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German Pages 280 [282] Year 2015
Eckart Goebel Jenseits des Unbehagens
Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 11
2009-05-04 12-57-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02eb209336954976|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 1197.p 209336954984
Eckart Goebel (Dr. phil.) ist Professor am Department of German der New York University. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche und europäische Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Literatur und Psychoanalyse sowie Begriffsgeschichte.
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) T00_02 seite 2 - 1197.p 209336955016
Eckart Goebel Jenseits des Unbehagens. »Sublimierung« von Goethe bis Lacan
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) T00_03 titel - 1197.p 209336955048
Gefördert durch einen mit dem Research Challenge Award verbundenen Druckkostenzuschuss der New York University sowie durch einen weiteren Druckkostenzuschuss des Dean for the Humanities der NYU, Edward J. Sullivan.
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Quelle: Wilhelm Reich: Charakteranalyse, Fischer Taschenbuch 1981, S. 185
Inhalt
Vorwort I.
II.
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Trilogie der Leidenschaft. Goethe als Paradigma und als Provokation
..................................
15
................
59
III. Verklärte Physis. Friedrich Nietzsche
..........................................
77
IV. Selbstbeherrschung. Sigmund Freud
.........................................
123
V.
Der Klang der Psychoanalyse. Arthur Schopenhauer
9
Walking the Dog. Tierische Transzendenz bei Thomas Mann
...............................
173
...........................
211
...............................................
245
......................................................................................................
271
VI. Sublimierung der Natur. Theodor W. Adorno VII. Das Ding. Jacques Lacans Luther Notiz
Literatur
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Vor wor t Who’s to say that passion for the literal can be controlled, that gaping and scarring will not break through to the real at any given moment? Who can patrol symbolic territories and assure secure frontiers among levels and systems of transfer? Avital Ronell, The Test Drive, S. 280.
»Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen.«1
Das vorliegende Buch greift die Anregung Sigmund Freuds auf und bietet in sieben Kapiteln Resultate der Bemühung, die Frage nach dem ›Schicksal der Sublimierung‹ »noch länger zu überlegen«. Der Auf bau ergibt sich einerseits aus der berufsbedingten Perspektive, also aus der Sicht theoriegeleiteter Literaturwissenschaft, näherhin: der Germanistik. Ein Kunsthistoriker hätte den Weg zu Freud vermutlich eher im Ausgang von Leonardo da Vinci und Michelangelo beschritten. Für einen Germanisten hingegen liegt es auf der Hand, mit Goethe einzusetzen. Anderseits ist der Anfang mit Goethe sachlich leicht zu rechtfertigen, da die frühe Zuwendung zu ihm von kaum zu überschätzendem Einfluss auf Freud und sein Schreiben – inhaltlich wie stilistisch – gewesen ist. Neben Platon, in dessen Sym1. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 227.
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posion die Idee der Sublimierung, soweit ich sehe, erstmals exemplarisch formuliert wurde – mit singulärer Wirkung bis heute –, gehört Goethe für Freud zu jenen Figuren, die den Eros immer hochgehalten haben, wie er in der Rede aus Anlass der Verleihung des Goethe-Preises betont. Darüber hinaus hat Goethe selbst, vor allem in Dichtung und Wahrheit, das eigene Werk als sublimierende Verarbeitung zumal erschütternder erotischer Erfahrungen charakterisiert, die Poesie als einen Luftballon beschrieben, der uns über die trübe Welt der Versagungen erhebt. Da die späte Trilogie der Leidenschaft nicht nur die Liebe des Dichters zu Ulrike v. Levetzow verarbeitet, sondern auch eine Summe des gesamten Goethe’schen Passionsweges zieht, steht am Beginn der vorliegenden Studien eine Lektüre dieser großen Gedichte. Zum Motto der Elegie erhob Goethe zwei Verse aus dem Tasso, die das Sublimierungstheorem in nuce formulieren und zugleich verdeutlichen, warum das Werk Goethes nicht nur ein Paradigma formuliert, sondern auch eine Provokation. Lyrik bringt das Leiden nicht zum Verschwinden, sie stellt es aus, als Leiden: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.
Die eingangs zitierte Passage aus Freuds Traktat über Das Unbehagen in der Kultur benennt das Grundproblem, von dem die Sublimierung und dann ihre Theorie bis heute heimgesucht werden. Freud nennt die Sublimierung der Triebe ein erzwungenes Triebschicksal. Demzufolge ruht die gesamte Kultur primär auf Zwang, weshalb ihr als einer nur widerwillig akzeptierten Verfassung des Lebens beständig mit Feindseligkeit begegnet wird. In dieser Einschätzung artikuliert sich ein oft registrierter Pessimismus, und Freud selbst bemerkt in der Schrift über das Jenseits des Lustprinzips, dass die psychoanalytische Kulturtheorie spätestens mit der Entdeckung des Todestriebs in den Hafen der Philosophie Arthur Schopenhauers eingelaufen sei. Der Einfluss der pessimistischen Willensmetaphysik auf Freud ist gut erforscht, doch blieben im Hinblick auf die Theorie der Sublimierung Fragen offen, die im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches erörtert werden. Nach Schopenhauers dualistischer Konzeption kann es keine Sublimierung der Triebe geben in dem Sinne, dass sich insbesondere der Sexualtrieb auf nichtsexuelle Objekte würfe. Sublimierung bei Schopenhauer heißt: Verzicht mit dem Ziel einer endlichen Abtötung der Triebe. Wie sich zeigt, changiert Freuds Entwurf zwischen Triebsublimierung und -verzicht, und die Rückbindung an Schopenhauers Lehre von der Askese ließe das Pendel eindeutig in Richtung der Abtötung ausschlagen. Das aber stünde in scharfem Widerspruch zu anderen Elementen der Sublimierungslehre, in denen alles darauf ankommt, das Fortleben erotischer 10
Vor wor t
Triebregungen jenseits der Sexualität aufzuweisen. Das Problem, das die Schopenhauerrezeption Freuds mit sich bringt, kann, so der Vorschlag, mit Blick auf die Metaphysik der Musik einer Lösung näher geführt werden. Bei Schopenhauer wird das, was der Wille will, nicht verstanden, sondern nur erfahren in der sprachjenseitigen Sprache der Musik. Von der Sprache der Musik wendet Freud sich ab und verdeutlicht im Gegenzug, dass das, was der Wille will, auch in der Sprache der Menschen erklingt. Freud überträgt die Übung geschulten musikalischen Hörens auf die menschliche Sprache, und an die Stelle musikalischer Improvisation tritt das Verfahren der freien Assoziation, die Sublimierungen möglich werden lässt. Friedrich Nietzsche, dessen Einfluss auf Freud ebenfalls bereits ausgezeichnet erforscht worden ist, führt den Begriff der Sublimierung in die Psychologie ein und entwirft, nach der Abwendung von Schopenhauer, eine Kulturgeschichte Europas, die um die Pole der ›falschen‹ Sublimierung, verstanden als Schwächung der Triebe, und einer guten Sublimierung anderseits kreist, die, als ›große Selbstbeherrschung‹, die Triebe im Sinne einer Steigerung des Lebens zu gebrauchen weiß. Obwohl historisch früher, erweist sich Nietzsches Idee der Sublimierung, so argumentiert das Nietzsche-Kapitel des vorliegenden Buches, gleichwohl als eine bleibende Herausforderung der widerspruchsvollen Freud’schen Theorie. Laut Freud ist es das Lustprinzip, das unseren Begriff von Glück bestimmt. Indem Nietzsche deutlich pointiert, dass die Herrschaft des Lustprinzips ihrerseits eine eigene Form von Knechtschaft bedeutet, stellt er diesen Glücksbegriff in Frage und eröffnet die Möglichkeit, eine Sublimierung zu denken, die sich in einem Raum jenseits des Unbehagens bewegt. Zur Ausarbeitung dieser These erwies sich eine Lektüre des ersten Buches der kühlen Morgenröthe als aufschlussreich, vor allem, weil der Wille zur Macht hier noch als Tilgung primärer Ohnmacht und der Übermensch begriffen wird als der Mensch, der Trieb und Geist zu integrieren versteht. Oft ist kritisch angemerkt worden, dass die Theorie der Sublimierung von Sigmund Freud selbst nur sehr fragmentarisch und desultorisch behandelt worden sei, was angesichts der immer wieder konzedierten zentralen Bedeutung erstaunt. Das Freudkapitel dieses Buches unterzieht sich der Mühe, den Freud’schen Begriff der Sublimierung zu rekonstruieren, so gut es angesichts der schmalen und zudem vielfach widersprüchlichen Materialbasis möglich ist. Es ist Freud nicht wirklich gelungen, die Befähigung des Menschen zur Sublimierung befriedigend zu beschreiben, und es ist ihm ferner nicht möglich gewesen, einen Sublimierungsbegriff zu konturieren, der frei wäre vom bitteren Geschmack eines Verzichts auf das ›Eigentliche‹. Den Bereich jenseits des Unbehagens erreichen Freud zufolge nur wenige, und selbst die großen Ausnahmeindividuen bleiben beständig der Versuchung ausgesetzt, die Sublimierungen wieder rückgängig zu 11
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machen, zu regredieren. Zuletzt setzt Freud den Akzent vor allem auf den Triebverzicht und aktualisiert aus der Perspektive modernen psychologischen Expertenwissens die von Thomas Hobbes im Leviathan formulierte Theorie des starken Staates. Unentschieden blieb lange, ob Freud die Idee einer Versöhnung des Individuums mit sich selbst und einer Versöhnung der Individuen mit Gesellschaft und Natur im Begriff der Sublimierung fassen sollte. Am Ende gravitieren die Äußerungen in die Richtung einer Betonung des Moments von Zwang, in die Richtung der Bestimmung der Sublimierung als eines Schicksals. Kaum etwas liegt näher, als in einem Buch zur Sublimierung Thomas Mann abzuhandeln, kann doch sein Werk in weiten Teilen als Sublimierung frustrierter Triebregungen verstanden werden. Die berühmte Novelle über den Tod in Venedig etwa scheint nicht nur einen verstörenden Urlaub sublimierend zu verarbeiten, sondern obendrein den Prozess der Sublimierung seinerseits exemplarisch darzustellen. Die Szene, in der Gustav von Aschenbach, den schönen Knaben Tadzio vor Augen, seine ›erlesene Prosa‹ schreibt, kann geradezu als episches Emblem der Sublimierungstheorie ausgezeichnet werden. Bei längerem Nachdenken stellen sich jedoch Zweifel an dieser Perspektive ein. Zu begreifen wäre zunächst, dass Thomas Mann dadurch, dass er Sublimierung zum unerhörten Gegenstand der Novelle macht, auf Augenhöhe mit der zeitgenössischen Psychoanalyse kommt. Wenn man überhaupt behaupten möchte, Thomas Mann sublimiere durch den Schreibprozess, ist man daher veranlasst zu fragen, was es heißt, dadurch zu sublimieren, dass man Sublimierung darstellt. Und zum Gegenstand der Erörterung wird ferner der Umstand, dass die schematisch dargestellte Sublimierung Aschenbachs grandios scheitert. Wieder und wieder misst Thomas Mann den Abgrund aus, der Freud zufolge zwischen narzisstisch motivierter Idealbildung und Sublimierung besteht. Thomas Mann gibt die Apologie eines Schreibens, das – und hier antizipiert der Dichter die Reformulierung der Sublimierungslehre durch Herbert Marcuse – eine ›Selbstsublimierung des Eros‹ postuliert. In der sehr unterschätzten Studie über Herr und Hund, deren Interpretation das Thomas Mann-Kapitel leistet, entwirft Mann eine Lehre von der Sublimierung, die deren halbierte Version – Verzicht – hinter sich lässt. Eine Sublimierung, die Freiheit nur bestimmt als zwanghafte Befreiung von der Natur, wird nie über Sublimierung als stets bedrohtes ›Schicksal‹ hinausgelangen, beschwört vielmehr Schicksal herauf. Als raffinierte, bisher unerkannte Umschrift von Elementen der Goethe’schen Wahlverwandtschaften bestätigt Herr und Hund diese bereits von Walter Benjamin formulierte Kritik des Romans. Im Zeichen der ›Landschaft‹, ihrerseits bereits sublimierte Natur, evoziert Thomas Mann ein alternatives Verständnis von Sublimierung, das Mensch und Kreatur gleichermaßen umfasst und 12
Vor wor t
deren Bewegung aufeinander zu als kritische Revision einer vom ›Zwang‹ dominierten Aufklärung beschreibt. Die Lektüre der Mann’schen Geschichte über Mensch und Kreatur in der Landschaft bereitet das Kapitel zu Theodor W. Adorno vor, das ebenfalls von einer Landschaft seinen Ausgang nimmt. Adornos Notizen Aus Sils Maria werden als eine durchgeführte Allegorie gedeutet, die, vermittelt über den Begriff des Naturschönen, die Entfaltung des Begriffs Sublimierung als Erschütterung vorbereitet, den die Ästhetische Theorie dann bietet. Die aus dem Nachlass publizierte Ästhetische Theorie enthält eine mikrologische Analyse der Freud’schen Thesen, die mit der Lehre Kants vom interesselosen Wohlgefallen schroff kontrastiert werden. Die eigene Position formuliert Adorno als Synthese aus den als Antithesen gesetzten Positionen Freuds und Kants: Nur wer sich der Erschütterung durch Kunst hingibt, wird des Preises inne, den die Zivilisation die Menschen gekostet hat, und denkbar wird eine Idee von Glück, die gleichermaßen jenseits der Rückkehr in bloße Natur und jenseits der vom Unbehagen überschatteten Zivilisation läge. Die verbreitete These, dass sich in der Formel vom ›Eingedenken der Natur im Subjekt‹ der Rousseauismus der Rückkehr zur Natur artikuliere, kann nicht nur angesichts der Adorno’schen Beschreibung der Landschaft des oberen Engadin bezweifelt werden. Adorno pointiert zudem die im Spätwerk Freuds entdeckte dialektische Struktur der Erfahrung, die sich als die Geschichte der Objektwahlen manifestiert. Melancholie erweist sich als schwarzer Ausnahmefall, in dem die Erfahrung des Bewusstseins sistiert wird. Sublimierung hingegen wird begriffen als Veränderung im Interesse selbst, die aus der gemachten Erfahrung resultiert. Indem sich das Interesse ausdifferenziert, lässt das Subjekt das rohe Begehren hinter sich und gelangt auf die Bahn der Vergeistigung. Auf deren Höhepunkt, im Kunstwerk, wird der Gesamtprozess der Erfahrung seinerseits zur erschütternden Erfahrung und die Möglichkeit eines Lebens jenseits des durch den Zwang schicksalhaft diktierten Unbehagens denkbar. Die Forschungen Jacques Lacans lassen sich summarisch charakterisieren als Ausarbeitung der von Freud im Aufsatz Zur Einführung des Narzissmus erläuterten Mechanismen. Lacan verlegt im Text über das ›Spiegelstadium‹ die Erfahrung des Unbehagens an den Anfang individuellen Lebens. Fraglos verschärft Lacan sowohl mit seiner Analyse des Narzissmus als auch mit seiner Weiterführung der Freud’schen Kulturtheorie den skeptischen Blick auf den Menschen und seine schwachen Möglichkeiten zur Sublimierung. Wie bei kaum einem anderen Autor bestätigt sich für Lacan, dessen Seminar VII über Die Ethik der Psychoanalyse im letzten Kapitel erörtert wird, das Wort Nietzsches, demzufolge das Reich des Guten dort beginnt, wo unser psychologischer Scharfsinn nicht hinreicht. Lacan destruiert im Ausgang von Freud unnachgiebig den Begriff des höchsten 13
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Gutes der traditionellen Ethik, dies aber in der Absicht, einer aus der Psychoanalyse heraus formulierten Ethik den Weg zu ebnen. Lacan ergänzt die Studien Freuds zum Monotheismus durch eine eindringliche Analyse der Figur des ›großen Reformators‹, Martin Luthers. Die genauere Ausleuchtung des religiösen Szenarios gibt der Illusion keine neue Zukunft, sie führt zu einer klaren Exposition der Spaltung der menschlichen Psyche, die im Zuge der Reifung einerseits ihre Ideale aufgibt, anderseits gleichwohl immer ›kreationistisch‹ bleiben wird. Indem sich die Seele der Erfahrung vollkommener Hilflosigkeit aussetzt, wird die verblüffende Integration der Pole möglich. In der Sekunde, in der das Subjekt das Grauen der Hilflosigkeit durchdringend erfährt, eröffnet sich die Möglichkeit, die Vaterposition einzunehmen und die Knechtschaft des Imaginären abzuwerfen. In Luthers ekstatischer Beschreibung der drei Lichter, des schwachen Lichts der Natur, des flackernden Lichts der Gnade und des gleißenden Lichts der Herrlichkeit sieht Lacan diesen spirituellen Prozess einer heilenden Verbrennung des narzisstischen Imaginären dokumentiert, an dessen Ende Sublimierung erkennbar wird als die via regia zur Erschließung der wirklichen Welt.
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I. Tr ilogie der Leidenschaft. Goethe als Paradigma und als Provokation
1. Das weltliche Evangelium Liebhabern klassischer deutscher Literatur und Philosophie fällt bei der Lektüre der Schriften Sigmund Freuds rasch auf, dass sein Begriff der Sublimierung ererbt ist von den Vätern und ihrer Anthropologie: »Hunger und Liebe: das ist letzten Endes die wahre Philosophie, wie unser Schiller sagte.«1 Einschlägig sind für Freud, der Goethe und Schiller »stundenlang zitieren konnte«,2 weniger die Theorien des Erhabenen, des Sublimen, als vielmehr prominente Versuche der ästhetischen Theorie um 1800, Kunst als Medium des Ausgleichs zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Realitäts- und Lustprinzip, zu bestimmen. Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde und die Briefserie Über die ästhetische Erziehung des Menschen intendieren eine Versöhnung nicht nur zwischen dem partikulare Interessen verfolgenden Trieb und dem allgemeinen Geist des Individuums, sondern ebenso eine Versöhnung zwischen Individuum und Gesellschaft.3 1. Sigmund Freud 1884 an seine Braut, zitiert nach: Peter Gay: Sigmund Freud. Eine Biographie für unsere Zeit (1989), Frankfurt a.M. 2006, S. 59. 2. Peter Gay: Sigmund Freud. Eine Biographie für unsere Zeit (1989), Frankfurt a.M. 2006, S. 149. 3. Den bei Freud latenten Bezug auf Schiller ruft Herbert Marcuse in Erinnerung. Vgl. Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 171-194. Vgl. zu Marcuse: Stefan Matuschek: »›Was du hier siehest, edler Geist, bist du selbst.‹ Narziß-Mythos und ästhetische Theorie bei Friedrich Schlegel und Herbert Marcuse«, in: Almut-Barbara Renger: Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyber-Space, Stuttgart/Weimar 2002, S. 79-97. Zu Schillers Theorie der Anmut als
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Jenseits des Unbehagens
Der Begriff Sublimierung deckt auch bei Freud noch beide Dimensionen. Er umfasst sowohl den individuellen Ausgleich zwischen Triebanspruch und Selbsterhaltung, der in der Fachliteratur als »Neutralisierung« begegnet, 4 als auch das Postulat des notwendigen Triebverzichts zugunsten des Sozialverbandes, in dem das Individuum lebt, terminologisch später gefasst als »Anpassung«.5 Einmal nennt Freud selbst die Sublimierung eine »Kunst«6, und wer diese Kunst beherrscht, vermag unökonomische Triebregungen entweder auf höhere, sozial wertvolle Ziele zu richten, oder aber sie zu neutralisieren und ist schließlich fähig, sich vollendet anzupassen. Die analysierte Seele wird schön: »Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen.«7
Im Reflexionsbogen der Freud’schen Schriften verdunkelt sich allerdings, verstärkt nach dem I. Weltkrieg, die Perspektive auf die Konzeption. Die Idee eines womöglich schönen Ausgleichs – selbst in der klinischen FreudForschung wird Sublimierung bisweilen an den Begriff ›Versöhnung‹ heran gerückt8 – verblasst zugunsten einer Selbstbehauptung in Entsagung, Askese und Würde. Es dominiert zunehmend die ernste Idee einer »Beherrschung der Triebe durch moralische Kraft«, der stoische Habitus einer
einer Theorie des balancierenden Ausgleichs vgl. Vf.: Charis und Charisma. Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger, Berlin 2006, S. 35-56. 4. Vgl. Heinz Hartmann: »Sublimierung und Neutralisierung« (1955), in: Hans Thomae (Hg.): Die Motivation menschlichen Handelns, Köln/Berlin 1966, S. 339-348: »Wir können weiterhin von Sublimierung nur in dem Fall sprechen, wo es sich um Neutralisierung von Libido handelt, denn so wurde es von Freud aufgefaßt und dominiert noch immer die analytische Struktur« (S. 339). 5. Vgl. unten das Kapitel zu Sigmund Freud. 6. Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912), Studienausgabe. Ergänzungsband, hg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt a.M. 1982, S. 179. (Freudzitate sind, wenn nicht anders vermerkt, stets der Studienausgabe entnommen und werden mit Bandangabe belegt.) 7. Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde (1793), in: Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1993, S. 433-488. Hier: S. 468. 8. Vgl. Hans W. Loewald: Sublimation. Inquiries into Theoretical Psychoanalysis, New Haven and London 1988, S. 33; s.u. das Kapitel zu Sigmund Freud.
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I. Tr ilogie der Leidenschaf t
»Ruhe im Leiden«.9 Es ist nunmehr ein ferner Nachhall der Schiller’schen Idee von Würde im Angesicht des widrigen Schicksals hörbar, wenn Freud etwa in der summa über das Unbehagen in der Kultur 1930 formuliert: »Eine andere Technik der Leidabwehr bedient sich der Libidoverschiebungen, welche unser seelischer Apparat gestattet, durch die seine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt. Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben.«10
Der Denkweg Freuds führt vom Schiller’schen Ideal des Ausgleichs und der Hegel’schen Idee der Versöhnung entschieden hinab zur missgestimmten Philosophie Schopenhauers, in dessen düsteren Hafen, wie Freud notiert, die Psychoanalyse seit der bedrückenden Entdeckung eines Jenseits des Lustprinzips am Ende einläuft.11 Sublimierung als Ideal vollendet entsagender Würde wird bei Freud reserviert für das Ausnahme-Individuum. Für die Masse der Menschen, laut Schopenhauer »die Fabrikware der Natur«, 12 erweist sie sich faktisch als ein institutionell erzwungenes Triebschicksal: »Ebensowenig wie den Zwang zur Kulturarbeit, kann man die Beherrschung der Masse durch eine Minderzahl entbehren, denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Triebverzicht nicht, sind durch Argumente nicht von dessen Unvermeidlichkeit zu überzeugen, und ihre Individuen bestärken einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit. Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie als ihre Führer anerkennen, sind sie zu Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist. Es ist alles gut, wenn diese Führer Personen von überlegener Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens sind, die sich zur Beherrschung ihrer eigenen Triebwünsche aufgeschwungen haben.«13
9. Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde (Anm. 7), S. 475 u. 476. 10. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 211. 11. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), Bd. 3, S. 259. Vgl. unten das Kapitel zu Arthur Schopenhauer. 12. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Frankfurt a.M. 1986, S. 234. 13. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927), Bd. 9, S. 141.
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Jenseits des Unbehagens
Freud hat Studien über vorbildliche Individuen von überlegener Einsicht publiziert: Die passionierte Abhandlung über Leonardo da Vinci, geschrieben vor dem I. Weltkrieg, kann mit gutem Recht als Formulierung des Ich-Ideals des Begründers der Psychoanalyse angesprochen werden, eingewoben in das Porträt des bewunderten Künstler-Wissenschaftlers. Im Leonardo-Aufsatz, den Freud selbst, wenn auch abwehrend, als einen »psychoanalytischen Roman« bezeichnete,14 findet sich die höchste Bestimmung der Sublimierung, die Freud überhaupt im Sinne eines Schicksalsprivilegs gegeben hat. Die höchste Sublimierung ist erreicht, wenn alles Wissen aus zweiter Hand geringgeschätzt wird und also den Blick auf die Realität, wie sie wirklich ist, nicht mehr verstellt. Das Wissen wird erneut zum absoluten im Sinne einer Los-Lösung von aller Autorität und gewinnt auf der Höhe der Einsicht eine neue Unmittelbarkeit, wird nicht mehr eingetrübt durch das Drängen des Triebs: »[Leonardo] wagte es, den kühnen Satz auszusprechen, der doch die Rechtfertigung aller freien Forschung enthält: Wer im Streite der Meinungen sich auf die Autorität beruft, der arbeitet mit seinem Gedächtnis, anstatt mit seinem Verstand. So wurde er der erste moderne Naturforscher, und eine Fülle von Erkenntnissen und Ahnungen belohnte seinen Mut, seit den Zeiten der Griechen als der erste, nur auf Beobachtung und eigenes Urteil gestützt, an die Geheimnisse der Natur zu rühren. Aber wenn er die Autorität geringschätzen und die Nachahmung der ›Alten‹ verwerfen lehrte und immer wieder auf das Studium der Natur als auf die Quelle aller Wahrheit hinwies, so wiederholte er nur in der höchsten, dem Menschen erreichbaren Sublimierung die Parteinahme, die sich bereits dem kleinen, verwundert in die Welt blickenden Knaben aufgedrängt hatte. Aus der wissenschaftlichen Abstraktion in die konkrete individuelle Erfahrung rückübersetzt, entsprachen die Alten und die Autorität doch nur dem Vater, und die Natur wurde wieder die zärtliche, gütige Mutter, die ihn genährt hatte.«15
Sublimierung als »Entsagung« zu denken, ihren Begriff anderseits als fortgesetzte Befreiung von Autorität und Zuwendung zur Natur als der Quelle aller Wahrheit zu bestimmen, diese Perspektive lässt sich tatsächlich auch auf Goethe zurück beziehen, der sich seit 1805 und vollends zur Zeit des Divan selbst noch von der Nachahmung der alten Griechen emanzipierte. Wie der Blick auf Leonardo, so kann auch die Aufmerksamkeit für Freuds
14. Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), Bd. 10, S. 156. 15. Ebd., S. 145.
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I. Tr ilogie der Leidenschaf t
biographisch früh dokumentierte »Zuwendung zu Goethe« 16 weiteren Aufschluss geben nicht nur über das Ideal vom Künstler-Wissenschaftler, sondern auch über den Begriff der Sublimierung, der der Name dieses Ideals bei Freud ist. Nach eigener Auskunft war es das vermeintlich von Goethe abgefasste Fragment über die Natur, das beim Gymnasiasten Freud die Entscheidung herbeiführte, Medizin zu studieren.17 Obwohl sich Freud in seinen weit verstreuten Bemerkungen zur Sublimierung nicht direkt auf den von jeher »geliebten Goethe« beruft, 18 kann man vermuten, dass seine Konzeption nicht nur von der Ästhetik des anmutigen Spiels und der Idee der Versöhnung, sondern auch durch Goethes Arbeiten inspiriert wurde, insbesondere durch die Autobiographie, über die Freud einen kleinen Essay publizierte.19 Der Grund, an den Anfang eines Buches zum Begriff der Sublimierung eine materiale Studie zu Goethe zu stellen, liegt darin, dass Goethes vielfach als paradigmatisch beschriebenes Leben, zumindest auf den ersten Blick, exemplarische Modelle für Sublimierungen bereitstellt. In der Ansprache von 1930 aus Anlass der Verleihung des GoethePreises vergleicht Freud die Universaltalente Leonardo und Goethe direkt miteinander, wobei er Goethe als den harmonischeren Geist sogar privilegiert. Während im Fall Leonardos der Forscher den Künstler gestört und am Ende womöglich »erdrückt« habe, »durfte Goethes Wesen sich freier entfalten«. Anders als Leonardo sei Goethes Vielseitigkeit nicht von einer »Entwicklungshemmung« heimgesucht gewesen.20 Freud kommt auf den Grund dieser freien Entfaltung im Verlauf seiner Ansprache zurück: Neben Platon wird Goethe als der zweite überragende Ahnherr der modernen Libidotheorie namhaft gemacht. Über den bezaubernd eleganten Hinweis auf die naturwissenschaftliche Metaphorik kommt es am Ende zu einer chemischen Hochzeit zwischen dem Autor der Wahlverwandtschaften und dem Schöpfer der Psychoanalyse: »Den Eros hat Goethe immer hochgehalten, seine Macht nie zu verkleinern versucht, ist seinen primitiven oder selbst mutwilligen Äußerungen nicht minder achtungsvoll gefolgt wie seinen hochsublimierten und hat, wie mir scheint, seine Wesenheit durch alle seine Erscheinungsformen nicht weniger entschieden 16. David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Versuch einer Systematik, 2. Aufl . Stuttgart 1970, S. 15. 17. Gay: Sigmund Freud (Anm. 1), S. 34. 18. Ebd., S. 642. 19. Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung aus Dichtung und Wahrheit (1917), Bd. 10, S. 257-266. 20. Sigmund Freud: Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus (1930), Bd. 10, S. 292.
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vertreten als vor Zeiten Plato. Ja, vielleicht ist es mehr als zufälliges Zusammentreffen, wenn er in den Wahlverwandtschaften eine Idee aus dem Vorstellungskreis der Chemie auf das Liebesleben anwendete, eine Beziehung, von der der Name selbst der Psychoanalyse zeugt.«21
Goethe selbst, dessen letzter Roman ›Entsagung‹ im Titel führt, hat programmatisch in Dichtung und Wahrheit seine Dichtung als Resultat der sublimierenden Verarbeitung von Erfahrung beschrieben. In einer der bekanntesten Passagen der Autobiographie heißt es: »Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession«.22
Im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit findet sich eine weitere Bestimmung der wahren Poesie, die in der schönen Metapher vom Luftballon nicht nur den Aspekt einer Durcharbeitung von Erfahrung durch Schreiben akzentuiert, sondern darüber hinaus das Erhebende, das buchstäblich Sublimierende des Schreibaktes betont. Goethe gelingt ein stimmiges Bild, denn als terminus technicus bezeichnet Sublimierung in der Chemie den direkten Übergang vom festen Aggregatzustand ins Gasförmige. Im kindlichen und lustigen Bild des Luftballons wird zudem der bittere Aspekt der Sublimierung als eines traurigen Surrogates fröhlich aufgehoben, seinerseits sublimiert, woran sich Goethes Sorgfalt in der Bildwahl glanzvoll dokumentiert. Schließlich bleibt, wie später noch bei Freud, offen, worauf sich diese Beschreibung bezieht, auf die Produktion oder die Rezeption von Poesie, oder auf beides. Die wahre Poesie befreit vom drückenden Lastcharakter des Daseins, von der depressio, und entführt das Subjekt in eine vogelfreie Höhe, die selbst über den latent verkniffenen Todernst des Erhabenen heiter erhebt: »Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten 21. Ebd., S. 294. 22. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Werke (Hamburger Ausgabe) Bd. 9, hg. v. Erich Trunz, München 1982, S. 283.
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zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen.«23
Bereits im Künstlerdrama um Torquato Tasso hatte Goethe die Idee eines mäßigenden, neutralisierenden Ausgleichs zwischen den das Subjekt zerreißenden Extremen des Lust- und des Realitätsprinzips in Versen komprimiert, die kaum weniger berühmt wurden als die zitierten Zeilen aus Dichtung und Wahrheit. Sie formulieren in nuce die populär gewordene Version des Freud’schen Sublimierungs-Theorems: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.24
Die Verse des Tasso setzt Goethe mit einer kleinen Modifi kation dem bedeutendsten Gedicht seines Spätwerkes als Motto voran, der so genannten Marienbader Elegie, die in der Ausgabe letzter Hand mit zwei anderen Gedichten zur Trilogie der Leidenschaft zusammengeschlossen wurde; diese zieht eine Summe des eigenen Lebens und zugleich der Epoche. Eine Lektüre des Gedichtes, seiner Genese sowie seines Kontextes, der Gedichte An Werther und Aussöhnung, ist erhellend für den Versuch, Sublimierung exemplarisch als eine die Kultur fördernde Verarbeitung frustrierter Triebwünsche zu verstehen. Die Trilogie der Leidenschaft eignet sich aber auch deshalb als Objekt des Studiums, weil sie auf der einen Seite in ihrer Genese und als ernstes Artefakt Freuds Lehre zwar bestätigt, sie aber auf der anderen Seite schon inhaltlich wesentliche Einwände der Metakritiken an Freud antizipiert; Goethes schwarze Gedichte überschatten noch das Sinnangebot der etablierten Psychoanalyse. Diese Beobachtung gilt auch für Elemente von Dichtung und Wahrheit: Die Bestimmung der Poesie als einer heiteren Überblick verschaffenden Montgolfière ist als Gegengewicht in Goethes karge Bemerkungen zum Werther eingefügt, die knapp eine Theorie des Selbstmordes formulieren: des katastrophalen Misslingens von Sublimierung, des Absturzes in vollkommene Sinnlosigkeit. Grundsätzlich entsteht für Goethe »jener Ekel vor dem Leben«, der im Suizid kulminiert, wenn dem Subjekt nach einer die Balance vernichtenden Erfahrung der Zugang zur 23. Ebd., S. 580. 24. Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso, in: Werke (Anm. 22) Bd. 5, S. 166. Vers 3432f.
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Quelle alles Behagens verschlossen ist, die Freude an der »regelmäßig[n] Wiederkehr der äußeren Dinge«:25 »Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich: dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last.«26
In einer erstaunlichen Wendung, die das Hauptargument Jacques Lacans antizipiert, der Sublimierung als notwendige Streuung des Begehrens versteht,27 lehrt Goethe, es sei vor allem die Wiederkehr der Liebe, die diesen Lebensekel auslösen könne: »Nichts aber veranlaßt mehr diesen Überdruß, als die Wiederkehr der Liebe. Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige; denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine Übertriebenheit hervor, die nichts Gutes stiften kann.«28
In der Liebe zur neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow erleidet Goethe noch einmal die ›Spaltung‹ zwischen väterlich liebenden und jungenhaft begehrenden Empfindungen. Auch diese Liebe zeitigte, wie es bereits im Tasso als Thema tragisch verhandelt worden war, gesellschaftlich eine »Übertriebenheit«, die nichts Gutes stiftete, wohl aber, wie Goethe Eckermann gegenüber meinte, ein gutes Gedicht. Mit der Trilogie der Leidenschaft als einem extremen Ausdruck der Zerstörung des Menschen durch die Wiederkehr der Liebe liegt der noch gegenüber dem Tasso gesteigerte neue Werther eines 74-jährigen Dichters vor, der nicht mehr nur vom Schicksal eines Einzelnen erzählt, sondern sich schonungslos und unversöhnlich ausspricht über die conditio humana. In dem die Trilogie eröffnenden Gedicht An Werther lässt Goethe die Leser wissen, dass die im frühen Roman als singulärer und tragischer Fall geschilderte Erfahrung ihm rückblickend als Regelfall der Liebe erscheine; 25. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 22), S. 578. 26. Ebd. 27. Vgl. unten das Kapitel zu Jacques Lacan. 28. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 22), S. 578f.
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die Sublimierungslehre wird revoziert. Marianne Wünsch kommentiert treffend: »Statt sinnvoller Entwicklung auf immer höhere Ziele hin findet die Wiederholung Sinn negierenden Scheiterns statt«.29 Mit der Generalisierung der tragischen Verlaufskurve hat Goethes düstere Lehre von der Liebe jenen Stand existentieller Entzauberung erreicht, den im 20. Jahrhundert Jean-Paul Sartre bestätigen wird in seiner verzweifelten Analyse der Passion, deren Argumentation Lacan als schlichtweg »unwiderlegbar« bezeichnete.30 Die Elegie, das Zentrum der Trilogie, stellt unversöhnlich den »Zusammenbruch des Sinnsystems«31 fest, der sich als eine Serie von Erfahrungen des Scheiterns vollzieht. Der späte Goethe, das zeigt die Lektüre der Trilogie, dokumentiert »die Totalkatastrophe des Sinns«32 und konstatiert damit zugleich den Kollaps der idealistischen Philosophie der Epoche. Wie das die Trilogie beschließende Gedicht Aussöhnung lehrt, vermag es allein die Musik, und das nur sehr bedingt, dieses Ende zu kompensieren; der Schritt in der ästhetischen Theorie von Schiller zu Schopenhauer ist hier bereits vollzogen. Goethes Trilogie der Leidenschaft versammelt auf gedrängtem Raum die wesentlichen Elemente des Literatur- und Denksystems der Goethezeit, das Marianne Wünsch prägnant auf die Formel gebracht hat: »Liebesbesitz = Selbstbesitz = Weltbesitz«.33 Zugleich wird der Untergang dieses Systems verzeichnet. Eine Lektüre der Trilogie kann daher nicht nur als exemplarische Fallstudie dem Versuch einer Rekonstruktion der Sublimierungslehren Nietzsches und Freuds vorangehen, sondern auch die Matrix für die Studien zu Adorno und Lacan abgeben, die aus der Konfrontation mit den sozialen und psychischen Folgen des Zusammenbruchs heraus entstanden sind. Und die Frage ergibt sich, ob die Unversöhnlichkeit der Marienbader Elegie am Ende nicht auch die Psychoanalyse und ihre Lehre von der Sublimierung heimsucht. Insofern Goethes Gedichte als Artefakte Sublimierungen sind, bestätigen sie exemplarisch Freuds Theorie. In diesem Sinn beschließt etwa Jürgen Behrens, einer der Herausgeber der vorzüglichen Edition der erst 1980 aufgefundenen
29. Marianne Wünsch: »Zeichen – Bedeutung – Sinn. Zu den Problemen der späten Lyrik Goethes am Beispiel der ›Trilogie der Leidenschaft‹«, in: Goethe Jahrbuch, im Auftrage des Vorstands der Goethe-Gesellschaft. Ed. Werner Keller, Bd. 108 (1991), S. 179-190, hier: S. 181. 30. Jacques Lacan: Freuds technische Schriften. Das Seminar I, übers. von Werner Hamacher, 2. Aufl . Weinheim/Berlin 1990, S. 274. 31. Marianne Wünsch (Anm. 29), S. 187. 32. Ebd. 33. Ebd., S. 182.
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Urschrift der Marienbader Elegie, seine Ausführungen zur Geschichte des Textes wie folgt: »Und so ist alle Intensität, ist der enthusiastische Ton nur ein Mittel, der ›Ebb und Flut‹ produktiv standzuhalten. Ist das Motiv der ›Elegie‹ Verlust – ›Was wir hatten wo ist’s hin?/Und was ist’s denn was wir haben?‹ –, so ist sie als Gebilde – wie der Dichter sagt, was er leidet, was er duldet – Vergegenwärtigung: ›O vis superba formae!‹«34
Insofern Goethes Gedichte als Fazit des idealistischen Zeitalters den Untergang des Sinnsystems konstatieren, geraten sie zur Provokation eines Realitätsprinzips, das mit der ihrerseits weitgehend unbefragten Kategorie des Sinns arbeiten muss, und damit zur Provokation auch der Psychoanalyse als Sinn- oder, wie Lacan später kritisiert, als Heilsversprechen. Wie radikal die Stellungnahme der Trilogie zum Ende des Sinns intendiert ist, wird deutlich an der in ihrem lässigen Pathos ungewöhnlichen Bemerkung Goethes Eckermann gegenüber, er habe mit der Marienbader Elegie rein auf die »Gegenwart« gesetzt, »so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch zu steigern als möglich«.35 Die Rede vom hohen Einsatz gilt für die Trilogie insgesamt und unterstreicht, in welchem Ausmaß Goethe sich selbst als Individuum sozial exponiert, sich den Lesern unverhüllt als ein bestimmter Mensch in seiner Qual vergegenwärtigt und dergestalt den Rahmen poetischer Immanenz sprengt: Im nihilistischen Werther-Gedicht identifiziert der Dichter in Verletzung der Konvention das lyrische Subjekt direkt mit dem empirischen Autor Johann Wolfgang Goethe und traktiert den Helden seines Jugendromans wie einen realen Menschen, und ferner ruft die Trilogie wiederholt Tasso auf, Goethes großes, ebenfalls unversöhnlich schließendes Lebensdrama um den aggressiven, zur Anpassung unfähigen Künstler par excellence. »Trilogie der Leidenschaft« – der stolz »ein Zugleich von Leidenschaft und Künstlerschaft«36 summierende Titel umfasst in diesem 34. Jürgen Behrens: »Biographischer Hintergrund. Marienbad 1821-1823«, in: Goethe. Elegie von Marienbad. Urschrift September 1823, hg. v. Jürgen Behrens u. Christoph Michel. Mit einem Geleitwort von Arthur Henkel, Frankfurt a.M. 1991, S. 116. 35. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Ernst Beutler, München 1999, S. 75. (21.11.1823) 36. Jürgen Behrens: »Biographischer Hintergrund« (Anm. 34), S. 105. Seit langem ist die Forschung zur Trilogie der Leidenschaft und insbesondere zur Elegie geprägt durch das berechtigte Erstaunen darüber, dass es Goethe gelang, den
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Kontext auch die Trilogie der drei traditionellen Gattungen: Roman, Drama und Gedicht. Insofern die drei Werke – Werther, Tasso und die Trilogie – entscheidende Wendepunkte des Goethe’schen Lebens markieren, impliziert der Titel »Trilogie der Leidenschaft« schließlich auch: das Leben Goethes, des überragenden Repräsentanten der Epoche, als eine tragische Trilogie der Leidenschaften zu beschreiben, als einen Passionsweg. Das fröhliche Bild von der Poesie als Ballon aus Dichtung und Wahrheit kann in den Hintergrund treten lassen, dass Goethe die Poesie im zitierten Passus auch provokativ als »ein weltliches Evangelium« bezeichnet, wodurch er ein zunächst für sein Werk, dann aber auch für die Theorie der Sublimierung aufschlussreiches Charakteristikum namhaft macht: Das Evangelium schließt die Passion ein, die im Wunder der Wiederauferstehung, im »Stirb’ und werde!« kulminiert, dem Inbegriff von Sublimierung: Das grob Stoffl iche und Vergängliche wird unsterblicher Geist. Im Englischen wird der Doppelsinn des Titels »Trilogie der Leidenschaft« – Trilogy of Passion – sinnfälliger als im Deutschen. Schon früh ist darauf hingewiesen worden, dass der Werther eine literarische Sensation auch deshalb war, weil hier eine potentiell blasphemische Übertragung der Passion auf weltliche Liebesleidenschaft vollzogen worden sei, da Goethe die Geschichte Werthers unter Rekurs auf Elemente des Leidensweges Jesu Christi niedergeschrieben habe.37 In der Tat ist bereits der Werther eine weltliche Passion, und die Trilogie der Leidenschaft gewinnt ihre große Faszination und fortgesetzte Beunruhigung daraus, dass erneut Liebeserfahrung und religiöse Erfahrung, die Erfahrung absoluten Sinns, dergestalt überblendet werden, dass unentscheidbar wird, ob in der weltlichen Liebe eine überweltliche Erfahrung sich mitteilt, ob religiöse Erfahrung nachvollziehbar wird erst, wenn man liebt, oder aber schließlich die Sinnlosigkeit der Liebeserfahrung über den illusionären Charakter religiöser Erfahrung psychologisch aufklärt. Goethes Dichtung ist das weltliche Evangelium, Schilderung der Passion; die Seele geht in der tragischen Erfahrung der Liebe zugrunde, und ihre Wiederauferstehung vollzieht sich sublim und subtil im Gedicht, und nur dort. Es vollzieht sich Sublimierung in der Tat, bewegenden Ausdruck extremer Emotionen mit vollendeter Kunstfertigkeit zu amalgamieren, und es ist eine rhetorische Figur, wenn Arthur Henkel fragt: »Muß es wiederholt werden, daß jene ›Elegie‹ von allen Empfänglichen für eines der größten Gedichte unserer, wenn nicht der Weltliteratur gehalten wird.« Ebd., Henkel: »Geleitwort«, S. 10. 37. Vgl. Hans Leisegang: »Die Marienbader Elegie«, in: Beiträge zur Einheit von Bildung und Sprache im geistigen Sein. Festschrift für Ernst Otto, hg. von Gerhard Haselbach und Günter Hartmann, Berlin, 1957, S. 385-404.
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aber über einem leeren Abgrund der Sinnlosigkeit, den die Elegie an ihrem Ende erschreckend aufreißt: Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, Sie trennen mich, sie richten mich zu Grunde.
2. Zur Genese des Textes Die historischen Dokumente zur letzten großen Liebe Johann Wolfgang Goethes sind spärlich, ihr lyrischer Ertrag ist berühmt geworden. Während der Kuraufenthalte des Dichters in den Jahren 1821 bis 1823 kommt es in Marienbad zum regen geselligen Umgang mit der Familie von Levetzow. Insbesondere schätzt der alte Mann das Zusammensein mit der siebzehn-, zuletzt neunzehnjährigen Tochter Ulrike. Im Sommer des Jahres 1823 wird der dramatische öffentliche Kulminationspunkt dieser Liebe erreicht, als vermutlich der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach selbst im Namen des 74-jährigen Dichters bei deren Mutter um die Hand Ulrike von Levetzows anhält, vergeblich. Die Familie von Levetzow reist am 17.8. ab nach Karlsbad, wohin Goethe ihr wenig später folgt. Nach einigen, auch seinen Geburtstag umfassenden Tagen verlässt Goethe die Familie am Morgen des 5. September. Im Tagebuch ist notiert: »allgemeiner, etwas tumultarischer Auf bruch«.38 Als der alte Dichter am 17. September von seiner Reise zurückkehrt, geht man zunächst schonend miteinander um. Gleichwohl ist die Atmosphäre der grotesken gesellschaftlichen Peinlichkeit des vergangenen Sommers wegen nicht gut, sondern schlecht; es gibt »einige Verlegenheit«, wie der Sohn diskret notiert.39 Im Fall einer Heirat würden die jungen Goethes »eine 19-jährige Stiefmutter bekommen, die auf nicht absehbare Zeit Herrin im Haus am Frauenplan wäre, und ihre Kinder bekämen eine Großmutter, die jünger wäre als die eigene Mutter. In Weimar wird Goethe mit dem Sohn heftige Auseinandersetzungen führen.« 40 Der alte Mann zieht sich vor Konflikten, vor Schonung und Verlegenheit seiner Familie schweigend in die unzugängliche Einsamkeit seines 38. Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1998, S. 1051. 39. August von Goethe an Ottilie am 13.9.1823. 40. Jürgen Behrens: »Biographischer Hintergrund« (Anm. 34), S. 92.
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Arbeitszimmers zurück. Er breitet Notizen vor sich aus, den SchreibCalender für das Jahr 1822, der die noch in der Kutsche entstandene Urschrift eines Gedichtes enthält sowie die bereits weitgehend vollständige Niederschrift, welche offenbar auf den Stationen der Rückreise von Karlsbad nach Weimar zwischen dem 5. und 17. September 1823 entstand. Er nimmt einen großen Bogen kostbaren und starken Velinpapiers und faltet ihn. Sein ganzes Leben hat er mit Papieren verbracht; meisterhaft beherrscht er die subtile Buchbinderkunst des Faltens, kein unnötiger oder falscher Knick unterläuft ihm. Aus dem großen Bogen wird ein schönes, faltenloses Heft von sechzehn Seiten, und es entsteht die artistische Herausforderung für den Kalligraphen: Keine der sechzehn Seiten kann aus dem Heft herausgelöst und ersetzt werden, da sie alle untrennbar Teil des einen großen weißen Bogens sind. Die Niederschrift muss fehlerfrei sein, sonst ist das ganze Heft hässlich und verdorben. Der alte Mann wählt schwarze Tinte, deren Tilgung nur möglich ist, indem man den reinen Bogen zerkratzt, und beginnt in großen, regelmäßigen, überaus gut lesbaren Zügen in lateinischer Handschrift zu schreiben. Die hohe Kunst des Schreibens gelingt makellos, kein Fleck, keine Verschreibung, keine Streichung. Die Elemente des Textes gliedert der Schreiber jeweils durch eine geschwungene Volute, eine schöne zweifache gespiegelte Schlangenlinie. Das erste Blatt bleibt leer, die letzten beiden auch. Wie das Tagebuch vermerkt, dauert die Niederschrift vom 17. bis zum 19. September 1823. Der Dichter nimmt eine Mappe aus rotem Maroquin-Leder, legt das Heft hinein und fi xiert das Gedicht mit einer seidenen Schnur. Später wird das Konvolut seinerseits »in eine eigens gefertigte, mit blauem Papier überzogene Mappe eingelegt, auf deren Deckel mit goldenen Lettern steht: Elegie. September 1823.« Das blaurote Heft zeigt er zunächst niemandem, er verschließt es. »Diese Reinschrift […] ist eins der schönsten Beispiele, wie Goethe dem sprachlichen Kunstwerk Ehre erwies durch das Werk der Hand.« 41 Goethes Reinschriften sind keine Exzesse des dichterischen Narzissmus, sondern Ausdruck von Ehrerbietung gegenüber der Sprache und ihrer Auskristallisierung im Gedicht. Die heute noch gut lesbaren Reinschriften unterstreichen die Objektivität des sprachlichen Gebildes, dessen Loslösung von der kontingenten Individualität des Autors, der überschritten wird von der Sprache, die durch ihn wie durch einen Katalysator hindurch geht und sich in diesem Durchgang zum Gedicht formt. Die Reinschrift der so genannten Marienbader Elegie aber ist, wie der eigenwillige Umgang mit dem Manuskript bezeugt, ein Sonderfall, geht über die vielfach dokumentierte Übung der Ehrerbietung hinaus. Diese Rein41. Erich Trunz im Kommentar zur Elegie, in: Goethe: Werke (Anm. 22) Bd. 1, S. 761.
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schrift ist ein Test, den Goethe in der Einsamkeit an sich selbst vornimmt. Er besteht den Test triumphal: kein Zittern der Hand, keine schwarzen Tropfen, keine Verschreibung. Die Reinschrift der Elegie dokumentiert, dass der Autor ins Reine gekommen ist mit einer Erfahrung, dass sich etwas geklärt hat zur klaren schwarzen Figur auf weißem Grund. Goethe beherrscht wieder meisterhaft die drei Künste: das Dichten, das Falten, das Schreiben. Selten hat Goethes Auseinandersetzung mit der asiatischen Welt sich unmittelbarer gezeigt als in der Geste der Elegie. Der Dichter der Chinesisch-Deutschen Tages- und Jahreszeiten weiß um die Engführung von Kalligraphie und Kampf, weiß um die enge Verwandtschaft zwischen Schreibkunst und Kampf kunst, um die Gleichheit in der Führung von Feder und Schwert. Im West-östlichen Divan folgt auf das Gedicht Selige Sehnsucht, das den Flammentod der Liebenden, das »Stirb’ und werde!« – die Erfahrung des Todes im Leben 42 – zum Postulat voll erfahrener Existenz erhebt, unmittelbar ein kleines Gedicht übers Schreiben. Der alte Mann will testen, ob er die grauenhafte Erfahrung der Zurückweisung und Trennung, die er in der Elegie niederlegt, gemeistert, hinter sich gebracht hat. Die Marienbader Elegie gerät zum großen Beispiel vollendet gelungener Sublimierung einer unglücklichen Liebe. Die Betonung der materialen Dimension ist stark, schlägt sich nicht nur in der Sorgfalt der Reinschrift nieder, sondern auch in der Anzahl der Strophen. Die Elegie aus dem Jahr 23 umfasst 23 Strophen. Die gut dokumentierte Entstehungsgeschichte des Gedichtes bestätigt paradigmatisch das von Freud etablierte Theorem, Sublimierung sei eine dem Menschen mögliche Ersetzung eines geliebten Objektes durch etwas anderes, die helfe, über eine bis zum Suizidwunsch schmerzhafte Frustration des Begehrens hinweg zu kommen. An die Stelle des unerreichbaren oder verlorenen Objektes tritt als Surrogat und kompensatorisch die Arbeit am Prozess der Zivilisation, deren hauchfeine, doch sozial womöglich erfolgreiche Blüte das kulturelle Erzeugnis darstellt, etwa ein Klagegedicht, eine Elegie. Zwei sehr alten Freunden, einem alten Musiker, Zelter, und einem alten Politiker, Wilhelm v. Humboldt, gibt Goethe das Gedicht oder liest ihnen daraus vor. An eine Veröffentlichung denkt er einstweilen nicht. 1825 erscheinen einige der Verse in Kunst und Altertum, und schließlich bildet die Elegie in der Sammlung von 1827 den Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft. Am 27. Oktober 1823 wird auch Eckermann die Ehre zuteil, das wie einen Schatz gehütete Gedicht lesen zu dürfen:
42. Vgl. Igor A. Caruso: Die Trennung der Liebenden. Eine Phänomenologie des Todes, (Neuausgabe) Wien 2001.
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»Stadelmann brachte zwei Wachslichter, die er auf Goethes Arbeitstisch stellte. Goethe ersuchte mich, vor den Lichtern Platz zu nehmen, er wolle mir etwas zu lesen geben. Und was legte er mir vor? Sein neuestes, liebstes Gedicht, seine Elegie von Marienbad. Ich muss hier in bezug auf den Inhalt dieses Gedichtes einiges nachholen. Gleich nach Goethes diesmaliger Zurückkunft aus genanntem Badeort verbreitete sich hier die Sage, er habe dort die Bekanntschaft einer an Körper und Geist gleich liebenswürdigen jungen Dame gemacht und zu ihr eine leidenschaftliche Neigung gefasst. Wenn er in der Brunnenallee ihre Stimme gehört, habe er immer rasch seinen Hut genommen und sei zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde versäumt, bei ihr zu sein; er habe glückliche Tage gelebt; sodann, die Trennung sei ihm sehr schwer geworden und er habe in solchem leidenschaftlichen Zustande ein überaus schönes Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligtum ansehe und geheim halte. […] Als ich ausgelesen, trat Goethe wieder zu mir heran. ›Gelt!‹ sagte er, ›da habe ich Euch etwas Gutes gezeigt. In einigen Tagen sollen Sie mir darüber weissagen.‹«43
Was von einer unermüdlichen Philologie an Vorstufen der Elegie gefunden wurde, das ist ein einfaches Blatt Papier bereits aus dem Sommer 1822. 44 Auf dem Blatt ist nüchtern in Goethes Handschrift notiert: »Das Maß ist voll.« Dieser Satz ist vorab kein Vers, sondern ein prosaisches Fazit, ein Aus und Vorbei, ein ausgeführter Gedanken- und Schlussstrich. Die Niederschrift des Endes aber ist zugleich die Überschreitung des Endes qua Objektivierung. »Das Maß ist voll.« steht außerhalb des schreienden und weinenden Subjekts, ihm gegenüber, auf einem Blatt Papier, ist lesbar. Das Unverständliche und Sinnlose, der Schmerz, wird damit scheinbar verständlich: Indem man einen Satz versteht, so die fruchtbare Illusion des Schreibens, wird verständlich, wovon er spricht. Indem der unerträgliche Schmerz niedergeschrieben und dergestalt Deutbarkeit, Sinnhaftigkeit etabliert wird, ist die Sublimierung eingeleitet, die Differenz zwischen Subjekt und Leid. Das bis zum Rand gefüllte Maß wird zum Versmaß semantisiert, zu zwei Jamben, an die sich ein weiterer Vers anschließt, so dass auf dem Blatt nun steht: Das Maß ist voll. Warum streb’ ich immer dahin, Wohin ich nicht soll.
43. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe (Anm. 35): 27.10.1823. 44. Vgl. zum Folgenden den Kommentar von Erich Trunz (Anm. 41), der auch die hier diskutierten Vorstufen abdruckt, S. 753ff.
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Zuletzt wird die ursprüngliche Artikulation des Schmerzes ihrerseits gerahmt, indem eine vierte Zeile an den Anfang tritt und dem zunächst ersten Vers die kodifizierte Artikulation des Leidens, sein lyrisch konventioneller Ausdruck, vorgeschaltet wird. Ein vierzeiliges Gedicht mit Kreuzreim ist entstanden, der Schmerz lyrisch gebändigt, distanziert, sublimiert: Könnt’ ich vor mir selber fliehn! Das Maß ist voll. Ach! Warum streb’ ich immer dahin, Wohin ich nicht soll.45
Auf demselben Blatt Papier findet sich ein weiterer Vierzeiler, dessen Kern ebenfalls ein im Schreibakt distanziertes, objektiviertes Schreien ist: »Welch unerträgliche Schmerzen!« Das Gedicht selbst, ebenfalls in Kreuzreimen gesponnen, webt Konventionen um den Schrei, das kodifizierte »Ach!« einerseits, und die klassische, auch von Goethe, etwa im Märchen, verwendete Metapher der Schlange. Das Gedicht lautet dann: Ach! Wer doch wieder gesundete! Welch unerträgliche Schmerzen! Wie die Schlange, die verwundete, Krümmt sich’s im eigenen Herzen.46
In der Zeit um 1823 ist Goethe schwer herzkrank, so dass Karl Eibl zuzustimmen ist, wenn er, nicht nur für die Gedichtsplitter und Vorstufen, sondern auch für die Elegie selbst eine Beobachtung notiert, die der bedrängten und bedrängenden Rede vom Herzen den Anschein des Klischees nimmt: »Nicht unerheblich für ein genaueres Verständnis der Marienbader Situation und der Marienbader Gedichte ist vielleicht auch die Tatsache, dass Goethe schon im Februar 1823 schwer erkrankt war; man diagnostiziert heute eine Herzbeutelentzündung oder einen Herzinfarkt, und für den November einen Rückfall. Wenn hier so oft vom ›Herzen‹ die Rede ist, von ›innrem Bangen‹, ›beklommner Herzensleere‹, oder wenn es heißt: ›Schon rast’s und reißt in meiner Brust gewaltsam‹, dann sind das wohl nicht bloße Metaphern.«47
45. Johann Wolfgang Goethe: Werke (Anm. 22) Bd. 1, S. 378. 46. Ebd. 47. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a.M. 1998, S. 1055.
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Als Goethe die Elegie im Oktober Eckermann vorlegt, steht der physische Zusammenbruch noch bevor; das triumphale Gelingen der Reinschrift war für den leidenden Menschen nur ein Scheinsieg. Als Goethe im November kollabiert, eilt der Freund Zelter herbei und muss dem Kranken wieder und wieder die Elegie vorlesen. In einer erstaunlichen Tagebuchnotiz Zelters findet sich eine harte Version der Idee von Sublimierung: das Ausbrennen der tödlichen Krankheit Liebe: »Was finde ich? Einen, der aussieht, als hätte er Liebe, die ganze Liebe mit aller Qual der Jugend im Leibe. Nun, wenn es die ist: er soll davonkommen! Nein! Er soll sie behalten, er soll glühen wie Austernkalk; aber Schmerzen soll er haben wie mein Herkules auf dem Öta! Kein Mittel soll helfen; die Pein allein soll Stärkung und Mittel sein. Und so geschah’s, es war geschehn! Von einem Götterkinde, frisch und schön, war das liebende Herz entbunden. Es war schwer hergegangen, doch die göttliche Frucht [die Elegie] war da und lebt und wird leben aus ihres Geistes Namen über Zonen und Äonen hinaustragen, und wird genennet werden Liebe, ewige allmächtige Liebe.«48
In der Reinschrift der Elegie kehrt die vor Schmerz gekrümmte Schlange entspannt wieder, als schön geschwungene Volute, Inbegriff der gut geführten, graziösen Figur, die elegant trennt und verbindet. Der Krampf der verwundeten, vor Schmerz gekrümmten Kreatur hat sich gelöst und bildet im Gedicht die von William Hogarth als Urelement ästhetischer Darstellung beschriebene serpentine line, die line of beauty oder grace. Die Metapher der Schlange verschwindet im schönen Fluss des Gedichts; von ihr bleibt die reine geschwungene Form. Am Ursprung der makellosen Sublimierung steht der kreatürliche Schmerzensschrei. Am Beginn des großen Gedichtes steht das hemmungslose, Erleichterung schaffende Schreien und Weinen eines alten Mannes. Vom schrecklichen Anfang des Schönen haben wir indirekte Mitteilung, aus dem Torquato Tasso, der Motto und Matrix der Elegie spenden wird: Die Träne hat uns die Natur verliehen, Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt –49
48. Zitiert nach: Goethe: Gedichte 1800-1832 (Anm. 47), S. 1053f. 49. Johann Wolfgang Goethe: Tasso (Anm. 24), Vers 3427-3429.
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3. An Wer ther Der Gedankenstrich markiert bei Goethe den Ort des Unerträglichen, des Unaussprechlichen, die Grenze sprachlicher Artikulation. Er fi xiert den Moment des Atemstillstands, der zugleich eine Wende ist. Exemplarisch lässt sich diese Verwendung des Gedankenstrichs als eines gespannten oder entsetzten Anhaltens des Atems in der ersten Strophe des Elegie studieren. Der Gedankenstrich besetzt hier die unerträgliche Sekunde, in der sich entscheidet, ob der Tag das Grauen der Trennung oder die Seligkeit der Gegenwart bringen wird: Das Paradies, die Hölle steht dir offen, Wie wankelsinnig regt sich’s im Gemüte! – Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor, Zu ihren Armen hebt sie dich empor.50
Während der Schluss- und Gedankenstrich in der Elegie weitgehend zur schön geschwungenen Volute ästhetisiert wird, und, abgesehen von der Angstsekunde in der ersten Strophe und einer Parenthese noch zweimal Wendungen des Gedankens anzeigt, bleibt er als scharfer Schnitt erhalten im Gedicht An Werther, das Goethe 1824 schreibt. Der scharfe Strich verschwindet aus der Elegie, wandert aus in ein weiteres Gedicht, das womöglich als das bitterste gelten kann, das er überhaupt schrieb und das den unsublimierbaren, potentiell krank machenden Rest hörbar werden lässt, der nach Abfassung der Elegie offenbar noch blieb.51 Der schneidende Strich markiert im Werther-Gedicht die Apologie des Selbstmords: »Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.« Der Gedankenstrich markiert ferner den tragischen Augenblick der Verfehlung des Glücks: »Da steht es nah – und man verkennt das Glück.« Und schließlich markiert er die Trennung der Liebenden, die eine Erfahrung des Todes ist: »Dem Scheiden endlich – 50. Die drei Gedichte, An Werther, Elegie und Aussöhnung werden hier und
im Folgenden durchweg zitiert nach: Goethe: Gedichte 1800-1832 (Anm. 47), S. 456-462, ohne dass die Zitate einzelner Verse und Strophen jeweils nachgewiesen werden. 51. Vgl. zur These der Psychoanalyse über den womöglich verderblichen »Rest« unten die Kapitel zu Freud und Lacan. In Lacan’scher Perspektive liest Jörg Löffler die Trenn- und Gedankenstriche der Elegie im Hinblick auf den Strich differentieller Sprachtheorie, der das klassische Symbol in Signifikant und Signifikat zerschneidet, und interpretiert von diesem Schnitt her die Melancholie des späten Goethe: Jörg Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe, Berlin 2005, S. 152f.
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Scheiden ist der Tod!« Der Dichter lässt mit der Reinschrift der Elegie nicht nur die unsauber geschriebenen Vorstufen im Wesenlosen hinter sich zurück. Goethe, der »immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen hatte«,52 lagert ein Jahr später etwas unerträglich Gebliebenes aus, indem er es in ein anderes Gedicht transferiert. In der Ausgabe letzter Hand stellt er 1827 den unsichtbar gewordenen Zusammenhang zwischen Werther, Tasso und der Elegie jedoch öffentlich wieder her. Goethes am Umgang mit der Elegie zu studierendes Verfahren, Erfahrung durch Vers und Einband distanzierend zu rahmen, setzt sich bei der Publikation der Klage fort. In der Ausgabe letzter Hand veröffentlichte Goethe erstmals das umfangreiche Gedicht mit dem Titel Elegie. Gerahmt wurde das bis dahin nur wenigen Freunden bekannte Werk durch das bereits 1825 in der Jubiläumsausgabe des Jugendromans ohne Titel gedruckte Gedicht An Werther und das kleine Gedicht Aussöhnung, das als Gelegenheitsgedicht für die polnische Pianistin Maria Szymanowska entstand. Die drei Gedichte wurden vereint unter einem Titel, der berühmt geworden ist: Trilogie der Leidenschaft. Die Anordnung der Texte stimmt mit den Daten ihrer ursprünglichen Entstehung also nicht überein: Das Gedicht über die Aussöhnung entstand zuerst, im Sommer 1823 noch in Marienbad, das Gedicht An Werther schrieb Goethe erst 1824, aus Anlass des 50. Jahrestages der Veröffentlichung des Werther. Durch das Arrangement der Texte von letzter Hand entsteht, betrachtet man lediglich die Titel, ein begütigendes Narrativ: Auf das unheimliche Geistergespräch mit einem Selbstmörder folgen die vollendeten Stanzen der Elegie, und das Ganze schließt mit dem Dank an den krampflösenden Trost, den volltönende Musik spendet. Der für die Genese der Elegie gut dokumentierte Vorgang der Sublimierung wird in der Sequenz der Gedichttitel also noch einmal inszeniert: von der suizidalen Verzweiflung über die tiefe, unversöhnliche Trauer hin zum erleichternden Weinen. Wie Goethe aus der Distanz, 1831, bemerkt, bildete sich die Trilogie »erst nach und nach und gewissermaßen zufällig«. Sie erhält ihre erforderliche Einheit gleichwohl durch die durchdringenden »liebesschmerzlichen Gefühle«, und es gelingt daher, formal der Forderung an die drei verknüpften Partien zu genügen: »daß in der ersten eine Art Exposition, in der zweiten eine Art Katastrophe und in der dritten eine versöhnende Ausgleichung stattfinde.«53 Mit der Trilogie der Leidenschaft wagt Goethe mit der vom nahen Tod autorisierten letzten Hand eine aufwühlende Summe seines gesamten dichterischen Lebensweges. Der Titel ist, wie einleitend bereits angemerkt, 52. Eckermann: Gespräche mit Goethe (Anm. 35), S. 764: 1.12.1831. 53. Ebd., S. 764f.: 1.12. 1831.
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doppeldeutig insofern, als er nicht nur auf die Zusammenstellung von drei Gedichten verweist, sondern Goethes Leben selbst als eine Trilogie der Leidenschaft beschreibt, deren drei große Stationen durch die drei Genres, durch den Roman Die Leiden des jungen Werthers, das Künstler- und Gesellschaftsdrama um Torquato Tasso, schließlich die drei Gedichte der Trilogie bezeichnet werden. Dieses Leben erweist sich als immer wieder heimgesucht von der »ebenso natürlichen wie unnatürlichen Krankheit«, dem Lebensekel, dem taedium vitae.54 Die folgende Lektüre des Goethe’schen Passionsweges mustert die drei Stationen in der vom Dichter vorgegebenen Sequenz, um zu einem differenzierteren Verständnis dessen zu gelangen, was mit Sublimierung gemeint sein könnte. An Werther Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten, Hervor dich an das Tageslicht, Begegnest mir auf neu beblümten Matten, Und meinen Anblick scheust du nicht. Es ist als ob du lebtest in der Frühe, Wo uns der Tau auf Einem Feld erquickt Und nach des Tages unwillkommner Mühe Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt; Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren, Gingst du voran – und hast nicht viel verloren. Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los: Der Tag wie lieblich, so die Nacht, wie groß! Und wir gepfl anzt in Paradieses Wonne, Genießen kaum der hocherlauchten Sonne, Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung; Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt, Von außen düstert’s, wenn es innen glänzt, Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick, Da steht es nah – und man verkennt das Glück. Nun glauben wir’s zu kennen! Mit Gewalt Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt: Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor, Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor, 54. Brief Goethes an Zelter vom 3.12.1812; zitiert nach: Trunz: Kommentar (Anm. 41), S. 757.
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Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan? Er schaut umher, die Welt gehört ihm an. In’s Weite zieht ihn unbefangene Hast, Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast; Wie Vögelschar an Wäldergipfeln streift, So schwebt auch er, der um die Liebste schweift, Er sucht vom Äther, den er gern verläßt, Den treuen Blick und dieser hält ihn fest. Doch erst zu früh und dann zu spat gewarnt, Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt, Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer, Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr Und Jahre sind im Augenblick ersetzt; Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt. Du lächelst, Freund, gefühlvoll wie sich ziemt: Ein gräßlich Scheiden machte dich berühmt; Wir feierten dein kläglich Mißgeschick, Du ließest uns zu Wohl und Weh zurück; Dann zog uns wieder ungewisse Bahn Der Leidenschaften labyrinthisch an; Und wir verschlungen wiederholter Not, Dem Scheiden endlich – Scheiden ist der Tod! Wie klingt es rührend wenn der Dichter singt, Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt! Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet, Geb’ ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.55
Erich Trunz hat zu Recht angemerkt, dass dieses Gedicht »oft von schneidendem Sarkasmus« sei, dass ihm ein »nihilistischer, Illusionen zerstörender Zug« eigne.56 An Werther bändigt nur mühsam persönliche Bitterkeit und Verzweiflung und formuliert darüber hinaus eine ideengeschichtliche Bankrotterklärung. Der intellektuellen Bewegung von Auf klärung und Idealismus, deren Erblühen Goethe von 1774 bis 1824 bezeugte, in vielfältigem Austausch begleitete und als die Zentralfigur des geistigen Lebens in den deutschen Ländern und international inspirierte, wird ein Scheitern attestiert. Es gibt briefliche Äußerungen Goethes von ähnlicher Schärfe; im Werk delegiert er die vernichtende Stimme an andere Wesen, 55. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832 (Anm. 47), S. 456f. 56. Trunz: Kommentar (Anm. 41), S. 757.
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exemplarisch an Mephistopheles. Die Provokation des Gedichtes besteht darin, dass das lyrische Ich hier mit dem Autor des Werther identifiziert ist. Der meist diplomatische Goethe spricht ostentativ selbst, verbirgt sich nicht hinter einer literarischen Figur. Das Gedicht An Werther wirkt, trotz des mit einer Ausnahme (Vers 2) konsequent durchgehaltenen fünf hebigen Jambus, auf den ersten Blick sehr unregelmäßig. Strophe 1 und 2 umfassen jeweils 10, die Strophen 3 und 5 jeweils 12 Verse, während Strophe 4 nur aus 6 Versen, also exakt aus der Hälfte ihres Rahmens, besteht. Der Eindruck des Unregelmäßigen, fast Zerhackten, wird durch eine gekonnt inszenierte Verhärtung des Klangs erzeugt. Während die erste Strophe schematisch eine Stanze etabliert (ababcdcdee), folgen die restlichen Strophen konsequent dem Paarreim. Der so erzeugte monoton hämmernde Klang einer abhakenden Mitteilung von Thesen, die keinerlei Widerspruch oder Erörterung zulassen, wird noch dadurch intensiviert, dass mit dem Anfang der zweiten Strophe (ab Vers 15) die so genannten weiblichen Endungen vollkommen verloren gehen (auf die Ausnahme Wonne/Sonne wird unten zurück zu kommen sein). Der Kontrast zur ersten Strophe ist markant, denn Goethe hatte dort männliche und weibliche Versenden alternieren und sie über den Paarreim an ihrem Ende (erkoren/verloren) auch weiblich ausklingen lassen. Die kleine, nur aus 6 Versen bestehende Strophe erweist sich als in die harte, ›männliche‹ Fügung der Thesen über die conditio humana buchstäblich eingeklemmt. Während die eröff nende Stanzen-Strophe die volltönende Form der nachfolgenden Elegie präludiert, komprimiert die kleine Strophe prägnant deren zentrales Thema, die endgültige, die ›tückische‹ Trennung, die unausweichlich am Ende der immer weiter gesteigerten Liebe steht: der Verlust der Gegenwart, um die es einzig geht. Das hart gefügte Gedicht An Werther wirkt unheimlich: Goethe spricht den Protagonisten seines ersten Romans an, als handele es sich um einen wirklichen Menschen. Die ästhetische Grenze wird an gleich zwei Stellen eingerissen: Das lyrische Ich offenbart sich direkt als der Autor Goethe, der sich als verantwortlich für den Gehalt seines Romans erklärt, der somit den Bannkreis der Fiktion transzendiert und tendenziell zum ernsten Dokument eines Lebens wird. Mit Werther, das suggeriert die Akzentuierung der autobiographischen Dimension, hat sich ein Teil Goethes selbst das Leben genommen; etwas starb, und eine Lebenswunde blieb, die sich auch fünfzig Jahre danach nicht geschlossen hat, vielmehr erneut aufgerissen wurde. Gesteigert wird die Unheimlichkeit einer Verlebendigung des Helden dadurch, dass Werthers Geschichte nicht, wie viele Schelmen- oder Abenteuerromane, in einer Weise endete, die viele weitere Erlebnisse wahrscheinlich bleiben lässt oder nur überhaupt Leben unter was für Umständen auch immer in Aussicht stellt, etwa die Gartenarbeit des Voltaire’schen 36
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Candide. Für Werther fällt das ›Und so lebte er dahin‹ aus. Die Anrede auch an einen fiktiven Helden, dessen Leben weitergeht, ist als poetische Figur denkbar. So wandert Ariel aus Shakespeares The Tempest hinüber in den zweiten Faust. Werthers Ende hingegen ist bekannt: »Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen«.57 Goethe spricht in diesem Gedicht furchtlos mit dem Schatten, dem entstellten Gespenst des in der religiösen Perspektive der Epoche verdammten Selbstmörders. Der Charakter von Séance, Totenbeschwörung wird unterstrichen, indem Goethe mitteilt, dass das Gespenst seinen Anblick nicht scheue. Der auf den Gang des Odysseus in den Hades anspielende Charakter des Gruseligen wird dadurch intensiviert, dass der Tote nicht in der Unterwelt, sondern vor dem grell kontrastiven Hintergrund eines strahlenden Frühlingstages begegnet, »auf neu beblümten Matten«. Die Szenerie erinnert an die Eröffnungsszene von Faust II, in der Faust in Anmutiger Gegend und »auf blumigen Rasen gebettet«, einen verjüngenden, entsühnenden Heilschlaf findet.58 Das Werther-Gedicht kehrt die Vorzeichen um. Würde das Gedicht die Wiederbegegnung zweier alter Freunde nach einem halben Jahrhundert schildern, es wäre eine schöne Szene mit einem Einschlag von Nostalgie. Doch ist die Situation in ein verstörendes Flirren getaucht, insofern sich die Natur zwar frühlingshaft verjüngt, aber ein Alter in strahlender Helle dem Geist eines toten Jünglings begegnet. Es ist ein Echo der Marienbader Situation: Ein alter Mann erlitt einen Liebesfrühling, eine Neuauflage der Wertherzeit, und es dokumentiert eine Art von kaltem Humor, dass das Gedicht An Werther einer Neuauflage des leidenschaftlichen Jugendromans vorangestellt wurde. Freud wird später die Metaphorik der »Neuauflage« aufgreifen, um den Wiederholungszwang zu charakterisieren.59 Das Beängstigende des Gedichtes wird schließlich erzeugt durch den, klanglich abweisenden, fast rücksichtslos zu nennenden Zug ins Zynische, der sich in den Versen artikuliert. Schockierend mögen für die Leserinnen und Leser vor allem die folgenden, das weitere Leben Goethes nach 1774 entwertenden Verse gewesen sein, die das Unheimliche als das heimlich Bekannte dechiffrieren. Werther ist Goethe immer noch, oder erneut, sehr nahe: Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren, Gingst du voran – und hast nicht viel verloren. 57. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, in: Werke (Anm. 22) Bd. 6, S. 124. 58. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Werke (Anm. 22) Bd. 3, S. 146: Regieanweisung. 59. Vgl. Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905), Bd. 6, S. 180f.
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Da das Werther-Gedicht unmaskiert autobiographisch spricht, kann man womöglich die Kränkung ermessen, die angesichts dieser Kälte die noch lebenden Wegbegleiter Goethes, die Freunde, Verwandten, Geliebten, Mitarbeiter mögen empfunden haben: Das vielfach als so reich und erfüllend bewunderte und beneidete Leben dieser fünfzig Jahre war nicht viel, kaum der Rede wert. Der Dichter hätte sich eigentlich ebenfalls umbringen können. Die elementaren enttäuschenden Strukturen des Lebens, so weiß der Dichter mitzuteilen, waren zur Werther-Zeit schon bekannt. Es ist in dem seither vergangenen halben Jahrhundert nichts nennenswert, wesentlich Neues vorgefallen: Aus der kompromisslosen Perspektive der Passion ist alle ›Tätigkeit‹ trauriges Surrogat, die an die Stelle des ›eigentlich‹ Begehrten tritt. Der einzige Unterschied zwischen der Erfahrung des Jünglings und der des alten Mannes besteht in der lähmenden und das taedium vitae vertiefenden ewigen Wiederholung der immer gleichen Muster. Die Kindheit war wunderbar, der Mensch schien »gepflanzt in Paradieses Wonne«, doch bald kommt es zu unangenehmen Diskrepanzen zwischen Innen und Außen, die als beleidigender cantus firmus das Leben fortan begleiten und verbittern werden: Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt, Von außen düstert’s, wenn es innen glänzt, Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick, Da steht es nah – und man verfehlt das Glück.
Goethe beschreibt in wenigen, provokant lockeren Versen die Denkbewegung seiner Epoche als gescheitertes Projekt. Die intellektuelle Anstrengung von Kant bis Hegel kann summarisch als Versuch charakterisiert werden, die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt zu schließen; in der Philosophiegeschichte begegnet diese Anstrengung als die Bearbeitung der cartesianischen Restprobleme oder Folgelasten. Der fehlende Zusammenhang zwischen Innen und Außen, der Riss zwischen Ich und Welt, die Diskrepanz zwischen dem, was lebt und dem, was denkt und liebt, gründet dem Werther-Gedicht zufolge im unnatürlichen Missverhältnis zwischen der Zeit des Menschen und der Zeit der Welt. Die mangelnde Abstimmung oder auch »Aussöhnung« zwischen beiden führt zu der fatalen Konsequenz, dass das mögliche Glück einer Einheit immer wieder verfehlt wird, auch und gerade dann, wenn es direkt vor einem steht. Indem Goethe vom »trüben Blick« und von »verworrener Bestrebung« spricht, die das unausweichliche Schicksal des Menschen seien, ist dem Projekt der Auf klärung das Urteil gesprochen, deren Ziel es seit Leibniz war, alle trüben Wahrnehmungen aufzuklären und alle verworrenen Eindrücke in klare und distinkte zu überführen. Niemand sieht 38
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klar, alles blieb trübe und verworren. Die einen heiteren Überblick über die Irrgänge des Lebens verschaffende Mongolfière, stolzes Produkt aufgeklärter Wissenschaft, steht in diesem Gedicht nicht zur Verfügung. Ein Ausweg aus der von peinigenden Diskrepanzen versehrten Lage des Menschen scheint sich mit der Liebe zu bieten, die wie der Advent des Ewigen und Absoluten im Zeitlichen, im quälend Verworrenen und Trüben erscheint. Der Liebende regrediert, wird wieder selig »wie in der Kindheit Flor« und meint im seligen Wahn, »die Welt gehört ihm an«. Es folgt, so lehrt das dunkle Gedicht, unausweichlich die Enttäuschung auch durch die Liebe, die umso furchtbarer sein muss, als das ersehnte Gefühl von ozeanischem Einklang, »Paradies« – und sei es in der Illusion – gekostet wurde. Wenn Liebe nicht daran scheitert, dass der günstige Augenblick verfehlt wird, wenn sie nicht bereits scheitert am »zu spät« oder am »zu früh«, so scheitert sie an und aus sich selbst, ist ihre eigene Vernichtung. Werther zog aus dieser bitteren Einsicht die blutige Konsequenz: Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.
