlichen Zeugnisses. Dadurch sind sie konstitutiv für die repräsentative Kirche, genauer für die repräsentative Form des expliziten Glaubenszeugnisses, das konstitutiv für die sichtbare Kirche als solche ist. Indem ich mich im Folgenden ausschließlich auf diese drei repräsentativen Formen konzentriere, möchte ich noch einmal betonen, dass ich keineswegs denke, dass nur sie repräsentative Formen des christlichen Zeugnisses sind. Aufgrund des analytischen Schemas, das zur Anwendung kommt, könnte und sollte man eine beliebige Anzahl weiterer repräsentativer Formen identifizieren und diskutieren. Außerdem, so habe ich mich bemüht klarzumachen, sollte niemand glauben, dass die repräsentativen Formen des Zeugnisses der Kirche und damit der sichtbaren Kirche von den repräsentativen Formen ihres expliziten Zeugnisses erschöpfend dargestellt werden. Doch unabhängig davon, wie viele repräsentative Formen man auch erkennen mag, für alle gilt dieselbe Regel wie für die erwähnten drei Formen, denen ich meine folgenden Bemerkungen widmen werde. Sie sind nicht konstitutiv für die sichtbare Kirche, sondern werden durch sie konstituiert, insofern sie aufgrund ihrer Natur repräsentative Formen sind, die das eine Glaubenszeugnis verkünden: den einen Dienst und das Wort der Versöhnung (2Kor 5,18 – 19), das allein konstitutiv oder essentiell für die sichtbare Kirche als solche ist. Im Folgenden möchte ich zuerst ganz allgemein über die Verkündigung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente sprechen; in einem zweiten Schritt werde ich mein Verständnis des Sakraments der Taufe skizzieren; und drittens möchte ich einige abschließende Bemerkungen über das Pfarramt machen. Diese thematische Auswahl lässt sich nicht durch die Sache selbst begründen. Sie wird primär durch die Begrenztheit dieser Darstellung diktiert und durch das, was meines Erachtens am besten dazu dient, eine gewisse Vorstellung von den Grundlinien zu entwickeln, entlang derer ich selbst eine angemessenere Behandlung der Mittel der Erlösung entwickeln würde als es aufgrund der gegenwärtigen Begrenzungen möglich ist.

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6.4.1 Die Verkündigung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente Zunächst also ein kurzer Kommentar zur Verkündigung des Wortes und der Verwaltung der Sakramente als unterschiedlichen, aber eng verbundenen Formen der Repräsentation des christlichen Glaubenszeugnisses. Ich möchte über das Wort und die Sakramente gleichzeitig sprechen, weil beide meines Erachtens Formen des einen christlichen Kerygmas oder der Verkündigung sind. Will man einige wohlbekannte Missverständnisse vermeiden, müssen beide in enger Beziehung zueinander verstanden werden. Seit ihren Anfängen ist es für die protestantische Theologie charakteristisch, Predigt und die Verwaltung der Sakramente als die beiden Formen des einen Gotteswortes zu verstehen. Das Kerygma oder die Verkündigung, durch die das ewige Wort als Manifestation der göttlichen Gnade ursprünglich und implizit jedem Menschen gegenwärtig ist, wird explizit und entscheidend vermittels besonderer menschlicher Worte und Taten re-präsentiert. Protestantische Theologen haben daher typischerweise dankbar Augustins wohlbekannte Definition des Sakraments als „sichtbarem Wort“ (verbum visibile) aufgegriffen. Meines Erachtens ist das vollkommen berechtigt: Versteht man nämlich unter der Gnade Gottes die persönliche Annahme der gesamten Menschheit ungeachtet ihrer Sünde – einer Annahme, die wiederum die persönliche Annahme von Gottes Annahme durch gehorsamen Glauben ermöglicht und erforderlich macht – dann ist und muss das einzig angemessene Medium dieser Gnade das Wort im Sinn einer ausdrücklich intelligiblen Bedeutung sein. Diese muss erfasst und durch die freie menschliche Erwiderung des Verständnisses, genauer des Selbstverständnisses, ausgelegt werden. Die Sakramente werden daher nur richtig interpretiert, wenn sie als das „sichtbare Wort“ verstanden werden, als eine ausdrückliche Bedeutung, die sich in einer Tat oder Geste manifestiert, die gesehen und gehört werden kann; zu einem Mittel der Erlösung wird sie allerdings nur, wenn sie verstanden wird. Gleichzeitig bin ich der Auffassung, dass die Verkündigung des Wortes nur als „hörbares Sakrament“ (sacramentum audibile) richtig begriffen wird, mithin als eine Tat oder Geste, die man hören sowie sehen kann. Deren Bedeutung wird jedoch nur verstanden, wenn man © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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erkennt, dass sie sich genaugenommen an das Verständnis, an unser Selbstverständnis oder an das existentielle Verständnis von uns in Beziehung zu anderen und zu Gott richtet. Sakramente, die nicht als das sichtbare Wort verstanden werden, können als magische Riten, die in irgendeiner Form in uns wirksam sind, missverstanden werden, obwohl sie unser eigenes Verständnis und unsere moralische Freiheit verfehlen. Genauso werden Predigten, die nicht als hörbare Sakramente begriffen werden, mit ziemlicher Sicherheit als bloß belehrend und nicht als verkündend missdeutet – als bloße Worte über Gott, statt als das Wort von Gott. Dieses Verständnis von Verkündigung und Sakramenten impliziert, dass die ideale Form des christlichen Gottesdienstes, durch den das explizite Glaubenszeugnis am angemessensten repräsentiert wird, die Feier des Abendmahls in Verbindung mit einer Homilie oder einer Predigt ist – oder umgekehrt, einer Predigt oder einer Homilie, begleitet von der Feier des Abendmahles. Der sakramentale Kontext der Predigt schützt sie davor, als bloßer Vortrag missverstanden zu werden; der homiletische Kontext des Sakramentes wiederum bewahrt dieses davor, als eine Handlung missdeutet zu werden, die in irgendeiner Weise unabhängig vom Selbstverständnis des Individuums und der freien Glaubensentscheidung magisch wirkt. Bitte verstehen Sie mein Argument an dieser Stelle nicht falsch. Die Lehraufgabe der Kirche und ihres Amtes wird in keiner Weise von mir unterbewertet. Meines Erachtens beinhaltet ein ausdrückliches christliches Zeugnis nicht nur eine Hauptform, sondern immer zwei Hauptformen: Sie umfassen das christliche Kerygma oder die Verkündigung, deren repräsentative Form die Verkündung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente ist; und sie beinhalten die christliche Lehre oder Unterweisung. Während jedoch das Zeugnis der Verkündigung immer direkt oder unmittelbar ist, ist das Zeugnis der Lehre immer nur indirekt oder mittelbar. So ist es zum Beispiel eine Sache, mit den Worten von Paulus in 2. Korinther 5,20 zu verkünden: „Laßt euch mit Gott versöhnen“; eine andere Sache ist es, zu lehren, wie es auch Paulus selbst im unmittelbaren Zusammenhang mit diesen Worten tut, was Versöhnung bedeutet und wie Gott sie durch Christus vollzogen hat, und uns dem Amt und den Worten der Versöhnung, mithin der gesamten sichtbaren Kirche, anzuvertrauen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Ich möchte zwei weitere Bemerkungen über die Verkündigung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente im Allgemeinen hinzufügen. Zunächst ist es von größter Wichtigkeit, klar und deutlich zwischen der Gültigkeit von Wort und Sakrament auf der einen Seite und deren Wirksamkeit auf der anderen zu unterscheiden. Seit der Zeit der Kontroverse mit den Donatisten im vierten und fünften Jahrhundert n. Chr. hat die katholische Kirche meiner Meinung nach zu Recht behauptet, dass die persönliche Unwürdigkeit eines Priesters die Gültigkeit des Sakramentes, das er verwaltet, nicht beeinträchtigt. Denn der wahre Priester, darauf hatte Augustinus bestanden, ist Jesus Christus selbst. Ob ein Sakrament gültig ist oder nicht – und das soll hier mutatis mutandis auch über das hörbare Sakrament des Predigens gesagt werden – hängt in keiner Weise von der Treue des Priesters ab, der es verwaltet. Es hängt einzig und allein davon ab, ob das Sakrament Jesus Christus richtig repräsentiert oder nicht. Zugespitzt gesagt: Es hängt von der Qualität der christlichen und theologischen Bildung des Amtsträgers, nicht von ihrer oder seiner Authentizität oder von der Qualität ihrer oder seiner persönlichen Frömmigkeit oder Spiritualität ab. Darüber hinaus findet sich eine wichtige Wahrheit in der römischkatholischen Lehre von „der vollzogenen Handlung“ (opus operatum), die die Protestanten manchmal übersehen haben. Die Gültigkeit der Sakramente ist danach nämlich auch völlig unabhängig von dem Glauben der Person, die sie empfängt. Noch einmal: Seine Gültigkeit verdankt ein Sakrament nicht der Tatsache, dass es im Glauben empfangen wird, sondern dass es wirklich Jesus Christus re-präsentiert, ganz egal wie es empfangen wird. Auf der anderen Seite aber beinhaltet auch das Prinzip der Reformation eine wertvolle Wahrheit: „Kein Sakrament ohne Glauben“ (nullum sacramentum sine fide). Die Wirksamkeit des Sakramentes, die sich von seiner Gültigkeit unterscheidet, hängt zwar in keiner Weise von dem Glauben der Person ab, die es verwaltet, wohl aber von dem Glauben des Empfängers. Dass kein Sakrament in dem Sinne wirksam ist oder sein kann, dass das Ziel der Erlösung einer Person ohne deren gehorsamen Glauben erreicht wird, liegt nicht daran, dass die Gabe von Gottes Gnade in irgendeiner Weise durch unseren Glauben bedingt ist. Doch die Erlösung geschieht, obwohl sie sich nur aus der Gnade allein vollzieht, niemals © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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ohne unseren Glauben, durch den allein wir Gottes unbedingte Annahme von uns annehmen können. Ich möchte durch diese Erläuterungen in keiner Weise suggerieren, dass es keine ernsthaften Unterschiede zwischen dem römisch-katholischen und dem protestantischen Verständnis der Mittel der Erlösung gibt. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass sich anscheinend zumindest einige der historischen Differenzen eindeutig darauf zurückführen lassen, dass die Unterscheidung zwischen der Gültigkeit eines Sakramentes auf der einen Seite und seiner Wirksamkeit auf der anderen übersehen wurde. Nebenbei bemerkt wurde diese Unterscheidung durchaus manchmal vollzogen, indem zwischen der „Möglichkeit zum Wirken“ (potentia operandi) eines Mittels der Erlösung und seiner „aktualen Wirksamkeit“ (operatio acutalis) differenziert wurde. Unter dem ersten Aspekt wurde die Kraft eines Mittels verstanden, den erwünschten Effekt oder das Ergebnis zu erzeugen, mithin seine Gültigkeit; den zweiten Aspekt deutete man als die Aktualisierung dieser Kraft, durch den der erwünschte Effekt oder das Ergebnis wirklich erzeugt wurde, mithin seine Wirksamkeit. Meine zweite Anmerkung hat mit der sogenannten Realpräsenz Jesu Christi im Wort und im Sakrament zu tun. Gewöhnlich wird dieses Thema in Verbindung mit dem Abendmahl erörtert. Doch aus Gründen, die nunmehr klar sein sollten, ist die Frage nach der „Realpräsenz“ Christi auch für die Taufe und die Verkündigung relevant, – um an dieser Stelle nicht jede andere repräsentative Form eines expliziten Glaubenszeugnisses zu erwähnen. Der relevante Punkt ist, dass Jesus Christus in der Verkündigung und in den Sakramenten in derselben Weise gegenwärtig ist, in der jede andere Person in ihren an uns gerichteten Worten und Taten, die ihre oder seine Bedeutung für uns re-präsentieren, präsent ist. Insofern als Predigt und Sakramente repräsentative Formen des unmittelbaren Glaubenszeugnisses sind, ist Jesus Christus selbst wirklich in ihnen gegenwärtig – er wird re-präsentiert, wieder präsentiert, zum zweiten Mal – so wie er selbst wiederum die entscheidende Re-Präsentation von Gottes eigener Gabe und dem Anspruch der erlösenden Gnade ist. Wo demnach das Wort ist, das Jesus Christus selbst ist, wird er selbst re-präsentiert. Das ist erstens eindeutig in der sichtbaren Kirche der Fall oder sollte es jedenfalls sein; zweitens gilt es für die Predigt und die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Verwaltung der Sakramente: Es wird nicht nur über ihn gesprochen, wie in der christlichen Lehre, sondern er selbst ist wirklich und persönlich gegenwärtig als die erlösende Gnade Gottes, von der er die entscheidende Re-Präsentation ist.

6.4.2 Das Sakrament der Taufe In Hinblick auf das Sakrament der Taufe muss ein Punkt besonders hervorgehoben werden: Es ist das Mittel, durch das eine individuelle Person entscheidend von Gott durch Jesus Christus in die Gemeinschaft des Glaubens und des Zeugnisses gerufen wird, oder, mit anderen Worten gesagt, in die Kirche in ihren unsichtbaren beziehungsweise sichtbaren Aspekten. Richtig verstanden ist die Taufe vermittels einer symbolischen Handlung die sichtbare Re-Präsentation der gnädigen Annahme Gottes, weshalb wir von unserer Vergangenheit und für unsere Zukunft befreit werden. Das Wasser – oder der Akt, durch den man durch das Wasser symbolisch gereinigt wird – bezeichnet selbstverständlich diese befreiende Handlung der Gnade Gottes. Die Anrufung des Namens Jesu Christi oder des dreieinigen Gottes verkündet die ursprüngliche Quelle dieses Aktes und damit auch die ursprüngliche Quelle, die die Person, die getauft wird, fortan dazu ermächtigt, in und für die Freiheit des Glaubens, der durch Liebe wirkt, zu existieren. Wie beim Sakrament des Abendmahles setzt die Wirksamkeit der Taufe als eines Mittels der Erlösung die Glaubensentscheidung des Individuums voraus. Mit anderen Worten: Das allgemeine Prinzip, das die Reformatoren gegen ihre römisch-katholischen Gegner vorbrachten, gilt auch hier: nullum sacramentum sine fide – kein Sakrament ohne Glauben. Ungeachtet der Gültigkeit der Taufe kann sie nur wirksam sein, wenn die Gnade, die sie explizit re-präsentiert, durch den persönlichen Glauben der Person, die getauft wird, angenommen wird. Dennoch ist das sichtbare Zeugnis von Gottes gnädiger Handlung, die sich in der Taufe manifestiert, nicht nur aufgrund des Glaubens des Täuflings möglich. Im Gegenteil: Der Akt der Taufe wird allein wegen Gottes gnädiger Handlung ausgeführt; der Glaube des Täuflings ist in keiner Weise die Ursache oder die Bedingung von Gottes gnädigem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Akt. Tatsächlich müssen wir noch einen Schritt weiter gehen: Noch nicht einmal die Taufe selbst, als eine repräsentative Form, Gottes Handlung zu bezeugen verstanden, ist die Ursache oder die Bedingung Gottes Aktes. Die Taufe konstituiert nicht die gnädige Handlung Gottes gegenüber einer Person; sie re-präsentiert sie – sowohl ihr oder ihm gegenüber als einzigartigem Individuum wie gegenüber der Kirche und der Welt. An dieser Stelle möchte ich gerne das theologische Werk von F.W. Robertson, des großen anglikanischen Predigers des 19.Jahrhunderts, würdigen, der meines Erachtens die einzig mögliche Auffassung vertritt, in deren Licht sich die Taufe richtig verstehen lässt. Wie einige seiner Zeitgenossen, etwa F.D. Maurice und Charles Kingsley, kämpfte auch Robertson besonders damit, die Sprache des Anglikanischen Katechismus zu verstehen. Die Frage nach der Taufe beantwortet er damit, dass sie das Ereignis ist, „wodurch ich zu einem Glied Christi, einem Kind Gottes und einem Erben des himmlischen Königreichs“ gemacht werde. In dem Glauben, dass, wie er formulierte, „die Taufe mich nicht zu einem Kind Gottes machen kann, wenn ich es nicht bereits aufgrund meines Menschseins bin“, bemühte er sich, die verschiedenen Weisen zu identifizieren, in denen das Verb „machen“ gebraucht wurde und die seine Ansicht unterstützten. In diesem Zusammenhang entwickelt er verschiedene Analogien, unter denen sich die folgende befindet: Der Katechismus … sagt: In der Taufe … wurde ich zu einem Kind Gottes gemacht. Ja, durch die Krönung wird jemand zu einem Herrscher; aber, so paradox es erscheinen mag, man kann nur jemanden zu einem Herrscher machen, der schon ein Herrscher ist. Kröne einen Prätendenten; er wird dadurch zu keinem König. Die Krönung ist der ermächtigende Akt einer Nation, eine Tatsache bekannt zu geben, die bereits zuvor eine solche war. Und von diesem Tag an ist die Krönung das Ereignis, auf das alles rückdatiert wird – und die Krone ihrerseits ist der Ausdruck, der bei allen königlichen Handlungen verwendet wird. Ähnlich ist es bei der Taufe. Die Taufe macht jemanden zum Kind Gottes in dem Sinn, in dem durch die Krönung ein König gekrönt wird. Die Taufe steht in der Schrift für den Anspruch auf Neugeburt und den Augenblick, in dem sich diese vollzieht. Was die Krönung auf irdische Weise ist, eine verbindliche Manifestation einer unsichtbaren irdischen Wahrheit, das ist die Taufe auf himmlische Weise: Gottes ermächtigende Erklärung einer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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geistigen Wirklichkeit in stofflicher Form. Mit anderen Worten: kein bloßes Zeichen, sondern ein göttliches Sakrament.7 Die Taufe ist ein ermächtigendes Symbol einer zeitlosen Realität; einer Wahrheit der Ewigkeit, die in der Zeit verwirklicht und in die Grenzen von „dann und dort“ heruntergeholt wird: dann und dort erzeugten Gottes Kind. Aber es handelt sich nur um die Verwirklichung einer Tatsache, die vor der Taufe und ohne sie wahr war: die persönliche Verwirklichung der Tatsache, die der gesamten Menschheit gehört, und die durch Christus offenbart wurde; mit anderen Worten: die Taufe ist angewandte Erlösung.8

Diese Sätze verdeutlichen meines Erachtens sehr gut den gänzlich unbedingten und zuvorkommenden Charakter von Gottes Handlung, wie er auch für die Funktion der Taufe gilt, um ihr in sichtbarer und symbolischer Form Gestalt zu verleihen. Gott liebt nicht, weil die Kirche tauft; die Kirche tauft, weil Gott liebt. Ebenso entscheidend ist, dass dies der einzige Grund ist, weswegen die Kirche tauft, und nicht etwa deshalb, weil die getaufte Person schon einen Glauben hat oder ein öffentliches Bekenntnis ablegt. Als die Reformatoren auf der untrennbaren Verbindung von Glauben und Sakrament insistierten, hatten sie nicht die Absicht, diesen Punkt in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Die ganze Bedeutung ihres Schlagwortes „allein aus Gnade“ (sola gratia) beruhte darauf, jede derartige Verzerrung der Taufe, wie sie ihrer Ansicht nach vorlag, auszuschließen. Auf der anderen Seite machten die Reformatoren ziemlich klar, dass die Taufe ein wirksames Mittel der Erlösung für den einzelnen Täufling sein kann, wenn, und nur wenn er oder sie sich die Gnade, von der sie ein sichtbares Zeugnis ist, durch Glauben persönlich zueignet. Dadurch entstehen natürlich gewisse Schwierigkeiten. Welche Folgen ergeben sich aus der historischen Praxis, Kinder zu taufen, wenn die Taufe nur dann eine wirksame sakramentale Handlung sein kann, ein wirkliches Zeugnis der Gnade, die tatsächlich als solche empfangen wurde, wenn die getaufte Person selbst glaubt? Es ist kaum nötig zu sagen, dass dies für uns heute eine offene Frage 7 Robertson, Sermons by F.W. Robertson (second series, 1898 ed.); cit. by Vidler, Theology of F.D. Maurice, 56 – 57. 8 Brooke, ed., Life and Letters of Frederick W. Robertson, M.A., Bd. 2, 62.