Innen und Außen passen nicht zueinander, fremd und gottverlassen steht der Mensch in seiner »biologischen Mittellosigkeit«60 in der trüben Welt. Die Zeit des Menschen ist nicht die Zeit der Welt und ihrer ewigen Ordnungen und Rhythmen. Das Gedicht An Werther antizipiert, wie zuvor punktuell Herder und Schiller, eine Grundeinsicht der modernen philosophischen Anthropologie mit ihrer These von der ›exzentrischen Stellung‹ (Plessner) des nicht festgestellten Tiers: »Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu.«61 Der einzige Ausweg, das Absolute, das Ewige und Wahre in dieser Welt zu erfassen, die Liebe, erwies sich als unbeständig und trügerisch, als vergänglich. Dem Selbstmörder, mit dem Goethe spricht und den er – nach Maßgabe der christlichen Religion beider Konfessionen seiner Zeit: blasphemisch – im Gedicht rechtfertigt, lächelt über die tendenziöse Darstellung des Lebens, und es bleibt unklar, ob über den Klagenden oder in einer Art von wissender Zustimmung. Die Gleichung »Liebesbesitz = Selbstbesitz = Weltbesitz« ging nicht auf. Der sarkastische Zug des Gedichtes setzt sich verstörend fort. Goethe bekennt dem »gefühlvoll« lächelnden toten Jüngling gegenüber ein, dass er es verstand, aus dem Suizid symbolisch und finanziell Kapital zu 60. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), 8. Aufl ., Frankfurt a.M./Bonn 1966, S. 34. 61. Ebd., S. 35. Vgl. bei Gehlen auch die Diskussion der Anthropologien Herders und Schillers.
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schlagen: »Wir feierten dein kläglich Mißgeschick«. Die literarische Darstellung des Schicksals eines Menschen, der sich angesichts der fatalen Liebestäuschung das Leben nahm, machte den Dichter Goethe berühmt und wohlhabend. Das Schockierende der Passage wird deutlich, wenn man etwa, wie Düntzer es tat, das Gedicht auch als »eine Rede an das WertherModell Jerusalem« versteht.62 Nüchtern lässt er den kläglichen Helden seiner Jugend wissen, dass er ihn nach diesem Erfolg treulos hinter sich ließ und sich erneut in den ewig gleichen Strudel von »Wohl und Weh« hinein stürzte, ins verwirrende Labyrinth der Leidenschaften, das von Trennung zu Trennung, am Ende zur Trennung im Tode führt. Den Rat des Dichters, auf dem ohnehin durch ›des Tages unwillkommne Mühe‹ geprägten Lebensweg das große Leid zu meiden, das die Liebe ist, fi ndet der alte Dichter »rührend«, und offen bleibt, ob die Erinnerung an eigene Bemühungen rührt oder aber der Rat als rührende, naive Hilflosigkeit erachtet wird. Den Nachgeborenen vermag Goethe nur den Wunsch mitzugeben, dass, sollten sie gleichwohl in solche Qualen verstrickt werden, ihnen göttlicher Beistand werde, ein Beistand, den das Gedicht nicht kennt, wie dieser Beistand auch dem Helden seiner Jugend fehlte. Der fromme Wunsch ist eingesponnen in eine von feinen Binnenreimen (klingt/singt; meiden/ Scheiden) durchsetzte Variante63 jener Verse aus dem Tasso, die die Elegie eröffnen, womit der Übergang zum nächsten Gedicht hergestellt wird: Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt, Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt! Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet, Geb’ ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.
Das harte Gedicht An Werther kann die Apologie eines Selbstmörders, die es erstens ist, nur sein, weil es zweitens das Bekenntnis ist, das Leben des Menschen sei sinnlos. Zugriff auf philosophische Einsicht, die begriffl iche Formulierung des Lebenssinns wird in diesem radikalen Ausdruck der Depression ebenso wenig in Aussicht gestellt, wie anderseits der mögliche Trost durch einen Glauben nicht einmal der Erwähnung für wert befunden wird. Der Mensch ist eingeklemmt zwischen der Natur, der er in seiner reflexiv erlittenen Zeitlichkeit und Weltoffenheit fremd gegenüber steht, einerseits, und der Unnatur seiner vom Naturkreislauf emanzipierten Leidenschaft anderseits, die ihren extremen Ausdruck in der Möglichkeit des 62. Vgl. den Kommentar in: Goethe: Gedichte 1800-1832 (Anm. 47),
S. 1050. 63. Vgl. zum ›rührenden‹ Klang dieser Binnenreime Löffler: Unlesbarkeit (Anm. 51), S. 139f.
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Selbstmordes findet, zu dem allein das Menschenwesen befähigt ist. Die Rede von der Über-Natur, die Rede vom Göttlichen in diesem Gedicht hingegen ist prekär. Sie ist direkt und exklusiv gebunden an die Möglichkeit der poetischen Sprache und findet ihren Ausdruck nur in einem im Potentialis gehaltenen Stoßgebet. Der Gott kann nicht das Leiden lindern, ihm Sinn geben oder es gar aufheben. Er kann nur die Fähigkeit verleihen, zu sagen, was man leidet, eine womöglich kathartische Funktion freigeben. Das Aussprechen als solches erscheint als der einzige Weg, der eine Alternative zum Selbstmord bereitstellt: das weltliche Evangelium. Wohlgemerkt, in diesem Gedicht erscheint weder die von Goethe Zeit seines Lebens pantheistisch umworbene herrlich leuchtende Natur als möglicher Trost, noch erscheinen jenseits der wahnhaft Geliebten andere Mit-Menschen, etwa Freunde oder Familie. Und es fehlt der von Goethe vielfach gegebene Rat, durch Arbeit, durch ›Tätigkeit‹ dem Leben eine stabile Architektur aus Sublimierungsleistungen zu geben und dadurch die dem Menschen unangemessene Zeit vor der deprimierenden Leere des Müßiggangs zu schützen. Es sind drei Optionen des Lebens benannt: das einsame Dichten, die notwendig zum Scheitern verurteilte Passion, schließlich der Selbstmord. Das Gedicht an Werther, den Müßiggänger und Dilettanten in der Kunst, ist in der Tat ein neuer Werther, eben jener, den Goethe 1812 brieflich als einen Text annonciert hatte, der dem Publikum die Haare zu Berge stehen lassen werde: »Wenn das taedium vitae den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen wie unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt ›Werther‹ wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem spätern Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte. […] Ich getraute mir einen neuen ›Werther‹ zu schreiben, über den dem Volk die Haare noch mehr zu Berge stehen sollten als über dem ersten.«64
4. Elegie Mit dem langen ruhigen Fluss der Elegie lässt Goethe die Härte des Werther-Gedichtes formal hinter sich. An die Stelle der verstörend zerhackten Fügung ungleichmäßiger Strophenlängen und Reimstellungen – ein Wiederaufflammen der rüden Geste des Sturm und Drang – treten im Geist des beim alten Goethe zu gläserner Artifizialität raffinierten Klassizismus voll64. Johann Wolfgang Goethes Brief an Zelter vom 3.12.1812 (Anm. 54).
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endete sechszeilige Stanzen mit dem konsequent durchgehaltenen Schema ab-ab-cc und regelmäßig schreitenden fünfhebigen Jamben. Das episch ausgreifende, seinen klaren psychologischen Gehalt im schönen Klangkörper und Metapherngewebe verbergende Gedicht ist schwer zu überblicken, weshalb vor die Interpretation der Versuch einer summierenden Gliederung des komplizierten Ganzen zu stellen ist. Der analytische Zugriff auf das wohlproportionierte Gebilde mit seinem bezaubernden Wohlklang erscheint sachunangemessen. Weit mehr noch als in anderen Fällen kann man sich angesichts der Marienbader Elegie veranlasst sehen, in apologetischer Absicht auf Schillers klassische Phänomenologie begriffl icher Arbeit zu verweisen, die das »natürliche Gefühl« unvermeidlich beleidigt: »[L]eider muß der Verstand das Objekt des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will. Wie der Scheidekünstler, so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freiwilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist bewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wiederfindet und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint?«65
Die erste, durch eine Volute abgesetzte Strophe etabliert die ebenso einfache wie undurchdringlich massive Opposition, die das gesamte Gedicht organisiert und deren Überwindung oder Aufhebung oder Sublimierung aller Anstrengung zum Trotz nicht gelingt: Bei der Geliebten zu sein, das ist das Paradies, die Trennung von ihr hingegen ist die Hölle. An diesem als unverrückbar gesetzten psychologisch-erotischen factum brutum eines kompromisslosen Bestehens auf »Gegenwart« arbeitet sich die gesamte Elegie ab, von Anfang bis Ende: Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, Von dieses Tages noch geschlossn’er Blüte? Das Paradies, die Hölle steht dir offen; Wie wankelsinnig regt sich’s im Gemüte! – Kein Zweifeln mehr! Sie tritt an’s Himmelstor, Zu ihren Armen hebt sie dich empor.
65. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke (Anm. 7), S. 571 (Erster Brief).
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Die Strophen 2 und 3 erzählen vom Glück der Begegnung und der Seligkeit eines gemeinsam mit der ungenannten Geliebten verbrachten Tages. Die Gegenwart der Geliebten ist Erfüllung und bringt die drei Modi des Begehrens zum Erlöschen: »Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen« (Herv. E.G.). Die Strophen 4 und 5 schildern den grausamen Schmerz des abendlichen Abschieds und den elenden Zustand des einsamen Liebenden, der in die Tretmühle böser Gedanken gerät, die allesamt Reaktion auf die Trennung sind. Die Liste ist ebenfalls vollständig: »Mißmut« (der gegenwärtige Gefühlszustand) »Reue« (negative Perspektive auf Vergangenes), »Vorwurf« (gegen sich selbst oder die Geliebte, dass es zur Trennung kam, oder auch Eifersucht), »Sorgenschwere« (Angst vor der Zukunft). In den Strophen 6 und 7 erfolgt der vorübergehende Versuch, sich durch die Wendung zur äußeren Natur vom vernichtenden Elend der Trennung abzulenken, der exemplarische Weg der Sublimierung: »Ist denn die Welt nicht übrig?« Doch empfiehlt die 8. Strophe angesichts der Flüchtigkeit und Instabilität natürlicher Erscheinungen, die allesamt zuletzt doch nur an die vermisste Geliebte erinnern, also die Sublimierung nicht zulassen, die Wendung nach Innen, um dort das Bild des verlorenen Objektes stabil aufzurichten: »In’s Herz zurück, dort wirst du’s besser finden«. Die Strophen 9 bis 14 geben sich folgerecht der Erinnerung hin und spiegeln präzis im Gedächtnis das zu Anfang Berichtete: die Begegnung auf der Schwelle (9), die Beseligung durch die Gegenwart (11), die Situation der atemlosen Angst, ob es zu einem Wiedersehen kommt, oder nicht (12). Zuletzt wird die selige Intensität der Gegenwart mit der Liebe Gottes, die inneren Frieden schenkt, verglichen. Wie man es von der Gottesliebe lesen kann, so öffnet, beglückt und erfüllt die Gegenwart der Geliebten das eisig in sich verschlossene Selbst (13, 14): »solcher seligen Höhe/Fühl’ ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.« Insofern die Gegenwart der Geliebten das höchste Glück bedeutet, schließt sich der Kreis des Begehrens: Der Weg führt scheinbar hinauf, von der Wissenschaft über die Arbeit an der Seele hin zum Höchsten, der Religion. Aber dieses Höchste ist der Beginn: Die Religion ist nichts anderes als der Wunsch, in der Gegenwart des geliebten Wesens zu sein; sonst ist sie wesenlos. Angesichts dieser Drehung im Kreis wird in den Strophen 16 und 17 an die Geliebte selbst, die höchste Instanz des Liebenden, die Lehre vom Leben in der Gegenwart delegiert, der Rat, wie ein Kind im Augenblick zu leben, ohne sich diesen Augenblick durch die schlechte Aussicht auf die unvermeidlich anstehende Trennung verderben zu lassen sowie, in der Trennung, der glücklichen Sekunden dankbar zu gedenken: »Nur wo du bist sei alles, immer kindlich,/So bist du alles, bist unüberwindlich.« Strophe 18 weist diese Lehre verblüffend barsch zurück: »Du hast gut reden, dacht’ ich«. Der uneinsichtige Liebende, dem nicht zu helfen ist, insistiert auf Gegenwart. 43
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Die Strophen 19 bis 23 berichten über das weitere Schicksal des endgültig Getrennten. Die zunächst heilsame Wirkung der »grenzenlose[n] Tränen« erweist sich als transitorisch, als unzureichend, das Leiden zu stillen. Erinnerung an die Verlorene ist ebenfalls ungenügend, um die Qual zu lindern. Im Gegenteil: Das Flackern zwischen Schattenhaftigkeit und grell blendender Präsenz der Bilder lässt sich nicht zur schönen Erinnerungsfigur entmächtigen oder zu einem Narrativ stabilisieren. In seiner zuckenden Instabilität entspricht das Flackern der Bilder exakt dem Kommen und Gehen der »Wellen des Todes«, von denen Goethe in seinem Brief über das taedium vitae berichtete. Die Erinnerung lindert also das Leiden nicht, sie verstärkt es nur. Abgesetzt durch eine weitere Volute wird psychologisch konsequent zum Schluss beschrieben, wie ein Leben nach dem Flackern der Bilder und nach Ebbe und Flut der Schmerzen vollends erlischt; der Zusammenbruch ist nicht mehr zu verhindern, auch nicht durch die Goethe so teure, in der liebevollen und treuen Zusammenarbeit mit anderen betriebenen Naturforschung. Als ein zweiter King Lear bleibt der Dichter allein in Moor und Moos zurück und ist zugrunde gerichtet. Der Überblick über den Gang der Elegie lässt hervortreten, mit welcher klinischen Präzision Goethe den Verlauf einer Passion aufgezeichnet hat. Der verliebte Mensch will um jeden Preis und ohne Kompromiss die Zeit, alle Zeit, in der körperlichen Nähe des geliebten Menschen verbringen, der zum transzendentalen Bezugspunkt avancierte, zur »Sonne«, von der her allein sich die Welt als sinnvoll erschließt: »Da ruht das Herz und nichts vermag zu stören/Den tiefsten Sinn, den Sinn ihr zu gehören«. Sobald die Gegenwart des geliebten Menschen nicht gegeben ist, fällt die ganze Welt in ein sinnloses Dunkel. Der Versuch, sich durch anderes abzulenken, scheitert, weil der Liebende entweder nur den Mangel spürt oder aber in allem die Gestalt des geliebten Wesens wahrnimmt. So ruft der Anblick des zarten Luftgebildes, der sich verändernden Wolken, nur die Erinnerung an die tanzende Geliebte herauf. Der Versuch, die Trennung durch Erinnerung einordnend zu bewältigen, scheitert. Mit großem psychologischen Scharfsinn lehrt Goethe, dass die Erinnerung, so lange die Passion andauert, nur die brennende Sehnsucht nach einer Wiederherstellung von Gegenwart steigert, um die allein es geht. Der fi ktive Dialog mit der Geliebten über das Leben im Augenblick macht sinnfällig, wie Goethe in der Tat in der Elegie ganz auf die Gegenwart setzt, in mehrfachem Sinn: Die Elegie spielt raffiniert mit zwei Bedeutungen von Gegenwart: Es dreht sich auf der einen Seite alles um die körperliche Präsenz der Geliebten. Gegen diesen drängenden Wunsch, gegen dieses Begehren nach beständiger Präsenz, wird die Lehre aufgeboten, in der Gegenwart zu leben und danach entweder zu vergessen oder dankbar zu erinnern. Doch erweist sich die Sehnsucht nach körperlicher Präsenz als zu machtvoll, um diese Lehre 44
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annehmen zu können. Dass Goethe stilistisch aus der Rolle fällt, wenn er auf die Lehre vom Leben im Augenblick mit der Bemerkung reagiert »Du hast gut reden, dacht’ ich«, unterstreicht markant, dass der liebende Mensch auf das Eigentliche nicht verzichten, nicht sublimieren kann: »Zu dem Authentischen dieses Gedichts, sofern es Gefühle bezeugt, gehört die Litotes: daß nämlich im hohen inneren Pathos bewußt die geringere Tonstärke gewählt wird.«66 Goethes Elegie nimmt die von Freud inventarisierten, wichtigsten Formen von Sublimierung – Wissenschaft, Religion, Identifizierung (›Aufhebung‹), Betäubung – erstaunlich vollständig vorweg, aber negativ: Sie funktionieren nicht. Die versuchte wissenschaftliche Tätigkeit beschwört nur das Bild der Geliebten herauf; Religion als Erfahrung der Seele wird nachvollziehbar nur in der Gegenwart der Geliebten, kann sie aber in der Situation der Trennung nicht tröstend ersetzen. Es ist dem liebenden Subjekt bei Goethe nicht möglich, das verlorene Objekt stabil zu internalisieren, sei es durch Identifi kation (›Verjüngung‹), sei es als psychisch neutralisiertes Objekt der Erinnerung. Das Bild der Geliebten flackert im Griff des Wiederholungszwangs. Hier wird eine Differenz deutlich zwischen dem Trauma, der Melancholie und dem Leiden in der Liebe. Während im Trauma die Mechanismen des Reizschutzes mechanisch die Situation nachholen, in der sie durchbrochen wurden und in der Melancholie das Ich nicht weiß, dass die herabsetzende Selbstanklage eigentlich eine Anklage ist, die dem verlorenen Objekt gilt, besteht die Grausamkeit der Liebesschmerzen darin, dass nichts geheim ist, sondern alles am sonnenhellen Tage liegt. Es dreht sich alles um die vermisste Gegenwart, die das liebende Ich einzig will. Und die flackernden Bilder sind nichts als ein Ausdruck dieses Schmerzes, der aus der erzwungenen Trennung resultiert. Der Mensch in seiner Qual weiß, was er duldet, und darin besteht das Schreckliche der Trennung: Er wiederholt ihr Bild zu tausendmalen, Das zaudert bald, bald wird es weggerissen, Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Strahlen; Wie könnte dies geringstem Troste frommen, Die Ebb’ und Flut, das Gehen wie das Kommen?
Selbst die niedere Form der Sublimierung als Surrogat, die bei Freud als Intoxikation begegnet, vermöchte allenfalls die körperlichen Schmerzen zu lindern. Doch verweigert der Geist die Zuflucht zur Medikation. Das 66. Max Kommerell: Gedanken über Gedichte (1943), Frankfurt a.M. 1985,
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lyrische Ich weiß, dass im Moment eines Nachlassen der Betäubungsmittel der Schmerz über die Trennung mit gleicher Intensität wieder präsent wäre (ich lese also das »vermissen« i. S. von »vergessen«): Wohl Kräuter gäb’s, des Körpers Qual zu stillen; Allein dem Geiste fehlt’s am Entschluß und Willen, Fehlt’s am Begriff: wie sollt’ er sie vermissen?
Die Elegie beschreibt offen den Zustand von Verbitterung, Schmerz und Leid, die in der Liebe jederzeit offen stehende »Hölle«, und es fragt sich angesichts der Parallelität zum Werther-Gedicht, worin genau die Unterschiede bestehen. Goethe fängt die Darstellung der dunklen Emotionen nicht nur im wieder hergestellten Wohlklang seiner Sprache auf (die Versendungen sind beinahe durchweg ›weiblich‹). Er federt sie zusätzlich dadurch ab, dass er sie nach vielfach bewährtem Verfahren einbettet in Naturmetaphorik, die sich organisiert um die Wortfelder des Winters für den Liebenden und die Semantik der Sonne für die Geliebte. Ferner wird die Artikulation der Verzweiflung dadurch objektiviert, dass Goethe sie literarhistorisch orchestriert, durch Anspielung etwa auf die Naturbilder des King Lear. Durch die skizzierten Maßnahmen wird die unmittelbare Wucht der Affekte gemildert, die darauf hin selbst als Naturphänomene erscheinen und nicht mehr, wie im Werther-Gedicht, als Ausdruck der isolierenden Unnatur menschlicher Passion und der ihr unausweichlich korrespondierenden Melancholie aus Welt-Fremdheit. Über die Anordnung der Gedichte insistiert Goethe gleichwohl darauf, dass zwischen ihnen ein wesentlicher Zusammenhang bestehe. Er verdeutlicht, dass formale Reinheit und Wohlklang der Elegie möglich wurden, weil das lyrische Subjekt die schwarze Galle in ein anderes Gefäß angewidert ableiten konnte. Mit der Konstellierung der Gedichte unterstreicht Goethe zudem, dass die Elegie die Weltsicht des Werther-Gedichtes zur Voraussetzung hat. Die Elegie nimmt die nihilistische Perspektive nicht zurück, sie setzt sie voraus. Der souveräne Gebrauch von durch die Tradition legitimierter Naturmetaphorik – die gelungene Variation des Topos vom Alter als Erkaltung und Vereisung etwa – oder auch aus dem Umkreis spezifisch Goethe’scher Interessen – die Rede von den Atmosphären, die Liebe zu den Wolken – sollte nicht zu dem Fehlschluss verleiten, in der Elegie sei jene Einheit zwischen dem Leben des Menschen und dem Leben der Welt wieder restituiert, deren Fehlen das Werther-Gedicht als Menschenlos, als Webfehler der Welt bestimmt hatte. Die Elegie bildet den Kontrast zum Werther-Gedicht nicht in der Hinsicht, dass sie, etwa über die Verehrung der Natur, dessen Weltsicht dementierte. Sie dokumentiert eine andere 46
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Reaktion auf dieselbe Lage der Seele. Sie dokumentiert sie inhaltlich zunächst dadurch, dass an die Stelle der Apologie des Selbstmords das demütige Sich-Zurückziehen und diskret einsame Sterben aus unglücklicher Liebe gesetzt werden. Der Selbstmord ist die grausamste Tat, die der Liebende dem geliebten Menschen antun kann, insofern er sich für den Entzug der Gegenwart dadurch rächt, als schreckliche Erinnerung, die ein dauerndes Grübeln generiert, für immer im Kopf des/der anderen zu bleiben. Der Selbstmord, m.E. auch als literarische Darstellung, erzwingt die Gegenwart, die sich ohne Gewalt nicht ergab, und es gibt gute Argumente für die Auffassung, im Selbstmord aus enttäuschter Liebe sei ein gegen das eigene Selbst gerichteter Tötungswunsch zu erkennen, der ursprünglich dem geliebten Menschen galt: Gegenwart für immer auszuschließen und damit deren Entzug. Diese aggressive Dimension des Werther fehlt in der Elegie vollständig. In der Elegie wird der Selbstmord ersetzt durch die Geste der Dankbarkeit, die weder der Roman noch das Gedicht An Werther kennen. Der fernen Geliebten wird innigster Dank abgestattet dafür, dass sie die Welt erleuchtete und den Liebenden erneut sich selbst finden ließ. Der Elegie zufolge ist es nur der Dank, der die pathologische Überschätzung des geliebten Wesens in die Würde überführt, den anderen Menschen wirklich zu sehen und gehen zu lassen. Authentischer Dank ist die Sprachform gelingender Sublimierung in der Marienbader Elegie: Das Herz schlägt nur noch, »für alles ihr zu danken«. Die Differenz zur aggressiven Welt des Werther ist also vor allem etabliert dadurch, dass der einzig mögliche Weg gegangen wird, der nach dem vernichtenden Gestus noch bleibt: die Liebe als die große und fruchtbare Illusion dankbar zu feiern. Die Form, die das Gedicht annimmt, ist die des innigen Dankes. Motivisch gewinnt die Elegie ihre bezaubernde Wohlgestalt durch die rhetorisch glanzvoll inszenierte Gleichsetzung von geliebter Frau mit der alles erleuchtenden Sonne. Die Bekanntheit des Gedichtes lässt bei der Lektüre leicht übersehen, dass es bis zur dritten Strophe offen bleibt – und darin besteht die originelle Wendung, die Goethe dem Topos ablistet –, ob das lyrische Ich die Sonne oder die Geliebte besingt. Selbst der Abendkuss der dritten Strophe könnte noch die alles überströmende Röte des Sonnenunterganges meinen. Erst die Schilderung des den Lebensfaden »grausam süß« zerschneidenden letzten Abschiedskusses lässt das Gedicht eindeutig in die Liebesklage einmünden. Auf die Nacht der Trennung folgt die Darstellung erneuter Begegnung, welche die Geliebte als aufgehende Sonne zelebriert: Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle, Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.
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Der strahlende Blick der Geliebten wird virtuos mit der wärmenden Frühlingssonne verglichen, die das alt gewordene starre Eis hinwegschauern lässt. Die Liebe, und nur die Liebe, eröffnet ein Verstehen. Vom strahlenden Licht der Liebe her lichtet sich die Welt »in milder Sonnenhelle«. Erst durch Liebe wird der Reichtum der Natur sichtbar, von der Gestalt der geliebten Frau, von der überweltlichen Erfahrung der Liebe zu ihr aus wird der unendliche Wandel der Wolken, »das überweltlich Große, Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose« zum Faszinosum, und es erfolgt, nach der Wendung zu sich selbst, die Belebung der Phantasie: Wie leicht, und zierlich, klar und zart gewoben Schwebt, seraphgleich, aus ernster Wolken Chor, Als glich’ es ihr, am blauen Äther droben, Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor; So sahst du sie in frohem Tanze walten, Die lieblichste der lieblichsten Gestalten. Doch nur Momente darfst du dich unterwinden, Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten; Ins Herz zurück, dort wirst du’s besser finden, Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten; Zu vielen bildet Eine sich hinüber, So tausendfach und immer, immer lieber.
Im alles erschließenden Licht der Liebe wird dem agnostischen Dichter selbst Glauben verständlich; durch das weltliche Evangelium der Liebe wird das Wort der Heiligen Schrift lebendig. Allerdings tritt mit dem lässig-skeptischen »wir lesen’s« – als sei die Bibel die Tageszeitung – ein Hauch von Voltaire’schem Spott hinüber in die Elegie, was eine ironische Note in das durchweg ernste Gedicht bringt: Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden Mehr als Vernunft beseliget – wir lesen’s –, Vergleich’ ich wohl der Liebe heitern Frieden In Gegenwart des allgeliebten Wesens; Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören Den tiefsten Sinn, den Sinn, ihr zu gehören. In unsers Busen Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinen, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
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Enträtselnd sich dem ewig Ungenannten; Wir heißen’s fromm sein! – Solcher seligen Höhe Fühl’ ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
Schließlich ist Liebe der Königsweg zur Erneuerung des Ichs selbst, das sich verjüngt, sich selbst zugänglich und für andere aufgeschlossen wird. Vermittelt über die Liebe kommt das Subjekt zu sich. Von den begrifflichen Anstrengungen der Reflexionsphilosophie bleibt, womit sie beim jungen Hegel anhob, Liebesdialektik. Der Weg zu sich selbst führt über die »Schwelle« der liebenden Entäußerung an einen anderen Menschen. Wer sich wegzuschenken vermag, der wird womöglich sich finden: Von ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften, Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.
Liebe ist der Elegie zufolge die große fruchtbare Illusion, der liebevolle Naturbetrachtung, Religion, Kunst, Selbsterkenntnis und schließlich Geselligkeit entsprießen. Sublimierung ist diesem Gedicht zufolge genau nicht ein Ersatz für die verlorene Liebe, ein Surrogat für die Versagung. Es verhält sich bei Goethe genau umgekehrt: Nur durch die Liebe, deren Strahl sich von dem geliebten Objekt weg bewegt, wird Welt erschlossen. Sublimierung tritt nicht an die Stelle der Liebe, sondern wird möglich durch Liebe, die die Welt erhebt. Der Gestus der Elegie ist daher unendlich viel freundlicher als der des Werther-Gedichtes. Anderseits verstärkt der Klagegesang die Tiefe der Trauer, insofern dem Gedicht jede Aggression, ein Lebenswille mit negativem Vorzeichen, fehlt. Die Elegie schweigt konsequent über die Altersdifferenz der Liebenden, und doch ist das hohe Alter des Dichters gegenwärtig, der als ein neuer Narr King Lear von seinen treuen Weggenossen in Moor und Moos Abschied nimmt. Zukunft kennt dieses Gedicht nicht mehr. Den Weggenossen ist die Welt nicht etwa deshalb erschlossen, weil sie, anders als der alte liebende Mann, nicht blind vor Liebe sind. Es verhält sich erneut umgekehrt. Den Jüngeren steht noch neue Liebe bevor, die alles erleuchtende Illusion. Darin besteht der Todernst der Elegie, der weit hinausgreift über die Bitterkeit des Werther-Gedichtes: dass es einmal eine letzte Liebe gibt, auf die keine weitere mehr folgen wird. Der Dichter lässt, wie bereits erwähnt, die Geliebte die Lehre vom erfüllten Augenblick sprechen, den paradoxen Rat, »immer kindlich« zu sein, Vergangenheit und Zukunft zu vergessen. Deutlicher als an ande49
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ren Stellen des Gedichtes tritt das hohe Alter des Dichters hier hervor. Es ist keine Zeit mehr: »Du hast gut reden, dacht’ ich«. Die verblüffend prosaische Reaktion des lyrischen Ich unterstreicht, warum die Geliebte gut reden hat. Im Unterschied zum Dichter ist sie wirklich jung, nicht dem Tode nahe. Ihn aber »schreckt der Wink«, sich von ihr zu entfernen, weil jede Trennung die letzte sein kann: »Was hilft es mir, so hohe Weisheit lernen!« Indem Goethe die Lehre vom Augenblick hier revoziert und von sich selbst abstößt in einer saloppen Wendung, wird klar, dass das Gedicht das Ende eines Lebens niederschreibt. Die Elegie bestätigt also den im Werther-Gedicht aggressiv konstatierten Zerfall der von Marianne Wünsch komprimierten Gleichung: »Liebesbesitz = Selbstbesitz = Weltbesitz«, korrigiert diese Diagnose aber in einem zweiten Schritt, insofern die Liebe als erleuchtende Illusion gefeiert wird, für deren Erfahrung der Geliebten Dank gebührt. In der Tat bedeutet die Erfahrung der Liebe eine Erneuerung des Selbst und eine intensivere Erfahrung der Welt. Ihre Wiederholung ist daher nicht nur Anlass zum taedium vitae, sondern als Erfahrung der Verjüngung erwünscht. Obwohl die Elegie die fatale Einsicht des Werther-Gedichtes in den Zerfall der idealistischen Einheit aus Liebe, Selbst und Welt paradox bestätigt, indem sie dankbar die fruchtbare Illusion bewahrt und sich für die Wiederholung öff net, stürzt sie die Leser zuletzt in die Traurigkeit über die Endlichkeit des individuellen Lebens. Die letzte Liebe ist nicht nur die Erfahrung fruchtbarer Illusion, sie ist auch die unerträgliche Erfahrung endgültiger Trennung. Da der alte Mensch dem Tode nahe ist, wird jede Trennung zum memento mori, richtet der durch Trennungen skandierte Verlauf der Liebesbeziehung den Dichter zugrunde. Am Ende steht nichts mehr zwischen ihm und dem Tod, nicht einmal mehr eine Illusion. In der erst 1980 aufgefundenen Urschrift der Marienbader Elegie ist zwar der diskutierte Gegensatz zwischen Gegenwart und Trennung, der das Bewegungsgesetz des Gedichtes etablieren wird, bereits formuliert, aber es fehlt sowohl die Geste der Dankbarkeit als auch der durchgeführte Vergleich der Geliebten mit der alles erleuchtenden Sonne, der bereits das Werther-Gedicht in seinem Umwerben von paradiesischer Wonne und hocherlauchter Sonne organisierte. Offenbar ermöglichte erst die zunehmende (räumliche) Distanz die Dankbarkeit. In einem seiner spätesten Gedichte führt Goethe Dankbarkeit und Sonne erneut zusammen, und dieses späte Gedicht wirft retrospektiv ein erhellendes Licht auf die Elegie: In der gebundenen Reinschrift trägt das Gedicht den Titel Elegie, September 1823. Fünf Jahre später schreibt Goethe ein Gedicht, das den Titel Dornburg, September 1828 trägt. Soweit ich sehe, ist der dergestalt nahe gelegte sachliche Zusammenhang zwischen beiden Gedichten nicht wahr50
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genommen worden; in manchen Ausgaben der Gedichte Goethes, etwa in der Inselausgabe, ist sogar der den intertextuellen Bezug diskret signalisierende Titel des Gedichtes von 1828 weggelassen. 1827 publiziert Goethe die Trilogie der Leidenschaft in der Ausgabe letzter Hand. Vermutlich hat die Drucklegung eine erneute Konfrontation mit der Leidenswelt der Elegie bedeutet, die sich dann im Dornburger Gedicht niederschlug. Bei diesem Gedicht, einem der letzten Gedichte Goethes überhaupt, handelt es sich m.E. um eine Komprimierung und Fortentwicklung der Marienbader Elegie, eine raffinierte und zugleich erschütternde Sublimierung der Sublimierung. Das Gedicht lautet: Dornburg, September 1828 Früh wenn Tal, Gebirg und Garten Nebelschleiern sich enthüllen, Und dem sehnlichsten Erwarten Blumenkelche bunt sich füllen; Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit dem klaren Tage streitet, Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet; Dankst du dann, am Blick dich weidend, Reiner Brust der Großen, Holden, Wird die Sonne, rötlich scheidend, Rings den Horizont vergolden.67
Erneut ist hier subtil der Bezug auf den Werther hergestellt, dessen Brief vom 10. Mai in seiner kunstvoll hypotaktischen Fügung der Wenn-DannKonstruktion vorbildlich wurde für Romanciers wie etwa Jean Paul. Das Gedicht besteht aus einem einzigen Satz, der ein Konditionalgefüge formuliert: Wenn der Tag entsteht und du in der Lage bist, dein sehnlichstes Erwarten durch die Färbung von Blumenkelchen erfüllt zu sehen, wenn du das Drama des Streites gelassen zu betrachten fähig bist, und es schließlich vermagst, der Sonne für die Erleuchtung und Färbung der Welt zu danken, dann wird es einen golden strahlenden Untergang geben. Der Bezug auf Goethes Marienbader Liebe und ihre Verarbeitung in der Elegie ist eingewoben, insofern hier das Spiel zwischen Sonne und Geliebter genau umgekehrt, also tatsächlich gespiegelt wird. Konnte man zu Beginn der Elegie meinen, der Dichter besinge die Sonne, so ist es im Dornburger Gedicht für eine Sekunde genau umgekehrt: Mit der Großen, 67. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832 (Anm. 47), S. 700f.
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Holden könnte auch eine Geliebte gemeint sein. Strikt grammatisch wäre es sogar möglich, dass erst der Dank an die große holde Geliebte die Bedingung dafür erfüllt, dass die Sonne golden untergeht; es ist vom Wortlaut des Gedichtes her streng unentscheidbar, wie zu lesen ist. Das Dornburger Gedicht bestätigt damit die oben auf die Elegie eingenommene Perspektive: Es ist der innige, von Groll und Bitterkeit freie Dank, der die eigentliche Sublimierung ausmacht. Erst wenn es gelingt, dem geliebten Menschen gegenüber Dank zu empfinden, dem tragischen Verlauf der Liebesgeschichte zum Trotz, erst dann wird es zu einem Sonnenuntergang kommen können, der den ganzen Horizont vergoldet. Es ist natürlich möglich, die Sonne als Metapher für eine göttliche Instanz zu lesen, in dem Gedicht eine Art Dankgebet zu erkennen. Aber eine solche Lektüre muss sich auf die jenseits des Gedichtes angesiedelte Konvention stützen, der zufolge die Sonne das Auge Gottes ist oder auch dieser selbst. Das Dornburger Gedicht selbst hält sich strikt auf der Ebene dessen, was Walter Killy treffend »das wahre Bild« genannt hat.68 Es hält sich von Anfang bis Ende auf der Ebene genauer Naturbeschreibung. Es gibt den Text, und es gibt die Natur, in der die Sonne aufgeht und untergeht. Der Verlauf des Gedichtes verfolgt diesen regelmäßigen Prozess mit der Genauigkeit einer Kamera und kommt jenem Zustand des »Behagens« sehr nahe, den Goethe erreicht sieht, wenn man sich an der Regelmäßigkeit zyklischer Verläufe meditierend erfreut. Gleichwohl ist auch in diesem spätesten und schönsten Gedicht die in der Trilogie der Leidenschaft benannte Kluft zwischen Mensch und Welt nicht ganz geschlossen; es bleibt eine leise Irritation, eben die Doppeldeutigkeit, die unentscheidbar macht, ob der Geliebten oder der Sonne gedankt wird. Mit der Doppeldeutigkeit ist in der Sprache die Möglichkeit gegeben, die Unklarheit visueller Wahrnehmung darzustellen. Die Uneindeutigkeit der Verse entspricht dem getrübten Blick des endlichen Menschen auf eine Welt, deren Verläufe einer anderen Zeit unterstehen als er.
5. Aussöhnung Wie kaum ein anderer Dichter hat Goethe das Genre des Gelegenheitsgedichtes zu kultivieren gewusst, bis zu dem Grade, dass beinahe seine gesamte lyrische Produktion unter diesen Titel gestellt wurde, und dies zu Recht, insofern auch Goethe selbst das Gelegenheitsgedicht »die erste und
68. Vgl. Walter Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes, 8. Aufl ., Göttingen 1998, S. 13ff.
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echteste aller Dichtarten« nennt.69 Im Begriff des Gelegenheitsgedichtes schließen sich drei Aspekte zusammen, die in der Semantik von ›Gelegenheit‹ beschlossen liegen. Zunächst – und ein solches Dokument ist die Aussöhnung, die als Huldigung für die polnische Pianistin Maria Szymanowska geschrieben wurde, deren Spiel Goethe bewunderte – ist das Gelegenheitsgedicht Element kultivierten geselligen Umgangs. Es hat Teil an der Sphäre des Spiels. Seine Erscheinungsformen spannen sich vom Improvisieren aus dem Stegreif und dem heiteren Wettbewerb im Salon über den freundlichen Gruß oder die huldigende Widmung an Personen bis hin zum erotisch-galanten billet doux. Zugleich wahrt der Begriff des Gelegenheitsgedichtes den wesentlichen Weltbezug insbesondere der Goethe’schen Lyrik, eine Konkretion, die mehr meint als Anlässe in Gesellschaft, der monde: Die Welt überhaupt, ihre Erscheinungen in Natur, Gesellschaft und Einsamkeit bieten eine unendliche Fülle von Gelegenheiten, von Anlässen zum Gedicht, das damit zum bevorzugten Medium wird, Situationen in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit einzufangen, zu bewahren, sie auszusprechen im wahren Bild. Im Begriff der Gelegenheit liegt schließlich der im düsteren WertherGedicht als durchweg verpasst denunzierte glückliche Augenblick, Kairos, die Chance. Die Rede von der Gelegenheit wird hier zweipolig, bezieht sich zum einen auf den glücklichen Moment, in dem Leben gelingt, als auch auf die für die lyrische Produktion geistesgegenwärtig genutzte Situation und Stimmung. Auch der Dichter kann den fruchtbaren Augenblick treffen oder verfehlen, in dem ihm das Gedicht möglich wäre. Es käme der ungalanten Überstrapazierung einer galanten Huldigung gleich, die Aussöhnung einer interpretatorischen Vivisektion zu unterziehen. Die Stanzen besingen den Zauber der Musik, die als unendlich strömendes Therapeutikum den Krampf des Liebeskummers in Tränen zu lösen vermag und es ermöglicht, jene Dankbarkeit der Liebe gegenüber zu empfinden, die zentral in der Elegie steht. Wie genau das große Gedicht der Klage gearbeitet ist, wird an der Aussöhnung deutlich, die ein Wort kennt, das der Elegie konsequent vorenthalten wird. Dort ist von Sehnsucht, von Freude die Rede und mehr noch und immer wieder von großer Seligkeit. Goethes Phänomenologie der Liebe ist präzise, da er der Liebesempfindung vieles zuschreibt, aber eines nicht: Glück. Während der Liebe wird der Liebende hin und her geworfen zwischen Paradies und Hölle. Dass Liebe, die Paradies und Hölle ist, ein Glück war, das wird erst erkennbar danach. Liebe wird verstanden nach ihrem Ende:
69. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit (Anm. 22), S. 397.
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Und so das Herz erleichtert merkt behende, Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen, Zum reinsten Dank der überreichen Spende Sich selbst erwidernd willig darzutragen. Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! – Das Doppel-Glück der Töne wie der Liebe.
Das Glück des Dichters Goethe bewährt sich im Arrangement der drei Gedichte zur Trilogie der Leidenschaft. Obwohl die Aussöhnung zuerst entstand, wirkt sie, als bilde sie die Synthese aus den beiden antithetischen Gedichten, die ihr vorangehen, als fasse sie zusammen mit einem zum deutschen Sprichwort avancierten Gnomon: »Die Leidenschaft bringt Leiden!« Das entstehungsgeschichtlich a priori geglückte Gelegenheitsgedicht formuliert eine Aussöhnung zwischen An Werther und der Elegie. Aus dem schwarzen Gedicht wird aufgenommen die Trübe des Geistes und die Verworrenheit des Bestrebens; aus der Klage findet das aus Dankbarkeit schlagende Herz hinüber. Zuletzt formuliert die Aussöhnung die das Schreiben leitende Struktur der Sublimierung. Die »Überfülle« der Kunst reagiert als »überreiche Spende« auf das »Allzuviele«, das verloren wurde, auf das »überschnell« Verflüchtigte. Die signifi kant polar gesetzten Begriffe konvergieren im »über«, im Bezeichnen des Unverhältnisses. Damit schließt sich der Kreis der Trilogie. Goethe bezeichnet das taedium vitae, den Lebensekel, der bis zur Suizidalität gehen kann, als eine ebenso natürliche wie unnatürliche Krankheit. Es ist die Leidenschaft, die diese Doppelung von Natur und Unnatur für Goethe exemplarisch zur Erfahrung macht, zu einer unerträglichen Erfahrung. Die Zuneigung zu einem anderen Menschen, die Leidenschaft hier eines Mannes zu einer Frau, kann als ein rein natürliches Phänomen begriffen werden. Zwar ist auch der Mensch den großen zyklischen Verläufen unterworfen, nicht aber seine Leidenschaft. Sie ist entkoppelt vom Jahresrhythmus, kann sich ereignen zum falschen Zeitpunkt, beim falschen Objekt. Scheitern an der Macht der Zeit, die Ohnmacht des Menschen, das Scheitern an der Natur: Liebe, Leidenschaft sind genuin menschliche Phänomene. Tiere kennen sie in diesem Sinne nicht. Goethe sucht Zeit seines Lebens einen Ausweg aus der ebenso natürlichen wie unnatürlichen Krankheit, die aus der Passion hervorgeht. Die eine Tendenz ist die Richtung auf Natur. Wer es vermöchte, mit der Natur eins zu werden, der entkäme der ebenso natürlichen wie unnatürlichen Krankheit. Die gesamte Anstrengung Goethes, die Natur zu verstehen, wird im Licht der Trilogie verblüffend verständlich als der ungeheure Versuch, dem Unnatürlichen zu entkommen, welches das Menschenlos ist. Der Trilogie der Leidenschaft zufolge ist es die paradoxe Leistung der Kunst, dem Menschen die ihn/sie überlastende Überfülle 54
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als Glück erfahrbar zu machen, die im Verhältnis zur Welt regelhaft in unendlichen Mangel umschlägt. Das Glück der Leidenschaft wird erst erfahrbar durch deren Sublimierung im Kunstwerk. Das ist Goethes Formel der gelungenen Sublimierung, die er aus dem Sublimen – der Überfülle des schlechthin Großen – unmittelbar ableitet. Durch die drei Gedichte der Trilogie zieht sich die Anrufung der dritten Möglichkeit, zu Natur und Unnatur in ein Verhältnis zu treten: Gemeint ist die Übernatur, das Göttliche, die Religion. Wenn der Mensch verstummt in seiner Qual, so wünscht Goethe, möge ein Gott ihm helfen, dass er sagen könne, was er leide. Das berühmt gewordene Motto der Elegie ist dann direkt dem Tasso entnommen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.
Die Verse aus dem Tasso sind vielfach aufgefasst worden als gnomische Verdichtung der Freud’schen Sublimierungslehre. Dieser zufolge unterscheidet den Künstler vom Menschen, dass er seine in der Wirklichkeit frustrierten Wünsche nach Macht, Erfolg und erotischer Erfüllung in Phantasien und Tagträumen befriedigt, die sich, zum Kunstprodukt ausformuliert, sozial rentieren, womit dem Künstler zuletzt real zufällt, was er sich zunächst nur erträumte. Der Erfolgsautor Goethe wäre selbst das große Beispiel für diesen Vorgang. Das Drama Tassos zeichnet ein anderes Bild: Goethe schildert das soziale Scheitern des Künstlers, der im Kampf um das ihm von der Macht entwundene Werk seine Reputation vernichtet und seine materielle Stellung ruiniert. Die zitierten Verse formulieren im Einklang mit dieser Tragödie des modernen Künstlers eine andere Konzeption als diejenige Freuds: Der Unterschied zwischen Künstler und Mensch besteht nicht in der Möglichkeit der Abfuhr der frustrierten Triebwünsche, sondern nur in deren schöner Artikulation: Der Gott hilft dem Künstler zu sagen, was er leidet, nicht aber, durch dieses Sagen das Leiden zu lindern oder zum Verschwinden zu bringen. Tasso ist unglücklich, und er scheitert, obwohl er begeisternd schreibt; das Ende stellt gelungenes Leben für ihn nicht in Aussicht. Es ist das Leiden, es ist die Erfahrung, nur nicht im Modus des Schweigens, sondern im Modus der Rede. Tasso ist kein neurotischer Künstler, der im Missverhältnis zur realen Welt steht, sondern der Heros der Moderne, der das Realitätsprinzip selbst attackiert. Freud hatte gemeint, der Künstler bereite dem Konsumenten sanfte Vorlust. Der Künstler, wie Goethe ihn zeichnet, bedeutet eine Erschütterung der Welt. Tasso lässt alle seine Mit- und Gegenspieler verändert zurück, konfrontiert sie mit einer ungeheuren Erfahrung, die sensu 55
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stricto »unvergleichlich« ist. Es ist Antonio, der pragmatische Weltmann und aggressive Repräsentant des Realitätsprinzips, der den bleibenden Schock am Ende entsetzt resümiert. Wenn es nichts gibt, womit man die erschütternde Erfahrung der Kunst vergleichen kann, so durchschlägt sie die gegebenen Raster der Wahrnehmung und Erkenntnis; ihr eignet eine ontologische Wucht, weil sie begreiflich macht, was Liebe ist, unsere UnNatur: Unglücklicher, noch kaum erhol’ ich mich! Wenn ganz was Unerwartetes begegnet, Wenn unser Blick was Ungeheures sieht, Steht unser Geist auf eine Weile still, Wir haben nichts, womit wir das vergleichen.70
Das Unerwartete, das Ungeheure, mit nichts zu Vergleichende kehrt in der Trilogie wieder als die Rede vom Allzuvielen, Überschnellen, als Rede von der Überfülle und vom Überreichen. Was sich hier zeigt, ist der Gedanke, dass die Idee von Sublimierung von ihrem resignativen Moment zu entlasten, umzukehren und zu begreifen wäre als die Erscheinung des Sublimen, des schlechthin Großen. Die Erfahrung und die Existenz des Künstlers, die Produktion wie auch die Reproduktion der Werke schaffen keine Vorlust und keine Erleichterung. Kunst eröffnet vielmehr den Blick auf ein Ungeheures, das den Atem verschlägt und den Geist für einen Augenblick zum Stillstand kommen lässt, weil ein Unvergleichliches erscheint. Sichtbar wird etwas, das mit nichts verglichen werden kann, etwas, das sich der differentiellen Ordnung von Teil und Gegenteil entzieht: »Wir haben nichts, womit wir das vergleichen.« Kunst und Künstlerexistenz sind eine Überschreitung in Richtung auf ein schlechthin Ungeheures, das der ästhetischen Theorie zufolge das Sublime ist. Die Produktion und Rezeption von Kunst räumen nicht weg oder ersetzen oder verdecken auch nur, was nicht zu ertragen ist, weil es ungeheuerlich ist. Kunst stellt aus und lässt zur Erfahrung werden, was ungeheuerlich ist, die unstillbare Passion, das Begehren. Erst durch die Sublimierung, lehrt Goethe, wird das ungeheure Ausmaß dessen sichtbar und als Erschütterung erfahrbar, was sublimiert werden sollte und im Kunstwerk sublimiert wird, indem es zur Erscheinung gebracht, ausgesprochen wird. Nicht verschwindet das Ungeheure durch Kunst, sondern es erscheint in ihr: Überfülle, Überreiches, Allzuvieles, Allzuschnelles,
70. Johann Wolfgang Goethe: Tasso (Anm. 24), Vers 3289ff.
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Alles. Goethe schreibt daher eine Trilogie der Leidenschaft, eine Trilogie, die die Leidenschaft selbst schreibt, beziehungsweise diktiert, und nicht eine Trilogie jenseits der Leidenschaft. Sublimierung heißt, dass in der Kunst erfahren werden kann, was im Leben vernichtend ist. Und das ist Goethes Begriff des Glücks.71
71. In einem jüngst erschienenen Aufsatz hat Ernst Osterkamp eindringlich
auf Einsamkeit als das große Problem in Leben und Werk des späten Goethe hingewiesen und Goethes Bewältigungsstrategien rekonstruiert, deren Ziel allerdings »nicht die Aufhebung der Einsamkeit als vielmehr deren Transformation aus einem auferlegten negativen Schicksal in einen selbstgewählten Zustand der schöpferischen Abgeschiedenheit, der freiwilligen Isolation« gewesen sei. Als »Transformation« kann Goethes energischer und vielfach erfolgreicher Versuch der Einsamkeitsbewältigung als weitere Variante von Sublimierung beschrieben werden. Doch wie im Fall der Passion, so bleibt auch im Fall der Sublimierung von Einsamkeit ein unsublimierbarer, schmerzender Rest, der Erdenrest der Empirie, der zu tragen peinlich bleibt: »Was er an die Öffentlichkeit nicht dringen lassen wollte, hat Goethe aber den engsten Freunden gegenüber immer wieder als seine durch das Entsagungskonzept nicht zu bewältigende Empirie der Einsamkeit thematisiert«. Auch hier erweist sich der alte Goethe, wie schon im Hinblick auf die Passion, erneut als Ahnherr des 20. Jahrhunderts, dessen Existentialismus zwar immer wieder eine ›existentielle Einsamkeit‹ der Differenz beschwor, in den besten Texten aber diese Erfahrung ›existentieller Einsamkeit‹ vermittelte durch die Darstellung trostlosen empirischen Alleinseins in sozialer Isolation. Ernst Osterkamp: »Einsamkeit. Über ein Problem im Leben und Werk des späten Goethe«. Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Mainz. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 2008. Nr 1., Stuttgart 2008, S. 8 u. 4.
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II. Der Klang der Psychoanalyse. Ar thur Schopenhauer Non multa
1. Die Welt als ›Gehirn und Genitalien‹ Auch Arthur Schopenhauer hielt Torquato Tasso für »besonders lehrreich«, jenes Schauspiel, in dem Goethe »uns nicht nur das Leiden, das wesentliche Märtyrertum des Genius als solchen, sondern auch dessen stetigen Übergang zum Wahnsinn vor die Augen« stelle.1 Wie im vorangehenden Kapitel erörtert, finden sich im Tasso die berühmten Verse, die das Privileg des Talents innerhalb einer Welt des Leidens formulieren und noch 1823 das Motto der Marienbader Elegie spenden werden, die das Zugrundegehen eines Menschen im Leiden aufzeichnet: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.2
Indem Goethe die Trilogie der Leidenschaft beschließt mit einem Gedicht über die therapeutische, heilsame Funktion der Musik, vollzieht auch er den Übergang, den Schopenhauer bereits 1819 innerhalb der ästhetischen Ordnung der Dinge einleitete.3 Musik artikuliert das Ungeheuerliche, die 1. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Frankfurt a.M. 1986, S. 273. 2. Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso, in: Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 5, hg. v. Erich Trunz, München 1982. Letzte Szene. 3. Da Schopenhauers Hauptwerk bereits 1819 erschien und Goethe darin ge-
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Einsicht, dass es etwas Drängendes gibt jenseits der in Teil und Gegenteil zerfallenden Welt der Erscheinungen. Musik ist, so Schopenhauer, »von der erscheinenden Welt ganz unabhängig, ignoriert sie schlechthin, könnte gewissermaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehn«. 4 Der hochmütigste Satz der Metaphysik der Musik dokumentiert nur dann nicht den Übergang vom Ungeheuerlichen in den Wahnsinn oder Unsinn, wenn die Welt strikt geteilt wird in Vorstellung und Wille, dessen beständiges Drängen in der Musik erklingt. Schopenhauers Philosophie ist, so notiert Thomas Mann in Erinnerung an die frühe Begegnung mit ihr, »Todes-Erotik als musikalisch-logisches Gedankensystem, geboren aus einer enormen Spannung von Geist und Sinnlichkeit – einer Spannung, deren Ergebnis und überspringender Funke eben Erotik ist: das ist das Erlebnis verwandt entgegenkommender Jugend mit dieser Philosophie, die sie nicht moralisch, sondern vital, sondern höchst persönlich versteht, – nicht nach ihrer Lehre, ich meine: nach ihrer Predigt, sondern nach ihrem Wesen, – und die sie recht damit versteht.«5
Sobald man sich erlaubt, mit dem viel bewunderten Titel des Hauptwerkes über Die Welt als Wille und Vorstellung ein wenig zu spielen, wird das historische Janusgesicht der Philosophie Schopenhauers sichtbar: als markante Formulierung eines womöglich irreversiblen Übergangs. Liest man den Titel mit Blick auf Motto6 und Anhang 7 im Sinne von Die Welt als Goethe und Kant, ordnet man das Buch der Zeit der Erstveröffentlichung zu, dem Jahre 1819. Das Hauptwerk erscheint als der ambitionierte Versuch, das Verhältnis zwischen Transzendentalphilosophie und Goethe’scher Intuition neu zu konturieren, als das Unternehmen, die zwei mächtigsten Tendenzen des Zeitalters zu integrieren. Schopenhauer radikalisiert den transzendentalen Idealismus im ersten Buch. Im zweiten Buch wagt er in einem vielfach als denkerisch unzulänglich kritisierten Analogieschluss8 lesen hat, kann man vermuten, dass die Metaphysik der Musik womöglich von Einfluss war auf die Aufwertung der Musik bei Goethe in den kommenden Jahren. Allerdings geben die vorliegenden Dokumente zur Entstehungsgeschichte der Trilogie der Leidenschaft keine Auskunft über einen solchen Zusammenhang. 4. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 359. 5. Thomas Mann: Schopenhauer (1938), in: Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M. 1990, S. 528-580, hier: S. 560. 6. »Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe. Goethe« 7. »Kritik der Kantischen Philosophie« 8. Vgl. etwa Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Bd. 1, 2. Aufl ., Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1988, S. 471.
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II. Der Klang der Psychoanalyse
eine Antwort auf die Frage nach dem bei Kant unerkennbaren ›Ding an sich‹. Im Ausgang von unserer Leiberfahrung, die er eine unmittelbare und das Wesen der Welt erschließende nennt, bestimmt er als das Ding an sich den Willen, der blindes Drängen sei, ein undifferenziertes Eines und vollkommen grundlos: »[A]lle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt ist Erscheinung. Ding an sich aber ist allein der Wille.«9 Von Kants Kritizismus bleibt der am Leitfaden der Kausalität gewobene täuschende Schleier der Maja, von der herrlich leuchtenden, geschauten Natur Goethes eine grauenerregende Welt, deren obsessive Beschreibung hervortreten lassen soll, »wie wesentlich alles Leben Leiden ist«.10 Die Fusion Kants mit Goethe bedeutet zugleich eine Transformation von Ästhetik und Ethik. Die Erscheinungswelt (mit der Musik nichts zu schaffen hat) ist in Schopenhauers Perspektive schön nur als Objekt interesse-, und das heißt nun: willenloser Betrachtung der Oberflächen, als Stilleben, als nature morte. Gewendet ins Ethische wird von der Versenkung ins Wesen der Welt einzig das Mitleid als moralische Triebfeder anerkannt. Im Mitleiden, dem transzendenten Affekt, erfahren wir die Einheit des Willens hinter allen durch Raum und Zeit individualisierten Erscheinungen. Im Mitleiden gewinnen wir das vom »kolossalen Egoismus«11 frei gewordene Bewusstsein einer Einheit des inneren Wesens in jedem Lebenden, »für welche im Sanskrit die Formel ›tat-tvam-asi‹, d.h. ›dies bist Du‹ der stehende Ausdruck ist«.12 Der Künstler, dessen höchste Gestalt der Komponist und für Schopenhauer konkret: Beethoven ist, vollendet sich innerhalb des Systems im resignierenden Asketen und zuletzt im Heiligen. Während für Hegel in der Phänomenologie des Geistes von 1806 aus dem Champagnerglas des begriffenen Geisterreiches die Unendlichkeit noch triumphal entgegenschäumte, wird 1819 für die wirklich Erleuchteten, »in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – nichts.« 13 Wenn man Friedrich Nietzsche in der These folgt, dass sich ein Grundkonflikt der okzidentalen Kulturgeschichte zentriert um Sublimierung als Steigerung mit dem Ziel der großen Selbstbeherrschung einerseits, und ›falsche‹ Sublimierung als Schwächung und Abtötung der Triebe anderseits – um einen Grundkonflikt, für den antikes Griechenland und Christentum bei Nietzsche exemplarisch 9. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 170. 10. Ebd., S. 426. 11. Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1986, S. 728. 12. Ebd., S. 809. 13. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 558.
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einstehen,14 dann findet Schopenhauer seinen Ort eindeutig auf Seiten der Schwächung und endlichen Abtötung der Triebe. In der Götzendämmerung schreibt Nietzsche daher: »[Schopenhauer] ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des ›Willens zum Leben‹, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der ›Verneinung‹ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des ›Willens‹ interpretirt – die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christentum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe der christlichen Interpretation.«15
Verdeutlicht man sich den großen Einfluss der Philosophie Schopenhauers auf Sigmund Freud, kann man aus dieser Perspektive zu der Vermutung gelangen, dass der bei Freud selbst schillernde Begriff der Sublimierung zuletzt ebenfalls in Richtung auf die Schwächung und Abtötung tendiere. Und deshalb ist ein Blick auf Schopenhauer zur Vorbereitung nicht nur der Nietzsche-, sondern auch der Freudlektüre aufschlussreich: Liest man den Titel des Hauptwerkes als Die Welt als das Ich und das Es oder, mit Thomas Mann, als Die Welt als ›Gehirn und Genitalien‹, 16 ordnet man Schopenhauer dem 20. Jahrhundert zu.17 Das Buch erscheint dann ebenfalls, 14. Vgl. hierzu das folgende Kapitel. 15. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: Kritische Studienausgabe Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 125. 16. Vgl. Thomas Mann: Schopenhauer (Anm. 5), S. 547. 17. Den eigentlichen Höhepunkt seiner Popularität erlebte Schopenhauer bekanntlich im 19. Jahrhundert, in dem Freud und Thomas Mann sozialisiert wurden. Den Schopenhauer des 19. Jahrhunderts, das sich auch im Spätwerk des Philosophen, insbesondere als aggressiver Antisemitismus, niedergeschlagen hat, studiert etwa Max Horkheimer, der auch den Grund für die Popularität des notorischen Pessimisten im Zeitalter des Hochkapitalismus namhaft macht: »Die pessimistische Philosophie wurde zur Rationalisierung des beunruhigenden Zustands in der Wirklichkeit. Sie half dazu, das Ausbleiben der vom technischen Fortschritt erwarteten Erleichterungen aufs Wesen der Welt zu schieben, anstatt das heraufziehende Unheil aus einer Verfassung der Gesellschaft herzuleiten, in der die Technik den Menschen über den Kopf gewachsen ist.« Max Horkheimer: »Schopenhauer und die Gesellschaft« (1955). In Ders.: Sozialphilosophische Stu-
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aber in die Zukunft gewendet, als Markierung einer Wasserscheide des Diskurses, als Übergang von Philosophie in Wissenschaft. Nach Abzug der philosophisch nicht explizierbaren Mystik bleiben als von Arnold Gehlen inventarisierten Resultate Schopenhauers philosophische Anthropologie18 sowie: Psychoanalyse. Der Durchbruch wäre darin zu sehen, dass Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe als einer der ersten die zentrale Bedeutung des Sexualtriebs erkennt, den er als den »Brennpunkt« des Willens namhaft macht.19 Die Perspektive, diesen Brennpunkt des Willens kraftvoll zu sublimieren, gibt es indes in der gespaltenen Welt Schopenhauers nicht. Freud hat gleichwohl konzediert, dass Schopenhauer als einer der Entdecker des Unbewussten zu gelten habe, da »dessen unbewusster ›Wille‹ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist«.20 Der Titel eines der dem Hauptwerk beigegebenen Essays behauptet dien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972, Frankfurt a.M. 1981, S. 68-77. Hier: S. 71. Zur Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert, insbesondere zu den Überschneidungen mit Marx vgl. auch: Alfred Schmidt: Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels, München 1988. 18. Arnold Gehlen: »Die Resultate Schopenhauers«, in: Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1989, S. 25-49. Vgl. hierzu unten das Kapitel über Friedrich Nietzsche. 19. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 289. 20. Sigmund Freud: »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« (1917). In ders.: Darstellungen der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1971, S. 130-138. Hier: S. 138. Vgl. zur Schopenhauer-Rezeption Freuds grundlegend: Aloys Becker: »Arthur Schopenhauer – Sigmund Freud. Historische und charakterologische Grundlagen ihrer gemeinsamen Denkstrukturen«, in: Schopenhauer-Jahrbuch 1971, S. 114 – 156. Auf S. 115 formuliert Becker summarisch die Punkte, an denen Schopenhauer Freud vorgearbeitet habe: »Die seelischen Instanzen (Wille/Intellekt – Es/ Ich); das Funktionieren des ›seelischen Apparates‹ nach Maßgabe von assoziationspsychologischen, dynamischen und ökonomischen Gesetzen; die scheinbar materialistische Auffassung seelischer Vorgänge; das Verstehen des Leib-SeeleProblems im Sinne der psycho-physischen Einheit; das Postulat des durchgehenden Determinismus im Bereich des Empirisch-Seelischen; die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge (unbewußtes Denken); die das seelische Leben bestimmenden Prinzipien (Entzweiung des Willens – Lust- und Realitätsprinzip); Nirwana-Prinzip; die Gefühlsambivalenz (Identifikation, geheime Todeswünsche); die Verdrängungslehre; Reaktionsbildungen und Sublimation; die Sexualpsychologie (Bisexualität, Sexualneurosen, Perversionen); die Traumpsychologie (die ›via regia‹ zum Unbewußten); die Religionspsychologie […]; die metaphysischanthropologischen Grundpositionen.« Während Becker auf den Nachweis einer starken Abhängigkeit Freuds von Schopenhauer hinaus will, kommt Günter Gödde
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daher konsequent, in provokanter Umkehrung der idealistischen Philosophie, den Primat des Willens im Selbstbewußtsein. Die folgende Passage liest sich wie der früheste Entwurf dessen, was später als Freuds zweite Topik berühmt werden wird, und zwar im Zeichen einer Erkenntnis des Unbewussten aus dem Klang: »Daher muß auch im Selbstbewußtsein das Erkannte, mithin der Wille das Erste und Ursprüngliche sein; das Erkennende hingegen nur das Sekundäre, das Hinzugekommene, der Spiegel. Sie verhalten sich ungefähr wie der selbstleuchtende Körper zum reflektierenden; oder auch wie die vibrierende Saite zum Resonanzboden, wo dann der entstehende Ton das Bewußtsein wäre. – Als ein solches Sinnbild des Bewußtseins können wir auch die Pfl anze betrachten. Diese hat bekanntlich zwei Pole, Wurzel und Krone: jene ins Finstere, Feuchte, Kalte, diese ins Helle, Trockene, Warme strebend, sodann als den Indifferenzpunkt beider Pole da, wo sie auseinandertreten, hart am Boden den Wurzelstock (rhizoma, le collet). […] Die Wurzel stellt den Willen, die Krone den Intellekt vor, und der Indifferenzpunkt beider, der Wurzelstock, wäre das Ich, welches als gemeinschaftlicher Endpunkt beiden angehört.«21
Hält man die Illustration, die Freud der Einführung der zweiten Topik in Das Ich und das Es beigefügt hat, neben diese erstaunliche Charakteristik, wird die Nähe der Psychologie des Unbewussten zur Philosophie Schopenhauers evident. Wie der Wurzelstock bei Schopenhauer, so ist auch noch bei Freud das Ich »vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen.«22 Der Abschied von der klassizistischen Ideenwelt Schopenhauers mit ihren schönen und graziösen Gestalten kann allerdings kaum drastischer illustriert werden als durch diese hässliche Zeichnung, die den psychischen Apparat als einen eigentlich amorphen Kloß oder als eine Art von Dudelsack mit kleiner Öff nung präsentiert. Der Titel der Schrift von 1923 ist zwar als Paraphrase von Die Welt als Wille und Vorstellung lesbar, formuliert aber zugleich eine Inversion: Bei Freud kommt das Ich zuerst, das der Ethik der Psychoanalyse zufolge dort werden soll, – »Schopenhauers Entdeckung der Psychologie des Unbewußten«, in: Schopenhauer-Jahrbuch, 86. Band 2005, S. 5-36 – zu einer nüchternen Einschätzung, die m.E. adäquater ist: »Die auffälligen Übereinstimmungen in den Psychologien Schopenhauers und Freuds sprechen für die Annahme, dass die Grundstruktur der Freudschen (Meta-)Psychologie des Unbewussten in Schopenhauers ›philosophischen Entdeckungen‹ vorgeprägt ist.« S. 32. 21. Arthur Schopenhauer: Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1986, S. 261. 22. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 292.
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wo einmal Es war. Die Inversion Schopenhauers wird schließlich sekundiert durch den seltsamen Hinweis darauf, »dass das Ich eine ›Hörkappe‹ trägt, nach dem Zeugnis der Gehirnanatomie nur auf einer Seite. Sie sitzt ihm sozusagen schief auf«.23 Mit seiner Zeichnung weist Freud die Metaphysik der Musik implizit zurück. Schopenhauers Pessimismus überlebt als hässliche Zeichnung unseres amorphen Seelensacks, und entzaubert kehrt seine Musiktheorie wieder als schief sitzende Kappe. Man kann die Passage kaum lesen, ohne Richard Wagners ebenfalls schief aufsitzendes Samtbarett zu assoziieren, womöglich nicht ganz zu Unrecht. Entscheidend für Schopenhauers strikt dualistische Philosophie ist, dass er, anders als Freud, der die strömende Einheit des wie auch immer amorphen Seelensacks pointiert, nicht die Metaphorik der Pflanze begrifflich fruchtbar zu machen versteht. Dann hätte er sich die schroff zurückgewiesene Aufgabe eingehandelt, das commercium zwischen Wurzel und Krone, zwischen corpus und mens aufzuhellen, hätte sich also erneut der bislang nicht gefundenen Lösung der Restprobleme des Descartes ausgesetzt. Die als Lösung gemeinte radikale Trennung der Sphären bei Schopenhauer führt dazu, dass das Gleichnis der über den Resonanzboden des Willens gezogene Saite dominiert und der Metaphysik der Musik den Weg ebnet, die exakt an die Stelle einer unmöglich gewordenen Sublimierung tritt.
2. Wor tlaut Im Jahre 1920, also seit der Entdeckung eines Jenseits des Lustprinzips, können wir uns nicht mehr verhehlen, schreibt Freud, »daß wir unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen sind, für den ja der Tod ›das eigentliche Resultat‹ und insofern der Zweck des Lebens ist, der Sexualtrieb aber die Verkörperung des Willens zum Leben.«24
Selten genug reist der Begründer der Psychoanalyse in »das verbotene Land« der Philosophie,25 und wenn er das Denken Schopenhauers mit dem suggestiven Topos der Rettung vor stürmischer See, Desorientierung und Lebensgefahr auszeichnet, besteht umso mehr Anlass, aufmerksam zu werden. Doch ist sogleich auf die Ambivalenz der Passage hinzuweisen: Es kann auch geschehen, dass man, wie der Kapitän in Peter Jacksons psychoanalytischer Verfi lmung von King Kong, aus dem Nebel kommt und, 23. Ebd., S. 293. 24. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920) Bd. 3, S. 259. 25. Becker: »Arthur Schopenhauer – Sigmund Freud« (Anm. 20), S. 146.
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unversehens, in einen Hafen einläuft, der nicht angepeilt war: Der Hafen der Schopenhauer’schen Thanatologie bietet zwar die Gelegenheit zu einer Atempause, doch muss Skull Island möglichst rasch wieder verlassen werden. Angesichts der großen Bedeutung der Schrift über das Jenseits des Lustprinzips für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse, die dualistische Triebtheorie, die Traumatheorie, für die Ausbildung der neuen Topik aus Es, Ich und Überich und also für die neue Fassung des Begriffs der Sublimierung, scheint es daher ratsam, die Konzeption Schopenhauers etwas genauer zu betrachten. Denn das Projekt der Psychoanalyse ist nun einmal für einen Moment in den düsteren Hafen dieses Denkens eingelaufen. Bei dem Versuch, den starken Einfluss Schopenhauers auf Freud, der im übrigen gut rekonstruiert worden ist, besser zu verstehen, stellt sich eine Frage, die nun exponiert werden soll: Wie musikalisch ist die Psychoanalyse? Oder: Wie musikalisch darf oder muss die Psychoanalyse werden? Die Frage drängt sich auf, weil sich in Schopenhauers Ästhetik die bereits erwähnte Umwertung innerhalb der Hierarchie der Künste vollzieht. Die Poesie, kulminierend in der Tragödie, wird entthront, und an ihre Stelle tritt die Musik: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und ein Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs gleich den anderen Künsten das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst […]: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen. [Insofern die Musik das unmittelbare Abbild des Willens ist, stellt sie] zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich [dar].«26
Angesichts dieser sehr einflussreichen Metaphysik der Musik27 kann man vermuten, diese sei auch von Relevanz für die Entwicklung einer Seelenkunde gewesen, die Schopenhauers Begriff des Willens explizit als verblüffende Antizipation der Annahme unbewusster Triebe anerkannte. Aber es 26. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 359 u.
S. 366. 27. Vgl. hierzu: Lydia Goehr: »Schopenhauer and the musicians: an inquiry into the sounds of silence and the limits of philosophizing about music«, in: Schopenhauer, philosophy and the arts, ed. by Dale J. Jacquette, Cambridge 1993, S. 200-228. Zum musikologischen Wissen vgl. im selben Band den Aufsatz von Lawrence Ferrara: »Schopenhauer on music as the embodiment of Will«, S. 183-199.
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zeigt sich, dass Freud die Musik entschieden abwehrt. In der Studie zum Moses des Michelangelo teilt er mit: »Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien. Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen, d.h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das nicht kann, z.B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig. Eine rationalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum ich es bin und was mich ergreift.«28
Substituiert man in dieser Passage ›Musik‹, das Erklingen des Willens, durch ›das Unbewusste‹, wird der Zusammenhang sichtbar, der hier diskutiert werden soll. Freud bestätigt Schopenhauers Thesen zur Musik, insofern er ihre Wirkung als ergreifend beschreibt und auf Musik in exakt der Weise reagiert, wie er auf die Effekte des Unbewussten reagierte: mit dem Entschluss, durch den Verstand und durch Ausbildung seiner ›analytischen Anlage‹ die Gründe ausfindig zu machen für dieses Ergriffensein, von dem er sich dadurch wieder emanzipiert. Beide, Schopenhauer und Freud, entdecken das Unbewusste. Schopenhauer aber erklärt eine Kommunikation mit dem Unbewussten, im Interesse einer möglichen Sublimierung, die keine Abtötung wäre, für unmöglich. Er reagiert resignativ und bestimmt als Kompensation im kühnen Analogieschluss die Musik als »eine im höchsten Grad allgemeine Sprache«,29 der wir uns erschüttert hingeben, ohne sie jedoch jemals verstehen, aufklären, einer analytischen Durchdringung zugänglich machen zu können. In der traditionellen Definition ist Metaphysik formal der Versuch, das Ganze im Medium des Begriffs, also in der Sprache zu reproduzieren; Metaphysik ist die »gedankliche[] Wiederholung alles dessen, was ist«.30 Metaphysik kann dann inhaltlich, mit Schelling, als das Projekt bestimmt werden, den totalen Gegensatz zwischen der »vollkommenen Subjektivität alles Denkens und Erkennens« und der »gänzlichen Gedanken- und Vernunftlosigkeit der Natur« dadurch aufzuheben, dass man »die Identität [der Natur] mit dem Geistigen« erkennt.31 Angesichts dieser Bestim28. Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo (1914), Bd. 10, S. 197. 29. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 365. 30. Odo Marquard: Skeptische Methode mit Blick auf Kant, 3. Aufl ., Freiburg/ München 1982, S. 11. 31. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), Frankfurt a.M. 1975, S. 29.
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mungen ist Schopenhauers Hauptwerk überhaupt keine Metaphysik mehr, sondern, als die kompromisslose Festschreibung des Gegensatzes zwischen Vorstellung und Wille, das Ende der Metaphysik. Schopenhauers Philosophie ist, als zerbrochener Schelling, wesentlich stumm, ist faktisch ein Zeigen, ein Hinweis auf die Musik, die zwar den Körper erschüttert und zum Klingen bringt, dessen Willen aber nicht verständlich machen kann: Geist und Körper werden voneinander gerissen, stehen in Feindschaft zueinander. Die Drastik der Schilderungen unseres Elends kann über deren traurige Leere täuschen, das Arsenal transzendentalphilosophischer Begrifflichkeit unsichtbar werden lassen, dass Metaphysik bei Schopenhauer aufgegeben ist, an deren Stelle Musik erklingt. Das nachmetaphysische Denken seit 1819 kann angesichts dessen als Versuch verstanden werden, den festgeschriebenen Gegensatz zwischen Vorstellung – Sprache – und Willen – Musik – anders als idealistisch zu vermitteln, und zwar durch die Entdeckung der musikalischen, und das heißt hier: der erotischen Dimension der Sprache. Zwischen Literatur und Psychoanalyse als zwei prominenten Modi der Arbeit mit Sprache überbrückt die Formel aus dem Tod in Venedig, der zufolge »Eros im Worte« sei.32 In seinem Schopenhauer-Essay von 1938, der – im Lichte historischer Erfahrung – die eigene Produktion dezidiert als den Weg von Schopenhauer zu Freud charakterisiert, postuliert Thomas Mann folgerecht die Wechseldurchdringung von Wille und Vorstellung im bezaubernden Wort, das Sublimierung nicht als Abtötung evoziert, sondern die Integration von Wille und Vorstellung im Klangkörper der Sprache figuriert: »Wie, wenn [Schopenhauer die Einheit von Welt und Vorstellung, E.G.] in seinem Künstlertum, seinem Genie gefunden, wenn er verstanden hätte, daß Genie durchaus nicht stillgelegte Sinnlichkeit und ausgehängter Wille, – Kunst nicht spirituelle Objektivität bedeutet, sondern daß sie die produktive und lebenerhöhende Vereinigung und Wechseldurchdringung der beiden Sphären ist, – bezaubernder, als jede für sich, Geschlecht oder Geist, je sein kann? […] Bei Schopenhauer schlägt die geniale Verstärkung beider Sphären ins Asketische um. Ihm ist das Geschlecht eine teuflische Störung der reinen Kontemplation und die Erkenntnis jene Verneinung des Geschlechts, welche spricht: ›Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus.‹«33
Im Kontext der Suche nach einer nachmetaphysischen Vermittlung des Gegensatzes von blinder Natur und leerer Subjektivität gewinnt eine wei32. Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1911), in: Gesammelte Werke Bd. 8, Frankfurt a.M. 1990, S. 492. 33. Mann: Schopenhauer (Anm. 5), S. 575.
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tere, womöglich missverständliche Bemerkung Manns aus dem Schopenhauer-Essay ihren prägnanten Sinn: »Um Annehmbarkeit aber handelt es sich, wenn man von Wahrheit spricht. Die Wahrheit, scheint mir, ist nicht an Worte gebunden, sie fällt nicht mit einem bestimmten Wortlaut zusammen, – vielleicht sogar ist das ihr Haupt-Kriterium.«34
Die Nuance des Satzes besteht darin, dass hier nicht die Sprache aufgegeben wird zugunsten der sprachjenseitigen Sprache der Musik, sondern der Akzent auf den Klang der Sprache gelegt wird, auf den Wort-Laut. Der Wille bleibt, was er ist, das beständige Drängen des Triebs: »[U]nermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch […], bis wir auf einen Wunsch treffen, der nicht erfüllt und doch nicht aufgegeben kann«.35 Mit dieser rechtschaffenen Bemerkung formuliert Schopenhauer bündig die Herausforderung jeder Theorie der Sublimierung. Über ihr schwebt die von Freud wiederholt formulierte Einsicht, dass wir eigentlich auf nichts verzichten können, weshalb der Schleier der Trauer und der Schatten der Aggression über aller Sublimierung zu hängen scheinen. Diese ›Wahrheit‹ Schopenhauers wird weder von Thomas Mann noch von Freud je bestritten. Das Bewusstsein bleibt die über dem Resonanzboden des Willens gezogene Saite. Doch erklingt das, was der Wille will, eben auch in der Sprache. Freud folgt der venezianischen Formel, dass »Eros im Worte« sei, doch nicht vorab poetisch, sondern – natürlich – analytisch: Freud entwirft und realisiert dann als Therapeut das Projekt einer möglichen Übersetzung der Klänge des Traumes und des Gesprächs: Er wendet die Kunst des geschulten, des strukturierten Hörens an auf die Effekte des Unbewussten in der menschlichen Sprache. Freud hört auf Obertöne, Zwischentöne des Diskurses, ist aufmerksam auf Dissonanzen, auf Modulationen in der Stimme, sucht nach Leitmotiven, signifikanten Pausen, nach Rhythmen und deren Widerlager und Unterbrechung, nach kreischenden, schrillen Tönen, Missklängen, neuen Themen etc. Das Verfahren der freien Assoziation erweist sich als die verblüffend genaue Übertragung der Technik freier musikalischer Improvisation auf die Sprache. Schopenhauers Metaphysik verstummt, an die Stelle der Arbeit am Begriff, die als reiner Spiegel auf der Ebene der Erscheinungen verbleibt, tritt der schweigende Hinweis auf die eigentliche Musik, deren Sprache aber eine uneigentliche, unverständliche bleibt. Freud reagiert rational: Er wehrt die eigentliche Musik ab, konzentriert sich auf die menschliche Sprache und versucht diese so zum Klingen zu bringen, dass deutlich wird, was der Wille des Analysanden ist. 34. Ebd., S. 557. 35. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 437.