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bleibt – besonders wenn wir zufällig in einer Gesellschaft und Kultur leben, die stark von der Tradition der Erwachsenentaufe beeinflusst ist, die bereits ihren Glauben vor der Taufe öffentlich bekannt haben. Unglücklicherweise kann ich an dieser Stelle aus gegenwärtigen Begrenzungen diese Frage nicht angemessen erörtern. Außerdem kann ich nicht sehr viel über die Art und Weise sagen, in der die historischen protestantischen Kirchen, die an der Praxis der Kindertaufe festgehalten haben, diese trotz allem verteidigt haben. Ich muss mich damit begnügen, einige Prinzipien vorzustellen, die ich für wichtig halte und die eine Voraussetzung für eine adäquate Antwort auf diese Frage bilden. Zunächst einmal sollte man etwas im Gedächtnis behalten, was bereits gesagt wurde: Die Taufe dient, genauso wie Predigt und Abendmahl, dazu, das radikale Zuvorkommen von Gottes Gnade zu bezeugen, das heißt die reine, ungebundene Natur der Gottesliebe und den unbedingten Charakter von Gottes Annahme. Doch welches Zeugnis von genau dieser Wahrheit könnte kraftvoller sein als die Taufe eines Kindes, das ganz gewiss keine Bedingung oder Forderung stellen kann, um sich der Gnade Gottes zu versichern? Meiner Meinung nach ist das der wichtigste Grund, um an der Praxis der Kindertaufe festzuhalten. Zweitens ist es jedoch entscheidend zu erkennen, dass diese Verteidigung der Kindertaufe in keiner Weise die sehr anders gelagerte Frage nach der Kinderkonfirmation beeinträchtigt. Soweit ich sehe sind die Hauptgründe, die gewöhnlich gegen die Kindertaufe vorgebracht werden, allein von wirklicher Bedeutung in Bezug auf die Kinderkonfirmation. Sie wenden sich gegen die meines Erachtens sehr unprotestantische Vorstellung, dass die getaufte Person in irgendeiner Weise in die Gemeinschaft des Glaubens und des Zeugnisses, die ihr oder ihm durch die Taufe eröffnet wird, ohne ihren oder seinen individuellen Glauben und das individuelle Zeugnis eintreten kann. Ich bin überzeugt, dass es sich bei dieser Vorstellung in Wirklichkeit um ein Missverständnis handelt, so dass sie kaum gerechtfertigt werden kann. Doch was ich nicht einzusehen vermag ist, dass es sich dabei um irgendwelche vernünftigen Gründe gegen die Kindertaufe handelt. Drittens muss ich aber auch sagen, dass die Praxis der Kindertaufe nur gerechtfertigt werden kann, wenn es etwas wie den Ritus der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Konfirmation gibt. Durch diesen Ritus soll das getaufte Kind, das nun erwachsen ist, in ihrem oder seiner Taufe öffentlich konfirmiert werden. Es soll ihren oder seinen Glauben, den ihre oder seine Taufe bezeugt, selbst bekräftigen. Ich meine damit natürlich nicht, dass die Gnade, die in der eigenen Taufe re-präsentiert wurde, nur wirksam werden kann, wenn es ein öffentliches Zeugnis gibt. Im Gegenteil: Die einzig notwendige Bedingung, um die Gnade zu empfangen, egal ob sie in der Taufe oder anderweitig re-präsentiert ist, ist der Glaube; und, wie ich versucht habe zu betonen, ein solcher Glaube ist nicht einfach identisch mit einem öffentlichen Bekenntnis des christlichen Glaubens, wie ihn die Konfirmation strenggenommen fordert. Auf der anderen Seite erzwingt oder gebietet der Glaube selbst aufgrund seiner Natur ein derartiges öffentliches Bekenntnis und ein nach außen gerichtetes Zeugnis während des gesamten säkularen und religiösen Lebens. Genau weil man zum Glauben kommt, fühlt man sich selbst unvermeidlich zum Zeugnis des eigenen Glaubens in den nach außen gerichteten, sichtbaren Formen von Wort und Tat gedrängt. Meines Erachtens schließt die Praxis der Kindertaufe, die mir vollkommen gerechtfertigt zu sein scheint, in keiner Weise etwas wie eine Konfirmation aus, sondern fordert sie in Wirklichkeit mit innerer Notwendigkeit. Die Taufe kann ein Kind sehr gut in dem Sinn in die sichtbare Kirche aufnehmen, dass sie oder er entscheidend dazu berufen und bestimmt ist, ein Leben zu führen, in dem er oder sie Zeugnis ablegt. Dabei handelt es sich um das einzige konstitutive Amt der sichtbaren Kirche. Zu einem vollen Mitglied der sichtbaren Kirche wird sie oder er jedoch nur, insofern und wenn sie oder er öffentlich die Verantwortung einer aktiven Partizipation in diesem Amt annimmt. Das Alter des Konfirmanden, so möchte ich ergänzen, sollte offensichtlich genügen, um eine Annahme derartiger Verantwortlichkeiten möglich und sinnvoll zu machen. Niemand sollte vor ihrer oder seiner Volljährigkeit zu einem Staatsbürger werden, bis sie oder er alt genug ist, um die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Verantwortlichkeiten zu übernehmen; in genau derselben Weise sollte niemand in der Kirche konfirmiert werden, der nicht alt genug ist, um die mit der Mitgliedschaft einhergehende Verantwortung zu übernehmen.

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6.4.3 Das Kirchenamt Schließlich möchte ich auch noch etwas zum repräsentativen Kirchenamt sagen. Meiner Ansicht nach gibt es und kann es nur zwei universale Kirchenämter geben. In diesem Zusammenhang wird unter „Amt“ verstanden, dass seine Funktion an bestimmte Individuen gebunden ist, die in besonderer Weise zu dessen Ausübung berufen sind. An erster Stelle gilt es das einzigartige und nicht übertragbare Amt der Apostel zu erwähnen. Darunter verstehe ich das unmittelbare Zeugnis gegenüber Jesus als dem Christus, durch das allein jeder, der jemals ein Christ wird, überhaupt Christ werden kann. Außerdem gibt es das gemeinsame oder miteinander geteilte Amt jedes anderen Christen, der dazu berufen ist, ein mittelbarer Zeuge gegenüber Jesus als dem Christus zu sein, indem er durch und mit dem unmittelbaren Zeugnis der Apostel Zeugnis ablegt. Zu diesem gemeinsamen Amt wird man ausdrücklich durch die Taufe als Christ berufen oder ordiniert. Man übt die Aufgaben dieses Amtes aus, indem man öffentlich an dem apostolischen Zeugnis teilnimmt, das für die sichtbare Kirche konstitutiv ist, wobei der Eintritt in die Kirche durch die Konfirmation oder etwas Vergleichbares symbolisiert wird. In diesem Sinne sagt Luther: „So werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht. … Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, dieses Amt auch auszuüben.“9 Diese beiden Ämter allein sind meines Erachtens für die sichtbare Kirche konstitutiv. Jedes andere Kirchenamt kann folglich nur ein nicht-konstitutives oder repräsentatives Amt sein, das einige Aufgaben an einzelne Christen bindet, die von Gott in besonderer Weise im Verborgenen und durch die Vorsehung berufen wurden; ihre göttliche Berufung wird dann durch einen öffentlichen, kirchlichen Ruf ausdrücklich bestätigt, um diese Aufgaben in repräsentativer Weise in und für die Kirche auszuüben. Genau wie Luther bin auch ich davon überzeugt, dass niemand das Recht hat, ein solches repräsentatives Kirchenamt zu übernehmen, 9 M. Luther, An den christlichen Adel (1520), in: Martin Luthers Werke. 120 Bände Weimar, 1883 – 2009, Bd. 6, 407, Z. 13 ff., Z. 22 f.; S. 408, Z. 11 f.

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wenn er oder sie nicht auch ausdrücklich in ihrem oder seinem Ruf durch einen offiziellen Ruf durch die sichtbare Kirche bestätigt wurde. Gleichwohl bestreite ich leidenschaftlich das Recht jeder institutionalisierten Kirche, Bedingungen für das Erlassen eines solchen offiziellen Rufes zu benennen, die sich von denen unterscheiden, die grundsätzlich notwendig sind, um die Funktionen dieses Amtes in gültiger Form auszuüben. Damit verwerfe ich unter anderem die historische Tradition, die entweder das männliche Geschlecht oder die heterosexuelle Orientierung eines Christen zur notwendigen Bedingung erhoben hat, um die offizielle kirchliche Berufung zu einem repräsentativen Kirchenamt zu empfangen. Zweifellos fördert ein derartig repräsentatives Kirchenamt in der Regel das konstitutive Kirchenamt. Und es passt vollkommen, dass das Kirchenamt und das Wort der Versöhnung in besonderer Weise denen anvertraut werden sollte, die in dieses Amt berufen wurden, indem ihnen die anderen repräsentativen Aufgaben der Verkündigung des Wortes und der Verwaltung der Sakramente anvertraut wurden. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es sich dabei entweder um die einzigen Aufgaben des Kirchenamtes handelt, noch dass sie oder irgendeine ihrer anderen Funktionen unter keinen Umständen von jemand anders als dem repräsentativen Amtsträger ausgeübt werden könnten. Zu diesem Amt gehören auch die grundlegenden Aufgaben der christlichen Lehre oder Unterweisung sowie der Seelsorge und der Verwaltung des Lebens und der Arbeit der Kirche. Kurz gesagt: Der repräsentative Amtsträger ist dazu berufen, alle Formen, durch die das christliche Zeugnis überbracht wird und die zur sichtbaren Kirche gehören, die impliziten ebenso wie die expliziten, zu leiten. Trotzdem bestehen die Hauptaufgaben des repräsentativen Amtes strenggenommen in den explizit religiösen Funktionen der christlichen Verkündigung und der Lehre, mithin im Predigen des Wortes und der Verwaltung der Sakramente. Dies ist nicht etwa deshalb der Fall, weil die Kirche ohne diese Funktionen nicht die Kirche wäre. Diese Funktionen sind in Hinblick auf die Geschichte, die die Kirche durchlaufen hat und in Bezug auf die Zukunft, die sie erwartet, von äußerster Wichtigkeit für den Dienst der Kirche genauso wie für das repräsentative Amt, an das diese Aufgaben gewöhnlich gebunden sind. Es gibt meines Erachtens keinen Grund, noch mehr über dieses Thema zu sagen, obwohl ich selbst in dem besonderen Amt des his© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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torischen Episkopats eine spezielle Form des Kirchenamtes sehe, für das unter dem Blickwinkel der Vergangenheit wie der wahrscheinlichen Zukunft der Kirche viel spricht. Der kritische Punkt ist lediglich, dass der Episkopat als solcher nicht mehr konstitutiv für die repräsentative Kirche und ihren Dienst ist als die repräsentative Kirche es für die sichtbare Kirche selbst ist. Die Kirche in ihrem sichtbaren Aspekt wird allein durch das apostolische Glaubensbekenntnis und die ständige Erneuerung dieses Zeugnisses durch alle getauften Christen konstituiert, die durch und mit den Aposteln die alleinige Herrschaft Jesu Christi in der Kraft des Heiligen Geistes und zur Herrlichkeit Gottes, des Vaters bekennen. Dementsprechend ist jedes andere Amt einfach eine Abgrenzung gegenüber diesem allgemeinchristlichen Amt, dieser „Priesterschaft aller Gläubigen“, in Bezug auf bestimmte Personen. Sie sind in besonderer Weise zu diesem Werk aufgerufen und verfügen über die speziellen Gaben und Charismen, die erforderlich sind, um die Kirche in ihrer einzigen unverzichtbaren Aufgabe, ein gültiges christliches Zeugnis abzulegen, zu repräsentieren, – oder, um es noch einmal in den Worten von Paulus zu sagen, das Amt und das Wort der Versöhnung, mit dem die ganze sichtbare Kirche, und damit jeder einzelne Christ, betraut wurde, zu verwirklichen. Folglich ist der episcopos, der allenfalls ein Diener der Diener Jesu Christi ist, am wenigsten für die sichtbare Kirche konstitutiv. Als Bischof ist sie oder er immer nur deren Diener. In den Worten von John Oman gesprochen: Die gültige Unterscheidung wurde vor Jahren getroffen – „Und derjenige, der der erste unter Euch sein wird, soll der Diener aller sein.“ Das einzige gute Werk besteht darin zu dienen, die einzige Macht, nach der es sich zu streben lohnt, ist die Macht zu dienen, und ein Bischof zu sein, ein Aufseher, ein Herrscher bedeutet, richtig verstanden, der Erste zu sein in der Demut, der Bereitschaft zu helfen, bei der Arbeit, in der Gefahr und, falls nötig, in der Erniedrigung … [Ein Bischof zu sein bedeutet,] der Repräsentant der Kirche zu sein, ihre Gedanken zu äußern, und, falls nötig, ihre Schande zu ertragen.10

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Oman, Vision and Authority, 282 – 83. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

7. Über Erlösung

7.0 Einleitende Bemerkungen Für die christliche Erlösungslehre sind zwei Voraussetzungen unverzichtbar: (1) die universale Tatsache der Sünde; und (2) die universale Tatsache der Gnade des dreieinigen Gottes, die entscheidend durch Jesus Christus re-präsentiert und implizit durch den Heiligen Geist und damit explizit durch die sichtbare Kirche und ihre Mittel zur Erlösung bezeugt wird. Ich hoffe, dass die zweite dieser Voraussetzungen inzwischen hinreichend durch das, was ich schon über Jesus Christus und den Heiligen Geist, die Kirche und die Mittel zur Erlösung gesagt habe, geklärt wurde. Doch ich erlaube mir eine weitere Erläuterung: Die Gnade des dreieinigen Gottes, die entscheidend durch Jesus Christus re-präsentiert und durch den Heiligen Geist und die Kirche bezeugt wird, ist ein ebenso universaler Sachverhalt wie die Sünde, von der sie erlöst. In den Worten von Paulus an die Römer gesprochen: „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren“ (Röm 3,23). „Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden. Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen und durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben führen, durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ (Röm 5,20 – 21) Ich kann jedoch das christliche Verständnis von Erlösung nicht erklären, ohne auf die wesentlichen Aspekte dessen zurückzugreifen, was ich schon über die andere notwendige Voraussetzung gesagt habe: über die Sünde und deren Universalität. Daraus ergibt sich der erste Abschnitt dieser Erörterung.

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Die Sünde, von der wir erlöst sind

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7.1 Die Sünde, von der wir erlöst sind Der Begriff der Sünde, so habe ich argumentiert, ist strenggenommen nur in einem weiten Sinn ein moralischer Begriff. Er verweist auf alles, was moralische Freiheit entweder auf der kategorialen Ebene der Lebenspraxis oder – wie es für die Sünde gilt – auf der transzendentalen Ebene des Selbstverständnisses beinhaltet. Die Sünde hat es zunächst damit zu tun, wer wir sind oder wie wir existieren, d. h. damit, wie wir uns selbst in Beziehung zu uns selbst, zu anderen und zu dem absolut letzten Ganzen der Wirklichkeit, das „Gott“ genannt wird, verstehen. Davon zu unterscheiden ist, wie wir gewöhnlich handeln und was wir tun, indem wir unser konkretes Leben führen. Strenggenommen wird die Sünde an sich als Gegenpart zur Gerechtigkeit verstanden, als Mangel an oder Privation von ihr, in der sich die richtige Beziehung zu uns selbst, zu anderen und zu Gott manifestiert. In ihrer Wurzel ist die Sünde, negativ definiert, Unglauben, und das heißt Misstrauen und Untreue gegenüber Gott als der einzigen, ursprünglichen Quelle und dem einzigen, letzten Ziel aller Dinge; positiv definiert ist Sünde Götzendienst, und das heißt Vertrauen in und Treue gegenüber etwas oder jemand anders neben Gott, die wir in gewisser Weise für unser Sein und unsere Bedeutung als Personen als unverzichtbar ansehen. „Sünde“ in diesem Sinn kann in dreifacher Weise differenziert oder bestimmt werden. Man kann von ihr sprechen als (1) der ursprünglichen Sünde: von Sünde im Sinne des menschlichen Zustandes oder der menschlichen Verfassung, als einem Modus des Selbstverständnisses oder der Existenz – insbesondere des inauthentischen Existenzmodus, der in seiner Wurzel Unglaube und Götzendienst ist. Die „ursprüngliche Sünde“ ist folglich einer von zwei ursprünglichen menschlichen Urmöglichkeiten „vor Gott“ (coram Deo) zu existieren; die andere Urmöglichkeit ist die „ursprüngliche Gerechtigkeit“, die der authentische Existenzmodus ist, der Zustand oder die Verfassung, menschlich zu existieren. Ihre Wurzel ist ein gehorsamer Glaube, mithin das Vertrauen in Gott und die Treue zu Gott allein. (2) der wirklichen Sünde: Sie bedeutet die Sünde als einen Akt, der sich vom menschlichen Zustand oder der menschlichen Verfassung unterscheidet. Es handelt sich insbesondere um einen Akt, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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durch den wir uns selbst vor Gott missverstehen, so dass wir in Unglaube und Götzendienst existieren, voller Misstrauen und Untreue gegenüber Gott, anstatt in gehorsamem Glauben, in Vertrauen und Treue zu Gott allein. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal hervorheben, dass es eine dialektische oder paradoxe Beziehung zwischen der ursprünglichen Sünde als Zustand, Verfassung oder Existenzmodus gibt und der wirklichen Sünde als einem Akt. Weil oder insofern man inauthentisch existiert und sich und die Welt vor Gott missversteht, indem man den letzten Sinn des eigenen Lebens in etwas neben Gott sucht, handelt man auch inauthentisch in allem, was man denkt, sagt und tut. Betrachtet man dagegen die Beziehung umgekehrt, dann gilt: Inauthentisch existiert man nur, weil und insofern man damit fortfährt, inauthentisch zu handeln. Wenn man ein Sünder ist, dann handelt man sündig; aber nur wenn man sündig handelt, ist man ein Sünder. (3) den wirklichen Sünden: Sie beruhen auf unseren Gedanken, Worten und Taten, die beides ausdrücken: die ursprüngliche und die wirkliche Sünde. Sie stellen diese auch anderen gegenüber fälschlicherweise als deren authentische Möglichkeit dar und verführen sie so zur Sünde. Strenggenommen handelt es sich bei dem Begriff Sünde um einen ethischen Begriff auf der transzendentalen Ebene der moralischen Freiheit. Deshalb können die eigenen Gedanken, Worte und Taten auf der kategorialen Ebene wirkliche Sünden „vor Gott“ sein, sogar wenn sie entweder im relativen oder absoluten Sinne „vor den Menschen oder vor der Welt“ (coram hominibus s. coram mundo) als moralisch richtig angesehen werden. Mit einem im relativen Sinn moralisch richtigen Verhalten meine ich Handlungen, die in Hinblick auf die konventionellen moralischen Normen irgendeiner Gesellschaft oder Kultur, die die Grundlage für die Beurteilung der in Frage stehenden Handlungen sind, als moralisch richtig gelten. Im absoluten Sinn moralisch richtig zu handeln bedeutet für mich dagegen, sich in Hinblick auf die transsozialen, transkulturellen Gebote Gottes moralisch richtig zu verhalten. Diese sind in Gottes Willen als Schöpfer gegründet und damit auch in der geschaffenen Natur menschlicher Wesen und der Kreaturen im Allgemeinen. Diese Gebote sind die ursprüngliche Quelle der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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moralischen Autorität aller konventionellen sozialen oder kulturellen moralischen Normen, insofern als sie wirklich moralisch legitimiert sind. Doch sogar Gedanken, Worte und Taten, die moralisch richtig sind, und zwar nicht nur in relativer, sondern absoluter Hinsicht, können gleichzeitig sündig sein. Das ist der Fall, weil oder insofern sie aus der Sünde als einer ungläubigen, götzendienerischen, eitlen und selbstverliebten Begierde erwachsen, die darauf zielt, den letzten Sinn des eigenen Lebens zu bewahren. Sie entspringen nicht dem gehorsamen Vertrauen in Gottes Liebe und der Treue zu Gottes Sache, deren Anliegen es ist, dass alle Seienden sie selbst sein und werden sollen. Die Relevanz dieses Punktes kann vor dem Hintergrund der herkömmlichen Identifikation der Sünde mit einer einfachen moralischen Überschreitung auf der kategorialen Ebene nicht genug betont werden. Setzt man diese Unterscheidungen voraus, dann kann man auch die folgende und häufig nützliche Differenzierung zwischen der Sünde im strengen und der Sünde im weiten Sinn machen: Der erste Aspekt verweist auf die ursprünglich-wirkliche Sünde, der zweite auf die ursprünglich-wirkliche Sünde in Verbindung mit den wirklichen Sünden, die sie ausdrücken und gegenüber anderen darstellen. Nebenbei bemerkt gilt eine entsprechende Unterscheidung, mutatis mutandis, auch zwischen dem Glauben im strengen Sinn des gehorsamen Vertrauens in und der Treue zu Gott allein und dem Glauben im weiten Sinn, der die „guten Werke“ oder „Früchte“ einschließt, durch die der Glaube, der durch Liebe wirkt, sich ausdrückt und re-präsentiert wird. In diesem Sinn verstanden ist die Sünde eine universale Tatsache und keine modale Notwendigkeit. Damit meine ich, wie ich schon früher erklärt habe, dass die menschliche Verfassung aufgrund der Freiheit tatsächlich eine „missliche Lage“ ist, die sich nur durch statistische Verallgemeinerung beschreiben lässt. Danach (1) neigt ein menschliches Wesen ständig dazu, sich vor Gott falsch zu verstehen; und (2) ein menschliches Wesen wird in eine Menschheit hineingeboren, für die diese statistische Verallgemeinerung immer schon gilt. Es handelt sich in Gedanken, Worten und Taten und deren komplexer Institutionalisierung in Gesellschaften und Kulturen immer schon um eine gefallene, korrumpierte Menschheit. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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7.2 Die Erlösung von der Sünde aus Gnade allein durch den Glauben Folgt man dem Verständnis des christlichen Glaubens, dann werden wir von der universalen Tatsache der Sünde durch die nicht weniger universale Tatsache von Gottes erlösender Gnade erlöst. Sie wird ursprünglich jedem von uns implizit in jedem Augenblick unserer Existenz präsentiert und dann explizit in entscheidender Weise durch Jesus Christus re-präsentiert. Mit „Erlösung“ ist folglich genaugenommen zunächst und grundlegend die rettende Aktivität Gottes gemeint, aus der die gesamte Menschheit und damit jeder einzelne Mensch, ungeachtet der universalen Tatsache der Sünde, in Gottes eigenes immerwährendes Leben hineingenommen wird. Der theologische Ausdruck für diese göttliche Aktivität ist „Gnade“. Zweitens besteht, in vollständiger Abhängigkeit von Gottes Gnade, der Prozess der Erlösung in der Aktivität einer Frau oder eines Mannes, durch die sie oder er Gottes Annahme annimmt. Der theologische Ausdruck für diese menschliche Aktivität ist „Glaube“, genauer gesagt, ein „Glaube, der durch Liebe wirkt“, und einer Liebe, die sich, wie ich gerne sage, als Gerechtigkeit inkarniert. Obwohl wir allein aus der Gnade Gottes von der Schuld der Sünde und ihrer Macht entweder befreit sind oder werden, kann uns sogar die Gnade Gottes nur aufgrund unseres eigenen Selbstverständnisses erlösen, durch unsere freie und verantwortliche Re-Aktion auf Gottes Handeln. Sogar der große Augustinus, der über die Jahrhunderte hinweg als „Doktor der Gnade“ (doctor gratiae) bekannt war, betonte zu Recht, dass Gott „der uns ohne uns geschaffen hat, uns nicht ohne uns erlösen wird.“Auch nach der Lehre des Augsburger Bekenntnisses (Art. 4) werden wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht, „aus Freigebigkeit um Christi willen durch den Glauben“ (gratis … propter Christum per fidem). Hinter diesen Formulierungen verbirgt sich natürlich die Paulinische Lehre an die Epheser 2,8, dass „ihr aus Gnade … durch den Glauben erlöst“ seid.

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7.3 Einige Probleme bei der Entwicklung der Erlösungslehre In diesem letzten Abschnitt möchte ich kurz sieben Themen erörtern, mit denen man sich in der weiteren Entwicklung der Erlösungslehre befassen muss.