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Weder Freud und natürlich noch weniger Thomas Mann haben also einfach etwas gegen Musik. Sie wehren sich nur dagegen, Musik zum Emblem der Resignation und Regression zu promovieren. Von Schopenhauer bleibt bei Mann und Freud die Einsicht, dass sich das Unbewusste niemals wird vollkommen in Sprache auflösen, in die Helle des Begriffs wird heben lassen. Eine berühmte Passage aus der Traumdeutung bietet hier ein Echo der zitierten Stelle aus Schopenhauers Reflexionen über das Rhizom im Essay über den Primat des Willens: »In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei er Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.«36
Die Wahrheit ist in diesem Sinne nicht an Worte gebunden. Das heißt aber auf der anderen Seite nicht, dass aus der Unmöglichkeit einer vollkommenen Versprachlichung der Wahrheit, dass aus dem Ende der Metaphysik zwingend die musikalische Resignation und Regression folgte. Aus der Beobachtung, dass sich die Wahrheit darüber, was wir wirklich wollen, was Es wirklich will, nicht mit einem bestimmten Wortlaut zusammenfällt, folgt für Freud und Mann vielmehr die Forderung, immer neue Wortlaute zu produzieren oder auf Wort-Laute zu hören. Im Laut des Wortes erklingt die Wahrheit, auch über den Leib: Indem sie sich von der Musik abwendet, wird Psychoanalyse selbst musikalisch. Schopenhauers Metaphysik verendet im melancholischen Gestus des Zeigens. Auf die Resignation hat Freud mit einer berühmt gewordenen begrifflichen Kompromissbildung reagiert, die das Moment des Ergriffenseins und die rationalistische Reserve und die Analyse ihrerseits erklingen lässt. Er hat den methodologischen Reflexionen einen Titel gegeben, der im Rahmen nachmetaphysischen Denkens den Überschuss metaphysischen Fragens festhält, die Einsicht, dass die Wahrheit nicht mit einem bestimmten Wort-Laut zusammenfällt. Metaphysik ist in Metapsychologie übergegangen.37
36. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900), Bd. 2, S. 503. 37. Vgl. hierzu: Achim Geisenhanslüke: Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift, Bielefeld 2008, S. 115-128.
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3. Melancholie Insofern die schroffe Zurückweisung jeglicher Vermittlung zwischen der Welt der Vorstellung und der Welt des Willens konstitutiv ist für Schopenhauers Sicht der Dinge, kann man den skizzierten Bemühungen um Vermittlung entgegenhalten, sie seien nicht aus Schopenhauer heraus entwickelt. Genau diese These soll bestritten oder doch abschließend so auf sie repliziert werden, dass ein Denkfehler Schopenhauers erkennbar wird, der über den Dualismus hinausweist: Schopenhauer naturalisiert beides, Mitleid und Musik, die in seinem System darin konvergieren, die unmittelbare Erfahrung des Willens, der All-Einheit, zu eröff nen. Die Alltagssprache registriert die Konvergenz im später von Adorno elaborierten Begriff der »Erschütterung«.38 Wir werden erschüttert von großer Musik oder wenn wir großes Mitleid haben. Es geht hier also nicht um den von Walter Gebhard vorzüglich geführten Nachweis der Inkonsistenz des Analogiedenkens: »Die Schwierigkeit, der Musik ein spezifisches Abbildverhältnis zur Wirklichkeit zuzuschreiben, löst Schopenhauer durch ›Überbietung mittels Weltgleichnis‹ auf: wenn sie nichts darzustellen hat, wird sie vermutlich die ganze Welt darstellen. Abstraktion löst den Widerspruch.«39
Hinzuweisen ist hier darauf, dass Schopenhauer den einfachen Umstand übersieht, dass beides, Mitleid und Musik, Anthropologica sind. Tiere haben weder Mitleid, noch machen sie Musik. Schopenhauer hört exakt da auf, wo er beginnen müsste. Er will nicht wahrhaben, dass die beiden von ihm ausgezeichneten Phänomene, Mitleid und Musik gleichermaßen, exklusiv menschliche Affekte bzw. kulturelle Praktiken bezeichnen. In dem Augenblick aber, in dem Schopenhauer Mitleid als humanum fassen würde, hätte er den perhorreszierten Schritt zum Denken in der Ethik getan. Darauf hat Ernst Tugendhat hingewiesen: »Die eigentliche Schwierigkeit [von Schopenhauers Ansatz, E.G.] liegt jedoch darin, daß […] das Mitleid als natürliches Gefühl lediglich mehr oder weniger vorhanden ist. Es gibt wohl Menschen, die jedem Leid gegenüber spontan mit Mitleid reagieren, aber die meisten tun das nur partiell, und bei manchen ist der umgekehrte Affekt der Schadenfreude und der Freude an Grausamkeit stärker vorhanden als das Mitleid. Kann denn aber ein solches natürlich vorgegebenes 38. Vgl. unten das Kapitel über Th. W. Adorno. 39. Walter Gebhard: »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984, S. 112.
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und in verschiedenen Graden vorhandenes Gefühl überhaupt Grundlage für ein Verpflichtetsein sein? Sind wir verpflichtet zum Mitleid? Man kann gewiß sagen, wir sollen diesen Affekt als einen generalisierten ausbilden. Aber was sollte uns dazu motivieren, wenn wir nicht eine moralische Sichtweise schon voraussetzen?«40
Die Pointe Tugendhats besteht in der Beobachtung, dass Schopenhauer in der Sekunde, in der er das Mitleid bewertet – je mehr Mitleid, umso besser der Mensch –, faktisch auf die Ebene der Refl exion zurückgekehrt ist. Und dieser Übergang wird nur dadurch ethisch sachhaltig, dass Mitleid ein menschliches und kein natürliches Phänomen im Sinne des reinen Tierreichs ist. Das Argument Tugendhats ist übertragbar auf die von Schopenhauer auf eine Ebene mit dem Mitleid gehobene Musik: In genau dem Moment, indem er begonnen hätte, die menschliche Qualität der Musik zu bedenken, hätte er die Dimension reiner und leerer Performativität überschritten, wäre er einerseits auf die Frage nach der möglichen Referentialität musikalischer Sprache gestoßen sowie im zweiten Schritt konfrontiert gewesen mit dem musikalischen, dem Ausdruckscharakter menschlichen Sprechens. Hier kommt Schopenhauer in den Vorhof der Reflexion, da er Phänomene wie Verdrängung, Rationalisierung und so weiter scharf erkennt. Aber letztlich kann er diese Einsichten nicht mit den Zwängen des Systems in Einklang bringen. Freuds nur fragmentarisch ausgebildete Theorie der Sublimierung stellt, und Nietzsche hat ihm mit seiner gegen Schopenhauer ins Spiel gebrachten ›Entwicklungsgeschichte des Denkens‹ auch hier vorgearbeitet, eine Theorie der Transformation par excellence dar, die diese Prozesse der Übersetzung aus dem Willen ins Wissen in den Blick nimmt. In der entscheidenden Phase der Entwicklung des Sublimierungsbegriffs zwischen 1920 und 1923 wiederholt sich der paradigmatische Konflikt zwischen Schopenhauers dualistischem Denken und dem Denken der Vermittlung. Es stellt sich heraus, dass Freud in der Jenseits des Lustprinzips direkt folgenden Schrift über Das Ich und das Es von 1923 die Theorie der Sublimierung unter Rückgriff auf eine dialektische Figur weiterentwickelt und damit die Dualismen Schopenhauers hinter sich lässt. Nicht nur im Hinblick auf seine Lehre vom Tod, sondern insbesondere im Hinblick auf seine Lehre von der »festen Kontemplation« 41, die den Schein der Welt als sinnlos durchschaut, ist Schopenhauer einschlägig für die Aufarbeitung des Sublimierungstheorems. Die erhabene Konzeption einer vom Drängen des Willens emanzipierten, vollendet objektiven und 40. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1993, S. 182f. 41. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Anm. 1), S. 256.
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daher zeitweilig beseligenden Weltbetrachtung, sieht manchen Beschreibungen, die Freud von gelungener Sublimierung gibt, zum Verwechseln ähnlich. Was bei Schopenhauer die Philosophie war, ist bei Freud die Wissenschaft als zuzeiten asketisches Ideal geworden: »Die Wissenschaft ist eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer psychischen Arbeit möglich bleibt.«42 Mustert man die weit verstreuten Bemerkungen Freuds zur Sublimierung, fällt auf, dass die notorische Unklarheit des Begriffs unter anderem daraus resultiert, dass Freud eine esoterische und eine exoterische Bedeutung unvermittelt nebeneinander bestehen lässt. Es ist bei Freud eine »Minderzahl«, 43 es sind große Individuen und bevorzugt Doppelbegabungen wie Leonardo oder Goethe, denen eine Sublimierung gelingt, die mehr und anderes ist als ein schales Stattdessen. Die Apotheose der esoterischen Sublimierung wird, wie bereits im Zusammenhang mit Goethe erwähnt, im Leonardo-Essay formuliert und diese bestimmt als beglückende Befreiung von aller Autorität. Die exoterische Sublimierung fällt hingegen nahezu ganz mit erzwungenem Triebverzicht zusammen und steht als ein von der Menge nur zähneknirschend akzeptiertes Surrogat beständig in der Gefahr, der Regression, der Entsublimierung anheim zu fallen; laut Freud reicht bereits Alkohol, um Regression einzuleiten: »Wir wissen, daß dies Genußmittel Hemmungen aufhebt und Sublimierungen rückgängig macht.« 44 Beide Formen der Sublimierung bei Freud sind offenbar dem elitären Modell Schopenhauers nachgebildet. Mit seinem dualistischen, hydraulischen Triebmodell, mit dem elitären Begriff von Sublimierung, mit dem pessimistischen Blick auf die Kultur, deren Errungenschaften jederzeit wieder annulliert werden können, steht Freud im Bann des Schopenhauer’schen Denkens. Dies gilt auch für die von beiden Autoren geteilte Ablehnung der Idee der Geschichte. Es ist eine direkte Paraphrase Schopenhauers, wenn Freud in Jenseits des Lustprinzips bemerkt: »Die bisherige Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Erklärung zu bedürfen als die der Tiere.« 45 In der dritten Version des Sublimierungsbegriffs jedoch holt Freud auf der Ebene der Metapsychologie nach, was er mit der Musikalisierung der 42. Sigmund Freud: Beiträge zur Psychopathologie des Liebeslebens (1910), Bd. 5, S. 187. 43. Ders.: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität, Bd. 9, S. 23. 44. Ders.: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) Bd. 7, S. 187. 45. Ders.: Jenseits des Lustprinzips, Bd. 3, S. 251.
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Psychoanalyse der Sache nach begonnen hatte. Der Begriff der Geschichte kehrt zurück. In Das Ich und das Es heißt es: »Vielleicht ist die Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte aufgibt. Jedenfalls ist der Vorgang zumal in frühen Entwicklungsphasen ein sehr häufiger und kann die Auffassung ermöglichen, daß der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen. […] Ein gewisser Gesichtspunkt besagt, daß diese Umsetzung einer erotischen Objektwahl auch ein Weg ist, wie das Ich das Es bemeistern und seine Beziehungen zu ihm vertiefen kann […] Die Umsetzung von Objektlibido in narzißtische Libido […] bringt offenbar ein Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art von Sublimierung. Ja, es entsteht die eingehender Behandlung würdige Frage, ob nicht alle Sublimierung durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht, welches zunächst die sexuelle Objektlibido in narzißtische verwandelt, um ihr dann vielleicht ein anderes Ziel zu setzen.«46
Achtet man auf den Sprachgebrauch, zeigt sich, dass sich der im FreudKapitel des vorliegenden Buches im Detail zu studierende Durchbruch in der Metapsychologie als Abwendung von Schopenhauer vollzieht. Für diesen ist der Charakter eines Menschen »angeboren und unvertilgbar. Dem Boshaften ist seine Bosheit angeboren wie der Schlange ihre Giftzähne und Giftblase […]: velle non discitur«. 47 Freud hingegen denkt den Charakter nunmehr wieder historisch. Der Charakter entsteht aus der Geschichte der Objektwahlen. Und zweitens führt er einen Begriff ein, den Schopenhauer rabiat ablehnt, den der Vermittlung. Erfahrung vollzieht sich, wenn das Ich Elemente der Objektwelt integriert und dadurch zugleich sich selbst ändert. Indem es eine Erfahrung macht, wird zugleich das Ich ein anderes und kann weitergehen. Zugleich bedeutet das Machen von Erfahrung, dass das Ich immer reicher wird, die Dichotomie von getriebener Subjektivität und grauenhafter Welt arbeitend hinter sich lässt. Es ist offenkundig, dass die von Adorno erkannte dialektische Fassung des Sublimierungsbegriffs, die das Leben des Ichs als das historische Erwerben von Erfahrung rekonstruiert, das strikte Gegenbild zur Starre der Melancholie zeichnet. Qua Sublimierung, der integrierenden, vermittelnden Geschichte der Objektwahlen, wird durch Verarbeitung der Vergangenheit Zukunft frei gespielt. In der Sublimierung gelingt, was im Fall der Melancholie katastrophal schief geht: die Auf hebung des verlorenen Objekts. Indem Freud 1923 einen dia46. Ders.: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 297f. 47. Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1986, S. 786.
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lektischen Begriff von Sublimierung gewinnt, weist er im gleichen Zug des Denkens nach, dass mit Schopenhauers Buch über die schroff und unversöhnlich in Wille und Vorstellung zerfallene und eisig fi xierte Welt ein Dokument klinischer Melancholie vorliegt; auch Arnold Gehlen bemerkte den »Mangel jeglicher Entwicklung« bei Schopenhauer. 48 Der düstere Hafen der Philosophie der Spaltung, in den Freud 1920 für einen Moment einläuft, ist ein Hafen des Todes, und die Musik, die dorthin lockte, ist der Gesang der Sirenen, der verführerisch einlädt zur immer möglich bleibenden Regression. Die Entdeckung des klingenden Sprachleibes macht den Abschied von dieser Welt möglich und lanciert die Befreiung von einer falschen Sublimierung, die das Auge auszureißen befiehlt, das einen ärgert. Bevor die komplizierte Entwicklung des Sublimierungsbegriffs bei Freud studiert werden kann, gilt die Aufmerksamkeit nun Friedrich Nietzsche, der das Denken in ewigen Gegensätzen überführte in das weit in die Zukunft weisende Projekt einer konsequenten Genealogie.
48. Gehlen: »Die Resultate Schopenhauers« (Anm. 18), S. 26.
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III. Verklär te Physis. Fr iedr ich Nietzsche »Gehen wir ans Meer!« Morgenröthe
1. Drei Dimensionen der Sublimierung Als erster auf die Schlüsselstellung des Begriffs ›Sublimierung‹ im Denken Friedrich Nietzsches hingewiesen zu haben, gehört zu den zahlreichen Verdiensten Walter Kaufmanns. In seinem Standardwerk hat Kaufmann nicht nur die vielen und bis dahin meist überlesenen Belegstellen versammelt, sondern auch jene Passagen interpretiert, die zwar den Begriff nicht explizit nennen, wohl aber den damit gemeinten Vorgang beschreiben oder zumindest der Sublimierung nah verwandte Prozesse.1 Um genauer zu verstehen, was Nietzsche mit Sublimierung meint, ist, so erläutert Kaufmann, auch der Blick auf die Thesen zum Agon oder zur Askese erforderlich; einschlägig sind darüber hinaus die vielfältigen, über das Gesamtwerk verstreuten Ausführungen zu Verfeinerung, Veredelung, Vergeistigung, Raffinierung, Erhebung, schließlich zu Zucht und Züchtung. Exemplarisch für Nietzsches methodischen Gebrauch von ›Sublimierung‹ zur Ausarbeitung seiner Ideen zu Genealogie und Metamorphose ist etwa die reich variierte These, dass die Spur der Grausamkeit – die Lust am Leiden anderer bzw. die Lust an Selbstquälerei – die Zivilisation nicht nur als schockierender ›Rückfall in die Barbarei‹ heimsuche, sondern vielmehr in sublimierter Form durchziehe beziehungsweise sogar fundiere. So heißt es in Jenseits von Gut und Böse: 1. Vgl. Walter Kaufmann: Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, a. d. Amerikanischen v. Jörg Salaquarda, Darmstadt 1982 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 245-298.
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»Fast alles, was wir ›höhere Cultur‹ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz; jenes ›wilde Thier‹ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schauern der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit.«2
In den drei Abhandlungen zur Genealogie der Moral wandelt Nietzsche den Gedanken ab, und der explizite Gebrauch von ›Sublimierung‹ mag stellvertretend die philologische Triftigkeit der These Kaufmanns bestätigen, zur Rekonstruktion des Begriffes seien die oben genannten weiteren Termini relevant. In der zweiten Abhandlung erwägt Nietzsche die Möglichkeit, dass die ehemals, in öffentlichen Festen der römischen Antike zum Beispiel, krass sichtbare Lust an Grausamkeit auch in der bürgerlichen Lebenswelt des späten 19. Jahrhunderts nicht eigentlich ausgestorben sei: »Nur bedürfte sie, im Verhältniss dazu, wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer gewissen Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich in’s Imaginative und Seelische übersetzt auftreten und geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, dass von innen her auch dem zartesten hypokritischen Gewissen kein Verdacht kommt (das ›tragische Mitleiden‹ ist ein solcher Name; ein anderer ist ›les nostalgies de la croix‹).«3
Die komplizierten Reflexionen zur Grausamkeit, die, ausgespannt zwischen Gottesidee und Einzelseele, ihrerseits eine monographische Erörterung verdienten, 4 zeigen, dass der Begriff Sublimierung bei Nietzsche mehrere Dimensionen hat, mindestens drei, die Kaufmann im Schwung erster Erschließung noch nicht klar ausdifferenzierte: eine kulturtheoretische, eine individualpsychologische und eine philosophische.
2. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 166. Die Werke Nietzsches werden im Folgenden durchweg nach der Kritischen Studienausgabe (KSA) zitiert unter Angabe von Band und Seitenzahl; Sperrungen bei Nietzsche werden kursiv reproduziert. 3. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 303f. 4. Michel Foucaults großes Buch über Überwachen und Strafen (dt. Frankfurt a.M. 1976) löst Nietzsches Postulate ein. Vgl. zu Foucaults Nietzscheanismus weiter unten.
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III. Verklär te Physis
1.1 K ULT UR In kulturtheoretischer Wendung meint Sublimierung, dass Zivilisation überhaupt die Bändigung, Ordnung und Kanalisierung des vorkulturellen Chaos leistet. Kultur ist Sublimierung, die sich von einfachen Praktiken bis hinauf zu spirituellen Lebensweisen erstreckt: Heiligkeit begreift Nietzsche, auch hier Freud antizipierend, als »die höchste Vergeistigung des […] Instinkts« der »Reinlichkeit«.5 Im Anschluss an Kaufmann hat Rüdiger Safranski in jüngerer Zeit auch die bekannteste Unterscheidung des Frühwerks populär als Theorie der Sublimierung reformuliert. Das Apollinische erweist sich, so Safranski, als Sublimierung des Dionysischen: »Das Dionysische, so Nietzsches Vision, ist der ungeheure Lebensprozess selbst, und Kulturen sind nichts anderes als die zerbrechlichen und stets gefährdeten Versuche, darin eine Zone der Lebbarkeit zu schaffen. Kulturen sublimieren die dionysischen Energien; die kulturellen Institutionen, Rituale, Sinngebungen sind Repräsentationen, Stellvertretungen, die von der eigentlichen Lebenssubstanz zehren und sie doch auf Distanz halten. Das Dionysische liegt vor der Zivilisation und unter ihr, es ist die zugleich bedrohliche und verlockende Dimension des Ungeheuren.«6
Wie vor ihm Kaufmann, so macht Safranski zudem auf die wohl durch den Austausch mit Jacob Burckhardt inspirierte Perspektive auf den allgegenwärtigen Wettkampf im antiken Griechenland,7 den Agon, aufmerksam, der von Nietzsche bereits in den frühen siebziger Jahren als Sublimierung der vorhomerischen und das heißt hier: vorkulturellen Welt begriffen wird. In einer der Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Homer’s Wettkampf, interpretiert Nietzsche den Agon als entscheidendes Fundament einer die Polis stabilisierenden Architektur aus Sublimierungsleistungen, die den Rückfall in einen vorkulturellen Zustand ohne jede Regulierung verhindern. Aus seinen Studien zum antiken Griechenland gewinnt Nietzsche 5. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 226. 6. Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2005, S. 59. 7. »Und nun das Agonale. Während die Polis einerseits das Individuum mit Gewalt emportreibt und entwickelt, kommt es als eine zweite Triebkraft, die kein anderes Volk kennt, ebenso mächtig hinzu, und der Agon ist das allgemeine Gärungselement, welches jegliches Wollen und Können, sobald die nötige Freiheit da ist, in Fermentation bringt.« Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, in: Das Geschichtswerk Bd. 2, Frankfurt a.M. 2007, S. 743, Abschnitt neun, Kapitel 3: Der koloniale und agonale Mensch.
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seinen später verallgemeinerten Sublimierungsbegriff, der, wie zu zeigen sein wird, auf der Implementierung einer Regel überhaupt aufruht: »Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust.«8
Wie Reinhard Gasser bündig darlegt, verschaltet Nietzsche zuletzt, anders als der auf hohem Allgemeinheitsgrad verbleibende Freud, seine Phänomenologie der Sublimierung mit der konkreten (Kultur)Geschichte Europas und kommt zum bekannten, eindeutigen Urteil. Nietzsche lässt, so Gasser, keinen Zweifel daran, »daß sich die vielfältigen historischen Versuche der Triebbewältigung und -bändigung schließlich in einer prototypischen Form verdichtet haben: in der Gegensätzlichkeit von griechischer und christlicher Kultur, einem Gegensatz, der parallelisiert wird etwa mit dem von aktiv und reaktiv, lebenssteigernd und lebensverneinend, gesund und krank. Mit einem Wort: Nietzsches Konzept der Sublimierung versteht sich grundsätzlich als Wertkonzept.«9
Auch Kaufmann hatte bereits auf den zunächst überraschenden, aber für den Gebrauch des Terminus aufschlussreichen Umstand hingewiesen, dass das Christentum, im Gegensatz zur griechischen Antike, Nietzsches Einschätzung zufolge – dazu unten mehr – eben keine Kultur der Sublimierung ausgebildet habe, »weil den Menschen, an die sich die Kirche wandte, einfach die Macht fehlte, ihre Leidenschaften zu beherrschen, zu sublimieren und zu vergeistigen, eben weil sie die ›Armen im Geiste‹ waren.«10
1.2 P S YCHOLOGIE In psychologischer Wendung bezeichnet Sublimierung einen Methodenbegriff, der die Genealogie insbesondere moralischer Empfindungen ermöglicht. Hier ist Sublimierung Instrument der oft bewunderten und imitierten Nietzscheanischen Technik der ›Entlarvung‹. Ein markantes Beispiel ist die Einsicht, dass auch die zur Schau getragene »Moralität der 8. Nietzsche: Fünf Vorreden. Homer’s Wettkampf, KSA 1, S. 789. 9. Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, hg. v. Ernst Behler et al., Bd. 38, Berlin/New York 1997, S. 351. 10. Kaufmann: Nietzsche (Anm. 1), S. 268.
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Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit« sei, ostentative Untadeligkeit den unmoralischen Hintergedanken habe, anderen weh zu tun.11 Die Einsicht in die sadistischen Hintergedanken von Untadeligkeit erinnert wie andere durch die Französischen Moralisten inspirierte Kabinettstücke an Beobachtungen Freuds zur Psychopathologie des Alltagslebens, etwa an die These vom ›Krankheitsgewinn‹: die Einsicht, dass der kranke Mensch aus dem Leiden womöglich auch narzisstische Befriedigung beziehen kann. Psychologischer Scharfsinn ist der Fröhlichen Wissenschaft zufolge kein böser Blick, sondern der Blick fürs sublimierte Böse: »Wo die geringe Sehkraft des Auges den bösen Trieb wegen seiner Verfeinerung nicht mehr als solchen zu sehen vermag, da setzt der Mensch das Reich des Guten an, und die Empfindung, nunmehr in’s Reich des Guten übergetreten zu sein, bringt alle die Triebe in Miterregung, welche durch die bösen Triebe bedroht und eingeschränkt waren, wie das Gefühl der Sicherheit, des Behagens, des Wohlwollens.«12
Vielfach wird angenommen, erst Freud habe den Terminus Sublimierung in die Psychologie und später auch in die Theorie der Kultur eingeführt. Demgegenüber bemüht sich Kaufmann um den Nachweis, dass Nietzsche nicht nur die Psychologie der Hintergedanken allgemein verfeinert, sondern auch konkret den Sublimierungsbegriff Freuds »vorweggenommen« habe.13 Man ist angesichts der Tatsache, dass Nietzsche den Begriff als psychologischen terminus technicus etabliert, spontan geneigt, dieser Beobachtung zuzustimmen, deren Ausarbeitung Gasser mit seiner monumentalen Studie über Nietzsche und Freud bedeutend gefördert hat.14 Sublimierung bei Nietzsche darf, so Gasser, »als Inbegriff der Triebverfeinerung apostrophiert werden«,15 und klar kann das Postulat Nietzsches freigelegt werden, »es gelte allen ›reinen‹ Erkenntniswillen als triebverwurzelt zu erkennen«.16 Die Einsicht in »die Gewalt der Triebe im Erkennen« 17 weitet sich zur spektakulären Transformation der Transzendentalphilosophie, insofern es, denkt man die Triebgebundenheit des Denkens konsequent 11. Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, KSA 3, S. 40. 12. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 416. 13. Kaufmann: Nietzsche (Anm. 1), S. 254. 14. Gasser: Nietzsche und Freud (Anm. 9), S. 313-365. 15. Ebd., S. 326. 16. Ebd., S. 338. 17. Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S 470.
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zu Ende, kein Jenseits der über die Triebe erschlossenen ›Realität‹ mehr gibt, wobei sich freilich die Frage einstellt, welche Instanz nun den Begriff einer durch die Triebe konstituierten ›Realität‹ bestimmt. Vorgreifend kann angemerkt werden, dass einen Begriff der durch die Triebe als Erben der Kantischen Erkenntnisapparatur strukturierten ›Welt‹ nur ein Mensch geben kann, der die Sublimierung zu ihrer Vollendung geführt und sich damit außerhalb dieser ›Welt‹ – in absoluter Einsamkeit – positioniert hat. Und Nietzsche vererbt den ihm nachfolgenden Generationen mit seiner erhellenden triebtheoretischen Transformation der Transzendentalphilosophie zugleich einen neuen und dunklen Gegenstand der Forschung, dessen Aufklärung seinerseits aussteht, den Begriff des ›Triebes‹ selbst: »Gesetzt, dass nichts Anderes als real ›gegeben‹ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ›Realität‹ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander – : ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder ›materielle‹) Welt zu verstehen?«18
1.3 P HILOSOPHIE Der ontologisierende Passus zur unüberschreitbaren Triebstruktur der ›Realität‹, der die Frage nach dem, was ein ›Trieb‹ eigentlich ist, drängend werden lässt, pointiert den Nexus zwischen der psychologischen und der philosophischen Dimension des Begriffs. In philosophischer Perspektive bezeichnet Sublimierung das Scharnier, an dem Nietzsches Philosophie von einer Idolatrie unvergänglichen Seins zur Affirmation und Feier des unhintergehbaren Werdens übergeht. Die das 19. Jahrhundert in Derivaten, insbesondere in der Variante der Philosophie Schopenhauers bestimmende Lehre von den zwei Substanzen des Descartes wird durch einen Monismus im Zeichen des Willens zur Macht substituiert. Entscheidend für ein Verständnis von Nietzsches Begriff ›Sublimierung‹ ist, dass er in philosophischer Perspektive dazu dient, den scheinbaren Dualismus zwischen Vernunft und Körper zu überwinden, gleitende Übergänge dort freilegt, wo substantieller Unterschied behauptet wurde. Die Lehre von der »Verfeinerung« ermöglicht, nunmehr damit aufzuhören, »von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt«.19 Die Lehre von zwei unvermittelten Substanzen, res cogitans und res extensa, deren Folgelasten nicht nur die akademische Philosophie, sondern auch die Lebenswelt und 18. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 54. 19. Ebd., S. 41.
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konkret die Moralität dominieren, ruht nach Nietzsches Analyse auf einer Metaphysik des Seins auf, die er als junger Mann selbst in seiner Betrachtung über Schopenhauer noch leidenschaftlich umworben hatte: »Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, fl ach und unserer Verachtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen.«20
Die juvenile Attacke aufs Werden reproduziert Schopenhauers Beschreibung der Welt als auf ewig und verhängnisvoll in Wille und Vorstellung geteilter, woraus sich die Lehre vom Schleier der Maja, Verachtung des Werdens und insbesondere der Geschichte ergab, zugunsten eines im Zeichen der Deutschen Klassik erneuerten Platonismus in der Ästhetik und der Lehre von der Überwindung und endlichen Verneinung des Willens überhaupt.21 1878 vollzieht Nietzsche den Bruch mit der Metaphysik Schopenhauers in Menschliches, Allzumenschliches, optiert für das unhintergehbare Werden und attackiert nunmehr jegliche Idee von absolutem Sein. ›Sublimierung‹ 20. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher, KSA I, S. 374f. 21. In seinem erhellenden Aufsatz über Die Resultate Schopenhauers hat allerdings Arnold Gehlen darauf hingewiesen, dass nach Abzug des metaphysischen und spirituellen Rahmenwerks sichtbar wird, dass Schopenhauer Grundeinsichten der modernen Anthropologie antizipierte. Nur dem Kontemplativen drängt sich, so Gehlen, die Idee einer eigenen Seelensubstanz auf, weil der Intellekt »stillgelegt« sei. Indem Schopenhauer den sekundären Status des Intellekts gegenüber dem Willen energisch unterstrich und jenen zum Medium von dessen Motiven erklärte, habe er faktisch die traditionelle Unterscheidung von Leib und Seele hinter sich gelassen. Der Intellekt erscheint als »Orientierungsorgan«, und die Psychologie wird zur »Affekt- und Antriebslehre, und sie ist in unmittelbarem Zusammenhang mit den Handlungsleistungen und Lebensnotwendigkeiten des Menschen zu betrachten, sie wird also ›Biologie des Menschen von Innen‹.« Arnold Gehlen: »Die Resultate Schopenhauers (1938)«, in: Gesamtausgabe Bd. 4, Frankfurt a.M. 1983, S. 25 – 49. Hier: S. 36f. Die geschickte Aktualisierung Schopenhauers zeigt auf, an welchem Punkt Nietzsche bei der Entwicklung seines Begriffs von Seele anknüpfen konnte, die ihm ein Etwas am Leibe war. Gleichwohl entrichtet die Aktualisierung den von Gehlen auch benannten Preis, dass die gesamte mystische Dimension Schopenhauers gestrichen wird. Mag bei Schopenhauer der Intellekt des empirischen Subjekts auch zum Vollzugsorgan des Willens werden, so bleibt der Dualismus doch erhalten: Das radikal unbegreifliche transzendentale Subjekt überlebt triumphal als das sublime Bewusstsein des Tattvam-asi, das sich der Kontemplation – in der Tat ein Stillstellen – erschließt.
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ist der methodische Zentralbegriff des von Nietzsche hier annoncierten Projektes einer »historische[n] Philosophie«22 bzw. einer »Entstehungsgeschichte des Denkens«.23 Im die Sammlung eröffnenden Aphorismus über »die Chemie der Begriffe und Empfindungen« benutzt Nietzsche zum ersten Mal den aus der Naturwissenschaft auf die Geschichte von Denken und Kultur übertragenen Begriff der Sublimierung. Die aus der Chemie destillierte Metaphorik macht sinnfällig, warum Termini wie Raffinierung, Verfeinerung etc. zum semantischen Hof von ›Sublimierung‹ gehören. Eine Vernunft, die mit ahistorischen Konzepten argumentiert und dergestalt ewige Entitäten fingiert, begeht einen Irrtum, wenn Vernunft und Vernunftloses, interesseloses Wohlgefallen und begehrliches Wollen in der Folge als strikte Gegensätze bestimmt werden. Der neuen, von Nietzsche geforderten und angewandten historischen Philosophie zufolge »giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist.«24
Die Lehre von der Chemie der Begriffe und Empfindungen avanciert von da an zu einem Leitgedanken der Schriften Nietzsches, der dann das Denken Michel Foucaults informieren wird: »Der Genealoge braucht die Historie, um die Chimäre des Ursprungs zu vertreiben.«25 Emblematisch steht die These einer durch Sublimierung fast unsichtbar gewordenen »Abkunft [des aus Gewohnheit für vernünftig Gehaltenen, E.G.] aus der Unvernunft« am Beginn der Morgenröthe.26 Jenseits von Gut und Böse nobilitiert die Psychologie wieder zur »Herrin der Wissenschaften«, weil sie die »Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen« formulieren hilft.27 Und noch die Götzendämmerung geißelt die Idiosynkrasie einer Philosophie, die in ihrer Geschichtsblindheit dekretiert: »das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein.«28 22. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I und II, KSA 2, S. 23. 23. Ebd., S. 37. 24. Ebd., S. 23. 25. Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Ders.: Von der Subversion des Wissens, hg. u. übers. v. Walter Seitter, München 1974, S. 83-109, hier: S. 88. 26. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 19. 27. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 39 u. 38. 28. Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, KSA 6, S. 76.
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Nietzsche formuliert hier, erneut unter Rückgriff auf die chemische Bedeutung von ›Sublimierung‹ als Verdunstung des Festen, die Einsicht, dass eine Philosophie, welche die Historizität ihrer Begriffe ignoriert, das Resultat einer Entwicklung, »die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang, als Anfang« setzt:29 »als Ursache an sich, als ens realissimum«.30 Mit der Lehre von der Sublimierung bahnt Nietzsche einer konsequent historischen Philosophie den Weg, die, unter ausgreifendem Rekurs auf die zitierten und ähnliche Passagen, den »Fehlschluß« namhaft macht, »was dauert, sei wahrer, als was vergeht.«31 Die Einleitung zur Metakritik der Erkenntnistheorie Theodor W. Adornos benennt Nietzsche im Kontext einer Historisierung der philosophischen Begriffe als direkten Vorläufer kritischer Theorie nach dem Untergang der Geschichtsphilosophie. Ein halbes Jahrhundert nach Nietzsches Tod ist das Denken des Werdens in eine Philosophie der Vergängnis übergegangen: »Heraklit, vor dem Hegel und Nietzsche sich neigten, hat noch das Wesen der Vergängnis gleichgesetzt; seit der ersten authentischen Formulierung der Ideenlehre hat man Vergänglichkeit der Erscheinung, dem Reich der doxa, dem Schein zugerechnet und das Wesen der Ewigkeit reserviert. Nur Nietzsche hat dagegen aufbegehrt«.32
Das Apollinische als Sublimierung des Dionysischen zu denken, den Wettkampf, von den alten Olympischen Spielen bis zu den Tragödien als allgegenwärtige Ritualisierung, Kanalisierung und Sublimierung des bellum omnium contra omnes zu begreifen, sowie zahlreiche weitere Ausführungen über die soziale Sublimierung anderer Triebe und Affekte wie Neid, Egoismus, Altruismus, Hass, Grausamkeit, schließlich des ›Willens zur Macht‹ – all dieses reiche Material Nietzsches erscheint in der Tat wie eine verblüffend genaue Antizipation der Freud’schen Theorie der Zivilisation. Zudem liest sich einer der berühmtesten Aphorismen aus Jenseits von Gut und Böse wie eine Abbreviatur der für das Triebleben des Individuums entworfenen Seite der Freud’schen Sublimierungstheorie, der zufolge etwa Analität zur Sparsamkeit oder der Schau- oder der Bemächtigungstrieb zum wissenschaftlichen Forscherdrang sublimiert werden:
29. Ebd. 30. Ebd. 31. Theodor W. Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, in: Gesammelte Schriften Bd. 5, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1971, S. 25. 32. Ebd.
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»Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf.«33
2. Sublimierung als Befreiung Gleichwohl stellt die nahe liegende These einer direkten Vorläuferschaft Nietzsches vor das Problem, dessen Erörterung Gegenstand des vorliegenden Buches insgesamt ist. Kaufmanns Bemerkung legt die Ansicht nahe, die Bedeutung des Begriffs Sublimierung bei Freud sei geklärt, was nicht der Fall ist. Da in der klassischen Psychoanalyse, wie im nächsten Kapitel auszuführen ist, insbesondere das Verhältnis zwischen Triebverzicht oder -unterdrückung einerseits zur Sublimierung anderseits nicht wirklich aufgehellt wurde, kann man sogar zu dem Schluss kommen, Nietzsches Bestimmungen seien zu vergleichsweise größerer Klarheit gediehen. Kaufmann selbst urteilt, dass man einem Verständnis Nietzsches nur dann näher komme, »sobald man den Gegensatz von Sublimierung und Schwächung verstanden«,34 beziehungsweise »die überaus wichtige Unterscheidung zwischen der Abtötung und der Sublimierung eines Triebs« gemacht habe,35 die bei Freud eben nicht konsequent statt hat. Gasser betont kritisch, die Freud’sche Psychoanalyse könne wegen der Fokussierung auf »rein quantitative Momente die Unterscheidung zwischen lebenssteigernder Triebverfeinerung und pathologischer Triebauszehrung« nicht trennscharf vornehmen.36 Um genau diese Unterscheidung ging es Nietzsche. Der Blick auf seinen Vergleich zwischen (griechischer) Antike und Christentum illustriert, warum die Unterscheidung zwischen Sublimierung und Abtötung der Triebe zum Verständnis entscheidend ist. Sublimierung ist bei Nietzsche keine Abtötung, kein trauriger und folglich dauerndes Unbehagen in der Kultur generierender Verzicht und auch keine Lancierung der Verneinung des Willens zum Leben im Sinne der Schopenhauer’schen Metaphysik. In dieser erkennt er vielmehr zuletzt christliches Erbe, also das Gegenteil von Sublimierung in seinem Verständnis; erneut das im Schopenhauer-Kapitel gebrachte Zitat aus der Götzendämmerung: »[Schopenhauer] hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der ›Verneinung‹ oder der Verneinungs-Bedürf33. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 87. 34. Kaufmann: Nietzsche (Anm. 1), S. 260. 35. Ebd., S. 264. 36. Gasser: Nietzsche und Freud (Anm. 9), S. 61.
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tigkeit des ›Willens‹ interpretiert – die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloß der Erbe der christlichen Interpretation.«37
Sublimierung ist bei Nietzsche keine Verneinung des Willens, sondern Steigerung der Macht: »die grosse Selbstbeherrschung«.38 Wer sublimiert, wird mächtiger, lebt besser und intensiver, und der Mächtigste ist der, der am besten zu sublimieren versteht. Die Lehre von der Leiblichkeit der Vernunft und die Lehre vom Willen zur Macht schließen sich im Zeichen der Sublimierung zur strukturellen Einheit zusammen, die faktisch den strikten Gegenentwurf zu Schopenhauer formuliert: »Wer sein Vernunftvermögen nur dadurch entwickeln kann, daß er seine Sinnlichkeit abtötet, hat einen schwachen Geist. Ein starker Geist hat es nicht nötig, die Triebe zu bekämpfen, er beherrscht sie, so wie sie sind; damit ist er, nach Nietzsches Meinung, die Vollendung menschlicher Macht.«39
Der Monismus des Willens zur Macht beerbt das alte, unter dem Bann Schopenhauers stehende Gegensatzpaar von Apollinischem und Dionysischem. Wer einen starken Willen zur Macht hat, vermag es, seine Triebe zu sublimieren im Sinne nicht der Abtötung, sondern der Indienstnahme und Steigerung. Am Ende erscheint ein Begriff von Sublimierung am Horizont der Philosophie Nietzsches, der das Gegenteil von Verzicht, den Gegensatz zu Ein- oder Unterordnung bezeichnet. Insofern in Nietzsches Verständnis der Wille zur Macht nichts ist als der »Instinkt der Freiheit«, 40 bedeutet Sublimierung keineswegs Preisgabe der Freiheit, sondern deren Vollendung und Gipfel. Wer zu sublimieren versteht, wird mächtig und zuletzt frei: Sublimierung ist der Königsweg zur Befreiung. So antizipiert Nietzsche die von Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno oder Norman O. Brown mutatis mutandis am Begriff einer ›repressiven Sublimierung‹ geübte Kritik. 41 Lou Andreas-Salomé hat den Begriff der Sublimierung in ihrem Fragment gebliebenen Lebensrückblick diskutiert, und zwar im Rahmen ihres Berichtes über »Das Erlebnis Freud«. Klar macht Andreas-Salomé, die Freundin Nietzsches, Geliebte Rilkes und Schülerin Freuds, den Zusammenhang sichtbar, der zwischen Nietzsche und Freud besteht. Für den Be37. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 125. 38. Ebd., S. 121. 39. Kaufmann: Nietzsche (Anm. 1), S. 270. 40. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 326. 41. Vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 203ff.
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griff der Sublimierung ist ihr das subtil gelungen, da sie Freuds Sublimierungsbegriff zu skizzieren vorgibt, faktisch aber denjenigen Nietzsches entwickelt, dessen Triftigkeit sich für sie in der intensiven Begegnung mit Rainer Maria Rilke bestätigt hatte. Sublimierung, so erläutert sie, ist der Punkt, an dem »das uns Intimste und das uns Übersteigendste zugleich« zur Erfahrung werden. Das folgende Zitat amalgamiert die poetische, philosophische und psychologische Dimension des Sublimierungsbegriffs, dessen Bedeutung für eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft AndreasSalomé paradigmatisch bezeugt: »Man kann nicht als wichtig genug betonen: die Kraft zur Sublimation hängt direkt davon ab, bis wie tief sie garantiert ist in diesem Urboden unseres Triebwerks, wie weit dieses wirksame Quelle geblieben ist in dem, was wir bewußt tun oder lassen. Je kräftiger erotisch jemand veranlagt ist, desto größer auch die Möglichkeiten seiner Sublimierungen, mit desto längerem Atem hält er die an sie gestellten Ansprüche aus, ohne Triebdurchsetzung und Realitätsanpassung in Zwiespalt miteinander geraten zu lassen. Desto weniger ist er Asket im Sinne des Triebdünnen, der aus der Not eine Tugend zu machen strebt, oder im Sinne des krankhaft Reduzierten, den das Wort vom ›Sublimieren‹ tröstet. Nicht asketische ›Überwinder‹ gehören dazu, sondern im Gegenteil solche, die auch bei widrigsten Umständen noch Witterung behalten für ihre geheimen Zusammenhänge mit dem ihnen Entlegensten; Wünschelrutengänger, denen noch im scheinbar trockensten Boden Quellpunkte spürbar werden, – Erfüller, nicht Abstinenzler – und dadurch abstinenzfähiger auf umso längere Strecken, als sie sich innerer Beheimatung und Erfüllung dennoch nahe wissen. Denn das Wesentliche daran ist, daß sich in ihnen Leiblich und Seelisch nicht ins Begriffliche gespalten haben, sondern im Menschen sich runden zu einer wirkenden Kraft – wie der Wasserstrahl aus der Fontäne niederfällt in das nämliche Becken, aus dem er gestiegen ist.«42
Fraglos handelt man sich mit der Freilegung des Zusammenhangs von Sublimierung und Freiheit das womöglich noch größere Problem ein, nunmehr den Freiheitsbegriff bestimmen zu müssen, der seinerseits, jenseits der abgründigen Problematik des ›freien Willens‹, 43 mindestens in zwei 42. Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick (1931/32). Aus dem Nachlass hg. v. Ernst Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1974, S. 157f. 43. Vgl. hierzu etwa Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2007. In Bieris »Idee des angeeigneten Willens« überlebt Nietzsches im Schopenhauer-Essay formuliertes Postulat der Freiheit zum Selbstsein (s.u.). Die bestürzend zirkuläre Definition des freien Willens durch Harry G. Frankfurt – »the statement that a person enjoys freedom of the will means that he is free to want what he wants to want« (zit.
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Bedeutungsrichtungen weist: die Befreiung von etwas und die Freiheit zu etwas. Die Lektüre des ersten Buches der Morgenröthe, die an diesen Überblick anschließt, soll als Studium eines ambitionierten, in sich kohärenten Theoriestücks näherhin Aufschluss über Nietzsches Antworten auf diese Fragen geben, die noch Zarathustra heimsuchen: »Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joche entronnen bist. Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es giebt Manchen, der seinen letzten Werth wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf. Frei wovon? Was schiert das Zarathustra? Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?«44
Vorläufig ist für den Freiheitsbegriff in seinen zwei Perspektiven festzuhalten, dass Nietzsche im Hinblick auf ›Befreiung von etwas‹ weniger missverständlich argumentiert als Freud. In der Schrift über Das Unbehagen in der Kultur hatte Freud gemeint, die Freiheit des Menschen sei am größten vor aller Kultur, weil zu dieser Zeit die durch das Realitätsprinzip auferlegten Beschränkungen naturgemäß am geringsten gewesen seien. Im Unterschied hierzu macht Nietzsche sehr deutlich, dass die Herrschaft des Lustprinzips und seiner zahlreichen Derivate vorab nicht mit Freiheit gleichzusetzen sei, sondern eine eigene Art von Knechtschaft bedeutet: die Unterjochung des Menschen durch seine tyrannischen Triebe. Der klassische Passus hierzu findet sich in der Götzendämmerung, der summa, ebd., S. 445) – kann laut Bieri nur dann in Grenzen überwunden werden, wenn man den Gedanken fasst, »dass es zur Freiheit des Willens gehört, dass es ein Wille ist, der zum Selbstbild passt« (Ebd.). Aneignung des eigenen Willens wird möglich nur, und Bieri bezieht sich hier positiv auf Freud, »wenn wir das Verständnis unserer Innenwelt erweitern, sowohl was ihre innere Logik, als auch was ihre Entstehung betrifft« (ebd.). Nur wer, um Nietzsches Terminus aufzugreifen, das »Unicum« erforscht (s.u.), das er oder sie ist, kann herausfinden, was er oder sie wirklich will. Der Bezug auf die hier als hilfreich angerufene Psychoanalyse, die bei Freud bekanntlich entschieden deterministisch argumentiert, ist prekär. Im Kapitel über Jacques Lacan soll die Kritik des Selbstseins diskutiert werden. Sublimierung bei Lacan wäre Überwindung des narzisstischen Willens zum Selbstsein: Denkbar ist, dass Selbstsein fassbar wird nur im Netz des Sozialen, in seiner Als-Bestimmtheit durch die anderen, und jenseits davon substanzlos ist. Das Selbst-Bild, auf das Bieri verweist, ist womöglich in der Tat ein Bild: das Bild des/ der anderen: »Das Du ist älter als das Ich«, lehrt bereits Zarathustra. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, KSA 4, S. 77. 44. Nietzsche: Zarathustra, KSA 4, S. 81.
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die Nietzsche vor dem Zusammenbruch noch zu ziehen vermochte: Dem Lustprinzip zu folgen, das ist nicht vornehm. Über das Konzept des Vornehmen stellt Nietzsche zuletzt auch die Verbindung her zwischen dem Erhabenen, Sublimen, und der Sublimierung. Das Pathos der Distanz, die große Selbstbeherrschung wird in der Schulung des Distanz-Sinnes trainiert, in einer Schule des Sehens, nicht des Beriechens oder Anfassens: »Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht ›wollen‹, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muss reagiren, man folgt jedem Impulse.«45
Nietzsche stellt die Gleichsetzung von Lustprinzip und Freiheit scharf in Frage und ergänzt die Argumentation durch den anschließenden Hinweis, dass es nicht nur vorkulturelle, sondern auch ›nachkulturelle‹, ›dekadente‹ Enthemmung gebe, die nicht eine womöglich erfreuliche Rückkehr zu unverfälschter Natur, sondern, modern gesprochen, eine Neurose, Phobie und Zwang, indiziert: »In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, – fast Alles, was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen ›Laster‹ bezeichnet, ist bloss jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagiren.«46
Sublimierung bei Nietzsche meint Befreiung sowohl von der durch eine übermächtige Natur verhängten Lebensnot – auch das ein Begriff Nietzsches, nicht erst Freuds47 – wie auch Befreiung von der Triebnatur, die von innen drängt. Es ist nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Nietzsche zwar auch den Begriff eines ›Unbehagens in der Kultur‹ skizziert, aber eine von Freud stark abweichende Begründung dafür gibt. Bei Freud resultiert das Unbehagen aus der Beschneidung der Lust. Insofern jede Kultur Lust restringiert, generiert sie unvermeidlich und dauerhaft ein Unbehagen. Die Argumentation ist nur schlüssig, wenn man erstens das Verfolgen des Lustprinzips mit Glück identifiziert und 45. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 108f. 46. Ebd., S. 109. 47. Vgl. z.B.: Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 411.
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zweitens annimmt, Glück sei etwas Erstrebenswertes und drittens einen validen Glücksbegriff in der Hand hat. Nach einer virtuosen Aufsplitterung des Glücksbegriffs fragt hingegen Nietzsche, warum insbesondere die Moralität der Weg zum ohnehin nicht greif baren ›Glück‹ sei. Der folgende Passus kann nur dann als Aufforderung zu ›wüster Amoralität‹ missverstanden werden, wenn man die vorgängige Destruktion des Glücksbegriffs ignoriert, dessen Gegebenheit die Idee der Moral als des Wegs zum intersubjektiven ›Glück‹ impliziert: »Ist nicht durch sie [die Moralität], im Grossen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgethan worden, dass man eher urtheilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Loose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?«48
Nietzsche fragt, ob historisch erfolgreiche Moralsysteme womöglich auf einem Glücksbegriff aufruhten, der Unglück zur Folge hatte (gerade auch in der Variante, dass die Idee notwendigen Unglücks eine Idee von Glück logisch impliziert) und fragt ferner, ob ›Glück‹ als ungeprüfte Formel einen gediegenen Kompass abgebe, individuell wie kollektiv. Indem er die These formuliert, Befreiung von der Tyrannei der Triebe, Sublimierung, steigere, bereichere das Leben, skizziert er, nach dem Abschied vom ›Glück‹, einen Freiheitsbegriff jenseits des Lustprinzips, der nicht zwingend dem Todestrieb Sukkurs gibt: Nur wer Lustprinzip und Glück blank miteinander gleichsetzt, blickt notwendig ins Dunkel. Im Hinblick auf die Frage nach der ›Freiheit für und zu etwas‹ kann man vorläufig auf die Ausführungen in der Unzeitgemäßen Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher verweisen, einem der Gründungstexte moderner Existenzphilosophie. Sublimierung meint hier die Befreiung vom »Geschlecht der öffentlich Meinenden«, 49 vom ›Man‹, mit dem Ziel einer Freigabe zur Möglichkeit von Selbstsein: Das Subjekt ist dem frühen Essay zufolge ein »Unicum«, ein »wunderlich buntes Mancherlei«, das der Zufall zum Einerlei zusammengeschüttelt hat.50 Die Befreiung von der öffentlich ausgelegten Welt ermöglicht es dem Unikum, sein Spezifisches zu ergründen und, so der existenzialistische Freiheitsbegriff der Schrift, für die unerklärliche Verschränkung von kontingenter Faktizität und wesenhafter 48. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 94. 49. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 339. 50. Ebd., S. 337.
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Offenheit nun die gleichfalls im leeren Raum der Kontingenz hängende Verantwortung für Selbstsein zu übernehmen. Schopenhauer als Erzieher schreibt ein passioniertes Kapitel aus der Geschichte »der wahrhaften Befreiung des Lebens«51 über dem Abgrund der Kontingenz: »Aber auch wenn uns die Zukunft nichts hoffen liesse – unser wunderliches Dasein gerade in diesem Jetzt ermuthigt uns am stärksten, nach eignem Maass und Gesetz zu leben: jene Unerklärlichkeit, dass wir gerade heute leben und doch die unendliche Zeit hatten zu entstehen, dass wir nichts als ein spannenlanges Heute besitzen und in ihm zeigen sollen, warum und wozu wir gerade jetzt entstanden. Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten; folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufälligkeit gleiche.«52
Angesichts des Umstands, dass Nietzsches Begriff der Sublimierung womöglich eindeutiger konturiert zu sein scheint, auch im Hinblick auf deren Bewertung, als der von Freud entwickelte, wird der weitere Vergleich mit Freud nun weitgehend ausgeklammert und der Versuch unternommen, die theoretische Grundlage von Nietzsches Begriff der Sublimierung immanent zu rekonstruieren, um so die anschließende Freudlektüre vorzubereiten. Nietzsche denkt eine Sublimierung jenseits des Unbehagens. Von einem direkten Vergleich des Sublimierungsbegriffs bei Nietzsche und Freud wird auch aus einem weiteren, bereits angedeuteten Grund abgesehen. Nietzsche und Freud beginnen ihre Argumentationen von entgegen gesetzten Polen aus: Bei Nietzsche ist Sublimierung zunächst ein philosophischer und in zweiter Linie ein kulturtheoretischer Begriff. Wie Kaufmann erkennt, ist zum Verständnis des Sublimierungsbegriffs bei Nietzsche der Ausblick auf dessen »Kosmologie« unvermeidlich,53 deren zentrale Einsicht Zarathustra in der Rede Von der Selbst-Überwindung verkündet hatte. Der überall spürbare Motor der Selbstüberwindung – Überwindung von Lebensnot und Triebnatur, Wahrung der Distanz und Gewinnung des sublimen Überblicks im Zeichen des Selbstseins – ist der Wille zur Macht: »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.«54
Um den umfassenden philosophischen Anspruch Nietzsches evident zu 51. Ebd., S. 338. 52. Ebd., S. 339. 53. Vgl. Kaufmann: Nietzsche (Anm. 1), S. 273. 54. Nietzsche: Zarathustra, KSA 4, S. 147f.
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machen, führt Kaufmann zuletzt in einer kühnen Bewegung Nietzsches Sublimierungsbegriff eng mit dem prominenten Hegel’schen Begriff der ›Aufhebung‹,55 was in der Tat sehr nahe liegt, als die deutsche Bedeutung des lateinischen sublimare »hoch erheben« ist. Nietzsches Lehre von der sublimen Selbst-Überwindung erscheint als seine tragische Variante einer Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins: »Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme Erfahrung?«56 Freud hingegen, als Arzt, führt den Begriff Sublimierung 1905 in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ein, beginnt also auf der physiologischen Seite der Triebansprüche des Individuums und eines möglichen Umgangs mit diesen. Freuds Schriften dokumentieren den Weg von der ›naturwissenschaftlichen‹ Analyse des Individuums und seines Trieblebens ›hinauf‹ zur Theorie der Kultur; der Begriff der Sublimierung avanciert zum Scharnierbegriff, der zwischen Individualpsychologie und Kulturtheorie vermitteln soll. Es ist aber, wie im nächsten Kapitel zu erörtern sein wird, genau an dieser Stelle des Übergangs von der Theorie des Individuums zur Genealogie und Theorie des Gemeinwesens, an der Freuds Begriff der Sublimierung eindeutig in die Richtung auf Verzicht und Zwang tendiert, selbst noch in der Schrift über den Mann Moses: »Ethik ist aber Triebeinschränkung.«57 55. Vgl. Kaufmann: Nietzsche (Anm. 1), S. 274ff. 56. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 129. 57. Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), Bd. 9, S. 564. Die Moses-Studie, deren testamentarischer Charakter vielfach bemerkt worden ist, eröffnet zuletzt eine neue Perspektive auf das Sublimierungstheorem und erinnert daran, dass Freuds kulturhistorische Interessen biographisch noch vor seiner Ausbildung zum Neurologen liegen. Der Mann Moses entwirft kühn die Geschichte des Monotheismus als Kulturgeschichte der Vergeistigung. Der Ägypter Moses, aus der Schule Ikhnatons stammend, drängt den exilierten Juden den Monotheismus auf, mit der tragischen Folge seiner Ermordung, denn: »Das Judenvolk des Moses war ebenso wenig imstande, eine so hoch vergeistigte Religion zu ertragen […] wie die Ägypter der 18. Dynastie.« (S. 96). Die Ermordung des Urvaters führt, wie Freud in Fortführung der Thesen aus Totem und Tabu erläutert, nach einer Latenzperiode »zur Wiederkehr des einen, einzigen, unumschränkt herrschenden Vatergottes« (S. 532). Der abstrakte Monotheismus prägt, so Freud, den Charakter des jüdischen Volkes »durch die Ablehnung der Magie und Mystik, die Anregung zu Fortschritten in der Geistigkeit, die Aufforderung zu Sublimierungen« (S. 34). Hier wie im Folgenden geht es aber trotz dieses Hinweises primär um die Rekonstruktion des Freud’schen Sublimierungstheorems aus der Perspektive der Individualpsychologie, denn noch in der spekulativen Schrift über Moses bleiben die im nächsten Kapitel zu beschreibenden
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Demgegenüber führt Nietzsches Philosophie als Arbeit am Dualismus von Leib und Seele ›hinab‹, in die Richtung von Psychologie und Physiologie, und Sublimierung erweist sich auch hier als Verbindung zwischen Psychologie und Kosmologie im Zeichen des Willens zur Macht. Ob nun ›Sublimierung‹ bei beiden Autoren zuletzt ›dasselbe‹ meint, soll hier offen gelassen werden, so verführerisch die Idee auch anmutet, der Arzt und der Philosoph seien bei ihren Grabungen von entgegen gesetzten Seiten her zuletzt auf denselben Kern getroffen, der das seit Descartes ersehnte Material liefert, endlich das Rätsel des commercium mentis et corporis aufzuklären; mit Foucaults Nietzsche-Studie: »Der historische Sinn ist der Medizin viel näher als der Philosophie«.58 Außer Zweifel steht, dass Philosoph und Arzt sich sachlich aufeinander zu bewegen, wie jene berühmt gewordene Anmerkung am Ende der ersten Abhandlung zur Genealogie der Moral dokumentiert, in der sich der vereinsamte Nietzsche eine interdisziplinäre Kooperation für moralhistorische Studien erhoff t, und damit weit über die eigene Zeit hinaus in die Zukunft sieht, bis zu den Forschungen Michel Foucaults und seiner Nachfolger. In der Anmerkung, die auch auf Zusammenarbeit mit Sprachwissenschaftlern setzt, heißt es: »Andrerseits ist es freilich ebenso nöthig, die Theilnahme der Physiologen und Mediciner für diese Probleme (vom Werthe der bisherigen Werthschätzungen) zu gewinnen: wobei es den Fach-Philosophen überlassen sein mag, auch in diesem einzelnen Falle die Fürsprecher und Vermittler zu machen, nachdem es ihnen im Ganzen gelungen ist, das ursprünglich so spröde, so misstrauische Verhältnis zwischen Philosophie, Physiologie und Medicin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendsten Austausch umzugestalten.«59 Mechanismen in Kraft: Selbst wenn Freud das jüdische Volk kulturhistorisch als das Volk der Sublimierungen auszeichnet, so bleibt doch die Frage offen, welchen strukturellen Ort die Sublimierung zwischen den Polen gelungener Vergeistigung und »Triebverzicht« findet, der auch hier noch »die erste Form einer sozialen Organisation« ermöglicht (S. 530). Auch in der Moses-Studie bleibt Ethik Triebeinschränkung, mit der notorischen Konsequenz des Unbehagens. Der in diesem Kontext Bahn brechend neue Punkt, den Freuds kulturhistorische Spekulation nun dem Drama der Sublimierung hinzufügt, besteht in der Theorie des Antisemitismus: Der Antisemitismus kann wahnhaft einen Schuldigen für das unvermeidliche Unbehagen namhaft machen, das Volk der Sublimierung (vgl. u. Fn. 68, 78, 100). Zum Mann Moses vgl. die klare Darstellung der komplexen hermeneutischen Herausforderung bei Achim Geisenhanslüke: Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift, Bielefeld 2008, S. 139-150. 58. Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (Anm. 25), S. 88. 59. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 289. Zur überaus anre-
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3. ›Falsche Sublimierung‹ (Schwächung) Der Überblick zur Semantik von ›Sublimierung‹ bliebe unvollständig, wiese man nicht noch einmal auf den Sonderfall dessen hin, was man – in der Optik Nietzsches – die ›falsche Sublimierung‹ nennen kann, auf deren zunehmend aggressive Kritik er sich in Jenseits von Gut und Böse und zumal in der Genealogie der Moral konzentriert. Sachlich richtet sich die Kritik gegen die Paulinische Verdammung des Fleisches im Brief an die Römer. Während der Dekalog des Alten Bundes nicht vorab das Fleisch verdammt, sondern kodifiziert, unter welchen konkreten Bedingungen ein ausagiertes Begehren zur Sünde wird, streicht der politische Theologe Paulus die Bedingungen allesamt weg und formuliert 2. Mose 20, 17 radikal neu und kulturgeschichtlich extrem folgenreich: »Laß dich nicht gelüsten!«60 War es im Alten Testament wider das Gesetz, des Nächsten Weib und alles sonst zu begehren, was der Nächste hat, wohnt nach Paulus im Fleische selbst und überhaupt nichts Gutes: Begehren ist Sünde. Geist und Fleisch werden zerrissen, an die Stelle der Sublimierung tritt die Abtötung der Triebe: »Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft wider Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag’s auch nicht. Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen.«61
Da der Mensch aber im Fleisch geschaffen ist, ist er nach Paulus unausweichlich, immer und überall, sündig. Es gehört zu den bahnbrechenden und bleibenden Einsichten von Nietzsches Kritik des Christentums, in der Paulinischen Terrorisierung und Verdammung des Fleisches die sozialpolitisch folgenreiche Implementierung kirchlicher Autorität erkannt zu haben, die am Ende den modernen Menschen zum neurotischen »Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden« gemacht hat.62 Indem das Fleisch a priori schuldig ist, gibt es für den Mengenden Wirkung Nietzsches auf Foucault vgl. erneut dessen großen Essay über »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (Anm. 25): »Die Genealogie erforscht den Boden, aus dem wir stammen, die Sprache, die wir sprechen, und die Gesetze, die uns beherrschen, um die heterogenen Systeme ans Licht zu bringen, welche uns unter der Maske des Ich jede Identität untersagen« (S. 107). 60. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1965. Römer 7.7. 61. Römer 8. 6 – 8. 62. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 335.
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schen kein Jenseits der Sünde, keine Schuldlosigkeit mehr. Als Christ oder Christin zu leben heißt Existieren im Stande vollendeter Sündhaftigkeit: »Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug. Er ergreift in ›Gott‹ die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott […] er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, zur Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott […] als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat: […] sein Wille, den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficieren und giftig zu machen […] Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch!«63
Im Kontext der Kritik des Christentums sind also drei Bedeutungen von Sublimierung genau voneinander zu sondern: Um die subtile Vergiftung durch die Menschen des Ressentiments (falsche Sublimierung, 1) auch in ihren vergeistigten Formen und Folgen erkennen zu können, muss man die Methode psychologischer Aufklärung über die Wege der Sublimierung (2) anwenden, um schließlich einer richtigen Sublimierung (3) den Weg bahnen zu können, die sich am Paradigma des antiken Griechenland orientiert: »Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der rechten Stelle beginnt – nicht an der ›Seele‹ (wie es der verhängnisvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus … Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte – sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christentum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit.«64
Die drei Abhandlungen über die Genealogie der Moral sind insgesamt der Versuch, das Christentum zu exorzieren und einen Neuanfang im Zeichen Platons und des Agon zu ermöglichen. Bekannt genug ist Nietzsches These, der »Sklavenaufstand in der Moral« beginne mit der Umwertung der Differenz von ›gut‹ und ›schlecht‹ in ›gut‹ und ›böse‹.65 Das Ressentiment der im Römischen Weltreich Ohnmächtigen wird schöpferisch, indem das 63. Ebd., S. 332. 64. Nietzsche: Götzendämmerung, KSA 6, S. 149. 65. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 270f.
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Mächtige, Vornehme und Starke als moralisch verwerflich gebrandmarkt und in der Folge immer weiter »verbessert« wird, in Nietzsches Sicht: »›entmuthigt‹, ›raffinirt‹, ›verzärtlicht‹, ›entmannt‹ (also beinahe so viel als geschädigt)«.66 Der Siegeszug des Christentums lanciert ein falsches Verständnis von Sublimierung, die nun nicht mehr die große Selbstbeherrschung ist, sondern eine Ideologie der fortgesetzten Schwächung, die nach Nietzsche zum »Rückgang der Menschheit« führte. Der Irrglaube bestand darin zu meinen, »dass es eben der Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubthiere ›Mensch‹ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten«.67 Das subtilste Instrument der falschen Sublimierung war die Erfindung des schlechten Gewissens, mit dessen Phänomenologie Nietzsche, ungeachtet der Frage, ob die Theorie kulturgeschichtlich triftig ist, Freuds Lehre von der Grausamkeit des als schlechtes Gewissen internalisierten Über-Ichs antizipiert.68 Das schlechte Gewissen ist im Ansatz der gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit, der sich nun, ins Innere eingekerkert, gegen seinen Träger wendet und ihn oder sie krank macht.69 Michel Foucault hat diese Erkenntnis zur methodologischen Grundlage seiner Variante historischen Philosophierens elaboriert:
66. Ebd. S. 391. 67. Ebd., S. 276. Ein später Reflex von Nietzsches Kritik ›falscher Sublimie-
rung‹ findet sich noch in Alexander Mitscherlichs Versuch einer »Wesensbestimmung der Aggression«, allerdings spezifiziert für bestimmte Ausprägungen des Christentums: »Das totale Abdrängen jeder sexuellen, naturhaften Äußerung z.B. in Bereiche des Wertlosen, Wertwidrigen, ›Niedrigen‹ – ein derart überspanntes Sublimierungs- und Neutralisierungsgebot, etwa im Calvinismus und Puritanismus, hat nicht nur zu einer lebenszerstörenden kollektiven Neurotisierung mit faktischer Doppelmoral geführt, sondern zu einer ungezügelten (entmischten, von echter libidinöser Bindung befreiten) Aggressivität.« Alexander Mitscherlich: »Wesensbestimmung der Aggression«, in: Hans Thomae (Hg.): Die Motivation menschlichen Handelns, 3. Aufl ., Köln/Berlin 1966, S. 210-215. Hier: S. 213. 68. Es wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu diskutieren, inwieweit Freuds psychoanalytische Rekonstruktion der paulinischen Erbsündenlehre auch als Alternative zu Nietzsche konzipiert worden ist. Freud schreibt: »Paulus, ein römischer Jude aus Tarsus, griff dieses Schuldbewußtsein auf und führte es richtig auf seine urgeschichtliche Quelle zurück. Er nannte diese die ›Erbsünde‹, es war ein Verbrechen gegen Gott, das nur durch den Tod gesühnt werden konnte. Mit der Erbsünde war der Tod in die Welt gekommen. In Wirklichkeit war dies todwürdige Verbrechen der Mord am später vergötterten Urvater gewesen.« Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), Bd. 9, S. 534. 69. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 322.
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»Der Leib – und alles, was den Leib berührt – ist der Ort der Herkunft: am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sich sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus. […] Als Analyse der Herkunft steht die Genealogie also dort, wo sich Leib und Geschichte verschränken […] [Das Ritual] setzt Markierungen und gräbt in die Dinge, ja in die Leiber, Erinnerungsspuren ein und führt Rechnung über die Schulden.«.70
Mit der radikalen Verdammung des Fleisches lässt Paulus nicht nur, wie Nietzsche wusste, das alte Gesetz hinter sich, das ihm zufolge vielmehr die Sünde allererst schaff t.71 Er wendet sich auch von einer zweiten, in der Antike mächtigen Tradition ab, von der Sublimierungslehre Platons, die ihre klassische Formulierung im Symposion gefunden hatte. Das Gegenmodell zur christlichen Verdammung des Fleisches ist das – noch von Marcuse und Adorno erneut emphatisch als Alternative aufgerufene – platonische Modell der Sublimierung, bei dem der Weg zur Erkenntnis der Idee des Guten mitten durch die sinnliche Liebe hindurch führt. Platon ist sich bewusst, »dass alle Schönheit zur Zeugung reize, – dass dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten hinauf in’s Geistigste.«72 Philosophie ist Zeugung im Geist, und sie wird möglich nur durch die Erfahrung sinnlicher Liebe. Und deshalb, so lernt Sokrates von Diotima, »muß nämlich […] der, welcher auf dem richtigen Wege auf dies Ziel hinstrebt, in seiner Jugend sich allerdings den schönen Körpern zuwenden«.73 In einer Notiz aus dem Nachlass Nietzsches heißt es entsprechend, als Korrektur eines christlichen und philologisch strikt falschen Platonverständnisses: »Plato meint, die Liebe zur Erkenntniß und Philosophie sei ein sublimirter Geschlechtstrieb.« 74 In seinen Analysen zur europäischen Kulturgeschichte bemüht sich Nietzsche nicht nur um die Rekonstruktion der Folgen der Paulinischen Verdammung des Fleisches und der Abwertung und Schwächung des Machtvollen und Vornehmen durch das Ressentiment. Er spürt auch Phänomenen nach, die Platons Modell der Sublimierung noch unter den Bedingungen des Christentums bezeugen. Daher rührt seine Verehrung 70. Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (Anm. 25), S. 91 u.
94. 71. Vgl. hierzu unten das Kapitel über ›das Ding‹ bei Jacques Lacan. 72. Nietzsche: Götzendämmerung, KSA 6, S. 126. 73. Platon: Symposion (Das Gastmahl), dt. v. Franz Susemihl, in: Sämtliche Werke Bd. 1, Berlin o.J., S. 709 (210 A). 74. Nietzsche: Nachlass Frühjahr – Herbst 1881, 11 [124], KSA 9, S. 486.
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sowohl der provençalischen Troubadours als auch des klassischen Frankreich, dessen »ganze höhere Cultur und Litteratur […] auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne, den Geschlechts-Wettbewerb, das ›Weib‹ suchen – man wird nie umsonst suchen …«75 Der Priester lehrt die Widernatur, die falsche Sublimierung, und doch kommt Nietzsche im Zusammenhang seiner Kritik des Christentums und der asketischen Ideale wiederholt ein Phänomen der Kulturgeschichte in die Quere, auf das abschließend hinzuweisen ist, um Konfusionen im Verständnis zu vermeiden, die Nietzsche angelegentlich befördert. Bereits in der Morgenröthe hatte er das Porträt der Repräsentanten des erfolgreich gewordenen Christentums gezeichnet, das, als »sehr geistreiche Religion«, »vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt« habe. Über die hohe katholische Geistlichkeit heißt es: »Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Flut der zwei Arten des Glückes (des Gefühls der Macht und der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Thier im Menschen gebändigt hat; […] hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Körper und Wohlfahrt des Glückes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist; man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht; man hat in der ungeheuren Unmöglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealität.«76
Es ist offenkundig, dass dieses Porträt, wie auch die zahlreichen anderen Darstellungen des asketischen Priestertypus, etwa des Brahmanen, von tiefer Faszination getragen wird. Das wiederholt beschworene Bild des großen Priesters, dem »angeborene Anmuth der Gebärden, herrschende Augen und schöne Hände und Füße« attestiert werden,77 lässt als Inbegriff der Sublimierung mit vollendetem Pathos der Distanz selbst die Idealfigur des historisch weit entfernten griechischen Kriegerphilosophen verblassen, zu schweigen von den Renaissance-Übermenschen wie Cesare Borgia oder der notorischen »blonden Bestie«. Womöglich ist die Schärfe in Nietzsches Bemühungen, das Priesterideal, in dem das Sublime und die Sublimierung im Zeichen der Anmut verführerisch zusammentreten, zu destruieren, auch motiviert durch den Kampf gegen die eigene tiefe und gelebte Faszination durch Askese und Prophetentum.78 75. Nietzsche: Götzendämmerung, KSA 6, S. 126. 76. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 60f. 77. Ebd., S. 60. 78. Erneut können Freuds Ausführungen zum Monotheismus als implizite,
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4. Macht »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht« – wie ist dieser Schlüsselsatz Zarathustras, der zum Mantra der folgenden Schriften wurde, zur philosophischen Kernaussage und zum Schlagwort, eigentlich zu verstehen? Und inwiefern formuliert er die Basis für Nietzsches Theorie der Sublimierung in ihrer subtilen und reich aufgefächerten Entwicklung? Zunächst liest sich der Satz wie eine Qualifizierung dessen, was ›Leben‹ ist: Etwas, das lebt, will weiterleben, will das Leben möglichst lange, unendlich, fortsetzen. Bei Freud begegnet dieser Wille des Lebendigen, sein Leben zu fristen, als Trieb, als Selbsterhaltungstrieb oder, für den Menschen, als Ichtrieb. Freud hat mit Blick auf Schopenhauer darauf aufmerksam gemacht, dass bei ihm der Terminus ›Trieb‹ den Willensbegriff des 19. Jahrhunderts beerbt. Wille zur Macht ist Wille zum Leben, Selbsterhaltungstrieb, und er zeigt sich, da es für Menschen um Selbstseinkönnen geht, als »Instinkt der Freiheit«. Doch ist die Erläuterung unzureichend; die suggestive Alltagsbedeutung von Macht bleibt dem Satz einbeschrieben, und es ist kaum möglich, diese Alltagsbedeutung – Herrschaft über andere – nicht zu assoziieren. Es ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, warum zum Weiterleben der Wille zur Macht im Sinne einer Herrschaft über andere notwendig sei. Gemäß der modernen, d.h. irreligiös argumentierenden Staatstheorie, die Hobbes im Leviathan entfaltet, kann man für den Menschen umgekehrt kritische Stellungnahme zu Nietzsche gelesen werden. Im Gegenzug zu Nietzsche begreift Freud das Judentum als geprägt durch »die Ablehnung von Magie und Mystik, die Anregung zu Fortschritten in der Geistigkeit, die Aufforderung zu Sublimierungen« und beurteilt vor diesem Hintergrund das Christentum als regressiv, mit hemmenden Folgen für zwei Jahrtausende: »In manchen Hinsichten bedeutete die neue Religion eine kulturelle Regression gegen die ältere, jüdische, wie es ja beim Einbruch oder bei der Zulassung neuer Menschenmassen von niedrigerem Niveau regelmäßig der Fall ist. Die christliche Religion hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein, zu der sich das Judentum aufgeschwungen hatte. Sie war nicht mehr streng monotheistisch, übernahm von den umgebenden Völkern zahlreiche symbolische Riten, stellte die große Muttergottheit wieder her und fand Platz zur Unterbringung vieler Göttergestalten des Polytheismus in durchsichtiger Verhüllung, obzwar in untergeordneter Stellung. Vor allem verschloß sie sich nicht wie die Atonreligion und die ihr nachfolgende mosaische dem Eindringen abergläubischer, magischer und mystischer Elemente, die für die geistige Entwicklung der nächsten zwei Jahrtausende eine schwere Hemmung bedeuten sollten.« Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), Bd. 9, S. 534f.
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behaupten: Um überleben, länger und womöglich besser leben zu können, müssen die vereinzelten Menschen ihre Macht in einem Gründungsakt an den Staat abtreten, dem die absolute Macht zufällt. Der Mensch wäre damit eine Ausnahme, ein Lebendiges, das sich erhält, indem es auf Macht verzichtet. In einem weiteren, sophistischen Schritt könnte man vermuten, dass das Abtreten von Macht an den Souverän einer Dialektik von Ziel und Weg folgt: Das kollektive Abtreten von Macht an den damit konstituierten Souverän ermöglicht zwar zunächst das Überleben, eröffnet aber danach die Möglichkeit, innerhalb des nun etablierten Staatswesens nach Macht zu streben. Wer soziale Macht an sich reißt, womöglich zum Souverän avanciert, wird mächtiger, als er es vor der Errichtung des Gemeinwesens jemals hätte werden können. Nietzsches These von der Allgegenwart des Willens zur Macht wäre dann als Desillusionierung zu verstehen: Die Errichtung des Staates setzt dem verhängten bellum omnium contra omnes kein Ende, sondern verschiebt, sublimiert ihn nur, im Sinne der Thesen zum Agon: Der soziale Krieg wird ausgetragen nach Spielregeln, die der Staat festsetzt, also im Rahmen der Legalität – und darin besteht die Sublimierung. So tritt etwa an die Stelle des Kampfes mit Zähnen und Klauen der Rechtsstreit. In diesem Sinn definiert Cornelius Castoriadis Sublimierung prägnant als Sozialisation: »Unter ›Sublimierung‹ hat man nichts anderes zu verstehen als die psychogenetische oder idiogenetische Seite der Sozialisation: die Sozialisation der Psyche als psychischer Prozeß. Dieser Prozeß kann nur unter bestimmten, wesentlichen Bedingungen stattfinden, die ihm selbst äußerlich sind; er besteht darin, daß die Psyche die gesellschaftlich instituierten Formen (eide) und die mit ihnen einhergehenden Bedeutungen übernimmt, sich also das Gesellschaftliche aneignet, indem sie zwischen der privaten und der öffentlichen oder gemeinschaftlichen Welt eine Berührungsfl äche entstehen läßt.«79
Der Grenzwert, die Gefahr besteht freilich darin, dass ein Mensch oder eine Gruppierung mit einem radikalen Willen zur Macht darauf abzielen, auf dem Weg der Legalität die Macht zu ergreifen mit dem Ziel, den Staat abzuschaffen und damit faktisch die Sublimierung rückgängig zu machen: Die Tyrannis, in der die Mitglieder der Polis in Todesangst leben, ist eine Rückkehr des Naturzustandes allgemeiner Angst. Diesen Fall sieht der Leviathan vor: Sobald der Staat die Aufgabe nicht mehr wahrnimmt, das Leben seiner Angehörigen zu schützen, ihr Leben vielmehr bedroht,
79. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (1974), Frankfurt a.M. 1990, S. 515.
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sind die Subjekte von der vertraglichen Verpflichtung dem Staat gegenüber entbunden, und der Staat ist inexistent geworden.80 Doch ist diese Anwendung von Nietzsches Satz über die Allgegenwart des Willens zur Macht auf die Theorie der Genese des Staates nur ein Spezialfall, der den Gehalt nicht erschöpft: Nietzsches These vom ubiquitären Willen zur Macht ist für sich genommen vorab dem Verdacht ausgesetzt, bloße Meinung zu sein, der man, je nach individueller Erfahrung und Weltsicht, zustimmen kann oder nicht. Der Satz verlöre in genau dem Augenblick alle Überzeugungskraft, in dem ein Akt oder eine Verhaltensweise nachgewiesen würden, die sich nicht auf einen darin verborgenen Willen zur Macht durchsichtig machen ließen. Die These, dass alles Lebendige angetrieben sei vom Willen zur Macht, formuliert extremen sozialen Pessimismus; die Idee einer Abschaff ung von Herrschaft zergeht. Er impliziert, dass sich auf dem Grunde auch all solcher Verhältnisse, in denen man einen Raum jenseits der Macht zu erfahren meint, doch die Macht aufspüren lasse, etwa in der Liebe zum Kind,81 in der Liebe zwischen Erwachsenen,82 in der Freundschaft.83 Zu erinnern ist hier an die bereits zitierte Passage über das Reich des Guten, das der Fröhlichen Wissenschaft zufolge dort beginnt, wo unsere psychologische Sehkraft nicht hinreicht, der also die sublimierten feineren Formen der Machtausübung entgehen. Entsprechend kann der Satz von der Allgegenwart des Willens zur Macht als Installation einer gleißend hellen Beleuchtung gelten, in der sich auf den ersten Blick machtfreie Verhältnisse als solche zeigen, die ebenfalls von ihr heimgesucht sind. Nietzsches Satz besagt, dass es ein Jenseits der Macht nicht gibt. Doch bleibt Nietzsche bei dieser Einsicht nicht stehen. In Jenseits von Gut und Böse findet sich ein Passus, der als direkte Attacke auf das skizzierte Staatsmodell der Abtretung von Macht gelten kann. Der exaltierte Begriff von ›Leben‹ als des ungestümen Willens zur Macht, den 80. Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan, übers. v. Jacob Peter Mey, Stuttgart 1980, S. 197. 81. »Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?«, fragt Zarathustra, KSA 4, S. 91. 82. Stellvertretend für zahlreiche Aperçus über die Liebe kann etwa der folgende Aphorismus aus der Morgenröthe angeführt werden: »Jener ist hohl und will voll werden, Dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, – beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit Einem Worte: Liebe, – wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?« KSA 3, S. 137. 83. Vgl. zu Nietzsches Politik der Freundschaft, insbesondere im Hinblick auf das komplizierte Verhältnis zu Richard Wagner, das letzte Kapitel von Avital Ronell: The Test Drive, Illinois 2005, S. 279-324.