7.3.1 Die Natur der Gnade Nach einem wohlbekannten Spruch des Reformators Philip Melanchthon ist „Gnade keine Medizin, sondern eine Gunst“. Melanchthon wendet sich hier gegen die Position, die in der Lehre und der Theologie des traditionellen Christentums bis mindestens ins frühe zweite Jahrhundert nach Christus bei Ignatius von Antiochia verbreitet war, der vom Abendmahl als einer „Medizin zur Unsterblichkeit“1 sprach. Im Gegensatz dazu darf nach Melanchthon – und in diesem Punkt folgt er Luther – Gnade nur in streng relationalen Begriffen als Gottes „Gunst“ (favor) uns gegenüber verstanden werden. Heute ziehen wir es vor, anstatt von „Gottes Gunst“ von „Gottes Annahme“ und von unserem Glauben, mit Paul Tillich, als unserer „Annahme von Gottes Annahme“2 zu sprechen. Aber unabhängig davon, wie wir den Terminus „Gnade“ übersetzen, gilt es zu betonen, dass die wahre Natur der Gnade darauf beruht, dass sie eine „wirkliche“, nicht bloß eine „imputative“ Kraft besitzt. In den Begriffen von John Wesley formuliert, beinhaltet die Gnade, die durch den Glauben empfangen wird, nicht nur eine „relative Veränderung“ oder eine Veränderung, in deren Zusammenhang uns Gott Gerechtigkeit zuschreibt, sondern eine „wirkliche Veränderung“, durch die unser Leben derart verwandelt wird, so dass wir wirklich gerecht werden.

1

Ignatius von Antiochien, Briefe an die Epheser 20. In: Die Apostolischen Väter. Aus dem Griechischen übersetzt von Franz Zeller. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 35) München 1914. 2 Tillich, In der Tiefe ist Wahrheit. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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7.3.2 Gnade und Freiheit Jeder von uns wird, aufgrund der eigenen, freien Erwiderung im Glauben, allein aus Gnade und doch nicht ohne uns selbst erlöst. In diesem Sinne lautet die richtige Formulierung „allein aus Gnade, aber nicht ohne uns selbst“ (sola gratia non sine homine). Folglich sind weder ein „Monergismus“, wonach die Erlösung sich „allein aus Gnade ohne uns“ (sola gratia sine homine) vollzieht, noch ein „Synergismus“, dessen Formulierung „sowohl aus Gnade wie aus uns selbst“ (et gratia et homine) ist, adäquate theologische Positionen. Gleichwohl sind sie, gemeinsam mit dem Pelagianismus, die einzigen Positionen, die uns als logisch möglich erscheinen, solange wir Gnade als nicht-relationalen und nicht als relationalen Terminus verstehen, (oder, wie ich glaube, missverstehen). Es mag hilfreich sein an dieser Stelle ein Wort zu der sogenannten Exklusivpartikel „allein“ (sola) zu sagen, die die Reformatoren benutzen, um damit das auszudrücken, was sie unter der Erlösungslehre des Neuen Testaments verstehen. Entscheidend an dieser Partikel in all ihren Verwendungsweisen ist nicht, dass andere Faktoren, die in irgendeiner Weise für den in Frage stehenden Prozess ebenfalls relevant oder bedeutsam sein können, ausgeschlossen werden. Diese anderen Faktoren sollen lediglich nicht als ursprünglich oder primär relevant oder bedeutsam gelten. Die Rede von der „Schrift allein“ (sola scriptura) beabsichtigt daher zum Beispiel nicht, die Tradition als Quelle oder Norm für das christliche Zeugnis als bedeutungslos zu verwerfen. Ausgeschlossen werden soll vielmehr nur die Tradition als eine Quelle oder Norm von primärer Bedeutung, da nach Auffassung der Reformatoren nur die Schrift diese Rolle spielen kann. Dasselbe gilt für die Rede von „Christus allein“ (solus Christus). Damit ist keineswegs beabsichtigt, die Kirche oder die Mittel zur Erlösung als völlig irrelevant oder unbedeutend für den Erlösungsprozess abzulehnen. Verneint wird lediglich ihre ursprüngliche Bedeutung oder primäre Funktion, die ausschließlich Christus hat oder zukommt. Dasselbe gilt für alle anderen Verwendungsweisen der Exklusivpartikel, nicht zuletzt in dem Schlagwort „allein aus Gnade“ (sola gratia). Auch hier soll in keiner Weise der „Glaube“ herabgewürdigt werden. Dem Glauben soll lediglich eine ähnlich ursprüngliche Relevanz oder Funktion abgesprochen werden, da diese strenggenommen nur von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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der Gnade beansprucht werden kann. Dasselbe gilt von der Verwendung der Partikel in der Formulierung „allein durch Glauben“ (sola fide). Sie leugnet in keiner Weise die Bedeutung „guter Werke“, sondern richtet sich nur dagegen, ihnen eine ursprüngliche Bedeutung zu verleihen, die nur dem Glauben zukommen kann.

7.3.3 Prädestination Es gibt meines Erachtens keine doppelte, sondern nur eine einzige Prädestination: Jeder Mensch ist immer schon durch die Gnade Gottes angenommen und damit zur Erlösung berufen; kein Mensch wird von Gott verworfen, der nicht frei und verantwortlich Gottes Annahme ablehnt. Die traditionelle Unterscheidung zwischen der Berufung von Frauen und Männern durch Gott und deren Erwählung durch Gott ist nämlich, richtig verstanden, eine Folge ihrer eigenen Wahl, ohne die Gottes Erwählung im jeweiligen Einzelfall nicht wirksam ist und sein kann. Wir werden von Gott erwählt (oder nicht erwählt) nur durch unseren eigenen Akt der Wahl (oder des NichtWählens). Dennoch gibt es, so glaube ich, ein legitimes theologisches Motiv in der traditionellen Lehre von der doppelten Prädestination. Denn obgleich Gott nur die Erlösung jeder Frau und jedes Mannes will und allein in Hinblick auf dieses Ziel agiert, will Gott mit jedem bei dessen Verdammnis mitleiden, wenn er aufgrund seiner Freiheit Gottes Annahme zurückweist. In diesem Sinn oder bis zu diesem Ausmaß sind Verdammnis oder Verwerfung genauso wie Erlösung oder Erwählung nicht etwa außerhalb, sondern innerhalb von Gottes allliebendem Ziel.

7.3.4 Universale Erlösung vs. doppelte Bestimmung Da Gottes Gnade universal ist, ist es auch der Ruf zur Erlösung, der implizit an jedes einzelne menschliche Individuum in jedem Augenblick ihrer oder seiner Existenz ergeht. Doch der universale Ruf zur Erlösung ist eine Sache, die universale Erlösung selbst eine andere. Wie wir gesehen haben, hängt letztere nicht allein von Gottes Annahme © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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aller Frauen und Männer aus Gnade ab; sie hängt auch davon ab, dass jeder Einzelne von ihnen Gottes Annahme durch gehorsamen Glauben seinerseits frei annimmt. Deshalb können das christliche Zeugnis und die christliche Theologie die Wirklichkeit der universalen Erlösung ebenso wenig zusichern wie ihre Möglichkeit leugnen, wie es de facto durch die Gegenposition der doppelten Bestimmung und ihrer Annahme von Himmel und Hölle, ewiger Erlösung und ewiger Verdammnis geschieht.

7.3.5 Rechtfertigung und Heiligung Kernstück der Erlösung sind Rechtfertigung und Heiligung, die, obwohl sie sich unterscheiden, untrennbar miteinander verbunden sind. Die Gnade ist nämlich der einzige Grund und der Glaube die einzige Bedingung von beiden gleichermaßen. Als Rechtfertigung ist unsere Annahme von Gottes Annahme, mit den Worten John Wesleys gesagt, „eine relative Veränderung“, die Vergebung der Vergangenheit, die Freiheit von der Schuld der Sünde; und als Heiligung ist sie eine „wirkliche Veränderung“, Offenheit für die Zukunft, die Freiheit von der Macht der Sünde. Nebenbei bemerkt sind meines Erachtens das Zeugnis und die Theologie von Wesley in Hinblick auf das Thema dieses und des nächsten Abschnitts ebenso wie in Bezug auf die Erlösungslehre im Allgemeinen nach wie vor sehr viel adäquater als jede andere mir bekannte.

7.3.6 Glaube und gute Werke Obwohl wir „allein durch Glauben“ (sola fide) erlöst werden, werden wir nicht durch „einen einsamen Glauben“ (solitaria fide) erlöst, durch einen Glauben, der nicht von guten Werken begleitet ist, die, in den Worten von Paulus gesprochen, seine „Früchte“ sind. Im Gegenteil: „Der Glaube ist niemals einsam“ (fides nunquam solitaria), weil gute Werke ebenso notwendig für einen Glauben, der durch Liebe wirkt, sind, wie wirkliche Sünden für die ursprünglich-wirkliche Sünde. Der Glaube drückt sich unvermeidlich im Glaubenszeugnis entweder implizit oder explizit aus (oder, mit den Worten von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Wesley gesagt, entweder in „Werken der Barmherzigkeit“ oder „Werken der Frömmigkeit“). Die Voraussetzung ist lediglich, dass „Zeit und Gelegenheit“ dazu bestehen. In diesem Sinne sind gute Werke notwendig für die Erlösung – nicht weil wir nicht allein durch den Glauben erlöst werden, sondern gerade weil wir es sind.

7.3.7 Erlösung und Gesellschaft Der Bereich menschlicher Möglichkeit und Verantwortlichkeit, der aus Gottes Gnade bestimmt wird, umfasst die gesamte menschliche Existenz – den „äußeren“ wie den „inneren Menschen“. Auch die Erlösung beinhaltet daher zwangsläufig unser ganzes Leben als Individuen und in der Gesellschaft. Sie befreit von Sünden und von der Sünde und damit zu guten Werken oder einer Liebe, die sich selbst als Gerechtigkeit inkarniert, ebenso wie zu einem Glauben, der durch Liebe wirkt. Dieser Gedanke hat jedoch eindeutig Folgen für uns in der Gegenwart. Nicht immer haben Christen diese begriffen – und viele von ihnen erkennen sie nach wie vor nicht. Aufgrund unserer spezifisch modernen Einsicht in die vollständige Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz sehen wir nun, dass ein Mensch zu sein trotz aller Unterschiede bedeutet, an dem Prozess teilzunehmen, durch den Frauen und Männer sich selbst erschaffen, indem sie ihre eigenen Gesellschafen und Kulturen hervorbringen. Weit davon entfernt entweder durch Gott bestimmt oder naturhaft vorhanden zu sein, sind sogar die grundlegendsten Strukturen der sozialen und kulturellen Ordnung historisch entstanden. Sie werden durch menschliche Entscheidungen geschaffen, erhalten und/oder transformiert. Sogar diese Strukturen liegen demnach nicht außerhalb, sondern innerhalb des Bereichs menschlicher Möglichkeiten und Verantwortung, der aus Gottes universaler, erlösender Gnade bestimmt wird. Mit anderen Worten: Die guten Werke, die für unsere Erlösung notwendig sind, schließen nicht nur Werke ein, die unmittelbar auf die Befriedigung der Bedürfnisse gerichtet sind, die innerhalb unserer etablierten Gesellschaften und Kulturen entstehen. Sie umfassen auch und vor allem Werke, die darauf zielen, diese Gesellschaften und Kulturen selbst zu verändern, um ein noch tiefer liegendes menschliches Bedürfnis nach einer sozialen und kulturellen Ordnung, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wahrhaft gerecht ist, zu befriedigen. Es sollte allen, deren Leben durch sie determiniert ist, eine faire Möglichkeit eingeräumt werden, diese ihrerseits mit zu gestalten. Wenn man diesen Gedanken begreift, dann versteht man auch, warum nicht nur das frühere „soziale Evangelium“, sondern auch die neueren „Theologien der Befreiung“ auf jeden Fall ihren Platz in einer adäquaten Erlösungslehre finden müssen. Selbst wenn man, wie ich es tue, es ablehnt, von einer „sozialen Erlösung“ zu sprechen, weil Gesellschaften als solche weder sündigen noch erlöst werden können in dem Sinn, wie nur eine individuelle Person erlöst werden kann, beinhaltet eine wirklich gelebte Erlösung eine Lebenspraxis der Befreiung und muss sie beinhalten. Damit meine ich nicht nur, dass explizit von der Erlösung der Welt aus Gott und damit auch von der realen Möglichkeit ihrer eigenen Erlösung von der Sünde vor allen Frauen und Männern Zeugnis abgelegt wird. Es kommt auch darauf an, ihre Erlösung implizit zu bezeugen. Dies geschieht vor allem durch ein aktives Zusammenwirken mit Gott und allen anderen Menschen guten Willens für ihre Befreiung. Es kommt darauf an, an dem Konflikt zwischen menschlichen Interessen im ganzen Ausmaß teilzunehmen und Partei für den Kampf der Armen und Unterdrückten zu ergreifen, um eine immer freiere und gleichberechtigtere soziale und kulturelle Ordnung aufzubauen.

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8. Über die letzten Dinge

8.1 Die „letzten Dinge“ in der protestantischen orthodoxen Theologie Die Behandlung der Eschatologie in der orthodoxen protestantischen Theologie beinhaltet gemeinhin die Erörterung der sogenannten „letzten Dinge“ (novissimis; griech.: ta` 5scata), zu denen die folgenden gehören: 1. der zeitliche Tod der individuellen Person (mors); 2. die Auferstehung von den Toten (mortuorum resurrectio); 3. das Jüngste Gericht (extremum judicium); 4. das Ende der Welt (consummatio saeculi); 5. das ewige Leben (vita aeterna); und 6. der ewige Tod (mors aeterna). Diese Grundbegriffe werden in der orthodoxen Theologie in der Regel folgendermaßen interpretiert: Nach dem Tod lebt die Seele der individuellen Person, die unsterblich ist, getrennt vom Körper weiter. Während des „Zwischenzustandes“ (status intermedius) zwischen der Trennung vom Körper und ihrer Wiedervereinigung mit ihm bei der Auferstehung von den Toten, erfährt die Seele einen Vorgeschmack entweder des Himmels oder der Hölle. Die Seelen der Gerechten befinden sich während dieser Interimsphase „in der Hand Gottes“ (in manu Dei) und erwarten die Erfüllung der ewigen Glückseligkeit, während sich die Seelen der Gottlosen selbst „am Ort der Qual“ (in loco tormentorum) befinden, wo sie die ewige Verdammnis erwarten. Danach werden zum festgesetzten Zeitpunkt die Körper aller Toten erweckt und die aller Lebenden transformiert. Die Körper der Gerechten und die der Gottlosen werden gleichermaßen „unvergäng© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Über die letzten Dinge

lich“ (incorruptibilia) gemacht, doch die der Gerechten werden außerdem „transfiguriert“, „ermächtigt“ und „vergeistigt“ (clarificata, potentia, et spiritualia). Am Ende der Welt, an dem alle Wesen außer Menschen und Engeln vom Feuer verschlungen werden, erscheint Christus, um das Jüngste Gericht zu halten und bestimmt die Gerechten zum ewigen Leben, die Gottlosen zum ewigen Tod oder der Verdammnis. Von den fünf endgültigen „Bereichen“ (receptacula), die gewöhnlich in der römisch-katholischen Theologie unterschieden werden – nämlich „Himmel“ (paradisus), „Hölle“ (infernus), „Fegefeuer“ (purgatorium), „Vorhölle der Kinder“ (limbus infantium) und „Vorhölle der Väter“ (limbus patrum) – werden demnach nur die ersten beiden klar unterschieden. Auch das ewige Leben, in dem Grade oder „Stufen“ (gradus) unterschieden werden müssen, besteht vor allem in der „Gottesschau“ (visio Dei). Und in der Hölle, die ewig ist, gibt es in ähnlicher Weise Grade oder Stufen der Qual (gradus cruciatum). Es ist natürlich selbstverständlich, dass es bei dieser traditionellen Lehre von den letzten Dingen wie bei allen anderen Lehren, die wir betrachtet haben, Nuancen und Variationen gibt, je nachdem, wie der jeweilige Denker sie entwickelt hat. Doch den von mir skizzierten Hauptlinien ist man immer wieder gefolgt. Wir können daher sicher sein, dass, wenn wir uns an dem von mir vorgestellten Schema orientieren, wir keinen ernsthaften Nachteil bei der Behandlung der letzten Dinge, wie sie mehrheitlich in der orthodox-protestantischen – und in einem beachtlichen Ausmaß auch der römisch-katholischen – Theologie erfolgte, haben werden. Zumindest im Rahmen dieser Diskussion möchte ich jedoch meine eigene Abwandlung dieses traditionellen Themenmosaiks nicht entwickeln. Ich möchte mich vielmehr an dieser Stelle der fundamentaleren Frage zuwenden, die von der traditionellen Lehre von den letzten Dingen ebenso wie von anderen christlichen Lehren notwendig vorausgesetzt wird: Es handelt sich um die existentielle Frage nach dem letzten Sinn unserer Existenz als Menschen, die ich bereits mehrfach angesprochen habe. Nach meiner Überzeugung ist das tiefere Thema der Eschatologie, genauso wie der Lehren über Gott und Jesus Christus und jeder anderen Lehre, unsere eigene menschlichen Existenz und jedwede Existenz vor ihrem endgültigen Horizont, so wie sie also in der reinen, grenzenlosen Liebe Gottes und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Die Bedeutung christlicher Hoffnung

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Gottes barmherzigen Angebots, alle Frauen und Männer zu erlösen, gegründet und beschlossen ist. Weil ich selbst in dieser Hinsicht so zuversichtlich bin und weil es mir ein Anliegen ist, dass auch andere anfangen, „die letzten Dinge“ in diesem Licht zu sehen, möchte ich mich auf die Darstellung der Bedeutung der christlichen Hoffnung konzentrieren. Mein besonderes Augenmerk gilt der Art und Weise, in der sie sich angesichts der „Grenzsituationen“ der Vergänglichkeit und des Todes des Individuums wie der Spezies manifestiert. Wenn es gelingt genau zu verstehen, was Christen im Angesicht von Vergänglichkeit und Tod hoffen dürfen und wozu sie die Kraft erhalten – und was sie deshalb als die Hoffnung bezeugen sollen, die jedem Menschen zu Teil werden kann und zu der er auch aufgerufen ist – dann werden meines Erachtens alle Details der Lehre von „den letzten Dingen“, und zwar von allen letzten Dingen, entweder viel vorsichtiger gehandhabt oder können gefahrlos ignoriert werden. In ihrer Eschatologie haben Christen allzu oft vor allem ihren Kritikern Gründe an die Hand gegeben sich darüber zu beklagen, dass sie angeblich mehr über die wesentlichen und irreduziblen Mysterien der menschlichen Existenz wissen, als irgendjemand ernsthaft behaupten kann zu wissen. Auf jeden Fall möchte ich im Folgenden darlegen, wie ich die Hoffnung aufgrund der Schriften des Neuen Testaments und der Tradition der Kirche verstehe. Ich vertraue darauf, dass ich dadurch so viel wie möglich dazu beitrage, unsere eigenen eschatologischen Reflexionen in die richtige Richtung zu lenken.