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Nietzsche hier jetzt entwickelt, ist unvereinbar mit Vergesellschaftung im Sinne des Vertrags: »Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb eines Körpers). Sobald man aber dies Princip weiter nehme wollte und womöglich gar als Grundprincip der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das, was es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mindestens, Ausbeutung.«84
Nietzsche zeigt sich als schlechter Leser Thomas Hobbes’, der die Diagnose unterschrieben hätte, aber zugleich auf die Problematik hinwies, die Nietzsche nicht sieht oder nicht mehr sehen will: Vorstaatliche Anarchie kann sich laut Hobbes nicht wirklich stabilisieren, da selbst der stärkste und brutalste Einzelne oder auch die gewalttätigste Gruppe seines oder ihres Lebens nicht sicher sein kann.85 Hobbes’ Modernität besteht darin, wie Herfried Münkler glanzvoll erläutert hat,86 dass er den in der traditionellen politischen Philosophie leitenden, metaphysisch oder direkt religiös kontaminierten Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verabschiedet und durch die strikt empiristisch begründete Differenz von Naturzustand und Staat ersetzt. Der Hobbes’sche Nominalismus, sein ra84. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 206. 85. Vgl. hierzu Hannah Arendts bedeutende Abhandlung über Macht und Gewalt, die diese Begriffe als Gegensätze denkt und dem Argument Hobbes’ eine verblüffende Wendung gibt: Während ›Macht‹ die Fortsetzung eines ursprünglichen Konsenses eines Volkes in Institutionen und Gesetzen sei, bedeutet ihr zufolge ›Gewalt‹ die Verfügung über Stärke (des Körpers, dann der Polizei, der Armee), die sich auch gegen die Institutionen des Volkes wenden kann. Gewalt kann, als rein instrumentelle verstanden, Macht vernichten, aber »sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen«, woraus Arendt die These ableitet, dass eine gegen die Macht der Volkes gewendete Gewalt auf die Länge der Zeit hin nicht in sich zu stabilisieren ist, vielmehr zuletzt sich selbst verschlingt. Hannah Arendt: Macht und Gewalt (1970), München 2003, hier: S. 57. 86. Herfried Münkler: Thomas Hobbes, Frankfurt a.M./New York 2001, S. 56ff.
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dikaler Neubeginn in der Politischen Philosophie antizipiert Nietzsches Antimetaphysik. Bereits Hobbes argumentiert sensu stricto jenseits von Gut und Böse. Und seine These reicht weiter als die Einsicht, ohne Sprache fände »unter den Menschen Gemeinwesen, Gesellschaft, Vertrag, Frieden ebensowenig statt wie unter Löwen, Bären und Wölfen.«87 Dreihundert Jahre vor Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen insistiert Hobbes darauf, die Bedeutung eines Wortes allein aus seinem Gebrauch in der Sprache zu bestimmen. Das gilt insbesondere für seither nur mehr imaginär rettende Worte wie gut und böse oder gerecht und ungerecht. Nietzsches Genealogie der Moral rekonstruiert einen spätantiken, als paradigmatisch bewerteten Kampf um die Bedeutung von Gut und Böse, deren basale Kontingenz bereits im Leviathan behauptet worden ist. Bei Hobbes heißt es: »Es müssen die Ausdrücke gut, böse und schlecht nur mit Bezug auf den, der sie gebraucht, verstanden werden; denn nichts ist durch sich selbst gut, böse oder schlecht, und der Bestimmungsgrund dazu liegt nicht in der Natur der Dinge selbst, sondern er muß von dem, der dieselben gebraucht (wenn anders keine Verbindung mit dem Staate obwaltet), oder (falls diese bestehen würde) von dem Stellvertreter des Staates oder von einem selbstgewählten Schiedsrichter abhängen.«88
Und weiter: »Bei dem Krieg aller gegen alle kann auch nichts ungerecht genannt werden. In einem solchen Zustande haben selbst die Namen gerecht und ungerecht keinen Platz. Im Kriege sind Gewalt und List Haupttugenden; und weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit sind notwendige Eigenschaften des Menschen«.89
Hobbes ist sich also im Klaren darüber, dass bestimmte Gruppen darüber entscheiden, wie ein Moralsystem konkret beschaffen ist, also: Werte setzen, die per definitionem relativ sind: auctoritas non veritas facit legem. Hobbes aber ist Nietzsche in der Einsicht voraus, zu erkennen, dass das vorstaatliche menschliche Leben einem »Verfalls-Prinzip« unterliegt, was immer dann studiert werden kann, wenn, vor allem im Bürgerkrieg, die Ordnung zusammenbricht und der Naturzustand zurückkehrt. Hobbes’ Staatsmodell antizipiert die Anthropologie des 20. Jahrhunderts, etwa diejenige Arnold Gehlens. Die Entwicklung höherer Kultur mit stabilisierten 87. Hobbes: Leviathan (Anm. 80), S. 28. 88. Ebd., S. 50. 89. Ebd., S. 117.
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Praktiken kann nur erfolgen, wenn Räume relativer Sicherheit entstehen und erhalten werden, denn der Mensch ist »organisch mittellos, instinktlos und auf sich selbst gestellt«.90 Gehlen hat die These von der fatalen Instinktarmut des Menschen zur Theorie entlastender Institutionen entfaltet und damit zugleich den von Nietzsche fetischisierten Lebensbegriff destruiert. Die Sublimierung der Natur hat beim Menschen immer schon begonnen, und sie ist es, die allererst die vorab schimärische Idee zu fassen erlaubt, es gäbe eine menschliche Zeit vor der Sublimierung. Die Idee des vorkulturellen Zustandes reinen menschlichen Lebens kann nur retrospektiv qua Sublimierung gefasst werden, ist also ein Produkt der Kultur. Die Abkünftigkeit seines Lebensbegriffs nicht reflektiert zu haben, zeigt Nietzsche als konservativen Denker, der nicht begreifen will oder kann, dass seine Ideen modern sind, sekundär, nicht primär. Gehlen notiert: »Es gibt für ihn [den Menschen, E.G.] keine Existenzmöglichkeit in der unveränderten, in der nicht ›entgifteten‹ Natur, und es gibt keinen ›Naturmenschen‹ im strengen Sinne: d.h. keine menschliche Gesellschaft ohne Waffen, ohne Feuer, ohne präparierte und künstliche Nahrung, ohne Obdach und ohne Formen der hergestellten Kooperation.«91
Nietzsches Plädoyer für das vermeintlich illusionslos betrachtete ›Leben‹ erweist sich trotz vermeintlicher Tiefe als anthropologisch und sozialphilosophisch undurchdacht: Das vorgesellschaftliche Leben ist der beständigen Verneinung, der Auflösung und dem Verfall ausgesetzt: Das Leben der Menschen muss institutionell strukturiert werden, denn Leben zerstört sich im Fall des instinktreduzierten und »organisch mittellosen« Menschen selbst, implodiert. Vor dem Hintergrund des Vertragsmodells von Hobbes oder der ihrerseits hoch problematischen Institutionen-Lehre Gehlens92 liest sich die Passage übers Leben als unreflektierte Aufforderung, auf die Auflösung eines Staates hinzuarbeiten, der die Rechtssicherheit der Subjekte garantiert: Eine Bewegung, deren Ziel die Rückkehr des Zustandes allgemeiner Todesangst ist, kann sich daher auf diesen Nietz90. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Frankfurt a.M./Bonn 1966, S. 34. 91. Ebd., S. 38. 92. Vgl. hierzu Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1987, S. 101-126 sowie das Standardwerk v. Christian Thies: Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997, und schließlich das Streitgespräch zwischen Gehlen und Adorno, abgedruckt in: Friedemann Grenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt a.M. 1974, S. 225-254.
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sche stützen. Von der Bestimmung des Lebens als des Ausbeuterischen und Überwältigenden führt der weitere Verlauf seines Denkweges konsequent zur These, dass es »keine ärgeren und gründlicheren Schädigungen der Freiheit [gibt] als liberale Institutionen« und ebenso folgerecht zur Behauptung, dass der »freie Mensch [ein] Krieger« sei.93 Vollends abstoßend sind dann Sätze wie die folgenden aus der Götzendämmerung, die, den Versuchen zum Trotz, Nietzsche auf harmlose ›Metaphorik‹ im Sinne eines ›so meinte er es doch nicht‹ zu eichen, Euthanasie wenn nicht fordern, so doch ihr den Weg bereiten: »Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, vom Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihren Patienten…«94
›Im Lichte unserer Erfahrung‹, also nach der Shoah, nach der Konfrontation mit einer deutschen Medizin ohne Menschlichkeit und im Schatten der Bombe hat Thomas Mann die Absurdität und den »Schwachsinn« dieser und ähnlicher Passagen gerügt: »Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es je zu geistig zugehen könnte auf Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu anhalten, das schwache Flämmchen der Vernunft, des Geistes, der Gerechtigkeit zu hüten und zu schützen, statt sich auf die Seite der Macht und des instinkthaften Lebens zu schlagen und sich in einer korybantischen Überschätzung seiner ›verneinten‹ Seiten, des Verbrechens zu gefallen, – dessen Schwachsinn wir Heutigen erlebt haben. Nietzsche tut – und hat damit viel Unheil angerichtet –, als sei es das moralische Bewusstsein, das dem Leben, wie Mephistopheles, die kalte Teufelsfaust entgegenstrecke. […] Die Gefahr, daß das Leben auf diesem Stern sich durch die Vervollkommnung der Atombombe selber aufhebt, ist wesentlich dringender.«95
Thomas Manns Essay ist aufschlussreich für die Nietzsche-Rezeption seiner Generation, dokumentiert Faszination für den Psychologen und Theo93. Nietzsche: Götzendämmerung, KSA 6, S. 140. 94. Ebd., S. 135. 95. Thomas Mann: Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), in: Gesammelte Werke Bd. 9, Frankfurt a.M. 1990, S. 696.
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retiker ästhetischer Erfahrung, aber auch Entsetzen: Die staatsfeindliche Ideologie des NS konnte sich auf Passagen der Schriften Nietzsches, wie die zitierten, berufen. Thomas Mann benennt als »Schwachsinn« das Dilemma des Konservativismus:96 Was Nietzsche nicht sieht oder nicht sehen will, ist, dass die Kultur das Phantasma ›instinkthaften Lebens‹ produziert. Und man kann zudem entschieden bezweifeln, dass Nietzsche, der durch die Heirat seiner Schwester, durch Richard Wagner und einen seiner Verleger über ausgiebige Erfahrung direkten Umgangs mit Antisemiten verfügte, sich nicht im Klaren darüber gewesen sein soll, welches brandstifterische Potential in Bemerkungen wie der folgenden beschlossen liegt, mit denen er einen Kernsatz antisemitischer Paranoia – »Die Juden sind es gewesen« – in den Druck gibt: »Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben«.97
Dieser tote Punkt ergibt sich als fatales Resultat aus der notorischen, seit den frühen Essays dokumentierten Unfähigkeit Nietzsches, den modernen Staat anders denn als ›Bedrohung‹ für Individualisten und die ›Genies‹ zu denken,98 eine Ablehnung, die in einem bekannt gewordenen Satz des Zarathustra kulminiert:
96. Vgl. das Standardwerk v. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1984. 97. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 267. 98. Dem Schopenhauer-Essay zufolge ist die Erzeugung des Genies die höchste Aufgabe der Kultur, und diese These führt Nietzsche zu einem instrumentellen Verständnis des Staates, der die Innerlichkeit machtvoll schützen soll: »Alle Staaten sind schlecht eingerichtet, bei denen noch andere als die Staatsmänner sich um Politik bekümmern müssen, und sie verdienen es, an diesen vielen Politikern zu Grunde zu gehen.« Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 409. Eine Notiz Rapaports zu den soziologischen Defiziten der klassischen Psychoanalyse ist auch einschlägig für Nietzsche: »Die Gesellschaft ist nicht ein bloßer Verbieter oder Versorger; sie ist die notwendige Matrix der Entwicklung allen Verhaltens. Tatsächlich hängt die Entwicklung und das Fortbestehen des Ich, des Überich und vielleicht aller Strukturen von der sozialen Matrix ab: Verhalten wird von ihr bestimmt und ist nur innerhalb ihrer möglich.« David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Versuch einer Systematik (1960), Stuttgart 1970, S. 70.
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»Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überfl üssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.«99
Hier soll durch einen Rückgang in der Werkchronologie das Verständnis für die These von der Ubiquität des Willens zur Macht ausdifferenziert werden, das massiv eingetrübt wird durch die Exaltationen seit dem Zarathustra. Wie sich zeigen lässt, fallen die abstoßenden Passagen des Spätwerkes hinter Einsichten zurück, die Nietzsche selbst zuvor gewonnen hatte und die neben dem regressiven Abgleiten in einen hysterischen Vitalismus auch fortbestehen.100 In Jenseits von Gut und Böse bestimmt Nietzsche den Menschen als das »noch nicht festgestellte Thier«,101 und es ist diese Einsicht, die neben ähnlichen Formulierungen Herders eine der Initialzündungen 99. Nietzsche: Zarathustra, KSA 4, S. 63. Eine Diskussion dieses Staatsbegriffs erübrigt sich, weil Nietzsche nicht erläutert, welches Staatsverständnis er hat. In seiner Allgemeinheit kann der Satz Zarathustras zur Losung von Aussteigern und Faschisten gleichermaßen werden. Produktiver ist allerdings seine Kritik des Bismarck’schen Reiches und, im Zusammenhang damit, seine Kritik der Bildungsanstalten und der Rolle universitär angestellter Philosophen, etwa im Schopenhauer-Essay. 100. Sigmund Freuds berühmt gewordene Stellungnahme zum Judenhass in der Moses-Schrift lässt sich auch beziehen auf Nietzsches Konstruktion der europäischen Kulturgeschichte. Neben der These von der »Eifersucht« auf das erstgeborene Kind Gottvaters, der Freuds Spekulation zufolge »aus dem Unbewußten der Völker« wirke, sei es vor allem der Groll schlecht getaufter Christen, der sich als Antisemitismus artikuliert, und Nietzsches Aggression wäre hier exemplarisch, nichts Neues, sondern etwas Uraltes: »[M]an sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ›schlecht getauft‹, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, daß die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhaß, und man braucht sich nicht zu wundern, daß in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlich zum Ausdruck kommt.« Freud: Der Mann Moses und die montheistische Religion (1939), Bd. 9, S. 539. 101. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 81.
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etwa für Gehlens Anthropologie darstellt. Den Nexus, der zwischen konstitutiver Weltoffenheit und dem Willen zur Macht besteht, hatte die Morgenröthe bereits sichtbar werden lassen.
5. Ohnmacht Das erste Buch der Morgenröthe von 1881 formuliert eine These, die den Satz vom Willen zur Macht vom Vorwurf entlasten kann, eine bloße Meinung im skizzierten Sinne zu sein. Die These klingt in der Formulierung ›Wille zur Macht‹ selbst an: Wer den Willen zur Macht hat, dem fehlt sie offenbar. Tatsächlich begründet die Morgenröthe den Willen zur Macht aus der primären Erfahrung der Ohnmacht, woraus auch verständlich wird, warum Nietzsche später ›Glück‹ als »das lebendigste Gefühl der Macht« definieren kann.102 Aus der primären Erfahrung beängstigender Ohnmacht entwickelt sich die Idee, dass ein Verfügen über Macht etwas Erstrebenswertes sei. Weil aber »das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so lange und fast fortwährend in Reizung war« und in jedem Augenblick wieder als Dominante durchbrechen kann, »hat sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, dass es jetzt hierin der Mensch mit der delicatesten Goldwage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur.«103
Dieser kostbare Aphorismus ist die wohl plausibelste Erläuterung der Lehre vom Willen zur Macht, die Nietzsche vorgelegt hat,104 ein glanzvolles 102. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 103. 103. Ebd., S. 34f. 104. Noch 2007 moniert Ernst Tugendhat, »dass Nietzsche nie eine präzise Erklärung gegeben hat, wie man das Wort ›Macht‹ verstehen soll. In der Art, wie er es verwendet, mischen sich zwei Bedeutungen. Erstens, dass man Macht über den Willen anderer hat. Aber zweitens versteht er das Wort auch in einer unschuldigeren Bedeutung, derzufolge es allgemein für Kraft und Potenz steht.« Tugendhat findet es dann nicht einleuchtend zu folgern, dass, gesetzt selbst, die Motivation alles Handelns sei egoistisch, »das Ziel alles Egoismus Herrschaft über andere sei.« Indem man aufmerksam macht auf Nietzsches Herleitung des Willens zur Macht aus der Erfahrung der Ohnmacht, kann man diesem Einwand begegnen und zeigen, dass die Sucht nach Herrschaft nicht analytisch aus dem Willen zur Macht in diesem Sinne einer Befreiung von Ohnmacht folgt. Ernst Tugendhat: »Nietzsche und die philosophische Anthropologie. Das Problem der
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Beispiel für die postulierte »Entstehungsgeschichte des Denkens«, die hier auf den Begriff der Macht angewandt wird. Entscheidend am Argument ist, dass es ›Macht‹ vom vagen Triebbegriff ablöst. Der Wille zur Macht ist kein Trieb, sondern eine zunehmend habitualisierte Reaktion auf die Erfahrung totalen Ausgeliefertseins: an eine übermächtige Natur, an die Fragilität und Endlichkeit des eigenen Körpers, an die nicht stets wohlwollenden Anderen. Geschichte der Kultur ist weitestgehend Geschichte der Mittel wider die lebensbedrohliche Ohnmacht und insofern in der Tat durchweg geprägt vom ›Willen zur Macht‹. Aus der Perspektive dieses Aphorismus lässt sich ein anderer Weg des Umgangs mit Nietzsches Philosophie entwickeln, der nicht zwingend auf die Abwege führt, die das Spätwerk versehren. Die Morgenröthe bleibt bei der Einsicht in den Primat der Ohnmacht nicht stehen, die sich zwanglos mit den von Freud im Traktat übers Unbehagen entwickelten Thesen zur Entstehung der Kultur vereinbaren lässt. Nietzsche wagt den Schritt in die Urgeschichte von Subjektivität. Die fundamentale innere Bedrohung, und darin besteht Nietzsches eigentliche Entdeckung, liegt im amorphen Charakter der vorkulturellen menschlichen Seele, die der entlastenden Einbettung in ein festes Instinktgefüge entbehrt und zudem der unkontrollierten chaotischen Produktion von alogischen Vorstellungen ausgeliefert ist. Die zentrale These fasst er später in der Morgenröthe zusammen im Spruch über Die Regel, der zum Motto der großen Schriften des Diskurs- und Machttheoretikers Michel Foucault dienen könnte, dessen Werk die Ausarbeitung des Nietzscheanischen Projektes einer Genealogie leisten wird: »›Die Regel ist mir immer interessanter als die Ausnahme‹ – wer so empfindet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.«105
immanenten Transzendenz«, in ders.: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 13-33. Zitat: S. 16. 105. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 269. Michel Foucault notiert im bereits zitierten Nietzsche-Essay (Anm. 25): »Die verschiedenen Entstehungen sind nicht die aufeinanderfolgenden Gestalten ein und derselben Bedeutung, sondern Ersetzungen, Versetzungen und Verstellungen, Eroberungen und Umwälzungen. Wenn Interpretieren hieße, eine im Ursprung versenkte Bedeutung langsam ans Licht zu bringen, so könnte allein die Metaphysik das Werden der Menschheit interpretieren. Wenn aber Interpretieren heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine Richtung aufzuzwingen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es
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Nietzsche erkennt, dass die Diskussion von Einzelelementen etablierter Moralsysteme nicht zu deren fundamentaler Funktion vorstößt, die darin besteht, überhaupt eine Regel zu geben. Nietzsche denkt die mit der Ausbreitung von Welt- und Geschichtskenntnis seit der Renaissance – insbesondere seit der Entdeckung der Neuen Welt – unausweichliche Einsicht in die Relativität von Gesellschafts- und Moralsystemen zu Ende. Der konkrete Inhalt eines Normensystems ist gleichgültig, entscheidend ist, dass es überhaupt eine Struktur für das als vorab als instabil, amorph gedachte Menschenwesen gibt: Die Regel, und Nietzsche hat es versäumt, diese Einsicht mit dem Begriff des Staates zusammen zu denken. Erfahrbar wird die Dimension, die Nietzsche hier evoziert, noch heute im Traum. Erst viel später hat etwa Cornelius Castoriadis in seiner emphatischen Freudlektüre erneut an die archaische Dimension erinnert, in die Nietzsche mit seiner Moralkritik hier blickt, eine Sphäre, deren Charakteristik erfahrbar wird im Chaos des Traumlebens: »›Die Traumgedanken laufen nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt aus‹: Es sind Magmen in einem Magma.«106 Indem die amorphe Welt der menschlichen Traumzeit gelesen, geordnet, einer Hermeneutik unterworfen wird, geht der archaische Charakter bereits verloren, verwandelt sich das Alogische, das aufruht auf dem, was Castoriadis »die ursprüngliche Phantasiebildung«, die »radikale Imagination« nennt,107 bereits »in eine Vielheit einander widerstreitender Bewusstseine«.108 Selbst Freuds Begriff des ›Urphantasmas‹ fingiert, so Castoriadis, eine Geschiedenheit der Dinge, eine Stabilität, deren abgeleiteter Charakter selbst in der Moderne deutlich wird, wenn die Arbeit am Traum auf dessen Nabel stößt, auf das Unverständliche, das vor der »Regel« liegt. Die Dimension des »Magma«, zu der Nietzsches Forschungen in der Morgenröthe vorstoßen, das Apeiron, ist noch heute gegenwärtig in der tiefen Erfahrung des Traumes, über die Freud in einer berühmt gewordenen Passage, die bereits im Schopenhauer-Kapitel herangezogen wurde, notiert: »In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei er Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von Interpretationen. Und die Genealogie muß ihre Historie sein«. S. 95. 106. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (1974), Frankfurt a.M. 1990, S. 465. 107. Ebd. 476. 108. Ebd., S. 466.
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Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.«109
Der wunderbare Text Freuds über das Unerkannte kann hier als Beschreibung des von Nietzsche bedachten vorkulturellen ›Bewusstseins‹ dienen, das in grauenhafter Ohnmacht existiert, und die Ohnmacht gegenüber der Lebensnot draußen noch dadurch verstärkt, dass es im Innern konfrontiert ist mit dem die Wahrnehmung trübenden »Magma«, dem beständig in alle Richtungen entfliehenden Myzel traumverlorener Gedanken. Aus der Traumverlorenheit errettet das ohnmächtige Menschenwesen die Implementierung der Regel. Die Regel, nicht die Ausnahme, die von einer einmal etablierten Regel gestattet wird, ist nach Nietzsche das aufwühlende und unerklärte Faszinosum, das erhellt, warum dem ›großen Gesetzgeber‹ die tiefste Anbetung einer gegebenen Kultur gilt, er aber auch eine ambivalent erfahrene, unheimliche Figur ist.110 Angesichts des Chaos eines zwischen Traum und Tag, Gedanke und Phantasie, zwischen Realität und Phantasma flackernden ›Bewusstseins‹, das Goethes Dichtung zufolge auch in der Passion erneut durchlitten wird, ist jede Regel besser als gar keine Regel. In dem Augenblick, in dem die Regel etabliert wird, schlägt das Subjekt die Augen auf und konstituiert Welt. Mit Blick auf archaische Gesellschaftsordnungen schreibt Nietzsche: »Erster Satz der Civilisation. – Bei rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spiessen, niemals ein Eisen in’s Feuer zu legen – und der Tod trifft Den, welcher in solchen Stücken zuwiderhandelt!), die aber die fortwäh109. Zitiert ebd., S. 465. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900) Bd. 2,
S. 503. 110. Insofern die Regel vor allem konkreten Inhalt die Stabilität garantiert, ist das Verbrechen letztlich eine Infragestellung von Ordnung überhaupt. Der Verbrecher erinnert an die vorkulturelle Dimension, weshalb der Schöpfer einer neuen Moral, deren Installation durch einen Augenblick des Chaos hindurch muss, als Verbrecher gilt: »Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, – das bewirken die Verbrechen mit glücklichem Ausgange (wozu zum Beispiel alle Neuerungen des moralischen Denkens gehören).« Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S 89.
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rende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitten zu üben, fortwährend im Bewusstsein erhalten: zur Bekräftigung des grossen Satzes, mit dem die Civilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte.«111
Nietzsches Kritik der Moral bleibt nicht beim Aufweis von Inkonsistenzen existierender Moralsysteme stehen, sondern schreitet vom Konstituierten zum Konstituens fort. Er entdeckt, was er den Begriff einer ›Sittlichkeit der Sitte‹ nennt, Implementierung einer Struktur, die das innere Chaos wenn nicht beendet, so doch ordnet, kanalisiert, eindämmt: sublimiert. Diese ursprüngliche Sublimierung ermöglicht in einem zweiten Schritt die Minderung der Ohnmacht, insofern sie den Blick für so etwas wie Welt öffnet: Differenzierung zwischen Innen und Außen generiert, Geschichte auf den Weg bringt, die Verwandlung der »psychischen Monade« in ein gesellschaftliches Individuum erlaubt, »für das es andere Individuen, Objekte, eine Welt, eine Gesellschaft und Institutionen gibt«:112 »Begriff der Sittlichkeit der Sitte. – Im Verhältniss zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, dass es ebenso gut als verflüchtigt bezeichnet werden kann. Deshalb werden uns, den Spätgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer, sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben und wollen nicht heraus: weil sie grob klingen! Oder weil sie die Sittlichkeit zu verleumden scheinen! So zum Beispiel gleich der Hauptsatz: Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen.«113
Dass es Nietzsche um die Freilegung der konstitutiven Funktion der Regel überhaupt zu tun ist, zeigt sich bereits im Frühwerk daran, dass seine griechische Tragödie »keine agonale Rede, sondern ein stummes Theater der Bewegung« ist: In der Tragödie wird die archaische Dimension unter den Bedingungen der Kultur evoziert. Hans-Christian von Herrmann pointiert, dass die Tragödienschrift ihre Hauptargumente aus medizinischen Studien der Zeit über große Volkskrankheiten, Epidemien, Tanzwut usw. bezieht:
111. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 29. 112. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution (Anm. 106),
S. 456. 113. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 21f.
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»Unter den neurophysiologischen Vorzeichen, unter denen Nietzsches Tragödientheorie steht, treten an die Stelle sprachlich-artikulierter Mitteilungen nichtsprachliche Medien, die die Botschaft selber sind. Was nämlich ›den Charakter der dionysischen Musik‹ ausmacht, ist ›die erschütternde Gewalt des Tones‹, deren Effekte in theoretischen Ohren nur ›Schrecken und Grausen‹ erregen. Es ist eine Musik, ›deren Macht keine Anleihen beim Medium Sprache und seinen »Bedeutsamkeiten«‹ mehr macht, sondern die ›reine Medientechnik, reiner Befehlsfluß‹ ist.«114
Die attische Tragödie ist daher nicht primär Repräsentation einer dramatischen Handlung, sondern vielmehr »eine raum-zeitliche Bewegung mit Ansteckungswirkung«.115 Kunst entbirgt eine ungeheuerliche Natur, das Apeiron; insofern sie dies aber im Rahmen der Tragödie erreicht, dient sie – kathartisch – gleichwohl dem Projekt der Sublimierung, die stabilisiert wird, indem Affekte im Raum des Theaters abgeführt werden. Mit der Freilegung der ursprünglichen Dimension der Sublimierung, die in nichts anderem besteht als in der Einführung einer Regel überhaupt, hat Nietzsche den Schlüssel in der Hand, der es ihm erlaubt, die abgeleiteten Phänomene der Moralität zu erschließen, zu deren ersten die These gehört, dass Moralität selbst folgerecht nichts Moralisches ist, sondern sich einem Akt der Unterwerfung verdankt: »Man wird moralisch – nicht weil man moralisch ist! – Die Unterwerfung unter die Moral kann sclavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resignirt oder dumpfschwärmerisch oder gedankenlos oder ein Act der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten: an sich ist sie nichts Moralisches.«116
Ausführlich geht Nietzsche in der Morgenröthe und den folgenden Schriften weiteren Epiphänomenen der ursprünglichen Moral nach, etwa der Frage nach der »Nützlichkeit«. Über die individuelle Dimension der Sublimierung, Selbstüberwindung, heißt es, in konsequenter Ableitung aus der ursprünglichen Einsicht: »Die Selbstüberwindung wird nicht ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend 114. Hans-Christian von Herrmann: »›Induction psycho-motrice‹. Zur technischen Wiederkehr der Kunst in Hysterie und Hypnose«, in: Michael Franz et al. (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007, S. 82-96. Hier: S. 86. 115. Ebd., S. 83. 116. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 89.
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erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vortheil: der Einzelne soll sich opfern, – so heischt es die Sittlichkeit der Sitte.«117
Die Einsicht in die Notwendigkeit der »Regel« überhaupt, die das vorkulturelle Chaos zu strukturieren versteht, gibt insbesondere den Leitfaden ab für die einleitend zur ersten Annäherung an den Sublimierungsbegriff herangezogenen Beobachtungen Nietzsches zur Grausamkeit. Aus der Erkenntnis der ursprünglichen Sublimierung als Implementierung der »Regel« erklärt sich die Auffassung, warum jede Kultur auf Grausamkeit aufruht. In der Genealogie der Moral diskutiert Nietzsche die Genese des Gedächtnisses, und die Passagen bestätigen, warum der Rekurs auf Freuds eindrucksvolle Beschreibung des Traumlebens als der Spur des Archaischen in der Moderne dem Verständnis hilfreich ist. In der Traumzeit, dem unkontrollierten Wogen alogischer Vorstellungen, entbehrt das vorkulturelle »Menschen-Thier« des stabilen Gedächtnisses, das die flimmernden Vorstellungen zu Gedanken ordnen und konsistente Handlungen aus ihnen abzuleiten vermöchte.118 Es ist mit einem »theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande« begabt, der nichts konstant zu (be) halten vermag. Der Schritt vom Menschen-Thier zum Menschen vollzieht sich im Zeichen der Gewalt, weshalb Nietzsche – und nach ihm Foucault – behaupten kann, alle Religionen, die ältesten Moralsysteme, seien »auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten«, Systeme aus Überwachen und Strafen, die ihrerseits keine Rückschlüsse auf einen transzendent garantierten Sinn zulassen: »Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. ›Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh
117. Ebd., S. 23. 118. In seiner Phänomenologie der Befindlichkeit bestätigt noch Martin Heidegger in Sein und Zeit die Abkünftigkeit einer geordneten Sicht der Dinge, und seine Metaphorik des ›Flackerns‹ mag sich von der Lektüre Nietzsches herschreiben: »Gerade im unsteten, stimmungsmäßig fl ackernden Sehen der ›Welt‹ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist. Theoretisches Hinsehen hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet, innerhalb welcher Einförmigkeit freilich ein neuer Reichtum des im reinen Bestimmen Entdeckbaren beschlossen liegt.« Martin Heidegger: Sein und Zeit (1926), Tübingen 1986, S. 138.
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zu thun, bleibt im Gedächtnis‹ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden.«119
Mit der Entdeckung der »Regel«, des Inbegriffs der »Sittlichkeit der Sitte« haben Nietzsches Grabungen festen Grund erreicht, jenen Punkt, um Wittgensteins Metapher aufzugreifen, an dem der Spaten sich zurück biegt. Die großen Themen, denen Nietzsches Untersuchungen gelten, zeigen sich aus dieser Perspektive der Sittlichkeit der Sitte in ihrem Zusammenhang. Das Schlagwort vom Willen zur Macht gewinnt aus der Perspektive primärer Ohnmacht ebenso einen nachvollziehbaren Sinn, wie auf der anderen Seite die Genealogie der Moral zurückgeführt wird auf die Idee von Regelung überhaupt. Es zeigt sich, dass neben ›Macht‹ und ›Immoralismus‹ auch ein dritter Slogan populärer Nietzschelektüren in der Morgenröthe einen klaren Sinn besitzt: die Rede vom ›Übermenschen‹. Der Morgenröthe zufolge ist die Errichtung jeder dauerhaften Institution ein Pfeil, der in die Richtung des Übermenschen weist. Übermensch, das meint hier etwas Nachvollziehbares: Der Mensch ist und bleibt beständig dem Apeiron ausgeliefert, der Möglichkeit, in den chaotischen vorkulturellen Zustand zurückzusinken. Institutionen erschaffen als Telos einen idealen Begriff vom Menschen, der dieser Gefahr nicht mehr erläge. Flackernde transitorische Affekte werden institutionalisiert, und in diesem Kontext erhellt auch ein vierter Begriff, der des ›Schaffens‹ und ›Umschaffens‹: Schaffen, Umschaffen, das meint Überführung des beständig Entgleitenden in ein Dauerhaftes, das, als Institution etabliert, stabilisierend und ›hebend‹, wie Nietzsche notiert, auf den Affekthaushalt des Menschen zurückwirkt.120 Um es an der Grenze der Paradoxie zu formulieren: In der Morgenröthe ist der Übermensch noch der Mensch, der das »MenschenThier« hinter sich gelassen hat: »Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft Glauben an ihre Dauer und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben 119. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 295. 120. Die Rückwirkung der Regel auf die Gefühle ermöglicht Einsicht in den abgeleiteten Charakter der Emotionen: »Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühl stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils« Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 45. Darüber hinaus stärkt Nietzsche seine These zum Ursprung der Moral aus der Regel durch komparatistische Studien zu den jeweils relativen Bewertungen von Phänomenen wie dem Neid oder der Hoffnung, die durch die »moralischen Urtheile umgestaltet« werden. Ebd., S. 45.
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ihr einen neuen Rang gegeben: und Der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seines Gleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augeblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zorns die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer übermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.«121
Nietzsche führt seine konsistente Argumentationskette zur Sittlichkeit der Sitte zu einem glanzvollen Abschluss, indem er die gewalttätige Implementierung der Regel, die dann zur intersubjektiv geteilten ›Wahrheit‹ wird, mit dem eigentlichen Tierreich verschaltet. ›Wahrheit‹ ist der Morgenröthe zufolge im Ursprung das Lebensdienliche, Sicherheit gewährleistende. Die ursprüngliche Sublimierung ermöglicht die ›Selbstbeherrschung‹ im Sinne der Distanzierung und Meisterung des inneren Chaos. Und deshalb ist sie so ›wahr‹, wie die lebensdienlichen Instinkte der Tiere, von denen beim Menschen der Sinn für Sicherheit geblieben ist. Die Erfahrung brutaler Gewalt wird gegengewichtet durch die das Tier in uns beruhigende Versprechen von Sicherheit: »[J]enen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Thiere gemeinsam […]. Auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. […] Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, – kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, dass auch der höchste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriff dessen, was ihm alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen.«122
6. Übung Der Durchgang durch Nietzsches Einzelbeobachtungen zur Sublimierung sowie die Rekonstruktion seiner Bestimmung ihres Ursprungs aus der Einführung der Regel macht deutlich, dass sich hinter den vielen, hier bei 121. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 39. 122. Ebd., S. 37.
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weitem nicht ausgeschöpften Aphorismen und Gedankensplittern eine in sich stimmige Theorie verbirgt. Nietzsches Theorie der Sublimierung ist faktisch eine Genealogie der Kultur, die am Ende die ins Dunkel der Spekulation weisende Frage offen lässt, wie es überhaupt zu ihrer Entstehung kam. Die mit Gewalt in die archaische Seele des Menschen eingerammte »Regel« taucht auf wie der schwarze Monolith in Stanley Kubricks Nietzscheanischem Film 2001: A Space Odyssey, dem Bernhard Dotzler eine eindringliche Studie gewidmet hat. Der schwarze Monolith extraterrestrischen Ursprungs induziert bei Kubrick Intelligenz, »die plötzliche Befähigung zum Werkzeuggebrauch« bei den Affenmenschen und ist zugleich, nach der Wiederkehr im Zeitalter der Raumfahrt, »black box im strengsten Sinn und insofern Nichtwissen wie die durch ihn veranlasste Odyssee, die Expedition ins Ungewisse des Alls.«123 Nietzsche stößt vor zur Ursprungsdimension, zu dem Augenblick, in dem das alogische Traumbewusstsein mit brutaler, das Gedächtnis generierender monolithischer Gewalt einer Ordnung unterworfen wird, der Sittlichkeit der Sitte oder der Regel. Die Ordnung, die das fehlende Ensemble der Triebe substituiert, kann sich neben der Gewalt auf die primäre Erfahrung von Ohnmacht stützen, der der elementare Wille zum Überleben korrespondiert. Der ›Wahrheitswert‹ der Ordnung ruht auf dem Gefühl von Sicherheit und Stabilität, die sie gewährt und ist insofern verschaltet mit dem Rest von Tierheit im Menschenwesen. Der Ursprung der Moral ist selbst nicht moralisch, die Ordnung taucht auf und unterwirft die Subjekte.124 Es ist die Kritik primärer, konstitutiver Unterwerfung, die 123. Bernhard J. Dotzler: »Vom Vorteil des Nachteils, dass Medien geistlos sind. Wissen und Nichtwissen in 2001: A Space Odyssey«, in: Achim Geisenhanslüke/Hans Rott (Hg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen, Bielefeld 2008, S. 175-202. Zitate: S. 182 u. 184. 124. Judith Butler macht darauf aufmerksam, dass Nietzsche »uns eine politische Einsicht in die Formierung der Psyche und das Problem der Subjektivation bietet, und zwar paradox verstanden nicht bloß als Unterordnung des Subjekts unter eine Norm, sondern als Konstitution des Subjekts durch ebendiese Unterordnung.« Und so entsteht ihrer Meinung nach der Zirkel, »dass das Subjekt, das sich der Gewalt entgegenstellt, auch der Gewalt gegen sich selbst, seinerseits schon Effekt einer vorhergehenden Gewalt ist, ohne die das Subjekt gar nicht hätte entstehen können.« Der Verweis auf Nietzsches Einblick in die amorphe Struktur vorkultureller Subjektivität kann als Ausweg aus dem von Butler klar benannten Zirkel gelten, insofern es Subjektivität als stabile Entität vor der Unterwerfung nicht gab: Es gibt Unterwerfung 1, Konstitution des Subjekts, und Unterwerfung 2, das, was konstituierte Subjekte einander antun. Woran sich das
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Th. W. Adorno in seiner Arbeit am Begriff der Sublimierung zu leisten unternimmt. Adorno versucht ein alternatives Modell von Subjektivität zu denken, das nicht bis in alle denkbare Zukunft dem auch fatalen Satz Nietzsches, jede Regel sei besser als gar keine Regel, als unentrinnbarem Schicksal ausgeliefert wäre. Am Anfang steht die Regel, deren Anwendung geübt werden muss. Geschichte der Kultur ist im Ansatz eine Geschichte der Grausamkeit und damit zugleich die Geschichte der Versuche, diese Grausamkeit zu lindern, vergessen zu machen, womöglich die Wunde zu heilen, die am Anfang steht: Animismus, Mythos, Monotheismus, andere Hinterwelten, die unterschiedlichen Formen von Romantik als Umwerben des ozeanischen Gefühls, Kunst, Verfeinerung, Veredelung, Sublimierung der Sitten und Besserung des materiellen Lebens, aber auch der forcierte Wille zur Macht (von Nietzsche insbesondere am Deutschen Reich Bismarcks exemplifiziert) – all diese Kulturtechniken untersucht Nietzsche im Hinblick auf ihren zunehmend vergessenen, aber fortwirkenden Ursprung in der Grausamkeit, die die Subjektwerdung ist: »Nietzsches Denken [der immanenten Transzendenz, E.G.] war in Wirklichkeit nichts anderes als philosophische Anthropologie.«125 Die Renaissance, Zeitalter der ersten Globalisierung und also der irreversiblen kulturellen Relativierung brachte das Projekt moderner Aufklärung auf den Weg und generierte neben der neuzeitlichen Skepsis (Montaigne) und dem Atheismus zugleich den historisch erfolgreichsten theologischen Versuch, den Ursprung aus der kontingenten Regel vergessen zu machen und die Kausalverhältnisse wieder radikal zugunsten des schwarzen Monolithen, Gottes, umzukehren. 1881 stellt Nietzsche die atheistische
Subjekt erinnert, im Traum, in der Liebe, zuweilen in der Erfahrung von Kunst, ist eine Welt ohne Autorität und Regel, wobei für die Rückkehr indes der psychotische Identitätsverlust erfordert wird. Der Weg zurück ist eine Fata Morgana, weil mit dem Rückfall die Instanz erlischt, die diesen Rückfall genießen könnte: das Bewusstsein. Leben mit und in der Trennung ist die bei Nietzsche implizite und von der Psychoanalyse dann explizit gemachte Forderung, der Weg vom Es zum Ich. Die Erinnerung ans vermeintlich verlorene Paradies wird Motor der Hoffnung auf eine bessere Zukunft; vgl. unten das Kapitel über Th. W. Adorno. – Judith Butler: »Zirkel des schlechten Gewissens. Nietzsche in Freud«, in dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 63-80. Zitate: S. 65 u. 64. 125. Ernst Tugendhat: »Nietzsche und die philosophische Anthropologie« (Anm. 104), S. 18.
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anthropologische Perspektive wieder her und nimmt die am Römerbrief orientierte Reformation Martin Luthers konsequent zurück:126 »Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung, Übung, Übung! Der dazu gehörige ›Glaube‹ wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!«127
7. Morgenröte Nachdem er zehn Jahre in der Einsamkeit des Hochgebirges gelebt hat, steht Zarathustra »eines Morgens mit der Morgenröthe auf«.128 – Angesichts dessen, dass das gleichnamige Buch den Scheitelpunkt von Nietzsches Werk dokumentiert, liegt wohl mehr als ein Scherz in der Vermutung, dass Zarathustra, wenn schon nicht mit einem Band Nietzsches in der Hand, so doch mit dessen Gedanken in Kopf und Herz die Sonne begrüßt und dann seinen Untergang beginnt. Zarathustra ist frei. Die Morgenröte erleuchtet die Welt und macht die vier Himmelsrichtungen sichtbar und zeigt zugleich die vier Richtungen, in die Zarathustra gehen kann. Zarathustra kann den Weg der Religion gehen, den Weg der Verehrung des schwarzen Monolithen. Er kann den Weg in Richtung auf das Apeiron nehmen, den Untergang seiner Seele in der Flut alogischer Vorstellungen wählen, die Regression, die Psychose, das Verschlungenwerden. Er kann die eisige Position halten, die die Morgenröthe einnimmt: die Position der Wissenschaft, in der die Sublimierung ihren höchsten Gipfel erreicht, weil sie sich selbst erkannt, durchschaut hat. Das wird der Weg Sigmund Freuds sein, der, im Einklang mit Nietzsche im Essay über Leonardo da Vinci die Befreiung von aller Autorität als höchste, Menschen erreichbare Sublimierung bestimmen wird. Voraussetzung für das Aushalten der wissenschaftlichen Position, die ein Bewusstsein des Apeiron ist, das sich diesem nicht hingibt, sondern über dem Abgrund wohnt, ist »die große Selbstbeherrschung«. Die sechs verschiedenen Methoden, die, als Beherrschung eines Triebes, die Selbst-Beherrschung ermöglichen, hat Nietzsche im Aphorismus 109 der Morgenröthe angegeben und erörtert:
126. Neben Martin Luther ist es bekanntlich der Katholik und Mathematiker Blaise Pascal, dem Nietzsches immer wiederkehrende Aufmerksamkeit gilt. In Nietzsches Perspektive verübt Pascal an sich erneut die Grausamkeit, die am Ursprung der Kultur steht, dies in der Hoffnung, dergestalt Erlösung im Glauben zu finden. Zur Schlüsselfigur Luther vgl. auch unten das Kapitel zu Jacques Lacan. 127. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 34. 128. Nietzsche: Zarathustra, KSA 4, S. 11.
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III. Verklär te Physis
»den Anlässen ausweichen, Regel in den Trieb hineinpfl anzen, Übersättigung und Ekel an ihm erzeugen und die Association eines quälenden Gedankens (wie den der Schande, der bösen Folgen oder des beleidigten Stolzes) zu Stande bringen, sodann die Dislocation der Kräfte und endlich die allgemeine Schwächung und Erschöpfung«.129
Die Pointe dieses kleinen Katechismus der großen Selbstbeherrschung besteht allerdings darin, dass sich am Ende herausstellt, dass es nicht eine körperlose Vernunft ist, die die Bekämpfung eines bestimmten Triebes gebietet, sondern vielmehr ein anderer Trieb, der seinen Rivalen bekämpft. Klagen wir über einen Trieb, so »ist es im Grunde ein Trieb, welcher über einen anderen klagt«. Die gegenstrebige Fügung der Triebe kündigt einen Kampf an, »in welchem unser Intellect Partei nehmen muss«.130 Die Erkenntnis, dass die Triebe den Horizont der Erkenntnis und der Welt bezeichnen, macht den vierten Weg namhaft, der Zarathustra im Augenblick der Freiheit über diesem Kampf offen steht: Sublimierung von Abtötung in Steigerung umzudenken, die vom Christentum lancierte Feindschaft zwischen Körper und Geist in ein produktives Spiel zu überführen, das im Symposion als der Weg zur Idee ausgezeichnet worden war und nun bei Nietzsche als ›Übermensch‹ wiederkehrt, der im Grunde mehr ist als ein Schlagwort: der ganze Mensch. Bereits im frühen Essay über Schopenhauer hatte Nietzsche für das nachchristliche Verständnis von Sublimierung einen Begriff gefunden, der sowohl den unversöhnlichen, melancholisch paralysierten Dualismus von Wille und Vorstellung hinter sich lässt, als auch eine Alternative zum verhängnisvollen Absturz in das Apeiron bezeichnet. In den Rahmen seines Schopenhauer-Porträts hatte er ein Selbstporträt hineingehängt, das Bild eines Philosophen, der »zu den mächtigsten Förderern des Lebens, des Willens zum Leben« gehört, eines Philosophen, der sich aus seiner »ermatteten eignen Zeit nach einer Cultur, nach einer verklärten Physis« sehnt.131 Verklärte Physis, das ist der Titel, den Nietzsche für gelungene Sublimierung findet.
129. Nietzsche: Morgenröthe, KSA 3, S. 98. 130. Ebd. 131. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 362.
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IV. Selbstbeherrschung. Sigmund Freud 1. »Now things are becoming queer.« Theor ie der Psychoanalyse Dieses Kapitel gilt Sigmund Freuds Begriff der Sublimierung. Aus noch zu erläuternden Gründen sind seine Ausführungen zur Sublimierung fragmentarisch geblieben, und dem Versuch, aus den verstreuten Bruchstücken ein in sich konsistentes Theorieelement zu rekonstruieren, sind enge Grenzen gesetzt. Es scheint daher ratsam, vor dem Eintritt in die verschlungenen Wege der Schriften Freuds kurz das Theoriegebäude der klassischen Psychoanalyse vor Augen zu stellen, in dessen Zusammenhang der dunkle Begriff steht. Die Ausführungen zu den Texten werden unvermeidlich Seitenwegen folgen, deren Verbindung zu den großen Linien nicht durchweg sofort evident ist. Eine Vergegenwärtigung des Grundgerüstes mag daher zur Orientierung hilfreich sein. Voraussetzung für die folgende Darstellung ist allerdings eine methodologische Grundentscheidung: Die hier versuchte Rekonstruktion nähert sich den kulturtheoretischen Spekulationen Freuds von seinen individualpsychologischen Forschungen her, nicht umgekehrt. Dieser einleitende Hinweis ist wichtig, weil sich aus dem Gesamtwerk Freuds mindestens zwei Geschichten der Sublimierung rekonstruieren lassen, je nachdem, ob man mit der ›naturwissenschaftlich‹ intendierten Psychologie der Einzelseele beginnt oder aber die kühnen und bis heute umstrittenen kulturhistorischen Spekulationen zum Ausgangspunkt wählt, die ihren eindrucksvollen Höhepunkt in der späten Schrift über den Mann Moses finden, der die Geschichte des Monotheismus als die Geschichte der ›Vergeistigung‹ konzipiert. Grund dafür, die individualpsychologische Perspektive zum Ausgangspunkt zu nehmen, ist erstens, dass Freuds Arbeiten zur Kulturgeschichte auf der Hypothese einer Anwendbarkeit individualpsychologischer Einsicht auf die Psychologie der Völker aufruhen. Unabhängig von der komplexen 123
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Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Amplifi kation, die mit Begriffen wie dem ›Unbewussten der Völker‹ operieren muss, geht also die Rekonstruktion der Individualpsychologie der Völkerpsychologie logisch voraus. Der zweite Grund dafür, bei der ›naturwissenschaftlich‹ intendierten Psychologie des Individuums einzusetzen, besteht, wie sich zeigen wird, darin, dass sich so das notorische Zwielicht besser verstehen lässt, in das der Begriff Sublimierung getaucht ist. Ihrem Begründer zufolge ist Psychoanalyse der Name »1. eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2. einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3. eine Reihe von psychologischen auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen«.1
Freuds Enzyklopädie-Eintrag verdeutlicht, dass mit der Psychoanalyse im Vergleich zu den bisher diskutierten Dokumenten der ›Geistesgeschichte‹ etwas Neues und kategorial anderes beginnt. Auf die schöne Literatur und romantische Naturphilosophie Goethes, auf die in ihrem Welterklärungsanspruch obsolet gewordene Metaphysik Schopenhauers und auf die zukunftsweisenden, aber (vermeintlich) unsystematischen Beobachtungen Nietzsches folgt der Neubeginn durch einen Nervenarzt, der sich von Neuronen ab- und den Neurosen zuwandte: Aus der Behandlung hysterischer Patienten gewann Freud die Grundeinsicht, dass bestimmte körperliche Symptome (ferner neurotische Störungen wie Zwänge, Ängste, Phobien etc.) Folge einer seelischen Störung seien, nicht somatischen bzw. neurologischen Ursprungs waren. Die Behandlungsmethode erforderte folgerecht eine Aufklärung über »seelische Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind«. Die Talking Cure, das ausführliche, über mehrere Jahre ausgedehnte Gespräch zwischen Analytiker und Analysand erwies sich als wirksame Methode zur Freilegung der unzugänglichen – unbewussten, verdrängten – seelischen Vorgänge und als gangbarer Weg zur Heilung der Erkrankung. Insofern sich die Psychoanalyse mit flüchtigen Phänomenen wie dem als Wunscherfüllung aufgefassten Traum befasst und sich insbesondere auf die Sexualität konzentriert, deren infantile Dimension Freud bereits 19052 nachwies, war der Kampf um wissenschaftliche, medi1. Zitiert nach: Jean Laplanche u. Jean-Baptiste Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse (1967), Frankfurt a.M. 1991, S. 411. 2. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Studienausgabe Bd. 5, hg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a.M. 1982. Im Folgen-
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IV. Selbstbeherrschung
zinische, soziale Anerkennung schwer und wurde heimgesucht von zahlreichen Rückschlägen, auch ideologisch oder politisch begründeten. Die Schwierigkeiten kulminierten in der Ermordung3 oder Vertreibung der überwiegend jüdischen Psychoanalytiker der ersten – Sigmund Freud geht 1938 ins Exil – und der zweiten Generation – Erik H. Erikson, Heinz Hartmann, David Rapaport u.v.a. – aus dem deutschsprachigen Raum seit der ›Machtergreifung‹ durch die Nationalsozialisten, bevorzugt nach England und in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt die Psychoanalyse wieder nach Deutschland zurück. Alexander Mitscherlich 4 sowie die aus dem Exil zurückgekehrten und Mitscherlich verbundenen Mitglieder der Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno5) befördern den sozialpolitisch folgenreichen Prozess, auch in institutioneller und editorischer Hinsicht. In der BRD ist Psychoanalyse heute eine verbreitete Therapieform, deren Kosten vielfach von den Krankenkassen übernommen werden, woran sich die gleichermaßen erreichte medizinische und soziale Anerkennung zeigt. Suspekt war und ist zuweilen noch die grundlegende Methode der Psychoanalyse, das auf Übertragung und Gegenübertragung basierende Zweiergespräch zwischen Analytiker und Analysand. Der Analytiker ist nicht mehr notwendig Mediziner, verabreicht i.d.R. keine Medikamente. Früh gibt es weibliche Analytiker, ein unterschätzter gesellschaftspolitisch emanzipatorischer Aspekt der neuen Disziplin. Die Analyse ist Dialog, der dahin tendiert, dass der Analytiker mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zuhört und nur selten, in maieutischer Absicht, eingreift: »spezifischer ist [die] Variante der teilnehmenden Beobachtung; im besonderen wendet [die Analyse] die nichtgelenkte (freie Assoziations-), die deutend-genetische und die Abwehranalyse-Technik der teilnehmenden Beobachtung an.«6 Neben dem monumentalen Vokabular der Psychoanalyse, das Laplanche und Pontalis publiziert haben, kann David Rapaports wissenschaftstheoretischer Versuch von 1960, die Struktur der psychoanalytischen Theorie den werden Freuds Texte durchweg nach der Studienausgabe zitiert unter Angabe von Band und Seitenzahl. 3. Sabina Spielrein, deren großem Aufsatz von 1912 über Die Destruktion als Ursache des Werdens die Psychoanalyse den Begriff des Destruktionstriebs verdankt, wird als Jüdin im Sommer 1942 von deutschen Truppen in der Sowjetunion verschleppt und ermordet. 4. Vgl. hierzu umfassend Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007. 5. Vgl. ebd. S. 227ff. 6. David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Versuch einer Systematik (1960), 2. Aufl ., Stuttgart 1970, S. 129.
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systematisch zusammenzufassen, als eine der klarsten Gesamtdarstellungen gelten. Der folgende Überblick fasst die 150 dichten Seiten Rapaports ihrerseits zusammen, wobei auf Einzelbelege weitestgehend verzichtet wird.7 Die kürzeste Version seiner Studie bietet Rapaport selbst mit dem Hinweis auf die Strukturformel Levins: V = f (P, U): Das Verhalten eines Menschen ist eine Funktion aus Person und Umwelt.8 Psychoanalyse ist der Versuch, diese Funktion aufzuhellen, was nach Rapaport zu einem Set von zehn Gesichtspunkten führt, von denen aus menschliches Verhalten analysiert wird. Zur Illustration der Perspektiven der Psychoanalyse greife ich auf das Beispiel eines peinlichen Versprechers zurück, das Rapaport selbst beisteuert: Im Rahmen einer Vorstandssitzung, in der insbesondere der gefürchtete Vorsitzende und der in Frage gestellte Schatzmeister wichtig sind, da es um finanzielle Unklarheiten geht, sagt einer der Sitzungsteilnehmer im Anschluss an Erläuterungen von Seiten des Vorsitzenden, die den Schatzmeister entlasten sollen: »Now things are becoming queer.« Von der schockierten Reaktion der anderen Mitglieder der Sitzung ist der Sprecher vollkommen überrascht, hatte er doch sagen wollen »Now things are becoming clear,« und hätte auch schwören können, dass er ›clear‹ statt ›queer‹ – seltsam, schräg, dubious, oder auch, in der Bedeutung des amerikanischen Slang bereits 1960: ›schwul‹ – gesagt habe.9 Eine Person (P) verhält sich (V) in einer bestimmten Umwelt (U), und dieses Verhalten zeigt eine Auffälligkeit (f), deren Genese die Psychoanalyse aufzuklären unternimmt. Psychoanalyse ist eine Wissenschaft, deren Gegenstand das empirische Verhalten von Menschen ist: der erste Gesichtspunkt (1). Ihr besonderes Interesse gilt der Auf klärung von Auff älligkeiten, Abweichungen von der Norm. Im Fall des ›queer‹-Versprechers ergibt sich die Frage, warum es zu dieser Fehlleistung kam. Offenbar, und Psychoanalyse kann hier anknüpfen an Alltagspsychologie, verdankt sich ›queer‹ statt ›clear‹ der Tatsache, dass der Sprecher gegen seinen bewussten Willen etwas geäußert hat, was er nicht hatte sagen wollen, aber, wie auch immer diff us und ›zensiert‹, gedacht hat. Der Versprecher gibt der Vermutung Raum, dass alles empirische Verhalten vom Konflikt zwischen verschiedenen Strebungen in der Psyche bestimmt ist, weshalb der Weg von der Analyse der Person seinen Ausgang nimmt: 7. Eine solche Zusammenfassung kann das sorgfältige Studium Rapaports nicht ersetzen, zu dem hier vielmehr angeregt werden soll. Das Referat bezieht sich v.a. auf die Seiten 43-90: »Die Struktur des Systems«. 8. David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie (Anm. 6), S. 91. 9. Ebd., S. 85ff.
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Der Gestalt-Gesichtspunkt (2) postuliert, dass mit jedem konkreten Verhalten ein Amalgam aus verschiedenen Aspekten der Person vorliegt – traditionell: Affekten, Gefühlen, Gedanken – ein Konglomerat aus Es-, Ich-, Über-Ich-Anteilen und Einflüssen der Realität: Verhalten ist stets ›überdeterminiert‹. Dieses Postulat wird ergänzt durch den organismischen Gesichtspunkt (3): Kein Element von Verhalten steht isoliert, sondern ist durchweg mit der Gesamtpersönlichkeit verwoben, weshalb sich der hermeneutische Zirkel in der Analyse geltend macht, als abgleichender Pendelschwung zwischen Einschätzung der Gesamtperson und Einzelzug. Der genetische Gesichtspunkt (4) behauptet, aktuelles Verhalten sei durch die individuelle Lebensgeschichte determiniert, insbesondere durch die Entwicklungsstufen der Sexualität. Rekonstruiert werden müssen daher ›Ergänzungsreihen‹, um die Genese spezifisch aufzuhellen. Dem topographischen Gesichtspunkt (5) zufolge sind entscheidende Determinanten des Verhaltens unbewusst: Der Versprecher erweist sich als Indiz einer Konfrontation zwischen bewusstem, realitätsgerechten Verhalten (Ergebnis des ›Sekundärprozesses‹) und einem Drängen, das den Gesetzen des archaischen ›Primärprozesses‹ unterliegt. Der dynamische Gesichtspunkt (6) betont, alles Verhalten sei letztlich triebbestimmt, wobei ›Trieb‹ als ein dem Organischen innewohnendes kausales Agens definiert wird, dessen Spur an ›Repräsentanzen‹ ablesbar ist, etwa an dem sprachlichen Querschläger ›queer‹. Verhalten wird vom Trieb determiniert und zugleich durch Mechanismen der Abwehr und Kontrolle, die beim Versprecher versagen. Der ökonomische Gesichtspunkt (7) ergänzt die Trieblehre: Alles Verhalten führt Energie ab (›Lust-Unlustprinzip‹) und wird durch seelische Energie reguliert: das hydraulische Triebmodell. Die Person bildet Verhaltensweisen zur Regelung der kompromisslos auf sofortige Abfuhr drängenden Triebmengen aus, Formen der Neutralisierung, des Aufschubs, der Verdrängung, der Sublimierung. Das neurotische Symptom kann verstanden werden als ein freilich Leiden generierender Kompromiss zwischen Triebanspruch und Versagungen von Seiten der Realität. Der strukturelle Gesichtspunkt (8) beschreibt vor diesem Hintergrund die Struktur der Persönlichkeit. 1923 hat Freud die alte Topik aus bewusstvorbewusst-unbewusst durch ein neues Strukturmodell substituiert, das Instanzen-Modell, die zweite Topik: Das Ich steht zwischen dem Es, das die Triebdimension repräsentiert und dem Über-Ich, den introjizierten Normen etc. einer Realität. Alles Verhalten ist durch diese Struktur determiniert und ist daher durchweg durch Konflikte charakterisiert: zwischen libidinösen und Ich-Trieben, Trieben und Zensur, Trieben und Realität. Im Verhalten werden fortlaufend Kompromisse gebildet. Die Bemerkung »Now things are becoming queer« ist als Kompromiss und zugleich als Spur eines Konfliktes anzusprechen, insofern ein Anteil der Person reali127
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tätskonform agiert, während ein anderer Anteil eine der Umgebung inadäquate Kritik und womöglich eine genetisch (d.h. individualgeschichtlich) determinierte Emotion ausagieren will: Wiederkehr einer Triangulierung (Vorsitzender und Schatzmeister als Vater und älterer Bruder; der Verdacht, dass zwischen den beiden Männern eine homosoziale Bindung bestehe etc. pp.). Die Einsicht in die Strukturiertheit der Person verweist auf die Determination des Verhaltens durch die Realität, die von der adaptiven Perspektive (9) her studiert wird: Die Person ist inneren Reizen (Trieben) und äußeren Reizen (Realität) ausgesetzt. Erforscht wird, wie für ein Kleinkind die Objekte entstehen, insbesondere äußere Triebobjekte, als Vorbedingung für Triebhandlungen (Abfuhr). Untersucht wird ferner die Ausbildung des Realitätsprinzips, das die Person zur Realitätsprüfung befähigt und dazu, Verhalten entsprechend zu konturieren. Entscheidend für das Verständnis der Person ist schließlich die psychosoziale Dimension (10), die analysiert wird sowohl im Hinblick auf die vergangene Lebensgeschichte (die Epigenese des Ichs, fürsorgende Personen, phasen-spezifische Erfahrungen etc.) als auch im Blick auf die aktuelle Situation innerhalb einer als konstitutiv gedachten Gesellschaft: »Die Gesellschaft ist nicht ein bloßer Verbieter oder Versorger; sie ist notwendige Matrix der Entwicklung allen Verhaltens. Tatsächlich hängt die Entwicklung und das Fortbestehen des Ich, des Überich und vielleicht aller Strukturen von der sozialen Matrix ab: Verhalten wird von ihr bestimmt und ist nur innerhalb ihrer möglich.«10
Seit den Anfängen der Psychoanalyse ist die psychosoziale Dimension Gegenstand intensiver und offener Kontroversen geblieben, die auch die gesellschaftliche Funktion der psychoanalytischen Therapie selbst betrafen, die ihren Weg zwischen Kritik und Anpassung, Dissidenz und Establishment immer wieder neu bestimmen musste und muss. Wie sich zeigen wird, entzündet sich die Kontroverse wiederholt an der von Freud postulierten Befähigung des Menschen zur Sublimierung der Triebe, deren struktureller Ort zwischen Triebverzicht und Triebverwandlung nicht wirklich geklärt worden ist. 1930 publiziert Richard Sterba einen Vortrag Zur Problematik der Sublimierungslehre, den er vor Vertretern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gehalten hatte. Sterba schlägt vor, »jede Zielablenkung einer objektlibidinösen Strebung, soweit sie ohne Verdrängung und ichgerecht sich
10. David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie (Anm. 6),
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vollzieht, vorläufig ausdrücklich Sublimierung zu nennen.«11 Abschließend entwirft er, und hier klingt bereits das Erbe des Symposion an, eine »Stufenleiter«,12 die, wie bei Platon, im reinen Denken kulminiert. Der Weg des Aufstiegs führt selbst 1930 noch von der Hemmung sinnlicher zu zärtlichen Strebungen (1), über primitive Symbolik (2) zur künstlerischen Arbeit (3). Auf diese Stufen folgen die altruistische Leistung des sozialen Helfers (4) und die Arbeit des Forschers (5). Ihre höchste Ausprägung erreicht die Sublimierung zuletzt im Gewinnen einer »indifferenten verschiebbaren Besetzungsenergie, an der sich der Zusammenhang mit dem ursprünglichen Triebziel nicht mehr erkennen läßt« (6), und die selbst die Gegenstände konkreter Einzelwissenschaft hinter sich gelassen hat.13 Wie im Platonischen Symposion führt der Weg von der sinnlichen Liebe zur Freundschaft und von dort zur Kunst und zum Dienst an der Polis, der seinerseits in wissenschaftlicher Arbeit seine höchste Form gewinnt. Am Ende aber steht das von allen Bindungen befreite Denken, das die Philosophiegeschichte als das Ideal der theoria kennt: »Der Prozess des Denkens kann als der reinste Ausdruck der Verwendung indifferenter Triebenergien bezeichnet werden.«14 Im Begriff der Sublimierung konvergieren die beiden Endpunkte der neuen Wissenschaft von der Seele: Auf der einen Seite konzediert Sterba, dass »geradezu unsere gesamte Therapie auf der Fähigkeit der Libido zu solcher extremer Sublimierung« beruhe,15 die ihrerseits, als erreichte, zur theoria des 20. Jahrhunderts nobilitiert wird. Angesichts der zentralen Stellung dieses Begriffs ist der Umstand erstaunlich, dass Sublimierung zu den dunkelsten Begriffen der psychoanalytischen Theorie gehört, und motiviert dazu, die Bemerkungen Sigmund Freuds zum Thema erneut zu studieren.
2. Eine Dunkelheit in der Mitte der Metapsychologie Mustert man das Corpus der Schriften Freuds im Hinblick auf die fragmentarische Theorie der Sublimierung, fällt zunächst auf, dass sich, allen Widersprüchen und Modifi kationen zum Trotz, zwei Elemente von 1905, 11. Richard Sterba: »Zur Problematik der Sublimierungslehre«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XVI (1930), S. 370-377. Hier: S. 371. 12. Ebd., S. 376. 13. Ebd. 14. Ebd., S. 377. 15. Ebd.
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den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, bis 1930, bis zur Studie über Das Unbehagen in der Kultur, als Konstanten abzeichnen: Durchweg besteht Freud erstens darauf, dass der Prozess der Sublimierung an den Sexualtrieben durchgeführt wird und nicht an den Ich- bzw. Selbsterhaltungstrieben oder an den Destruktionstrieben: »Die erotischen Triebe erscheinen uns ja überhaupt plastischer, ablenkbarer und verschiebbarer als die Destruktionstriebe.« 16 Ebenso entschieden besteht Freud zweitens darauf, dass der Prozess der Sublimierung »mächtige Komponenten für alle kulturellen Leistungen« bereitgestellt habe.17 Die Aussagen schwanken indes hinsichtlich der Frage, wie hoch der Anteil der Sublimierung am Zivilisationsprozess zu veranschlagen sei. Es bleibt außerdem undeutlich, welche kulturellen Leistungen – Kunst,18 Wissenschaft,19 ethische Normen,20 Phantasien,21 oder aber jede Form von Instinktersatz: Institutionen, selbst »Berufsarbeit«22 – als Sublimierungen im strikten Sinne anzusprechen sind, ob nur einige bestimmte oder »alle«. In der Bestandsaufnahme zur Sublimierungslehre von 1931 bringt Siegfried Bernfeld daher beide Aspekte, Sexualität und Kultur, grundsätzlich zusammen. Ihm erscheint die Theorie der Sublimierung als der Versuch, »die Genese der Kultur selbst«23 aus der Sexualität, genauer: aus der libidinösen Besetzung nicht-sexueller Objekte, zu rekonstruieren: »Freud verband mit [dem Begriff der Sublimierung] von Anfang an auch eine Theorie kulturwissenschaftlicher Relevanz. Die Werte Kunst, Technik, Wissenschaft, Religion sind sexuellen Ursprungs – das ist die vereinfachte und verallgemeinert formulierte, sehr radikale und weitausholende Theorie, die das Wort Sublimierung in sich mitverdichtet enthält.«24 16. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 311. 17. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Bd. 5, S. 85. Herv. E. G. 18. Vgl. z.B. ebd., S. 140. 19. Sigmund Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens (1910), Bd. 5, S. 187. 20. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), Bd. 3, S. 251. 21. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Bd. 1, S. 366. 22. Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), Bd. 10, S. 104. 23. Siegfried Bernfeld: »Zur Sublimierungstheorie« (1931), in ders.: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, Bd. 2, hg. v. Lutz von Werder u. Reinhart Wolff, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1974, S. 225-235. Hier: S. 232. 24. Ebd., S. 226.
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Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, Freud identifiziere weitestgehend den Prozess der Sublimierung mit dem Prozess der Zivilisation überhaupt. Im selben Atemzug ist es dann wieder eine vorgängige Kultur, die die Kultur bildenden Sublimierungen erzwingt, und die Frage ergibt sich, woraus diese die Kultur erzwingende Kultur ihrerseits entstand. Es unterläuft eine verwirrende Zirkularität der Darstellung; eine Kultur (1) generiert oder erzwingt eine Kultur (2): »Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen.«25
Für das Schwanken und das unlogisch Zirkuläre nicht nur dieser Passage gibt es Gründe, die aus den Modifi kationen der Topik seit der Einführung des Narzissmus und dann der Einführung des Todestriebs resultieren, der dem Eros schroff gegenüber gestellt wird. Insbesondere ergibt sich aus der neuen Opposition zwischen Eros und Todestrieb die Frage, ob aggressive Triebe ebenfalls sublimiert werden – etwa, wie Nietzsche es lehrte, durch Ritual, kathartische Abfuhr, Kampfspiel, Sport usw. – oder primär zu hemmen sind. Um die Klarheit der Darstellung zu sichern, wird in der folgenden Rekonstruktion von der beunruhigenden Frage nach der Aggression zunächst weitgehend abgesehen. Hinzuweisen ist hier vorgreifend auf die Lehre von der Triebmischung: Insofern es die Sexualtriebe sind, die sich zur Sublimierung eignen, wird eine Sublimierung von Aggression vor allem dann möglich, wenn letztere sich mit der Libido amalgamiert hat, eine Ansicht, die etwa noch für Alexander Mitscherlich theoretischer Standard ist. Er postuliert für Erziehung grundsätzlich: »Anpassung muß Triebmischung fördern«, denn, so die aus therapeutischer Praxis gewonnene Beobachtung: »In der Triebentmischung wird überdeutlich, daß Aggression als objektzerstörende Kraft ohne die Legierung mit Libido keine Sublimierungsfähigkeit besitzt.«26 Es ist ein spätes Echo Nietzsches hörbar, wenn
25. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 227. 26. Alexander Mitscherlich: Die Idee des Friedens und die menschliche Aggression. Vier Versuche, Frankfurt a.M. 1970, S. 87. Vgl. auch ebd., S. 114: »Wenn jede Macht aus der Nutzung des aggressiven Potentials lebt, so läßt die vernünftige Machtform die Fusion mit einer zweiten Triebquelle erkennen: der Libido. Libido mildert in dieser engen Verbindung mit Aggression den Verhaltensstil.«
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Mitscherlich in einer Studie zum Begriff Aggression vor ›falscher Sublimierung‹ warnt: »Das totale Abdrängen jeder sexuellen, naturhaften Äußerung z.B. in Bereiche des Wertlosen, Wertwidrigen, ›Niedrigen‹ – ein derart überspanntes Sublimierungs- und Neutralisierungsgebot, etwa im Calvinismus und Puritanismus, hat nicht nur zu einer lebenszerstörenden kollektiven Neurotisierung mit faktischer Doppelmoral geführt, sondern zu einer ungezügelten (entmischten, von echter libidinöser Bindung befreiten) Aggressivität.«27
Verantwortlich für die terminologische und sachliche Unklarheit ist neben dem Umbau der Topik vor allem die mangelhafte Aufhellung des Prozesses individueller Sublimierung selbst, für den Freud gleichwohl wiederholt Evidenz reklamiert: »Daß Triebregungen aus einer Quelle sich solchen aus anderen Quellen anschließen und deren weiteres Schicksal teilen, daß überhaupt eine Triebbefriedigung durch eine andere ersetzt werden kann, sind nach dem Zeugnis der analytischen Erfahrung unzweifelhafte Tatsachen. Gestehen wir nur, daß wir sie nicht besonders gut verstehen.«28
Um die Rolle der Sublimierung im Prozess der Zivilisation zu klären, wäre zuvor die Psychologie der individuellen Sublimierung zu leisten, die aber, wie nicht nur das letzte Zitat bestätigt, nicht elaboriert worden ist. Klar ist aus therapeutischer, empirischer Perspektive zunächst dies: dass es Sublimierung gibt, und zwar als ein eigenständiges Phänomen im Unterschied zu stabiler Verdrängung, neurotischen Symptomen, Hemmung und Reaktionsbildungen. Allerdings fällt es Freud schwer, Sublimierung insbesondere von Reaktionsbildungen scharf abzugrenzen. In den Drei Abhandlungen wird die Reaktionsbildung der Sublimierung noch subordiniert: »Eine Unterart der Sublimierung ist wohl die Unterdrückung durch Reaktionsbildung«.29 Etwas klarer werden die Verhältnisse später in der Studie über Charakter und Analerotik, wo ein Stufenmodell flüchtig skizziert wird, das zu der verbreiteten 27. Ders.: »Wesensbestimmung der Aggression«, in: Hans Thomae (Hg.): Die Motivation menschlichen Handelns, Köln/Berlin, 3. Aufl . 1966, S. 210-215. Hier: S. 213. 28. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Bd. 1, S. 48. 29. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Bd. 5, S. 140.
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Annahme führte, Sublimierung sei ein Abwehrmechanismus.30 Das folgende Zitat argumentiert, dass durch Erziehung erworbene negative Reaktionen auf die nicht auf Fortpflanzung fi xierte sexuelle Erregung von Genitalien, Mund, After, Blasenausgang, also: Scham, Ekel, Moral, im Laufe der Entwicklung des Individuums ihrerseits zu festen Charakterzügen ausgeformt werden, die dann als die eigentlichen Sublimierungen gelten sollen: »Allgemein gesprochen, kommt nur ein Teil von ihnen [der Beiträge zur Sexualerregung, E.G.] dem Sexualleben zugute; ein anderer Teil wird von den sexuellen Zielen abgelenkt und auf andere Ziele gewendet, ein Prozess, der den Namen ›Sublimierung‹ verdient. Um die Lebenszeit, welche als ›sexuelle Latenzperiode‹ bezeichnet werden darf, vom vollendeten fünften Jahre bis zu den ersten Äußerungen der Pubertät (ums elfte Jahr), werden sogar auf Kosten dieser von erogenen Zonen gelieferten Erregungen im Seelenleben Reaktionsbildungen, Gegenmächte, geschaffen wie Scham, Ekel und Moral, die sich gleichwie Dämme der späteren Betätigung der Sexualtriebe entgegensetzen. Da nun die Analerotik zu jenen Komponenten des [Sexual-]Triebes gehört, die im Laufe der Entwicklung unserer heutigen Kulturerziehung für sexuelle Zwecke unverwendbar werden, läge es nahe, in den bei ehemaligen Analerotikern so häufig hervortretenden Charaktereigenschaften – Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn – die nächsten und konstantesten Ergebnisse der Sublimierung der Analerotik zu erkennen.«31
Klar ist für Freud zunächst, dass es Sublimierung gibt. Klar ist für ihn ferner, dass die Sexualtriebe sublimiert werden und dass die Sublimierung ein mächtiger Faktor der Kulturentwicklung ist. Unklar hingegen bleibt, wie Sublimierung metapsychologisch konkret zu denken ist, und unklar bleibt auch, welche Rolle die Sublimierung in der Kultur spielt. Erst Wilhelm Reich hat in seiner Charakteranalyse die zwar abgelenkte, aber weiterhin in eine ähnliche Richtung strömende Sublimierung und zu30. Vgl. Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen (1936), Frankfurt a.M. 2006, die Sublimierung als zehnten Abwehrmechanismus rubriziert, als »Verschiebung des Triebziels« (S. 51), sowie: Hans W. Loewald: Sublimation. Inquiries into Theoretical Psychoanalysis, New Haven and London 1988, S. 36-44: »The Traditional Theory of Sublimation and Defense«. Loewalds Untersuchung gehört zu den wenigen klinischen Beiträgen aus jüngerer Zeit, die Sublimierung monographisch abhandeln. Loewald macht auf den entscheidenden, auch von Adorno bemerkten, narzisstischen Zwischenschritt aufmerksam, den Freud mit der Studie über Das Ich und das Es einführt (s.u.), aber er verbleibt in seinen Überlegungen auf der Ebene des zu therapierenden Subjekts, was den Begriff der Sublimierung halbiert, um die soziale Dimension bringt. 31. Sigmund Freud: Charakter und Analerotik (1908), Bd. 7, S. 26f.
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rückgestaute, das Ich progredierend belastende Reaktionsbildung in einen Gegensatz gebracht: »Während bei der Sublimierung keine Verkehrung der Triebrichtung vorliegt, der Trieb einfach vom Ich übernommen und nur auf ein anderes Ziel abgelenkt wird, erfolgt bei der Reaktionsbildung eine Verkehrung der Triebrichtung, der Trieb kehrt sich gegen das Selbst, und nur insoweit diese Verkehrung erfolgt, wird er vom Ich übernommen. Aus der Besetzung des Triebes wird bei dieser Verkehrung eine Gegenbesetzung gegen das unbewußte Triebziel. […] Bei der Reaktionsbildung ist das Ich ständig mit sich selbst beschäftigt, es ist sein eigener strenger Aufpasser. Bei der Sublimierung hat das Ich seine Energien für die Leistung frei.«32
Der Sublimierung fällt von Anfang an eine Schlüsselrolle zu für die Frage nach dem Nexus zwischen Psychoanalyse des Individuums und allgemeiner Kulturtheorie. Über den Begriff Sublimierung wird Psychoanalyse, wie Bernfeld notiert, zur empirischen »Kulturwissenschaft«, zu einer Wissenschaft, »die über die gebräuchliche Definition und Praxis von Biologie, Physiologie, Psychologie, Sozialwissenschaften hinausstrebt und Gesetzmäßigkeiten von allgemeiner Geltung sucht.«33 Und genau an dieser Theoriestelle, der Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (und dann der Natur), liegt vieles bis heute im Dunkeln. Die Ausführungen Freuds sind derart fragmentarisch, dass die Autoren des Vokabulars der Psychoanalyse zu dem Schluss kamen, aus den wenigen Belegstellen lasse sich eine Theorie der Sublimierung »nicht ableiten«. Gleichwohl unterstreichen Laplanche und Pontalis abschließend die Bedeutung des Begriffs: »In der psychoanalytischen Literatur greift man häufig auf den Sublimierungsbegriff zurück; er stellt in der Tat den Hinweis auf eine Forderung der Doktrin dar, von der man schlecht sehen kann, wie man auf sie verzichten soll. Das Fehlen einer zusammenhängenden Theorie der Sublimierung bleibt eine der Lücken im psychoanalytischen Denken.«34
Die Frage nach dem Prozess der Sublimierung wird drängend wie der durch ihn umgelenkte, bewältigte, verfeinerte, vergeistigte oder auch nur gehemmte Trieb, weil hier der erstaunliche Fall vorliegt, dass dessen große Rolle in der Theoriebildung und in der Therapie zwar behauptet wird, aber 32. Wilhelm Reich: Charakteranalyse, 3. Aufl ., Köln 1971, S. 208f. 33. Bernfeld: Zur Sublimierungstheorie (1931), (Anm. 23), S. 234. 34. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse (1967), (Anm. 1), S. 479 u. 481.
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IV. Selbstbeherrschung
nicht durch eine angemessene Ausarbeitung gesichert ist. Das Skandalon einer Dunkelheit im Zentrum der Theorie hat erhebliche Konsequenzen für die Metapsychologie und Therapie noch jüngerer Zeit. Otto F. Kernberg zum Beispiel hat in seinem einflussreichen Buch über Borderline-Störungen mangelhaft ausgebildete Sublimierungen als »einen prognostischen Faktor von großer Bedeutung« benannt, von dem er, Folgelast der skizzierten Probleme klassischer Psychoanalyse, gleichwohl zugibt, dass dieser Faktor »oft schwer zu beurteilen« sei.35 Das ungelöste Problem kehrt wieder wie etwas Verdrängtes: als Begriff von hohem Rang, dessen theoretische Bestimmung und Handhabung in der diagnostischen Praxis eminente Schwierigkeiten bereiten. Die Herkunft des von Kernberg benannten Ensembles von Indikatoren der Sublimierungsfähigkeit aus Freuds Schriften ist offenkundig, auch insofern, als erneut verschiedene Praktiken umstandslos auf eine Ebene des Begriffs gebracht werden: »Freude an der Arbeit und am Leben überhaupt und die Fähigkeit zu schöpferischen Leistungen, was etwas anderes ist als die bloße Leistungsfähigkeit als solche, in der sich nicht so sehr die Ausbildung von Sublimierungen als vielmehr die besonderen Abwehrformen, Fähigkeiten oder auch Begabungen des Patienten widerspiegeln.«36
Freuds Theorie der Sublimierung bezieht sich in ihren zwei konstanten Elementen auf das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, speziell zu seinen Sexualtrieben, dann aber auf das Verhältnis zur Natur und zu anderen Menschen. Im Begriff der Sublimierung überleben dergestalt zwei klassische Probleme der Philosophie wie der Anthropologie und werden zudem kompliziert miteinander verknüpft: das Verhältnis zwischen Körper und Geist einerseits, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft/ Natur anderseits: »[T]he concept of sublimation is an attempt to relate not only body and spirit, but also individual and society; but again it raises problems which it does not solve.«37 In philosophiehistorischer Perspektive reformuliert die Sublimierungslehre als Theorie des Individuums Gedankengänge des deutschen Idealismus38 einschließlich Schopenhauers Willensmetaphysik, aktualisiert aber 35. Otto F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt a.M. 1983, S. 157. 36. Ebd., S. 158. 37. Norman O. Brown: Life Against Death. The Psychoanalytical Meaning of History, Middletown 1985, S. 139. 38. Vgl. Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, Köln 1987, S. 239-248 und passim.
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auch Nietzsches Theorie der Selbstüberwindung: Nietzsche hat den Begriff der Sublimierung in die Psychologie eingeführt, nicht erst Freud.39 Als Theorie des Sozialen stellt sich Freuds Entwurf dar als eine freilich nicht explizit ausgewiesene Neufassung der Staatslehre des Hobbesschen Leviathan im Licht der Entdeckung des Unbewussten. In diesem Zusammenhang der Frage nach dem Staat und seinen Institutionen bricht die Problematik der Aggression voll auf. Der eine Forschungsaufgabe anzeigende Begriff »Sublimierung« markiert »einen starken Eindruck«, der Bernfeld zufolge »zu den Grunderlebnissen des Psychoanalytikers gehört […]: daß etwas unverändert beharrt im kontinuierlichen Fluß des seelischen Geschehens«. Diese »Wahrnehmung eines Identischen im Wechsel« verlockt dazu, in der Psychoanalyse ein theoretisches Instrumentarium zu erblicken, das zur Überwindung der überlieferten Dualismen beiträgt, insbesondere die Spaltung zwischen Geist und Körper, dann aber auch zwischen Individuum und Gesellschaft aufheben soll. Im Unterschied zum philosophisch reservierten Freud hat Bernfeld den Anspruch der Psychoanalyse, klassische Dualismen genetisch aufzulösen, explizit formuliert. Wie im vorangehenden Kapitel zu zeigen versucht wurde, beerbt die Psychoanalyse hier das historische Denken Friedrich Nietzsches: »Die Formidentität ist als genetische Identität gedeutet, wenn sie als ›Sublimierung‹ bezeichnet wird. Die im allgemeinen hochbewerteten und auch der Selbstschätzung bedeutsamen Sphären des Lebens werdender Sublimierungstheorie zu abgeleiteten, nicht ursprünglichen Phänomenen, und die Identität der Formen wird zum Anzeichen der Identität der Libido. Die Formidentität ist nicht Symbol, sondern reale Transponierung.«40
Sublimierung hat zwei Dimensionen, eine individuelle und eine soziale. Ihre Theorie ist der Versuch, die Position des Ich und seines Charakters zwischen den Trieben, die von innen drängen, und der Lebensnot, die von außen kommt, genauer zu bestimmen. Selbsterhaltung des Ich muss durchgesetzt werden gegen die übermächtige innere und äußere Natur sowie in der Konfrontation mit den anderen, die ihrerseits ebenfalls im Konflikt stehen, wodurch sich die Probleme potenzieren. Im Bezug auf seinen Körper muss sich das Ich, dessen Selbsterhaltungstrieb sich zur Orientierung am Realitätsprinzip ausbildet, gegen die Triebe durchsetzen. Gegen das Lustprinzip, das sowohl den Partialtrieben als auch dann dem 39. Vgl. Walter Kaufmann: Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, S. 245-298 sowie die Kapitel zu Schopenhauer und Nietzsche in diesem Buch. 40. Bernfeld: »Zur Sublimierungstheorie« (1931), (Anm. 23), S. 226f.
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IV. Selbstbeherrschung
Sexualtrieb sensu stricto zu Grunde liegt, und gegen das Nirvanaprinzip, die aggressiv oder depressiv konturierte Sehnsucht nach Auflösung in anorganische Natur, muss das fragile Ich sich erhalten. Aus der vielschichtigen Herausforderung resultiert die Komplexität des Sublimierungsbegriffs. Die Arbeit an sich selbst, gewendet nach außen, ist Voraussetzung für das Überleben in der durch Lebensnot und Versagung gezeichneten Welt: Ein Ich, unfähig, seine erotischen Triebe zu sublimieren und seine aggressiven Triebe zu hemmen (oder qua Triebmischung gleichfalls zu sublimieren), ist in der Auseinandersetzung mit der Natur und mit den anderen unterlegen, vervielfacht die Lebensgefahr, in der es ohnehin beständig schwebt. Einige der Schwierigkeiten, den Sublimierungsbegriff auszuarbeiten, folgen aus der ebenso notwendigen wie ungeklärten Verklammerung zwischen Innen und Außen, für deren subjektive Seite Freud vor dem Hintergrund seiner Analyse der Melancholie zuletzt eine strukturelle Lösung findet. Unentschieden bleibt gleichwohl, ob sich Sublimierung als inneres ›Programm‹ von selbst vollzieht, »as a quasi-biological process undergone by the human race in the course of evolution«, 41 ähnlich der Entwicklung zur Geschlechtsreife, oder ob Sublimierung als Oktroi rein von außen kommt, ein »erzwungenes Triebschicksal« darstellt: »If sublimations are imposed by society on the individual, then sublimation is the result of repression.« 42 Der Versuch einer genauen Rekonstruktion der in zwei Richtungen gedachten Sublimierung muss daher methodisch auseinander nehmen, was bei Freud verlötet ist. Zunächst ist zu studieren, wie sich Freud die Funktionsweise der Sublimierung im Hinblick auf das Individuum und seine Auseinandersetzung mit dem Ensemble seiner Triebe vorstellt.
3. Die indiv iduelle Dimension der Sublimierung 3.1 S UBL IMIERUNG
UND
E VOLUT ION
Um die Frage klären zu können, ob Sublimierung ein erzwungenes Triebschicksal ist oder aber ›ein quasi-biologischer Prozess‹, muss zunächst der oben skizzierte Zirkel durchbrochen werden, in den sich Freud wiederholt verstrickt: Wie entsteht jene Kultur (1), die dann von ihren neuen Mitgliedern, den nachwachsenden Generationen, Sublimierungen, Kultur (2), erzwingen oder: ihnen beibringen kann? Zu leisten ist eine plausible Verknüpfung zwischen Evolutionstheorie und Sublimierung, wenn anders 41. Loewald: Sublimation (Anm. 30), S. 6. 42. Brown: Life Against Death (Anm. 37), S. 139.
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es jene integrierten Erwachsenen geben können soll, die »das Einwachsen des Menschen, der ja als Triebwesen von Schimpansenrang sich (bei der Entwöhnung) vom Mutterkörper loslöst, in die Kultur des Verbandes, in den er hineingeboren wurde«, ermöglichen. 43 In einer leicht zu überlesenden Passage aus den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie stellt Freud die Verbindung her. Der evolutionsgeschichtliche Ursprung der Sublimierung besteht im aufrechten Gang, der das Genitale unsichtbar werden lässt, und in der Verhüllung des Körpers, die der Verlust der Körperbehaarung notwendig macht: »Die mit der Kultur fortschreitende Verhüllung des Körpers hält die sexuelle Neugierde wach, welche danach strebt, sich das Sexualobjekt durch Enthüllung der verborgenen Teile zu ergänzen, die aber ins Künstlerische abgelenkt (›sublimiert‹) werden kann, wenn man ihr Interesse von den Genitalien weg auf die Körperbildung im ganzen zu lenken vermag.«44
Winfried Menninghaus hat die in ihrer großen Bedeutung kaum erkennbare Verknüpfung von Evolutionstheorie und Sublimierung vor allem im Hinblick auf ästhetische Theorie rekonstruiert, damit zugleich aber auch die bei Freud notorische Zirkularität aufgelöst. Seine Lektüre erläutert nicht nur den evolutionsgeschichtlichen Ursprung ästhetischer Sublimierung, sondern Sublimierung allgemein: »Die spezifisch menschliche Modifikation jener sekundären Geschlechtsmerkmale, an denen ›die Schönheit haftet‹, begünstigt im Feld der sexuellen ›Reize‹ aus ihren eigenen Gegebenheiten heraus eine ablenkende Sublimierung: Damit ist die vielbeschworene Interesselosigkeit der ästhetischen Einstellung eine genuin menschliche Möglichkeit. Das Neue, das spezifisch Menschliche ästhetischer Wahrnehmung ist diese im Tierreich unbekannte Sublimierung; sie macht deshalb mit großer Berechtigung den Kern von Freuds Theorie der Schönheit aus. Ihre evolutionäre Möglichkeit hängt aufs Engste zusammen mit den speziellen Capricen der menschlichen Sexualmode: der Denudierung der Haut (mit der doppelten Konsequenz kultureller Verhüllung und imaginärer Ergänzung des Verhüllten) und der relativen Entwertung der starken Reize, die periodisch von genitalen Signalen ausgehen, zugunsten ›milderer‹ und dauerhafter optischer Reize. […] Erst Freud aber macht es möglich, diese Sublimierung von ihrer evolutionären Unwahrscheinlichkeit her zu verstehen, statt sie nur als ein gegebenes Anthropologicum anzunehmen. Nur Freud vermag zu zeigen, wie sexuelle Selektion im 43. Bernfeld: »Zur Sublimierungstheorie« (1931), (Anm. 23), S. 231. 44. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Bd. 5,
S. 66.
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Verfolg ihrer eigenen Mechanismen zur Ausbildung von ›Ornamenten‹ gelangen konnte (die nackte Haut, die Abkopplung der weiblichen Reize von jeglicher Ovulationsanzeige), die von sich aus eine kulturelle Sublimierung des Sexualtriebs begünstigen […]. Evolutionstheorie und Psychoanalyse liefern damit eine Erzählung von der Emergenz ästhetischer Interesselosigkeit aus der evolutionären Modifikation ihres sexuellen ›Ursprungs‹.«45
Zwei Schritte der Evolution, aufrechter Gang und Verhüllung als Folge weitgehenden Verlusts der Körperbehaarung, begünstigen von sich aus Sublimierung, insofern der Sexualtrieb buchstäblich von seinen primären Objekten ›abgelenkt‹ ist, die unsichtbar werden. Andere Aspekte, sekundäre Geschlechtsmerkmale oder die gesamte Gestalt, kulturell spezifizierte Attribute, Kleidungsstücke, Schmuck, Verhalten werden erregend, Unsichtbares wird imaginär ergänzt. Von hier aus kann, wie Menninghaus notiert, die lange Erzählung kultureller Sublimierungen ihren Anfang nehmen. Von der Seite der Triebtheorie kommt der evolutionstheoretischen Einsicht die weitere Entdeckung Freuds entgegen, dass Sexualtriebe offenbar nicht zwingend mit ›ursprünglichen‹ Objekten, also nicht mit dem Anblick oder dem Geruch der primären Geschlechtsmerkmale verbunden sind. Sexuelle Erregung ist nicht exklusiv gekoppelt an den einen Fall, nicht einmal an ein äußeres ›Objekt‹. Sie ist umfassender, die auf Fortpflanzung gerichtete Gestaltung ein Spezialfall. Die Idee der Plastizität der Sexualtriebe ist von der Triebtheorie her das Fundament der Sublimierungslehre: »Wir werden aufmerksam gemacht, daß wir uns die Verknüpfung des Sexualtriebes mit dem Sexualobjekt als eine zu innige vorgestellt haben. Die Erfahrung an den für abnorm gehaltenen Fällen lehrt uns, daß hier zwischen Sexualtrieb und Sexualobjekt eine Verlötung vorliegt, die wir bei der Gleichförmigkeit der normalen Gestaltung, wo der Trieb das Objekt mitzubringen scheint, in Gefahr sind zu übersehen. Wir werden so angewiesen, die Verknüpfung zwischen Trieb und Objekt in unseren Gedanken zu lockern. Der Geschlechtstrieb ist wahrscheinlich zunächst unabhängig von seinem Objekt und verdankt wohl auch nicht den Reizen desselben seine Entstehung.«46
Der Grundgedanke der Plastizität und Ablösbarkeit vom ›Objekt‹ wird wiederholt formuliert und dann verallgemeinert, etwa 1915 in Triebe und Triebschicksale: 45. Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a.M. 2003, S. 210f. 46. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Bd. 5, S. 58.
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»Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist das variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet.«47
Die Beobachtung ist entscheidend, um die Funktionsweise der Sublimierung als Wechsel von Objekten, von einem Sexualobjekt zum nächsten sowie als Wechsel zu nichtsexuellen, ›höheren‹ Objekten aufzuklären. Bereits hier zeichnet sich ab, dass der Prozess der Sublimierung nicht den Trieb selbst manipuliert; es geht um den Ersatz von Objekten, womit sich die Problematik des Surrogates in die Lehre einschreibt. Der Verdacht, dass Sublimierung um ›das Eigentliche‹ betrügt, fällt auf diesen Prozess wie der Schatten des verlorenen Objekts auf das Ich in der Melancholie und lanciert potentiell mehr als nur ein Unbehagen: den Ausbruch der Aggression aus der Amalgamierung mit dem frustrierten Begehren. Dass wir eigentlich auf nichts verzichten können und es doch müssen, diese melancholische Einsicht hängt seit dem Vortrag über den Dichter und seine Träume vom anderen Leben emblematisch über der Sublimierungslehre: »Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, dass ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust. Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder Surrogatbildung.«48
Der Hinweis auf das Verständnis ›normaler Gestaltung‹ genitaler Sexualität als weit verbreiteten Spezialfalls impliziert den nächsten Schritt: Sublimierung wird vollzogen an überschüssiger Sexualenergie, an den schwer zu qualifizierenden »überstarken Erregungen aus einzelnen Sexualitätsquellen« 49 einerseits, an den perversen, für die Fortpflanzung verzichtbaren Seitentrieben sexueller Erregung anderseits. Bevor die letztere Differenzierung, die offenkundig nicht nur ein ›normales‹, sondern bereits ein normatives Verständnis einer gegebenen Kultur voraussetzt, studiert werden kann, ist daher ein Blick auf Freuds Triebmodell allgemein unvermeidlich.
47. Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale (1915), Bd. 3, S. 86. 48. Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908), Bd. 10,
S. 172. 49. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Bd. 5,
S. 141.
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IV. Selbstbeherrschung
3.2 D A S
HYDR AUL I SCHE
TR IEBMODELL
Im gängigen Sprachgebrauch erscheint Sublimierung als eine Veränderung am Trieb selbst, als dessen ›Vergeistigung‹ oder Selbst-Sublimierung. Das ist ein nicht nur für die Freudlektüre folgenreiches Missverständnis, obwohl Herbert Marcuse im Zeichen Platons und Schillers den kühnen Versuch unternommen hat, eine Theorie der Selbst-Sublimierung des Eros zu entwerfen, im Ausgang von Freud. Eine Veränderung an der Substanz des Triebes gibt es indes bei Freud vorab nicht, was die theoretische Grundlage für seine schroffe Zurückweisung der Idee einer Teleologie in der Geschichte abgeben wird, die etwa einen ›Trieb zur Vervollkommnung‹ annimmt. Das ist der Grund, warum sich insbesondere solche Autoren mit Freuds Sublimierungslehre eingehend befasst haben, denen an einer Theoretisierung des Geschichtsprozesses gelegen war, etwa Herbert Marcuse, Norman O. Brown und schließlich Theodor W. Adorno. Von Freud führt kein direkter Weg zur Philosophie der Geschichte, und die Weigerung, die exzentrische Position des Menschen zu denken, ermöglicht ferner den Einsatz der Anthropologie Arnold Gehlens, die mit der Bestimmung des Menschen als des Mängelwesens mit Antriebsüberschuss dem Darwinismus auch Freuds widerspricht: »Die bisherige Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Erklärung zu bedürfen als die der Tiere, und was man einer Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen Drang zu weiterer Vervollkommnung beobachtet, lässt sich ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf welche das wertvollste der menschlichen Kultur aufgebaut ist.«50
Das Drängen des Triebes, und auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein, wenn Freuds skeptische Zivilisationstheorie als verschwiegene Neuauflage des Leviathan thematisch wird, das Drängen des Triebs bleibt konstant und zielt kompromisslos auf direkte Abfuhr. Das gilt für die Partialtriebe, die sexuellen und schließlich die aggressiven. Trieb ist bei Freud ein teleologisch erblindetes Absolutes, Unhintergehbares in dem Sinne, dass er selbst, als ein beständig Drängendes, nicht ›abgestellt‹ werden kann, so lange sein Träger lebt. Der Charakter permanenten Drängens bleibt erhalten durch alle Modifi kationen von Trieblehre und Topik hindurch. Der Trieb bleibt der Trieb, ein konstanter Strom, der allenfalls bei Ermüdung temporär oder mit zunehmendem Alter des Organismus abebbt. ›Reife‹ ist demnach ein Amalgam aus Erfahrung und vermindertem Druck des Triebs. Wie vielfach bemerkt wurde, lässt sich Freud, »wohl nicht ganz be50. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), Bd. 3, S. 251.
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wusst, durch eine hydraulische Metaphorik der Affekte leiten«.51 Der Triebstrom kann gehemmt, gestaut, umgelenkt, kanalisiert, nicht aber selbst vollkommen aufgehoben werden, es sei denn, der Träger stirbt. Sublimierung kann daher zunächst nur heißen: Umgang mit dem Charakter des Drängenden. Das Triebmodell ist explizit mechanisch, da man sich das Subjekt als unter Druck, als eine unter heißem Dampf stehende Maschine denken soll, geladen mit einem bestimmten Energiequantum. Dieses Quantum ist zunächst hoch, weshalb gilt: »Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziel weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in der Lebenszeit feuriger Jugendkraft.«52
Die therapeutische Arbeit hat Freud zur Einsicht in eine Differenz zwischen den Haupttrieben geführt. Der für Sublimierung verwendete Trieb ist sexueller Art, nicht Destruktionstrieb oder Ich- bzw. Selbsterhaltungstrieb: »Eine gewisse Art von Modifikation des Ziels und Wechsel des Objekts, bei der unsere soziale Wertung in Betracht kommt, zeichnen wir als Sublimierung aus. […] Die Sexualtriebe fallen uns auf durch ihre Plastizität, die Fähigkeit, ihre Ziele zu wechseln, durch ihre Vertretbarkeit, indem sich eine Triebbefriedigung durch eine andere ersetzen lässt, und durch ihre Aufschiebbarkeit, von der uns eben die zielgehemmten Triebe ein gutes Beispiel gegeben haben. Diese Eigenschaften möchten wir den Selbsterhaltungstrieben absprechen und von ihnen aussagen, daß sie unbeugsam, unaufschiebbar, in ganz anderer Weise imperativ sind und zur Verdrängung wie zur Angst ein ganz anderes Verhältnis haben.«53
Insofern es die Sexualtriebe sind, die der Sublimierung zugeführt werden, kommt es zu einer Einschränkung, die Jacques Lacan in seiner Arbeit an der Sublimierungslehre aufgreifen wird.54 Der Sexualtrieb ist nicht nur allgemeines zielloses Drängen, sondern drängt auf ein Ziel, ein sexuel51. Glenn W. Most: »Freuds Narziß: Reflexionen über einen Selbstbezug«, in: Almut-Barbara Renger (Hg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace, Stuttgart/Weimar 2002, S. 117-131. Hier: S. 127. 52. Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Bd. 9, S. 23. 53. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Bd. 1, S. 531. 54. Vgl. unten die Erläuterungen zu Lacans Theorie der Sublimierung.
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les ›Objekt‹. Insofern der Trieb nicht unbestimmt ist, wird das Quantum möglicher Sublimierung individuell variabel, abhängig von der sexuellen Triebstärke des Individuums: »Wir stellen uns vor, daß es zunächst durch die mitgebrachte Organisation entschieden ist, ein wie großer Anteil des Sexualtriebes sich beim Einzelnen als sublimierbar und verwertbar erweisen wird; außerdem gelingt es den Einflüssen des Lebens und der intellektuellen Beeinflussung des seelischen Apparates, einen weiteren Anteil zur Sublimierung zu bringen. Ins Unbegrenzte fortsetzen läßt sich dieser Verschiebungsprozeß aber sicherlich nicht, so wenig wie die Umsetzung der Wärme in mechanische Arbeit bei unseren Maschinen. Ein gewisses Maß an direkter sexueller Befriedigung scheint für die allermeisten Organisationen unerläßlich, und die Versagung dieses individuell variablen Maßes straft sich durch Erscheinungen, die wir infolge ihrer Funktionsschädlichkeit und ihres subjektiven Unlustcharakters zum Kranksein rechnen müssen.«55
Der evolutionäre ›Ursprung‹ von Sublimierung ist geklärt, zweitens der Sexualtrieb als der im Unterschied zum Selbsterhaltungs- und zum Destruktionstrieb plastische als jener Trieb markiert, der die Sublimierungen nährt. In seiner Analyse des Sexualtriebs unterscheidet Freud nun in dreierlei Hinsicht: Sublimierung wird vollzogen erstens an überschüssiger Sexualenergie, für deren Abfuhr kein Objekt zur Verfügung steht (temporär oder dauerhaft), wobei ein bestimmtes Quantum direkter Abfuhr gleichwohl angesetzt werden muss, soll Erkrankung vermieden werden. Aus der folgenden wie anderen Stellen könnte man die Vermutung ableiten, Sublimierung sei von Freud gedacht auch als ein bewusster Akt, als ein Projekt, das man sich vornehmen bzw. als Aufgabe, zu der der Therapeut den Patienten ›drängen‹ kann.56 Freud stellt damit eine latente Verbindung her zwischen Askese und Psychoanalyse: »Es gibt nur zwei Möglichkeiten, sich bei anhaltender realer Versagung der Befriedigung gesund zu erhalten, erstens, indem man die psychische Spannung in 55. Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Bd. 9, S. 19. 56. Vgl. Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912), Ergänzungsband, S. 179, sowie Anna Freud: »Die Sublimierung, d.h. die Verschiebung des Triebziels im Sinne der höheren sozialen Wertung, setzt die Anerkennung oder wenigstens die Kenntnis solcher Wertungen voraus, also das Vorhandensein des Über-Ichs. Verdrängung und Sublimierung wären danach Abwehrmechanismen, die erst verhältnismäßig spät in Gebrauch kommen.« Das Ich und die Abwehrmechanismen (Anm. 30), S. 58.
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tatkräftige Energie umsetzt, welche der Außenwelt zugewendet bleibt und endlich eine reale Befriedigung der Libido von ihr erzwingt, und zweitens, indem man auf die libidinöse Befriedigung verzichtet, die aufgestaute Libido sublimiert und zur Erreichung von Zielen verwendet, die nicht mehr erotische sind und der Versagung entgehen. Daß beide Möglichkeiten in den Schicksalen der Menschen zur Verwirklichung kommen, beweist uns, daß Unglück nicht mit Neurose zusammenfällt und daß die Versagung nicht allein über Gesundheit oder Erkrankung der Betroffenen entscheidet.«57
Sublimierung wird zweitens vorgenommen an den Partialtrieben, die als pervers oder doch als unökonomisch gewertete hineinragen in die Welt der zur heterosexuellen Genitalität gereiften Subjekte; sie wird drittens notwendig, wenn ein Sexualobjekt durch ein anderes oder etwas anderes ersetzt werden muss, womit der komplizierte Übergang zur Außenwelt vollends vollzogen ist. Es gibt also mit Blick auf das Individuum eine ontogenetische Sublimierung, die sich auf die Entwicklung von den Partialtrieben zur genitalen Sexualität bezieht: Sublimierung der Perversionen. Es gibt zweitens eine soziale Sublimierung, »indem der Einzelne, der neu in die menschliche Gemeinschaft eintritt, die Opfer an Triebbefriedigung zugunsten des Ganzen wiederholt.«58 Es gibt drittens eine Sublimierung, die das zur Genitalität gereifte und grundsätzlich sozialisierte Subjekt von Fall zu Fall möglichst ohne Regression vollziehen muss: den Wechsel von Objekten oder das Ertragen der Versagung: Sublimierung des Überschusses, womöglich der Sehnsucht.
3.3 S UBL IMIERUNG
DER
PART I ALT R IEBE
Wiederholt betont Freud, dass es vor allem die perversen Elemente unserer Sexualität sind, die der Sublimierung zugeführt werden, womit die Triebtheorie beginnt, in Richtung auf Normativität zu changieren. Die Tendenz lässt sich am unreflektierten Operieren mit gesellschaftlichen Gegebenheiten der Epoche ablesen. Für Frauen gilt, dass »ihre Fähigkeit zur Triebsublimierung geringer« sei als die der Männer.59 Männliche Homosexuelle fungieren bevorzugt als Exempel für Subjekte, die sich künstlerischer Betätigung zuwenden oder allgemeinen Menschheitsidealen,60 während das 57. Sigmund Freud: Über neurotische Erkrankungstypen (1912), Bd. 6,
S. 220. 58. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Bd. 1, S. 48. 59. Ebd., S. 564. 60. Vgl. Sigmund Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen auto-
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IV. Selbstbeherrschung
Leben des arbeitenden heterosexuellen Mannes seine ernste Erfüllung in der ›Wissenschaft‹ findet (als Beruf oder als ›nüchterne Lebenseinstellung‹ umfassender Desillusion), die ihm ein stoisches Ertragen der Widrigkeiten des Lebens gestattet. Es kommt kulturgeschichtlich zu einer emotionalen Arbeitsteilung, die der nüchtern herrschende Mann verfügt: Die Frau trägt das Schicksal, nur schlecht sublimieren zu können. Deshalb erscheint sie dem stoischen Mann als potentiell hysterisch und wird es um 1900 in der Tat. Dadurch wiederum wird der Wissenschaftler zur Heilung auf den Plan gerufen, der sich dann auch den Neurotikern zuwendet, also jenen Männern, die wie Frauen sind: die Kunst der Sublimierung nur schlecht beherrschen. Deutlich wird, warum der Neurotiker, etwa in Adornos Kritik der revidierten Psychoanalyse, zum Zeugen wider das repressive Element der Sublimierungslehre avanciert. Der Neurotiker, die Frauen und die Perversen, sie sind latent ausgezeichnet durch das scharfe Bewusstsein, dass die Kultur Sublimierungen erzwingt. Die bis zuletzt ungeklärte Differenz zwischen Triebsublimierung und -verzicht lässt sich etwa in der Einführung des Narzißmus daher nur plausibilisieren unter Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen dem triebhaften Neurotiker und dem schlichten genügsamen Menschen. Während der Neurotiker, den Freud auch »Idealist« nennt – er könnte, wie im Vortrag über den Dichter und das Phantasieren, auch schreiben: Intellektueller, Philosoph, Künstler –, unter der Spannung zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit leidet, findet der Unreflektierte sich ab mit dem Verzicht: »Es liegt nahe, die Beziehungen dieser [narzisstischen, E.G.] Idealbildung zur Sublimierung zu untersuchen. Die Sublimierung ist ein Prozeß an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen. […] [D]ie Sublimierung bleibt ein besonderer Prozess, dessen Einleitung vom Ideal angeregt sein mag, dessen Durchführung durchaus unabhängig von solcher Anregung bleibt. Man findet gerade bei den Neurotikern die höchsten Spannungsdifferenzen zwischen der Ausbildung des Ichideals und dem Maß von Sublimierung ihrer primitivsten libidinösen Triebe, und es fällt im allgemeinen viel schwerer, den Idealisten von dem unzweckmäßigen Verbleib seiner Libido zu überzeugen, als den simplen, in seinen Ansprüchen genügsam gebliebenen Menschen. Das Verhältnis von Idealbildung und Sublimierung zur Verursachung der Neurose ist auch ein ganz verschiedenes. Die Idealbildung steigert, wie wir gehört haben, die Anforderungen des Ichs und ist die stärkste Begünstigung der biographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911), Bd. 7, S. 185.
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Jenseits des Unbehagens
Verdrängung; die Sublimierung stellt den Ausweg dar, wie die Anforderung erfüllt werden kann, ohne die Verdrängung herbeizuführen.«61
In einer erstaunlichen Volte scheinen hier Intellektualität bzw. Kreativität und wildes Begehren zu konvergieren. Freud invertiert den erwartbaren Gedanken. Es ist nicht der Primitive, es ist der Differenzierte, der ein Problem mit dem Sublimieren hat und nur schwer vom unzweckmäßigen Verbleib seiner Libido zu überzeugen ist. Während der ›Simple‹ mit seinen genügsam gebliebenen Ansprüchen sich rasch abspeisen lässt – vermutlich mit »Berufsarbeit« – und dem Realitätsprinzip des stoischen Analytikers leicht anzupassen ist, insistiert der Intellektuelle, der »Idealist«, auf der Realisierung der Triebwünsche. Offenbar steigt der Anspruch des Triebs proportional zur Fähigkeit zur Idealbildung. Je höher die Fähigkeit zur Idealbildung entwickelt ist, umso schärfer wird bewusst, dass verzichtet werden soll, so dass sich die Verhältnisse am Ende umkehren: je höher das Ideal, umso größer die Sehnsucht nach ungehemmtem Leben; die »Spannungsdifferenz« steigt. Den Fluchtpunkt der zweischneidigen, latent dialektischen Sublimierungslehre bildet daher auch bei Freud der Protest gegen ›Realität‹ selber, das Bewusstsein einer Repressivität des Realitätsprinzips und der von ihm lancierten Sublimierungen. Am Ende generiert die Differenzierung die Wiederkehr des Archaischen, des Primärprozesshaften, und so erweist sich die Sublimierungslehre als Vorform der Idee einer Dialektik der Auf klärung. Indem Freud Neurose und Ideal in der zitierten Passage eng führt und von der Sublimierung unterscheidet – Ideale machen potentiell neurotisch, Neurotiker hängen Idealen an –, wird der Inhalt des Ideals ins Zwielicht gerückt. Das Ideal kann im Kontext der Psychoanalyse nur Versöhnung zwischen Körper und Geist sowie zwischen Individuum und Gesellschaft meinen, die Heilung der Wunde, die Überwindung der Lebensnot. Stoizismus wäre demgegenüber das Wissen ums Ideal bei gleichzeitigem Bewusstsein seines Illusionscharakters: Die Sublimierung wird vom Ideal angeregt, dieses aber muss als Resultat von Verdrängungen durchschaut werden, damit Sublimierung gelingen kann, die demzufolge beides hinter sich lässt: das Ideal und den im Verdrängten sich meldenden Wunsch. Den möglichen Ausweg aus der Klemme bezeichnet die scharfe Unterscheidung, die Freud in der Einführung des Narzißmus zwischen Ichidealbildung und Triebsublimierung triff t, die »oft zum Schaden des Verständnisses« miteinander »verwechselt« würden, wo es sich doch faktisch um ein Staffelungsverhältnis handelt.62 Wenn Freud notiert, dass demjenigen, 61. Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914), Bd. 3, S. 61f. 62. Ebd., S. 61.
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IV. Selbstbeherrschung
der seinen »Narzißmus gegen die Verehrung eines hohen Ichideals eingetauscht hat«, die »Sublimierung seiner libidinösen Triebe nicht gelungen zu sein« brauche,63 setzt er zu einer Unterscheidung an, deren volle Relevanz erst im Kontext der Massenpsychologie erkennbar wird. Die Freudsche Arbeit am Begriff ist zu ergänzen durch die explizite Unterscheidung zwischen einem zweifelhaften Ideal, das sich einem verschobenen Narzissmus verdankt und einem gediegenen Ideal, das ein Resultat von Sublimierungen darstellt, die dann, paradox gesagt, jedes Ideal hinter sich lassen: Der Theorie des Narzissmus zufolge gelingt es dem Subjekt, seinen recht bald frustrierten Narzissmus dadurch zu erhalten, dass dieser entweder auf ein Idealich verschoben oder auf ein Objekt projiziert wird, das dann als Ideal umworben wird. In der Studie über Massenpsychologie und Ich-Analyse wendet Freud diesen Mechanismus auf Gruppenbildungen an und erläutert durch ihn die Entstehung der Masse: »Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.« 64 Im Unterschied zu dieser primären Massenbildung denkt Freud die großen alten Institutionen einer Kultur als das Resultat nicht eines über Identifizierung und Idealisierung ausagierten Narzissmus, sondern als Resultate von Sublimierungen. Das wird besonders deutlich, wenn er in den Nachträgen zur Abhandlung über die Masse unterscheidet zwischen traditionalen und modernen Formen sozialer Bindung. Während die archaischen Formen der religiös gegründeten Vergesellschaftung »den durch sie Gebundenen den stärksten Schutz gegen die Gefahr der Neurose boten«, gilt für die modernen Formen der Bindung: »Es ist auch nicht schwer, in all den Bindungen an mystisch-religiöse oder philosophisch-mystische Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von Schiefheilungen mannigfaltiger Neurosen zu erkennen. Das alles hängt mit dem Gegensatz der direkten und zielgehemmten Sexualstrebungen zusammen.«65
Die traditionale Bindung ist nach Freud historisch offenbar für immer vergangen, die Schiefheilung des narzisstischen Idealismus ist, als Produkt von Verdrängungen, beständig der Gefahr der Regression ausgeliefert. Durch diesen scharfsinnigen Hinweis erklärt Freud en passant den in der Kultur- und speziell in der Literarturgeschichte notorischen Umschlag 63. Ebd. 64. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Bd. 9,
S. 108. 65. Ebd., S. 132.
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von neurotischem Einzelgängertum in enthusiasmierte Identifi kation mit Massenbewegungen. Das Ideal, das im Unterschied zum narzisstischen nicht neurotisch wäre, erweist sich demnach als das Ideal vollkommener Nüchternheit, als das Nietzscheanische Pathos der Distanz bedeutender Einzelner. Allerdings sind die sozialen Gefühle des stoisch distanzierten Mannes ihrerseits ebenfalls perversen Ursprungs, sind »als Sublimierungen homosexueller Objekteinstellungen« aufzufassen66 und schlagen zuweilen in diese zurück, sei es, dass sich in wahnhafter Eifersucht »eine vergorene Homosexualität«67 meldet, sei es, dass diese selbst wieder direkt hervorbricht. Die potentielle Rückverwandlung zärtlicher, kameradschaftlicher, ›sublimierter‹ Gefühle in direkt leidenschaftliche wird eines der Hauptargumente Freuds im Kontext seiner Analyse der Sublimierung als eines von der Gesellschaft erzwungenen Triebschicksals bereit stellen, das stoisch zu ertragen und durch massive Sanktionen, etwa in der Armee, zu erhalten ist. Einer der Gründe für Homophobie besteht darin, dass seine eigene latente Homosexualität vom vorab melancholischen Mann68 paranoid als Bedrohung der ostentativ gelebten ›wissenschaftlichen Lebenseinstellung‹ erlebt wird: »Wir sind berechtigt zu sagen, sie [die zärtlichen Gefühlsbindungen] sind von diesen sexuellen Zielen abgelenkt worden, wenngleich es seine Schwierigkeiten hat, in der Darstellung einer solchen Zielablenkung den Anforderungen der Metapsychologie zu entsprechen […] Die gehemmten Triebe sind jedes Maßes von 66. Sigmund Freud: Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität (1922), Bd. 7, S. 228. 67. Ebd., S. 221. 68. »Für den melancholischen heterosexuellen Mann gilt: Er hat niemals einen anderen Mann geliebt, denn er ist ein Mann, und er kann stets auf die empirischen Tatsachen zurückgreifen, die dies belegen. Doch beweist die Literalisierung der Anatomie nicht nur nichts, sondern sie schränkt zudem die Lust literal auf bzw. in das Organ ein, das als Zeichen männlicher Identität gefeiert wird. Die Liebe zum Vater ist gleichsam im Penis gespeichert, durch eine undurchdringliche Verleugnung gerettet, und diese kontinuierliche, fortgesetzte Verleugnung stellt die Struktur und Aufgabe des Begehrens dar, das sich nun im Penis konzentriert. Allerdings muss die Frau-als-Objekt das Zeichen abgeben, dass ›er‹ nicht nur niemals ein homosexuelles Begehren, sondern auch niemals den Kummer um dessen Verlust empfunden hat. Demnach muss die Frau-als-Zeichen diese vorheterosexuelle Geschichte zugunsten einer anderen verschieben und verschleiern, die eine bruchlose Heterosexualität absegnet.« Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 113.
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IV. Selbstbeherrschung
Vermengung mit den ungehemmten fähig, können sich in sie zurückverwandeln, wie sie aus ihnen hervorgegangen sind.«69
Durchkreuzt wird die zeitgebundene Typologie von sublimierungsunfähigen Frauen, musischen oder philanthropischen Perversen, hysterischen Idealisten und stoischen und misanthropischen Männern von der ihrerseits enthusiastischen Analyse des homosexuellen Wissenschaftlers und Künstlers Leonardo da Vinci, der Freud zufolge die höchste Menschen mögliche Sublimierung erreicht hat: Freud kennt das gediegene Ideal durchaus, aber nur als individuelles. Hier zeichnet sich also ein ranking für die verschiedenen Formen der Sublimierung ab. Vom unmittelbaren Begehren führt der Weg über Arbeit und Phantasie zu Religion und schließlich Wissenschaft. Exakt, und wahrscheinlich ohne das Buch wirklich zu kennen, reproduziert Freuds Sublimierungslehre den Auf bau der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes: Der einfache Mensch sublimiert das frustrierte Begehren durch Berufsarbeit; Tagträume und andere Phantasien kompensieren fortbestehende Triebwünsche; zuweilen werden die Phantasien von Begabten zu Kunstwerken sublimiert, die am Ende dem Erzeuger eine Realisierung der frustrierten Wünsche erlauben, wenn die Produkte sozial anerkannt und honoriert werden. In der Religion werden individuelle Tagträume und Phantasien vom Kollektiv geteilt und zu auch sozial machtvollen Illusionen über den Sinn der Welt und den Gegenstand der Sehnsucht ausgeformt. Wissenschaft schließlich ist gekennzeichnet durch die reflexive sublime Distanzierung all dieser Stufen, durch die klare Einsicht in die Realität jenseits von Phantasie und Illusion. Wissenschaft als Begreifen ist in der Tat erneut gedacht als das absolute Wissen, als die radikale Lossagung von eben dem Lustprinzip, das zur Produktion von Träumen, Phantasien und Illusionen anregt. Wie Freud in seiner Studie zu Leonardo formuliert, schließt sich auf dem Höhepunkt der Sublimierung ein Kreis, vollendet sich Auf hebung. In der Wissenschaft wird auf der einen Seite zwar die infantile, präödipale Unmittelbarkeit des Begehrens jenseits aller Autorität als das Zugreifen restituiert, ist aber anderseits durch die umfassende Reflexion sämtlicher Modifikationen des Begehrens hindurchgegangen, ist zum vollendeten Begreifen sublimiert: Der »allmächtige, gerechte Gott und die gütige Natur [bei Leonardo, E.G.] erscheinen uns als großartige
69. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Bd. 9,
S. 129.
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Sublimierungen von Vater und Mutter, vielmehr als Erneuerungen und Wiederherstellungen der frühkindlichen Vorstellungen von beiden.«70 Bevor die hegelianische Struktur der Sublimierung genauer in den Blick genommen werden kann, ist im Nachvollzug der These fortzufahren, »daß die Kultur wesentlich auf Kosten der sexuellen Partialtriebe entsteht, daß diese unterdrückt, eingeschränkt, umgebildet, auf höhere Ziele gelenkt werden müssen, um die kulturellen seelischen Konstruktionen herzustellen.«71 Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse heißt es über die Perversionen: »Die Perversionen sind weder Bestialitäten noch Entartungen im pathetischen Sinne des Wortes. Es sind Entwicklungen von Keimen, die sämtlich in der indifferenzierten sexuellen Anlage des Kindes enthalten sind, deren Unterdrückung oder Wendung auf höhere, asexuelle Ziele – deren Sublimierung – die Kräfte für eine gute Anzahl unserer Kulturleistungen abzugeben scheint.«72
Oder, in ähnlicher Variante, in der Studie über Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität: »Weitere Ausblicke eröffnen sich, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, daß der Sexualtrieb des Menschen ursprünglich gar nicht den Zwecken der Fortpfl anzung dient, sondern bestimmte Arten der Lustgewinnung zum Ziele hat. […] Während dieser Entwicklung wird ein Teil der vom eigenen Körper gelieferten Sexualerregung als unbrauchbar für die Fortpfl anzungsfunktion gehemmt und im günstigen Fall der Sublimierung zugeführt. Die für die Kulturarbeit verwertbaren Kräfte werden so zum großen Teile durch die Unterdrückung der sogenannten perversen Anteile der Sexualerregung gewonnen.«73
Aus der Beschreibung der Sublimierung als Verwendung perverser Organlust gewinnt Freud auch die Umrisse einer Theorie des Charakters, wobei die Neurose, mag sie auf den ersten Blick auch noch so ›charakteristisch‹ für ein Individuum sein, genau nicht als Charaktereigenschaft aufgefasst wird: »Bei der Charakterbildung tritt die Verdrängung entweder nicht in Aktion oder sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrängte durch Reaktionsbil70. Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), Bd. 10, S. 146. 71. Sigmund Freud: Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung (1910), Bd. 6, S. 210. 72. Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905), Bd. 6, S. 124f. 73. Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Bd. 9, S. 19.
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dungen und Sublimierungen zu ersetzen.« 74 Der Hinweis ist bedeutend für die Therapie, deren Ziel es ist, Betroffene ihre Neurose als etwas erkennen zu lassen, das nicht eigentlich zu ihrem Charakter gehört und also entbehrliches Introjekt ist. Die Bedeutung der Sublimierung setzt Freud für die Entstehung der Neurosen als so hoch an, dass er für viele Neurotiker vermutet, »daß sie überhaupt nicht erkrankt wären, wenn sie die Kunst, ihre Triebe zu sublimieren, besessen hätten.«75 Die Bedeutung der Sublimierung zeigt sich also sowohl für die Theorie der Neurose als auch für die Theorie des Charakters: »Was wir den ›Charakter‹ eines Menschen heißen, ist zum guten Teil mit dem Material sexueller Erregungen aufgebaut und setzt sich aus seit der Kindheit fixierten Trieben, aus durch Sublimierung gewonnenen und aus solchen Konstruktionen zusammen, die zur wirksamen Niederhaltung perverser, ja unverwendbar erkannter Regungen bestimmt sind.«76
3.4 D A S I CH
UND DIE
W ELT
DER
O B JEK TE
Die Schlüsselfunktion für die Charakterbildung führt dazu, dass Freud sich nach der Einführung des Narzissmus veranlasst sieht, Sublimierung im Kontext der Theorie des Ichs abzuhandeln, denn »with the formulation and elaboration of the narcissism concept, ego psychology began to come into its own.«77 Dazu nötigt auch der bereits erwähnte Umstand, dass sich Sublimierung nicht nur auf die Genese des Ichs und seines Charakters bezieht (Sublimierung 1), sondern fortgesetzt, im bereits etablierten sozialen Kontext (Sublimierung 2), eine Aufgabe bleibt, der sich das zuzeiten zum Objektwechsel gezwungene Erwachsenen-Ich gestellt sieht (Sublimierung 3). Freud bemüht sich folgerecht um eine Harmonisierung zwischen der Theorie des Ichs und der Sublimierung: »The concept of sublimation is essentially an attempt to relate the organic and superorganic levels, as part of the general effort of psychoanalysis to rediscover the animal in man and to heal the war between body and soul.«78 74. Sigmund Freud: Die Disposition zur Zwangsneurose (Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl) (1913), Bd. 7, S. 115. 75. Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912), Ergänzungsband, S. 179. 76. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Bd. 5, S. 141. 77. Loewald: Sublimation (Anm. 30), S. 16. 78. Brown: Life Against Death (Anm. 37), S. 137.
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In der ersten Triebtheorie differenziert Freud zwischen den Selbsterhaltungs- und den Sexualtrieben, die aus den polymorph-perversen Partialtrieben zusammenschießen. Die Neuerung in der Theorie der Sublimierung besteht seit der Entfaltung der Ichpsychologie nun zunächst darin, dass Freud behauptet, ein bestimmtes Quantum der Sexualtriebe lehne sich in der Kindheit an die Ichtriebe an, wodurch diese selbst substantiell verändert werden. Es kommt zu einer Amalgamierung zwischen Sexualund Ichtrieben, womit eine analytische Antwort auf ein klassisches Problem der Philosophie gegeben wird, auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist.79 Die Spaltung zwischen beiden wird triebtheoretisch reformuliert, und es Freud gelingt zu erklären, warum das Ich Objekte als solche überhaupt libidinös besetzt. Die These ist wichtig, weil libidinöse Besetzung vorab im Widerspruch zum Selbsterhaltungstrieb steht. Sobald das Ich etwas begehrt, handelt es potentiell gegen seine Interessen, da es dergestalt abhängig wird vom Objekt. Libidinöse Besetzung von Objekten wird möglich, weil der Selbsterhaltungstrieb nicht ›rein‹ bleibt, sondern sich ihm Sexualtriebe angeschmiegt haben und zuletzt mit ihm verschmolzen: »Das Ziel, das jeder von ihnen [den Sexualtrieben, E.G.] anstrebt, ist die Erreichung der Organlust; erst nach vollzogener Synthese treten sie in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion, womit sie dann als Sexualtriebe allgemein kenntlich werden. Bei ihrem ersten Auftreten lehnen sie sich zuerst an die Erhaltungstriebe an, von denen sie sich erst allmählich ablösen, folgen auch bei der Objektfindung den Wegen, die ihnen die Ichtriebe weisen. Ein Anteil von ihnen bleibt den Ichtrieben zeitlebens gesellt und stattet diese mit libidinösen Komponenten aus, welche während der normalen Funktion leicht übersehen und erst durch die Erkrankung klargelegt werden. Sie sind dadurch ausgezeichnet, dass sie in großem Ausmaße vikariierend füreinander eintreten und leicht ihre Objekte wechseln können. Infolge der letztgenannten Eigenschaften sind sie zu Leistungen befähigt, die weitab von ihren ursprünglichen Zielhandlungen liegen (Sublimierung).«80 79. David Rapaport hat in einer kostbaren Anmerkung die Genese dieses Prozesses erläutert. Die Objekte des primären Begehrens sind zugleich solche, die Selbsterhaltung ermöglichen. Beinahe könnte man Freuds Einsicht umkehren und sagen, die sexuellen Strebungen lehnten sich an die Selbsterhaltungstriebe an: »Anaklitisch – angelehnt. Damit ist gemeint, daß die ersten Objekte des Sexualtriebs jene Menschen sind, die für den Säugling sorgen und sein Überleben sichern, i.e. die Objekte seiner Selbsterhaltungstriebe sind.« David Rapaport: Die Struktur der psychoanalytischen Theorie (Anm. 6), S. 67, Fußnote. 80. Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale (1915), Bd. 3, S. 89.
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Durch die Vereinigung der Sexualtriebe mit den Selbsterhaltungstrieben wird das Ich überhaupt erst ›sozial‹ in dem fundamentalen Sinne, dass Objekte entstehen (erotische zunächst, dann nicht-sexuelle). Der Selbsterhaltungstrieb will mehr als nur sich selbst, ein Objekt, obwohl natürlich die Selbstsucht als Unterstrom erhalten bleibt, woraus der potentiell zerreißende Doppelcharakter insbesondere der Liebe (und des Sozialgefüges) entsteht, die einerseits das Objekt assimilieren, es aber anderseits als ein anderes erhalten will, um so den Narzissmus des sich nur so wirklich geliebt fühlenden Ich zu stärken.81 Erkennbar wird, warum die Theorie der Triebmischung ausschlaggebend wird für die Frage nach der Bewältigung von Aggressionen. So, wie an die Stelle der Opposition zwischen Sexualtrieben und Ichtrieben die Opposition von Eros und Todestrieb tritt, so beerbt die Lehre von der Milderung der Aggression durch deren Amalgamierung mit Libido die These über die Amalgamierung von Ich- und Sexualtrieben. Offenbar führt Freud bei der Einführung der zweiten Trieblehre Ich und Destruktion eng: Das Ich ist bereits vorab als Einheit, vor jeder dann von ihm zugelassenen oder bewusst ausagierten Aggression, etwas Aggressives, nach außen und nach innen. Das Ich erscheint im Licht der neuen Unterscheidung zwischen Eros und Destruktionstrieb als ein Resultat von Unterwerfung,82 das seinerseits Gewalt ausübt, gegen sich selbst, wider die Anderen und die Natur: Selbsterhaltung ist, strikt nach der Freud’schen Partitur, aggressiv. Die Einsicht in den strukturellen Zusammenhang zwischen Ich und Gewalt auf der Ebene bereits der Konstitution des Ich bezeichnet den Ausgangspunkt von Theodor W. Adornos Theorie der Sublimierung.83 Dadurch, dass den Ichtrieben ihr per definitionem Anderes, eine libidinöse Komponente, zuwächst, wird es ferner möglich, Sublimierung als bewusstes Projekt, als Vorhaben des Ichs allererst zu denken. Auf der anderen Seite transformiert sich auch der Sexualtrieb durch Verschmelzung mit dem Ichtrieb in das Vermögen, ein bestimmtes Objekt zu begehren und nicht nur die Erfüllung der Organlust selbst: Durch die Amalgamierung mit dem Ich beginnt der Sexualtrieb zu sehen. Das Ich wird zum Auge 81. Vgl. Vf.: Der engagierte Solitär. Die Gewinnung des Begriffs Einsamkeit aus der Phänomenologie der Liebe im Frühwerk Jean-Paul Sartres, Berlin 2001, S. 60-96. Sartre rekonstruiert den heillosen Zirkel der Passion aus dem Doppelcharakter der Liebe, die das Objekt einerseits egoistisch assimilieren und zugleich als den anderen will, der in Freiheit lieben soll. Und dieser Doppelcharakter gilt für beide Beteiligten, woraus die strukturbedingte Dramatik der Passion resultiert. 82. Vgl. hierzu das Nietzschekapitel des vorliegenden Buches. 83. Vgl. unten das Kapitel zu Adorno.
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der Sexualität. Qua Amalgamierung mit dem Ich wird Begehren transitiv, wird Begehren womöglich zu ›Liebe‹, was Freud anhand einer ebenso brillanten wie problematischen Semantik von »lieben« erläutert: »Das Wort ›lieben‹ rückt also immer mehr in Sphäre der reinen Lustbeziehung des Ichs zum Objekt und fixiert sich schließlich an die Sexualobjekte im engeren Sinne und an solche Objekte, welche die Bedürfnisse sublimierter Sexualtriebe befriedigen. Die Scheidung der Ichtriebe von den Sexualtrieben, welche wir unserer Psychologie aufgedrängt haben, erweist sich so als konform mit dem Geiste unserer Sprache. Wenn wir nicht gewohnt sind zu sagen, der einzelne Sexualtrieb liebe sein Objekt, aber die adäquateste Verwendung des Wortes ›lieben‹ in der Beziehung des Ichs zu seinem Sexualobjekt finden, so lehrt uns diese Beobachtung, dass dessen Verwendbarkeit in dieser Relation erst mit der Synthese aller Partialtriebe der Sexualität unter dem Primat der Genitalien und im Dienste der Fortpfl anzungsfunktion beginnt.«84
Hier führt Freud seine Argumentation vom Sprachgebrauch her: Wir sagen natürlich nicht, dass unser Trieb etwas liebt, sondern: Er/Sie liebt bzw. ich, als Person, liebe das und das. Die Passage klärt einerseits auf, anderseits verdunkelt sie den Sachverhalt. Freud setzt Lieben und Begehren hier gleich. Für ihn ist der semantische Gehalt von »Ich liebe Dich«: »Ich begehre Dich.« Und dieser Satz »Ich liebe Dich« wird nur möglich dann, wenn das Ich durchdrungen ist von Sexualtrieben; andernfalls wäre es unsinnig, vom Ich zu verlangen, was wider seine Interessen geht: etwas anderes zu lieben als sich selbst. Mit dieser Gleichsetzung dient Freud dem Ethos der Psychoanalyse, Illusionen über die Liebe nicht zu schonen. Auf der anderen Seite ist das semantische Argument schief, denn es ist genau der Sprachgebrauch, der differenziert zwischen Lieben und Begehren. Die Sprache selbst protestiert hier gegen ihren Analytiker: Was Freud hier nicht bedenkt, und was genau wider seine These dem Sprachgebrauch ablesbar ist, das ist der Umstand, dass erst qua Heraufkunft der genitalen Sexualität die Spannung zwischen Ich- und Sexualtrieben voll sichtbar wird. Und eben das registriert der Sprachgebrauch. Was hier wiederkehrt, und was Freud nicht zulassen möchte, das ist die uralte Unterscheidung zwischen Lieben und Begehren. Durchaus machen wir nämlich die Differenz, die Freud hier einerseits etabliert, anderseits aber seltsam wieder zurück nimmt. Wir sagen durchaus, dass wir jemanden sehr begehren, aber nicht lieben, oder auch umgekehrt: dass wir jemanden lieben, aber nicht begehren. Freud möchte semantisch eine Einheit dort konstruieren, wo er triebtheoretisch eine Differenz etabliert. Ich liebe 84. Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale (1915), Bd. 3, S. 100.
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jemanden, das heißt bei ihm strikt und nur: Ich begehre jemanden. Genau damit geht die Differenz zwischen Ichtrieben und Sexualtrieben verloren, die dadurch auf bricht, dass beide sich entwickelt haben, das Ich und seine Sexualität. Freud müsste also genau umgekehrt formulieren, denn es besteht hier ein Einklang zwischen Sprachgebrauch und Triebtheorie: Erst durch die genitale Sexualität, die die Spaltung zwischen Ich und Sexualität voll sichtbar werden lässt, wird es sinnvoll, zwischen Begehren und Lieben zu differenzieren. Liebe wird damit allererst denkbar als ein Resultat der Sublimierung: Wenn ich sage, »Ich liebe jemanden«, so muss der Akzent zunächst auf dem Ich liegen, um das Problem zu illustrieren. Wenn es eine Spaltung gibt zwischen Ichtrieben, denen der Erhaltung, und den Sexualtrieben, der potentiellen Preisgabe des Ichs, dann ergibt es überhaupt keinen Sinn zu sagen »Ich liebe dich«. Das wäre ein Widerspruch in sich, insofern das Ich per definitionem das ist, was sich vor der Liebe als der Selbstaufgabe hütet und besteht, indem es sich abgrenzt. Das Ich als Agent des Selbsterhaltungstriebs kann nur sagen: Ich, Ich, Ich oder, narzisstisch gebrochen: Ich liebe mich. Wendet man Freuds Argument der mit der Pubertät etablierten Differenz zwischen Ich und Sexualität gegen seine nur scheinbar enthüllende Semantik, kann der Satz »Ich liebe dich« nur folgendermaßen sinnvoll aufgeklärt werden: Ich sage damit entweder: 1. dass ich die Grenze zwischen Ich- und Sexualtrieben einreiße, also das Ich zu einem bestimmten Grade aufgebe: »Ich liebe Dich«. Oder ich sage 2. mein Ich hat (der These folgend, dass Sexualtriebe unerkannt Teil der Ichtriebe geworden sind als sublimierte) seine sublimierte Sexualität auf jemanden gerichtet. »Ich liebe Dich« hieße dann: Ich besetze dich mit sublimierter Sexualität, begehre dich eben nicht unmittelbar. Das wäre platonische Liebe im populären Verstande. Oder ich sage 3., und das wäre erneut das Ideal: »Ich liebe dich«, das meint, der Gegensatz zwischen Ich- und Sexualtrieben ist überwunden, das Subjekt nicht mehr in sich gespalten. Alles, was Ich will, das will auch meine Sexualität: Dich, nur Dich allein. Das ist die ekstatische Erfahrung, die unter dem Namen der großen Liebe erschöpfend beschrieben worden ist. Das semantische Argument Freuds ist auf den Kopf zu stellen, indem man seine Triebtheorie ernst nimmt: Natürlich sagen wir nicht, dass unser Trieb ein Objekt liebt. Wir bringen das anders zum Ausdruck; wir sagen nämlich: Ich begehre dieses Objekt, um den Akzent auf den Trieb zu setzen. Wenn wir aber sagen, »Ich liebe Dich«, dann bringen wir jenes komplizierte dreiteilige Phänomen zur Erscheinung, das ich zu skizzieren versucht habe.
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3.5 M EL ANCHOL IE
UND
S UBL IMIERUNG
Der semantische Knoten, in dem sich Freud verfängt, verbirgt den Durchbruch in der Theorie der Sublimierung, der mit der Anerkennung des Es gelingt. Vorbereitet wird der Erfolg durch die Analyse der Melancholie als Identifizierung, die Freud zu der Einsicht führte, dass der Schatten des verlorenen Objekts auf das Ich fällt, das nur scheinbar sich selbst herabsetzt. Faktisch richtet das Ich das verlorene Objekt in seinem Innern wieder auf und steht vor der Aufgabe, diese prekäre Identifizierung zu überleben: »[D]urch den Einfluß einer realen Kränkung oder Enttäuschung von seiten der geliebten Person trat eine Erschütterung dieser Objektbeziehung ein. Der Erfolg war nicht der normale einer Abziehung der Libido von diesem Objekt und Verschiebung derselben auf ein neues, sondern ein anderer, der mehrere Bedingungen für sein Zustandekommen zu erfordern scheint. Die Objektbesetzung erwies sich als wenig resistent, sie wurde aufgehoben, aber die freie Libido nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen. Dort fand sie aber nicht eine beliebige Verwendung, sondern diente dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich.«85
Der Prozess der Sublimierung nun ist zu denken als eine konstruktive Perspektive auf Identifizierung, als Gegenbild der Melancholie: Bereicherung, nicht Verarmung. Was Freud 1923 in Das Ich und das Es formuliert, ist die Idee, dass der Vorgang der Identifizierung zu generalisieren sei, nicht aber die Melancholie. Er kommt jenseits der Melancholie zu der allgemeinen Einsicht, »daß der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen enthält«.86 Dieser Konzeption zufolge wäre Melancholie der schwarze Ausnahmefall, in dem katastrophal misslingt, was andernfalls Bereicherung des Ichs hätte sein können, sei es, weil das enttäuschende Objekt nichts taugte, sei es, weil das Ich labil konstituiert ist, was später der Einsatzpunkt für Melanie Kleins scharfsinnige Forschungen ist. Auch im Fall der produktiven Identifizierung verändert sich das Ich selbst, indem es seine Objekte aufgibt, sich mit ihnen identifiziert, Objektlibido in narzisstische umsetzt – ur85. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (1917), Bd. 3, S. 202f. 86. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 299.
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sprünglich, um sich dem Es als Ersatz anzubieten. Faktisch wird das Ich durch diese Identifi kation hier aber nun selbst reicher, komplexer, was der allgemeine Sprachgebrauch nennt: Erfahrungen machen. Freud bietet eine Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, bietet, wie sich bereits andeutete, eine analytische Revision der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes. Walter Kaufmanns Hinweis, man könne Nietzsches Rede von Sublimierung auf die Dreifaltigkeit der Hegel’schen Aufhebung abbilden, »ein Bewahren, Negieren und Aufheben«,87 erweist sich als verblüffend stimmig für Freuds Rekonstruktion der Geschichte der Objektwahlen, wenn auch nicht für den Trieb selbst, wohl aber für das Ich und seine Objekte, die verloren (negiert) und integriert (auf bewahrt) werden, wodurch das Ich selbst sich weiter entwickelt (auf eine höhere Stufe gelangt). Die Struktur von ›Aufhebung‹ wird 1923 wie folgt aktualisiert: »Ein anderer Gesichtspunkt besagt, daß diese Umsetzung einer erotischen Objektwahl in eine Ichveränderung auch ein Weg ist, wie das Ich das Es bemeistern und seine Beziehungen zu ihm vertiefen kann, allerdings auf Kosten einer weitgehenden Gefügigkeit gegen dessen Erlebnisse. Wenn das Ich die Züge des Objektes annimmt, drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf, sucht ihm seinen Verlust zu ersetzen, indem es sagt: ›Sieh’, du kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt so ähnlich.‹ Die Umsetzung von Objektlibido in narzißtische Libido, die hier vor sich geht, bringt offenbar ein Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art von Sublimierung. Ja, es entsteht die eingehender Behandlung würdige Frage, ob dies nicht der allgemeine Weg zur Sublimierung ist, ob nicht alle Sublimierung durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht, welches zunächst die sexuelle Objektlibido in narzißtische verwandelt, um ihr dann vielleicht ein anderes Ziel zu setzen.«88
Es ist diese Struktur der Erfahrung, die Adorno mit seiner sorgfältigen Freudlektüre in der Ästhetischen Theorie freilegt. Ohne Freud zu diskutieren und mit anderer Tendenz als Adorno, entfaltet auch Hans-Georg Gadamer Erfahrung im kritischen Ausgang von Hegels Phänomenologie des Geistes. Weniger relevant für die Freudlektüre ist Gadamers, Nietzsche entlehnter Hinweis, dass alle Erfahrung ›schlechte Erfahrung‹ ist, Verarbeitung einer falschen Einschätzung: »Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative.«89 Gadamers Hermeneutik ist vielmehr 87. Vgl. Walter Kaufmann: Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, S. 274. 88. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 299f. 89. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 1990, S. 359.
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aufschlussreich, weil er eine eingehende Behandlung der bei Freud offen gebliebenen Frage bietet, warum das Machen von Erfahrung die Bahn der Sublimierung eröff net, auch jenseits sexueller Objektwahl, die sich nämlich, als negative, potentiell auf allgemeines Wissen hin überschreitet. Gadamers Phänomenologie der Erfahrung kann hier nicht im Detail referiert werden. Hinzuweisen ist aber auf seine Erläuterung, warum Erfahrung, wenn sie nicht als quasi-traumatische melancholisch lähmt, den Weg zur Wissenschaft als Forschung bahnt, potentiell also auf jene ›Desexualisierung‹ führt, von der Freud schreibt. Erfahrung, gedacht als negative, nicht melancholische, korrigiert beide, das Wissen und den Gegenstand. Indem aber das Wissen korrigiert wird und damit das Wissen über sich selbst, entsteht der Wunsch nach mehr Erfahrung, besserem Wissen, am Ende Forschung. Eine Erfahrung als Erfahrung verstehen, das heißt, neue Erfahrungen machen wollen: »Erfahrung selbst kann nie Wissenschaft [im abschließenden Sinne Hegels, E.G.] sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem und technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen. Die Vollendung seiner Erfahrung, das vollendete Sein dessen, den wir ›erfahren‹ nennen, besteht nicht darin, daß einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen. Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird.«90
Es wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung, den Stellenwert der Freudlektüren Gadamers zu eruieren. Was ihm hier in der Sache gelingt, das ist die Konstruktion einer Verbindung zwischen psychoanalytischer Triebtheorie und einer Logik der Erfahrung. Und es gelingt Gadamer eine Erklärung der These Freuds, dass die Objektwahl des Melancholikers narzisstisch gewesen sei. Narzissmus als Syndrom ist die Unfähigkeit zur Reflexion, die Unfähigkeit, Erfahrung auf sich selbst anzuwenden. Enttäuschung durchs Objekt bedeutete den Zusammenbruch des narzisstischen Größenselbst und muss also um jeden Preis vermieden werden. Narziss kennt Erfahrung nicht, es sei denn als Katastrophe. Ich und Welt bleiben arm, ohne Erfahrung. 90. Ebd., S. 361.
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Eine Bestätigung erfährt Gadamers Überführung individueller Erfahrung in allgemeine Sublimierung direkt von Freud her. Im Aufsatz über Leonardo hat Freud sein Ideal der Sublimierung formuliert, die, wie bei Gadamer erneut, darin gipfelt, sich durch keinerlei Autorität das Recht auf neue, konkrete Erfahrungen streitig machen zu lassen: »Er [Leonardo, E.G.] wagte es, den kühnen Satz auszusprechen, der doch die Rechtfertigung aller freien Forschung enthält: Wer im Streite der Meinungen sich auf die Autorität beruft, der arbeitet mit seinem Gedächtnis, anstatt mit seinem Verstand. So wurde er der erste moderne Naturforscher, und eine Fülle von Erkenntnissen und Ahnungen belohnte seinen Mut, seit den Zeiten der Griechen als der erste, nur auf Beobachtung und eigenes Urteil gestützt, an die Geheimnisse der Natur zu rühren. Aber wenn er die Autorität geringschätzen und die Nachahmung der ›Alten‹ verwerfen lehrte und immer wieder auf das Studium der Natur als auf die Quelle aller Wahrheit hinwies, so wiederholte er nur in der höchsten, dem Menschen erreichbaren Sublimierung die Parteinahme, die sich bereits dem kleinen, verwundert in die Welt blickenden Knaben aufgedrängt hatte. Aus der wissenschaftlichen Abstraktion in die konkrete individuelle Erfahrung rückübersetzt, entsprachen die Alten und die Autorität doch nur dem Vater, und die Natur wurde wieder die zärtliche, gütige Mutter, die ihn genährt hatte.«91
Freuds Lehre von der konkreten Erfahrung des Bewusstseins als der Bedingung der Möglichkeit von Forschung, auch der eigenen, antizipiert die theoretische Substanz der großen Aufsätze über die so genannte depressive Position von Melanie Klein. Klein arbeitet Freuds Entdeckung zu einer Urgeschichte der Ichbildung aus, wobei sie der eigentlichen Sublimierung als der produktiven Erfahrung die Einsicht in eine »melancholia in statu nascendi« vorordnet,92 die zuvor erfolgreich zu absolvieren ist. Das sehr kleine Baby internalisiert Klein zufolge Aspekte äußerer Objekte (zunächst die nährende Brust) und errichtet eine innere Welt aus guten und bösen Objekten (die eigenen Aggressionen und Hassgefühle). Während der Entwöhnung durchläuft das Baby eine quasi-psychotische Phase, in der nicht nur der Verlust der Brust verarbeitet werden muss; zu leisten ist auch die, eine Bildung des Ichs befördernde Überführung von Objektaspekten in ganze Objekte:
91. Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), Bd. 10, S. 145. 92. Melanie Klein: »Mourning and its Relation to Manic-Depressive States« (1940), in: Melanie Klein: Love, Guilt and Reparation and other Works 1921-1945, New York 1984, S. 345.
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»the all important process of bringing together more closely the various aspects of objects (external, internal, ›good‹ and ›bad‹, loved and hated), and thus for hatred to become actually mitigated by love—which means a decrease of ambivalence«.93
Der Entstehung einer Welt ganzer Objekte innen und außen korrespondiert, wenn die depressive Position erfolgreich absolviert wird, ein stabiles Ich, das sich konstituiert aus verarbeiteten Erfahrungen. Die zukünftige Fähigkeit produktiver Internalisierung verlorener Objekte, Sublimierung, wird möglich auf der Basis einer im frühen Kindesalter gut überstandenen Depression. Kernberg akzeptiert die Relevanz dieser Konzeption auch für Borderline-Störungen, womit klar wird, dass pathologischer Narzissmus, als exemplarischer Borderline-Fall, zur großen Herausforderung für die Sublimierungsleistungen wird. Kernberg notiert vor dem Hintergrund der Kleinschen Vertiefung Freuds: »Alle diese Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass die Sublimierung […] nicht einfach nur als Ausdruck einer durch Ich- und Überichfunktionen bedingten Modifikation von Triebabkömmlingen bezüglich ihrer Zielsetzung und Anwendung zu verstehen ist, sondern vielmehr ein direktes Ergebnis der Schicksale verinnerlichter Objektbeziehungen darstellt. Die Fähigkeit zur Ausbildung von Beziehungen zu ganzen Objekten, also auch zur Integration von liebevollen und hassvollen Beziehungsanteilen im Verhältnis zu anderen und zu sich selbst, muss also vorhanden sein, damit Sublimierungen in vollem Umfang entwickelt werden können. Wenn ein Borderline-Patient in irgendeinem Bereich seines Lebens grundsätzlich auf irgend etwas Gutes oder Wertvolles in der Beziehung zu anderen Menschen (oder zu seiner Arbeit, Freizeitbetätigungen, Kunst, Wissenschaft oder Religion) zu vertrauen vermag, so ist dies von großer Bedeutung als prognostisch positives Zeichen.«94
Die individuelle Dimension der Sublimierung ist mit der Analyse der das Ich produktiv anreichernden Identifizierung weitgehend beschrieben. Loewald geht angesichts dieses Panoramas so weit, mit Blick auf die Erfahrungsstruktur, ein fernes Echo Hegel’scher Philosophie, sogar von »Versöhnung« zu sprechen: »Sublimation is a kind of reconciliation of the subject-object dichotomy—an atonement for that polarization (the word atone derives from a tone) and a nar-
93. Ebd., S. 349. Fn. 94. Kernberg: Borderline-Störungen (Anm. 35), S. 159.
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rowing of the gulf between object libido and narcissistic libido, between object world and self.«95
Loewald kann die Perspektive auf Versöhnung gewinnen, weil er, ganz im Gegensatz zur Textlage bei Freud, der Auffassung ist, »the term sublimation implies transformation of instincts«.96 Wie ich zu zeigen versucht habe, macht diese Ansicht von der Sublimierung ein Freudverständnis unmöglich. Nicht die Triebe selbst werden transformiert, es werden Objekte ersetzt. Erst wenn man erkennt, dass Ersatz die Zielsetzung für Sublimierung ist, werden der Reichtum und die Konsistenz der Freud’schen Ausführungen deutlich, aber auch das Phänomen eines bleibenden Unbehagens in der Kultur. Über die These von der Plastizität der Sexualtriebe, die These der Amalgamierung von Ich- und Sexualtrieben, schließlich durch die Lehre von der produktiven Identifizierung wird es möglich, Sublimierung als Arbeit am Objekt des Triebs plausibel zu machen. Sublimierung aber als Transformation des Triebs selbst zu denken, macht unverständlich, warum Freud sich von Anfang bis Ende besorgt mit dem Faktum der Desublimierung, der Regression befasst. Das Studium der objektiven Dimension der Sublimierung muss in den Blick nehmen, dass Freud energisch und, seit dem Ersten Weltkrieg, mit zunehmender Schärfe dafür plädiert, die subjektiven Sublimierungen durch soziale Sanktionen stabil zu halten, wodurch der Sublimierungsbegriff zu schillern beginnt zwischen ›quasibiologischem Entwicklungsprozess‹ und Zwang. Weil das Objekt das variabelste am Trieb ist, bleibt Regression jederzeit möglich, wenn das Objekt verloren geht oder vom Trieb herausgeschleudert wird wie der Korken von der Sektflasche. Im Fall Schreber vermerkt Freud, dass bereits Alkoholkonsum hinreicht, um das fi ligrane Gebäude zum Einsturz zu bringen: »Wir wissen, daß dies Genußmittel Hemmungen auf hebt und Sublimierungen rückgängig macht.«97 Loewald kann die Perspektive auf Versöhnung gewinnen, weil er auf Transformation des Triebes hoff t. Er kann Versöhnung zweitens in den Blick nehmen, weil er auf das Leonardo-Modell Freuds hinweisen kann, das im Widerspruch zur Gefahr der Desublimierung zu stehen scheint. Loewald schreibt:
95. Hans W. Loewald: Sublimation (Anm. 30), S. 20. 96. Ebd., S. 5. 97. Sigmund Freud: Psychoanalytische Betrachtungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911), Bd. 7, S. 187.
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»As Freud said of Leonardo, passion is not absent in sublimation, and it is especially active and experienced in creative work, be it of a scientific, artistic, therapeutic, or religious nature, or of any other kind. […] In its most developed form in creative work it culminates in celebration. This ›manic‹ element of sublimation is not a denial, or not only that, but an affirmation of unity as well. Yet the organization of the ego itself, to the extent to which it is nonrepressive, is such celebration already.«98
Der Durchgang durch Freuds Stellungnahmen zur Sublimierung sollte zeigen, dass die Dunkelheit, die über dem Begriff liegt, zwei Ursachen hat. Zum einen wird ein Verständnis erschwert, wenn man Sublimierung als Manipulation der Triebe versteht. Die bleibende Dunkelheit der Sublimierungslehre liegt zweitens und vor allem darin begründet, dass Freud Sublimierung elitär denkt, aber für beides, das stets fragile Ideal und den Zwang, denselben Terminus gebraucht: »Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziel weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig«.99
Als Idee einer Versöhnung des Individuums mit sich selbst und mit der Gesellschaft ist Sublimierung ein Ideal, als Technik der Erziehung der Jungen und der Anpassung der Erwachsenen ist diese Lehre repressiv. Beide Seiten werden bei Freud formuliert, wobei das Ideal auf der Seite des großen Individuums zu stehen kommt. Leonardo da Vinci erscheint als dessen Verkörperung. Für die Gesellschaft hingegen akzentuiert Freud das repressive Moment, so dass die Argumentation auf einen elitaristischen Kompromiss zuläuft: für einige Individuen, kulminierend in der Figur des Künstler-Wissenschaftlers – Leonardo, Goethe und Freud selbst – gibt es die Möglichkeit, einem Ideal nahe zu kommen, während die Gesellschaft im Banne des Leviathan verbleibt: »Die Wissenschaft ist eben die vollkommenste Lossagung vom Lustprinzip, die unserer psychischen Arbeit möglich bleibt.«100 In der Schrift über Das Unbehagen in der Kultur, die eine Sequenz unausgewiesener Zitate des Leviathan enthält, heißt es in einer Versachlichung des leidenschaftlichen psychoanalytischen Romans über Leonardo: 98. Loewald: Sublimation (Anm. 30), S. 21f. 99. Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Bd. 9, S. 23. 100. Sigmund Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens (1910), Bd. 5, S. 187.
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»Eine andere Technik der Leidabwehr bedient sich der Libidoverschiebungen, welche unser seelischer Apparat gestattet, durch die seine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt. Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben.«101
4. Freuds Lev iathan Die Frage, ob Freuds Entdeckungen gesellschaftlich ›emanzipatorisch‹ wirken, am Ende potentiell ›sozialrevolutionär‹ seien, oder ob Psychoanalyse faktisch eine Machttechnik sei, die dazu diene, den neurotisch erkrankten Menschen an die jeweils geltende Form des Realitätsprinzips anzupassen und dergestalt in die gegebenen sozialen Verhältnisse einzupassen, diese Frage ist vermutlich beinahe so alt wie die Psychoanalyse selbst und wurde vielfach so gelöst, dass man das emanzipatorische Potential wider die etablierte Therapie der Ärzte ausspielte. Womöglich kommt man einer Klärung dieser schwierigen Frage näher, wenn man sich verdeutlicht, dass Freuds hydraulisches Triebmodell eine verblüffende Nähe zum mechanistischen Weltbild Thomas Hobbes’ unterhält, von dem ebenfalls kein Weg zu einer Philosophie der Geschichte führt. In Erinnerung zu rufen ist Freuds schroffe Stellungnahme zur Idee einer Vervollkommnung der Menschheit, die in Jenseits des Lustprinzips formuliert wird. Freud bemerkt: »Vielen von uns mag es schwer werden, auf den Glauben zu verzichten, daß im Menschen selbst ein Trieb zur Vervollkommnung wohnt, der ihn auf seine gegenwärtige Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht hat und von dem man erwarten darf, daß er seine Entwicklung zum Übermenschen besorgen wird. Allein ich glaube nicht an einen solchen inneren Trieb und sehe keinen Weg, diese wohltuende Illusion zu schonen. Die bisherige Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Erklärung zu bedürfen als die der Tiere, und was man einer Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen Drang zu weiterer Vervollkommnung beobachtet, läßt sich ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf welche das wertvollste der menschlichen Kultur aufgebaut ist. Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind 101. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 211.
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ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach des Dichters Worten ›ungebändigt immer vorwärts drängt‹ (Mephisto im Faust, I, Studierzimmer). Der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung, ist in der Regel durch Widerstände, welche die Verdrängungen aufrechterhalten, verlegt, und somit bleibt nichts anderes übrig, als in der anderen, noch freien Entwicklungsrichtung fortzuschreiten, allerdings ohne die Aussicht, den Prozeß abschließen und das Ziel erreichen zu können.«102
Strikt folgt Freud erneut dem hydraulischen Triebmodell. Das permanente Drängen des Triebs kann nicht abgestellt werden, und in der zitierten Passage ergänzt Freud die Konzeption um drei bedeutende Momente. Erstens sind es nur wenige, die sich dem Trieb zu immer weiterer Vervollkommnung im Sinne des emphatischen Begriffs der Erfahrung hingeben; aber auch sie bleiben dem Drängen ausgesetzt. Zweitens sind sämtliche in der Seelenanalyse gefundenen individuellen Pfropfen auf dem immer drängenden Trieb unzureichend: aller Ersatz, jede Form von Surrogat oder Sublimierung bleiben erlitten, werden allenfalls mit Unbehagen hingenommen; das frustrierte Begehren kann sich entsprechend auf die Seite der Aggression schlagen, um mit Gewalt gegen die Versagungen vorzugehen. Der Trieb drängt; und da der Weg in die Regression ›in der Regel‹ durch Widerstände verstopft ist, drängt der Trieb, weil er muss und nicht, weil ein Geist es will, nach ›vorne‹. Motiviert wird dieser Illusionen nährende ›Drang nach vorne‹ der Passage zufolge einzig durch die vage Aussicht, dass Reaktionbildung, Surrogat, Sublimierung, Hemmung und Aufschub irgendwann ein seliges Ende haben werden, dass dereinst eine uneingeschränkte Restitution des Lustprinzips, die ›volle Befriedigung‹ – die vollkommene Regression – möglich werden. Es gibt keine Veränderung des Triebs selbst, der es vielmehr ›nie aufgibt‹, nach direkter Abfuhr zu streben. Was manchen Geschichtsphilosophen als ›Trieb zur Vervollkommnung‹ erschien, das war nur der ewige Konflikt zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip. Die Menschen bleiben sich gleich; aus den durch die Gewalt des umgeleiteten Triebs erzwungenen kulturellen Leistungen zu schließen auf eine substantielle Veränderung, das wäre illusionär. Wie Hobbes im Leviathan schreibt, ist das Bedürfnis »die Mutter aller Erfindungen«;103 von der Fülle der Erfindungen aber darauf zu schließen, dass sich das Bedürfnis selbst nachhaltig verfei102. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), Bd. 3, S. 251. 103. Thomas Hobbes: Leviathan, übers. v. Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1970, S. 29.