8.2 Die Bedeutung christlicher Hoffnung Ich möchte zunächst kurz die charakteristischen Merkmale der christlichen Hoffnung in Erinnerung zu rufen, wie sie in ihrer klassischen Form durch Schrift und Tradition bezeugt werden. Wenn wir die Schriften des Neuen Testaments danach befragen, worauf Christen hoffen, dann scheint die Antwort auf den ersten Blick klar zu sein. Sie hoffen auf „den Tag des Herrn Jesus Christus“, mithin auf sein „Kommen“ oder auf „die Erscheinung“ von Christus, auf die das Jüngste Gericht und die Erlösung durch Gott folgen. Paulus schreibt daher an die Thessalonicher: „Der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Posaune Gottes erschallt. Zuerst werden die in Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein.“(1Thess 4,16 – 17) In diese Hoffnung eingeschlossen ist nicht nur, dass mit der Auferstehung der Toten in Christus die ganze Welt gerichtet wird und alle Menschen ihrer endgültigen Bestimmung zugeführt werden, sondern auch, dass diese Ereignisse bald geschehen werden – in jedem Augenblick. Danach ist die Hoffnung, von der Paulus Zeugnis ablegt, mitsamt den meisten Zeugnissen des Neuen Testaments, in Wirklichkeit nur eine Christianisierung der Hoffnung der späten jüdischen Apokalyptik. Nur in einer Hinsicht besteht ein grundlegender Unterschied: Während die jüdische Hoffnung den „Tag des Herrn“ und Gottes Kommen erwartet, geht die christliche Hoffnung von dem unmittelbar bevorstehenden Kommen des Herrn Jesus als des Messias aus. An einigen Stellen des Neuen Testaments jedoch stoßen wir auf eine ganz andere Weise, die christliche Hoffnung zu formulieren. Zum Teil liegt das sicherlich daran, dass sich die ursprünglich apokalyptische Erwartung des nahen Weltendes als Fehlschluss erwiesen hatte. Es hängt aber auch damit zusammen, dass sich die Christen immer stärker in einer nicht-jüdisch geprägten kulturellen und religiösen Umgebung befanden. Dadurch tendierte die ursprünglich apokalyptische Hoffnung dazu, einer eher typisch hellenistischen Interpretation des menschlichen Schicksals zu weichen. Aufgrund dieser Interpretation, die durch die wichtige religiöse Bewegung der Gnosis einer breiten Öffentlichkeit vertraut war, ist das entscheidende Ereignis, das kommen wird, nicht das Ende des gegenwärtigen Zeitalters mit der Auferstehung der Toten und dem Gericht der ganzen Welt. Es handelt sich um den Tod jeder einzelnen Person. Unter der Voraussetzung, dass man richtig unterrichtet und anderweitig vorbereitet wurde, steigt man unmittelbar in die himmlische Welt des Lichts auf, aus der man ursprünglich herausgefallen ist. Mit anderen Worten gesagt: Während die apokalyptische Hoffnung auf die horizontale Line der historischen Entwicklung projiziert wird und die Auferstehung des Körpers antizipiert, handelt es sich bei der gnostischen Hoffnung um eine vertikale Projektion, die einzig und allein die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ins Auge fasst. Der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Hauptzeuge dieser Hoffnung im Neuen Testament ist der Autor des vierten Evangeliums, für den die frühere apokalyptische Hoffnung, die durch Paulus zum Ausdruck kommt, vollständig ihre Kraft verloren hat. Obwohl Johannes, wie wir ihn nennen, den traditionellen jüdischen Glauben an die Schöpfung der Welt durch Gott vollständig bewahrt und damit den gnostischen Dualismus mitsamt der Lehre von der Präexistenz des Selbst verwirft, stammt seine Art und Weise, die Hoffnung zu verstehen, unmittelbar aus der Gnosis. Das wird nirgendwo offensichtlicher als in den wohlbekannten Worten des vierzehnten Kapitels seines Evangeliums, in denen sich das gnostische Bild vom Aufstieg der Seele nach dem Tod und deren Vereinigung mit ihrem himmlischen Erlöser spiegelt: „Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten? Und wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.“(Joh 14,2 – 3) Bemerkenswert an der späteren Entwicklung des christlichen Zeugnisses und der Theologie ist jedoch, dass diese gnostische Interpretation der Hoffnung die frühere christliche Apokalyptik nicht grundsätzlich verdrängt hat, wie es im Evangelium von Johannes eindeutig der Fall ist. Die Apokalyptik wird einfach überlagert, um die Hoffnung der christlichen Orthodoxie zum Ausdruck zu bringen. Wie aus der Rolle, die sie in den bedeutenden christlichen Glaubensbekenntnissen spielt, ersichtlich wird, trat die apokalyptische Hoffnung auf die Auferstehung der Toten immer mehr in den Hintergrund der orthodoxen Eschatologie. Im Vordergrund stand etwas, das der gnostischen Hoffnung auf Unsterblichkeit sehr ähnelte, und das, so der Glaube, unmittelbar nach dem Tod jeder einzelnen Person erfüllt würde. Unter der Voraussetzung, dass man die Sakramente der Kirche empfangen hatte und daher in einem Zustand der Gnade starb, konnte man erwarten, dass die eigene Seele den Tod des Körpers überleben und sofort mit Gott im Himmel vereint würde. Weil jedoch das ursprüngliche apokalyptische Bild der Hoffnung nie vollständig von der Kirche aufgegeben wurde, unterstützte es weiterhin den größeren Rahmen der traditionellen christlichen Lehre. Obwohl die Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht nun als ferne Ereignisse angesehen wurden und nicht mehr, wie im weitaus größten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Teil des Neuen Testaments, als unmittelbare Zukunft, ging und geht die Tradition noch immer davon aus, dass sich nur durch sie die christliche Hoffnung insgesamt erfüllen wird. Obwohl es sich nicht um mehr als eine äußerst knappe Zusammenfassung der traditionellen Hoffnung der Christenheit handelt, die die orthodoxe Theologie auf ihre Weise voraussetzt und entwickelt, möchte ich dazu zwei Beobachtungen darstellen. Geht man, erstens, von zeitgenössischen Standards von Bedeutung und Wahrheit aus, dann steht außer Frage, dass die Grundbegriffe, in denen die christliche Hoffnung in ihrer klassischen Form bezeugt wurde, durch und durch mythologisch sind und dementsprechend interpretiert werden müssen. Ich meine damit nicht, dass die traditionelle Eschatologie einfach falsch ist. Die weitverbreitete populäre Annahme, dass das, was in einer mythologischen Form zum Ausdruck gebracht wird, nicht wahr sein kann, ist lediglich ein Indiz dafür, in welchem Ausmaß wir alle heute bis zu einem gewissen Grad unter dem Einfluss des Säkularismus stehen. Vor diesem Hintergrund wird bestritten, dass es eine andere Wahrheit als die empirische geben kann, die ihrerseits wiederum am vollständigsten durch die Naturwissenschaften erschlossen wird. Da die Mythologie eindeutig nicht als eine wissenschaftliche Form der Wahrheit angesehen werden kann, scheint der Schluss unabweisbar zu sein, dass sie falsch sein muss. Doch sogar wenn man diese Leugnung und die Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, verwirft, bleibt die Tatsache bestehen, dass man die Mythologie nicht wie einen wissenschaftlichen Gegenstand konstruieren kann. Gleichwohl ist es ein Merkmal der mythologischen Sprache, dass sie eine solche Missdeutung nahe legt. Indem der Mythos der Apokalypse von der Auferstehung der Toten und dem Jüngsten Gericht spricht, scheint er auf kosmische Ereignisse in der nahen oder fernen Zukunft zu verweisen, und zwar in ähnlicher Weise, wie auch die empirische Sprache der Wissenschaften auf „zukünftige Ereignisse“ wie die genannten etwa durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik hinweisen könnte. Bei näherem Hinsehen jedoch wird offensichtlich, dass sich der mythologische Sprachgebrauch in Wirklichkeit stark vom Sprachgebrauch, und sogar von derselben Sprache, der empirischen Wissenschaften unterscheidet. Die eigentliche Intention des Mythos, auf der seine charakteristische Form von Bedeutung und Wahrheit beruht, ist es nicht, von irgendeinem Detail © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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der empirischen Wirklichkeit nach Art der Naturwissenschaften zu sprechen. Er ist vielmehr bestrebt, unser grundlegendes Selbstverständnis in Beziehung zur letzten Wirklichkeit insgesamt zum Ausdruck zu bringen. Wie R.G. Collingwood richtig bemerkt, befassen sich die Wissenschaften aufgrund ihrer Natur mit den Teilen der Wirklichkeit, oder mit allem, was in Einzelteilen betrachtet wird. Der Mythos als die Sprache des Glaubens oder der Religion beschäftigt sich dagegen mit der Wirklichkeit als ganzer und betrachtet so alles, was ist, gemeinsam miteinander.1 Deshalb muss jede Mythologie, und daher auch die traditionelle Sprache der christlichen Hoffnung, so interpretiert werden, dass man ihre wirkliche Bedeutung und Wahrheit, soweit sie eine besitzt, verstehen kann. Kurz gesagt: Die Sprache der Hoffnung muss, wie Rudolf Bultmann argumentiert, entmythologisiert werden. Sie muss in existentialen Begriffen ausgelegt werden, in den Begriffen ihrer ureigensten Intention, um die Bedeutung unserer Existenz in Relation zur letzten Wirklichkeit als ganzer zu enthüllen.2 Das führt mich zu meiner zweiten Beobachtung. Die traditionelle Mythologie der christlichen Hoffnung ist in der Tat ein einfaches Amalgam der späten jüdischen Apokalyptik und der Gnosis und daher für sich betrachtet nichts genuin Christliches. Weder die kollektive Hoffnung auf die letzte Vollendung der gesamten Schöpfung noch die individuelle Hoffnung auf den Aufstieg der Seele in den Himmel unmittelbar nach dem Tod ist in irgendeiner Weise ursprünglich mit dem Christentum verbunden. Dennoch sind beide Formen der Hoffnung, wie wir gesehen haben, von Christen übernommen worden und wirkten schließlich in der traditionellen Lehre über die letzten Dinge zusammen. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine genuin christlichen Gründe gegeben haben könnte, warum Christen diese Bilder der Hoffnung übernahmen und während der Geschichte der Kirche daran festhielten. Im Gegenteil: Mit großer Sicherheit ging die christliche Gemeinschaft nicht nur deshalb dazu über, die Hoffnung in diesen Begriffen auszudrücken, weil es Begriffe waren, in der die Menschen damals natürlicherweise über sich und die 1

Collingwood, Faith and Reason, 122 – 47. Bultmann, Die christliche Hoffnung und das Problem der Entmythologisierung. 2

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gesamte Wirklichkeit, von der sie selbst ein Teil waren, sprachen. Sie taten es auch, weil sie in bestimmter Weise für die christliche Hoffnung selbst als angemessen angesehen wurden. Entscheidend ist jedoch, dass diese Hoffnung das Kriterium für die Beurteilung der Mythologie ist und sein muss – und nicht umgekehrt. Der einzige Weg, den wir heute einschlagen können, um die christliche Hoffnung zu bestimmen, besteht darin, uns ihre mythologischen Ausdrucksformen anzueignen. Dennoch bedarf es einer kritischen Aneignung, wenn wir die christliche Hoffnung nicht einfach als etwas missverstehen wollen, was sie nicht ist. Rufen wir uns folglich noch einmal die erste Beobachtung ins Gedächtnis: Danach muss die Sprache der Hoffnung, die mythologisch ist, entmythologisiert werden. Sie muss in Begriffen interpretiert werden, die das Verständnis der menschlichen Existenz in Beziehung zur letzten Wirklichkeit insgesamt ausdrücken. Das Kriterium unserer kritischen Aneignung, so können wir nun ergänzen, kann nur das genuin christliche Verständnis unserer Beziehung zu Gott sein. Wenn das freilich unsere theologische Aufgabe in Hinblick auf die Eschatologie ist, dann, so behaupte ich, kann es nicht allzu schwer sein, sie zu erfüllen. Ich meine natürlich nicht, dass das Wesentliche der christlichen Hoffnung so offensichtlich und einfach ist, dass weniger als eine äußerst sorgfältige theologische Reflexion ausreichen könnte, um sie zu erklären. Ich behaupte lediglich, dass es keinen Zweifel in Hinblick auf das christliche Verständnis unserer Beziehung zu Gott und daher auch in Bezug auf das Kriterium für die christliche Interpretation der Hoffnung gibt. Soweit es das christliche Zeugnis angeht, ist der letzte Grund und der Gegenstand unserer Hoffnung, ebenso wie unseres Glaubens und unserer Liebe, einzig und allein Gott selbst, wie Gott entscheidend durch Jesus Christus re-präsentiert wird. Für das christliche Verständnis von Existenz wird demnach die absolut letzte Wirklichkeit, mit der wir alle verbunden sind, symbolisch verstanden als reine, grenzenlose Liebe, durch die alle fragmentarischen und vergänglichen Existenzen angenommen und zu einem einzigen wesentlichen und immerwährenden Leben verbunden werden. Diese grenzenlose Liebe ist zugleich der letzte Grund und der Gegenstand unseres Glaubens, unseres gehorsamen Vertrauens in die Wirklichkeit und der Treue zu ihr; und sie ist der letzte Grund unserer eigenen Liebesfähigkeit und der eine in ihr beschlossene Gegenstand, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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dem sich unsere ganze Liebe zuwenden sollte. Indem wir durch Gottes zuvorkommende Liebe zu uns und zur gesamten Schöpfung befreit sind zu lieben, sind wir dazu fähig, zugleich uns selbst und alle anderen in der erwidernden Liebe für Gott zu lieben. Auf dieselbe Weise ist die Liebe Gottes der einzige, letzte Grund und zugleich der Gegenstand der christlichen Hoffnung. Weil das, was letztlich wirklich ist, nicht nur die Welt, sondern Gottes allumfassende Liebe zur Welt ist, gibt es einen Grund für die Hoffnung jenseits und trotz der Grenzen der Welt mit ihrer Vergänglichkeit und angesichts des Todes. Obwohl es das Schicksal der Welt und aller Seienden in ihr ist, dass, indem sie geworden sind, sie auch wieder vergehen und verschwinden werden, ist die Welt dennoch die gute Schöpfung Gottes und der Gegenstand Gottes immerwährenden Liebe. Das, was geschaffen und befreit wurde, wird somit auch errettet und vollendet in dem Sinn, dass es vollständig von Gottes Liebe umfasst und für immer für das geliebt wird, was es ist. Gottes Liebe für uns selbst ist demnach der einzige und letzte Gegenstand christlicher Hoffnung ebenso wie ihr einziger und letzter Grund. Während jedoch diese Hoffnung in Wirklichkeit die Hoffnung auf einen Sinn von uns und der Welt jenseits und trotz der Grenzen der eigenen Vergänglichkeit und des Todes ist, genügt Gottes Liebe allein, um diesen letzten Sinn zu konstituieren. Deshalb ist sie selbst nicht nur der Grund, warum Christen hoffen, sondern auch das, was sie erhoffen. Damit ist in groben Zügen klar, wie eine kritische Aneignung der traditionellen christlichen Mythologie vorgehen muss. Eine solche Mythologie sollte als symbolischer Ausdruck der christlichen Hoffnung ausgelegt werden, einer Hoffnung, die letztendlich in der Liebe Gottes, der entscheidend durch Jesus Christus re-präsentiert wird, gegründet ist und die auf diese nämliche Liebe als ihren höchsten Gegenstand gerichtet ist. Ohne zu sehr in die Details einer solchen kritischen Aneignung zu gehen, möchte ich doch noch zwei weitere Bemerkungen machen. Zunächst einmal bereitet es keine Schwierigkeiten, der Auffassung zuzustimmen, dass es in der Tat genuin christliche Gründe für den traditionellen Weg der Kirche gibt, die Hoffnung auszudrücken. Tatsächlich könnte eine derartige Aneignung leicht erklären, warum die Bilder der Hoffnung aus der jüdischen Apokalyptik und der Gnosis von den Christen in ihrem Zeugnis und ihrer Theologie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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aufgegriffen und beibehalten wurden. Der große Vorteil der Apokalyptik mit ihrer horizontalen Projektion der Hoffnung und dem zentralen Symbol der Auferstehung des Leibes besteht darin, dass es die wahrhaft kosmischen Dimensionen der christlichen Hoffnung zum Ausdruck bringt. Sie sieht in der Wirklichkeit der Gottesliebe das Versprechen der Erfüllung nicht nur für jede einzelne Person und die gesamte Menschheit, sondern für jedes geschaffene Wesen. So wie das Symbol der Schöpfung ausdrückt, dass alles, was ist, seine ursprüngliche Quelle allein in Gottes Liebe hat, so dient das Symbol der Auferstehung dazu auszudrücken, dass alle Seienden in dieser selben Liebe auch ihr einziges, endgültiges Ziel haben. Obwohl also die Begriffe der Apokalyptik mythologisch sind, können sie immer noch dazu verwendet werden, um zu beteuern, dass die gesamte Geschichte, die auch die größere Geschichte der Natur umfasst, einen immerwährenden Sinn hat. Dadurch sind sie geeignete Symbole für die wahrhaft kosmische Hoffnung der Christenheit. Was Christen letztlich ersehnen, indem sie auf Gottes nicht endende Liebe hoffen, ist nichts anderes oder nicht weniger als der neue Himmel und die neue Erde in Gott, die der Autor des Buchs der Offenbarung (21,1) auf seine Weise vorausgesehen hat. Auf der anderen Seite ist es das Verdienst des gnostischen Bildes, die Bedeutung der christlichen Hoffnung für jedes menschliche Individuum zu symbolisieren. Obwohl wir zweifelsohne als Menschen zur Natur gehören und mit ihr überall in einem kontinuierlichen Zusammenhang stehen, sind wir dennoch innerhalb der Natur von ihr unterschieden: Wir sind, soweit wir wissen, der eine Ort, von dem aus die Natur sich vollkommen ihrer selbst, ihrer ursprünglichen Quelle und ihres letzten Zieles bewusst werden kann. Es ist, wie wir schon früher in der Erörterung der menschlichen Existenz gesehen haben, diese besondere Fähigkeit zum vollständigen Bewusstsein unserer selbst und damit in gewisser Weise der Wirklichkeit insgesamt, die erklärt, warum man sagt, dass wir Frauen und Männer in einzigartiger Weise im Bilde Gottes geschaffen sind und damit in einzigartiger Weise glauben und lieben. Genauso sind wir in einzigartiger Weise Geschöpfe der Hoffnung. Wegen dieser Projektion der Hoffnung entlang der Vertikalen und ihrem zentralen Symbol der Unsterblichkeit der Seele hat die Gnosis auf ihre Weise die Unterschiedenheit der menschlichen Existenz von der übrigen Natur aus© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gedrückt. So mythologisch wie es zweifellos ist, kann deshalb das gnostische Bild noch immer benutzt werden, um die einzigartige menschliche Beziehung zu Gott und damit den Sinn der christlichen Hoffnung für die menschliche Existenz zu symbolisieren. Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, ist allerdings, dass weder die apokalyptische Hoffnung auf Auferstehung noch die gnostische Hoffnung auf Unsterblichkeit für etwas anderes oder mehr gehalten werden können, als für Symbole der genuin christlichen Hoffnung. Mit ihr meine ich natürlich die Hoffnung auf Gottes grenzenlose Liebe als dem letzten Sinn der Welt und meiner eigenen individuellen Existenz. Ob die christliche Hoffnung in Begriffen der horizontalen Projektion der Apokalypse ausgedrückt wird oder in denen der vertikalen Projektion der Gnosis, – entscheidend ist, dass sie in Symbolen ausgedrückt wird, die über sich selbst hinausweisen. Die Wirklichkeit von Gottes Liebe und damit der letzte Sinn unseres Lebens ist weder einfach ein weiteres Ereignis in der vor uns liegenden Zukunft noch nur in irgendeinem himmlischen Bereich über uns wirklich. Beide Projektionen sind in Hinblick auf die wirkliche Bedeutung der christlichen Hoffnung inadäquat. Im besten Fall dienen sie als Hinweise auf die eigentliche Wahrheit: Trotz des Vergehens und des Todes aller Seienden und sogar trotz unserer eigenen Sündhaftigkeit als Menschen, wird deren und unser endgültiges Schicksal immerwährend von Gottes Liebe umfasst. Und zumindest als Menschen können und sollen wir an diesem unserem ewigen Leben in Gott durch Glaube, Hoffnung und Liebe schon hier und jetzt in der Gegenwart teilnehmen. Mit anderen Worten gesagt: Die Symbole der Auferstehung und der Unsterblichkeit müssen so verstanden werden, dass sie nicht auf irgendein anderes Leben nach diesem Leben verweisen. Sie weisen auf die immerwährende Bedeutung dieses Lebens selbst in und durch die Liebe Gottes hin. Die einzige Form der Unsterblichkeit oder Auferstehung, die für die christliche Hoffnung wesentlich ist, ist somit nicht unser subjektives Überleben des Todes, sondern unsere vollständige objektive Unsterblichkeit oder Auferstehung in Gott, unser endgültiges Angenommen- und Gerichtetwerden durch Gottes Liebe, um so ewig mit der gesamten Schöpfung in Gottes eigenem, nie endendem Leben vereint zu werden. An diesem Punkt muss ich an zwei meiner älteren Zeitgenossen denken – einer ein Philosoph, der andere ein Theologe – deren © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Denken stark mit meinem konvergiert. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein gesteht in einer berühmten Vorlesung über Ethik, manchmal das „Gefühl, absolut geborgen zu sein“ erlebt zu haben. „Ich meine den Seelenzustand“, so erläutert er, „in dem man sagen möchte: ,Ich bin in Sicherheit, und was auch immer geschehen mag, kann mir nichts anhaben‘.“3 Obwohl Wittgenstein kaum mehr über dieses Gefühl oder diesen Geisteszustand sagt, scheint er meinem eigenen sehr nahe zu kommen, wenn ich, wie ich es tue, auf meine objektive Unsterblichkeit in Gottes Liebe hoffe. Der andere Denker, der sich in einer bemerkenswert ähnlichen Weise ausdrückt, ist mein Freund, der Neutestamentler Willi Marxsen. Am Ende seines Buches über die Auferstehung Jesu erzählt er eine Geschichte über seinen theologischen Lehrer, Heinrich Rendtorff. Als dieser starb, bat er seine Frau, ihm still zuzuhören, und sagte dann: „Ich habe in diesen letzten Nächten alles geprüft und überdacht, was wir darüber wissen können und was uns davon gesagt ist, wie es sein wird, wenn es mit uns zu Ende geht. Eines weiß ich jetzt gewiss: Ich werde geborgen sein.“ Daraufhin ergänzte Marxsen: „Heinrich Rendtorff wird man nun nicht als einen Vertreter der sogenannten ,modernen‘ Theologie bezeichnen können. Aber er war ein sehr nüchterner Mensch, der sich immer bemüht hat, nicht mehr zu sagen, als er verantworten konnte. Auf dem Totenbett wusste er nur: Ich werde geborgen sein.“4 Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, möchte ich zwei weitere Bemerkungen hinzufügen. Entgegen dem, was einige anscheinend gedacht haben, leugne ich weder unser subjektives Überleben des Todes noch habe ich das geringste Interesse daran, es zu tun, wie problematisch auch immer ich nach wie vor alle Beteuerungen in dieser Hinsicht finde. Hierzu gehört vor allem die Zusicherung der subjektiven Unsterblichkeit im strengen Wortsinn im Unterschied zu einem bloß subjektiven Überleben für eine längere oder kürzere Zeitspanne nach dem Tod. Wenn mit meiner Position irgendeine Verneinung verbunden ist, dann ist es die streng hermeneutische Verneinung, dass die Erwartung eines derart subjektiven Überlebens oder der Unsterblichkeit in irgendeiner Weise für die Hoffnung wesentlich ist, die die christliche Lehre von den letzten Dingen zu erklären und zu 3 4

Wittgenstein, Wittgenstein’s Lecture on Ethics, 8. Marxsen, Resurrection of Jesus of Nazareth, 188. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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verteidigen hat. Ungeachtet dessen, ob wir subjektiv den Tod überleben oder nicht, ist das, worauf wir hoffen, insofern unsere Hoffnung eine christliche ist, nicht unser subjektives Überleben oder unsere Unsterblichkeit. Es handelt sich um die absolut grenzenlose und immerwährende Liebe Gottes für uns und, deshalb unsere objektive Unsterblichkeit oder Auferstehung in und durch Gottes Liebe. In dieser Hinsicht komme ich nicht umhin wieder auf meine Weise eine Lieblingsunterscheidung Luthers zu verwenden, der immer darauf bestanden hat, dass das Leben, das wir leben, letztlich nicht „unser eigenes Leben“ (vita domestica) ist, sondern vielmehr ein „anderes Leben“ (vita aliena). Mein zweiter Kommentar bezieht sich auf Folgendes: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es in dieser Hinsicht ein strenges Entweder – Oder gibt, dass wir nicht ignorieren oder vernebeln dürfen. Entweder ist unsere Hoffnung letztlich in und für Gott und in und für Gott allein, oder es handelt sich um eine Hoffnung in und für etwas neben Gott. In diesem Fall würde es sich um eine götzendienerische Hoffnung handeln, die eines Christen unwürdig ist. Unglücklicherweise liefert die Tradition des christlichen Zeugnisses und der Theologie eine Fülle von Hinweisen dafür, dass diese Art des Götzendienstes sehr subtil und raffiniert sein kann. In diesem Zusammenhang muss ich immer an einige bemerkenswerte Überlegungen John Wesleys über das Ziel der menschlichen Existenz denken. Auf der einen Seite spricht er beredt von Gott als „dem einzigen Ziel, ebenso wie der Quelle Deines Seins“ und kann auf dieser Grundlage den Imperativ begründen: „Hab’ kein Ziel, kein letztes Ziel, außer Gott.“ Und doch identifiziert er auf der anderen Seite unser einziges letztes Ziel nicht mit Gott selbst, sondern mit unserer eigenen „Erfüllung“, „dem Genuss“ Gottes oder unserer eigenen „Glückseligkeit“ in Gott.5 Diese beiden Antworten auf die Frage nach dem letzten Ziel des menschlichen Lebens sind eindeutig inkonsistent. Wenn das Ziel unser eigener Genuss oder unsere eigene Glückseligkeit ist, dann ist Gott selbst, sogar wenn es sich um unseren Genuss von Gott oder unsere Glückseligkeit in Gott handelt, nicht das einzige Ziel unseres Seins. Gott ist bestenfalls das Mittel zu deren Verwirklichung. Umgekehrt formuliert: Wenn das einzige und letzte Ziel unseres Lebens 5

Wesley, Standard Sermons, Bd. 1, 273 – 74. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wirklich Gott selbst ist, dann ist alles andere, sogar unser Genuss von Gott und unsere Glückseligkeit in Gott, bestenfalls ein Mittel für dieses eine, letzte Ziel. Damit werden wir wieder daran erinnert, dass beim Nachdenken und Sprechen über die letzten Dinge Christen niemals das Schlagwort jeder gültigen Theologie vergessen dürfen: Soli Deo gloria!