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nert hätte, wäre nach Freud ein Denkfehler. Der Rückfall in den Naturzustand, der ist, als habe es nie eine Kultur gegeben, Triebentmischung bleibt jederzeit möglich. 1915 heißt es entsprechend in der ersten Kriegsschrift: »Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch so weit bestehen, daß er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären. Diese außerordentliche Plastizität der seelischen Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht unbeschränkt; man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung – Regression – bezeichnen, denn es kommt wohl vor, daß eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.«104
Freud, dem die Geschichte der Menschen nicht von jener der Tiere unterschieden ist, gestattet es der Umstand historischer Veränderung keineswegs, einen nach ›oben‹ weisenden Entwicklungspfeil durch das Auf und Ab der historischen Bewegung in der reinen Naturzeit zu ziehen. Es bleibt sich wesentlich alles gleich; der Konflikt bleibt auf einer Ebene. Der drängende Trieb ist das erblindete Absolute, das ›im vollsten Sinne‹ Unvergängliche, das die Psychoanalyse von der Religion und ihrer Säkularisierung, Geschichtsphilosophie, erbt. Analytisch gesehen, ist Religion infantil, Philosophie der Geschichte ebenfalls. Daraus resultiert Freuds freimütig eingestandener Elitarismus, der Sublimierung als Ideal für die Wenigen, Sublimierung als Zwang zum Triebverzicht für die vielen vorsieht und dergestalt die zu Anfang dieses Kapitels pointierte Dunkelheit des Begriffs in ein Zwielicht überführt: »Ebensowenig wie den Zwang zur Kulturarbeit, kann man die Beherrschung der Masse durch eine Minderzahl entbehren, denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Triebverzicht nicht, sind durch Argumente nicht von dessen Unvermeidlichkeit zu überzeugen, und ihre Individuen bestärken einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit. Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie als ihre Führer anerkennen, sind sie zu Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist. Es ist alles gut, wenn diese Führer Personen von überlegener Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens sind, die sich zur Beherrschung ihrer eigenen Triebwünsche aufgeschwungen haben.«105 104. Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), Bd. 9, S. 45. 105. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927), Bd. 9, S. 141.
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Es ist nicht neu, Freuds Pessimismus zu bemerken, der in der Schrift über das Jenseits des Lustprinzips auch nicht verhehlt, dass »wir unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen sind«.106 Erstaunlich hingegen ist zu sehen, dass weder ein Begriffshistoriker wie Marquard in seiner detaillierten Rekonstruktion der Vorgeschichte der Psychoanalyse, noch auch Sozialphilosophen wie Adorno, Horkheimer oder Marcuse die Nähe zwischen Freud und Hobbes in das Zentrum ihrer Studien und Reflexionen stellten.107 Wie Herfried Münkler und andere gezeigt haben, besteht der theoretische Durchbruch Hobbes‹ darin, in der Staatsphilosophie die fortgesetzt kontroverse und beständig von religiösen, also rational nicht auszuweisenden Überzeugungen heimgesuchte Frage nach der ›Gerechtigkeit‹ durch seine Theorie der Souveränität substituiert zu haben. Die alte, vormoderne Opposition zwischen ›gerecht‹ und ›ungerecht‹ bzw. zwischen ›gut‹ und ›böse‹ wird radikal ersetzt durch die plane, ahistorische Opposition zwischen Naturzustand und Staat,108 womit die moderne Theorie des Politischen ihren Anfang nimmt, konsequent nominalistisch und also jenseits von Gut und Böse. Beide, Nietzsche wie Wittgenstein, erweisen sich als Angestellte im Hobbesschen Staat: »Es müssen die Ausdrücke gut, böse und schlecht nur mit Bezug auf den, der sie gebraucht, verstanden werden; denn nichts ist durch sich selbst gut, böse oder schlecht, und der Bestimmungsgrund dazu liegt nicht in der Natur der Dinge selbst, sondern er muß von dem, der dieselben gebraucht (wenn anders keine 106. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), Bd. 3, S. 259. 107. Es ist vor allem der Kulturhistoriker und Freudexperte Peter Gay gewesen, der auf den Hobbes-Bezug bei Freud aufmerksam geworden ist, allerdings ohne diese Feststellung näher auszuarbeiten. Gay schreibt mit Blick auf den Traktat über Das Unbehagen in der Kultur: »Prothesen funktionieren nicht immer, und ihr Versagen kann beunruhigend sein. Aber diese Mängel verblassen vor dem Unglück, das durch die Beziehungen der Menschen untereinander hervorgerufen wird: homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Daher muss die Menschheit durch Institutionen gezähmt werden. Hier schloss sich Freud an das illusionslose politische Denken von Thomas Hobbes an. […] Der Freud von Das Unbehagen in der Kultur schrieb in der Hobbesschen Tradition: Der bedeutsame Schritt zur Kultur sei getan worden, als die Gemeinschaft die Macht übernommen, als der einzelne auf das Recht verzichtet habe, die Gewalt in seine eigenen Hände zu nehmen.« Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt a.M. 2006, S. 614. 108. Vgl. Herfried Münkler: Thomas Hobbes, 2. überarbeitete Aufl ., Frankfurt a.M. 2001.
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Verbindung mit dem Staate obwaltet), oder (falls diese bestehen würde) von dem Stellvertreter des Staates oder von einem selbstgewählten Schiedsrichter abhängen.«109
Begreift man die Unterscheidung zwischen Naturzustand und Staat, die Hobbes in den Teilen 1 und 2 des Leviathan entwickelt, als begriffliche Vorstufe der von Freud in den Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens 1911 eingeführten Leitdifferenz zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip, wird die Nähe zwischen Hobbes und Freud deutlich, die sich vielfach aufspüren lässt. So kehrt etwa in der bereits zitierten Passage der ersten Freud’schen Kriegsschrift Hobbes’ Warnung wieder, dass der Rückfall in den Naturzustand jederzeit möglich bleibt. Im Leviathan schreibt Hobbes: »Bezüglich der körperlichen Kraft wird man gewiß selten einen so schwachen Menschen finden, der nicht durch List oder in Verbindung mit anderen, die mit ihm in gleicher Gefahr sind, auch den stärksten töten könnte. […] Hieraus ergibt sich, daß ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle.«110
In der antireligiösen Polemik über Die Zukunft einer Illusion findet sich folgende Umschrift dieser Grundeinsicht Hobbes’: »[Der starke Mörder] würde sich also seiner Rache oder seines Raubes nicht lange freuen, sondern hätte alle Aussicht, bald selbst erschlagen zu werden. Selbst wenn er sich durch außerordentliche Kraft und Vorsicht gegen den einzelnen Gegner schützen würde, müßte er einer Vereinigung von Schwächeren unterliegen. Käme eine solche Vereinigung nicht zustande, so würde sich das Morden endlos fortsetzen, und das Ende wäre, daß die Menschen sich gegenseitig ausrotteten.«111
Abgesehen von dem Zusatz über die totale Vernichtung der Menschheit, der den bei Hobbes als infi nit gedachten bellum omnium contra omnes pessimistisch übertrumpft, kommt der Freudpassus einem direkten Abschreiben aus dem Leviathan sehr nahe. Auch in der Schrift über das Unbehagen in der Kultur reichen die Bezüge auf den Leviathan bis in Details der Formulierungen hinein. Hier sind nur einige Belege für die These zu geben, dass man Freud lesen kann als Bestätigung Hobbes’ aus der 109. Hobbes: Leviathan, (Anm. 103), S. 50. 110. Ebd., S. 113 u. 115. 111. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927), Bd. 9, S. 174.
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Perspektive modernen psychologischen Expertenwissens. Im Leviathan heißt es etwa: »Gesetzt, sie überwänden durch eine einmütige Anstrengung ihrer Kräfte den Feind, so wird dennoch nachher, wenn sie keinen gemeinsamen Feind mehr haben oder wenn ein und derselbe von einigen als Feind und von andern als Freund angesehen wird, die Gesellschaft notwendig in sich gespalten werden und wegen der Verschiedenheit ihrer Ansichten ein neuer Krieg unter ihnen selbst entstehen.«112
Die entsprechende Passage bei Freud lautet, elegant verkürzt: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.«113 Bei Hobbes heißt es 1651, dass »der größte Teil der Menschen sich mit der Aufsuchung der natürlichen Ursachen wenig beschäftigt und sinnliche Vergnügungen mit allem, was dazu führt, für das höchste Glück hält«.114 »Glückseligkeit schließt in sich einen beständigen Fortgang von einem Wunsch zum andern, wobei die Erreichung des ersteren immer dem folgenden den Weg bahnen muß.«115
Knapp 300 Jahre später notiert Freud: »Sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben.«116 »Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt.«117
Hobbes schreibt, um nur zwei der zahlreichen Varianten zu zitieren, über die Religion:
112. Hobbes: Leviathan (Anm. 103), S. 153. 113. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 243. 114. Hobbes: Leviathan (Anm. 103), S. 74. 115. Ebd., S. 90. 116. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 208. 117. Ebd.
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»[D]ie Verehrung, welche den unsichtbaren Mächten aus natürlichem Gefühl geleistet werden kann, ist dieselbe, welche man gewöhnlich seinen Vorgesetzten erweist.«118 »Aus dieser Absicht [das Volk im Gehorsam zu erhalten] heraus brachten sie [die Priester] das Volk zunächst auf die Gedanken, die Religionsvorschriften rührten nicht von ihnen, sondern von einem Gott oder Dämon her; oder aber sie selbst wären eine höhere Art von Menschen.«119
Der Sachverständige von 1930 bedauert: »[Die Religion] ist so offenkundig infantil, so wirklichkeitsfremd, daß es einer menschenfreundlichen Gesinnung schmerzlich wird zu denken, die große Mehrheit der Sterblichen werde sich niemals über diese Auffassung des Lebens erheben können.« 120 Bereits in der Abhandlung über Die Zukunft einer Illusion hatte Freud gleichwohl dem fi ktiven Opponenten in der Einsicht beigepflichtet, dass die religiösen Lehren helfen, »den Riß zwischen der ungebildeten Masse und dem philosophischen Denker zu vermeiden« und »die Gemeinsamkeit unter ihnen [erhalten], die für die Sicherung der Kultur so wichtig ist.«121 Hobbes formuliert das zur Entstehung des Staates führende Agreement wie folgt: »›Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst.‹ Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott.«122
Der Psychologe des kriegerischen 20. Jahrhunderts nobilitiert diesen Akt zur kulturhistorischen Gründungsurkunde: »Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt«123 und bemerkt:
118. Hobbes: Leviathan (Anm. 103), S. 102. 119. Ebd., S. 107. 120. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 206. 121. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927), Bd. 9, S. 185. 122. Hobbes: Leviathan (Anm. 103), S. 155. 123. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 225.
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»Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen.«124
Hobbes konstatiert, »daß die Natur die Menschen so ungesellig gemacht und sogar einen zu des anderen Mörder bestimmt habe: und doch ergibt sich dies offenbar aus der Beschaffenheit ihrer Leidenschaften und wird durch die Erfahrung bekräftigt.« 125 Freud spielt auf diese Hobbes-Stelle an in einer Passage, die dann ausschlaggebend wird für und zitiert wird von Jacques Lacan: »Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus«.126
Der Satz vom Wolf gilt gemeinhin als Zitat aus dem Leviathan, der so elegante Aphorismen enthält wie über den Naturzustand als bellum omnium contra omnes oder über das Gesetz, das von der Macht, und das heißt, von der Macht über Armee und Polizei, bestimmt wird: auctoritas non veritas facit legem. Das Zitat, das den Menschen den Wolf des Menschen nennt, stammt, wie der belesene Freud weiß und anmerkt, nicht von Hobbes, der es auch nicht verwendet, sondern von Plautus. Freud gesteht also eine Leviathan-Lektüre subtil, beinahe amüsant ein, wie schon zuvor in der pessimistischen Übertrumpfung der These vom ewigen Krieg: Freud zitiert nicht direkt, sondern korrigiert durch den Hinweis auf Plautus stattdessen einen verbreiteten Irrtum des Bildungsbürgertums. Und dieses 1930 massiv bedrohte Bildungsbürgertum wird durch den Hinweis des Analytikers des Wolfsmannes, der Satz vom Wolf entstamme nicht dem Hobbes’schen Werk, womöglich allererst darauf gestoßen, dass der Leviathan im Zentrum der Psychoanalyse aufgetaucht ist. Mit dem Aufweis der Hobbeslektüre Sigmund Freuds ist die Auf hellung der Sublimierungslehre aus der Perspektive der Individualpsycho124. Ebd. 125. Hobbes: Leviathan (Anm. 103), S. 116. 126. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 240.
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logie weitgehend abgeschlossen. Deren Dunkelheiten ergaben sich zum einen aus den Veränderungen in der Topik, zum andern aus der nicht explizit gemachten zweifachen Verwendung von Sublimierung, die auf der einen Seite der Name eines individuellen Ideals ist, das Freud etwa in Leonardo oder Goethe verkörpert sieht, auf der anderen Seite aber das Projekt einer Triebunterdrückung benennt, das Freud zur Sicherung der Kultur als unvermeidlich erachtet. So wird der Blick in die Metakritiken an Freud dringlich, um zu überprüfen, ob aus der klassischen Analyse die Affirmation des autoritären Staates zwingend folgt, der im Rahmen seiner starken Institutionen gleichwohl einigen wenigen das Privileg erteilt, neue Erfahrungen zu machen. Die Auseinandersetzung mit Lacans Durcharbeitung der Sublimierungslehre hingegen wird dringlich aus einem weiteren Grund. Im hier versuchten Durchgang durch Freuds Fragmente zur Sublimierung wurde u.a. ein Problem ausgespart, das dann im Kontext einer Diskussion der Aggressionen ins Zentrum der Lacan’schen Psychoanalyse rückt: In den Untersuchungen zum Problem der Triebsublimierung entwickelt Freud die Theorie einer Instanz, die aus der Verinnerlichung der äußeren Zwänge entsteht und intrapsychisch die Sublimierung verkörpert: das Überich. Freud hatte die Struktur der Sublimierung im Ausgang von der Theorie der Melancholie her über den Begriff der Identifizierung gebildet. Das Ich entsteht aus der Geschichte überstandener Objektwahlen, aber es entsteht auch das Überich, der Agent des Todestriebs. Das Verhältnis des Ichs zum Es, das nicht nur begehrt, sondern auch zerstören, enden, auf hören will, erweist sich als nicht weniger fatal: »Durch seine Identifizierungs- und Sublimierungsarbeit leistet [das Ich] den Todestrieben im Es Beistand zur Bewältigung der Libido, gerät aber dabei in Gefahr, zum Objekt der Todestriebe zu werden und selbst umzukommen.«127
Das Problem, von dem die gesamte Anstrengung Freuds, Sublimierung zu denken, ihren Ausgang nahm: die Stellung des Ich zwischen Innen und Außen zu bestimmen und, in der Tat: zu stärken, kehrt auf dem Höhepunkt der Theorie, der Lehre von der produktiven Identifizierung, wieder: Das Ich wird erdrückt vom Überich einerseits, und droht umzukommen in dem Moment, in dem es sich dem Es als Objekt der Begierde anbietet. Die Lehre von der Sublimierung weist also keinen Weg heraus aus der Not des Lebens; sie bestätigt sie vielmehr. Indem sich Sublimierung als Theoria über die Welt hinaus schwingt, droht zu vergehen, worauf sie aufruht, der Leib, der Träger des fragilen Ichs. 127. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 323.
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In der späten Schrift über den Mann Moses und die monotheistische Religion gibt Freud schließlich einen tief beunruhigenden Hinweis, der erhellt, warum das Problem des Narzissmus später zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt. Freud rekonstruiert die Geschichte des Monotheismus als die Entwicklung hin »zu einer Religion der Triebverzichte«.128 Unabhängig von der bereits einleitend angemerkten Tatsache, dass sich die Freud’sche Theorie der Sublimierung im Ausgang von den kulturhistorischen Spekulationen noch einmal schreiben ließe, was allerdings eine umfassende religionswissenschaftliche Qualifi kation voraussetzte, ist die Schrift zu Moses im Hinblick auf das Problem des Narzissmus bedeutsam auch für die vom Individuum her gedachte Sublimierungslehre. Freud beobachtet nämlich das Phänomen, dass die Menschen durch jeden kulturellen Fortschritt von der Sinnlichkeit zur Geistigkeit sich nicht nur eingeschränkt und also unbehaglich, sondern sich auch »durch jeden solchen Fortschritt stolz und gehoben« fühlen. Beim Versuch, dieses überraschende Phänomen zu klären, das noch überboten wird durch den Triumph des Glaubens über die Geistigkeit, bietet Freud eine Antwort, die am Ende selbst noch das Ideal individueller Sublimierung in Frage stellt. Freud stellt die Frage – und lässt, so wie dieses Kapitel, die Frage offen –, ob es nicht »einfach« Narzissmus sei, der die Fortschritte in der Triebeinschränkung und also in der Geistigkeit lanciert: »Später ereignet es sich dann noch, daß die Geistigkeit selbst von dem ganz rätselhaften emotionellen Phänomen des Glaubens überwältigt wird. Das ist das berühmte Credo, quia absurdum, und auch wer dies zustande gebracht hat, sieht es als eine Höchstleistung an. Vielleicht ist das Gemeinsame all dieser psychologischen Situationen etwas anderes. Vielleicht erklärt der Mensch einfach das für das Höhere, was das Schwierigere ist, und sein Stolz ist bloß der durch das Bewußtsein einer überwundenen Schwierigkeit gesteigerte Narzißmus.«129
128. Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), Bd. 9, S. 564. 129. Ebd., S. 564.
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V. Walking the Dog. Tier ische Transzendenz bei Thomas Mann Wer das Konzert zu End’ gehört, das war ein junger Hund, und als der Hund nach Hause kam, da war er nicht gesund. (Echo in Dr. Faustus, VI, p. 617)1
1. Die Lust des Wor tes Ein Buch über Sublimierung ohne ein Kapitel zu Thomas Mann wäre so unwahrscheinlich wie ein Thomas-Mann-Porträt ohne Zigarette oder Zigarre. Seine an Nietzsches Psychologie und später an Schopenhauers Idee der Askese geschulte Perspektive auf »das Läben«2 erforderte eigentlich, wie im Fall der anderen hier diskutierten Autoren, eine monographische Würdigung. Die Sublimierung, Verfeinerung, Verwandlung, Steigerung der Triebe einerseits und die penible Darstellung der unheilvollen Konse1. Zitate aus den Werken Thomas Manns werden angesichts der Unabgeschlossenheit der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe durchweg über die Gesammelten Werke in dreizehn Bänden belegt, hier nach der Fischer-Taschenbuchausgabe von 1990. Zitate aus Herr und Hund. Ein Idyll, ebd. Bd. 8, S. 526-617, werden direkt nach dem Zitat ausgewiesen, durch arabische Ziffern in runden Klammern. 2. Vgl. die Bildunterschrift zu einer bekannten Zeichnung Thomas Manns, die einen vollkommen Betrunkenen zeigt, reproduziert etwa in: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Frankfurt a.M. 1997, S. 84.
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quenzen der Hemmung anderseits stehen bei ihm von den Buddenbrooks bis zur Betrogenen im Fokus der Aufmerksamkeit, thematisch und poetologisch gleichermaßen. Folgerecht gab Hermann Kurzke seiner Biographie den durchaus beziehungsreichen Untertitel: Das Leben als Kunstwerk.3 Relativ mühelos ließe sich die These ausarbeiten, Thomas Manns Werk biete eine weit ausgreifende Phänomenologie der Sublimierung und der Hemmung, wobei sein Denken in produktiven Antithesen, basierend auf dem Gegensatz zwischen Geist und Leben, sich aus dem bis zuletzt prägenden Einfluss Friedrich Schillers speist, dem der Mensch ›das unselige Mittelding von Vieh und Engel‹ war. Immer wieder dokumentiert Thomas Mann allerdings den historischen Zerfall der Synthesen Schillers, dessen Ideal einer in der Anmut und im Spiel kulminierenden ästhetischen Erziehung faktisch bereits eines der gelingenden Sublimierung darstellte. 4 Während Tonio Kröger noch einen Lebenskompromiss unter dem Titel der vom Ersten Weltkrieg dann verschlungenen ›Bürgerlichkeit‹ fi ndet, Erkenntnisekel und kastrierende Lebensferne halbwegs überwindet, verliert bereits im prophetischen Tod in Venedig 1911 der Geist seine Anmut und wird die Anmut geistlos.5 Ergänzend tritt seit den zwanziger Jahren zu den frühen Bildungserlebnissen Schiller, Nietzsche, Wagner und Schopenhauer das Freud-Studium hinzu, und Thomas Mann konnte später zu Recht für sich reklamieren, als einer der ersten auf die direkten Verbindungslinien hingewiesen zu haben, die von Schopenhauers Willen zur Annahme unbewusster Triebe bei Freud führen.6 Schließlich ist daran zu erinnern, dass Manns progredierende Identifi kation mit Goethe auch ein, freilich ironisch abgefedertes, Bekenntnis zu dessen in der Autobiographie skizzierten Poetik einer sublimierenden Verarbeitung von Erfahrungen mit einschließt. Diese Dimension hat Thomas Mann nun ihrerseits direkt im Werk thematisiert: Wie man heute weiß, gehörte zum Umkreis der Ideen, aus denen sich der Roman über Lotte in Weimar schließlich herauskristallisierte, auch die Idee, Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow episch zu verarbeiten.7 Zumal mit Blick auf die homoerotischen Neigungen Thomas Manns 3. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, Frankfurt a.M.
1999. 4. Vgl. Vf.: Charis und Charisma. Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger, Berlin 2006, S. 35-56. 5. Vgl. ebd., S. 95-117 über Tadzios Anmut und Aschenbachs Würde. 6. Vgl. Thomas Mann: Schopenhauer (1938), Bd. 9, S. 578. 7. Vgl.: Werner Frizen: Kommentar zu Lotte in Weimar, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 9.2, Frankfurt a.M. 2003, S. 11f.
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wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine stattliche Anzahl von Untersuchungen vorgelegt, die das Werk des Dichters weithin als Sublimierung dieser Leidenschaft beschreiben.8 Auf eine Formel gebracht demonstriert diese Forschung die These, Mann selbst gelinge, was seinen Helden vielfach schrecklich und tödlich misslingt, die Aufhebung insbesondere erschütternder erotischer Erfahrung im Werk. Von Thomas Buddenbrook über Gustav von Aschenbach bis zu Adrian Leverkühn reicht die Sequenz von autobiographisch determinierten Gestalten, die ihre Existenz im Zeichen der Askese oder des Liebesverbots führen und einen furchtbaren Preis dafür zu entrichten haben. Eine zum Tod in Venedig polare Konstellation entfaltet Mann im späten Roman über den deutschen Tonsetzer. Im Dr. Faustus überlebt der gehemmte Held zunächst, während jene Menschen den Tod finden, denen sich Leverkühn liebend zuwendet, etwa der nach den Zügen des Mannschen Jugendfreundes Paul Ehrenberg gezeichnete Geiger Rudi Schwerdtfeger. In der Perspektive biographischer Erkundung erscheint das Werk Manns als Aktualisierung des Werther-Schemas: Werther und Aschenbach sterben, während oder auch: damit Goethe und Thomas Mann ihr Leben und Schreiben erfolgreich bestehen. Eine markante Differenz zwischen Goethe und Mann besteht allerdings darin, dass bei diesem der Prozess sublimierender Verarbeitung frustrierter Triebwünsche nicht nur durch das Werk vollzogen, sondern seinerseits im Werk dargestellt und analysiert wird. Sublimierung qua Darstellung der Sublimierung, so lautet die epische Reflexionsfigur bei Thomas Mann, wenn man überhaupt behaupten möchte, er sublimiere durch den Schreibprozess. Die Freilegung der homoerotischen Dimension erschloss neues Terrain und ist sozialpolitisch bedeutend. Für die Poetik Thomas Manns aber läuft biographisch akzentuierte Forschung Gefahr, hinter deren Modernität zurückzufallen. Mit dem Frühwerk hat Mann bereits naives Schreiben, das als Ausagieren verschobener Triebenergie angesprochen werden mag, hinter sich zurückgelassen. Er gewinnt vielmehr aus dessen Erforschung eines der Hauptthemen seiner Werke, die damit auf Augenhöhe mit der Psychoanalyse kommen und sie, m.E. bereits im Tod in Venedig, artistisch überspielen. Freuds Vortrag über den Dichter und das Phantasieren von 1908 mag erhellend sein für Gustav von Aschenbach und seinen verkrampften Klassizismus, erreicht aber nicht den Text, in dem er figuriert: Eine paradigmatische Inszenierung der orthodoxen Lehre von der Sublimierung bietet die berühmt gewordene Szene zwischen Aschenbach und Tadzio am Strand. Das ›ursprüngliche Triebziel‹, den sexuellen Kontakt 8. Vgl. etwa: Karl Werner Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen. Thomas Mann und das Stigma Homosexualität, Würzburg 1991.
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mit dem Jungen zu suchen, bei Aschenbach ohnehin noch vorbewusst, wird ›verschoben‹. Anders als Goethe, der in den Römischen Elegien – ebenfalls eine schöne Widerlegung der für die Dichtung zu engen und beengenden Sublimierungslehre Freuds avant la lettre – das Vermaß auf dem Rücken der nackten Geliebten abzählt, fährt nicht Aschenbachs Hand am Körper Tadzios entlang. Vielmehr »ging sein Verlangen dahin, in Tadzio’s Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther trug. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen er […] jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte […] Es ist sicher gut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen aufheben. Sonderbare Stunden! Sonderbar entnervende Mühe! Seltsam zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als Aschenbach seine Arbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft, ja zerrüttet, und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer Ausschweifung Klage führte.«9
Hier führt Thomas Mann die platonische Sublimierungslehre und diejenige Nietzsches eng, überblendet er die antike Lehre vom Abnehmen der Form vom konkreten Leib mit der modernen Psychologie der sexuellen Wurzeln intellektueller Arbeit. Zugleich ist der Passage die Linie eingezeichnet, an der entlang Aschenbachs Leben zerbrechen wird. Er entwirft sich als zweiter Zeus, der den Ganymed erneut entführt, literarhistorisch gewendet: Aschenbach will sich als Dichterfürst, als ein neuer Goethe, Autor der Hymne Ganymed. Doch überspringt Aschenbach eine entscheidende Stufe der Leiter Platons, dem zufolge die Erfahrung sinnlicher Liebe die notwendige Voraussetzung für die freie Anschauung der Idee darstellt. Der Text dementiert die Ideologie des Klassizismus, die er, scheinbar im Einklang mit Aschenbach, inszeniert. Der Novellenstoff, die unerhörte Begebenheit besteht hier gerade darin, die triebhaften Entstehungsbedingungen des Werkes auszustellen. Erzählenswert ist nicht, was die, angesichts der Produktivität Thomas Manns ohnehin arg geringe Ausbeute von anderthalb Seiten wie auch immer erlesener Prosa enthalten (nicht einmal ihr Thema wird der Erwähnung für wert erachtet), sondern der entnervende Verkehr zwischen einem Geist und einem Körper: die Ausschweifung. 9. Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Bd. 8, S. 492f.
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Hier wird Freuds Modell der Sublimierung inszeniert und kritisch reflektiert: Thomas Manns ›Sublimierung‹ besteht offenbar nicht einfach darin, im Angesicht eines schönen polnischen Jungen ausgerechnet über Wagner – der über Nietzsche den Verdacht der Päderastie streute – zu schreiben,10 sondern darin, den Sublimierungsprozess darzustellen und als einen zu kennzeichnen, der misslingt. Bekanntlich steht am Ende des vierten Kapitels, das die Schreibszene schildert, der Durchbruch direkten Verlangens, das im »Ich liebe dich!« kulminiert und den Verfall Aschenbachs einleitet. Aschenbachs Sublimierung scheitert, weil sie, im Hinblick auf das Leben des fi ktiven Helden, keine ist, sondern ein Surrogat und vor allem eine undurchschaute narzisstische Spiegelung. Sublimierung ist nur Vorbereitung der Katastrophe; durch das Anstarren Tadzios während des Schreibens und danach handelt er sich dessen narzisstische Reaktion ein: »Es war das Lächeln des Narziß der sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte, hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerscheine der eigenen Schönheit die Arme streckt, – ein ganz wenig verzerrtes Lächeln, verzerrt von der Aussichtslosigkeit seines Trachtens, die holden Lippen seines Schattens zu küssen, kokett, neugierig und leise gequält, betört und betörend.«11
Dass der hübsche Junge auf die Verehrung, die seine pubertäre Selbstverliebtheit intensiviert, geschmeichelt reagiert, ist psychologisch erwartbar und daher wenig überraschend. Interessanter ist die Fehllektüre des Lächelns durch den Dichter: Es bewirkt den Durchbruch der Leidenschaft; Aschenbach liest das narzisstische Lächeln seinerseits narzisstisch, wähnt, es gelte ihm, dem neuen Zeus und Dichterfürsten. Der psychologische Dreh- und Angelpunkt der erotischen Pantomime zwischen Aschenbach und dem Knaben ist die narzisstische Störung bei Aschenbach selbst, deren Eskalation zum Kollaps des grandiosen Selbstbildes des Praeceptor Germaniae führt. Drei Jahre, bevor Freud den Narzissmus offiziell einführt, ist dessen Mechanismus im Tod in Venedig bereits etabliert: Tadzio als ›Objekt‹ Aschenbachs ist exemplarisch für eine narzisstische Idealbildung, in der etwas Verdrängtes projiziert wird. Und diese fragwürdige Idealbildung hatte Freud scharf von der Sublimierung unterschieden, die vom Ideal angeregt sein mag, dieses aber hinter sich lassen muss, soll sie wirklich gelingen. Am Tod in Venedig wird bereits deutlich, dass es bei der Darstellung sublimierender bzw. bewusst oder zwanghaft der Askese ergebener 10. Wie man weiß, schrieb Thomas Mann in Venedig einen kurzen Text über Richard Wagner. 11. Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Bd. 8, S. 498.
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Künstler nicht nur die freilich drängende Frage zur Debatte steht, inwieweit Produktion von Kunst Hemmung der Triebe erfordert, sondern dass Thomas Mann sich um die Identität des wahren und also gerechtfertigten Künstlers sorgt und zugleich um die Rechtfertigung des eigenen Lebens.12 Ein direkter Vergleich zwischen Lotte in Weimar und dem Dr. Faustus könnte dartun, dass auch in diesen beiden Fällen erneut ein narzisstischer Künstler thematisch ist, der seine Umgebung heimsucht. Der Weg führt im Goetheroman an der Reihe der ihrerseits narzisstisch Gekränkten vorbei – den abgelegten Geliebten, den Unbegabten, den Jüngeren, dem Sohn –, um zuletzt im Zentrum des Spiegelkabinetts einen priapischen und zugleich androgynen Olympier zu zeigen, der sich selbst tief behagt. Ähnlich schildert der Dr. Faustus, wie Leverkühn die ihn umgebenden Menschen verbraucht oder vernichtet. Während aber Leverkühn am Ende in die Hölle des Wahnsinns hinab fährt, weil sein ›Durchbruch‹ Teufelswerk ist, wird Goethes Leben als das einer wahrhaften Begabung im traumhaften Schlusskapitel gerechtfertigt. Womöglich ließe sich die Problematik Manns mit Blick auf das Sublimierungstheorem so reformulieren, dass an einer Kunst, die zu ihrer Entstehung der als Hemmung verstandenen, ›verteufelten‹ Sublimierung bedarf, etwas nicht stimmt, während nur eine Kunst gediegen und metaphysisch gerechtfertigt ist, die ein anderes Opfer erbringt, das eigene Leben. Der wahre Künstler sublimiert nicht im Sinne nur narzisstischer Idealisierung, sondern gibt sich hin. In den Termini der Psychoanalyse geredet: Thomas Mann arbeitet im klaren Bewusstsein der von Freud artikulierten Differenz zwischen Idealbildung und Sublimierung. Sein Werk misst den Abgrund aus, der zwischen beiden Formen des Umgangs mit dem Begehren liegt. Die sorgfältige Darstellung künstlerischer Produktion ist eine Phänomenologie 12. »Wenn es christlich ist, das Leben, sein eigenes Leben, als eine Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit zu empfinden, als den Gegenstand religiösen Unbehagens, als etwas, das dringend der Gutmachung, Rettung und Rechtfertigung bedarf, – dann haben jene Theologen mit ihrer Aufstellung, ich sei der Typus des a-christlichen Schriftstellers, nicht so ganz recht. Denn selten wohl ist die Hervorbringung eines Lebens […] so ganz und gar, vom Anfang bis zum sich nähernden Ende, eben diesem bangen Bedürfnis nach Gutmachung, Reinigung, und Rechtfertigung entsprungen, wie mein persönlicher und so wenig vorbildlicher Versuch, die Kunst zu üben.« Thomas Mann: Meine Zeit (1950), Bd. 11, S. 302. Mag Thomas Mann bei seinem Vortrag in Chicago auch die christliche amerikanische Zuhörerschaft im Auge gehabt haben, so ist doch diese Selbstcharakteristik m.E. einer der unterschätzten Schlüssel zum Verständnis dieses Schriftstellers, der den Schuldzusammenhang des Lebendigen erlitt und aufzuheben versuchte durch eine Erotisierung der Welt, die sich realisierte als Erotisierung der Sprache.
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der Sublimierung in exakt dem Sinne, dass die narzisstische Idealbildung zurückgewiesen wird, weil es in ihr im Kern nur um die Frustrationen des Halbkünstlers geht. Im Unterschied dazu gelingt es dem wahren Künstler, für den Goethe emblematisch einsteht, sein individuelles Schicksal hinter sich zu lassen, an die Stelle der Sucht nach individueller Erfüllung die permanente Transformation treten zu lassen und damit ›Objektivität‹ der Darstellung, das Pathos der Distanz zu erreichen. Kunst ist der Poetik Thomas Manns zufolge erst dann gediegen, wenn sie nicht mehr verschobener Narzissmus ist, sondern Sublimierung als Preisgabe der Partikularität. Vor diesem Hintergrund wird erst nachvollziehbar, warum vor der Darstellung Goethes selbst das Defi lee der narzisstisch bitter Gekränkten abgenommen wird. Die vorüberziehenden Gestalten haben es allesamt nicht vermocht, ihre frustrierte Individualität hinter sich zu lassen. Goethe scheint narzisstisch zu sein, ist es aber nur aus der Perspektive der narzisstisch Gekränkten. Diesen Zusammenhang stellt der Schluss von Lotte in Weimar ergreifend dar: Angewidert wirft Charlotte Kestner dem Jugendfreund vor, dass es nach »Menschenopfer« rieche in Goethes Umgebung: »[E]s ist ja beinah wie ein Schlachtfeld und wie in eines bösen Kaisers Reich«. Im Schatten verborgen greift Goethe die Metaphorik des Opfers auf und wendet sie um: »Den Göttern opferte man, und zuletzt war das Opfer der Gott. Du brauchtest ein Gleichnis, das mir lieb und verwandt ist, vor allen, und von dem meine Seele besessen ist seit je: das von der Mücke und der tödlich lockenden Flamme. Willst du denn, daß ich diese sei, worein sich der Falter begierig stürzt, bin ich im Wandel und Austausch der Dinge die brennende Kerze doch auch, die ihren Leib opfert, damit das Licht leuchte, bin ich doch auch wieder der trunkene Schmetterling, der der Flamme verfällt, – Gleichnis alles Opfers von Leben und Leib zu geistiger Wandlung. Alte Seele, liebe, kindliche, ich zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt. Einst verbrannte ich dir und verbrenne dir allezeit zu Geist und Licht. Wisse, Metamorphose ist deines Freundes Liebstes und Innerstes, seine große Hoffnung und tiefste Begierde, – Spiel der Verwandlungen, wechselnd Gesicht, wo sich der Greis zum Jüngling, zum Jüngling der Knabe wandelt, Menschenantlitz schlechthin, in dem die Züge der Lebensalter changieren, Jugend aus Alter, Alter aus Jugend magisch hervortritt.«13
Das im Dunkel der Kutsche dunkel formulierte Bekenntnis ist eine späte Korrektur der Klage Tonio Krögers, er sei es unendlich müde, das Leben darzustellen, ohne am Leben wirklich teilzuhaben. Thomas Manns Goethe hat am Leben teil, durchleidet es, er badet das Lebendige aus, 13. Thomas Mann: Lotte in Weimar, Bd. 2, S. 763f.
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um eine Wendung Manns aufzugreifen. Anders als dem gewöhnlichen Menschen aber ist es dem wirklichen Künstler nicht möglich, eine stabile Identität auszubilden, noch wäre dies wünschbar, weil es einem Rückfall in den bornierten Narzissmus gleichkäme. Und es entsteht das begriffl ich schwer einzuholende Paradox eines vollen Lebens, das doch dem Leben insgesamt fern steht. Goethes Opfer können – und genau das stabilisiert ihr Leben der narzisstischen Gekränktheit – einen Täter namhaft machen, eben Goethe, der das, wiederum paradox formuliert, negative Ichideal wird. Dieser selbst aber leidet an allem und an nichts. Es bildet sich am Ende des Goetheromans im Zeichen des Opfers und der Metamorphose eine mystische Konzeption von Sublimierung, die diejenige Lacans antizipiert, die ebenfalls zwischen Mystik und Analyse changiert. Lebensweltlich besteht die Lösung für die proteische Identität in der Streuung des Begehrens, in der Realisierung von Mustern: In der Reihe der Geliebten fi guriert sich die stabile Idee, die dann das Kunstwerk artikuliert. In allen Geliebten ist es das Bild der Geliebten, das zum ›Ding‹ avanciert, und deshalb ist es am Ende falsch zu sagen, Thomas Mann biete eine Poetik der Sublimierung sexueller Frustrationen. Der instabilen, der beständigen Metamorphose zwischen Mann und Frau, alt und jung ausgesetzten Identität bleibt nur der gelungene künstlerische Ausdruck, die »Lust des Wortes« als Weg der Erfüllung. Die Objekte sind flüchtig, der Eros ist bleibend, und das Wort, der immer neue Wort-Laut bringt ihn zur Erscheinung. Aschenbachs ›Fehler‹ besteht darin, Tadzio nicht als das zu erkennen, was er ist, als Anzeige der anstehenden Metamorphose des Dichters, als ein Ideal, das Sublimierung anregt: Aschenbach verwechselt Medium und Ziel. In der Perspektive beständigen Wandels, dem auch der Junge untersteht, der unauf haltsam altern wird, ›gibt‹ es Tadzio nicht. Den flutenden Eros erreicht nur der Versuch, das Fluten der Sprache zu erotisieren und damit einer Erotisierung der Welt vorzuarbeiten. Ist es für Thomas Mann einerseits kennzeichnend, den Freud’schen Mechanismus der Sublimierung ironisch zu inszenieren, worin sein Beitrag zur modernen Selbstreflexivität der Kunst zu sehen wäre, greift vor dem Hintergrund der erotischen Mystik anderseits die aufklärende Unternehmung zu kurz, die vermeintlichen Sublimierungen durchsichtig zu machen auf ihr angebliches sexuelles Substrat. Das Schreiben Thomas Manns entfaltet ein panerotisches Weltbild, das sich über Miene, Wink und leise Hindeutung realisiert. Die Erfahrung des Tat-tvam-Asi wird über die »Lust des Wortes« vermittelt, das der Welt die erotische Dimension zuschreibt und zugleich abgewinnt. Berühmt wurde etwa eine Passage der Buddenbrooks, die Hanno Buddenbrooks leidenschaftliches Klavierspiel in einer Weise beschreibt, die Ludger Lütkehaus motivierte, sie in seiner 180
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Anthologie zur Geschichte der Selbstbefriedigung abzudrucken.14 So leicht es einerseits sein mag, Hannos Erfahrung der Musik lesbar zu machen chiffrierte Onanie am mütterlichen Flügel, so scheint diese Durchsicht auf der anderen Seite als allzu nahe liegend; zu begreifen ist, dass Hanno wirklich Klavier spielt. Worum es Thomas Mann in dieser und zahlreichen anderen Passagen geht, das ist die Bemühung, darzutun, dass im kulturellen Produkt eine Erotik verwandelt fortlebt, die unter Umständen erfüllender ist als der direkt sexuelle, hier masturbatorische Akt. Mit der Sexualaufklärung des 20. Jahrhunderts ist viel von dem vergangen, was Thomas Mann evoziert. Es hat aber nicht nur eine Befreiung gegeben, sondern auch den Verlust eines nicht nur im Stil der décadence morbiden Reizes. Die Befreiung der Sexualität hat die erotische Aufladung der Welt, oder: die Freilegung ihrer ubiquitären Erotik erschwert. Die panerotische Welt Manns verhält sich zur sexualisierten Welt des 21. Jahrhunderts wie der Animismus zum Weltbild moderner Naturwissenschaft. Während im Zeitalter der Sexualunterdrückung Miene, Wink und leise Hindeutung den Zauber einer Welt ausmachen, in deren Bäume Nymphen wohnen und deren Blumen verwandelte Jünglinge wie Hyacinthos oder eben Narcissos sind, ist dem modernen Bewusstsein eine Blume eine Blume und ein Klavier ein Klavier. Die gesellschaftliche Ächtung der Homosexualität hat in diesem Kontext eine poetisch produktive Ungleichzeitigkeit generiert. Die ›Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt‹, blieb bis tief ins 20. Jahrhundert im Bann der Camouflage und Statthalter erotischer Erfahrung. Thomas Mann ist der Meister im Aufspüren der Spuren des Eros in der Welt jenseits der Leiber oder in der Darstellung ihrer Aspekte, was ihn auch zum Dichter des Fetischs macht, etwa des berühmten entblößten Unterarms schöner Frauen oder aber, noch in der Betrogenen, des entblößten muskulösen männlichen Oberarms. Mit der Befreiung der Sexualität, oder, mit Michel Foucault, mit der Ausrufung des »König Sex«, kommt es zu einer neuen Ordnung der Dinge, die den Zugang zu Thomas Mann verkompliziert; die Literatur und ihre Rezeption verlieren ein riesiges Reservoir an Anspielungen, Motiven, Masken. Lesbar bleibt die entgleitende Welt Thomas Manns gleichwohl für nachwachsende Generationen, in deren sexueller Entwicklung die animistische Welt sich erneuert. Immer wieder stellt sie sich her im Kontext der Jugend, die ihre Sexualität entdecken und die archaische Erotisierung der Welt zuletzt sexuell fokussieren muss. Es scheint daher ein Denkfehler, Manns Bemühung um eine Erotisierung der Welt, die zuletzt nichts anderes ist als eine auf Dauer gestellte
14. Ludger Lütkehaus: »O Wollust, o Hölle«. Die Onanie. Stationen einer Inquisition, Frankfurt a.M. 1992, S. 69-75.
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und literarisch fruchtbar gemachte Pubertät, auf einfache ›Verklemmtheit‹ oder deren Darstellung herunterzubringen. Eine theoretische Durchdringung der Idee des sich dem Eros opfernden Narziss, der dadurch die ›falsche‹ Idealbildung hinter sich lässt, hat Herbert Marcuse in seinem Buch über Eros & Civilization geleistet, das sich, erneut unter Berufung auf Platon und Schiller, um eine Rehabilitierung des primären Narzissmus bemüht. Marcuse denkt Freuds Begriff um. Primärer Narzissmus ist nach Marcuse nicht nur der atavistische Wahn, dass die Welt sich um mich dreht. Ihm zufolge besteht er wesentlich im Gefühl, dass es keine Trennung gibt zwischen mir und der Welt, in der unverlierbaren Erfahrung von Einssein: »Der primäre Narzißmus ist mehr als nur Autoerotik; er zieht die Umgebung in sich hinein, indem er das narzißtische Ich mit der objektiven Welt integriert.« 15 Marcuse erinnert an die Differenz zwischen einer die gesamte Welt umfassenden Liebe und einer auf Genitalität und dann auf Reproduktion restringierten Sexualität: »Eros bezeichnet eine quantitative und qualitative Erweiterung der Sexualität. Und der erweiterte Begriff scheint eine entsprechend modifizierte Auffassung der Sublimierung zu erfordern.«16 Insofern nicht nur Genitalien und das Ich etwas wollen, sondern das Subjekt erkennt, dass die gesamte Existenz, Sein und Denken erotisierbar sind, so dass ihm alle Aspekte der Welt zur Lust gereichen, wird der biologische Trieb mehr als nur der zur Fortpflanzung. Er wird nach Marcuse Kultur bildend. Es gibt, so Marcuses an Platons Symposion gebildete These, »ein der Libido selbst inhärentes Streben nach ›kulturellem‹ Ausdruck ohne äußere repressive Modifi kation.«17 Geist und Körper, die getrennten Substanzen, fließen ineinander, schießen zu einer bildenden Kraft zusammen, zur Selbstsublimierung des Eros: »Der biologische Trieb wird zum kulturellen Antrieb. Das Lustprinzip läßt eine eigene Dialektik erkennen. Das erotische Ziel, den gesamten Körper als Subjekt-Objekt der Lust beizubehalten, verlangt nach fortgesetzter Verfeinerung des Organismus, nach Intensivierung seiner Empfänglichkeit, nach Zunahme seiner Sinnlichkeit.« »Die kulturschöpferische Macht des Eros ist nicht-repressive Sublimierung: die Sexualität wird weder abgelenkt noch in ihren Zielen gehemmt; vielmehr trans-
15. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973,
S. 166. 16. Ebd., S. 203. 17. Ebd., S. 205.
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zendiert sie, indem sie ihr Ziel erreicht, auf der Suche nach vollerer Befriedigung zu weiteren Zielen.« »Ist dies der Fall, dann begönne alle Sublimierung mit der Reaktivierung narzisstischer Libido, die irgendwie überfließt und auf andere Objekte übergreift. Die Hypothese bedeutet fast eine Revolutionierung der Idee der Sublimierung: sie deutet auf eine nicht-verdrängende Form der Sublimierung hin, auf eine Sublimierung, die aus einer Erweiterung der Libido resultiert, statt aus einer einschränkenden Ablenkung.«18
Aus der Umwertung des primären Narzissmus ergibt sich ein Blick auf die Welt, die diese nicht allein als Ort des Mangels, der Bedrohung und tödlichen Feindschaft erscheinen lässt, sondern als das Ganze dessen, was uns, wenn wir alle Organe und Sensoren öffnen, zur ›ganzheitlichen‹ Freude gereicht: »Die nicht-repressive Ordnung ist ihrem Wesen nach eine Ordnung der ›Fülle‹«.19 Thomas Manns Projekt einer Erotisierung der Sprache im Zeichen des gerechtfertigten Narzissmus des wahren Dichters schreibt sich ein in dieses Projekt einer Überwindung jener Spaltung, die er, wie bereits oben diskutiert, an Schopenhauer rügte: »Wie, wenn [Schopenhauer die Einheit von Welt und Vorstellung, E.G.] in seinem Künstlertum, seinem Genie gefunden, wenn er verstanden hätte, daß Genie durchaus nicht stillgelegte Sinnlichkeit und ausgehängter Wille, – Kunst nicht spirituelle Objektivität bedeutet, sondern daß sie die produktive und lebenerhöhende Vereinigung und Wechseldurchdringung der beiden Sphären ist, – bezaubernder, als jede für sich, Geschlecht oder Geist, je sein kann? […] Bei Schopenhauer schlägt die geniale Verstärkung beider Sphären ins Asketische um. Ihm ist das Geschlecht eine teuflische Störung der reinen Kontemplation und die Erkenntnis jene Verneinung des Geschlechts, welche spricht: ›Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus.‹«20
2. Gottfr ied Benns Akademie-Rede Am 29. Januar 1932 – genau ein Jahr vor der ›Machtergreifung‹ durch die Nationalsozialisten – wählte die Preußische Akademie der Künste, Sektion für Dichtkunst, sechs neue Mitglieder; unter ihnen war der Dichter Gottfried Benn. Den neuen Mitgliedern der Akademie kam die Aufgabe zu, in 18. Ebd., S. 209, S. 208, S. 168. 19. Ebd., S. 193. 20. Thomas Mann: Schopenhauer, Bd. 9, S. 575.
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einem kurzen Referat eine Charakteristik des eigenen Werkes zu geben. Am 5. April hielt Benn seine satzungsgemäß vorgeschriebene Rede zur feierlichen Aufnahme, die dann am 14. Mai in der Frankfurter Zeitung, also an weithin sichtbarem Ort, publiziert wurde. Benns Akademie-Rede bietet in der Tat, wie er selbst versichert, »zehn Minuten Schrapnell Modell Bellealliancestraße, den Zuhörern bleibt die Spucke weg.«21 Verblüffend ist die Rede nicht nur als ein »vom heroischen Nihilismus« getragenes und insofern durchaus typisches »Dokument dieser Zeit«, wie die FZ den Text annoncierte,22 sondern insbesondere, weil Benn Thomas Mann zum Gewährsmann seiner aggressiv melancholischen Poetik macht, die der fortschreitenden ›Verhirnung‹ des Menschen dadurch entgegenwirken will, dass sie den Menschen »organisch tiefer basiert« und »auf eine ältere und verlässlichere Realität« verpflichtet.23 Benn wünscht erneuten Zugriff auf »eine überindividuelle Sphäre«,24 und damit meint er keineswegs die moderne demokratische Gesellschaft, sondern eine vorkulturelle, ›tierische‹ Stufe. Und ausgerechnet der individualistische Bürger Thomas Mann, der sich im Krisenjahr 1932 längst öffentlich für die Sozialdemokratie engagiert hatte,25 soll die Parole der von Benn umworbenen Regression aufs ›Tierische‹ ausgegeben haben. Benns Pointe ist, angesichts der gern bespöttelten distinguierten Erscheinung des Nobelpreisträgers durchaus witzig, verliert aber den Aspekt von Humor angesichts des bevorstehenden Untergangs der Weimarer Republik. Eine Beschäftigung mit Thomas Manns vermeintlicher Option fürs ›Tierische‹ wird dringlich auch aus unmittelbar politischen Gründen. Benn schreibt: »Eine der klassischen Erkenntnisse der nachnietzscheanischen Epoche stammt von Thomas Mann und lautet: ›alles Transzendente ist tierisch, alles Tierische transzendiert‹ – ein höchst seltsames Wort, es gehört hierher. Wenn es nämlich noch eine Transzendenz gibt, muß sie tierisch sein, wenn es noch irgendwo eine Verankerung im Überindividuellen gibt, kann es nur im Organischen sein. Dies Ich, das auf Verlust lebt, Frigidität, Vereinsamung der Zentren, ohne psychologische 21. So Benn in einem Brief, zitiert nach: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. 3, in Verbindung mit Ilse Benn hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, S. 568. 22. Zitiert ebd., S. 569. 23. Gottfried Benn: Akademie-Rede, in: Sämtliche Werke (Anm. 21), S. 391. 24. Ebd. 25. Zur Störung der Thomas Mann-Rede zur Verteidigung der Weimarer Republik im Berliner Beethoven-Saal durch NSDAP-Krawallmacher bereits am 14. September 1930 vgl. Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007, S. 40f.
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Kontinuität, ohne Biographie, ohne zentral gesehene Geschichte findet, will es sich seiner Existenz versichern, von einer bestimmten Organisationsstufe an keine andere Realität mehr als seine Triebe; sie allein, die organische Masse allein trägt eine Transzendenz, die Transzendenz der frühen Schicht. Die primitiven Völker erheben sich noch einmal in den späten. Die mystische Partizipation […] durchstößt die Bewusstseinsepoche […] Also, der Körper, plötzlich, ist das Schöpferische, welche Wendung, der Leib transzendiert die Seele – welche gegen Jahrtausende gerichtete Paradoxie.«26
Seit der Psychologie Nietzsches verbreitete sich die Einsicht, dass in der Tat die Triebe den Horizont der Erfahrung bestimmen, aber aus der Einsicht in die Triebverwurzelung unserer Erkenntnis folgt nicht zwingend die Apologie der Regression, insbesondere deshalb nicht, weil sich die vorkulturelle Welt nur dem sentimentalischen Bewusstsein überhaupt erschließt. Benn legt gleichwohl den Finger auf einen wunden Punkt: auf den Umstand, dass es nach Nietzsche keine transzendente Instanz mehr gibt, um eine mögliche Moral zu verankern. Und er weist darauf hin, dass die Wiederkehr des Archaischen in der Moderne möglich bleibt. Bereits in seiner Kriegsschrift von 1915 hatte auch Freud darauf aufmerksam gemacht, dass die Regression, die radikale De-Sublimierung möglich bleibe. Das weiß Thomas Mann, Anwalt einer Selbstsublimierung des Eros: Im Einklang mit der Warnung Freuds schildert er 1925 im Zauberberg den Rückfall auf die tierische Stufe, aber als etwas Grauenhaftes. Die kultivierte alteuropäische Gesellschaft des Berghofs regrediert, und am Ende geraten sich, im Kapitel über Die große Gereiztheit, der als abstoßend gezeichnete Antisemit Wiedemann27 und der Jude Sonnenschein »auf ausschweifende und tierische Weise in die Haare«: »Es war ein Anblick voll Grauen und Jammer. Sie katzbalgten sich wie kleine Jungen, aber mit der Verzweiflung erwachsener Männer, mit denen es dahin gekommen ist. Sie gingen einander mit den Krallen ins Gesicht, hielten sich an Nase und Kehle, während sie aufeinander losschlugen, umschlangen sich, wälzten sich in furchtbarem und radikalem Ernste am Boden, spien nacheinander, traten, stießen, zerrten, hieben und schäumten. Herbeigeeiltes Bureaupersonal trennte mit Mühe die Verbissenen und Verkrallten. Wiedemann, speichelnd und blutend, wutverblödeten Angesichts, zeigte das Phänomen der zu Berge stehenden Haare 26. Benn: Akademie-Rede (Anm. 21), S. 391. 27. Indem Thomas Mann den Antisemitismus Wiedemanns als dasjenige auszeichnet, was dem gescheiterten Kleinbürger überhaupt erst eine Art von ›Identität‹ verleiht, antizipiert er Jean-Paul Sartres nachmals berühmt gewordene Analyse einer antisemitischen Psyche in Die Kindheit eines Chefs.
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[…], während Herr Sonnenschein, das eine Auge in Bläue verschwunden und eine blutende Lücke in dem Kranz lockigen schwarzen Haares, das seinen Schädel umgab, ins Bureau geführt wurde, wo er sich niederließ und bitterlich in seine Hände weinte.«28
Die prophetische Schilderung kann gegen Benns Unterstellung, Thomas Mann favorisiere die Regression aufs Tier, geltend gemacht werden, denn das Kapitel über Die große Gereiztheit lässt keinen Zweifel darüber zu, dass die Regression aufs Tierische für Mann in die Katastrophe führt. Benns Hinweis, und darin besteht dessen Perfidie, lässt jedoch Zweifel an der moralistischen Position des Zauberbergs aufkommen, die, um einen Lieblingsbegriff Manns zu beanspruchen, wie eine ›Velleität‹ anmutet, als ein Moralisieren wider besseres Wissen. Gottfried Benn zitiert korrekt, und zwar aus dem 1921 erschienen Essay Thomas Manns über Goethe und Tolstoi, wo Mann schrieb: »Das Tierische transzendiert. Alle Transzendenz ist tierisch. Naturvertraute sinnliche Irritabilität überschreitet die Grenzen des eigentlich Sinnlichen und mündet ins Übersinnliche, Naturmystische ein.«29
Hinter Benns Hinweis steht der Vorwurf, Mann habe sich dem Weimarer System gebeugt und dafür den Preis gezahlt, einen erreichten Stand der Erkenntnis zu verleugnen. Womöglich verspielte Thomas Mann dergestalt, so kann man Benns Invektive deuten, eine Option für die grundsätzliche Erneuerung. Die Weimarer Republik folgt dem Modell westlicher, demokratischer Auf klärung. Das 1932 sich abzeichnende Scheitern des ›Systems‹ belegt für Benn, dass der Weg der Auf klärung, die ›Verhirnung‹ keine Zukunft mehr hat, sodass die Erwägung nicht nur für ihn nahe zu liegen scheint, es auf eine radikal andere Weise zu versuchen, durch Regression auf die ›organische Schicht‹, politisch konkret: durch die Option für die Gemeinschaft, das Volk, das Völkische: durch die Option für den Nationalsozialismus, der eine Erneuerung Deutschlands aus ›Blut und Boden‹ als Weg ins Heil versprach. Vor dem Hintergrund von Nietzsches Begriff der Sublimierung wird deutlich, dass die Nietzscheaner Benn und Mann gegensätzlich auf dessen Genealogie der Kultur reagieren. Benn liest aus Nietzsche – und dann aus Thomas Mann – die Aufforderung zur mutwilligen Regression heraus, während Mann das Wissen um die Triebverwurzelung der Kultur episch nutzbar macht, aber dann, in einem zweiten Schritt, einen Begriff von 28. Thomas Mann: Der Zauberberg, Bd. 3, S. 951. 29. Thomas Mann: Goethe und Tolstoi, Bd. 9, S. 141.
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Sublimierung gewinnt, der beide umfasst, die Natur und den Menschen gleichermaßen. Bei Benn wiederholt sich der Fehler, der Nietzsche unterlief, aus dem historisch Früheren auf dessen Wahrheitsprivileg im Vergleich zum historisch Späteren zu schließen und dabei zu vergessen, dass der Begriff einer vorkulturellen Sphäre angeblich überindividuell basierten Seins selbst sich der Kultur verdankt. Benns Phantasma einer seligen Regression ist ein Nebenprodukt der kulturellen Sublimierung, womöglich ihr Schatten, nicht aber etwas, das es je gegeben hat, oder doch nur, wenn man eine metaphysische Perspektive einnimmt, also wie ein Gott aus dem Zivilisationsprozess heraus springt und eine divinatorische Fähigkeit für sich in Anspruch nimmt, die ein Sich-Hineinversetzen in die alogische Welt des Apeiron gestattet. Genau dieses Vorgefühl eines Glücks in der Regression, das soll die von Benn geforderte Kunst der konservativen Avantgarde erzeugen. Auf Benns Verfahren, Thomas Mann 1932 auf etwas zu verpflichten, das von 1921 stammt, wird hier nun dadurch reagiert, historisch noch weiter zurückzugehen, nämlich bis zum Krisenjahr 1919. 1919 publizierte Thomas Mann einen bis heute erstaunlich unterschätzten Text, der die tierische Transzendenz direkt literarisiert und zwar überraschenderweise nach Maßgabe avantgardistischer Poetik. 1919 holt Thomas Mann einen der Hunde aus dem Souterrain und geht mit ihm spazieren.
3. Avantgarde bei Thomas Mann Thomas Mann ist ein Sohn des großen Jahrhunderts, des neunzehnten. Seine Helden sind Goethe und Tolstoi, Dostojewskij mit Maßen, Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung und Oscar Wilde höchst gelegentlich. Thomas Mann Avantgardismus nachweisen zu wollen, erscheint daher vorab als ein einigermaßen aussichtsloses Unterfangen. Selbst wenn man dem reflektierten Autor des Fin de siècle zugestehen sollte, dass er eines der von Peter Bürger namhaft gemachten Kriterien für Avantgarde gewiss erfüllt: das bewusste Verfügen über den Begriff des Kunstmittels »als Kunstmittels«,30 wird man anderseits kaum konzedieren, es sei ihm, so ein weiteres Kriterium, an der Aufhebung der »Institution Kunst« gelegen gewesen. Ein Autor, dessen erzählende Prosa notorisch mit der Opposition zwischen Bürger und Künstler operiert, stabilisiert vielmehr die Trennung der zur Institution gewordenen Kunst von der Lebenspraxis, wenn auch in der vielfach beneideten Erfolgsvariante, dass die Bürger jene Werke bis heute gern konsumieren, in denen der Künstler als verirrtes Mitglied ihrer Klasse er30. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 23.
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scheint. Man wird daher zögern, Thomas Mann jenen Avantgardebewegungen zuzuordnen, mit denen das »Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik« eintritt.31 Vollends unvereinbar mit Thomas Mann, dem konservativen Autor der den Zivilisationsliteraten attackierenden Betrachtungen eines Unpolitischen, scheint schließlich der »avantgardistische Protest, dessen Ziel es ist, Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen«;32 es sei denn, man betrachtet die Idee einer konservativen Revolution als Variante der Avantgarde oder als ihren schwarzen Schatten. Die knapp skizzierte Einschätzung scheint sich zu bestätigen, als der alte Mann die Avantgarde der Bildenden Kunst 1953 nicht insgeheim, sondern explizit ridikülisiert. Die in den zwanziger Jahren angesiedelte Erzählung Die Betrogene leitet nicht nur den Weg Annas in die »höchst geistige, die bloße Naturnachahmung verschmähende, den Sinneseindruck ins streng Gedankliche, abstrakt Symbolische, oft ins kubisch Mathematische transfigurierende Richtung«33 letztlich aus ihrer einem Klumpfuß geschuldeten sexuellen Chancenlosigkeit her. Im Disput mit der sinnlichen Mutter kommt es obendrein zur Parodie des kunsttheoretischen Gespräches zwischen Adrian Leverkühn und dem Teufel (von dem die intellektuelle Anna den Klumpfuß erbt und das Adorno’sche Vokabular34): »›Sollen diese Kegel und Kreise auf grau-gelbem Grunde die Bäume – und diese eigentümliche Linie, die sich spiralförmig aufwickelt, den Abendwind vorstellen?‹ […] ›Anna, du wirst mir nicht einreden wollen, daß du etwas Herzerquickendes […] nicht malen könntest, bei deiner Begabung.‹ ›Du mißverstehst mich, Mama. Es handelt sich nicht darum, ob ich es könnte. Man kann es nicht. Der Stand von Zeit und Kunst läßt es nicht mehr zu.‹ ›Desto trauriger für Zeit und Kunst! Nein, verzeih, mein Kind, ich wollte das so nicht sagen. Wenn es das fortschreitende Leben ist, das es verhindert, so ist keine Trauer am Platze.‹«35
Dass Rosalie von Thümmler, zuletzt eine Betrogene auch sie, in der Abstraktion das fortschreitende Leben gesprächsweise zu erblicken gewillt ist, ist freilich nur eine Höflichkeit, die eine Grausamkeit verbirgt: Anna kann nicht fortschreiten. Vielmehr findet sie, wie die Mutter sich dann
31. Ebd., S. 28. 32. Ebd., S. 29. 33. Thomas Mann: Die Betrogene, Bd. 8, S. 879. 34. Vgl. Thomas Mann: Dr. Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Bd. 5, S. 318 ff. 35. Thomas Mann: Die Betrogene, Bd. 8, S. 880.
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denkt, im »abtötenden, aber doch handwerklich-praktischen Tun, im Malerkittel, Trost und Ausgleich […] für manchen Verzicht«.36 Trotz dieses maliziösen Blicks auf die Avantgarde auch des eigenen Dr. Faustus kann Thomas Mann als Dichter des höheren Abschreibens und Selbstabschreibens in einer Zeit, die das Machen von Texten aus Texten für theoretisch avanciert erachtet, neues Interesse für sich beanspruchen, als Avantgardist wider Willen. Für eine vielfach geübte Verfahrungsweise, die »keinerlei Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit erhebt, sondern diese im spielerischen Umgang mit der Literatur fingiert, dürften Leser, die mit dem Zitatismus der postmodernen Moderne groß geworden sind, sensibilisiert sein, mehr vielleicht als das zeitgenössische Publikum Thomas Manns.« 37
Der Umstand, dass Thomas Mann gleichwohl in der literaturtheoretischen Diskussion der vergangenen drei Jahrzehnte, insbesondere in der Dekonstruktion, keine Rolle spielt, nahezu aggressiv ignoriert wird, erklärt sich nur zum Teil aus dem Spott über den Kubismus, durch die bedingte Zurücknahme des Faustus, oder dadurch, dass die bestallten Sachwalter des Werkes zuweilen mit der strengen Würde der Beschränktheit darüber wachen wie Kinds-Anna über Beißer und Lorchen. Der Hauptgrund liegt neben dem Festhalten an der Idee des abgeschlossenen Werkes, das als ein solches die Abgeschlossenheit der Institution Kunst affi rmiert, vermutlich darin, dass Thomas Mann niemals den Geist der Erzählung ausgetrieben hat, selbst in Lotte in Weimar nicht, der Huldigung an Joyce und Gide. Thematisiert hat er ihn am Ende immerhin, den Geist der Erzählung, im Erwählten, der Geschichte vom sehr großen Papst: dem heiligen Vater. Der durable und bestrickende Faden der Erzählung wird weder in den fi ktionalen noch in den essayistischen Werken je abgeschnitten. Das unterhaltend und belehrend abgespulte »Es ward … und dann …«38 behält bei allen reflektierenden Digressionen, Allusionen und Spielen mit Zeit und Mythos seinen betörenden Bann, erhebt den Erzähler zur Autorität, zum Vater, dem die Kinder lauschen oder auch nur ein Hund, der darin, »im Manne, im Haus- und Familienoberhaupt, unbedingt den Herrn, den Schützer des Herdes, den Gebieter zu erblicken, […] seine Lebenswürde« findet (541). Dass Thomas Mann dazu verführt, zu regredieren, das nimmt die Theorie nicht nur der Avantgarde ihm übel und erklärt im Gegenzug gereizt ihn für zurückgeblieben. Robert Musil 36. Ebd. 37. Frizen: Kommentar zu Lotte in Weimar (Anm. 7), S. 176. 38. Vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, 7. Aufl., Stuttgart 1980, S. 21.
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sei demzufolge Geist, Thomas Mann Trieb. Mann liest und hört man gern, sehr gern, und das ist triebhaft, weil man sich ihm, dem Mann, hingibt. In einem Brief an Thomas Mann hat Sigmund Freud ihm denn auch gestanden, dass er ihn beneide. Der Zauber des Erzählens ist identifi katorischer Art; der Leser geht mit, gewinnt und verliert sich zugleich. In Herr und Hund wird der Zauber der Regression im paradoxen Begriff »Identitätsrausch« gefasst – eigentlich stehen Identität und Rausch spätestens seit Nietzsches Tragödienschrift in Opposition – und exemplarisch am Hunde Bauschan vorgeführt. Der poeta doctus klappt das Buch zu, in welchem er, gelehnt an seinen Lieblingsbaum, gerade las, und spricht: »Was ich mit ihm spreche? Meist sage ich ihm seinen Namen vor, der ihn unter allen am meisten angeht, weil er ihn selbst bezeichnet, und der darum auf sein ganzes Wesen elektrisierend wirkt, – stachle und befeure sein Ichgefühl, indem ich ihm mit verschiedener Betonung versichere und recht zu bedenken gebe, daß er Bauschan heißt und ist; und wenn ich dies eine Weile fortsetze, kann ich ihn dadurch in eine Art von Identitätsrausch versetzen, so daß er anfängt, sich um sich selber zu drehen und aus der stolzen Bedrängnis seiner Brust laut und jubelnd gen Himmel zu bellen« (560).
Man kann angesichts eines Erzählers, dem der alte Fontane näher steht als etwa der junge Döblin, nun mindestens drei Wege gehen, um sich mit der Frage nach Thomas Manns Beitrag zur Avantgarde auseinanderzusetzen. Man kann seine eigenwillige Rezeption avancierter Schriftsteller studieren, etwa den unterbelichteten Bezug zu André Gide aufhellen, dem Mann nicht nur dadurch seine Reverenz erweist, dass er mit der Publikation der Entstehung des Dr. Faustus eine Parallelaktion zum Tagebuch der Falschmünzer durchführt. Man kann Einzelstudien vorlegen, die sich dem »Zitatismus« im Detail widmen. Der beeindruckende Kommentar zum exzessiv zitierenden Roman Lotte in Weimar von Werner Frizen ist ein großes Beispiel solcher Studien, auch formal: als Kommentar. Man kann schließlich die ganze Sache auf den Kopf stellen oder ihr gewissermaßen in den Rachen greifen, indem man ein Werk genauer studiert, das allerlei sein mag, aber entschieden kein avantgardistischer Text zu sein scheint. Dieser dritte Weg soll hier eingeschlagen werden durch die Lektüre eines Textes, der, erschienen 1919 – am Ende des avantgardistischen Jahrzehnts –, die Anti-Avantgarde programmatisch und provokativ im Titel führt: Herr und Hund. Ein Idyll.39 39. Auf überraschende Weise ist Herr und Hund in jedem Fall ein Beitrag zur Avantgarde, insofern Thomas Mann, hier in der Tat in die Lebenspraxis hinaus schreitend, den Ertrag aus dem Erstdruck des Idylls dem Schutzverband Deut-
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4. Erlebniskunst und Allegor ie Die Geschichte über Herr und Hund generiert eine doppelte Blendung: Wer einen Hund besitzt oder einmal einen besaß, ist geblendet von der überaus präzisen Beschreibung Bauschans: Hier stimmt einfach alles. Besäße man das glasklare und offenbar von wirklicher Zuneigung geprägte Darstellungstalent Thomas Manns, man würde den eigenen Hund genau so beschreiben, vom seltsam geriefelten, rosafarbenen Gaumen über das jauchzend-stumme Gefuchtel bei der Begrüßung, das jubilatorische SichWälzen auf dem Rasen inklusive klapperndem Geschüttel und Katzenjammer danach, das beklemmend-beklommene Verhalten fremden Artgenossen gegenüber bis hin zur absoluten Ekstase der Jagd. 40 Begeistert von der Präzision, vergisst man leicht die Provokation, die darin liegt, dass dieses Idyll von 1919 stammt und dass eine markante Episode aus dem Leben nicht nur der Hunde fehlt: Sexualität. Es sei denn, man verbucht das in Bauschan verliebte Schaf unter diesem Lemma, wozu geneigt machen kann, dass Mann in dieser blöden und blökenden Verfolgungsepisode direkt aus dem Tod in Venedig zitiert: Aschenbach kehrt buchstäblich wieder als dummes Schaf. Irrte er hinter Tadzio drein, »am Narrenseile geleitet von der Passion«, 41 trottet nun ein Schaf »am Narrenseil seiner Passion« (610) dem armen Bauschan hinterher. Vermittelt wird zwischen dem Tod in Venedig und der Hundegeschichte u.a. über den Namen Bauschan, »auf Bastian zurückzuführen, also auf Sebastian«, 42 und damit auf den selbst in der Nobelpreisrede angerufenen »Leitbild-Homosexuellen«, 43 nach dem sich der aus dem Zuchthaus entlassene Oscar Wilde Sebastian Melmoth nannte. Als 1932 eine tschechische Übersetzung veranstaltet wurde, die beide Novellen vereinigte, vermerkte Thomas Mann in einem Brief den Zusammenhang qua Kontrast: »Der Band könnte allenfalls heißen: ›Noscher Schriftsteller überließ, damit Not leidenden Kollegen, in der Regel wohl Autoren mit avantgardistischer Neigung, pekuniär unter die Arme gegriffen werden konnte. 40. Die Präzision war Programm, wie Thomas Mann in einem Brief von 1918 anmerkt: »Die Sache ist eben die, daß man, um das an und für sich Nichtige interessant zu machen, sehr exakt sein muß, und solche Exaktheit braucht Raum.« Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/II. Thomas Mann Teil II: 1918-1943, hg. v. Rudolf Hirsch u. Werner Vortriede, München/Frankfurt a.M. 1979, S. 8. 41. Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Bd. 8, S. 520. 42. Hermann Wiegmann: Die Erzählungen Thomas Manns. Interpretation und Materialien, Bielefeld 1992, S. 202. 43. Karl Werner Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen. Thomas Mann und das Stigma Homosexualität, Würzburg 1991, S. 339.
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vellen vom Leben und vom Tode‹. Das würde den Kontrast bezeichnen, der etwa zwischen ›Herr und Hund‹ und dem ›Tod in Venedig‹ besteht.« 44 Und man übersieht womöglich das einigermaßen Erstaunliche, dass Bauschan wohl das einzige Wesen neben Heinrich, Katia, den Kindern und – sehr spät – Bruno Walter ist, von dem sich Thomas Mann freimütig duzen lässt und das er von Herzen duzt. Kommt man direkt vom Dr. Faustus, der frostigen Apotheose des Siezens, auf den Hund, zuckt man zusammen. Im Faustus ist es der Teufel, der duzt, hier ist es noch ein Hund, nicht einmal ein »pudelnärrischer Aufwärter« (553), sondern ein meist freundlicher Hühnerhund. Bauschan kann lachen, und über diesen ebenso alten wie falschen Volksglauben, dass es Hunde gibt, die lachen können, ist die autobiographische Dimension des Dr. Faustus pointiert. Umgekehrt wird die faustische Dimension der Hundegeschichte retrospektiv deutlich: vom Erwerb des Welpen in einer Hexenküche (S. 536f.) bis zur Unterbrechung geistiger Arbeit und zum Verwischen der Schrift durch die haarigen Pfoten des Hundes im Arbeitszimmer, der »mit seinen Klauen die Teppiche zerriß« (542). Durch die ungewöhnliche Benennung der im übrigen als Pfoten bezeichneten Extremitäten als »Klauen« in der Studierstubenszene wächst den »Teppichen« eine Funktion im symbolischen Netz des Textes zu: Es ist das Gewebe des Dichters, das von den Klauen des Hundes zerrissen wird, wie seinerzeit Doktor Faustus im Volksbuch von den Klauen Satans. Thomas Mann kann Bauschan aus der Studierstube weisen, Dr. Faustus kann es nicht. Bauschan, ein starker Mann trotz Blasenschwäche und der Neigung zu okkulten Blutungen, steht genau in der Mitte zwischen dem »harmlos geisteskranken Aristokraten« (534) des Frühwerks, dem décadent Percy, und den verhexten Hunden des Faustus. Auf der Figurenebene wiederholt sich die Zwischenstellung der Idylle – einer Stellung zwischen pastoraler Entfernung und realistischer Weltverhaftung – die den Einschnitt des Ersten Weltkriegs markiert. Auch Adrian hat jemanden, den er duzt und der sein Freund ist, einen lachenden Hund, der am Ende seines Lebens als lachender Kaschperl, also vom Kesperl verteufelt, wiederkehrt: »Sein Freund, wie auch meiner, war der Hofhund Suso – er führte sonderbarerweise diesen Namen –, eine etwas schäbige Bracke, die, wenn man ihr die Mahlzeit brachte, breit über das ganze Gesicht zu lachen pflegte, aber für Fremde keineswegs ungefährlich war«.45 44. Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/II. Thomas Mann (Anm. 40), S.
12. 45. Thomas Mann: Dr. Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Bd. 6, S. 36.
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Geblendet ist auch, wer niemals einen Hund besaß und an diesen Wesen auch kein weiteres Interesse nimmt, so genannte Katzenmenschen etwa. Herr und Hund kommt dann unter den Erzählungen die Rolle zu, die Königliche Hoheit unter den Romanen besitzt: Sie wird zum Anlass für Selbstbehauptung dem narzisstischen Schriftsteller gegenüber, der, wie jeder Schriftsteller, gebieterisch verlangt, dass man alles von ihm lese. Den Zauberberg oder den Tod in Venedig muss man gelesen haben, Herr und Hund beziehungsweise Königliche Hoheit, das ist etwas für Gelehrte, die aus dem Gesamtwerk zu argumentieren wünschen, oder ein so genannter ›Schmaus‹ der Verehrer, von denen man sich eben dadurch absetzt, dass man sagt, Herr und Hund, das müsse, bei aller Liebe, nun nicht auch noch sein. Die doppelte Blendung hatte zur Folge, dass Herr und Hund schon zu Lebzeiten Manns eine seiner erfolgreichsten Erzählungen im Hundeland Großbritannien wurde, in der Forschung aber das Dasein eines weitgehend unbeachteten Mauerblümchens fristet, dessen sich, mit einer bemerkenswerten Ausnahme, fast nur Gesamtdarstellungen angenommen haben, eben weil es Gesamtdarstellungen sind; und die Kommentare sind schwach: Herr und Hund ist durchweg, von der Fabrik und dem Flugzeug am Anfang bis zur elektrischen Klingel beim Fährmann und der modernen Tierklinik am Ende, ostentativ über die Gleichzeitigkeit von Industriezeitalter und Urlandschaft konstruiert. Thomas Manns Spaziergänge mit Bauschan führen die beiden durch eine Investitionsruine des modernen Kapitalismus, mitten durch ein gescheitertes Projekt der Bauindustrie. Hans R. Vaget verfehlt den Text daher peinigend, wenn er meint, dass die Idylle »in einer anderen geschichtlichen Epoche zu spielen« scheine. 46 Hermann Wiegmann macht sich den seltsamen Verbotsgestus der Thomas-Mann-Forschung zu eigen, wenn er diesen extrem übercodierten Text banalisiert: »Manns liebevoll-ironisierenden Bemerkungen über die Hundepsychologie sind Spiel, liebevolles Spiel aus Freude über die Entdeckungen bei Bauschan, Ausdruck der Sympathie für einen achtenswerten Charakter, – mehr nicht! Nein, Hintersinnigkeiten über die Bauschan-Geschichte anzustellen, ist nicht angebracht.«47
Mehr nicht. Die bemerkenswerte Ausnahme in dieser mageren Forschungslage ist ein Aufsatz eines Sohnes, Michael Manns, von 1965, der 46. Hans R. Vaget in: Thomas-Mann-Handbuch, hg. v. Helmut Koopmann, Stuttgart 1990, S. 593. 47. Wiegmann: Die Erzählungen Thomas Manns (Anm. 42), S. 208.
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im Titel Formgesetze der Moderne nennt: Allegorie und Parodie. Mann jun. basiert seine politisierende Allegorese der Idylle auf der Topographie, die der Text entwirft, indem das Haus von Mann sen. in der Mitte zwischen der Stadt links und der Natur rechts positioniert wird, und kommt zu folgendem Resultat seiner an feinen Einzelbeobachtungen reichen Studie über einen Dichter zwischen Rechts und Links: »[D]er Bürger, als welcher der Erzähler sich sieht, hat den Anschluß an die Welt zur Linken noch nicht gefunden; aber er nimmt doch gleichzeitig schon Abschied von der Traumlandschaft zur Rechten. Ein Idyll hat abgewirtschaftet, wenn es (wie dies gleich eingangs der Erzählung geschah) sich selbst als ›Illusion‹ erkennt. Dies ist die entscheidende Erkenntnis seit den Betrachtungen«.48
Diese Lektüre wirkt trotz oder womöglich auf Grund ihrer guten Belege kränkend auf Liebhaber angesichts der Plastizität und Lebendigkeit der Hundegeschichte. Hinter dem Streit zwischen Allegoriker und Hundeliebhaber verbirgt sich ein Konflikt und Wertgegensatz, den Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode auf den Begriff gebracht hat. Gadamer differenziert zwischen der Ästhetik der Erlebniskunst, die zugleich »aus dem Erlebnis stammt und Ausdruck des Erlebnisses ist«, 49 und einer Ästhetik, der zufolge »die kunstvolle Fügung fester Formen und Sagweisen […] das Kunstwerk zum Kunstwerk« macht.50 In den Termini der Rhetorik entspricht diesen seit der Goethezeit als Wertgegensatz empfundenen Optionen der Ästhetik die Opposition zwischen Symbol und Allegorie. Die Allegorie setzt »nicht eigentlich eine metaphysische Urverwandtschaft« voraus, sondern »nur eine durch Konvention und dogmatische Fixierung gestiftete Zuordnung, die es erlaubt, bildhafte Darstellungen für Bildloses zu verwenden.«51 Das Symbol hingegen repräsentiert ursprünglich als Dokument die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, und in der Moderne wächst ihm vor diesem sozialen Hintergrund »eine gnostische Funktion« zu, das »keine beliebige Zeichennahme oder Zeichenstiftung ist, sondern einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraussetzt«.52 Charakteristisch für Herr und Hund. Ein Idyll ist eine Spannung, die bereits im Titel erzeugt wird: Der Text ist entstanden aus den Erlebnissen 48. Michael Mann: »Allegorie und Parodie in Thomas Manns Idyll ›Herr und Hund‹«, in: Monatshefte 57 (1965), S. 336-342, hier: S. 341. 49. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl . Tübingen 1990, S. 76. 50. Ebd., S. 77. 51. Ebd., S. 80. 52. Ebd., S. 79.