8.3. Die Überwindung einiger Antithesen der herkömmlichen Eschatologie Indem ich meinem Argument, dass es sich um eine angemessene und glaubwürdige Interpretation der christlichen Hoffnung handelt, weiter folge, möchte ich nun darstellen, in welcher Weise dadurch auch drei wohlbekannte Antithesen der traditionellen Eschatologie überwunden werden.

8.3.1 Gegenwart vs. Zukunft Unter der Perspektive, die ich gerade dargelegt habe, sind unsere Erlösung und Vollendung und damit unser Heil offensichtlich zugleich gegenwärtig und zukünftig. Sie sind etwas, das schon der Fall ist und doch noch vollständig verwirklicht werden muss. Warum? Rettung und Vollendung aller Dinge sind nichts anderes als deren Aufnahme in die grenzenlose Liebe Gottes. Unter der Voraussetzung der universalen Tatsache der Sünde tritt sie uns als das Versprechen und die Forderung nach Erlösung entgegen, als die unbedingte Annahme unseres Lebens durch Gottes Leben, das unsere Annahme Gottes Annahme durch gehorsamen Glauben gewährt und fordert. Obwohl uns das stets zukünftige Ereignis von Gottes Liebe somit schon jetzt als Gabe und Forderung entgegentritt, bleibt es immer noch als Gottes Akt, der unser Leben in Gottes eigenes aufnimmt, zukünftig. In Gott hat es einen bleibenden Sinn oder Wert trotz unserer eigenen Vergänglichkeit und unseres Todes und trotz der Sünde. Durch sie versuchen wir wieder und wieder irrtümlicherweise und vergeblich, unsere eigene, endgültige Bedeutungslosigkeit unabhängig von der alles annehmenden Liebe Gottes zu überwinden. Diese Aussage gilt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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gänzlich ungeachtet der Frage nach unserer eigenen subjektiven Unsterblichkeit oder dem Überleben des Todes. Wie auch immer diese Frage gelöst wird, ob wir unsere subjektive Unsterblichkeit bejahen oder, aus guten Gründen, es ablehnen, dies zu tun: Entscheidend ist, dass die endgültige Zukunft von jedem von uns darin liegt, liebevoll von dem immerwährenden Leben Gottes umfasst und dadurch in und durch Gottes grenzenlose Liebe objektiv unsterblich zu werden. Diese Zukunft tritt jedem von uns schon hier und jetzt in der Gegenwart als Gabe und Anforderung der erlösenden Gnade entgegen – als Möglichkeit zu einem neuen Verständnis unserer selbst und der Welt und unserer Verantwortlichkeit dafür im Angesicht von Gottes unbedingter Annahme aller Seiender. Anders gesagt: Die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf der einen, und einer nicht endenden Zukunft auf der anderen Seite, die das christliche Zeugnis zweifellos beteuert, wird nicht durch unsere Subjektivität, sondern durch die Gottes gebildet: durch die Rettung und Vollendung der Welt aus Gott und, im Fall des Menschen, durch Gottes universales Angebot, alle Frauen und Männer, ungeachtet der Tatsache ihrer Sünde, zu erlösen.

8.3.2 Individuelle vs. kosmische Rettung und Vollendung Jede Kreatur – nicht nur jeder Mensch oder jedes vernunftbegabte Geschöpf – wird von Gottes grenzenloser Liebe umfasst und lebt dadurch immerwährend in und durch Gottes Leben ebenso wie für es. Das einzige Privileg der menschlichen oder aller anderen vernunftbegabten Kreaturen, die es geben mag, ist lediglich, dass sie, er oder es diesen Zusammenhang verstehen können. Sie können sich und die Welt begreifen, wozu vermutlich keine der niedrigeren, nicht mit Vernunft begabten Kreaturen fähig sind. Da aber jede Kreatur individuell der Gegenstand von Gottes Liebe ist, sind es zugleich auch alle Kreaturen kollektiv – und umgekehrt. Kein Individuum wird von der Liebe Gottes umfasst, es sei denn gemeinsam mit allen anderen menschlichen und nicht-menschlichen Individuen, die ebenso von Gott geliebt werden. Und doch wird jedes Individuum durch die Liebe erkannt, beurteilt und bewertet genau als das Individuum, das sie, er oder es in einzigartiger Weise ist. Unter der von mir entwi© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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ckelten Perspektive können daher weder das Individuum noch der Kosmos gegeneinander ausgespielt werden. Damit wird den positiven Motiven beider Mythen Rechnung getragen, in denen die christliche Hoffnung in traditioneller Weise ausgedrückt wurde – dem apokalyptischen wie dem gnostischen Mythos. Ich möchte in diesem Zusammenhang die besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass ich die Lehre von den letzten Dingen umfassender dargestellt habe als es nötig wäre, um den Einwänden zu begegnen, die gewöhnlich gegenüber der Christenheit von zahllosen ihrer modernen, säkularen Kritiker erhoben werden. Danach lenkt ihre Hoffnung auf eine endgültige Zukunft, die unsere Vergänglichkeit und den Tod ebenso wie unsere Sünden überwindet, von unserer Sorge um und unserer Verantwortung für unser gegenwärtiges Leben hier und jetzt auf irgendein anderes Leben nach diesem ab. In der von mir dargelegten Sichtweise drückt die christliche Hoffnung jedoch in keiner Weise die Hoffnung auf irgendein anderes Leben nach diesem aus. Als Hoffnung auf Gottes all-umfassende und immerwährende Liebe handelt es sich vielmehr um eine Hoffnung auf einen bleibenden Sinn dieses Lebens selbst. Weit davon entfernt also, unsere Sorge für diese Welt und unsere Verantwortung, für die Befreiung von jeder Form des Zwangs und der Unterdrückung und für ihre Rettung und Erlösung zu arbeiten, in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen, ist die christliche Hoffnung vielmehr der beste Grund für eine derartige Sorge und Verantwortung. Gerade weil die christliche Hoffnung die Hoffnung auf Gottes Liebe ist, ist sie auch die Hoffnung auf einen letzten Sinn der Welt in Gott. Es handelt sich somit um die Art von Hoffnung, die sich in fürsorgendem und verantwortlichem Handeln für die Rettung und Befreiung der Welt zum Ausdruck bringt.

8.3.3 Zweifache Bestimmung vs. universale Erlösung Ich habe diese dritte Antithese bereits kurz bei meiner Erörterung der Erlösung gestreift. Auch sie beruht meines Erachtens auf einer falschen Alternative. Bei der These von einer zweifachen Determination, von ewigem Leben und ewigem Tod, von Himmel und Hölle, stehen zwei wichtige Motive zur Debatte: (1) die unüberbietbare Gerech© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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tigkeit Gottes, dessen Liebe in keiner Weise blind ist gegenüber moralischen Entscheidungen, sondern die diese vollkommen respektiert; und (2) die Freiheit und Verantwortung jeder Frau und jedes Mannes, die eigene Existenz im Angesicht der Gabe und des Anspruchs von Gottes Gnade zu bestimmen und der immerwährende Sinn oder die Bedeutung ihrer oder seiner Entscheidungen. Auf der anderen Seite drückt die Annahme des sogenannten Universalismus oder der universalen Erlösung ebenfalls zwei wichtige Motive aus: (1) das vorbehaltlose Vertrauen des Glaubens in Gottes unbedingte Liebe und Gnade, die allen, Guten wie Bösen, Sündern wie Rechtgläubigen, frei geschenkt werden und für deren Gunst unsere moralische Güte oder Rechtschaffenheit in keiner Weise die Vorbedingung ist; und (2) das nicht weniger unbedingte Vertrauen des Glaubens, dass, was auch immer die Bedeutung der Entscheidungen einer Frau oder eines Mannes sein mögen, die Entscheidung Gottes letztendlich bestimmend ist. Schließlich ist Gott das endgültige Ziel ebenso wie die ursprüngliche Quelle aller Seienden, so dass unser ganzes Sein nach Lage der Dinge vollständig abhängig und responsiv und in keiner Weise unabhängig und endgültig, ebenso wenig wie unabhängig und erfinderisch ist. Aber aufgrund der Sicht, die ich hier dargelegt habe, kann man diesen vier gleichermaßen legitimen Motiven gerecht werden, ohne eines von ihnen zu ignorieren oder zu opfern. Der Grund dafür ist, dass die entscheidende Pointe der von mir entwickelten Eschatologie darin liegt, die all-umfassende Liebe Gottes zu betonen, die allein das letzte Ziel aller Seiender ist. Damit ist sie auch in einzigartiger Weise das einzige endgültige Ziel von Frau und Mann. Beide haben die Freiheit und die Verantwortung, sie als ihr letztes Ziel zu verstehen und schon im Hier und Jetzt in der Gegenwart dementsprechend zu leben. Um aber diesen grundlegenden Punkt zu begreifen, muss man erkennen, dass man beide Lesarten in einer einzigen Aussage berücksichtigen muss, die die wesentlichen Punkte der beiden antithetischen Positionen aufgreift: (1) Gott liebt alle Seienden gerade so wie sie sind; dies ist das wesentliche Argument des Universalismus; und doch (2) liebt Gott alle Seienden gerade so wie sie sind; das ist das Gegenargument der zweifachen Bestimmung. Was wir selbst sind und werden und damit das, was wir für immer in Gottes all-liebendem Urteil über uns sein werden, ist teilweise das, was wir selbst in jedem Augenblick aufgrund unserer eigenen verantwortli© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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chen Freiheit entscheiden zu sein. Wenn wir beschließen, uns selbst gegenüber Gottes Gnade in gehorsamem Glauben zu öffnen und damit für die erwidernde Liebe zu Gott und für alle, die Gott liebt, unsere Nachbarn ebenso wie uns selbst, dann ist es das, was wir sind und damit auch der, den Gott richtet und immer richten wird. Wenn wir uns andererseits gegenüber Gott und unseren Mitgeschöpfen verschließen, dann ist es wiederum genau das, was wir sind und damit auch der, den Gott richtet und immer richten wird bis in die fernste Ewigkeit. Nichtsdestotrotz handelt es sich, und darin besteht die ausgleichende Wahrheit im Universalismus, bei Gottes letztem Gericht über uns um nichts anderes als um das Gericht von Gottes reiner, grenzenloser Liebe. Unabhängig davon, ob wir auf die göttliche Gnade durch gehorsamen Glauben, der durch Liebe wirkt antworten oder nicht, gehören wir zu Gottes Liebe und zu ihr allein als der Kraft, die letztlich den Sinn und Wert unseres Lebens bestimmt. Mit anderen Worten: Obwohl wir tatsächlich ohne einen authentischen Glauben in Gottes Liebe für uns leben mögen, können wir doch nicht als Menschen ohne die Tatsache von Gottes Liebe für uns leben – noch, wie ich betonen möchte, ohne zumindest einen inauthentischen Glauben an sie. F.D. Maurice hebt meiner Meinung nach auf unvergessliche Weise diesen Punkt hervor, wenn er in einem Brief an seine Mutter fragt: „Was also behaupte ich? Gibt es keinen Unterschied zwischen dem Gläubigen und dem Ungläubigen?“ Und er antwortet: Doch, den größten Unterschied. Aber der Unterschied beruht nicht auf der Tatsache, sondern strenggenommen auf dem Glauben an diese Tatsache. Gott sagt uns: „In ihm“, das heißt in Christus, „habe ich alles geschaffen, im Himmel wie auf der Erde. Christus ist das Haupt jeder [Frau und] und jedes Mannes.“ Einige [Frauen und] Männer glauben das; einige [Frauen und] Männer glauben es nicht. Die [Frauen und] Männer, die dies bezweifeln, folgen „dem Fleisch“. Sie glauben nicht, dass sie mit einem allmächtigen Herrn über das Leben verbunden sind, – mit Einem, der mächtiger ist als die Welt, das Fleisch, der Teufel, – mit Einem, der ihnen näher ist als ihr eigenes Fleisch. Sie glauben das nicht, und deshalb handeln sie nicht gemäß diesem Glauben. … Aber obwohl zehn von hunderten von Tausenden von [Frauen und] Männern nach dem Fleisch leben, ja, wenngleich [jede Frau und] jeder Mann in der Welt so leben würde, ist es uns durch die christliche Wahrheit und die katholische © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Kirche untersagt, dies als den wirklichen Zustand [jeder Frau oder] jedes Mannes zu bezeichnen. … Die Wahrheit ist, dass [jede Frau und] jeder Mann in Christus ist; die Verdammung [jeder Frau und] jedes Mannes beruht darauf, dass [sie oder] er die Wahrheit nicht besitzen wird; [sie oder] er wird nicht so handeln, als ob es wahr wäre, [sie oder] er wird nicht das glauben, was die Wahrheit ist, dass [sie oder] er nicht denken, atmen oder nur eine einzige Stunde leben könnten, ohne mit Christus verbunden zu sein.6

Meine Schlussfolgerung ist folglich, dass jede adäquate christliche Theologie der Wahrheit des Universalismus zumindest bis zu einem bestimmten Punkt zustimmen muss: Im Sinne von Luthers Insistieren darauf, dass der Teufel am Ende doch Gottes Teufel ist, muss man nämlich sagen, dass sogar die Hölle inauthentischer Existenz noch die Hölle Gottes ist. Weniger als dies zu sagen würde bedeuten, den entscheidenden Punkt zu verfehlen, von dem Paulus in der zweifellos kraftvollsten aller Aussagen über die letzten Dinge, die jemals gemacht wurde, Zeugnis ablegt – in seiner Beteuerung in Römer 8,38 – 39: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder der Tiefe, noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

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Maurice, Life of Frederick Densison Maurice, Bd. 1, 155. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

9. Epilegomena: Über Theologie als christliche Berufung

9.0 Einleitende Bemerkungen Wesentlich für dieses Buch, beginnend mit der Argumentation im ersten Kapitel bis zu diesem, ist die Auffassung, dass es ein integraler Teil der Lebenspraxis aller Christen ist, sich mit christlicher Theologie zu befassen. Dazu aufgerufen zu sein, ein Christ zu sein, bedeutet zweierlei: Zeugnis für Jesus Christus abzulegen und, um das in gültiger Weise zu tun, christliche Theologie zu betreiben. Obwohl Menschen nach dem Verständnis des christlichen Glaubens, für den ich argumentiert habe, aus der Gnade allein nur aufgrund ihres Glaubens erlöst werden, habe ich gleichwohl, wie jede protestantische Theologie, betont, dass der erlösende Glaube niemals ein „einsamer Glaube“ ist, der nicht von guten Werken begleitet ist. Er trägt immer zum Wohl der Schöpfung und zur Ehre Gottes reiche Früchte. Christsein bedeutet deshalb auch, sich mit christlicher Theologie zu beschäftigen, doch ist der gegenteilige Standpunkt meines Erachtens falsch: Christliche Theologie zu treiben bedeutet nicht notwendig, ein Christ zu sein; ebenso wenig ist es für irgendein gutes Werk erforderlich, sich selbst vor Gott zu verstehen, wie es uns aufgegeben ist und wozu wir entscheidend durch Jesus Christus aufgerufen sind. Nach meiner Ansicht ist es somit eine Sache, sich mit christlicher Theologie zu befassen; eine andere Sache ist es dagegen, dies als Ausdruck einer christlichen Berufung zu tun. Es handelt sich dabei um etwas Konkreteres, das eine eigene Betrachtung verdient, wenngleich nur als Thema der „Epilegomena“, in einer Form also, die sich als Ergänzung zu dem versteht, was vorher thematisiert wurde. Das scheint mir umso offensichtlicher zu sein, wenn man bedenkt, dass in Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit die größere Zahl derer, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Die verschiedenen Bedeutungen von „Berufung“

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tatsächlich christliche Theologie betreiben, es sicher in der einen oder anderen Weise als Ausdruck einer christlichen Berufung tun. An sie richtet sich dieses Buch in besonderer Weise.

9.1 Die verschiedenen Bedeutungen von „Berufung“ „Berufung“, im Lateinischen „vocatio“ (vom Infinitiv „vocare“, rufen, abgeleitet), bedeutet den Prozess des Gerufen-Werdens oder des Aufforderns, des Herbeigerufen-Werdens. Da der Begriff der „Berufung“ in unterschiedlichen Kontexten jeweils einen etwas anderen Sinn annimmt, ist er jedoch im traditionellen Vokabular des christlichen Zeugnisses und der Theologie ein in systematischer Hinsicht mehrdeutiger Begriff. Es gibt drei verschiedene Formen des Gebrauchs, die auseinandergehalten werden müssen. Ich beginne mit der Verwendungsweise, die ich für die erste und gewissermaßen grundlegende halte. Wie schon aufgrund des Wortes ecclesia, das mit „Kirche“ übersetzt wird, deutlich wird, haben sich die Christen von Anfang an als die verstanden, die herausgerufen wurden. Genauso haben sie Jesus Christus als den Einen verstanden, durch den Gott sie entscheidend in die Gemeinschaft der Kirche gerufen hat. Vom christlichen Standpunkt aus sind jedoch die Christen, die Gott in entscheidender Weise gerufen hat, keineswegs die einzigen, an die Gottes Ruf ergangen ist. Im Gegenteil: Die entscheidend Gerufenen gehören, so das Verständnis, zu der unendlich viel größeren und inklusiveren Gemeinschaft derer, die gerufen wurden. Sie umfasst die implizit Gerufenen ebenso wie die, die explizit gerufen wurden. Jedes Wesen, das ein Mensch ist, gehört zu den implizit Gerufenen, sobald und solange sie oder er überhaupt ein Mensch ist. Mensch zu sein und implizit gerufen zu sein sind zwei Weisen, dasselbe zum Ausdruck zu bringen. Dann aber gehört jeder Mensch, der in irgendeiner Weise religiös ist oder für den der Wahrheitsanspruch einer Religion eine echte Option darstellt, zu den explizit Gerufenen sobald und solange sie oder er überhaupt auf irgendeine Weise religiös ist oder die wirkliche Möglichkeit hat, es zu werden. In irgendeiner Weise religiös zu sein oder die echte Möglichkeit, es zu werden, zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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besitzen und explizit von Gott gerufen zu sein, sind wiederum zwei Weisen, ein und dasselbe auszudrücken. In analoger Weise gehört jeder Mensch, der auf irgendeine Weise Christ ist oder für den die Behauptung, dass die christliche Religion wahr ist, eine echte Möglichkeit darstellt, zu den entscheidend Gerufenen, sobald und solange sie oder er ein Christ ist oder die echte Möglichkeit besitzt, ein solcher zu werden. Auf irgendeine Weise Christ zu sein oder über die Möglichkeit zu verfügen, einer zu werden und entscheidend von Gott gerufen zu werden, sind – nach christlichem Verständnis – zwei Weisen, dasselbe zu sagen. Aber was genau ist das Wesentliche eines auf entscheidende Weise durch Gott Berufenen? Es besteht nicht allein darin, zu einer authentischen Existenz in Beziehung zu Gott wie zu sich und der Welt aufgerufen zu sein. Dazu sind nämlich beide, der implizit wie der explizit Gerufene, auf jeweils besondere Weise aufgerufen. Auf entscheidende Weise gerufen zu sein bedeutet vielmehr, in einer ganz spezifischen Weise zu einer authentischen Existenz aufgerufen zu sein. Sie beinhaltet den tatsächlichen Gebrauch und die gültige Verwaltung der spezifisch christlichen Mittel zur Erlösung. Hierzu gehören nicht nur die sekundären Mittel wie Wort, Sakrament und Amt, oder gar das primäre Mittel, das die sichtbare Kirche als solche ist, sondern auch das ursprüngliche Mittel, das Jesus Christus selbst ist. In entscheidender Weise gerufen zu sein bedeutet daher, dazu aufgerufen zu sein, authentisch zu existieren, indem Jesus Christus und die sichtbare Kirche und alles, was sie repräsentiert in der von Gott beabsichtigten Form, verwendet wird – nämlich durch den Glauben. Das bedeutet, sich auch an dem allgemeinen Amt der gültigen Verwaltung dieser Mittel zur Erlösung zu beteiligen, so dass auch andere diese wirklich anwenden können – nämlich durch gute Werke oder, wie ich gewöhnlich sage, indem sie implizit wie explizit Zeugnis ablegen. So viel zum ersten oder grundlegenden Sinn von „Berufung“. Er beinhaltet den Aufruf zu einer authentischen Existenz, indem man durch Jesus Christus und das Zeugnis der sichtbaren Kirche vermittels ihrer Mittel zur Erlösung ein Christ ist. In einem zweiten Sinn hat dieser Begriff nichts mit dem Ruf, ein Christ zu sein und damit dem allgemeinen Amt, zu dem jeder Christ durch ihre oder seine Taufe bestimmt ist, zu tun. Er bezieht sich auf den Ruf zu einem besonderen Amt: dem repräsentativen Amt der sichtbaren Kirche. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Die verschiedenen Bedeutungen von „Berufung“