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mit Bauschan und erzählt diese Erlebnisse. Auf der anderen Seite ist kaum eine Textsorte stärker codiert oder, in Gadamers Worten, strikter »durch die kunstvolle Fügung fester […] Sagweisen« gekennzeichnet als die Idylle, die eine stehende Reihe von Elementen verlangt, die in erstaunlicher Vollständigkeit in Herr und Hund aufgeboten werden. Die herausgehobene Stellung des Textes von 1919 wird zunächst durch die faszinierende Überblendung von handfester Erlebniskunst und kunstvoller Fügung begründet, und die Unzulänglichkeit der Forschung besteht darin, diese Überblendung nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst und nicht als die avantgardistische Pointe des gut verborgenen Idylls erkannt zu haben. Die Singularität und Radikalität dieses Prosastückes besteht darin, dass beide Elemente in ihr Extrem getrieben und zudem überblendet werden. Die Erlebniskunst wird bis zur Autobiographie gesteigert, um die aus dem Erlebnis kommende Kunst so stark wie möglich zu beglaubigen. Auf der anderen Seite wird dieses Erlebnis in einer extrem stilisierenden Form dargeboten. Da sich die Kommentare darauf konzentriert haben, entweder den Erlebnisaspekt zu betonen oder aber die politische Allegorie hervor zu treiben, ist zunächst, bevor das Paradox einer extrem stilisierten Erlebniskunst seinerseits diskutiert werden kann, die Stilisierung in Grundzügen aufzuweisen, um wegzukommen vom »Mehr nicht!« einer Thomas Mann-Forschung, die einen Text umstandslos den Erzählungen zuschlägt, deren Protagonist – so weit ich sehe, ein einmaliger Fall – Thomas Mann selber ist. Für Herr und Hund gilt eine Bemerkung Goethes über Die Wahlverwandtschaften, »daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden.«53 Es zeigt sich, dass Thomas Mann die Landschaft – ihrerseits bereits sublimierte Natur – zur Idylle steigert und dann selbst die Idylle noch einmal vergeistigt: zur Umschrift Goethescher Texte sublimiert.
5. Et in Arcadia Ego Die Vorderfront der Villa zeigt nach Westen. Vor ihr fließt, auf der Achse von Süden und Norden, ein Fluss. Geht man nach links, nach Süden, gelangt man zur Trambahnstation, die in die Stadt führt. Geht man nach rechts, nach Norden, so endet die Allee nach fünf Minuten in einem Kiesweg, und das Revier beginnt. Das Revier zerfällt in drei Zonen: Im Westen ist es durch das Flussufer begrenzt, im Osten durch einen Hang, von dem ein Bach herabfließt. Zwischen Fluss und Hang zieht sich ein von tropisch 53. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Leipzig 1968, S. 358 (17.2.1830).
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anmutenden Schlingpflanzen geprägter Wald, das eigentliche Revier, ungefähr fünfhundert Meter breit. Das Revier wird gequert von einer Reihe von Straßen, die nie über das erste Stadium ihrer Anlage hinausgelangten, sondern, Reste einer gescheiterten Investition der Bauindustrie, langsam wieder von der Natur überwuchert werden. Das Revier wird im Norden begrenzt durch eine Ortschaft, an deren Eingang ein Wirtshaus liegt, und vor ihm ein Teich. Mann beginnt seine Beschreibung des Waldes mit einer Aufzählung der verschiedenen Baum- und Pflanzenarten, erzählt vom Aufstöbern eines Liebespaares aus seinem Nest. Der Blick wendet sich dann der östlichen Zone des Baches zu, der ihr »das idyllisch-landschaftliche Gepräge« verleiht (570). Dort gibt es rupfende Schafe, gehütet von einem Mädchen in rotem Rock, und einen Bauernhof. An die Wirtschaftsgebäude schließt sich eine Laubenkolonie an, die »friedhofartig wirkt«: »[Z]uweilen sehe ich dort einen bloßarmigen Mann sein neun Schuh großes Gemüseäckerchen umgraben, so daß es aussieht, als grabe er sich sein eigenes Grab« (573). Auf die Beschreibung des Baches selbst folgt der Blick auf das die Landschaft im Norden abschließende Wirtshaus, vor dem sich der Bach zum Teich staut, in dem die Dörflerinnen ihre Wäsche schwemmen. Der Blick wendet sich, nach der Beschreibung des Waldes in der Mitte und des Hanges im Osten, der detaillierten Schilderung des Flusses und seines Ufers im Westen zu. Der Erzähler lässt sich nach getaner Beschreibungsarbeit auf einer Bank vor dem Haus des Fährmanns nieder und hat Gesellschaft in einem prächtigen Hahn. Mit einer Erinnerung an Venedig und mit einer Beschreibung des Flusses bei Regen und Sturmflut endet die Beschreibung des Reviers. Der idyllische Hund kann die Verwandlung des schönen Flusses in ein reißendes Gewässer nicht begreifen und betrachtet fassungslos die Entfesselung bloßer Natur mit der Zunge im Mundwinkel, ein Mienenspiel »das ganz ebenso, angesichts einer vertrackten Sachlage, ein etwas einfältiger und niedriggeborener Mensch zeigen könnte, indem er sich allenfalls noch das Genick dazu kratzte.« (582)
Der herablassende Blick des Bürgers auf den in Hundegestalt vorgeführten Menschen niedrigen Standes ist soziologisch aufschlussreich, im idyllischen Kontext aber nicht entscheidend. Poetologisch markiert die Szene das Ende der Idylle. Bauschan ist als Bauer und Jägersmann Teil der idyllischen Welt, in der bloße Natur zur Landschaft sublimiert ist. Im Augenblick einer Rückkehr bedrohlicher Natur verliert Bauschan, als Element der Landschaft, seine Stellung: »Der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen so die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus. Wo Natur zu der Ge-
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walt wird, die ihre Ketten zerbricht und den Menschen, den schutzlos Gewordenen, fortreißt, da waltet im Furchtbaren der Schrecken, der blind ist. Freiheit ist Dasein über der gebändigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.«54
Selbst der Versuch, die Landschaftsbeschreibung bis zu ihrem Ende im reißenden Fluss so knapp wie möglich wiederzugeben und auf den Hinweis auf literarische und andere Anspielungen zu verzichten, muss unausweichlich auf Elemente rekurrieren, die zur Gattung Idylle gehören, über die Renate Böschenstein notiert, dass sie »keine klar gefügte ›Struktur‹ besitzt, sondern eher durch eine Reihe von Motiven und Gestaltungszügen gekennzeichnet« sei.55 Der Gebrauch solcher Motive generiert eine literarische oder bildkünstlerische Darstellung, deren bündige Charakteristik Goethe gegeben hat: »Alle kunstreichen idyllischen Darstellungen erwerben sich deshalb die größte Gunst, weil menschlich natürliche, ewig wiederkehrende, erfreuliche Lebenszustände einfach wahrhaft vorgetragen werden, freilich abgesondert von allem Lästigen, Unreinen, Widerwärtigen, worin wir sie auf Erden gehüllt sehen.«56
Herr und Hund folgt der Tradition, von der Aufzählung der Pflanzenarten über das im Nest des locus amoenus verborgene Liebespaar, die Schafe, Bauern und Wäscherinnen bis hin zum von Erwin Panofsky profi lierten Motiv des Todes in Arkadien mit dem Gärtner, der sich sein eigenes Grab zu schaufeln scheint: Et in Arcadia Ego.57 Die glückliche Hand Thomas Manns bei seiner Verschmelzung von Erlebnis und Kunst erweist sich an einem weiteren Detail. Panofsky hat gezeigt, dass der Entdeckung des Todes in Arkadien die Entdeckung der Nacht vorausgeht.58 Es ist die Nacht, die die Idylle schon in der antiken Dichtung bedroht. Und so erweist sich der rurale Hund Bauschan mit seinem »schlichten Sinn« als unfähig zu Spaziergängen in der Nacht: »[D]as Helldunkel machte ihn schreckhaft, er scheute wirrköpfig vor Mensch und Strauch« (549). Mann folgt nicht nur antiken Vorgaben, sondern er folgt mit der Ansiedlung seiner Idylle in 54. Joachim Ritter: »Landschaft«, in: Subjektivität, Frankfurt a.M. 1989, S. 141-163, hier: S. 162. 55. Renate Böschenstein: Idylle, Stuttgart 1967, S. 2. 56. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Tischbeins Idyllen (VI), zit.n. Böschenstein (Anm. 55), S. 12. 57. Erwin Panofsky: »Et in Arcadia Ego«, in: Meaning in the Visual Arts, Chicago 1982, S. 295-320. 58. Vgl. ebd., S. 300.
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einem Zwischenbereich der neuzeitlichen Bukolik, die Arkadien unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft imaginiert: »die Möglichkeit eines problematischen Zwischenreiches, das zwar von der Welt pastoral entfernt, mit den Malen der Realität aber so sehr behaftet ist, daß es nur mehr der Abglanz eines Goldenen Zeitalters sein kann, auf das es als auf seinen unerreichbaren Maßstab in Trauer bezogen bleibt.«59
Die Beschreibung, die Bernhard Buschendorf für das fragile Arkadien in Goethes Wahlverwandtschaften gibt, ist übertragbar auf das kleine Idyll Thomas Manns, der innerhalb der neuzeitlichen Bukolik noch einen Schritt weiter geht. Die Darstellung arkadischer Landschaft sieht sich 1919 mit der industrialisierten Welt konfrontiert: »So mischen sich in der vorstädtisch-halbländlichen Abgeschiedenheit dieser Gegend die Laute in sich selbst versunkener Natur mit denen menschlicher Regsamkeit, und über allem liegt die blankäugige Frische der Morgenstunde.« (530)
Es ist angesichts der Sorgfalt, mit der Mann sich hier in die Tradition einschreibt, nicht ein Abschied von der Idylle, sondern der Versuch, das Zwischenreich dadurch zu erhalten, dass die Welt der modernen Industrie mit eingewoben wird, von der Lokomotivenfabrik am Anfang bis zum elektrischen Klingelzug beim Fährmann. Nur durch Einbezug der Moderne kann die Idylle des 20. Jahrhunderts konstruiert werden, nicht durch deren Verdrängung: Natur als »Landschaft gehört […] geschichtlich und sachlich als die sichtbare Natur des ptolemeischen Erdenlebens zur Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft.«60 Der folgende Satz gilt dem modernen Fährmann mit Angst vorm Verlust des Arbeitsplatzes und bietet zugleich die Poetik des modernen Idylls in nuce: »[D]ie Poesie des ›Holüber‹ bleibt menschlich anziehend wie in den ältesten Tagen, auch wenn die Handlung, wie hier, in neuzeitlich fortgeschritteneren Formen vonstatten geht.« (580)
Während seiner Spaziergänge durch die Idylle inmitten des Industriezeitalters liest der Erzähler die verrosteten Straßenschilder. Die Namen vieler Dichter fallen, derjenige Goethes ausgerechnet nicht. Goethe ist dieser Idylle anders einbeschrieben. Thomas Mann ist sich der spezifischen Aus59. Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹, Frankfurt a.M. 1986, S. 79. 60. Joachim Ritter: »Landschaft« (Anm. 54), S. 161.
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gestaltung, die die Idylle bei Goethe erfährt, bewusst, eine Ausgestaltung, die Renate Böschenstein so beschrieben hat: »Der eigentümliche und problematische Begriff einer auch die Geschichte umfassenden Natur müßte im Zentrum einer Deutung von Goethes Idyllendichtung stehen. […] Erscheint in ›Tischbeins Idyllen‹ der Riß als Bestandteil der idyllischen Welt selbst, so zieht sich andererseits der Widerspruch zwischen den am archaischen Urbild orientierten ›natürlichen‹ Lebensformen und dem modernen Weltzustand durch eine Reihe von Werken. […] Die eigentliche Auseinandersetzung zwischen einer idyllischen Konzeption des Daseins und einem geschichtlichen Zustand, der diese in Frage stellt, ist erst in ›Hermann und Dorothea‹ gegeben.«61
Wie man weiß, las Thomas Mann zur Zeit der Abfassung von Herr und Hund auch Hermann und Dorothea, um sich auf den Hexameter einzustimmen, der im Gesang vom Kindchen, der anderen Idylle, zur Anwendung kommt. In Thomas Manns Hunde-Idylle fehlt, empirisch sehr unwahrscheinlich, die Goethestraße. In der nicht fertig gestellten Straßenanlage wird es eine Goethestraße gegeben haben. Indem Mann, im Kontext eines als mühsam markierten Lektürevorgangs, genau diese Realie – den Schriftzug ›Goethestraße‹ – ausspart, wandelt sich der scheinbar realistische Text in ein selbstreflexives Sprachkunstwerk: Nur dadurch, dass Goethes Schriftzug aus der Empirie entfernt wird, kann Goethe auf der Ebene sprachlicher Darstellung erscheinen. Durch den signifikanten Mangel bzw. durch die poetische Korrektur der Empirie – Tilgung des Signifi kanten ›Goethestraße‹ – wird die Aufmerksamkeit auf die Frage nach Goethes Rolle in dieser Idylle gerichtet, insofern sie Text ist. Berichtet wird, wie Thomas Mann die verrosteten Straßenschilder mühsam entziffert. Und die Darstellung dieses Akts der Entzifferung führt, über die Aussparung des Signifi kanten ›Goethestraße‹, dazu, dass die Entzifferung des Textes beginnen kann, in dem diese Szene der Entzifferung spielt: Herr und Hund. Durch Aussparung der Goethestraße wird der Blick auf Goethe zur via regia der Lektüre, wobei es freilich amüsant ist zu sehen, dass Thomas Mann die Leser zu Goethe geleitet, indem er den extravaganten Prinzipien frühromantischer Poetik folgt. Die ins Extrem getriebene Subtilität im Gewebe der Anspielungen wird erkennbar, wenn man sich klarmacht, dass die Goethestraße fehlt, weil es eigentlich eine Claude Lorrain-Straße geben müsste: »Es ist ein Baumschlag, wie jener lothringische Landschaftsmeister vor dreihundert Jahren ihn malte … Aber was sage ich, – wie er ihn malte! Diesen hat er ge61. Böschenstein: Idylle (Anm. 55), S. 80 f.
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malt! Er war hier, er kannte die Gegend, er hat sie sicher studiert; und wenn nicht der schwärmerische Sozietär, der meine Parkstraßen benannte, sich so streng auf die Literatur beschränkt hätte, so dürfte wohl eines der verrosteten Schilder den Namen Claude Lorrains zu erkennen geben.« (570)
Der Witz der Passage kann seinerseits nur erraten werden, wenn man sich erinnert, welche bedeutende Rolle Claude Lorrain weniger im Leben Thomas Manns, wohl aber im Leben Goethes spielte, der, wie Buschendorf gezeigt hat, den Vorwurf zu den Landschaften in der schwarzen Idylle der Wahlverwandtschaften geliefert hat. Es gibt keine Goethestraße in Herr und Hund, weil das Goethesche Spätwerk und seine Ikonographie in die Darstellung der Idylle mit atemberaubender Raffinesse einmontiert wurden. Das beginnt mit einer Kleinigkeit. Bei der Erinnerung an Szenen Claude Lorrains bemerkt Goethe Eckermann gegenüber unter anderem seine Freude über die Darstellung einer »tiefer liegende[n] Bruchgegend mit stagnierendem Wasser, das bei mächtiger Sonnenwärme die Empfindung behaglicher Kühle gibt; immer war das Bild durch und durch eins, nirgends die Spur von etwas Fremdem, das nicht zu diesem Element gehörte«.62
Thomas Mann seinerseits weiß 1919 von seinen Wanderungen mit Bauschan in Lorrainscher Landschaft zu berichten über »manche schilfige Niederung, die an ihren ursprünglichen Zustand gemahnt, verschwiegene Orte, deren feuchter Kühle der heißeste Sommertag nichts anhaben kann, und wo man an solchen Tagen gern ein paar Minuten atmend verweilt.« (562)
In der Studie über Die Wahlverwandtschaften von 1925 zitiert Thomas Mann Zelters berühmt gewordene Charakteristik der Schreibart des Goethe’schen Romans,
62. Eckermann: Gespräche mit Goethe (Anm. 53), S. 322 (10.4.1829). Ich führe hier nur wenige Beispiele für Thomas Manns Umschriften an. Dem an weiteren Details Interessierten sei die Lektüre des ganzen Gespräches vom 10.4.1829 empfohlen sowie das Studium der unten angeführten Werke Goethes, aber auch der Blick in die Schriften Schillers oder Johann Joachim Winckelmanns. Bauschan wird z. B. mit Epitheta belehnt, die Winckelmanns Essays entstammen.
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»welche wie das klare Element beschaffen ist, dessen flinke Bewohner durcheinander schwimmen, blinkend oder dunkelnd auf- und abfahren, ohne sich zu verirren oder zu verlieren«.63
Ein ähnliches Bild bietet sich auch Bauschan und seinem Freunde dar. Das Element, das Wasser sowohl wie die Schreibart des Prosaschriftstellers der neuzeitlichen Idylle, ist auch 1919 noch immer klar, wenn sich auch neben den Fischlein die Abfälle des Industriezeitalters finden: »[Der Bach] ist fl ach und klar und zeigt harmlos, daß auf seinem Grunde verworfene Blechtöpfe und die Leiche eines Schnürschuhs im grünen Schlamme liegen. Übrigens ist er tief genug, um hübschen, silbrig-grauen und äußerst gewandten Fischlein zur Wohnung zu dienen, welche bei unserer Annäherung in weitläufigen Zickzacklinien entschlüpfen« (575).
Neben solche Umschriften tritt ein großes und berühmtes Motiv, das erhaben die Goethesche Novelle eröffnet, die sich ebenfalls mit dem Verhältnis des Menschen zur wilden Kreatur auseinandersetzt, wenn auch Goethe noch mit einem großen Löwen arbeitet und nicht mit einem zu klein geratenen Hühnerhund wie sein ironischer Erbe knapp einhundert Jahre später: »Hier, wo man, den Hohlweg durch die äußeren Ringmauern heraufkommend, vor die eigentliche Burg gelangt, steigt uns ein Felsen entgegen von den festesten des ganzen Gebirgs; hierauf nun steht gemauert ein Turm, doch niemand wüßte zu sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen. […] Es ist eine Wildnis wie keine, ein zufällig einziges Lokal, wo die alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur sich in dem ernstesten Streite erblicken lassen.«64
Das einmalige Lokal Goethes kehrt wieder in Thomas Manns Idyll, und klar wird, warum eine Goethestraße fehlen darf: »[D]as Gehölz aber ruht nicht, es läßt die Straßen nicht jahrzehntelang unberührt, bis Ansiedler kommen; es trifft alle Anstalten, sich wieder zu schließen, denn was hier wächst, scheut den Kies nicht, es ist gewohnt, darin zu gedeihen […] [E]s ist kein Zweifel, die Parkstraßen mit den poetischen Namen wuchern zu, das Dickicht verschlingt sie wieder« (570).
63. Thomas Mann: Zu Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹, Bd. 9, S. 176. 64. Goethe: Novelle, in: Werke, Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. 6, München 1982, S. 493 f.
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Es ist diese Beschreibung der von der Natur wieder zugewucherten und zuletzt in die Unerkennbarkeit zurückgenommenen Kultur, die in der bereits zitierten Apotheose Claude Lorrains gipfelt. Es ist nicht möglich, hier allen Verflechtungen von Herr und Hund mit der literarischen Tradition im Detail nachzugehen. Unberücksichtigt bleiben muss hier auch ein kaum weniger bedeutender Aspekt: dass Thomas Mann in diesem Prosastück das eigene Werk bis 1919 Revue passieren lässt, insbesondere Tonio Kröger und den Tod in Venedig.65 Bevor zur Diskussion der avantgardistischen Poetik von Herr und Hund fortgeschritten werden kann, ist abschließend wenigstens hinzuweisen auf eine Bezugnahme auf die Wahlverwandtschaften, in der Manns Praxis der umschreibenden Zitation zu einem Höhepunkt der Kunstfertigkeit gelangt, indem sie die Sublimierung der Natur mit dem Sublimen korreliert: In den Wahlverwandtschaften wird auf dem Berg ein neues Haus gebaut. Im verhängnisvollen dreizehnten Kapitel des zweiten Teiles erblicken Eduard und der Major »in der Ferne das neue Haus auf der Höhe, dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen«.66 Eduard wird von unwiderstehlicher Sehnsucht ergriffen und will die Wendung der Dinge zwischen den vier Protagonisten gewaltsam herbeiführen. Auch Ottilie sieht sich von dem »Berghause« magisch angezogen und besteigt mit dem unheimlichen Kind Charlottes einen Kahn, um über den See zu setzen, da sie »Charlottes weißes Kleid auf dem Altan zu sehen« glaubt.67 Das Kind ertrinkt im See, und der Roman treibt seinem tragischen Ende zu wie der Kahn den Platanen. Auch in Thomas Manns Idylle gibt es leuchtend rote Ziegelsteine, die offenbar geblieben sind, nachdem man ein Berghaus abgebrochen hat. Angesichts der engen Bezüge, die Herr und Hund zum Spätwerk Goethes unterhält, kann man geneigt sein, in der folgenden Szene eine Reverenz an den Dichter der Wahlverwandtschaften zu erkennen, die Thomas Mann den höchsten Roman der Deutschen nannte. Der Bach begründet in Herr und Hund den idyllischen Charakter der Landschaft. An einer Stelle jedoch färbt er sich rot, entlanglaufend dem sich beständig ändernden Hang: »Anfangs hat er ein düsteres, unbesonntes Gepräge und ist mit Fichten bestanden. Später wird er zur Sandgrube, welche die Sonnenstrahlen warm zurückwirft, 65. Zudem wäre es möglich, Vorspiele späterer Werke zu erkennen, von den Schafen in den Joseph-Romanen über die den Berghof des Zauberbergs präfigurierende Tierklinik, in die der blutende und anämische Bauschan eingeliefert wird, bis hin zu den bereits erwähnten Hunden im Faustus usw. 66. Goethe: Die Wahlverwandtschaften, in: Werke (Anm. 64), S. 453. 67. Ebd., S. 456.
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noch später zur Kiesgrube, endlich zu einem Sturz von Ziegelsteinen, als habe man dort oben ein Haus abgebrochen und die wertlosen Trümmer einfach hier heruntergeworfen, so daß dem Lauf des Baches vorübergehend Schwierigkeiten bereitet werden. Aber er wird schon fertig damit, seine Wasser stauen sich etwas, und treten über, rot gefärbt von dem Staub der gebrannten Steine und auch das Ufergras färbend, das sie benetzen. Dann aber fließen sie desto klarer und heiterer fort, Sonnengeglitzer hier und da an ihrer Oberfl äche.« (574)
In seiner Studie über Goethes Wahlverwandtschaften hat Walter Benjamin 1921 darauf aufmerksam gemacht, dass die Landschaft in Goethes Roman »an keiner Stelle […] im Sonnenlicht« erscheint.68 Und ferner widmet Benjamin der unheilvollen Natur der stillen Gewässer eine eindringliche Passage: »Das Wasser als das chaotische Element des Lebens droht hier nicht in wüstem Wogen, das den Menschen den Untergang bringt, sondern in der rätselhaften Stille, die ihn zu Grunde gehen läßt. Die Liebenden gehen, soweit Schicksal waltet, zu Grunde. Sie verfallen, wo sie den Segen des festen Grundes verschmähen, dem Unergründlichen, das im stehenden Gewässer vorweltlich erscheint.«69
Durch seine Beschreibung des im Winter wild angeschwollenen Flusses unterstreicht Thomas Mann die Bedrohung der Idylle durch die Rückkehr bloßer Natur. Deren Charakter selbst aber ist, wie die kontrastreiche Beobachtung Benjamins hervortreten lässt, im Gegenzug zur Schwärze der Wahlverwandtschaften entworfen: An die Stelle »der toten Fläche des Spiegels« des unseligen Lustsees ist in Herr und Hund ein frischer, plaudernder Bach getreten, der die blutroten Reste des Berghauses fortspült. Und das nunmehr wieder frei fließende Wasser glitzert im Sonnenlicht: Das »matte[] Licht der Sonnenfinsternis«,70 das Benjamin zufolge die Welt der Wahlverwandtschaften dämmrig erfüllt, ist dem hellen Tag gewichen.
6. Der Lauf des Wassers Der nur einige Elemente akzentuierende Abschnitt über das Zwischenreich der modernen Idylle sollte verdeutlichen, dass Herr und Hund von einer dem Tod in Venedig vergleichbaren Komplexität ist, die eine mono68. Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, in: Gesammelte Schriften Bd. 1.1., hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1991, S. 132. 69. Ebd., S. 133. 70. Ebd., S. 135.
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graphische Untersuchung verdient, deren Aufgaben hier abschließend nur knapp benannt werden können: Zunächst ist die exakte Darstellung des ›an und für sich Nichtigen‹ harte Arbeit am Rückgewinn der poetischen Sprache nach dem Ersten Weltkrieg, der auch, und Thomas Mann hatte sich beteiligt, ein Krieg der großen und der bösen Worte war. 1919 mag der ehemals ultranationalistische Dichter das Donnern nicht mehr: »[I]ch könnte sagen, er sei wie vom Donner gerührt gewesen. Allein das mißfällt mir, und ich mag es nicht. Die großen Worte, abgenutzt wie sie sind, eignen sich gar nicht sehr, das Außerordentliche auszudrücken; vielmehr geschieht dies am besten, indem man die kleinen in die Höhe treibt und auf den Gipfel ihrer Bedeutung bringt.« (613)
Der Text bietet eine der präzisesten Darstellungen der Psychologie des Hundes, wobei die Arbeit an der Präsentation des Tieres sich ebenfalls als Arbeit an einer Erneuerung der poetischen Sprache erweist, die als erneuerte zugleich ein vertieftes Verständnis dessen erlaubte, der sie gebraucht, des Menschen. Der Blick auf das Tier und der Versuch seiner genauen Beschreibung setzen, so die Hoffnung, den verlorenen Literalsinn der Worte in ihrer ursprünglichen Nennkraft wieder frei: »Tiere sind ungehemmter und ursprünglicher, also gewissermaßen menschlicher in dem körperlichen Ausdruck ihrer Gemütszustände als wir; Redensarten, die unter uns eigentlich nur noch in moralischer Übertragung und als Metapher fortleben, treffen bei ihnen noch […] im frischen Wortsinne und ohne Gleichnis zu. Bauschan ›ließ‹, wie man sagt, ›den Kopf hängen‹, das heißt: er tat es wirklich und anschaulich, tat es wie ein abgetriebenes Droschkenpferd, welches, Geschwüre an den Beinen und dann und wann mit der Haut zuckend, an seinem Halteplatze steht, während eine Zentnerlast seine arme Nase, die von Fliegen wimmelt, gegen das Pfl aster zu ziehen scheint.« (599f.)
Der Versuch, poetische Sprache zu erneuern, vollzieht sich formal als Konstitution der neuzeitlichen Idylle unter den Bedingungen des Industriezeitalters. Die beiden Dimensionen wären ebenso im Detail auszuführen wie drittens die von Michael Mann begonnene allegorische Lektüre. Die Positionierung des Bürgers zwischen rechts und links wird im Idyll in großer Sorgfalt auch dadurch ausgearbeitet, dass soziologische Bestimmungen zur Charakteristik von Naturphänomenen, insbesondere von Lebewesen verwandt werden. Der große Humor der Geschichte wird gewonnen durch dieses Verfahren, welches Percy als stolzen, aber verrückten Aristokraten, Bauschan hingegen als im Grund gesunden aber 204
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wehleidigen Bauern beschreibt usw. Eigens wäre darzutun, warum es den Bürgern in Herr und Hund am Ende schlecht ergeht. Die Rede ist von den bürgerlich schaukelnden Enten in ihrer provozierenden Selbstgefälligkeit, Sattheit und schnöden Behaglichkeit (vgl. 607). Weder vom bürgerlichen Schriftsteller noch vom idyllischen Hund beeindruckt, fällt eine Ente zuletzt der militant gewordenen Poesie zum Opfer, einem Jäger, der aussieht, als entstamme er einer Oper, aber über ein echtes Gewehr verfügt. Man kann in der unheimlichen Gestalt des Wilderers eine bereits ironisierende Darstellung des konservativen Revolutionärs oder auch des Freicorpskämpfers erkennen, der den Bürger abschießt, der 1919 nicht mehr weiß, wohin es gehen soll: »Die Ente also, eine jener Enten, die sich so oft in frecher Sicherheit vor unserer Nase geschaukelt hatten, trieb auf dem Wasser, ein Wrack, man wußte nicht mehr, wo vorn und hinten war.« (614)
Herr und Hund ist, als Idyll, modern: die Darstellung der Landschaft dokumentiert das Bewusstsein der Entzweiung. Worin aber besteht der avantgardistische Augenblick dieses Textes? Manns Werk folgt im allgemeinen einer klaren, den Konventionen des Realismus des 19. Jahrhunderts entsprechenden Dreiteilung: Neben den im eigentlichen Sinne autobiographischen Werken wie On Myself stehen auf der einen Seite die literarischen Texte mit ihrer mehr oder minder verschleierten, aber niemals voll durchbrechenden autobiographischen Dimension, sowie auf der anderen Seite die Essays, in denen Thomas Mann selbst spricht, aber über die Werke anderer Dichter. Herr und Hund fügt sich, als Ausnahme, diesem dreigeteilten Schema nicht. Der Text wird den Erzählungen zugeordnet, obwohl der Protagonist der Autor selber ist. Herr und Hund ist daher, so verblüffend es erscheinen mag, ein Text mit avantgardistischem Zug, der für den kurzen Moment des Ausnahmezustands das neunzehnte Jahrhundert hinter sich lässt: Er reißt die ästhetische Grenze ein und verwirrt zudem die der Gattungen. Der Held heißt weder Hanno Buddenbrook noch Tonio Kröger oder Gustav von Aschenbach. Thomas Mann nimmt, wie Phorkyas-Mephistopheles am Ende des Helena-Idylls von Faust II, die Maske ab und tritt selbst in Erscheinung, in Begleitung eines Hundes, den es ebenfalls wirklich gab. Der Schritt aus der Fiktion heraus erfolgt in eine Welt, die draußen in der Empirie vorhanden ist: kein Element des Textes, das sich nicht genauso draußen nachweisen ließe oder doch zumindest genauso denkbar wäre. Auf der anderen Seite sind die Elemente der Dingwelt, die in Herr und Hund erscheinen, gedoppelt: tatsächlich Vorhandenes und doch höchst stilisiert. Durch den Schritt in das wirkliche Leben, aus der Fiktion heraus, wird die Welt im 205
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Ausnahmezustand selbst zum Kunstwerk, und sei es nur im Zaubergarten der Idylle. Herr und Hund ist Ausdruck der Krise, dokumentiert den Zusammenbruch der realistisch dargebotenen Erlebniskunst des neunzehnten Jahrhunderts dadurch, dass diese formal in ihr Extrem getrieben wird: die Autobiographie. Der Dichter selbst tritt vor den Vorhang, direkt und exponiert. Zugleich gibt der Text der utopischen Hoff nung Ausdruck, dass dieses Heraustreten zu einer Poetisierung der Wirklichkeit führen könnte, zu einer Wirklichkeit, in der alles es selbst ist und doch etwas anderes bedeutet. Der Text wird verfehlt, wenn er rein als Erlebniskunst gelesen wird. Ebenso geht sein Spezifisches verloren, wenn man nur noch die Allegorie und die Idylle sieht. Gleichwohl existiert das fragile poetische, politische und topographische Zwischenreich nur für einen Augenblick, im außerordentlichen Moment zwischen Traum und Tag: »Mit kräftigem Vertrauen blickst du dem bevorstehenden Tage entgegen, aber du zögerst wohlig, ihn zu beginnen, Herr einer außerordentlichen, unbeanspruchten und unbeschwerten Zeitspanne zwischen Traum und Tag, die dir zum Lohn ward für sittliche Führung. Die Illusion eines stetigen, einfachen, unzerstreuten und beschaulich in sich gekehrten Lebens, die Illusion, ganz dir selbst zu gehören, beglückt dich« (531).
Bald nach der Sekunde im Zaubergarten der beglückenden Illusion nimmt sich der avancierte Thomas Mann Schritt für Schritt wieder zurück. Was in Herr und Hund für einen Augenblick komprimiert war, tritt wieder in die gewohnten Formen des neunzehnten Jahrhunderts auseinander, wie exemplarisch die Texte zeigen, die bald nach dem Idyll verfasst wurden. Es folgen die Studien über Goethe und Tolstoi (1921) und Die Wahlverwandtschaften (1925), die sich um die begriffliche Klärung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur bemühen. Im Bereich des Erzählens folgt auf die Idyllen vom Hund und vom Kindchen deren Zurücknahme in die bewährte realistische Prosa. Auf den Bastard Bauschan folgt in Unordnung und frühes Leid (1925) der junge Bolschewist und Underdog Xaver, der sich weigert, wie seinerzeit der Hund, übers Stöckchen zu springen. Thomas Mann seinerseits tritt in die Fiktion zurück, nimmt erneut eine Maske vor und erscheint als Doktor Cornelius, der ohne Hund in der Nacht allein spazieren geht. Das in Hexametern besungene Kindchen kehrt wieder als Lorchen, und die unerfreulichen Hintergründe der Freude an ihrer Geburt werden im Rahmen der Fiktion analytisch und mit Blick auf die verlassene Idylle am Fluss, die in Dunkelheit getaucht ist, aufgehellt: »Denn über dem Vergangenen, so gesteht sich der Universitätsgelehrte, wenn er vor dem Abendessen am Flusse spazieren geht, liegt die Stimmung des Zeit-
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losen und Ewigen, und das ist eine Stimmung, die den Nerven eines Geschichtsprofessors weit mehr zusagt als die Frechheiten der Gegenwart. Das Vergangene ist verewigt, das heißt: es ist tot, und der Tod ist die Quelle aller Frömmigkeit und alles erhaltenden Sinnes. Der Doktor sieht das heimlich ein, wenn er allein im Dunkeln geht. Es ist sein erhaltender Instinkt, sein Sinn für das ›Ewige‹ gewesen, der sich von den Frechheiten der Zeit in die Liebe zu diesem Töchterchen gerettet hat. Denn Vaterliebe und ein Kindchen an der Mutterbrust, das ist zeitlos und ewig und darum sehr heilig und schön. Und doch versteht Cornelius im Dunkeln, daß etwas nicht ganz recht und gut ist in dieser seiner Liebe [… ;] es ist Feindseligkeit darin, Opposition gegen die geschehende Geschichte zugunsten der geschehenen, das heißt des Todes.«71
Die Passage ist lesbar auch als eine Selbstkritik an der Feier des Ewigen, die in Herr und Hund veranstaltet wird. Was Dr. Cornelius im Dunkeln weiß, wird für Thomas Mann Mitte der zwanziger Jahre auch am Tag verbindlich: das politische Engagement für die Demokratie, die Option für die werdende Geschichte. Der Blick auf den avantgardistischen Zug des Idylls bliebe unvollständig, wiese man zuletzt nicht darauf hin, dass der Text über den Hund sich in einen modernen Diskurs einschreibt, der unter den Begriffen Kynismus72 oder ›Kreatur‹73 abgehandelt wurde: »Das Klima der Polarisierung ist paradoxerweise Ausdruck der Ideologie des ›Lebens‹, in deren Bann die Intellektuellen stehen. Diese Weltanschauung geht davon aus, dass in der Tiefenperspektive ein Lebensstrom absolute Kontinuität verkörpert, wenn auch auf der Oberfl äche starre Formen, widersprüchlich und diskontinuierlich, erscheinen.«74
In Herr und Hund, dem raffinierten Rückgewinn des Literalsinns, erscheint dieser »Lebensstrom« als das überall strömende Wasser, das der eigentliche Gegenstand der Werbung ist. Thomas Mann verfolgt den Lauf des Wassers, dessen Sprudeln, Fließen, Murmeln, kulminierend in der Brandung des Meeres, er immer wieder mit der Epik verglichen hat, noch 1934 in der Meerfahrt mit ›Don Quijote‹. Folgerecht kommt der Gang durch die Idylle zu seinem Höhepunkt in der Feier des Lebensstromes und ver71. Thomas Mann: Unordnung und frühes Leid, Bd. 8, S. 626 f. 72. Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Zweiter Band, Frankfurt a.M. 1983. 73. Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994, S. 40 ff. 74. Ebd., S. 42.
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führt schließlich Thomas Mann selbst im Enthusiasmus dazu, nun sogar seine Leserschaft zu duzen, ebenfalls, so weit ich sehe, ein seltener, wenn nicht einmaliger Fall: »Für meine Person bekenne ich gern, daß die Anschauung des Wassers in jederlei Erscheinungsform und Gestalt mir die weitaus unmittelbarste und eindringlichste Art des Naturgenusses bedeutet, ja, daß wahre Versunkenheit, wahres Selbstvergessen, die rechte Hinlösung des eigenen beschränkten Seins in das allgemeine mir nur in dieser Anschauung gewährt ist. […] [Ich könnte] stehen, so lange ihr wollt, verloren in den Anblick des Fließens, Strudelns und Strömens« (575).
Die Liebe zum Wasser stiftet das innigste Band zwischen dem Herrn und seinem Hund, denn auch Bauschan »steht dort, die Ohren zurückgelegt, mit einer Miene voll Frömmigkeit und läßt das Wasser um sich herumund vorüberströmen« (576). Thomas Mann steht außerhalb des Flusses, Bauschan noch halb darin. Wasser wird damit zum zentralen Symbol der Idylle über den Menschen und die Kreatur, die nach einem universalen Medium sucht, das den einen ›metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem‹ garantiert. Über den Lauf des Wassers und den Fluss der Epik wird die Bewegung von Kreatur und Mensch aufeinander zu imaginiert und sinnfällig gemacht. Der Mann am Wasser transzendiert im Sinne von Goethe und Tolstoi: »Das Tierische transzendiert. Alle Transzendenz ist tierisch. Naturvertraute sinnliche Irritabilität überschreitet die Grenzen des eigentlich Sinnlichen und mündet ins Übersinnliche, Naturmystische ein.«75
Der Hund, der noch halb im Wasser steht, aus welchem einst alles Leben entsprang, bewegt sich hingegen auf den Menschen zu, im Sinne der Studie über die Wahlverwandtschaften: »Streben ist nicht nur beim Geist, es ist auch dort, wohin er strebt. Auch die Natur ist sentimentalisch, ihr Ziel ist die Vergeistigung«.76
Die Idylle über Herr und Hund lotet im Zeichen des Wassers die Möglichkeiten aus, wie weit Mensch und Kreatur sich dieser Metaphysik gemäß aufeinander zu bewegen können: Die menschliche Behandlung des Tieres lockt aus diesem die Sehnsucht nach Vergeistigung hervor, wie umgekehrt, exemplarisch ausgeführt im Kapitel über die Jagd, die Regression 75. Thomas Mann: Goethe und Tolstoi, Bd. 9, S. 141. 76. Thomas Mann: Zu Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹, Bd. 9, S. 177 f.
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des Menschen seine Nähe zur Kreatur steigert und ins innere Herz der Landschaft führt. Die sentimentalische Natur der Kreatur findet ihr Emblem im Lachen des Hundes, das hier noch nicht teuflisch ist, sondern ergreifend: »Es ist ergreifend zu sehen, wie unter dem Reiz der Neckerei es um seine Mundwinkel, in seiner tierisch hageren Wange zuckt und ruckt, wie in der schwärzlichen Miene der Kreatur der physiognomische Ausdruck des menschlichen Lachens oder doch ein trüber, unbeholfener und melancholischer Abglanz davon erscheint, wieder verschwindet, um den Merkmalen der Erschrockenheit und Verlegenheit Platz zu machen, und abermals zerrend hervortritt…« (560)
Wie bereits dargestellt, hat der konservative Avantgardist Gottfried Benn Thomas Mann noch 1932 in der Akademie-Rede auf die Lehre von der tierischen Transzendenz verpflichten wollen. Wie die Lektüre der unterschätzten Hunde-Idylle jedoch zeigt, schneidet Benn aber als aggressiver Anwalt der Regression des Menschen auf die Kreatur die andere Seite der Lehre Thomas Manns ab, die These von der sentimentalischen Dimension der Natur, der zufolge diese ihrerseits nach Vergeistigung, Sublimierung, strebt: »Eine hohe Begegnung von Natur und Geist auf ihrem sehnsuchtsvollen Weg zueinander: das ist der Mensch«.77 Was der faszinierende Begriff einer tierischen Transzendenz konkret meinen könnte, lässt sich, neben dem Hinweis auf die tierische Ekstase der Sexualität, wohl kaum plastischer sinnfällig machen als über die Jagd. So folgt in Thomas Manns Text denn auch folgerecht auf die Beschreibung des idyllischen Reviers die Schilderung der Jagd. In großer Offenheit beschreibt der Dichter, wie er sich von der Jagdleidenschaft seines Hundes anstecken lässt, wie er ihm erhitzt beim Stochern nach den Feldmäusen hilft und zu ihm hält beim Hetzen der Tiere, um zuletzt, wie 1914 in der Politik, selbst »Blutdurst« (604) zu entwickeln. Aber trotz alledem kann sich Gottfried Benn für seine Verpflichtung Thomas Manns auf die tierische Transzendenz nicht einmal auf das Jagd-Kapitel berufen, denn auf dessen Höhepunkt ereignet sich ein Umschlag. Es sind die Hasen, denen Bauschans höchste Leidenschaft gilt. Im Zuge einer dieser Jagden kommt es zu einem Augenblick, der alles umkehrt. Der gejagte Hase hält plötzlich auf Thomas Mann zu, läuft am Mantel hinauf und blickt ihm in die Augen:
77. Ebd., S. 178.
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»[I]ch fühlte oder glaubte zu fühlen das Zucken seines gehetzten Herzchens – und es war seltsam, ihn so deutlich zu sehen und nahe an mir zu haben, den kleinen Dämon des Ortes, das innere schlagende Herz der Landschaft« (606).
Erneut lässt sich auch an dieser, nur scheinbar humoristischen Episode, die Sorgfalt der Prosa von Herr und Hund beobachten. Der Hase ist das innere Herz der Landschaft, die als Landschaft nur zur Erscheinung kommen kann, wenn der Mensch bereits aus der Natur herausgetreten ist. Wenn Thomas Mann den Hasen nicht nur laufen lässt, sondern obendrein noch dem eigenen Hund ein Bein stellt, damit dieser die Verfolgung aufgibt, so dokumentiert dieser Akt nicht nur eine Eigentümlichkeit, die die menschliche Seele von der unentwickelten der Kreatur scheidet: Mitleid. Der Stockschlag, der die gellenden »Kopftöne[] der Leidenschaft« (606) bei Bauschan unterbricht und den Hasen rettet, rettet zugleich die Natur als Landschaft, indem er ihr Herz bewahrt. Die Kreatur kann das Herz der Landschaft nur hetzen und töten, der Mensch kann es zur Erscheinung bringen. Herr und Hund ist also keine Apologie der tierischen Transzendenz, sondern am Ende eine Apologie der Sublimierung von Natur: der Landschaft, die als vom Wasser und von literarischen Anspielungen gleichermaßen durchzogene zum Symbol einer möglichen wechselseitigen Bezogenheit von Mensch und Kreatur erhoben wird.
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VI. Sublimierung der Natur. Theodor W. Adorno Keine Sublimierung glückt, die nicht in sich bewahrte, was sie sublimiert. Ästhetische Theorie, S. 145
1. Sils Mar ia 1966 1.1 Lässt man St. Moritz, die letzte Bahnstation des Engadin, hinter sich, gelangt man über Silvaplana nach Sils Maria, kurz vorm Maloja, der Verbindung zum Bergell. Sils Maria ist auch heute noch ein kleines Dorf, kaum mehr als vierzig Häuser, die meisten davon Pensionen und Hotels, knapp unterhalb der Baumgrenze gelegen. Wir sind ein weiteres Mal auf der Durchfahrt, halten Nietzsches wegen, und bleiben für drei Tage, aus Interesse an Theodor W. Adorno. Die von kiesbestreuten Wegen durchzogene, nahezu vollkommen horizontale Oberengadiner Ebene erlaubt weite Wanderungen im Hochgebirge ohne die Beschwerlichkeiten des Steigens, ein urbanes Flanieren in beinahe zweitausend Metern Höhe über dem Meer. Die Spaziergänge in diesem Tal werden gleichwohl nicht eintönig, da sich mit jedem Schritt die Kulisse der Berge verschiebt, immer neue und höhere Staffelungen und weitere Aussichten sich eröffnen. Die großflächigen, unbebauten Feuchtwiesen und der spiegelglatte See, an dessen Ufer der so genannte Zarathustrafelsen steht, in dessen Schatten Nietzsche angeblich der Gedanke der ›Ewigen Wiederkunft‹ überkam, nehmen dem vom Hochgebirge dicht umschlossenen Tal das Beengende und verstärken den einschüchternden Eindruck einer weiten schweigenden Landschaft am Ende der Welt. Wir 211
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erinnern uns nicht, je sonst in Europa, mit der Ausnahme Nordnorwegens oder Islands, einer derart undurchdringlichen Stille ausgesetzt gewesen zu sein; es ist in der Tat, als werde, abgesehen vom unablässigen Rauschen der Sturzbäche, jedes Geräusch geschluckt. Die leise schnurrenden Autos erscheinen lächerlich klein; das Tal hat auch heute noch den Charakter des technisch Unerschlossenen, Unerschließbaren bewahrt: »Cocteau schrieb versiert, Nietzsches Urteile über französische Literatur hätten nach den Vorräten der Bahnhofsbuchhandlung von Sils Maria sich gerichtet. Aber es gibt in Sils keine Bahn, keinen Bahnhof, keine Bahnhofsbuchhandlung.«1
Obwohl es Frühsommer ist und die Lufttemperatur angenehm, wirkt dieses Hochplateau sehr kalt, abweisend, lebensfeindlich: der glasklare, von Unterwasserpflanzen beinahe freie See, das ins Bläuliche und Gelbliche spielende Grün der Bäume und Wiesen, das bleierne Grau der auf den Gipfeln ganzjährig vereisten Massive. Es ist vor allem dieser See, dessen ebenso schönes wie leeres Auge der Landschaft den ungeheuren Ausdruck von Ausdruckslosigkeit verleiht, von dem Adorno schreibt. Gebrochen durch die Mitteilung der Anekdote einer absurden optischen Täuschung, erscheint der See doch als dem Hades zugehörig, als Acheron, das Oberengadin als Totenreich, nicht als Urlaubsparadies. Kein Heros und keine Heroine, sondern ein Tier, das die Europa abwarf und in den Fluten untergehen ließ, triumphiert über den Tod, dem die Menschen erliegen: »Aus einiger Entfernung eine Kuh, die sich am See, weidend zwischen Booten, zu schaffen machte. Optische Täuschung bewirkte, daß ich sie sah, als stünde sie in einem Boot. Wahrhaft heitere Mythologie: Stier der Europa, triumphal über den Acheron schiffend.«2
Das Thema der Notizen Adornos, die mit einem mythologischen Bild über die ertrunkene Europa beginnen und mit der Mitteilung des Ablebens eines der letzten Menschen, die Nietzsche noch gesehen haben, schließen, ist der Tod: Europa nach dem Untergang. Der Tod ist für den Autor selbst im mechanisch klingenden Pfeifen der Murmeltiere gegenwärtig. In diesem Pfeifen, dessen Beschreibung eine später beinahe wortgetreu in die Ästhetische Theorie übernommene Reflexion präludiert, erschallt für Adorno die über das Einverständnis mit dem Tod gestiftete Identität zwischen 1. Theodor W. Adorno: Aus Sils Maria, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1., hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1997, S. 328. 2. Ebd., S. 326.
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vollkommen beherrschter und vollkommen unbeherrschter Natur. Der Naturlaut klingt wie ein technisch erzeugtes Signal: »Wer einmal den Laut von Murmeltieren hörte, wird ihn nicht leicht vergessen. Daß er ein Pfeifen sei, sagt zu wenig: es klingt mechanisch, wie mit Dampf betrieben. Und eben darum zum Erschrecken. Die Angst, welche die kleinen Tiere seit unvordenklichen Zeiten müssen empfunden haben, ist ihnen in der Kehle zum Warnsignal erstarrt; was ihr Leben beschützen soll, hat den Ausdruck des Lebendigen verloren. In Panik vorm Tod haben sie Mimikry an den Tod geübt.«3
Auch wem die Bergwelt der Alpen sonst gleichgültig ist, wird sich dem Oberengadin in seinem Ernst kaum verschließen können. Für Geranien ist die Luft zu dünn, sie verursacht den berühmten Schwips des Bewusstseins, die leichte Febrilität und den chronischen Heißhunger, wovon Thomas Mann im Zauberberg erzählt; selbst Davos aber liegt tiefer als Sils. Der Philosophieprofessor Martin Heidegger und alles, wofür er steht, ist hier weit weg, unten im Flachland. Aus der Perspektive Sils Marias, auch 1966 noch von oben herab, ist »der Feldweg […] Kulturphilosophie.« Adorno notiert über die ungemütliche Berglandschaft des oberen Engadin: »Sie atmet keine mittlere Humanität aus. Das verleiht ihr das Pathos der Distanz Nietzsches, der dort sich versteckte. Zugleich ähneln die Moränen, für jene Landschaft charakteristisch, Industriehalden, Schutthaufen des Bergbaus. Beides, die Narben der Zivilisation und das Unberührte jenseits der Baumgrenze, steht konträr zur Vorstellung von Natur als einem tröstlich, wärmend dem Menschen Zubestimmten; es verrät schon, wie es im Kosmos aussieht.«4
1.2 Oberhalb des Dorfes, kaum fünf Minuten vom Nietzsche-Haus, erhebt sich seit 1908 das im Stil einer mittelalterlichen Burg entworfene weiße Grand Hotel, »unser Hotel […] in seinen unmäßigen Dimensionen«,5 das Waldhaus. Die aus Diskretion nur bis 1978 publizierte Gästeliste verzeichnet bekannte Namen aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur. Am Ende der Welt, im Bannkreis Nietzsches, an den hier fast jede Stelle erinnert, sei sie markiert durch die von Frau Foerster veranlassten Bronzetafeln und übergewichtige Bronze-Adler oder nicht, versammeln sich in einer Art Konzentrat die Spitzen der kapitalistischen Gesellschaft: Rothschild, Thys3. Ebd., S. 326f. 4. Ebd., S. 327. 5. Ebd., S. 326.
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sen, Siemens, Rockefeller und Bosch haben im Waldhaus ebenso Quartier bezogen wie Richard Strauss, Clara Haskil, Wilhelm Backhaus oder Dinu Lipatti. Léon Blum, Frau von Hindenburg nebst Kindern und Theodor Heuss waren hier. Die Familien des europäischen Hochadels haben im Waldhaus ihre Ferien verbracht neben Hermann Hesse, C. G. Jung, André Gide, Familie Mann und vielen anderen. Das sehr einsam gelegene Hotel ist keine Weltbühne wie etwa das Carlton in Cannes, sondern Rückzugsmöglichkeit von dieser. Es gibt kein Publikum, auch heute nicht. Das Waldhaus ist ein geräumiges und luxuriöses Versteck der mächtigen Repräsentanten Alteuropas und der USA. Auf der Gästeliste findet sich schließlich auch das Ehepaar Adorno, das von 1955 bis 1966 – dem Erscheinungsjahr der Negativen Dialektik – hier regelmäßig die Sommer verbrachte, insgesamt 394 Übernachtungen, wie man uns mitteilt, mehr als ein Jahr. Die Überschneidungen in den Aufenthalten der prominenten Gäste erlauben der Phantasie, sich die seltsamsten Tischnachbarschaften, Spaziergänge und Begegnungen auf den beigen Kieswegen auszumalen. Einige Geschichten über mehr oder minder heikle Zusammentreffen auf den von Nietzsche begangenen und von den Nachgeborenen ausgetretenen Pfaden sind kolportiert worden. Georg Lukács’ seinerzeit bekannt gewordene Polemik wider das »Grand Hotel Abgrund« von 1962 besitzt – zumal im Hinblick auf die lebensunfreundliche ›Abgründigkeit‹ dieses Teils des Engadin – ein verblüffend präzises empirisches Korrelat: »Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen, ein – wie ich bei Gelegenheit der Kritik Schopenhauers schrieb – ›schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, der Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem Komfort nur erhöhen.‹«6
Adorno, 1966 gegenüber ›hüben und drüben nunmehr geständig‹,7 überblendet provokativ, sehr wahrscheinlich in Anspielung auf Lukács’ Polemik, die Sphären exklusiver Gesellschaft und erhabener Natur in einer 6. Georg Lukács im Vorwort zur 1962 veranstalteten Neuausgabe der Theorie des Romans, hier zitiert nach: Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied 1971, S. 16. 7. Nach dem Ende der Vorrede der Negativen Dialektik. Die Notizen über Sils wurden zuerst in der Süddeutschen Zeitung am 1./2. Oktober 1966 publiziert, dem Erscheinungsjahr des philosophischen Hauptwerks, das damit in aller Öffentlichkeit entschieden als eine Schrift ›aus Sils Maria‹ ausgewiesen wird.
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weiteren Beobachtung, die gewiss noch heute zutriff t. St. Moritz mit seinem Skizirkus ist chichi, Sils, Ort des mühelosen Gehens und des Gesprächs, mondän: »Gipfel, die durchbrechend Nebelschwaden überragen, wirken unvergleichlich viel höher, als wenn sie im klaren Licht, ohne Hülle sich erheben. Trägt aber die Margna ihren leichten Nebelshawl, so ist sie, verspielt und dennoch reserviert, eine Dame, von der man sicher sein darf, daß sie es verschmäht, nach St. Moritz zu fahren und Einkäufe zu machen.«8
Grand Hotels sind diskret, gerade auch über den Tod ihrer Gäste hinaus. Die Hoteliers-Familie und alte Mitglieder des Personals erinnern sich des Ehepaars Adorno offenbar auch nach dreißig Jahren. Man zeigt uns ihren Tisch im Speisesaal, das mittlerweile umgebaute Zimmer sowie ein noch im Zustand von 1908 erhaltenes (die Räume von Thomas Mann und Tochter Erika) und belässt es im Übrigen freundlich bei der Auskunft, dass Adorno ein sehr schweigsamer Gast gewesen sei, der sehr genau gewusst habe, was er wollte: seine Ruhe. Man habe sich bemüht, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen. Der Wunsch nach Ruhe wird auch dreißig Jahre später respektiert; Anekdoten gibt es nicht. An die wegen des Sputnik auf der Dachterrasse des Waldhauses verbrachte Nacht erinnere man sich allerdings; das Ehepaar Adorno sei wohl zugegen gewesen. Adorno schreibt später, erneut den die Silser Notizen prägenden Rekurs auf den Kosmos aufgreifend – seit Pascals Entsetzen über den leeren Weltraum Chiffre der Einsamkeit und der Angst vor einem sinnlosen Tod –, dazu: »Vom Dach aus mußten wir abends den Sputnik beobachten. Er wäre von keinem Stern, nicht von der Venus zu unterscheiden gewesen, hätte er nicht auf seiner Bahn getorkelt. Das hat es mit den Siegen der Menschheit auf sich. Womit sie den Kosmos beherrschen, der verwirklichte Traum, das ist traumhaft verwackelt, ohnmächtig, als wollte es stürzen.«9
Mit seinen an weithin sichtbarem Ort publizierten Notizen Aus Sils Maria setzt sich Adorno dem Snobismus-Vorwurf aus und lädt seine Gegner dazu ein, die westdeutsche Kritische Theorie durch eine Polemik ad hominem zu diskreditieren. Adorno begegnet der Attacke Lukács’, es bestehe ein skan8. Adorno: Aus Sils Maria (Anm. 1), S. 327. 9. Ebd., S. 326. Einer der alten Nachtportiers, passionierter Himmelsgucker, wies uns darauf hin, dass Adorno hier irrt: Der Sputnik zog seine Bahn ohne ein Torkeln. Der verwackelte Eindruck sich bewegender künstlicher Himmelskörper entstehe durch die Wirkungen der Luftschichten.
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dalöser, ›dekadenter‹ Widerspruch zwischen Linkssein und großbürgerlicher Lebensweise, dadurch, dass er ihn öffentlich ausstellt und buchstäblich die Adresse des ›Grand Hotel Abgrund‹ mitteilt. In diesem durchaus mutigen Gestus liegt die Aufforderung zur Reflexion auf den exponierten Widerspruch jenseits moralischer Ostblock-Empörung. Adorno antwortet hier auf Lukács ästhetisch: indem er seinen Bericht über das aufreizende ›Grand Hotel Abgrund‹ ausformt zur durchgeführten Allegorie, zentriert um den scharfen Kontrast eines imperialen Grand Hotels in imperialer Landschaft. Die Subtilität von Adornos Antwort auf Lukács ist formal auch darin zu sehen, dass er dergestalt den jungen gegen den späten Lukács ausspielt. Die frühe Theorie des Romans hatte die Tendenz der Moderne zur Allegorie bereits eine Dekade vor Benjamins Traktat über den Ursprung des deutschen Trauerspiels pointiert, während der alte Lukács einen gesunden ›Realismus‹ wieder für möglich hielt. Im Zeitalter der »transzendentalen Obdachlosigkeit«10 ist der Sinn des Lebens, so hatte Lukács 1916 geschrieben, unsichtbar und also das Leben selbst zum Problem geworden. Die Gegenstände der Erfahrung geben nicht mehr eine erstaunt und beglückt empfangene Sinnfülle frei, sondern werden vom problematisch und einsam gewordenen Subjekt gedanklich dechiff riert, werden zu Allegorien. Die von Adorno evozierte Szenerie einer gespenstischen Versammlung der Spitzen der Gesellschaft in inhumaner Todeslandschaft allegorisiert ihrerseits die Passage über die Allegorie aus der Theorie des Romans: »Das Problem ist hier unaussprechbar, weil es die konkrete Idee des Ganzen ist, weil nur das Zusammenklingen aller Stimmen den Reichtum an Inhalt, der darin verborgen ist, zu heben vermag. Für das Leben ist aber das Problem eine Abstraktion; die Beziehung einer Gestalt auf ein Problem kann niemals deren ganze Lebensfülle in sich aufnehmen, und jedes Ereignis der Lebenssphäre muß sich zum Problem allegorisch verhalten.«11
Das Grand Hotel selbst figuriert die Allegorie einer konkreten Idee des Ganzen. Den Gedanken der Allegorie Adornos von 1966 erhellt der Blick in eine noch kurz vor der ›Machtergreifung‹ durch die Nationalsozialisten erschienene und dann umgehend verbotene Studie. In der Schrift über Die sozialistische Entscheidung benannte Adornos akademischer Lehrer Paul Tillich 1932 in Anlehnung an Marx und Max Weber das Prinzip der abendländischen bürgerlichen Gesellschaft, die sich konstituiert habe als
10. Lukács: Die Theorie des Romans (Anm. 6), S. 32. 11. Ebd., S. 45.
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»Angriff auf Ursprungsmythos und Ursprungsbindung in allen Teilen der Erde«:12 »Ihr Prinzip ist die radikale Auflösung aller ursprünglichen Gegebenheiten, Bindungen und Gestalten in rational zu bewältigende Elemente. Und die rationale Zusammenfassung dieser Elemente zu Zweckgebilden für Denken und Handeln.«13 Dem eigenen Anspruch nach ist die bürgerliche Gesellschaft international und egalitär, allen Menschen der Welt gleichermaßen zugänglich. Ihren philosophischen Ausdruck findet sie daher im Denken der Aufklärung, dem Programm einer rationalen Entzauberung der Welt, das dann irrational gekreuzt wird von dem, was Tillich den bürgerlichen »Harmonieglauben« nennt: »das tiefste, wenn auch vielfach überdeckte Prinzip«.14 Die kapitalistische Ordnung führt der marxistischen Analyse zufolge zur Aufspaltung der visionierten harmonischen Einheit aller Menschen in Klassen, zur Entstehung des Proletariats, das der besitzenden bürgerlichen Klasse als deren Wahrheit und als Bedrohung gegenübersteht: »Denn zunächst ist das Proletariat reines Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Welt- und Gesellschaftsgestaltung. Es ist das Ergebnis der vollkommenen Verdinglichung alles Daseienden in Natur und Gesellschaft durch die Herrschaft des bürgerlichen Prinzips. Im Proletariat sind alle ursprungsmythischen Bindungen radikal aufgelöst. Der Einzelne ist ganz auf sich selbst gestellt. Die unmittelbar tragenden Kräfte, Boden, Blut, Gruppe, Gemeinde fehlen. Während das Bürgertum für sich auf die radikale Durchsetzung seines Prinzips verzichtet und sich mit vorbürgerlichen Mächten verbunden hat, hat es das Proletariat der Dynamik des bürgerlichen Prinzips restlos preisgegeben.«15
Das klassische Grand Hotel des 19. Jahrhunderts ist architektonische Manifestation des Ideals und der Ideologie des Bürgertums gleichermaßen: der Stein gewordene Harmonieglaube. Das Grand Hotel ist die Sublimierung bürgerlicher Lebensweise. Es integriert architektonisch und kulinarisch die nationale und die internationale Dimension. Die jeweilige Nation findet sublimierten Eingang ins Hotel durch Akzente in der innenarchitektonischen Gestaltung, in den Blumenarrangements und auf der Speisekarte. Neben der Auswahl an ›Spezialitäten der Region‹, die gleichwohl auf international verdauliches Niveau gebracht sind, fi ndet sich regelhaft eine Auswahl internationaler Küche. Nicht zufällig trägt ein weltweit be12. Paul Tillich: Die sozialistische Entscheidung (1932), Berlin 1980, S. 49. 13. Ebd. 14. Ebd., S. 52. 15. Ebd., S. 62.
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kannter Salat den Namen des Grand Hotels von Manhattan: Walldorf. Der architektonische und soziale Gestus des Grand Hotels ist die Idee des Weltbürgertums. Das Grand Hotel inszeniert weltläufige Harmonie zwischen Regionalität und Internationalität auch über die Sprache: Englisch und Französisch sind neben der Landessprache für das Personal, das seinerseits bewusst international zusammengestellt ist, obligatorisch. Im Grand Hotel wird Welt zur Heimat, in seiner gekonnten Abstimmung von Regionalität und Internationalität, monde und Wohnung. Die Exklusivität besteht genau nicht in Herablassung, sondern in der Vermittlung des Gefühls von Privatheit. Ein Grand Hotel, das dem Gast während des Aufenthaltes nicht für wenigstens einen Moment die Phantasie entlockt, hier für immer zu bleiben, wie der Exilant Nabokov in Montreux, ist keines mehr. Zugleich manifestiert sich das von Tillich bemerkte Bündnis des Bürgertums mit vorbürgerlichen Mächten in der Architektur der klassischen Grand Hotels: Das Carlton in Cannes ähnelt einem französischen Schloss aus der Zeit des ancien régime, das Waldhaus in Sils Maria gleicht einer mittelalterlichen Burg. Das Grand Hotel erborgt sich durch diese vormoderne Architektur den Schein alter Substanz, als sei es nicht käuflich, weshalb stets eine passionierte öffentliche Diskussion einsetzt, wenn wieder einmal ein ›Traditionshaus‹ unter den Hammer kommt. Die architektonisch markierte Klassenstruktur setzt sich fort in den Reglements der Bekleidung, in der Nötigung etwa zur Abendgarderobe beim Dinner. Der massive Klassenunterschied, den die Architektur vorab einschüchternd, insbesondere durch Glätte, des Parketts, des Marmors, der Konversation, markiert, wird ergänzt durch die feinen Unterschiede, die im Ablauf des Hotellebens zu beobachten sind. In einer Art von gravitätischer Großartigkeit verkörpert daher das Grand Hotel den von Paul Tillich benannten Widerspruch zwischen Utopie und Ideologie. Grand Hotels sind eine transnationale Heimat, in die man sich flüchten kann, namentlich im Exil. Auf der anderen Seite ist das Grand Hotel finanziell und soziologisch exklusiv: teuer, oder, mit einem urbürgerlichen Begriff, der Schillers transzendentalphilosophisches Pathos der Grenze und Geld zusammenbringt: ›unerschwinglich‹. Adornos Mitteilung seiner Aufenthalte im Waldhaus sind daher allegorischer Hinweis darauf, dass das Denken des zwanzigsten Jahrhunderts die ungeschlichteten Widersprüche austrägt, die das neunzehnte voll ausprägte, paradigmatisch zu studieren etwa am Hotel als der versteinerten Idee des Ganzen: das Hegel’sche System als altes Haus. Zugleich bedeutet die Mitteilung über die alljährliche Schweizer Zeit eine kritische Wendung wider die Bundesrepublik der aggressiv restaurativen fünfziger und frühen sechziger Jahre. Offenbar war das selbst gewählte Schweizer Exil auf Zeit Voraussetzung für das Ehepaar Adorno, das Leben im ehemaligen Nazideutschland, in das sie sehr früh wieder zurückkehrten, überhaupt aushal218
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ten und die Produktivität erhalten zu können. Über das andere Haus, über dasjenige, in dem Nietzsche wohnte, ein Exildeutscher auch er, ohne Panoramablick, nach hinten, zur nassen Felswand hinaus, notiert Adorno: »[E]s zeigt, wie würdig man vor achtzig Jahren arm sein konnte. Heute wäre man, unter ähnlichen materiellen Bedingungen, bürgerlich deklassiert; angesichts des ostentativ hohen Gesamtniveaus fühlte man von der Kargheit sich gedemütigt. Damals erkaufte man um den Preis bescheidenster Lebensführung die geistige Unabhängigkeit. Auch das Verhältnis zwischen Produktivität und ökonomischer Basis unterliegt der Geschichte.«16
Die Notwendigkeit, im klassisch widersprüchlichen Milieu des Schweizer Grand Hotels einmal im Jahr aufatmend Zuflucht zu suchen, macht der deutschen Öffentlichkeit deutlich, dass Deutschland keine Heimat ist. Gegenüber Lukács wird bekannt, dass ›die sozialistische Entscheidung‹ 1966 aufgeschoben ist, dass Philosophie sich am Leben erhält, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt wurde. An die Stelle der Verwirklichung tritt Kritische Theorie, die das Innere des Hotels, aber auch die Natur, in der es steht, analysiert. Die unbeherrschte Natur bietet keinen Ausweg aus der Industriegesellschaft; sie ist vielmehr mit dieser identisch und fordert damit von sich aus die Rehabilitation einer vermeintlich obsoleten Kategorie der Ästhetik, die zwischen den Extremen des subjektlosen Imperialismus vermittelt: das Naturschöne, die Sublimierung von Natur. Auch diese Reflexion wird in den Notizen aus Sils Maria allegorisch antizipiert: »Mit sichtlichem Behagen marschieren in den Bergen die Kühe auf den breiten Wegen, welche die Menschen angelegt haben, ohne viel Rücksicht auf diese. Modell dafür, wie die Zivilisation, die Natur unterdrückte, der unterdrückten beistehen könnte.«17
1.3 Es gibt viele schöne Gebirgsorte in der Schweiz. Ein Philosoph, der über ein Jahrzehnt hinweg die Sommerwochen in Sils Maria verbringt und 1966, im Erscheinungsjahr seines philosophischen Hauptwerkes, der Negativen Dialektik, in der Süddeutschen Zeitung eine breite Öffentlichkeit über diese Aufenthalte in Kenntnis setzt, beansprucht deutlich genug, die Nachfolge Nietzsches im 20. Jahrhundert angetreten zu haben. Die 16. Adorno: Aus Sils Maria (Anm. 1), S. 328. 17. Ebd., S. 326
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zwischen 1955 und 1966 entstandenen Schriften, insbesondere der an Karl Kraus und Nietzsche geschulte Jargon der Eigentlichkeit, werden zu Sendbriefen aus dem Oberengadin hinab in jene »Gegenden, wo Nietzsche und die Auf klärung noch nicht sich herumsprachen.«18 Weit mehr noch als Hegel ist der ausgreifend zitierte Nietzsche in der zentralen programmatischen Schrift Adornos nach der gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Auf klärung, der Einleitung zur Metakritik der Erkenntnistheorie, wichtigster Zeuge auf dem Weg hin zur Formulierung einer letzten Philosophie, die nicht mehr in den Bahnen dieser Überlieferung denkt, sondern diese historisch, soziologisch und psychologisch von außen betrachtet, wie ein Schauspiel. Dass es keinen Essay oder gar ein Buch Adornos über Nietzsche gibt, unterstreicht den zumal gegenüber dem eifrigen Nietzsche-Exegeten Heidegger geltend gemachten Anspruch auf die Nachfolge eher, als dass das Schweigen ihn dementierte. In seiner Bestimmung des Sublimierungsbegriffs greift Adorno unter Rekurs auf die Urgeschichte von Subjektivität auf Einsichten Nietzsches zur ursprünglichen Sublimierung zurück: Die Emanzipation von Natur entrichtete den Preis der Selbstunterwerfung des Subjekts. Der Metakritik zufolge hat einzig der Philosoph Sils Marias registriert, dass die Philosophie seit der griechischen Antike eine Verhinderung des von Nietzsche geforderten geschichtlichen Denkens ist, »Residualtheorie«: »Wahrheit soll sein, was übrig bleibt, die Neige, das Allerschalste.« 19 Nietzsches Entwurf einer historischen Philosophie, die den Begriff der ›Sublimierung‹ als methodischen Schlüssel handhabt, ist verbindlich für Adornos Projekt, gegen den Fehlschluss zu arbeiten, »was dauert, sei wahrer, als was vergeht.«20 In einem wuchtigen Passus führt Adorno die Geschichte abendländischer Philosophie, von der er sich kritisch distanziert, eng mit der Geschichte von Herrschaft, die im 20. Jahrhundert als Verwaltung zur totalen wurde: »Zu seinem höheren Ruhm beschimpft der reine Begriff das höher entwickelte Einzelne als unrein und Verfall: kein Fortschritt wissenschaftlicher und philosophischer Rationalität ohne solchen Rückschritt. Die totalitären Systeme haben ihn nicht aus dem historischen Nirgendwo angezettelt, sondern brutal vollstreckt, was die Ideologie über Jahrtausende spirituell, als Herrschaft des Geistes vorbereitete. Das Wort elementar deckt aber das szientifisch Einfache 18. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, in: Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. 6, S. 355f. 19. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: Gesammelte Schriften (Anm. 1) Bd. 5, S. 23. 20. Ebd., S. 25.
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ebenso wie das mythisch Ursprüngliche. Die Äquivokation ist so wenig Zufall wie die meisten. Der Faschismus suchte die Ursprungsphilosophie zu verwirklichen.«21
Adorno folgt Nietzsche als dem Schöpfer der Genealogie, trennt sich aber in dem Moment von ihm, als die Apologie des Werdens umschlägt in eine Apologie des Willens der Macht. Adorno teilt, wie das Zitat zeigt, Nietzsches Diagnose einer Verquickung von Philosophie und Herrschaft, verweigert aber die von Nietzsche gezogene Konsequenz, den Willen zur Macht als Kernbegriff einer neuen Kosmologie zu etablieren: Am Ende identifiziert Nietzsche sich mit dem Angreifer, fällt in Metaphysik zurück. Auf der einen Seite erkennt Nietzsche den in der vermeintlich reinen Philosophie drängenden Willen zur Macht, um zuletzt doch selbst zu dessen aggressivem Anwalt zu werden. Philosophie gibt seit Anbeginn realer Herrschaft theoretisch Sukkurs, insofern die Konstitution des Subjekts ein Akt der Unterwerfung, erzwungene Identität war. Auch die Trennung von Nietzsche ist in die Notizen aus Sils Maria hineingearbeitet. Es ist ebenfalls Element der durchgeführten Allegorie, wenn Adorno, scheinbar beiläufig, berichtet, er habe mit Herbert Marcuse zusammen ›den letzten Menschen‹, Herrn Zuan, aufgesucht, der Nietzsche noch persönlich gekannt habe. Mit Marcuse, der in Eros & Civilization versucht hatte, den Begriff nicht-repressiver Sublimierung als Selbstsublimierung des Eros zu denken, wird die Pilgerschaft zum Zeitzeugen angetreten. Die Anekdote, die Herr Zuan anbietet, markiert zugleich den Punkt, an dem sich Marcuse und Adorno von Nietzsche trennen. Die Fetischisierung der Macht und die Verwerfung des Mitleids werden ihrerseits von der Kritischen Theorie verworfen: »Wir gingen, Herbert Marcuse und ich, hin, und wurden liebenswürdig in einer Art Privatkontor empfangen. Tatsächlich konnte Herr Zuan sich erinnern. Des Näheren befragt, erzählte er, Nietzsche hätte, bei Regen wie bei gutem Wetter, einen roten Sonnenschirm getragen – anzunehmen, daß er davon Schutz gegen die Kopfschmerzen sich erhoffte. Eine Band von Kindern, zu der auch Herr Zuan gehörte, hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, ihm in den zusammengefalteten Schirm Steinchen zu praktizieren, die ihm, sobald er den Schirm öffnete, auf den Kopf fielen. Drohen wäre er dann mit gehobenem Schirm hinter ihnen hergelaufen, hätte sie aber nie erwischt. Wir dachten, in welche schwierige Situation der Leidende gekommen sein mußte, der seine Quälgeister vergebens verfolgte und ihnen am Ende womöglich noch recht gab, weil sie das Leben gegen den Geist
21. Ebd., S. 28.
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repräsentierten; es sei denn, die Erfahrung realer Mitleidlosigkeit hätte ihn an einigen Philosophemen irregemacht.«22
Es ist eine durchaus ironische Wendung, wenn Adorno abschließend mitteilt, dass er und Marcuse kein Interesse daran nahmen, sich von Herrn Zuan Anekdoten über den Silser Besuch der Queen Victoria erzählen zu lassen, die der von Karl Marx in London studierten Epoche ihren Namen gab. Nietzsche interessiert als Vorläufer der Idee nicht-repressiver Sublimierung und als Kritiker des unterworfenen Subjekts in der Philosophie im Zeichen einer konsequent durchgeführten Genealogie, nicht aber als Apologet der Macht und der Mitleidlosigkeit. Darüber hinaus insistiert Adornos Allegorie darauf, dass an die Stelle von Nietzsches elitär-naiver Abwendung von der Gesellschaft deren Analyse zu treten habe. Adorno verbindet die psychologische Kritik an Nietzsches Machtfetisch mit dem Postulat, die Gesellschaft soziologisch zu studieren. Die Notizen aus Sils Maria dokumentieren die Gebrochenheit der Nietzschenachfolge: Während Nietzsche vor achtzig Jahren der Gesellschaft, von der er keinen Begriff bildete, entfloh, verbringt nun Adorno inmitten ihrer Exponenten die Sommer. Adorno korrigiert die Machtphantasien des solitären Philosophen, indem er das Pathos der Perspektive ›von oben herab‹ als Emanation einer ihrerseits undurchschauten, infantilen Riesenphantasie reflektiert. Der scheue Übermensch verwechselt die soziale Welt mit dem Spielzeug der Kinder; der Sozialphilosoph des zwanzigsten Jahrhunderts hingegen findet im Innern dessen, was in der Kindheit geheimnisvolles Faszinosum war, nunmehr die reale Gesellschaft: »Aus der Höhe nehmen die Dörfer sich aus, als wären sie von oben mit leichten Fingern hingesetzt, beweglich und ohne Fundament. So gleichen sie dem Spielzeug, mit dem Glücksversprechen der Riesenphantasie: man könnte mit ihnen machen, was man will. Unser Hotel aber, in seinen unmäßigen Dimensionen, ist einer von den winzigen mit Zinnen gekrönten Bauten, die in der Kindheit die Tunnels zierten, durch welche die Zimmereisenbahn hindurchbrauste. Nun betritt man sie endlich und weiß, was darin ist.«23
Die Allegorie der Silser Notizen kulminiert in der bereits erwähnten schroffen Kontrastierung von Grand Hotel und Industriehalde. Zurückgewiesen wird die nostalgische Idee, dass bloße Natur dem Menschen etwas Bergendes sein könnte. Damit ist zugleich die Bahn des Denkens Adornos vorgezeichnet. Es nimmt den Weg über die Betrachtung des Naturschö22. Adorno: Aus Sils Maria (Anm. 1), S. 328f. 23. Ebd., S. 326.
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nen, um die Behauptung formulieren zu können, die die Sublimierung vom Vorwurf der Drangsalierung der Subjektes und der Forderung traurigen Verzichts markant entlastet: »Sublimierung und Freiheit sind im Einverständnis.«24 Dass Freiheit und Sublimierung im Einverständnis sind, wird sichtbar weder in der Welt des Bürgertums, für die das Grand Hotel einsteht, noch in bloßer Natur, in die das Bürgertum vor sich selber entflieht. Die Passage über den industriellen Charakter der Hochgebirgslandschaft kehrt wieder in den entsprechenden Reflexionen der Ästhetischen Theorie: »Das Naturschöne an der erscheinenden Natur unmittelbar ist kompromittiert durch den Rousseauismus des retournons. Wie sehr die Vulgärantithese von Technik und Natur irrt, liegt darin zutage, daß gerade die von menschlicher Pflege ungesänftigte Natur, über die keine Hand fuhr, alpine Moränen und Geröllhalden, den industriellen Abfallhaufen gleichen, vor denen das gesellschaftlich approbierte ästhetische Naturbedürfnis flüchtet. Wie industriell es im anorganischen Weltraum aussieht, wird einmal sich weisen.25
Das Naturschöne als Landschaft, wie etwa Thomas Mann in seiner Hundegeschichte sie exemplarisch evozierte, erinnert daran, dass der Weg der Freiheit auf dem halben Wege blockiert ist, wird Freiheit nur als Emanzipation von Natur gedacht. Die Befreiung von der Natur, die den Preis der Selbstunterwerfung der Subjekts entrichtet, wird heimgesucht von der unverständlich, ›mythisch‹ werdenden Natur. Diese Einsicht hat bereits Walter Benjamin im Essay über Goethes Wahlverwandtschaften entfaltet, mit Blick auf das aufgeklärte Personal des Romans, das dem Untergang geweiht ist: »Wohin führt ihre Freiheit die Handelnden? Weit entfernt, neue Einsichten zu erschließen, macht sie sie blind gegen dasjenige, was Wirkliches dem Gefürchteten einwohnt. Und dies daher, weil sie ihnen ungemäß ist. Nur die strenge Bindung an ein Ritual, die Aberglaube einzig heißen darf, wo sie ihrem Zusammenhange entrissen rudimentär überdauert, kann jenen Menschen Halt gegen die Natur versprechen, in der sie leben. Geladen, wie nur mythische Natur es ist, mit übermenschlichen Kräften, tritt sie drohend ins Spiel.«26
24. Adorno: Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften (Anm. 1) Bd. 7,
S. 196. 25. Ebd., S. 107. 26. Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, in: Gesammelte Schriften Bd. 1.1., hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1991, S. 132.