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Ein derartiger Ruf zu einem besonderen Amt beinhaltet, so zeigt die Analyse, zusätzlich zu dem Ruf zum allgemeinen Amt, der an alle Christen ergeht, drei Hauptelemente: (1) der geheime Ruf an eine individuelle Person; (2) der providentielle Ruf, der bestätigt, dass sie oder er die erforderlichen Gaben und Charismen, Wissen und Fähigkeiten besitzt; und (3) der kirchliche Ruf, durch den die sichtbare Kirche, indem sie die Gültigkeit des allgemeinen, geheimen und providentiellen Rufs der Person ausdrücklich und öffentlich anerkennt, sie oder ihn zum repräsentativen Amt bestimmt.1 Obwohl es sich bei dem hier zur Diskussion stehenden paradigmatischen Fall offensichtlich um das ordinierte Amt handelt, kann der wesentliche Punkt verallgemeinert werden, um jegliche Form besonderer Kirchenämter zu umfassen. Es spielt keine Rolle, ob sie ordiniert sind oder nicht, vorausgesetzt sie beinhalten einen offiziellen kirchlichen Ruf. Auf jeden Fall basiert der wesentliche Unterschied zwischen einem Ruf im ersten oder fundamentalen Sinn, der zu einer christlichen Existenz aufruft, und dem Ruf im zweiten Sinn, der sich auf ein besonderes Amt in der sichtbaren Kirche bezieht, darauf, dass der erste an jeden Christen an sich ergeht. Der zweite wendet sich dagegen nur an einige Christen und hängt von ihren individuellen Unterschieden von anderen Gemeindemitgliedern ab, vor allem von ihrer Eignung zur Kirchenleitung. Dieser Gedanke führt logisch weiter zum dritten Sinn von „Berufung“, der besonders wichtig für die Tradition der Kirchen der protestantischen Reformation ist. In diesem Sinn hat „Berufung“ weder mit dem Ruf zu einer christlichen Existenz und dem allgemeinen Amt, Zeugnis abzulegen zu tun, noch mit der Berufung zu einem besonderen Amt, um die sichtbare Kirche zu leiten. Stattdessen handelt es sich um die Berufung zu dem, was man in der Welt im Rahmen eines Lebenswerkes tut. Es handelt sich um ein gleichermaßen besonderes Amt, insofern es einen bestimmten Dienst gegenüber Gott in und durch den Dienst an denen beinhaltet, deren hervorragender Diener Gott ist. Sofern das Werk, das man in der Welt tut, in der einen oder anderen Weise dazu beiträgt, die Erfüllung der Welt zur Ehre Gottes zu ermöglichen, ist es ebenfalls ein besonderes Amt, das sich nicht wesentlich von einem repräsentativen Kirchenamt 1

Niebuhr, Purpose of the Church and Its Ministry, 64. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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unterscheidet. Nach dem Verständnis der Reformation sind die grundlegenden Entscheidungen, die alle Menschen treffen müssen in Hinblick auf den Ehestand und die Art des Lebenswerkes im strengen Sinn analog zu den Entscheidungen, denen sich jeder gegenüber sieht, der zu einem repräsentativen Amt in der sichtbaren Kirche berufen wird. Auch sie müssen auf den Ruf Gottes zu ihrem Werk hören, und zwar nicht nur auf der Grundlage ihrer allgemeinen Berufung zum Christsein und ihres verborgenen Rufs als individuellen Personen, sondern vor allem aufgrund ihres providentiellen Rufs. In gewisser Weise handelt es sich auch um einen offiziellen Ruf, obgleich es kein Ruf ist, der von der sichtbaren Kirche ausgeht. Vor dem Hintergrund des Verständnisses des reformatorischen Christentums gelten alle Arten von Lebenswerk, die genuin der Sache Gottes in der Welt dienen, auf ihre Weise als heilige Rufe von Gott selbst. Dann aber ist es auch wahr, dass alle Berufungen, sogar die sogenannten heiligen, durch und durch säkular sind. Sie sind allesamt Wege, in dieser Welt oder in diesem Zeitalter (saeculum) zu wirken, so dass sie sich, um ihre Ziele zu erreichen, zwangsläufig der ihnen entsprechenden weltlichen Mittel bedienen müssen.

9.2 Theologie als christliche Berufung Wenn ich im Folgenden davon spreche, Theologie im Sinne einer christlichen Berufung zu treiben, dann handelt es sich nicht um den ersten oder grundlegenden Sinn von „Berufung“, die ich hauptsächlich im Sinn habe, sondern vielmehr um den zweiten und dritten Sinn. Selbstverständlich haben wir schon in Kapitel 1 gesehen, dass es einen grundlegenden und sehr wichtigen Sinn gibt, in dem jeder christliche Gläubige dazu berufen ist, ein Laientheologe zu sein. Wir haben ebenfalls gesehen, dass es aufgrund des christlichen Verständnisses bedeutet, dass der entscheidend Berufene die spezifisch christlichen Mittel der Erlösung wirksam nutzt und gültig verwaltet. Dann aber kann man seiner ersten Verpflichtung, ein gültiges christliches Zeugnis abzulegen, nur nachkommen, insofern man kritisch auf die Bedeutung und Gültigkeit dessen reflektiert, was man als Christ denkt, sagt und tut im Zusammenhang mit allem, was durch die Schwestern und Brüder in der Kirche gedacht, gesagt und getan © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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wird. Über Bedeutung und Gültigkeit des christlichen Zeugnisses zu reflektieren ist somit genau das, was es heißt, christliche Theologie zu betreiben. Dabei spielt es keine Rolle, ob man, wie es der systematische Theologe tut, vor allem den Anspruch beurteilt, ob das Ablegen des Zeugnisses seinem Inhalt adäquat ist und damit sowohl Jesus Christus angemessen wie für die menschliche Existenz glaubwürdig ist, oder ob es sich um das besondere Anliegen eines praktischen Theologen handelt, der den Anspruch prüft, ob das Zeugnis für eine bestimmte Situation geeignet ist. Wenn aber die Berufung zum Christsein und zum allgemeinen Kirchenamt den Ruf, ein Theologe in diesem allgemeinen Sinn zu sein, bereits zwangsläufig beinhaltet, dann ist damit noch nicht das Praktizieren von Theologie als einer christlichen Berufung gemeint. Unter den besonderen Berufungen, zu denen individuelle Christen im Rahmen ihres Lebenswerkes berufen werden, handelt es sich um den besonderen Ruf, die Kirche in ihrer notwendigen Aufgabe der Selbstkritik durch kritische Reflexion auf die Bedeutung und die Gültigkeit des christlichen Zeugnisses zu leiten. Tatsächlich ist die besondere Berufung zu einer derart kritischen Reflexion schon zwangsläufig in jedem besonderen Ruf zu einem repräsentativen Amt beinhaltet. Als leitende Person in Hinblick auf die Aufgabe der Kirche, Zeugnis vor der Welt abzulegen, muss der repräsentative Amtsträger auch ein Leiter in Bezug auf die theologische Aufgabe der Kirche sein, die Bedeutung und die Gültigkeit des Zeugnisses kritisch zu reflektieren, ohne dass dessen Gültigkeit nicht gesichert werden kann. Wenn aber die Berufung, Theologie zu treiben, zwangsläufig in jeder Berufung zu einem repräsentativen Amt beinhaltet ist, ist es nicht notwendig, eigens zum Amt berufen zu werden, um eine spezielle Berufung zum christlichen Theologen zu haben. Möglicherweise wird man zum Theologen durch eine geheime Berufung, um sein Lebenswerk der kritischen Reflexion auf die Bedeutung und Gültigkeit des christlichen Zeugnisses zu widmen. Dieser Ruf wird zum einen in providentieller Form bestätigt, indem man die Gaben und Charismen besitzt, die notwendig sind, um das erforderliche Wissen und die Fähigkeiten zu erwerben; zum anderen wird er amtlich bestätigt, indem man dazu berufen wird, seine Fähigkeiten im Rahmen einer geeigneten Institution, einem College, einer Universität oder einer Hochschule für Theologie, auszuüben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Meines Erachtens sollten das Ausüben eines kirchlichen Amtes und das Praktizieren von Theologie in jeweils vergleichbarer Weise auf zwei Ebenen und in zwei Formen analysiert werden. Es gibt zwei Ebenen, das Amt auszuüben: allgemein und speziell; und es gibt zwei Formen, ein besonderes Amt wahrzunehmen: verallgemeinert und spezialisiert. In ähnlicher Weise gibt es zwei Ebenen, Theologie zu betreiben: als Laie und professionell; und es gibt zwei Formen, professionell Theologie zu betreiben: kirchlich (und damit verallgemeinert) und akademisch (und damit spezialisiert). Theologie im Sinn einer christlichen Berufung zu praktizieren bedeutet dann, sie im Unterschied zu der Ebene der Laien auf professioneller Ebene entweder im kirchlichen oder akademischen Rahmen zu betreiben. In ihrer kirchlichen Form ist der unmittelbare Kontext der professionellen Theologie die Kirche und der ständig weitergehende Prozess der christlichen Zeugenschaft, der nur der kritischen Reflexion auf seine Bedeutung und Gültigkeit seine Berechtigung verdankt. In ihrer akademischen Form ist dagegen der unmittelbare Kontext für eine professionelle Theologie eine Hochschule. Nur aufgrund von theologischer Forschung, Gelehrsamkeit und Lehre kann der ständig fortschreitende Prozess theologischer Reflexion weitergeführt werden. Der kirchliche Theologe stellt in der Regel ihre oder seine theologischen Fragen mehr um der Antwort willen, die er oder sie als repräsentativer Amtsträger aus mehr oder weniger drängenden praktischen Gründen benötigt. Die akademische Theologie dagegen stellt in der Regel theologische Fragen eher um der Fragen selbst willen, um zu lernen, wie sie zu verfeinern sind und welche Methoden für eine Antwort benötigt werden, so dass der Prozess der theologischen Recherche adäquater und in Hinblick auf die Ergebnisse ergiebiger wird. Der Unterschied scheint mir allerdings ein gradueller zu sein. Es handelt sich eher um einen relativen, nicht um einen absoluten Unterschied. Der akademische Theologe sollte nie vergessen, dass die einzige Rechtfertigung ihrer oder seiner kritischen Reflexion letztlich der Prozess ist, in dem ein gültiges christliches Zeugnis abgelegt wird; für dieses ist er lediglich ein Diener. Der kirchliche Theologe seinerseits sollte immer im Gedächtnis behalten, dass ihre oder seine Reflexion ihren besonderen Dienst nur ausüben kann, wenn sie vom Zeugnis der Kirche so unabhängig bleibt, dass es kritisch reflektiert werden kann; er dient damit dem Zeugnis nur indirekt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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In jeder ihrer Formen sollte die professionelle Theologie jedoch genau das leisten und nicht weniger. Wann immer ich daher höre, dass einer meiner ehemaligen Studenten eine Aussage mit einer Erklärung wie dieser einleitet: „Natürlich bin ich kein professioneller Theologe, aber …“, fühle ich mich genötigt, sie oder ihn an die Verantwortung zu erinnern, die sie oder er leugnet. „Es mag sein, dass Sie kein akademischer Theologe sind. In Ordnung. Aber solange und bis Sie Ihr theologisches Diplom (Master of Divinity) nicht zurückgeben, betrachte ich Sie als dafür verantwortlich, ein kirchlicher und damit ein professioneller Theologe zu sein, der Sie selbst, indem sie das Diplom akzeptiert haben, vorgeben zu sein.“ Die Tatsache aber, dass der kirchliche und der akademische Theologe gleichermaßen professionell sind, bedeutet, dass beide auf derselben Ebene, wenn auch in je besonderer Form, in ein und demselben Prozess engagiert sind: die Bedeutung des christlichen Zeugnisses und die Gültigkeit der Ansprüche, die es erhebt oder beinhaltet, kritisch zu reflektieren. Was auch immer sonst noch damit gemeint sein mag, gewiss ist, dass beide ihre Fragen in einer bewussten, methodischen und begründeten Weise stellen. Damit nehmen sie an einem etablierten Feld kritischer Reflexion teil, das seine eigenen Ziele und Ideale des Erklärens, seine „Genealogie der Probleme“ und seinen sich immer wieder verändernden Bestand an Begriffen und Terminologien besitzt, mit deren Hilfe Probleme und Lösungsvorschläge formuliert werden. Erwähnt werden sollten auch noch die diesem Gebiet verpflichteten professionellen Gesellschaften und Organe der Begutachtung, zu der auch Zeitschriften und andere Publikationen gehören. Mit anderen Worten: Die kritische Reflexion ist eine Sache, die Art der bewussten, methodischen und begründeten kritischen Reflexion, die für die professionelle Ebene rationaler Untersuchung konstitutiv ist, eine andere. Beide Formen der professionellen Theologie erfordern daher selbstredend eine theologische Ausbildung im Sinne eines mehr oder weniger formalen Prozesses des Lehrens und Lernens, von Unterweisung und Übung. Ohne sie könnte niemand in keiner der beiden Formen zu einem professionellen Theologen werden. Natürlich meine ich mit „theologischer Ausbildung“ hier etwas anderes als eine „religiöse Erziehung“ oder, genauer gesprochen, eine „christliche Erziehung“. Diese besteht streng genommen aus einer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Form der Unterweisung und Übung, die die Grundlage ist, um als Christ zu leben und zu handeln, mithin das christliche Zeugnis wirksam zu nutzen und es auf gültige Weise auszuüben. Der Inhalt der theologischen Ausbildung unterscheidet sich in charakteristischer Weise von dieser christlichen Erziehung. Ihr Ziel ist die Entwicklung einer operationalen Kompetenz in der kritischen Reflexion auf das christliche Zeugnis, um seine Bedeutung zu interpretieren und seine Geltungsansprüche zu beurteilen. Zwar kann die theologische Unterweisung und Übung sehr wohl auf indirekte Weise dazu verhelfen, ein christliches Selbstverständnis und eine christliche Lebenspraxis zu entwickeln. Doch ihr direktes Ziel besteht darin, das Wissen und die Fähigkeiten zu vermitteln, die für eine professionelle kritische Reflexion der Bedeutung des christlichen Zeugnisses und der Geltungsansprüche, die es entweder erhebt oder beinhaltet, erforderlich sind.

9.3 Weitere Merkmale christlicher Berufungen Beide Formen, die christliche Theologie professionell zu betreiben, setzen zwangsläufig dieselbe Art einer fortgeschrittenen Ausbildung voraus, die sich von der theologischen Grundausbildung unterscheidet. Diese Ausbildung hängt ihrerseits von ein- und demselben zugrundeliegenden Prozess theologischer Forschung, Gelehrsamkeit und Lehre ab. Beide haben aber noch mehr miteinander gemeinsam, insofern sie als spezifisch christliche Berufungen ausgeübt werden. Tatsächlich sind alle Merkmale, die jede christliche Berufung an sich kennzeichnen, auch für sie charakteristisch. Ob man nun ein kirchlicher Theologe ist, worauf sich die meisten Theologiestudenten vorbereiten, oder ob man ein akademischer Theologe ist, was einige Studenten anstreben, – ihre Berufung gleicht in verschiedenen wichtigen Merkmalen exakt jeder anderen christlichen Berufung im zweiten und dritten Wortsinn. Das trifft zunächst einmal insofern zu, als das Lebenswerk eines kirchlichen oder akademischen Theologen demselben letzten Ziel gewidmet ist, dem alle anderen christlichen Berufungen in irgendeiner Form dienen. Vereinfacht gesagt: Das Ziel besteht in der größtmöglichen Verwirklichung der Potenziale der Schöpfung als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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unverzichtbarem Mittel zur Ehre Gottes. Gott wird für uns entscheidend re-präsentiert durch Jesus Christus als reiner, grenzenloser Liebe; aufgrund dieser Liebe schließt Gottes eigenes Gut das Gute der Gesamtheit aller Kreaturen individuell wie kollektiv mit ein. Das ist, so haben wir gesehen, der Grund, warum uns befohlen werden kann, Gott unseren Herrn zu lieben mit unserem ganzen Herzen, mit unserem Geist, der Seele und mit all unserer Kraft, und uns zugleich befohlen wird, unsere Nächsten wie uns selbst zu lieben. Weil Gott schon immer sich selbst mit uns und unseren Nächsten identifiziert hat, ist unsere Liebe für unsere Nächsten wie für uns selbst nichts neben Gott oder nur ergänzend zu unserer Liebe für Gott. Sie ist in diese selbe Liebe mit eingeschlossen. Weit davon entfernt, eine Ablenkung zumindest eines Teils unserer Liebe weg von Gott auf etwas anderes hin zu sein, ist die Liebe zu unseren Nächsten und zu uns selbst in Wirklichkeit der einzige Weg, auf dem wir Gott selbst lieben können. Jemanden zu lieben bedeutet immer, das Gute für den Anderen zu suchen, was wiederum beinhaltet, gerecht zu sein, darauf zu achten, dass das, was dem anderen wirklich zusteht, ihr oder ihm auch tatsächlich zukommt und nicht jemand anders. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte hat diese Grundbedeutung von Gerechtigkeit eindeutig einen spezifisch politischen Aspekt gewonnen. Wir verstehen nun, dass nicht nur unsere individuellen Handlungen, sondern auch die Grundstrukturen der Gesellschaft und der Kultur insgesamt in den Bereich menschlicher Freiheit und Verantwortung fallen. Absolut grundlegend für das Gut jeder Kreatur ist, dass sie in einer ausreichend geordneten Welt leben kann, die es ihr erlaubt, überhaupt zu sein und in Solidarität mit anderen Erfüllung zu finden. Zumindest insoweit die Strukturen von Gesellschaft und Kultur ein wesentlicher Teil einer derart geordneten Welt sind, gelten sie nun als etwas, wofür wir selbst verantwortlich sind. Man muss daher nicht nur davon ausgehen, dass alle Handlungen von Christen auf Liebe und damit auf gerechte Taten zielen; sie müssen auch eine soziale und kulturelle Gerechtigkeit anstreben in dem Sinn, dass sie soweit wie möglich gerechte Strukturen in Gesellschaft und Kultur verwirklichen. Diese Einsicht wurde zum ersten Mal durch das Zeugnis und die Theologie des sozialen Evangeliums ausgearbeitet, um dann von so© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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genannten neo-orthodoxen Theologen wie Reinhold Niebuhr selbstkritisch überarbeitet und zu der einen oder anderen Form des „christlichen Realismus“ entwickelt zu werden. In jüngerer Zeit tauchte sie schließlich in einer im Allgemeinen stärker idealistischen, sogar utopischen Form in gewissen politischen Theologien und Befreiungstheologien auf. Gemäß der typischen Ausdrucksweise dieser Einsicht in der zeitgenössischen Theologie richtet sich die Arbeit des Theologen, die als „zweiter Akt“ eine mehr oder weniger kritische Reflexion auf den „ersten Akt“ der befreienden Praxis darstellt, aufgrund ihrer genuinen Natur darauf, soziale und kulturelle Gerechtigkeit zu erreichen. Damit einhergehend zielt sie auf die Befreiung all jener, die derzeit durch ungerechte Strukturen der bestehenden Gesellschaft und Kultur unterdrückt werden. Mein einziger Einwand gegen diesen Anspruch beruht darauf, dass er von der Theologie selbst und an sich ausgeht, anstatt von der Theologie als einer christlichen Berufung. Darin gleicht er der Art und Weise, in der von einigen Amerikanern während des Kalten Krieges gefordert wurde, dass sich die Grundlagenforschung in der Nuklearphysik auf ein sich ständig verbesserndes Waffenarsenal gegenüber der Sowjetunion richten solle. Zweifellos hätte ein bekennender Anti-Kommunist Nuklearphysik genau mit diesem Ziel betrieben. Erst diese Art einer existentiellen Verpflichtung hätte der Forschung in Nuklearphysik ein derart letztes Ziel verliehen, nicht jedoch die Forschung an und für sich. In etwa derselben Weise ist es in der Tat die christliche Verpflichtung des Theologen, insoweit es sie wirklich gibt, die dazu beiträgt, dem letzten Ziel von Liebe und Gerechtigkeit zu dienen und dabei auch die politische Dimension von Gerechtigkeit einzuschließen. Es ist mein vorrangiges Anliegen, dass die Theologie genauso betrieben werden sollte. Wird Theologie richtig praktiziert, dann dient sie demselben letzten Ziel wie jede andere christliche Berufung, insofern als sie auf der Grundlage der Berufung zum Christen erfolgt. Aber das Lebenswerk eines Theologen teilt ein zweites Merkmal mit jeder anderen christlichen Berufung: Es kann diesem letzten Ziel nur dienen, insofern es gänzlich und vollständig dem gewidmet ist, was die christliche Theologie tun sollte. Ausgehend von dem Verständnis von Theologie, für das ich argumentiert und das ich so gut wie möglich im gesamten Buch praktiziert habe, sollte die christliche Theologie lediglich eines tun: Sie sollte kritisch auf die Bedeutung des © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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christlichen Zeugnisses und seine beiden Ansprüche, adäquat in Hinblick auf den Inhalt und geeignet für die Situation zu sein, reflektieren, um diese Ansprüche kritisch beurteilen zu können. So wie ich demnach das eigentliche Werk des christlichen Theologen verstehe, besteht der einzige Weg, auf dem sie oder er als Theologe dem letzten Ziel der Liebe, die nach Gerechtigkeit strebt, dienen kann, in einem Engagement in genau dieser Art der kritischen Reflexion in bewusster, methodischer und begründeter Form. Zu diesem Vorgehen ist der professionelle Theologe, der kirchliche ebenso wie der akademische, verpflichtet. Ich betone der professionelle Theologe als ein Theologe, weil das Wort „Theologe“ genaugenommen auf ein Amt, nicht auf eine Person verweist. Natürlich kann nur eine Person ein Amt ausfüllen, ebenso wie nur Personen in der Lage sind, jedes der anderen Ämter, zu denen Gott Menschen beruft, auszufüllen. Aber genauso wie es falsch wäre, eine Frau einfach mit ihrer Aufgabe als Ehefrau oder Mutter zu identifizieren oder einen Mann mit seiner Aufgabe als Ehemann oder Vater, wäre es auch falsch, irgendeine Person einfach mit ihrem Amt als Theologe zu identifizieren. Jede Person, die in das komplexe Beziehungsgefüge eingebettet ist, das für das menschliche Leben, wie wir es kennen, bezeichnend ist, wird nie nur ein Theologe sein. Sie wird noch vieles mehr sein, in dem Sinn, dass sie oder er irgendwelche anderen Funktionen zu erfüllen hat, deren jeweilige Anforderungen oft nicht nur mehr oder weniger ernsthaft miteinander in Konflikt geraten können, sondern es auch de facto tun. Aber insofern die eigene Berufung zum Christsein bedeutet, die kritische Reflexion zu praktizieren, die die christliche Theologie ausmacht, ist der einzige Weg, durch den man dem letzten Ziel der Nächstenliebe und der Liebe zu sich in der Liebe zu Gott dienen kann, der, die kritische Reflexion auf die bestmögliche Weise auszuüben. In ähnlicher Weise kann ein Christ, dessen Berufung es ist, Arzt zu sein, demselben letzten Ziel der Liebe, die nach Gerechtigkeit strebt, nur dadurch dienen, dass er der kenntnisreichste und sachkundigste Arzt ist, der sie oder er sein kann. Einer der interessanten Aspekte im Dasein eines Theologen besteht freilich darin, so haben wir in Kapitel 1 gesehen, dass die Frage, was genau es bedeutet, ein solcher zu sein, ihrerseits eine theologische Frage ist. Es gehört zur Verantwortung des Theologen selbst, sie zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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stellen und zu beantworten. Zweifellos muss sich der Arzt, wenn er oder sie die Tätigkeit wirklich auf einer professionellen Ebene ausführen will, sich mit einer analogen Frage konfrontieren. Aber die Frage, was genau es bedeutet, ein praktizierender Arzt oder ein Theoretiker zu sein, ist keine Frage der Medizin, sondern vielmehr eine der Philosophie der Medizin. Beim Berufstheologen ist die Sachlage jedoch eine andere: Wie der Philosoph hat er niemanden, an den er sich wenden kann. Um die Frage nach der Natur und der Aufgabe von Theologie zu beantworten und damit nach dem, was er oder sie zu tun hat, kann er sich nur an sich selbst oder ihre oder seine Kollegen in der Theologie wenden. Die Schwierigkeit beruht darauf, dass diese theologische Frage, genau wie jede andere, immer in einer bestimmten historischen Situation entsteht. Sie kann daher nicht unabhängig von den Begriffen und damit den Grenzen dieser Situation und der in ihr enthaltenen Möglichkeiten formuliert und beantwortet werden. Das, was der Theologe tun sollte, kann daher nie ein für alle Mal definiert werden. Es muss unablässig immer wieder aufs Neue durch kritisch-theologische Reflexion geklärt werden. Außerdem spiegelt die Art und Weise, in der der Bereich der christlichen Theologie zu einer bestimmten Zeit etabliert ist, wie jede andere soziale oder kulturelle Struktur, die Voreingenommenheiten und Ungerechtigkeiten, die an anderen Stellen der Gesellschaft und der Kultur im Allgemeinen offensichtlich sind. Man denke etwa an die Tatsache, dass bis vor Kurzem die christliche Theologie eine ernsthafte Berufung ausschließlich für weiße Männer der Mittelschicht zugelassen hat. Der einzige Weg, auf dem meines Erachtens daher der Theologe an sich dem letzten Ziel aller christlichen Berufungen, der Liebe, die nach Gerechtigkeit strebt, dienen kann, besteht daher gerade nicht darin zu sagen, dass sie oder er nur das tun kann, was der Theologe gewöhnlich angesichts des sozialen und kulturellen status quo, wozu auch der kirchliche und theologische gehört, tut. Im Gegenteil: Meiner Meinung nach ist der Theologe gerade als Theologe zuständig für ein gründliches, kritisches Verständnis von der Theologie ebenso wie für eine theologische Praxis, die von einem solchen Verständnis angeregt ist. Wenn der Theologe als Theologe dem letzten Ziel dienen soll, dem alle christlichen Berufungen dienen sollten, dann kann sie oder er meines Erachtens nichts anderes tun, als die Arbeit einer kritischen Reflexion über die Bedeutung und die Gül© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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tigkeit des christlichen Zeugnisses auf die bestmögliche Weise auszuüben. Schließlich existiert die christliche Theologie für diese Aufgabe. Dieser Gedanke führt zwangsläufig zum dritten Merkmal, das das Praktizieren von Theologie im Sinne einer christlichen Berufung vollständig mit jedem anderen christlichen Ruf teilt. Übt man professionelle Theologie als kirchlicher oder akademischer Theologe aus, dann ist man in dasselbe Paradox von Heiligem und Säkularem verwickelt, das für alle christlichen Berufungen charakteristisch ist. Als Theologe kann man der Liebe und der Gerechtigkeit nur dienen, indem man das tut, wozu Theologie existiert. Dann aber ist das, wozu Theologie existiert, nämlich die Arbeit kritischer Reflexion, genauso heilig und genauso säkular wie jede andere menschliche Tätigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Ich erinnere noch einmal an das, was ich zuvor bereits über die wichtigen Veränderungen im Verständnis der christlichen Berufungen gesagt habe, die durch die protestantischen Reformatoren vorgenommen wurden. Für den mittelalterlichen Katholizismus war der Begriff „Berufung“ beschränkt auf die Fälle, in denen Menschen zu einem besonderen, repräsentativen Amt oder einem „religiösen“, mithin monastischen Leben als Mönch oder Nonne berufen wurden. Die Reformatoren gingen dagegen davon aus, dass er auf jede Form und auf alle Arten des menschlichen Lebenswerkes in der Welt anzuwenden sei. Vorausgesetzt wurde lediglich, dass sie dem Ziel der Erhaltung und Erfüllung der Schöpfung zur größeren Ehre Gottes dienten. Was auch immer die Natur dieser Tätigkeit ist, sie ist nur in Hinblick auf das letzte Ziel, dem sie dient, durch und durch heilig. In der Wahl der Mittel, die sie anwendet, um diesem Ziel zu dienen, ist sie jedoch durch und durch säkular. Luther wies gerne auf diesen Punkt hin, indem er darauf insistierte, dass es in der Welt, die als ganze profan sei, keine heiligen Orte gäbe, obwohl „die Erde überall dem Herrn gehört“. Mit anderen Worten: Die Heiligkeit ist in der Welt, wie er zu sagen liebte, nicht „heimisch“, nichts, das ihr selbst zu eigen wäre, sondern „fremd“, etwas, das sie nur der Gnade eines anderen verdankt, des Gottes, dessen Liebe allein heilig in sich selbst ist und die allein alles andere heiligt, das man mit Recht so nennen darf. Wie Bultmann richtig argumentiert, ist es somit nicht die „Weihe des Priesters“, die die Kirche heiligt. Es ist allein das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Wort von Gottes Liebe, insofern als es richtig durch die Predigt und die Sakramente der Kirche verkündet wird.2 Dasselbe Paradox von heilig und profan, sakral und säkular, ist für die Ausübung der christlichen Theologie charakteristisch. Sie ist heilig im Licht des Zieles, dem sie dient, und doch genau wie alles andere, was ein Mensch im Namen einer göttlichen Berufung tun könnte, vollständig weltlich. Theologisches Denken ist somit keine Sonderart des Denkens, die spezielle Qualifikationen von Theologen oder spezielle Kriterien für theologische Ansprüche erfordert. Vielmehr basiert das theologische Denken auf derselben kritischen Reflexion, die mit jedem anderen Prozess der Interpretation dessen, was wir in unserer Lebenspraxis als Menschen gewöhnlich denken, sagen und tun und der Beurteilung der Geltungsansprüche, die wir damit erheben oder implizieren, verbunden ist. So wie es einen Geltungsanspruch mit nur einem Sinn gibt, so gibt es auch nur eine Art der kritischen Reflexion, die erforderlich ist, um ihn zu beurteilen. Das ist der Fall ungeachtet der Tatsache, dass es viele Gültigkeitsbereiche und unterschiedliche Kriterien gibt und damit viele verschiedene Wege, auf denen wir als Menschen mit oder ohne gute Gründe einen Geltungsanspruch erheben oder implizieren. Demnach müssen und können die nichtmoralischen Vortrefflichkeiten, das Wissen und die Fähigkeiten, die erforderlich sind, um ein Theologe zu sein, auf dieselbe säkulare Weise erlernt werden, in der jedes andere menschliche Wissen und jede andere Fähigkeit erlernt werden kann und muss. Wenn es also tatsächlich Gründe für einen Christen gibt zu denken und zu sagen: „Theologie ist ein Gebet“, dann gibt es folglich weder mehr noch weniger Gründe dafür als für irgendeine vergleichbare Aussage über eine andere Art einer nützlichen menschlichen Tätigkeit. Genauso gut könnte man etwa sagen: „Haushaltsführung ist ein Gebet“, oder „Abfallentsorgung ist ein Gebet“. Alle Christen sind mit den Ermahnungen des Neuen Testaments vertraut, dass man ohne Unterlass beten solle. Und sie wissen, dass einige von ihnen und gewiss einige ihrer Vorfahren diese Ermahnungen so verstanden haben, dass sie sich unablässig rund um die Uhr auf die eine oder andere Form mit privaten oder öffentlichen religiösen Übungen beschäftigen sollten. 2

Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Zusammenfassung

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Wenn wir aber diese Ermahnungen, wie wir es sollten, in ihrem aktuellen Kontext betrachten, dann sieht es so aus, dass wir sie nur richtig verstehen, wenn wir auf alles achten, was Christen als Gottesdienst durch den Dienst an jenen, die Gott liebt, denken, sagen oder tun sollten, ob es nun religiös oder säkular ist. In diesem Sinne ist er als Gebet, oder, wie es Paulus in Römer 12 nennt, als „verständiger Gottesdienst“ zu betrachten. Wenn es stimmt, dass Theologie tatsächlich ein Gebet ist, dann gilt das jedoch in keiner Weise nur für sie. Dasselbe kann man genauso von jeder anderen Art des Lebenswerkes sagen. Auch es ist ein Gottesdienst, weil oder insofern es ein Dienst an den Geschöpfen ist, die allesamt von Gottes grenzenloser Liebe umfasst werden. Ich fühle mich genötigt zu sagen, dass mir die Gefahr, die in der Aussage „Theologie ist ein Gebet“ liegt, als so groß erscheint, dass man sie lieber gar nicht erwähnen sollte, zumindest nicht ohne gleichzeitig klar zu machen, dass sich die Ausübung von Theologie in dieser Hinsicht genauso wie in Bezug auf alle anderen von mir erwähnten Merkmale in keiner Weise von irgendeiner anderen christlichen Berufung unterscheidet.

9.4 Zusammenfassung Während andere zusammenfassend gesagt haben: „Theologie ist ein Gebet“, ist der letzte Gedanke, den ich dem Leser übermitteln möchte: Theologie ist kritische Reflexion. Ich vertraue darauf, dass ich genug gesagt habe, um zu verdeutlichen, dass ich meine Aussage in keiner Weise als einen Gegensatz dazu verstehe. Ich setzte lediglich voraus, dass „Gebet“ in dem weiten Sinn von Gottesdienst verstanden wird und damit gleichermaßen auf jede andere Form des säkularen oder religiösen Dienstes anwendbar ist. Aber obgleich die beiden Aussagen nicht zwangsläufig unverträglich sind, bringen sie doch verschiedene Schwerpunkte zum Ausdruck. Meines Erachtens sind die Gefahren, die damit verbunden sind, Theologie vor allem vor Studenten der Theologie beharrlich als kritische Reflexion zu verstehen, im Vergleich zu den mit anderen Aussagen verbundenen Risiken verschwindend gering. Aufgrund zahlreicher Gründe, von denen ich selbst zumindest einige für fundiert halte, besteht die größte Versuchung, der die meisten von uns, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Epilegomena: Über Theologie als christliche Berufung

wenn sie an Theologie denken, ständig ausgesetzt sind, darin, sie nicht eindeutig genug vom Gebet oder vom Glauben und dem Ablegen des Zeugnisses im Allgemeinen zu unterscheiden, sondern sie schlichtweg damit zu identifizieren. Die Dialektik zwischen der wirklichen Existenz als Christ und dem Ablegen des Zeugnisses auf der einen Seite und der kritischen Reflexion auf deren Bedeutung und Gültigkeit auf der anderen Seite bricht meistens zusammen, weil der Unterschied zwischen beiden Polen aufgegeben wird. Natürlich gibt es in der Geschichte der Theologie zumindest auch einige Fälle, in denen die Dialektik in die andere Richtung zusammengebrochen ist. Theologie entfernte sich zuweilen so weit vom Zeugnis, auf das sie reflektieren sollte, dass sie in Wirklichkeit aufgehört hat, ein indirekter Dienst an einem gültigen Zeugnis zu sein. Aufgrund meiner Lesart dieser langen Geschichte war diese Art der Fehlentwicklung der Theologie nie in vergleichbarer Weise verbreitet wie die entgegengesetzte. Das Praktizieren von Theologie wurde dabei derart vom Ablegen des Zeugnisses, auf das sie eigentlich reflektieren sollte, assimiliert, dass der einzige Dienst, den sie ausüben konnte, alles andere als eine kritische Reflexion war. Meines Erachtens ist der Beweis hierfür der bis in die Gegenwart reichende lange Kampf innerhalb der Kirche um theologische Freiheit, für die Freiheit, theologisch in einer durch und durch kritischen Weise zu reflektieren. Diese Auseinandersetzung dauert nicht nur in der römisch-katholischen Kirche an, sondern auch in den protestantischen Kirchen. Die Fakultät und die Studenten werden in ihren theologischen Ausbildungsstätten wieder und wieder durch den äußeren Druck von Gruppen und Individuen derart eingeschüchtert, dass sie nur mit einer Art von Belagerungsmentalität theologisch denken können. Diese konnten diejenigen, die mit der neueren Situation an vielen protestantischen Seminaren vertraut sind, zur Genüge erfahren. Kurz gesagt: Die größte Gefahr bei der Ausübung von Theologie in meinem Sinn ist, dass ihr Unterschied zum Glauben und zum Ablegen des Zeugnisses, auf die sie reflektiert, nicht in ausreichendem Maß gesichert ist, um den Dienst, den allein eine kritische Reflexion leisten kann, durchführen zu können. Wenn meine Gedanken stimmen, dann kann für mich nichts wichtiger sein als am Ende unserer Überlegungen zu sagen, dass Theologie kritische Reflexion ist. Jede Reflexion, die nicht durch und durch kritisch ist, ist weder Theologie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

Zusammenfassung

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noch kann sie es in dem Sinne sein, in dem ich sie in diesem Buch erklärt und zu praktizieren versucht habe. Ich charakterisiere mein Anliegen bewusst auf diese Weise, weil ich gerne eingestehe, dass es nicht der einzige Sinn ist, in dem der Begriff „Theologie“ sachgerecht verwendet wurde und wird. Im buchstäblichen, etymologischen Sinn des Wortes als logos über theos verstanden, bedeutet der Begriff einfach ein Denken und/oder Sprechen über Gott. Der Begriff „Theologie“ kann dann in nahezu demselben Sinn verwendet werden, in dem ich den Terminus „Zeugnis“ oder auf jeden Fall „explizites Zeugnis“ gebraucht habe. Ich habe keinen Einwand dagegen, dass er in diesem sehr weiten Sinn benutzt wird, vorausgesetzt, er wird weder als die einzige noch als die am deutlichsten unterschiedene Bedeutung verstanden. Doch ungeachtet der Termini, die wir gebrauchen, um deren Sinn zu beschreiben, bleibt als harter Kern immer noch der grundlegende Unterschied zwischen dem Erheben oder Implizieren von Geltungsansprüchen, worauf man bei dem, was ich mit dem Ablegen des Zeugnisses meine, nicht verzichten darf, und der kritischen Reflexion auf die Bedeutung dieses Zeugnisses und der Gültigkeit seiner Ansprüche, wozu man aufgerufen ist, wenn man in meinem Sinn christliche Theologie betreibt. Außerdem gehört es zur genuinen Natur der Mission der Kirche, ein gültiges Zeugnis gegenüber Jesus Christus abzulegen. Deshalb ist sie immer daran beteiligt und sollte es auch sein, die folgenden beiden Dinge zu tun: den Anspruch, ein gültiges christliches Zeugnis abzulegen zu erheben oder zu implizieren und, um diesen Anspruch gut zu erfüllen, auch auf dieses Zeugnis kritisch zu reflektieren, um zu bestimmen, was es wirklich bedeutet und ob es tatsächlich gültig ist oder nicht. Indem ich darauf beharre, dass Theologie kritische Reflexion ist, kommt es mir darauf an, dass die grundlegende Verpflichtung der Kirche, Zeugnis abzulegen, möglicherweise bestenfalls zufällig durchgeführt würde, wenn sie nicht auch ihrer zweiten Verpflichtung nachkommt und kritisch auf ihr Zeugnis reflektiert. So tut sie alles Menschenmögliche, um sicher zu gehen, dass ihr Zeugnis tatsächlich genauso gültig ist, wie sie es behauptet. „Es gibt“, so sagt Paulus, „verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen.“(1Kor 12,4 – 6) Wenn das, was ich in diesem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593615 — ISBN E-Book: 9783647593616

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Epilegomena: Über Theologie als christliche Berufung

Kapitel gesagt habe, stimmt, dann repräsentiert die Theologie als kritische Reflexion die Kultivierung einer der Gaben des Heiligen Geistes gerade so wie sie eine Art Gottesdienst und eine von Gott inspirierte Form des Wirkens ist. Ich zögere daher nicht von dem Theologen als demjenigen zu sprechen, der ihr oder sein Amt als christliche Berufung als „Diener der Diener Gottes“ erfüllt. Spätestens seit der Zeit von Gregor dem Großen wurde dieser Titel dem Papstamt als dem Primas der universalen Kirche verliehen. Es handelt sich um einen angemessenen Titel, wenn man sich die Rede Jesu in den Evangelien anschaut: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“(Mk 9,35) Der Titel ist jedoch genauso auf jeden anderen Dienst eines speziellen Amtes anwendbar, sei es hoch oder niedrig. Die Voraussetzung ist, dass man, wie ich es tue, daran festhält, dass der entscheidende Punkt jedes derartigen Dienstes auf die eine oder andere Weise darin besteht, den Dienern Gottes zu dienen, die das allgemeine Amt der sichtbaren Kirche bilden. Wenn dieser abschließende Teil meines Argumentes einsichtig ist, dann ist der Titel auch für das Amt des professionellen, akademischen wie kirchlichen Theologen angemessen. Obwohl in diesem Fall der Dienst der Diener Gottes nie mehr als der indirekte Dienst kritischer Reflexion sein kann, kann sie allein deren Anspruch, ihre dienende Aufgabe durch ein gültiges Zeugnis gegenüber Jesus Christus zu erfüllen, bestätigen.

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Index der Bibelzitate Altes Testament Genesis 1,26ff 81

Neues Testament Matthäus 11,5 – 6 92 16,15 – 16 93 Markus 1,10 – 11 94 1,14 – 15 110 9,35 214 10,45 113 14,22 – 24 113

3,23 166 5,20 – 21 166 8,21 67 8,38 – 39 195 11,36 52 12 211 1 Korinther 8,6 52 12,3 130 12,4 – 6 213 12,10 132 14,26 132 2 Korinther 5,18ff 114, 134, 146 5,18 – 19 153 5,20 155

Lukas 1,35 94 11,31 – 32 92 12,8 – 9 92

Galater 5,6 131 5,19 – 23 131 5,25 84, 131

Johannes 1,14 102 1,18 53, 102 14,2 – 3 181

Epheser 2,8 170

Apostelgeschichte 2,17 – 21 121

1 Thessalonicher 4,16 – 17 180

Römer 1,4 94

Offenbarung 21,1 186

Kolosser 93

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Sach- und Namensregister Abendmahl des Herrn 113, 148, 152, 155, 157 f, 161, 171 Adäquat, Adäquatheit 26 – 30, 43, 46, 73, 97, 115, 121 – 123, 141, 143, 149, 161, 172, 174, 176, 195, 201 f, 207 Amt (ministry) 134, 139, 146, 148, 155, 162 – 165, 198 – 202, 207, 209, 214 allgemein/speziell 165, 198 – 202, 210, 214 konstitutiv/repräsentativ 122,132, 139, 149, 153, 162 – 165, 198 – 202, 209 verallgemeinert/spezialisiert 202, 214 Angemessenheit, angemessen (appropriate, appropriateness) 28, 31, 34, 36 f, 93, 108, 115 f, 124 Anglikanischer Katechismus 159 Anselm von Canterbury 57 Apokalyptik, jüdische 109, 112, 180 f, 183, 185 f Apostel 34 f, 46, 54, 89 – 91, 97, 104 – 106, 108, 110, 112 – 115, 125, 134, 152, 163 – 165 Apostolizität, apostolisch 33 – 36, 54, 90, 92, 95, 104, 106, 113, 120, 126, 134, 139, 142, 163, 165, 171 Appropriationen 129 Auferstehung 94 f, 112 – 114, 121, 177, 180 – 182, 186 – 189 Augsburger Bekenntnis 170 Augustinus 86 f, 156, 170 Autorität 54, 104, 125, 133 – 135, 142, 146, 151, 169 Ermächtigung 61 – 64, 90, 133

Barth, Karl 21 Befreiung (emancipation) 67, 73, 75, 115 – 118, 176, 192, 206 Theologien der 176 Bekenntnis von Westminster 141 Berufung 29, 33, 36, 45, 60, 95, 122, 134, 145, 163 f, 173, 196 – 202, 204, 206 – 211 Bonhoeffer, Dietrich 151 Böse, das Problem des Bösen 67, 75 – 79, 85 f, 109, 132, 193 Brooke, Stopford, A. 160 Bultmann, Rudolf 7, 14, 24, 37, 183, 209 f Christen, Christenheit 15, 29, 33 – 35, 39, 54, 58, 60 f, 63, 91, 94, 106, 119, 123 – 127, 135, 138 f, 143 – 146, 152, 163 – 165, 175, 179 f, 183, 185 f, 189 f, 196 f, 199, 201, 205 f, 210 f Christologie 47, 54 f, 90 – 94, 97 – 99, 102, 106, 108, 110, 112 – 118, 133 der Befreiung 90, 97, 115 – 118, 129, 176 explizit/implizit 92 – 95, 108 – 114, 134 – 136, 144, 170 formale Analyse von 90. 95 f klassische/revisionistische (revisionary) 18 f, 33 – 36, 42, 47 f, 68, 71, 78, 91 f, 96 – 98, 104, 106, 112, 138, 139, 141, 152, 179, 182 materiale Interpretation von 54 f, 71, 82, 90, 96 f, 102, 107 f, 110, 117

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Sach- und Namensregister Subjekt von 65 von Kreuz und Auferstehung 112 – 114 Christologische Formulierungen 92 f christologische Prädikate 92 Christologische Titel 95 Collingwood, R.G. 183 Dolan, John Patrick 80 Donatisten, Kontroverse mit 156 Eliot, T.S. 86 Entmythologisierung 183, 210 Episkopat 165 Erfahrung 18, 27, 32, 40. 45. 49, 56, 60, 107 , 135 Christliche 39, 46, 54, 60 – 64, 80, 102 f, 110, 122 – 126, 129 f Erlösung (salvation) 58, 87, 113, 115, 121, 129, 142 f, 145, 148, 150 – 154, 156 – 158, 160, 166, 170, 172 – 176, 179, 190, 192 f, 198, 200 Mittel zur 151, 166, 172, 198, 205 Eschatologie 177 – 179, 181 f, 184, 190, 193 Ethik 100, 151, 188 Ewiges Leben 121, 166, 174, 177 f, 187, 192 Existentiale Interpretation 37 Existentielle Frage 37 f, 40, 50 – 53, 99 – 102, 115, 145, 178 Exklusivpartikel 172 Freiheit 24, 28 f, 68, 75 f, 78, 80 – 82, 85 f, 105, 114 – 118, 122, 130, 155, 158, 167 – 169, 172 f, 193 f, 205, 212 säkular 117 f Gebet

132, 148, 210 – 212

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Geeignet (fitting) 14, 26 – 28, 30 f, 37, 41, 43, 100, 120, 148 f, 186, 201, 207 Gegenreformation 98 Geltungsansprüche, erheben oder implizieren/kritisch beurteilen 14, 23 – 26, 28, 30, 43 f, 149, 204, 210, 213 Gerechtigkeit 61, 83 f, 86, 90, 110, 117 f, 131, 134, 137, 140, 145, 166 f, 170 f, 175, 193, 205 – 209 Geschichte, historische Studien 7, 28, 32 – 34, 38, 42, 51, 92, 103 f, 120, 122 f, 142, 146, 164, 183, 186, 188, 212 Gesellschaft der Freunde (Quäker) 139 Gesellschaft(en) 50, 81, 123, 131, 138, 140, 142, 148, 150, 161, 168 f, 175 f, 203, 206, 208 Strukturen von 205 Glaube 13 f, 17, 19, 35, 40, 45 – 47, 50, 55, 58 f, 61 – 64, 67, 69 f, 72, 78, 82 – 85, 87 f, 90, 96, 102, 105, 110 f, 114 – 120, 122 – 127, 129 – 131, 133 f, 136 – 138, 140, 142, 145 f, 151, 153 f, 156 – 162, 167 – 175, 181, 186 f, 190, 194 – 196, 198, 212 als Annahme von Gottes Annahme 137, 154, 174 als authentisches Selbstverständnis 83, 107 christlich 25, 62, 106 Dualität/Dipolarität von 58, 68 grundlegend 18 f, 33, 39, 50, 54, 63, 83, 85, 93 f, 102, 112, 115, 125, 132, 134 f, 137, 142, 145, 149 f, 164, 170, 180, 183, 193, 197 f, 200, 205, 213 im strengen/weiten Sinn 169, 200 Treue und Vertrauen als aktive und

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Sach- und Namensregister

passive Aspekte/Pole vonIVerständnis von, subjektiv/objektiv 55, 58, 67, 78, 84, 113, 126 f, 129 – 131, 156, 167 – 169, 184, 193 und gute Werke 174 wesenhafte Einfachheit von 19 Wirken durch Liebe Vgl. auch Selbstverständnis Glaubensbekenntnis, christlich 181 von Nicäa 61, 126, 142 Apostolisches 95, 120, 126, 142, 165 Glaubwürdig, Glaubwürdigkeit 26 – 28, 30, 37, 39, 42 f, 46, 96 f, 106, 148, 190, 201 Gnade 45, 82, 120 f, 125, 142 – 147, 150, 154, 156 – 158, 160 – 162, 166, 170 – 175, 181, 191, 193 f, 196, 209 Gnosis 112, 180 f, 183, 185 – 187 Goodman, Nelson 60 Gott 19, 22 – 24, 43, 45 – 48, 50 – 53, 55 – 84, 86 – 90, 92 – 95, 98 – 102, 105 – 107, 109 – 117, 120 f, 123, 125 – 138, 140 – 148, 150, 154 – 161, 163, 165 – 171, 173 – 181, 184 – 200, 205, 207, 209 – 211, 213 f allwissend, allgütig, allmächtig 69 als absolut letzte Wirklichkeit 22 – 24, 26, 37, 43, 48 – 53, 55 f, 58, 67, 72, 79, 82, 99 – 101, 107 als das eine, universale, notwendig existierende Individuum 51, 58 als dreieinig 60 – 64 als Erlöser 58, 181 als Schöpfer – Befreier 58, 66 – 69, 71, 78, 115 f, 168 als symbolisch „allumfassendes Mitgefühl, reine, grenzenlose

Liebe“ 55, 57 f, 64, 69 f, 112, 178, 184, 187, 189 – 191, 194, 211 als symbolisch eine Person 56, 59, 64, 158, 184 als transzendentale, ursprüngliche Quelle der Ermächtigung (authority) 61 f, 64,66 f, 127 f, 134 f, 144, 15 als ursprüngliche Quelle und letztes Ziel aller Dinge 52, 66 f, 78, 126, 186, 189, 193, 206, als Vollender – Retter 58, 67 f, 71, 78 befreiendes Gericht von 109, 112, 114, 142, 177 – 181, 187, 194 Begriff von 84, 171 Bezogenheit von, auf alle Seienden 51 dipolare Struktur von 57 – 59 „duale Transzendenz“ von 57 Ehre von 143, 196, 199, 205, 209 Frage über 102, 106 Freiheit von 78, 116, 174 Herrschaft/Regentschaft von 81, 109 f, 150, 165 jedem Menschen implizit gegenwärtig 154 Liebe von 54 – 58, 61 f, 64 f, 69 – 73, 75 f, 78 f, 84, 88, 90, 98, 110 – 116, 127 – 131, 133, 140, 144, 148, 151, 161, 169, 178, 184 – 195, 209 f, 211 radikale Gabe/Anspruch von 55, 58, 70, 98, 110, 115 f, 125, 129, 132, 150, 156 f, 165, 190 f, 193, 199, 201, 213 Sprache über, als symbolisch/ buchstäblich 56

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Sach- und Namensregister Struktur von, an sich/Bedeutung von, für uns 57 f Vgl. auch Heiliger Geist; Metaphysik; Theologie; letzte Wirklichkeit; Trinität; das Gute Wirken (action) von 57, 61, 75, 119, 121, 124, 126, 128 – 130, 132, 157, 200, 213 f Götzendienst 59, 84, 129, 131, 167 f, 189 Gregor der Große 214 Hartshorne, Charles 57, 59 Heiliger Geist, Person und Wirken des 53, 59 f, 62 – 64, 84 f, 94 f, 100 f, 119 – 136, 142, 165 f als die befähigende (empowering) Gegenwart Gottes 124, 126, 128 das Leben im/nach dem 122, 130 – 133 Gaben des 214 Heiligung 121, 129, 142, 174 Heppe, Heinrich 18 Hoffnung, christliche 87, 123, 179 – 190, 192 Ignatius von Antiochia Inge, W.R. 19 Irenäus 125

171

James, William 48 f Jesus, Jesus Christus 19, 26 f, 29 – 31, 33, 35 – 37, 39, 43, 46 – 48, 52 – 55, 57 f, 60 – 64, 67, 70, 79, 82, 89 – 92, 94 – 99, 101 – 116, 125, 127, 130, 133 – 136, 138, 140, 142, 144 – 150, 156 – 158, 163, 166, 170, 178 – 180, 184 f, 188, 195 – 198, 201, 205, 213 f als „allumfassendes Mitgefühl,

221

reine, grenzenlose Liebe“ 54 f, 58, 90, 108, 112, 205 als das ursprüngliche Sakrament von Gottes universaler Gnade 142, 144 als die entscheidende (maßgebliche) Re-Präsentation der Bedeutung Gottes, von Gottes Liebe für uns 114 als von entscheidender Bedeutung für die menschliche Existenz 67, 79, 91 f, 95, 178 bedeutet Freiheit 114 – 118, 130, 158 empirisch-/existentiell-historisch 99, 101 – 105, 106 – 108, 108, 110 f, 114 f formale-materiale Identität von 54 f, 89 f, 96, 102, 107 f, 114, 117, Realpräsenz von 157 Sein von, in sich selbst/Bedeutung von, für uns 98 Vgl. auch Christologie Jesus-Seminar 35 Johannes 109 Evangelium des 53, 117 Vgl. auch viertes Evangelium Kanon 33 f, 36, 108 vor dem Kanon 108 Kelly, J.N.D. 95 Kerygma 108 – 113, 154 f Jesus-Kerygma 108 – 114, 116 Kierkegaard, Søren 34 Kirche 18, 33, 39, 97, 105, 113, 120 – 126, 130, 132 – 153, 155 – 166, 172, 179, 181, 183, 185, 195, 197 – 202, 209 f, 212 – 214 als Gemeinschaft des Heiligen Geistes 124

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Sach- und Namensregister

als ursprüngliches (primary) Sakrament 144, 147, 150 f repräsentative 150 – 153, 165 institutionalisierte 141 f, 145, 149, 164 sichtbare/unsichtbare 136 f, 139 f, 142, 146, 149 – 153, 157 f, 162 – 166, 198 – 200, 214 Knox, John 122 – 124 Konfirmation 162 f Konzil von Chalcedon 97 Kritische Aneignung (appropriation) 7, 14, 17, 23, 25, 43, 184 f Kritische Bewertung/Prüfung 14 f, 25, 27, 29, 31, 41, 43, 45 Kritische Interpretation 25, 27 Kritische Reflexion 21, 24 f, 27 f, 30, 39, 41, 43, 46, 70, 132, 149, 201 – 204, 206 – 214 Kultur(en) 23, 25 f, 39 – 42, 46, 50, 81, 93, 131, 138, 161, 168 f, 175 f, 205 f, 208 Strukturen der 117, 175, 208 Lebenspraxis 39, 41, 43, 82 f, 86, 167, 176, 196, 204, 210 Lehre 24, 28, 58, 63, 72, 86, 89, 110, 120 – 122, 126 f, 129, 132 f, 141, 146 f, 150, 155 f, 158, 164, 170 f, 173, 178 f, 181, 183, 188, 192, 202, 204 Letzte Dinge 121, 177 – 179, 183, 188, 190, 192, 195 letzte (ultimate) 13, 19, 22 – 26, 37, 39 f, 43 f, 47 – 53, 55 f, 58, 67, 69, 72, 74, 78 f, 82 – 84, 86, 90, 99 – 102, 107, 109, 112 f, 115 – 117, 121, 130, 135, 144 f, 151, 167 – 169, 171, 178, 183 – 190, 192 – 194, 204, 206 – 209, 211, 214 absolute (strictly), „Gott“ ge-

nannt 22, 57, 72 f, 80, 83, 88, 168 f, 202 als Ganze 183, 209 Bedeutung von, für uns/Struktur von, an sich 75, 79, 83, 117, 139, 197 unmittelbare (immediate) 49, 54, 82, 103, 125, 155, 157, 163, 182, 202 Liebe 18, 54 – 58, 61 f, 64 f, 67, 69 – 73, 75 f, 78 f, 82, 84, 87 f, 90, 98, 108, 110 – 118, 120, 126 – 134, 136 – 138, 140, 143 – 146, 148, 158, 169 f, 174 f, 178, 184 – 195, 205 – 211 Lincoln, Abraham 105 Luther, Martin 13, 83, 132, 163, 171, 189, 195, 209 Macquarrie, John 70 Marxsen, Willi 36, 108, 113, 188 Maurice, Frederick Denison 140 f, 159 f, 194 f Melanchthon, Philip 171 Mensch(en) 18 f, 23, 25, 41, 45, 48 f, 53, 55, 58, 60, 72, 75 f, 78, 80 – 82, 86 f, 89, 92, 98 – 100, 105 – 107, 115, 117, 120 Menschliche Existenz 19, 27, 30, 35, 37 – 44, 46, 49, 67, 79 f, 84, 86, 89, 91 f, 95, 107, 110, 121, 130, 132, 136, 144, 175, 178 f, 184, 186 f, 189, 201 authentisch/inauthentisch 78, 82 – 85, 87, 100, 102, 107, 126 – 128, 136 f, 144, 148, 167 f, 194 f, 198 Metaphysik 59, 100 Monergismus 172 Mythos, Mythologie 182 f, 192 Naturgesetze 75 Neues Testament 18, 32, 34, 36, 61,

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Sach- und Namensregister 93, 95, 105 f, 108, 112 – 114, 117, 126, 144, 172, 179 – 182, 120, 215 Niebuhr, Helmut Richard 104, 199 Niebuhr, Reinhold 88, 206 Nikolaus von Kues 80 Oman, John 165 Orthodox, Orthodoxie 18, 33, 35, 81, 84, 86, 98, 121, 136 f, 177 f, 181 f, 206 Outler, Albert, C. 120 Paulus 35, 52 f, 67, 84, 93, 112, 114, 117, 130 – 132, 134, 155, 165 f, 174, 179 – 181, 195, 211, 213 Pelagianismus 88, 172 Philosophie 21, 27 f, 38 – 42, 208 Politisch, Politik 81, 117, 205 f politische Theologien 206 Prädestination 173 Protestant(en), Protestantismus 18, 33, 35, 98, 136, 138 f, 141, 152, 154, 156 f, 161, 177 f, 196, 199, 209, 212 Radikaler Monotheismus 51 – 53, 67, 71, 99 f Rahner, Karl 142 f, 145 f Rechtfertigung 129, 174, 202 Reformatoren, Reformation 158, 160, 172, 209 Religion(en) 19, 23 – 26, 39 – 42, 46, 50, 99, 112, 131, 137 f, 151, 183, 197 f Rendtorff, Heinrich 188 Rettung 73 f, 78, 129, 190 – 192 Robertson, FW. 159 f Römisch-Katholisch, Katholizismus 141 Russell, Bertrand 88

223

Sakramente 137 – 139, 146, 150 – 158, 164, 181, 210 Gültigkeit/Wirksamkeit von 156 – 158, 160 Schleiermacher, Friedrich 98 Schmid, Heinrich 18 Schöpfung 52, 65 – 67, 69 – 74, 86 f, 89 f, 107, 117, 121, 129 f, 181, 183, 185 – 187, 196, 204, 209 aus dem Nichts durch Gott 72 Kontingenz/Notwendigkeit von 49, 68 – 72, 74, 76, 80, 86, 88, 169 Schrift, die Heilige 18 f, 26 f, 32 – 35, 46, 100, 106, 108, 112, 121, 143, 146, 148, 159, 172, 179 Segundo, Juan Luis 143, 145 Selbstverständnis 43, 49, 83, 85, 100, 107, 155, 183, 204 Soziales Evangelium 176, 206 Sünde(n) 77, 79, 82 – 88, 90, 121, 128 f, 131, 154, 166 – 170, 174 – 176, 190 – 193 Symbol(e) 51, 56, 59, 64, 100 f, 158, 160, 184 – 187 Synergismus 172 Synoptische Evangelien/Tradition 35, 93, 108, 112, 114, 150 Taufe 95, 114, 121, 152 f, 157 – 163, 198 Theologie 13 – 15, 17 – 19, 21 – 25, 27 – 34, 36 – 47, 54, 66, 68, 70, 81, 83, 88, 91 – 93, 95, 107, 117, 119 – 122, 127, 136 f, 141, 143 f, 146, 149, 151 f, 154, 171, 174, 177 f, 181 f, 185, 188 – 190, 195 – 197, 200 – 214 als christliche Berufung 196, 200, 214 als eine Art/Bereich kritischer Reflexion 21, 24 f, 27 f, 30 f, 39,

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Sach- und Namensregister

41, 43, 46, 70, 91, 97, 132, 149, 151, 201 – 214 Aufgaben von 22, 28 biblische 27, 32, 38, 95 christliche im Besonderen 13 f, 17 – 19, 22, 25 – 30, 32 – 36, 38, 40 – 47, 50, 52 – 55, 58 – 61, 63 f, 66 – 68, 70, 75, 77, 79 f, 82 f, 88 – 90, 92 f, 100, 102, 104, 108, 110, 112, 115, 117 – 125, 127, 129 f, 135, 137 – 143, 145, 149 – 156, 158, 162 – 164, 166, 170, 172, 174, 178, 181, 183 – 185, 188 f, 191, 194 – 204, 206 – 211, 213 Definition von 22 f, 25, 49 Disziplinen von 21, 27 f, 29 – 32, 38, 40 generischer/spezifischer Sinn von 24 historische 24, 27, 31 – 33, 35 f, 38, 40, 44, 93, 95, 99, 101 – 106, 108, 110 f, 114, 123, 125, 142, 150, 157, 160 f, 164 f, 180, 208 im Allgemeinen 22 – 25, 28, 38 – 40, 43, 48, 59, 79, 89, 103, 112, 119, 135, 156, 168, 174, 206, 208, 212 indirekter Dienst von 24 f, 28 f, 202, 212, 214 kirchliche/akademische (an Hochschulen) 150, 201 f Kriterien von 28, 40 f, 210 Methoden der 22, 30 – 32, 36 – 44, 108, 202 Phasen der 30 – 33, 36 – 44 philosophische 14, 24, 27, 38 – 41, 44, 56 praktische 27 f, 30, 42 f, 103, 201 f

römisch-katholische 33, 98, 144, 156 – 158, 178, 212 systematische 15, 17 f, 22, 26 – 34, 36, 38 – 42, 44 – 46, 88, 95, 119, 197, 201 von Laien/professionelle (berufsmäßige) 14, 18, 29, 122, 132, 149, 200, 202 – 204, 207 – 209, 214 Theologische Ausbildung 203 f Thomas Becket 86 Thomas von Aquin 77 Tillich, Paul 88, 171 Tod 50, 112 f, 166, 177 – 181, 183, 185, 187 – 192, 195 Vergänglichkeit (perishing/transience) 67, 179, 185, 190, 192 Tradition 7, 13 f, 26 f, 32 – 35, 46, 53, 59 f, 75, 93 f, 100, 108, 110, 112 – 114, 119, 129, 134, 150, 161, 164, 172, 179, 182, 189, 199 Trinität 60, 63, 120 f, 127 f, 134 ökonomisch/ontologisch 63, 127 f Unglaube 83 f, 87, 129, 167 f Unsterblichkeit, subjektive/objektive 171, 180 f, 186 – 189, 191 Vatikanisches Konzil II 141 f Vereinigte Methodistische Kirche 137, 148 Verkündigung 108 – 113, 137, 139, 146, 151, 153 – 157, 164 Verständnis 17 – 19, 29, 32, 38, 40 f, 47 f, 52, 55 f, 60, 67, 84, 86, 90, 114, 121 – 123, 135, 138 f, 144, 153, 155, 157, 166, 170, 184, 191, 196 – 198, 200, 206, 208 f Vorverständnis 60, 90 Vgl. auch Gott; Trinität Vidler, Alex R. 160

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Sach- und Namensregister Viertes Evangelium 75, 93, 102, 181, 186 Vgl. auch Johannes Vollendung 65, 71, 73 f, 78, 129, 183, 190 f Vorsehung 73 f, 163 Wahrheit, existentielle/über die Existenz 26 f, 37, 40 – 42, 44, 46, 71, 87, 89, 107, 142, 146, 156, 159 – 161, 171, 182 f, 187, 194 f Welt 49, 58, 65 – 73, 78, 80, 83 f, 90, 114, 120, 122 f, 129, 131, 134, 140, 142 – 151, 159, 168, 176 – 178, 180 f, 185, 187, 191 f, 194, 198 – 201, 205, 209 Wesley, Charles 54, 90, 108 Wesley, John 119 f, 148, 152, 171, 174, 189 Whitehead, Alfred North 98 Wiles, Maurice 61 Wirken (Action) Vgl. Gott Wirklichkeit 13, 22 – 24, 26, 37, 40, 43, 47 – 53, 55 f, 58, 60, 67, 72, 76 – 79, 82, 88, 99 – 101, 103, 107, 112, 115, 123, 129 f, 135, 137, 143, 160 – 162, 167, 174, 180, 182 – 187, 205, 212 Wissenschaft(en) 13, 21, 27 f, 32, 38, 132, 182 f Wittgenstein, Ludwig 188 Wort 18, 21 f, 35, 40, 43, 46 – 48, 51 – 53, 61, 67, 69, 78 f, 81, 83, 85 – 87, 90 f, 94, 96, 100 f, 108, 110 f, 113, 117, 127, 131 f, 134, 136 – 139, 141 – 143, 146, 148 – 150, 153 – 158, 160, 162, 164 – 166, 168 f, 172, 174 f,

225

180 f, 187, 194, 197 f, 203, 207, 209 f, 213 Wunder 74 Zeugnis, christliches 23 – 40, 43 f, 46 f, 51 – 55, 60, 66, 79 f, 82 f, 88 – 93, 97, 100, 104 – 106, 108 f, 112 f, 115 – 117, 121, 123 – 125, 127, 129, 134, 138 f, 141, 143 – 152, 155, 158, 160 – 165, 172, 174, 176, 180, 184 f, 191, 195 f, 198 – 205, 212 – 214 Vgl. Apostel, apostolisch, Apostolizität explizit/implizit 14, 23, 25, 47, 52, 113, 115, 134, 137 – 140, 147, 150 – 153, 155, 157, 164, 174, 176, 198, 213 formal-/substantiell-normativ 26 f, 31 – 33, 35 – 40, 44, 46 f, 54, 89 f, 92 f, 97, 106, 108, 112, 115 frühestes, ursprünglich und schöpferisch 33 – 36, 47, 54, 92 f, 102, 104, 108, 112, 114 Vgl. auch Geltungsansprüche Vgl. existentielle Frage indirekt, der Lehre 24 f, 28 f, 38, 50, 123, 132, 155, 203 f, 212, 214 konstitutive Behauptung(en) von 35, 47, 53 f, 70, 79, 89 – 95, 108, 129 f unmittelbar, der Verkündigung 60, 81, 87, 102, 109 f, 122 f, 150, 155, 175, 180 f, 183 zweifache Struktur des 26

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Mit einem Vorwort von Bischof Dr. Ulrich Fischer Grundwissen Christentum, Band 2

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2000 Jahre Kirchen- und Kichenbaugeschichte im Überblick

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Konsequent verständlich, konsequent aktuell, konsequent ökumenisch, konsequent kritisch – so muss Kirchengeschichte heute behandelt werden und so will sie dieses Buch präsentieren.

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