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Jenseits des Unbehagens
Der Gang in die bloße Natur ermöglicht ein Aufatmen, das seinerseits verweist auf eine restriktive Gesellschaft, die ein Aufatmen verhindert. Die strenge Bindung an ein Ritual ist in der entzauberten Welt zum »Aberglauben« geworden oder allenfalls möglich als »neurotische Schiefheilung«, wie Freud formuliert. Ziel der Reflexionen Adornos ist es, weder die Regression auf bloße Natur zu lancieren, noch auch die erblindete Bindung an ein Ritual zu fordern. Ziel ist das Eingedenken der Natur im Subjekt. Und dieses Eingedenken der Natur im Subjekt wird vorbereitet durch die Erfahrung des Naturschönen, das eben nicht die Erfahrung bloßer Natur bietet wie diejenige Sils Marias, sondern die von »Kulturlandschaft«, Inbegriff gelungener Vermittlung zwischen Menschenwelt und Natur. In der Ästhetischen Theorie dient der Hinweis auf Sils Maria dazu, die notorische Nostalgie moderner Naturverbundenheit zu exorzieren, um den Begriff des Naturschönen vorm Kitsch zu schützen. Wer in erster Natur erleichtert aufatmet, droht zu vergessen, dass dieses Aufatmen »vom Vermittelten, der Welt der Konventionen abhängt«.27 Über dem wie auch immer legitimen Aufatmen »entgleitet, daß jenes Moment in der Natur dem Betrachter noch ein ganz Verschiedenes zuwendet, etwas, woran menschliche Herrschaft ihre Grenze hat und was an die Ohnmacht des allmenschlichen Getriebes erinnert. So mochte noch Nietzsche in Sils Maria sich empfinden, ›zweitausend Meter über dem Meer, geschweige über den Menschen.‹«28
Die Erinnerung an Sils Maria markiert in der Ästhetischen Theorie die Differenz zwischen bloßer Natur und der Erfahrung des Naturschönen, die den Weg bahnt zum Eingedenken der Natur im Subjekt. Dass Sublimierung und Freiheit im Einverständnis sind, wird aber, so Adorno, erst voll erkennbar, wenn man sich befasst mit dem, was Natur dem Begriff nach am weitesten entfernt liegt, mit der Kunst. Die Verehrung des Naturschönen geht dann fehl, wenn sie sich ihrerseits auswächst zu einer Fetischisierung bloßer Natur, die Adorno mit dem Hinweis auf den industriellen Charakter des Kosmos zurückweist. In der Erfahrung des Naturschönen meldet sich die Idee eines Entgegenkommens, dasjenige, was Thomas Mann, im Bild des lachenden Hundes, als ihre sentimentalische Seite beschrieb. Doch bleibt, wie der Hund Thomas Manns, das Naturschöne letztlich stumm und der begrifflichen Durchdringung unzugänglich, was Adorno entwaff nend verdeutlicht durch den Hinweis darauf, dass der Versuch, das Naturschöne abzubilden, also zu vergeistigen, misslingt: 27. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 100. 28. Ebd., S. 110.
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VI. Sublimierung der Natur
Keine Photographie einer Landschaft kann vermitteln, was der Mensch erfährt, der in ihr aufatmet. Die Analyse des Naturschönen führt bis an die Grenze, wo in ihm stumm ein Geistiges erfahrbar wird. Um den Begriff der Sublimierung als einen der Freiheit entfalten zu können, geht Adorno daher folgerecht den umgekehrten Weg einer Analyse eben des Subjektes, das da in der Landschaft aufatmet. Das Naturschöne kommt zu sich selbst im Kunstschönen, das sich bildet, sobald die geistige Grenze des Naturschönen als bedrückender Bann erfahren wird: »Schön gilt allen der Gesang der Vögel; kein Fühlender, in dem etwas von europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel nach dem Regen gerührt würde. Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt. Der Schrecken erscheint noch in der Drohung der Vogelzüge, denen die alte Wahrsagerei anzusehen ist, allemal die von Unheil. Die Vieldeutigkeit des Naturschönen hat inhaltlich ihre Genese in der der Mythen. Deshalb vermag der Genius, einmal zu sich aufgewacht, am Naturschönen nicht länger sich zu befriedigen. […] Erst was der Natur als Schicksal entronnen wäre, hülfe zu ihrer Restitution.«29
Indem das Kunstschöne sich realisiert als Vergeistigung des seinerseits bereits als Emanzipation, als fortgesetzte Sublimierung gedachten Prozesses der Kultur, kehrt in ihm die Natur wieder: So lautet Adornos These zur Sublimierung. Nur vollzogene Vergeistigung kommt an das heran, was Natur – vermutlich – möchte. Nur durch die totale Entfremdung der Vergeistigung hindurch kann das Wesen dessen erahnt werden, von dem die Menschen entfremdet sind. Nietzsche wird bei Adorno in einer ebenso subtilen wie virtuosen Bewegung des Gedankens gerettet: Nietzsches Denkweg führt von der ästhetischen Theorie der Schrift über Die Geburt der Tragödie hin zu besessenen Apologie des Willens zur Macht. Adorno übernimmt aus dieser Entwicklung die Einsicht in die Entstehungsgeschichte des Denkens, deren Zentralbegriff bei Nietzsche ›Sublimierung‹ war. Um aber den Schritt Nietzsches in die Bejahung der Macht als falsch erkennbar machen zu können, kehrt Adorno zu den Anfängen Nietzsches zurück: zur ästhetischen Theorie. Nietzsche überlebt bei Adorno als Kritiker einer weniger seinsvergessenen als vielmehr geschichtsvergessenen Metaphysik. An das von der geschichtsblinden Metaphysik Verdrängte erinnert nach Adorno die Kunst. In ihrer Erfahrung wird klar, welche Opfer die Menschen erbrachten, um die Welt zu unterwerfen: Um sie selbst zu werden, mussten sie sich sich selbst und einander als jederzeit Identifizierbare und verwaltungstechnisch Kontrollierbare unterwerfen und damit wurde 29. Ebd., S. 105.
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jener unbehagliche Zirkel falscher Sublimierung, fortgesetzter Herrschaft über sich selbst und über andere in Gang gesetzt, den Freud in seiner Zivilisationstheorie namhaft macht. Dagegen erhebt Kunst, als Sublimierung kultureller Sublimierung zum Sublimen vergeistigt, Einspruch: »Als Vergeistigtes wird das Kunstwerk an sich, was man ihm sonst als Wirkung auf auf anderen Geist, als Katharsis zusprach, Sublimierung von Natur. Das Erhabene, das Kant der Natur vorbehielt, wurde nach ihm zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber. […] Natur, nicht länger vom Geist unterdrückt, befreit sich von dem verruchten Zusammenhang der Naturwüchsigkeit und subjektiver Souveränität.«30
In der Ästhetischen Theorie wird der Begriff einer ›Sublimierung von Natur‹ auf dem Weg einer detaillierten Kritik zweier prominenter Theorien der Sublimierung gewonnen, derjenigen Immanuel Kants und derjenigen Freuds. Den entsprechenden Passagen gilt nun die Aufmerksamkeit.
2. Erschütterung Aus Seminaren und weiteren Gesprächen erinnere ich, dass die Kritik der Freud’schen Sublimierungslehre, die Theodor W. Adorno im ersten Block der Ästhetischen Theorie führt, eher als Passus zum raschen Durchlesen gilt. Im Vergleich zu andern Teilen des Konvolutes, etwa den dichten Reflexionen zu Schein und Ausdruck, mag die Auseinandersetzung mit Kant und Freud als fast langatmige Abhandlung längst obsoleter Stationen ästhetischen Denkens erscheinen, als historischer Kursus, der den Weg ebnet hin zu Adornos eigenem Entwurf, der sich im zweiten Textblock zu entfalten beginnt: aus der Analyse der Situation. Im Gefühl der Langatmigkeit schwingt die freilich berechtigte Abwehr der populären Idee von Sublimierung mit, deren Verbreitung Freud selbst mit dem Vortrag über den Dichter und das Phantasieren und den entsprechenden Passagen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse fördert:31 dass ein literarisches Kunstwerk kaum mehr sei als die Transformation sozial inakzeptabler Triebregungen des Künstlers in ein gesellschaftlich honoriertes, den Konsumenten sanfte »Vorlust«32 spendendes Produkt. 30. Ebd., S. 293. 31. Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Bd. 1, S. 366. 32. Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1907/08), Bd. 10, S. 179.
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VI. Sublimierung der Natur
Die von Herablassung nicht freie Idee vom literarischem Werk als verkaufsfähigem Phantasieprodukt, das seinerseits bereits Resultat einer primären Abwendung von der Realität sein soll, verallgemeinert Freud dann für die Kunst überhaupt in den Formulierungen über die beiden Prinzipien des psychischen Geschehens, des Realitäts- und des Lustprinzips, von 1911: »Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Wege eine Versöhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann und seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben gewähren lässt. Er findet aber den Rückweg aus dieser Phantasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeit gestaltet, die von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung zugelassen werden. Er wird so auf gewisse Weise wirklich der Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne den gewaltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der Außenwelt einzuschlagen. Er kann dies aber nur darum erreichen, weil die anderen Menschen die nämliche Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen Verzicht verspüren wie er selbst, weil diese bei der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip resultierende Unzufriedenheit selbst ein Stück der Realität ist.«33
Die populär gewordene einfache Konzeption – die das Kunstwerk zum bloßen Mittel erklärt, die Triebwünsche in einer Art von Durchtriebenheit zu kompensieren, um sie dann unmittelbar realisieren zu können – steht quer zum Gedanken der Negativität der Kunst. Sie verträgt sich weder mit der formal auf Unverträglichkeit setzenden Kunst der Moderne, noch auch mit der von Kunst vielfach inhaltlich artikulierten Kritik an der Normpathologie einer Gesellschaft, die nicht nur deviante Triebregungen gängelt, ausschließt und ächtet. Freuds historisch nach Nietzsche, Ibsen und Dostojewskij konzipierte freundlich kränkende Vorlust ist reizlos im Vergleich mit einer Kunst im Zeichen der Dissonanz, dem »Signum aller Moderne«,34 die schrill oder verführerisch gegen die Fetischisierung des Realitätsprinzips selbst protestiert: »Wird erlangte Sublimierung und Integration zum Ein und Allen des Kunstwerks gemacht, so verliert es die Kraft, durch die es das Dasein übersteigt, von dem es durch seine bloße Existenz sich lossagt.«35 33. Freud: Formulierungen über die beiden Prinzipien des psychischen Geschehens (1911), Bd. 3, S. 22f. 34. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 29. 35. Ebd., S. 25.
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Freud ordnet Kunst und Künstler harmonistisch ein, womöglich seinerseits in Abwehr oder sogar etwas Neid. Er ordnet sie ein in die Realität und verstellt dergestalt den Blick auf eine Beschreibung eben dieser Realität als eines ästhetischen Phänomens, eine Optik, die seit Nietzsche zur Allianz zwischen ästhetischer Theorie und Metaphysikkritik führt. Sein Begriff des Dichtens ist auff ällig harmlos, »seltsam zurückbleibend übrigens hinter Freuds eigener Lehre von der ›Traumarbeit‹«,36 und das nicht nur im Hinblick auf formale Provokation oder (sozial)kritische Inhalte. Freud bricht, bürgerlicher Anwalt der Phantasie als bloßem Tagtraum, vorab die epistemologische Spitze einer Kunst, die in der produktiven Einbildungskraft ein dem Realitätsprinzip ebenbürtiges, ihm womöglich vorgelagertes, ein Welt bildendes Vermögen erblickt: das Imaginäre. Im Folgenden soll dem Eindruck widersprochen werden, Adornos Freudkritik beschränke sich auf diese Einsichten, die gleichwohl einleitend formuliert sind: »Das trotz aller Betonung des Sexus Spießbürgerliche ist daran zu demaskieren, dass durch die einschlägigen Arbeiten […] Künstler, deren œuvre die Negativität des Daseienden ohne Zensur objektiviert, als Neurotiker abgekanzelt werden. […] Kunstwerke sind der Psychoanalyse Tagträume; sie verwechselt sie mit Dokumenten.«37
Gezeigt werden soll, dass Adorno vermittels einer kühnen Integration der bei Freud unverbundenen und widersprüchlichen Theorieelemente die offene Frage nach dem Mechanismus der Sublimierung als unverzichtbar für die Formulierung einer Theorie der Produktion und Rezeption von Kunst auszeichnet und dergestalt ein stets noch akutes Problem, jenseits der Freudphilologie, namhaft macht. Da Begriff und Sache nicht überzeugend bestimmt sind – Laplanche und Pontalis vermerken, wie bereits erwähnt, das »Fehlen einer zusammenhängenden Theorie der Sublimierung«38 –, bleibt ästhetische Theorie selbst fragmentarisch: Ästhetische Theorie ist immer auch Theorie der Sublimierung. Paradox genug zählen Adornos Kritik und Theorie der Sublimierung, die in eine offene Frage münden, ihrerseits zu den durchgearbeiteten, abgeschlossenen Stücken der insgesamt fragmentarischen Ästhetischen Theo-
36. Ebd., S. 20. 37. Ebd., S. 19f. 38. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1992, S. 481.
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VI. Sublimierung der Natur
rie. Durch den »Eingriff des Todes ins Werk«39 wird die Provokation, die auch die zu Lebzeiten publizierten Werke Adornos bieten, fast zur Unlesbarkeit gesteigert. Der hermeneutische Zirkel, der das Verstehen im Pendelschwung zwischen Interpretation von Details und dem abgleichenden Blick aufs Ganze konstituiert, kann sich nicht schließen. Das Ganze, die abgeschlossene Ästhetische Theorie gibt es nicht. Gleichwohl dokumentieren einzelne Passagen des posthum publizierten Textes exemplarisch die Intentionen, die das Buch artikulieren sollte; in der mikrologischen Arbeit an Einzelproblemen aufzugehen und dabei stets den Zentralgedanken gegenwärtig zu halten sowie zu verschweigen: dass zur Kritik der Gesellschaft und damit für die ungeschmälerte, die beglückende Fülle der Erfahrung Kunst und deren Reflexion, Ästhetik, unabdingbar seien. Zu jenen, für den als Ruine überlieferten Bau der Ästhetischen Theorie beispielhaften Passagen zählen die Seiten, die von der Kritik der psychoanalytischen Kunsttheorie bis zur Rede vom Glück der Erkenntnis reichen. Deren Lektüre kann daher nicht nur dartun, was immanent geführte Kritik bei Adorno meint, sondern auch einen wie immer unzulänglichen Begriff dessen vermitteln, was dem Buch, wie es vorliegt, verloren ging. An der schlüssig geführten Freudkritik wird erkennbar, dass ästhetische Theorie, formuliert im Zeichen des Glücks und der »fessellose[n] Möglichkeit«, 40 aus dem von Freud als unentrinnbar, als Schicksal erachteten Unbehagen in der Kultur heraushelfen kann. Durch Adornos verblüffende Wendung wird nicht nur die latente Komplexität der Freud’schen Lehre deutlich, sondern auch – und eine Ausarbeitung dieses Gedankens hat Herbert Marcuse versucht – dass eine Theorie der Sublimierung nicht nur eine Theorie des Verzichts, des Mangels, der Entsagung oder der Kompensation formuliert, sondern immer auch eine Theorie der Lust und der Fülle schreibt.
2.1 Um den Argumentationsgang der Rekonstruktion Adornos sichtbar machen zu können, ist ein erneuter kurzer Gang durch die verstreuten Bemerkungen Sigmund Freuds zur Sublimierung unvermeidlich. Dem Studium zeigt sich erstens, dass die Notizen nicht zu einer kohärenten Theorie zusammengeschlossen wurden. Womöglich resultiert aus dieser Offenheit des Terminus dessen semantischer Erfolg, der sich vom Namen der erhabensten Kunstleistung bis hin zur widerwillig akzeptierten Bewäl-
39. Vgl. das Editorische Nachwort Rolf Tiedemanns in: Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 537. 40. Ebd., S. 25.
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tigung von Alltagsfrustrationen ausspannt. Drei Hauptbedeutungen ragen gleichwohl hervor: Freud expliziert eine Sublimierung A am Beispiel des Dichters, dann des Künstlers überhaupt: Die Produktion von Kunst ist ein exemplarischer Fall von Sublimierung: »Seine Majestät das Ich [gibt] den Helden aller Tagträume und aller Romane.« 41 Darüber hinaus kennt Freud zweitens eine Sublimierung B, die Rezeption von Kunst: Er notiert, »dass der eigentliche Genuss des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele hervorgeht.« 42 Beide Formen von Sublimierung sind Spezialfälle einer allgemeinen Begabung des von der Natur entfremdeten Menschen zu einer Sublimierung C, welche die kulturelle Entwicklung der Menschheit allererst ermöglicht, eine Entwicklung, die stets bedroht bleibt durch drei Quellen des Leids, die feindselige Natur, den gebrechlichen Körper, die nicht immer wohlwollenden Anderen: »Eine andere Technik der Leidabwehr bedient sich der Libidoverschiebungen, welche unser seelischer Apparat gestattet, durch die seine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt. Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben.«43
Was die drei prominenten Formen der Sublimierung im Hinblick auf die Trieblehre strukturell ermöglicht, das ist die Option der Libidoverschiebung, die Fähigkeit, ein Objekt durch ein anderes zu substituieren, wie Freud anderer Stelle erläutert: »Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist das variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet.«44
Da Freud mindestens zwischen Sexual- und Selbsterhaltungstrieb differenziert, ist zu betonen, dass sich in den Notizen zur Sublimierung die Aufmerksamkeit, wie dann auch im allgemeinen Sprachgebrauch, vor al41. Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1907/08), Bd. 10, S. 176. 42. Ebd., S. 179. 43. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 211. 44. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915), Bd. 3, S. 86.
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lem auf den Sexus richtet, wobei festzuhalten bleibt, dass sich hier eine gewisse Inkonsistenz einzuschleichen beginnt. Sublimierung kann sowohl meinen, ein Sexualobjekt einfach durch ein anderes zu ersetzen, aber auch Desexualisierung, eine qualitative Veränderung in Bezug auf das Objekt, und schließlich jenen weitreichenden Triebverzicht, der Zivilisation ermöglichen und zugleich das bleibende Unbehagen in ihr bewirken soll: »Die Sublimierung ist ein Prozess an der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen.«45
Bei Freud finden sich, so weit ich sehe, keine Ausführungen darüber, in welchem Verhältnis die hier, wie dann bei Adorno, unterschiedenen Formen von Sublimierung A, B, und C zueinander stehen, wohl aber einzelne Verfeinerungen der Struktur der Libidoverschiebung, die dann ebenfalls in Adornos Rekonstruktion eingehen, als die entscheidende Beobachtung einer Veränderung im Interesse selbst. In der Studie über Das Ich und das Es behauptet Freud, dass die Verschiebung der Objektlibido stets vermittelt sei über einen Zwischenschritt, eine transitorische narzisstische Wendung, eine zeitweilige Abwendung von der Dingwelt: »Ein anderer Gesichtspunkt besagt, daß diese Umsetzung einer erotischen Objektwahl in eine Ichveränderung auch ein Weg ist, wie das Ich das Es bemeistern und seine Beziehungen zu ihm vertiefen kann, allerdings auf Kosten einer weitgehenden Gefügigkeit gegen dessen Erlebnisse. Wenn das Ich die Züge des Objektes annimmt, drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf, sucht ihm seinen Verlust zu ersetzen, indem es sagt: ›Sieh‹, du kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt so ähnlich.‹ Die Umsetzung von Objektlibido in narzisstische Libido, die hier vor sich geht, bringt offenbar ein Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art von Sublimierung. Ja, es entsteht die eingehender Behandlung würdige Frage, ob dies nicht der allgemeine Weg zur Sublimierung ist, ob nicht alle Sublimierung durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht, welches zunächst die sexuelle Objektlibido in narzisstische verwandelt, um ihr dann vielleicht ein anderes Ziel zu setzen.«46
Freud ergänzt in dieser Passage den Mechanismus der Libidoverschiebung durch die Idee einer bei ihm freilich neutral gehaltenen Veränderung des Ich selbst. Das Ich kann sich dem Es nur dadurch zeitweilig als Übergangsobjekt anbieten, indem es Züge des verlorenen oder unerreichbaren 45. Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914), Bd. 3, S. 61f. 46. Freud: Das Ich und das Es (1923), Bd. 3, S. 297f.
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Objektes in sich aufnimmt, sich selbst qualitativ verändert, wodurch sich die Möglichkeit einer Desexualisierung überhaupt erst abzuzeichnen beginnt. Hier wird ein von fern her an das Symposion Platons erinnernder Sublimierungsbegriff skizziert – der Weg von einem zu weiteren Leibern ermöglicht die Bildung von Ideen des Körpers und der Schönheit –, der von Adorno brillant zur Vermittlungskategorie zwischen Philosophie und Psychologie, hier: zwischen Kant und Freud, elaboriert wird. Das Ich macht eine Erfahrung, nimmt Welt unter Schmerzen in sich auf, differenziert sich und kommt damit auf die Bahn eines über das Partikulare hinausweisenden, von unmittelbarem Begehren geläuterten Interesses. Die ursprüngliche Option der Libidoverschiebung ist die Bedingung der Möglichkeit von Differenzierung, der psychogenetische Ursprung ästhetischen Bewusstseins, des erotisch interesselosen Wohlgefallens, das keinen »kastrierten Hedonismus« meint, sondern umgekehrt: »Interesselosigkeit reproduziert, verändert, das Interesse.« 47 Der Nachvollzug der Freud’schen Sublimierungslehre wird erschwert nicht nur durch die Mehrdeutigkeit des Terminus und dessen komplizierte Verschaltung mit dem Problem des Narzissmus. Die Problematik, die Freud hinterließ, besteht in der Unentschiedenheit im Hinblick auf die Bewertung der Sublimierung. Der Begriff verliert, obschon ausgezeichnet als kardinale Maßnahme der Leidbewältigung, niemals ganz den Aspekt von traurigem Surrogat, das Moment eines Verzichts auf ›das Eigentliche‹. In der theoretischen Uneindeutigkeit bei Freud kehrt das ambivalente Verhältnis wieder, das seinen Beobachtungen zufolge das Subjekt zu seinen Sublimationsleistungen notwendig unterhält, eine Ambivalenz, für die Freud am Ende den Begriff des bleibenden Unbehagens einführt. Die Frage, die Freud nicht löst – und das mag der Hauptgrund sein, warum die Sublimierungslehre fragmentarisch blieb – ist, ob es gelungene Sublimierung, einen beglückenden Ersatz ohne den bitteren Beigeschmack von Verzicht, überhaupt geben kann. Das Problem bricht bereits im frühen Vortrag über den Dichter auf: »Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust. Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines mit dem anderen; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder Surrogatbildung. […] Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind
47. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 26.
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die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.«48
Letztlich ist die Arbeit des Dichters in Freuds Optik nur ein langer Umweg, dessen Ziel nicht die Werke bilden – die vielmehr nur ungeliebte Mittel zum Zweck sind –, sondern die sozialen Gratifi kationen, insbesondere der ersehnte erotische Erfolg. Was der Text über den Dichter an einem Spezialfall diskutiert, der die Sublimierung bleibend als Uneigentliches, als Surrogat markiert, weitet sich in der späten melancholischen Schrift über Das Unbehagen in der Kultur zu einer allgemeinen Erklärung darüber, warum es den Menschen nie gelungen sei, sich wohl zu fühlen in ihrer Zivilisation. In der folgenden Passage differenziert Freud zwar verbal zwischen Triebsublimierung und Triebverzicht, doch verschwimmen beide Prozesse bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander, insofern die Triebsublimierung als »erzwungenes Triebschicksal« faktisch nichts anderes ist als ein erzwungener Triebverzicht: »Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen. […] endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese ›Kulturversagung‹ beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.«49
Die hier nur scheinbar etablierte Differenz zwischen Triebsublimierung und -verzicht – redlich genug gesteht Freud zu, dass noch viel Überlegung zu leisten bleibe, wozu es bei ihm dann nicht kommt – lässt sich mit Blick das Corpus Freud’scher Schriften eigentlich nur plausibilisieren unter Rückgriff auf die im Freudkapitel des vorliegenden Buches bereits diskutierte Unterscheidung zwischen dem unersättlichen Neurotiker einerseits und dem schlichten genügsamen Menschen anderseits. Gewissermaßen steigt der Anspruch des Triebes entsprechend mit der Fähigkeit zur Idealbildung. Je feiner die Fähigkeit zur Sublimierung ausgebildet ist, umso 48. Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1907/08), Bd. 10, S. 172f. 49. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1929/30), Bd. 9, S. 227f.
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schärfer wird bewusst, dass verzichtet werden soll, so dass sich die Verhältnisse am Ende umkehren: je umfänglicher die Sublimationsleistung umso größer die Sehnsucht nach dem ungegängelten Leben. Den Fluchtpunkt der zweischneidigen oder auch: latent dialektischen Sublimierungslehre bildet daher auch bei Freud der Protest gegen Realität selber, das Bewusstsein einer Negativität des Daseienden. Zuletzt generiert die Differenzierung dergestalt die Wiederkehr des Archaischen: »Dem Interesselosen muß der Schatten wildesten Interesses gesellt sein, wenn es mehr sein soll als nur gleichgültig.«50
2.2 Die nicht integrierten Elemente und Widersprüche der Sublimierungslehre Freuds waren erneut kurz zu referieren, weil sich so die Sorgfalt Adornos wahrnehmen und würdigen lässt, die im Text der Ästhetischen Theorie in einer Mischung von Stolz und understatement nahezu unsichtbar wird. Adorno gilt exzellentes Schreiben als wesentlicher Teil philosophischer Arbeit, das lax Gesagte als schlecht gedacht. Und es gehört zu den ersten Maßnahmen eines Stilisten, das Gestänge etwa einer Semantik von Sublimierung im Fluss der Sprache verschwinden zu lassen. Der Nachteil des Verfahrens besteht darin, dass sprachverliebte Leser womöglich weniger den Gedankengang erinnern, sondern eher die polemischen Bemerkungen oder boshaften Anekdoten, etwa die Geschichte vom Analytiker, der sich darüber ärgert, dass eine neurotische Künstlerin die Stiche scheußlich findet, die an den Wänden der Praxis hängen und ihr das als Aggression vorrechnet. Die Differenzierung in drei Arten der Sublimierung steht gleichwohl hinter Adornos Rekonstruktion und Kritik ebenso wie das Wissen um den skizzierten narzisstischen Zwischenschritt sowie schließlich das Paradox eines Umschlags von Differenzierung ins nicht zu unterdrückende Bewusstsein des Triebs, das Adorno zur Dialektik der Sublimierung ausarbeitet, insgesamt also ein akribisches Freudstudium. Exemplarisch wird erkennbar, wie Adorno arbeitet, verstreute Theorieelemente rekonstruiert, dann zusammenschließt, um zuletzt die ungelösten Widersprüche als latent produktive Gedanken erkennbar werden zu lassen. In formelhafter Verkürzung besteht Adornos Argumentationsfigur in Folgendem: Nur indem das Subjekt die fundamentale Erschütterung (Sublimation B: Rezeption) durch Kunst (Sublimation A: Produktion) erfährt, wird es in vollem Umfang des Preises inne, den der Prozess der Zivilisation (Sublimation C) gekostet hat und erkennt es zugleich, dass dieser Pro50. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 24.
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zess nicht unentrinnbar gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf Glück und chronischem Unbehagen. Es verhält sich bei Adorno umgekehrt, und das ist die kulturtheoretische Differenz zu Freud, der Schritt ins historisch und artistisch Offene: Im Durchgang durch die Erschütterung durch Kunst, die an den dauernden Schmerz des Zivilisationsprozesses erinnert, gewinnt das Subjekt allererst einen validen Begriff von Glück, der die Mitte hält zwischen »Erinnerung und Sehnsucht«.51 Wie der Blick in die Schriften Freuds zeigt, ist diese Konzeption – die der Produktion und Rezeption von Kunst einen zentralen anthropologischen Rang zumisst – nicht von außen an diesen herangetragen, sondern in all ihren Elementen aus dem vorliegenden Material heraus gewonnen, auf dem Weg immanenter Kritik, womit sich die methodologische Dimension des Denkens Adornos konturiert: Die philosophische Konstruktion, hier der Kunst, erwächst nicht aus dem Nichts und a priori, sondern strikt a posteriori, aus der Durcharbeitung des historisch vorliegenden Materials, über das sie sich nur um einen Hauch erhebt. Adornos Gedankengang beginnt mit der oben referierten Kritik, Psychoanalyse verwechsle Kunstwerke mit Dokumenten, identifi ziere sie mit neurotischer Symptombildung: »Nicht einmal am Horizont regt sich die Frage, ob [Baudelaire] als psychisch Gesunder die Fleurs du mal hätte schreiben können«.52 Gleichwohl wird gegen die Reste konservativ-idealistischer Kunsttheorie die Aufklärung festgehalten, die Freud leistet: »Die psychoanalytische Kunsttheorie hat vor der idealistischen voraus, daß sie ins Licht rückt, was im Inwendigen der Kunst selbst nicht kunsthaft ist. Sie hilft, Kunst aus dem Bann des absoluten Geistes herauszuholen.«53 Erweist sich dergestalt einerseits der Nutzen psychoanalytischer Kunstbetrachtung darin, die triebhafte Dimension ästhetischer Gebilde freigelegt zu haben und damit deren anthropologische Relevanz und kritische Dimension, verfehlt sie auf der anderen Seite sowohl die Objektivität des Kunstwerks wie auch der Verhältnis zwischen Künstler und entstehendem Werk. In einem Satz komprimiert Adorno daher das Programm der eigenen Ästhetischen Theorie, die ihren Ausgang von der Seinsart des Kunstwerks nimmt: »Kunstwerke sind ihr [der Psychoanalyse] nichts als Tatsachen, aber darüber versäumt sie deren eigene Objektivität, ihre Stimmigkeit, ihr Formniveau, ihre kritischen Impulse, ihr Verhältnis zur nicht-psychischen Realität, schließlich ihre Idee von Wahrheit.«54 51. Ebd., S. 29. 52. Ebd., S. 20. 53. Ebd. 54. Ebd., S. 21.
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Der Abriss des eigenen Vorhabens wird als Argument wider Freud erst erkennbar in dem Augenblick, in dem die Skizze zur Objektivität der Werke zusammengesehen wird mit der Arbeit des Künstlers. Mag das Kunstwerk im Ansatz phantastische Durcharbeitung subjektiver frustrierter Triebregungen sein, eine rein narzisstische Angelegenheit, erweist sich im Prozess die Arbeit an sich selbst als Arbeit an der Welt: »[Psychologie der Kunst] hätte das Kunstwerk nicht nur als das dem Künstler Gleiche zu dechiffrieren, sondern als Ungleiches, als Arbeit an einem Widerstehenden.«55 Rekonstruktion und Überschreitung Freuds greifen hier subtil ineinander. Auf den ersten Blick erscheint Freuds Kunsttheorie als eminent realistisch, als Entzauberung künstlerischer Arbeit einerseits, die auf Triebregungen zurückgeführt wird, anderseits aber in ihrer entzaubernden Sicht auf die Kunstwerke selbst, die ihr nur Tagträume und dann Dokumente sind. Was in Freuds Theorie der Libidoverschiebung als Widerspruch angelegt war, entfaltet sich im Fall der Kunst in seinem vollen Umfang: Die ursprünglich rein narzisstische, transitorische Rückwendung des Ich auf sich selbst, auf ein vermeintlich Sich-Gleiches, erweist sich in der Auseinandersetzung mit dem Artefakt als Arbeit an einem Ungleichen. In der Produktion des Kunstwerkes verobjektiviert sich dergestalt der Prozess einer fortgesetzten Differenzierung des Ich, das sich der Welt zuund wieder von ihr abwendet, und in der Arbeit an sich selbst zugleich mit der Welt und mit sich selbst vermittelt. Kunstwerke, von Adorno als dem Künstler Ungleiches und Forderungen eigener Art Widerstehendes gedacht und, wie es vielfach dokumentiert ist, auch von Produzierenden selbst faktisch als Arbeit an einem Widerstrebendem erfahren, erweisen sich als Modelle des Welt- und Selbstverhältnisses der Subjekte. Adorno kann daher den »Kultus, den die Psychoanalyse mit dem Realitätsprinzip treibt«,56 in der Tat als Kultus erweisen, als Abbruch der Reflexion: Realität ist kein Fixes, ein für allemal Bestimmtes, genauso wenig wie das Subjekt, sondern beide sind einander Ungleiche, die sich fort und fort bestimmen. Und es ist exemplarisch die Erfahrung, Kunstwerke zu produzieren, die diese Einsicht ermöglicht: Was im Ansatz als Selbstbegegnung konzipiert worden sein mag, erweist sich im Vollzug der Arbeit als Erfahrung einer Differenz, des Subjekts mit sich und mit der Welt. Die Reflexion auf die Produktion von Kunst stellt sich damit als Ergänzung zur anthropologischen Wendung kantischer Erkenntniskritik heraus, die die Dialektik der Auf klärung als Analyse der Projektion begonnen hatte. Besteht der Dialektik der Auf klärung zufolge Wahrnehmung der Welt stets aus objektiven Sinnesdaten und projektivem Material, so kann das Subjekt 55. Ebd. 56. Ebd.
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VI. Sublimierung der Natur
sich nur dann begreifen, wenn es Welt begreift. Indem es Welt erkennt, erkennt es zugleich sich selbst, insofern die Konstitution der Welt projektive Anteile immer einschließt: »In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts.«57 Die Ästhetische Theorie nähert sich, in Ausarbeitung der Freud’schen Verknüpfung von Sublimierungslehre und dem sie vermittelndem narzisstischen Zwischenschritt, der Verschränkung von Subjekt und Welt, von der Seite des einsam produktiven Subjektes her. Im Prozess der Sublimierung wird das Subjekt, da es im vermeintlich aus sich selbst entsponnenen Kunstwerk einem ihm Widerstehenden begegnet, seines Weltbezugs inne, so dass sich der Satz über die Wahrnehmung aus der Dialektik der Auf klärung reformulieren lässt: Indem das Subjekt im Zuge der Arbeit am Kunstwerk dessen Objektivität, Stimmigkeit, Form, Impuls, Wahrheit erfährt, begreift es, dass es in der Welt ist und an dieser arbeitet, indem es an sich selbst arbeitet: »Hat Kunst psychoanalytische Wurzeln, dann in der Phantasie von Allmacht. In ihr ist aber auch der Wunsch am Werk, eine bessere Welt herzustellen. Das entbindet die gesamte Dialektik, während die Ansicht vom Kunstwerk als einer bloß subjektiven Sprache des Unbewußten sie gar nicht erst erreicht.«58
Der Beschluss des ersten Schritts in Adornos Gedankengang ist vor dem Hintergrund der Projektionslehre und der Freud’schen Theorie mithin kein Appell in dem Sinne, künstlerischer Arbeit eigne stets der moralistische Wille zur besseren Welt. Die Dinge verhalten sich komplizierter: Die Arbeit am widerständigen Kunstwerk frustriert das magische Phantasma der Allmacht des Subjekts sogar in Bezug auf es selbst. Die Arbeit an Kunst, Sublimierung gelingt, wenn das arbeitende Subjekt der Objektivität des Werkes sich überlässt, dem Formgesetz folgt, der eigenen Stimmigkeit entspricht, der Richtung nachgibt, in die das Werk will. In dieser Hingabe, die über die Frustration der archaischen Allmachtsphantasie Sublimierung und damit eine nicht phantasmatische, nicht wahnhafte Befreiung von Fixierung und dergestalt Ichstärke ermöglicht, scheint ein zum Modell der aggressiven Naturbeherrschung alternatives Weltverhältnis auf. Indem das Subjekt sich hingibt, gewinnt es sich selbst und eine differenziertere Welt, und das unabhängig von irgendwelchen subjektiven moralischen Intentionen. 57. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2004, S. 198. 58. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 21f.
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Jenseits des Unbehagens
2.3 Um zum Ziel des Arguments zu gelangen, der Erfahrung von Glück in der Erfahrung des Kunstwerkes, folgt auf die ambitionierte These zur Objektivität des Kunstwerks und der entsprechenden Theorie der Kunstproduktion die Entfaltung der strikten »Antithesis«,59 der Kant’schen Lehre vom interesselosen Wohlgefallen. Adorno benötigt den Blick auf Kant aus zwei Gründen: Zum einen gibt Kants Lehre vom Formalschönen seiner Theorie von der Objektivität der Kunstwerke, die gegen Freuds Rückführung des Werkes aufs Dokument geltend gemacht wurde, historischen Sukkurs. Kant entdeckt, was Adorno dann in viel größerer Nähe zu konkreten Kunstwerken entfaltet: die Eigengesetzlichkeit der Kunst, die Objektivität ihrer Formen und Muster, die Tendenz des Materials, die eigene Stimmigkeit: Kant unternimmt den »Versuch der Rettung von Objektivität vermöge der Analyse subjektiver Momente.«60 Die zweite, bei Freud nicht entwickelte Einsicht, die Adorno Kant zu entnehmen weiß, besteht im Wissen, dass im Prozess der Sublimierung, insofern sie nicht nur eindimensional ein Triebobjekt durch ein anderes ersetzt, sondern die Triebziele nicht mehr unmittelbar sexuell wählt, das Subjekt sich selbst verändert, differenzierter wird. Gewissermaßen verliert das Subjekt in der, auf dem Wege der Erfahrung vollzogenen Sublimierung die Fähigkeit, noch so roh zu genießen, wie es der ursprüngliche Wunsch vorgab. Oder auch: Es gewinnt ein reicheres Verhältnis zur Welt; der Gedanke an Glück bekommt damit das Janus-Gesicht, auf das Adornos Argumentation insgesamt zuläuft: Erinnerung an verlorene archaische Fülle und Sehnsucht nach Vollendung in vollkommener Ausdifferenzierung und also ungeschmälerter Erfahrung der Fülle der Welt. Indem Kant darauf insistiert, »dass ästhetisches Verhalten von unmittelbarem Begehren frei sei«,61 gewinnt er nicht nur die Idee einer Sublimierung, die das Subjekt substantiell verändert, sondern zugleich einen Begriff der »ästhetischen Sphäre«62 jenseits einer Empirie, die dadurch umgekehrt des vermeintlichen Absolutheitsanspruchs fortan entkleidet wird. Produktion und Rezeption werden objektiv kritisch: »Ästhetische Interesselosigkeit hat das Interesse erweitert, über seine Partikularität hinaus.«63
59. Ebd., S. 22. 60. Ebd. 61. Ebd., S. 23. 62. Ebd. 63. Ebd., S. 25.
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VI. Sublimierung der Natur
2.4 Insofern der Prozess der Herstellung von Kunstwerken zur Alternative abstrakter Naturbeherrschung avanciert, besteht latent die Gefahr, dass die Ästhetische Theorie in der Tradition des 19. Jahrhunderts den Künstlertypus zum Repräsentanten gelungenen Lebens promoviert. Um dieser Tendenz zu begegnen, lässt Adorno seine Auseinandersetzung mit der Sublimierungslehre in einer Theorie der von Freud nur rudimentär geleisteten Kunstrezeption münden, in der sich, über das Moment der Hingabe, die produktive, und über die Möglichkeit zur distanzierten Reflexion des gesamten Prozesses, die philosophische Dimension amalgamieren. Um die Synthesis zu ermöglichen, muss zunächst der Realist in Kant und dann der Idealist in Freud freigelegt werden, was Adorno in einem Satz gelingt: »Wird erlangte Sublimation und Integration zum Ein und Allen des Kunstwerks gemacht, so verliert es die Kraft, durch die es das Dasein übersteigt, von dem es durch seine bloße Existenz sich lossagt.«64
Gegen das interesselose Wohlgefallen Kants ist hier festgehalten, dass das Kunstwerk »als Kündigung unmittelbarer Praxis« selbst ein Praktisches ist: »Nur Kunstwerke, die als Verhaltensweise zu spüren sind, haben ihre raison d’etre.«65 Gegen die Sublimierungslehre Freuds wird der ihr selbst eigene, wenn auch unterdrückte Fluchtpunkt pointiert: dass die Sublimierung ihrerseits Ausdruck einer widerständigen Kraft sei, die im Protest gegen eine absolut gesetzte Realität kulminiert, und nicht »in der psychischen Leistung des Triebverzichts, schließlich der Anpassung«, aufgeht.66 Die Durchführung von These und Antithese gibt zuletzt den Glücksbegriff frei, der Adornos Theorie der Rezeption von Kunst leiten wird durch die Phasen der Hingabe und Erschütterung hindurch: »Promesse du bonheur heißt mehr als dass die bisherige Praxis das Glück verstellt: Glück wäre über der Praxis. Den Abgrund zwischen der Praxis und dem Glück mißt die Kraft der Negativität im Kunstwerk aus.«67
Adorno schreitet rasch nach diesem Einschnitt fort; über die Abwehr konkretistischen Kunstgenusses und den Hinweis auf den genuinen Bezug zur Kunst als eines Erlöschens der Subjektivität, der bei reproduzierenden 64. Ebd. 65. Ebd., S. 26. 66. Ebd., S. 25. 67. Ebd., S. 26.
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Jenseits des Unbehagens
Künstlern, insbesondere Musikern, zu beobachten sei, gelangt er zu einer aphoristischen Verdammung bürgerlichen Konsumverhaltens, die sowohl die double binds bürgerlicher Existenz als auch den Reinheitsfetisch der zweiten Moderne persifliert: »Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser.«68 Die musikalische Dimension des Adorno’schen Schreibens selbst, die artistische Führung des Textes lässt sich auf den letzten Seiten exemplarisch studieren, insofern er nach den extrem verdichteten und ernsten Ausführungen über Freud und Kant den Gang des Gedankens zeitweilig lockert, durch die Vermehrung von bonmots und boshafter Notizen dem Leser nach konzentrierter Arbeit am Begriff einerseits eine Atempause gönnt und durch Humor zugleich die Sache vorbereitet, die es abschließend dissonant zu etablieren gilt: die Erfahrung von Glück. Kaum anders als durch Schönheit der Prosa und durch Humor lässt sich in einem philosophischen Text ein Glücksgefühl vermitteln: Der Seitenblick auf den ästhetischen Gourmet, den Worte wie Ohrenschmaus überführen, der Witz über den Cellisten, der I just hate music flucht, bevor er unter Toscanini hinreißend spielt, oder der Hinweis auf die nackte griechische Statue, die kein pin-up gewesen sei – durch all das wird vorbereitet, worum es geht: die Erfahrung von Kunst als eine von Glück durch die Destruktion des Begriffs des Kunstgenusses zu etablieren: »Das Glück an den Kunstwerken ist jähes Entronnensein, nicht ein Brocken dessen, woraus Kunst entrann; stets nur akzidentell, unwesentlicher für die Kunst als das Glück ihrer Erkenntnis; der Begriff des Kunstgenusses als konstitutiver ist abzuschaffen.«69
Am Ende des Kapitels zu Freud und Kant steht überraschend ein nachgerade skandalöser Widerspruch: Auf der einen Seite steht die wiederholte Lehre, das adäquate Verhalten dem Kunstwerk gegenüber bestehe im Verschwinden in diesem, im Erlöschen, in der Hingabe, eine Lehre, die sich in ihrer Sensualität ausnimmt wie eine unmittelbare Reproduktion der Freud’schen These vom Tagtraum und der betäubenden Vorlust in ihrer eigentümlich sanften Sinnlichkeit: »[W]er im Kunstwerk verschwindet, wird dadurch dispensiert von der Armseligkeit des Lebens, das immer zu wenig ist.«70 Schroff steht dieser Akzentuierung sinnlicher Erfahrung sowohl die Abschaff ung des Kunstgenusses gegenüber, an dessen Stelle das Glück der Erkenntnis gesetzt wird, als auch der Schlusssatz übers Standhalten: 68. Ebd., S. 27. 69. Ebd., S. 30. 70. Ebd., S. 28.
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VI. Sublimierung der Natur
»Glück an den Kunstwerken wäre allenfalls das Gefühl des Standhaltens, das sie vermitteln. Es gilt dem ästhetischen Bereich als ganzem eher als dem einzelnen Werk.«71
Der Widerspruch zwischen Hingabe und Erkenntnis, Verschwinden und Standhalten ist nur scheinbar, zwingt indes zum Studium des ganzen Buches, will man zu seiner Aufhebung gelangen, die in gewissem Sinne erst durch die Ästhetische Theorie als Ganze hätte geleistet werden können: Die Hingabe an das Kunstwerk ist Erkenntnis, in der Erschütterung durch das Kunstwerk besteht das Standhalten. Wie im zentralperspektivisch gegliederten Bildraum, so liegt der Fluchtpunkt des Kapitels, die Auf hebung des scharfen Widerspruchs zwischen Hingabe und Gedanke, außerhalb seiner, am Ende der Ästhetischen Theorie und in den Paralipomena. Der Fluchtpunkt »gehört dem Augenblick an, in denen der Rezipierende sich vergißt und im Werk verschwindet: dem von Erschütterung. Er verliert den Boden unter den Füßen; die Möglichkeit der Wahrheit, welche im ästhetischen Bild sich verkörpert, wird ihm leibhaft. […] Erschütterung, dem üblichen Erlebnisbegriff schroff entgegengesetzt, ist keine partikulare Befriedigung des Ichs, der Lust nicht ähnlich. Eher ist sie ein Memento der Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit und Endlichkeit inne wird.«72
So die eine Formulierung, die andere erkennt im Begriff ästhetischer Transzendenz erneut »die Selbstnegation des Betrachtenden, der im Werk virtuell erlischt. […] Der Schmerz im Angesicht des Schönen ist die Sehnsucht nach jenem vom subjektivem Block dem Subjekt Versperrten, von dem es doch weiß, daß es wahrer ist als es selbst. Erfahrung, die des subjektiven Blocks ledig wäre, wird eingeübt von der Ergebung des Subjekts ins ästhetische Formgesetz.«73
Im hohen Zeichen des Platonischen Phaidros, der den Schmerz im Angesicht des Schönen mit der Anamnesis-Lehre mythologisch herleitete, führt Adorno Kant, Freud und die Dialektik der Auf klärung zusammen. Mit den großen Kunstwerken – immer wieder gibt Beethoven das bevorzugte Beispiel – ist ein Doppeltes realisiert: Die Sublimierung stößt vor in den Bereich des Imaginären, der der Empirie entragt und ihren Anspruch bricht, 71. Ebd., S. 29. 72. Ebd., S. 363f. 73. Ebd., S. 396.
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Jenseits des Unbehagens
die einzige Wirklichkeit zu sein. Zugleich mit der Erscheinung einer zweiten Welt in der ersten wird die Konstitution des Subjektes, das dieser ersten Welt verkrampft zu entsprechen sucht, leibhaft erschüttert: »[Z]uzeiten bekundete kreatürliche Trauer als metaphysischer Gehalt sich«74 – in dem präzisen Sinne, dass die blind als Objekt der Naturbeherrschung ausgelegte Welt dem Subjekt Verhärtung gegen sie abverlangte und Trennung. Das erschütterte Subjekt gibt sich dem Werk hin und erinnert sich einer mimetischen Nähe, die es verlor. Zugleich aber ist diese Hingabe nicht eine an Natur unmittelbar, sondern ans ästhetische Formgesetz, das der Empirie, Natur und Gesellschaft gleichermaßen, entragt: Die regressive Erfahrung der Hingabe schlägt damit um in die Sehnsucht nach einer Welt, die dem uralten Naturzwang entronnen wäre, ohne ihn dadurch zu erneuern, dass sie ihn durch Naturbeherrschung zu brechen sucht. Es ist für Adorno die Erfahrung des Kunstwerks, die als regressives Verhalten die zwischen Erinnerung und Sehnsucht balancierende Erkenntnis freigibt, dass Glück jenseits bloßer Natur und der sie beherrschenden Praxis läge. In der Konsequenz der Theorie Freuds lag die unmittelbare Wiederkehr archaischer Triebwünsche auf dem Höhepunkt der Sublimierung. Indem Adorno die Theorie durchdenkt, gelangt er über die Antithese von Trieb und Sublimierung hinaus: Nur falsche Sublimierung, deren Ziel Anpassung und Eingliederung bilden – die narzisstische Idealisierung bei Freud –, reproduziert den archaischen Triebwunsch wie er war: weil er nie verändert wurde. Ästhetische Erfahrung, wie Adorno sie konzipiert, differenziert den Triebwunsch, indem Sublimierung begriffen wird als Differenzierung und Protest gegen die Welt unter »der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung«,75 der das identische, starre Selbst korrespondiert. In der Erschütterung durch das Kunstwerk übt das verhärtete Subjekt ein Verhalten zu sich und zur Welt ein, das nach der Dialektik der Auf klärung eine andere Welt denkbar werden lässt: »Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist.«76
Die ganze Natur, Subjekt und Welt. Was die Dialektik der Auf klärung begründet, führt die Ästhetische Theorie fort, indem sie die womöglich missverständliche Idee eines Eingedenkens der Natur im Subjekt weiterführt: 74. Ebd., S. 29. 75. Ebd., S. 26. 76. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung (Anm. 57), S. 198.
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VI. Sublimierung der Natur
Indem das Subjekt der Natur in ihm selbst eingedenk wird in der Erfahrung von Kunst, hat es sowohl sich als auch Natur zu verändern begonnen, gelangt es über beide hinaus. Kritische Theorie ohne Ästhetische Theorie wäre unvollständig. Im Begriff einer ›Sublimierung von Natur‹ ist die Doppelbedeutung aufgehoben, die Emanzipation von Natur und zugleich deren Aufhebung: »Keine Sublimierung glückt, die nicht in sich bewahrte, was sie sublimiert.«77
77. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 24), S. 145.
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VII. Das Ding. Jacques Lacans Luther
1. Wir haben etwas verloren, etwas fehlt uns, um glücklich zu werden. Da ist eine schmerzhafte Leere, ein Loch, das gefüllt werden muss.1 Unser ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, dieses verlorene Objekt, dieses begehrte ›Ding‹ wiederzufinden, an dessen einmal genossene Präsenz uns tatsächlich oder vermeintlich das »ozeanische Gefühl« erinnert.2 Unser Leben ist ›eigentlich‹ nichts anderes als der Versuch, die Wonnen des primären Narzissmus zu restituieren, denn »der Mensch hat sich hier, wie jedes Mal auf dem Gebiete der Libido, unfähig erwiesen, auf die einmal genossene Befriedigung zu verzichten.«3 Wir wehren möglichst alles ab, was unseren Narzissmus frustriert: Die Differenz zwischen Fremdbewertung und grandioser Selbstwahrnehmung wird »verdrängt«. Kritische Beobachtungen, die unsere Herrlichkeit in Frage stellen, werden entweder »in voller Empörung zurückgewiesen oder bereits vor ihrem Bewußtwerden erstickt.« 4 Neben der Verdrängung gibt es eine zweite kardinale Maßnahme: Wir retten unsere permanent bedrohte Selbstliebe, indem wir sie auf ein Ichideal verschieben, das wir ›vor uns hin projizieren‹5 als ein schönes Bild, das wir von uns haben. Wir kom1. Vgl. Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII (1959-60), übers. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1996, S. 110. Zitate aus dem Seminar VII werden im Folgenden durch Angabe der Seitenzahl in runden Klammern im Fließtext belegt. 2. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930) Bd. 9, S. 197. 3. Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914), Bd. 3, S. 61. 4. Ebd., S. 60. 5. Vgl. Ebd., S. 61.
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Jenseits des Unbehagens
pensieren etwa gegenwärtige Frustrationen durch beglückende Phantasien und Tagträume über eine garantiert großartige Zukunft, von der alle die nichts wissen, die uns gegenwärtig schlecht behandeln. Das Ichideal des Menschen »ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.«6 Womöglich werden wir fähig, einen Kompromiss zu schließen, und geben vor uns und auch vor den anderen zu, dass ein Abgrund klaff t zwischen dem wirklichen und dem idealen Ich. Wir entwickeln vielleicht einen hohen Anspruch an uns selbst, und unser Leben hat den Sinn, die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit zu schließen. An die Differenz zwischen beidem mahnt uns das Gewissen, zuweilen mit beißenden Schuldgefühlen. Hören wir genau auf die Stimme des Gewissens, stellen allerdings wir fest, dass das Ichideal, das unsere Frustrationen als glitzerndes Versprechen einer idealen Zukunft kompensieren soll, gar nicht das unsere war und ist. Unsere privaten Identitätsprobleme sind sozial vermittelt, womöglich sogar durch die Anderen konstituiert in einer ursprünglichen Entfremdung: »Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war nämlich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen, an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus angeschlossen hatten.«7
Das Ichideal erweist sich als zweischneidig: Es hilft einerseits, über die Frustrationen des Narzissmus hinwegzukommen. Anderseits drohen die darin abgespeicherten Anforderungen, die »das Milieu« stellt, mein Leben zu erdrücken, und die Frage ergibt sich: Resultiert das Leiden an der Diskrepanz zwischen Ich und Ideal daraus, dass dieses Ideal gar nicht primär meines war? Wer bin ich jenseits der durch »Anregungen« der Eltern konstituieren Identität? In der Fachliteratur begegnet die Situation der Transformation, in der ich mich gegen das »Milieu« wende, aus dem ich komme, um ›mein wahres Ich‹ zu fi nden, als »Identitätskrise«8 oder auch als »liminale Phase«.9 Nach Freud gibt es mindestens die folgenden Optionen für
6. Ebd. 7. Ebd., S. 62. 8. Vgl. Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1966. 9. Vgl. ausführlich Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft«, in: Achim Geisen-
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VII. Das Ding
einen Ausweg: »Heilung durch Liebe«10 nach dem ›narzisstischen Typus‹ (ich lasse mich von einem unterworfenen Objekt bewundern, oder ich bewundere ein machtvolles Objekt bis zur Selbstaufgabe), ›Heilung durch Liebe‹ nach dem ›Anlehnungstypus‹ (ich erfahre in der Fürsorge des Objekts eine Erneuerung der als Kleinkind angeblich genossenen Zuwendung),11 Engagement für eine idealisierte Sache (etwa der Politik oder der Religion), was Freud in der Studie über Massenpsychologie und Ich-Analyse in den regressiven Formationen analysiert, oder schließlich und erneut: Sublimierung (die reflexive Distanzierung all dieser Optionen: Wissenschaft, reines Denken). Eine Psychoanalyse vermag, so sie gelingt, über die skizzierten Zusammenhänge aufzuklären, insbesondere über die Differenz, die zwischen undurchschauter narzisstischer Idealisierung und Sublimierung besteht, die als stabilisierte am Ende eine ›ichgerechte‹ Objektwahl möglich macht. Wenn sie gelingt, belehrt Analyse den Patienten darüber, dass er oder sie »nicht das Unmögliche begehren« kann, die Sehnsucht aufgeben muss, mit sich selbst, einem anderen Menschen oder mit der Welt im Zeichen des ›ozeanischen Gefühls‹ zu verschmelzen. Das unterrichtete Begehren, das in der Person des Analytikers die Kur leitet, kann den Patienten zuletzt in die Lage versetzen, mit Lacan, der eine Art Kantianer bleibt, zu sagen: »Meine Erfahrung hält sich in Grenzen« (353): »Was der Analytiker, im Gegensatz zum Liebespartner, zu geben hat, ist etwas, das die schönste Braut der Welt nicht überbieten kann, es ist das, was er hat. Und was er hat, das ist nichts anderes als sein Begehren als das Analysierte, und dies insofern, als es ein unterrichtetes Begehren ist.« (358)
Denken und Forschen Jacques Lacans können summarisch charakterisiert werden als umfassende Ausarbeitung der von Freud freigelegten Mechanismen des Narzissmus.12 Die Entdeckung des so genannten ›Spiegelstadiums‹ als Bildner der Ich-Funktion steht zu Recht am Beginn des Lacan’schen Unternehmens, weil er mit dessen Behauptung die peinigende hanslüke/Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008, S. 11-64. 10. Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914), Bd. 3, S. 67. 11. Vgl. ebd., S. 56 u. 65f. 12. Vgl. zu Lacan allgemein: Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, 3. Aufl., Wien 2004, Christoph Braun: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2007.
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Kluft zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbewertung an den Anfang individuellen Lebens stellt. Das ›Spiegelstadium‹, in dem das kleine, der Körperbeherrschung noch unfähige Kind sich selbst im Spiegel, in der Pupille der Anderen, erblickt und sich über das Bild einer integralen Ganzheit freut, die real keineswegs gegeben ist, »ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt«.13 Das Spiegelstadium generiert die Diskrepanz zwischen einem imaginären Ich, dem Moi Lacans, und dem eigentlichen, von den Phantasmen überwucherten und zum Schweigen gebrachten ich, dem je, dem die Sorge der Psychoanalyse gilt. Der von Freud für die Kultur diagnostizierte ›Unbehagen‹ wird von Lacan bereits auf der Ebene der Konstitution von Subjektivität behauptet, noch vor all den folgenden Erfahrungen von Versagung. Dass wir uns später in der Kultur unbehaglich fühlen, ist nur ein Epiphänomen eines ursprünglicheren archaischen, prä-ödipalen Unbehagens, das mit dem Spiegelstadium beginnt: »[Die] Beziehung zur Natur ist beim Menschen gestört durch ein gewisses Aufspringen (déhiscence) des Organismus in seinem Innern, durch eine ursprüngliche Zwietracht, die sich durch die Zeichen von Unbehagen und motorischer Inkoordination in den ersten Monaten des Neugeborenen verrät.«14
Die unterschiedlichen Objekte, die dem Subjekt dazu dienen, den frustrierten Narzissmus zu kompensieren: Ichideal, Liebesobjekte, politische und religiöse Bindungen, Ideale usw. fasst Lacan terminologisch zusammen mit einem meist in deutscher Sprache gebrachten Begriff, als das »Ding«. Die Verfahren des Ich, mit dem Narzissmus und dessen unausweichlicher Frustration in der je unterschiedlich konturierten Lebenswelt umzugehen, sind von verwirrender Vielfalt. Um deutlich zu markieren, dass es trotz dieser Vielfalt der Verfahren immer nur um dieses eine geht, um die Restitution der Wonnen des primären Narzissmus, rubriziert Lacan alle kategorial so unterschiedlichen Objekte, von Phantasmen bis zu realen Personen etc. unter diesen einen Begriff, eben den des »Dings«. Insofern sich den Forschungen Freuds und dann Lacans das Problem des Narzissmus als der Dreh- und Angelpunkt menschlichen Lebens, individuell wie kollektiv, herausstellt, beansprucht Lacan für die Psychoanalyse die Stellung der Leitwissenschaft. Und bereits hier kündigt er die Auseinandersetzung mit
13. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« (1949), in: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Olten 1973, S. 67. 14. Ebd., S. 66.
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VII. Das Ding
der Figur des ›Reformators‹ an, die er später am Beispiel Martin Luthers studieren wird:15 »In diesem Punkt, wo sich Natur und Gesellschaft treffen und den die heutige Anthropologie so hartnäckig erforscht, erkennt allein die Psychoanalyse jenen Knoten imaginärer Knechtschaft, den die Liebe immer neu lösen oder zerschneiden muß. Für ein solches Werk erweist sich nach unserer Meinung das altruistische Gefühl als eitel; wir setzen die Aggressivität ins Licht, welche unter den Aktionen des Philanthropen, des Idealisten, des Pädagogen, sogar des Reformators liegt. In der Zuflucht, welche wir vor dem Subjekt für das Subjekt retten, kann die Psychoanalyse den Patienten bis zu der Grenze der Entzückung begleiten, wo sich ihm in der Formel ›du bist es‹ die Chiffre seiner irdischen Bestimmung enthüllt, aber es steht nicht allein in unsrer Macht als Praktiker, ihn dahin zu führen, wo die wahre Reise beginnt.«16
2. Wir haben etwas verloren, etwas fehlt uns, um glücklich zu werden. Da ist eine schmerzhafte Leere, ein Loch, das gefüllt werden muss. Unser ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, dieses verlorene Objekt, dieses innig ersehnte »Ding« wiederzufinden, an dessen einmal genossene Präsenz uns das ›ozeanische Gefühl‹ erinnert. Zuweilen glauben wir, dass eine Rückkehr zu ›Mutter Natur‹ uns dieses »Ding« zurück brächte. Doch wir müssen begreifen, dass wir von Natur aus aus der Natur herausgefallen sind. Wir sind ein Ich, weil wir nicht mehr eins sind mit der Mutter: »Erst im Schmerz der Trennung tritt das Selbst ins Leben.« 17 Jeder Versuch, den Schmerz der Trennung ungeschehen zu machen, die Wunde zu heilen, ist zum 15. Bereits Erik H. Erikson hatte auf die Bedeutung Martin Luthers für die Vorgeschichte der Psychoanalyse hingewiesen und ihm eine, von Lacan freilich ignorierte, Monographie gewidmet, wo es heißt: »[Man] kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass [Luther] oftmals gerade die Dinge öffentlich bekannte, die mehr als dreihundert Jahre später (als die Aufklärung psychologisch einen Punkt erreicht hatte, der keine Umkehr mehr zuließ) Freud offen anpackte und in Begriffe faßte, als er bei der Untersuchung seiner Träume die neurotische Komponente seiner geistigen Suche herausforderte und bändigte.« Erik H. Erikson: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie (1958), Eschborn 2005, S. 53. 16. Ebd., S. 70. 17. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen, 3. Aufl ., Frankfurt a.M. 1985, S. 69.
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Scheitern verurteilt, denn wir sind die ursprüngliche Trennung, sind die Wunde: »Jenes ego, dessen Stärke unsere Theoretiker gegenwärtig durch die Fähigkeit definieren, Frustrationen auszuhalten, ist seinem Wesen nach selbst Frustration. Es ist Frustration nicht eines Begehrens des Subjekts, sondern eines Objekts, in dem sein Begehren entfremdet wird.«18
Bereits archaische, der Natur angeblich nächst verbundene Kollektive begründen, wie Robert Spaemann pointiert, ihre Ordnung nicht unter Rekurs auf Natur unmittelbar, sondern über Kosmo- und Theogonien: Einheit des Ich mit der Natur ist ein paradoxes Phantasma, Naturrecht eine romantische Fiktion: »Aller Nomos unterdrückt das, was von Natur aus ist.«19 Wiederherstellung von Einheit gelänge, insofern Trennung und IchKonstitution eines sind, nur um den Preis des Ichverlustes, womit die Möglichkeit zerstört wäre, Einheit als Glück zu erfahren. Die traurige Einsicht in die Paradoxie der Existenz nötigt auf den Weg der Zivilisation, der als ein kluger Umweg zum »Ding« erscheint und als ein solcher Weg auch vom jeweiligen ›Milieu‹ vorgegeben wird. Denn wir werden nie daran glauben, dass uns der Zugang zum »Ding« für immer verwehrt ist. Wir sind bereit, um des »Dings« willen Kompromisse zu schließen, unsere ebenso natürlichen wie unnatürlichen Triebe zu hemmen, statt des Lustprinzips das Realitätsprinzip einzusetzen. Wir sind sogar bereit, Triebziele dauerhaft aufzugeben, damit wir in der so möglichen Zusammenarbeit mit anderen zuletzt doch zu unserem Glück finden. Und all dieser Verzicht oder doch Aufschub, obwohl wir, entsprechend unserer hungrigen Natur, eigentlich »auf nichts verzichten« können:20 »Man könnte von einem vollkommenen, totalen Hautkontakt zwischen dem Körper und einer Welt träumen, die ihrerseits offen wäre und bebend, man könnte von einem Kontakt träumen und, am Horizont, von einem Lebensstil, dessen Richtung und Weg uns vom Dichter gewiesen werden, man könnte auf eine Entdeckung von Harmonie hoffen, auf ein Verschwinden der ewigen fl üsternden Gegenwart des niederdrückenden Gefühls eines ursprünglichen Fluchs.« (116)
18. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse« (1953), in: Schriften 1, hg. v. Norbert Haas, Olten 1973, S. 87. 19. Robert Spaemann: »Natur«, in: Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 20. 20. Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908) Bd. 10, S. 172.
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VII. Das Ding
»Kulturversagung«, Auf bau der Zivilisation und ihrer Institutionen auf schwer erträglichem Triebverzicht, »Unterdrückung, Verdrängung« sind nach Freud Ursache der »Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben«,21 Grund des Unbehagens in der Kultur. Alles, der Mikro- wie der Makrokosmos, scheint während dieser Suche nach dem Glück gegen uns zu sein: »Man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht vorgesehen.«22 Unser Körper ist gebrechlich, altert unaufhaltsam und vergeht zuletzt, Natur bleibt übermächtig, ihre Kontingenz wird niemals überwindbar sein. Der »Nebenmensch« schließlich ist nicht durchweg wohlwollend, sondern, womöglich überwiegend, feindselig bis zur Todfeindschaft, erweist sich als dritte und qualvollste Quelle des Leidens, am qualvollsten,23 weil wir durch uns selbst wissen: Der Nebenmensch hat, anders als unser Körper oder ein Gewitter, die Wahl. Mit Martin Luther: »Wir sind unsere eigenen Folterknechte«.24 »Man findet es«, dieses »Ding«, fasst Lacan die unbehagliche Diagnose Freuds bündig zusammen, daher »bestenfalls wieder als Leid.« (67) Der Psychoanalyse nicht nur Lacan’scher Ausprägung zufolge verbirgt sich im Innersten des Begehrens das »Begehren der Mutter«, das Lacan »den Ursprung von allem« (339) nennt. Insofern die Ausbildung des Ichs gekoppelt ist an den Untergang des Ödipuskomplexes, in dessen Durcharbeitung die inzestuösen Objekte zum Ich-Ideal transformiert werden, dem Agenten jeder Sublimierung, kann der regressive Durchbruch zum »furchtbare[n] Saugzentrum des Begehrens« (296) nur vollzogen werden um den Preis eines Zerfalls der Ich-Struktur. Das begehrende Ich steht angesichts des »Großtraumas« des Ödipuskomplexes vor einem Dilemma: Alle späteren Liebesobjekte sind unzureichend, Rückkehr zum Ursprung bedeutete den »psychischen Tod der Psychose«.25 Im Untergang des Ödipuskomplexes erhält das Kleinkind als Ersatz für die verbotene Einheit die Sprache, erhält es die »Gabe« der ›symbolischen Ordnung‹,26 nach deren Regeln es seine Bedürfnisse fortan zu artikulieren hat, die sich dadurch selbst substantiell verändern oder auch, da sie vermittelt sind durch die Sprache der anderen und ihr ›Milieu‹, ›verändern‹: 21. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 227. 22. Ebd., S. 208. 23. Ebd., S. 209. 24. Martin Luther: Tischgespräche, hg. v. Kurt Aland, Stuttgart 1981, S. 93. 25. Peter Zagermann: Ich-Ideal, Sublimierung, Narzissmus. Die Theorie des Schöpferischen in der Psychoanalyse, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1985, S. 43 u. 23. 26. Widmer: Subversion des Begehrens (Anm. 12), S. 45.
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»Trieb, sofern er den Menschen angeht und auf Sättigung drängt, wird sich in dieser Ordnung melden und sich ihr anpassen müssen. Neben ›demande‹ und ›besoin‹ spricht Lacan noch von ›désir‹. Die Verwandlung des natürlichen ›besoin‹ zur gesprochenen ›demande‹, zur Bitte, lässt immer etwas offen und konstituiert so den wesenhaften ›manque à être‹ des Menschen.«27
Die durch den Eintritt in die symbolische Ordnung noch einmal intensivierte Konfliktstruktur des Subjekts – »Es gibt Identität zwischen der Ausformung des Signifi kanten und der Einführung einer Kluft, eines Lochs im Realen« (151) – wird umschrieben durch die beiden Mythen der Psychoanalyse: den Ödipus-Mythos einerseits, den Mythos vom Urvater anderseits. Während der Ödipus-Konflikt das Subjekt zu ewig unbefriedigter, trauriger Wanderschaft im Makel eines unendlichen Mangel an Sein verdammt, stellt der Urvater die Wanderschaft unter das Zeichen der Angst, der vollendeten Sündhaftigkeit, bestenfalls der Transgression – oder, nach vollbrachtem Vatermord, unter das Zeichen des toten Gottes und seiner Gesetze. Das Individuum erkennt, dass man der Regelung, der Grenzen, des Gesetzes bedarf, um das ins unerfüllbare Begehren transformierte Bedürfnis überhaupt verspüren, es artikulieren zu können. Der ›schwarze Monolith‹ Nietzsches, Kubricks und Dotzlers kehrt wieder: »Ohne den Signifi kanten am Anfang, ist es nicht möglich, den Trieb als geschichtlich zu artikulieren. Und das genügt, die Dimension des ex nihilo in die Struktur des analytischen Feldes einzuführen« (258). Diese Erfahrung generiert immer neu die herbe Frustration, dass das Begehren hindurch muss durch die Bahnungen des Gesetzes, sich ›im Namen des Vaters‹ ereignet, sich überhaupt artikulieren muss. So generiert die Lust stets ihre eigene Frustration und bestenfalls Sublimierung und verstärkt tragisch den Hunger, den sie doch tilgen sollte. Oder eben umgekehrt, die Ordnung erzeugt die perverse Lust, sie zu drangsalieren. Die Passage aus dem Römerbrief des Paulus, demzufolge das Gesetz die Sünde schaff t, wird zum Leitmotiv des Seminars VII, mit der Abwandlung, dass Lacan Sünde durch Ding substituiert: »Ist das Gesetz das Ding? Sicher nicht. Immerhin, ich hatte Kenntnis vom Ding nur durch das Gesetz. In der Tat, hätte ich nicht den Gedanken gehabt, begierig auf es zu sein, hätte das Gesetz nicht gesagt – Du sollst es nicht begehren. Doch weckt das Ding, wenn es nur Gelegenheit findet, in mir allerhand Begehrlichkeiten dank des Gebotes, denn ohne das Gesetz ist das Ding tot. Nur ich war lebendig ehedem, ohne das Gesetz. Doch als das Gebot kam, loderte das Ding auf, kam 27. Lang: Die Sprache und das Unbewusste (Anm. 12), S. 216.
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VII. Das Ding
von neuem, während ich den Tod fand. Für mich führte das Gebot, das in das Leben führen sollte, zum Tod, denn das Ding, das Gelegenheit fand, verführte mich dank des Gebots und hat mir durch es Todesbegehren gemacht. Ich denke, dass seit einem sehr kurzen Augenblick einige unter Ihnen zumindest die Vermutung haben, es sei nicht mehr ich, der spricht. Tatsächlich ist das, bis auf eine kleine Änderung – Ding an der Stelle von Sünde –, die Rede des heiligen Paulus über die Beziehungen von Gesetz und Sünde, Römerbrief, Kapitel 7, Absatz 7.« (104)
»Die Religion«, die eine Herrlichkeit jenseits des Gesetzes verspricht, erscheint folglich, so Lacan, als die große Trösterin, sie »besteht in allen Weisen, dieser Leere aus dem Weg zu gehen« (160). Religion verspricht Kompensation: »Weil die Seele auf ihrem Hunger sitzen bleibt, braucht sie ein Leben jenseits, damit dieser nicht vollendete Akkord irgendwo, man weiß nicht wo, seine Auflösung findet« (377). Religion verspricht, dass wir »wiedererlangen werden, was wir verloren haben, was wir opferten, was wir nie erhielten.« (161) Es ist möglich, dass Religion enttäuscht, dass Gott nicht nur schweigt, sondern sogar ungerecht zu handeln scheint. Es kann sein, dass wir, wie Luther, der die Stelle mit Vorzug zitiert, Hiob zustimmen (Hiob, 12. 6): »Die Hütten der Gottlosen haben die Fülle.« Die bittere Einsicht kann ins Herz der Dunkelheit führen. Wir gehen aus brennender Ungeduld, Schmerz, Verzweiflung und Hass den Weg der Intoxikation, des Selbstmordes oder den Weg der Grausamkeit und des Verbrechens, das Lacan als Verhalten definiert, »was die natürliche Ordnung nicht respektiert« (313), also als die strikte Schattenseite der Zivilisation, die mit ihr entsteht. Das Verbrechen findet nicht einmal ein Ende beim Tod des Anderen, der als Toter nur noch Objekt ist, nicht mehr Träger des »Dings«, weshalb bereits der von Lacan verdrängte Sartre Hass als wesentlich ohnmächtiges und daher »schwarzes Gefühl« beschrieb.28 Wir wollen in der möglichen Entfesselung des Hasses daher den Tod des Anderen noch nach dessen Tod, wollen wieder und wieder seinen Tod, den »zweiten Tod« (313). Wir bereiten dem Anderen, da er uns den Zugang zum Glück zu verweigern scheint, die Hölle auf Erden oder, wenn uns das nicht gelingt, wünschen wir dem gehassten Anderen ewige Höllenqualen, einen zweiten Tod, erliegen dem »Phantasma eines ewigen Leidens« (313). Psychoanalyse muss sich vor diesem Hintergrund auf zwei Weisen zur Religion stellen: Sie klärt über die psychologische Genese der Religion auf, muss sich aber anderseits daran erinnern lassen, dass der konfliktuös strukturierte Mensch immer »kreationistisch« (369)
28. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1991, S. 718.
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bleiben wird. In diesem doppelten Sinn erhellt Reflexion der Religion, Theologie, was der Mensch ist, etwa die Theologie Martin Luthers: »Wer, sagst Du, wird sich ernstlich bemühen, sein Leben zu bessern? Darauf antworte ich: Kein einziger Mensch. […] Wer will glauben, sagst Du, dass er von Gott geliebt werde? Darauf antworte ich: kein einziger Mensch wird es glauben, und keiner wird auch dazu imstande sein.«29
3. Wir haben etwas verloren, etwas fehlt uns, um glücklich zu werden. Das, was verloren gegangen ist, kann auch ein Zitat sein, hier ein wichtiges Zitat Martin Luthers. Ich habe die Übersetzung von De servo arbitrio wieder und wieder gelesen und das Zitat nicht gefunden, so dass ich an meinen Fähigkeiten als Leser zweifelte, zuletzt an meinem Gedächtnis und an meinem Verstand. Alle rekurrieren auf dieses Zitat über den Vater, ich aber finde es nicht. Denn »um die Position Freuds bezüglich des Vaters zu begreifen, muss man schon dem Gedankengang eines Luther gefolgt sein« (120). Die Schrift über den Unfreien Willen, De servo arbitrio, von 1525 zeichnet das Bild eines Vaters, der seine Kinder abgrundtief hasst, sie hasst bereits vor Erschaff ung der Welt. Was immer diese Kinder tun, es hilft nichts, auch das beste Werk nicht, den Vater gnädig zu stimmen. Die untadeligste Lebensführung kann Erlangung der Gnade nicht verbürgen, alle Werke sind wertlos. Für Kleinigkeiten haben wir Willensfreiheit, im Hinblick auf Dinge der Gnade ist unser Wille geknechtet, unfrei, nichtig. Die psychologische Lutherforschung, glanzvoll aufgearbeitet etwa durch Dieter Groh, hat herausgestellt, dass Luther in De servo arbitrio einen schizophrenen Gott konzipiert, der seine Kinder, die Menschen, in »die klassische double bindSituation« bringt: Handle gottgefällig, was du aber nicht tun kannst. Der Mensch steht in einem Verhältnis zu einem streng fordernden Gott, dem er sich nicht entziehen kann – die Parallele zum hilflosen Kind –, dem er genügen muss und doch nicht genügen kann. Dem universalen Heilsversprechen steht die absolute, unbeeinflussbare Willkür gegenüber, dieses Heilsversprechen einzulösen oder nicht.30 Die Passage, auf die sich Lacan, Erikson, Groh und andere beziehen, war in der deutschen Fassung von De servo arbitrio nicht auffindbar. Die Lösung: Die strenge Mutter, die Evan29. Martin Luther: Vom unfreien Willen (De servo arbitrio) (1525). In: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers Bd. 3, hg. v. Kurt Aland, Berlin 1949, S. 181. 30. Dieter Groh: Schöpfung im Widerspruch. Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, Frankfurt a.M. 2003, S. 563f.
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gelische Verlagsanstalt, hat den Abschnitt zensiert, in dem der Sohn Martin Luther über die Grausamkeit Gottes verzweifelt Klage führt. Es existiert eine Übersetzung des Passus aus dem Lateinischen ins Englische einerseits, ins Deutsche anderseits, beide jenseits des theologischen Zwangszusammenhangs. Um, wie Lacan rät, sich von Luther erläutern lassen zu können, was Freud unter einem Vater verstand, der einen hasst, weil man existiert, muss man Latein beherrschen, was insofern katholisch ist, als das Pathos Luthers darin bestand, die Lehren der Kirche dem Volk durch Übersetzung zugänglich zu machen. Oder man muss sich von der Bevormundung durch die protestantische Kirche lösen, die die Treue zur Schrift übt, indem sie unangenehme Passagen emendiert. Das, so lehrt die philologische Anekdote, was wir verloren haben, in diesem Fall ein Zitat, können wir nur jenseits wiederfinden, durch Auf klärung und Auflösung der zensierenden Autorität der Theologie. Der im Geheimnis der lateinischen Sprache belassene Text, um dessen Interpretation Lacan sich bemüht, lautet, in der Übersetzung Grohs: »Dies verletzt freilich jenen Gemeinsinn bzw. die natürliche Vernunft am meisten, daß Gott aus reiner Willkür Menschen im Stich läßt, verhärtet und verdammt, als wenn er von den Sünden und den so starken und ewigen Qualen der Elenden erfreut wäre, er, der einer so großen Barmherzigkeit und Güte usw. gespriesen wird. Dieses ungerechte, dieses grausame, dieses unerträgliche Bild ist von Gott wahrzunehmen, an dem auch so viele und so bedeutende Männer so vieler Generationen Anstoß genommen haben. Und wer würde nicht Anstoß daran nehmen? Ich selbst habe nicht nur einmal Anstoß daran genommen bis an den Abgrund und die Hölle der Verzweifl ung, daß ich wünschte, niemals ein menschliches Geschöpf geworden zu sein, bis ich wußte, wie heilvoll jene Verzweiflung war und wie nahe sie der Gnade war.«31
Die Nähe der Gnade ist nicht die Gewissheit der Gnade. Indem die Mutter ›im Namen des Vaters‹ den Schrei der Verzweiflung abwürgt, verschwindet aus der deutschen Ausgabe von De servo arbitrio nicht nur das hässliche Porträt eines sadistischen Gottes. Es entsteht ein von Grund auf anderes Bild Martin Luthers, der souverän und von jenen Anfechtungen frei zu sein scheint, die Menschen heimsuchen. Durch das Ausschneiden des menschlichen Bekenntnisses wird Luther selbst zur über- und unmenschlichen Vaterfigur, vor der sich die Gläubigen in Verzweiflung und in Scham winden. Doch wird nur in Kenntnis der kaum gebändigten Verzweiflung Luthers verständlich, warum er etwa, in Provokation der Ethik der katholischen Kirche nicht nur seiner Zeit, etwa in den Tischgesprächen, dafür plädiert, den 31. Ebd., S. 564.
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Tod eines Menschen durch Selbstmord nicht als Sünde zu verdammen, sondern zu begreifen in Analogie zum Raubmord. Wer sich aus Verzweiflung tötet, sündigt nicht, er wird zum Raub satanischer Verzweiflung.32 Im Jahr 2006 kam der erste Band einer Neuausgabe der lateinischen Schriften Luthers auf den Markt, die als zweisprachige notwendig wurde, da heute offenbar selbst der theologische Nachwuchs nicht mehr über notwendige Sprachkenntnisse verfügt, wie die Einleitung beklagt.33 In dieser Einleitung kommt es zu einer Wende, die die historische Wendigkeit der Theologie dokumentiert. Der in der alten Ausgabe diskret emendierte Passus aus De servo arbitrio wird nicht nur vollständig übersetzt, sondern obendrein als Schlüsselstelle für eine zeitgemäße Luther-Lektüre ausgezeichnet.34
4. Was haben Jacques Lacan, der französische Psychoanalytiker, und Martin Luther, der deutsche Reformator, miteinander zu tun? Auf den ersten Blick nichts, bei näherer Betrachtung werden die Parallelen immer erstaunlicher. Luther erhob den Anspruch, als erster seit langer Zeit wieder die Bibel, die heilige Schrift des Vaters, wirklich genau zu lesen und zu deuten. Lacan erhob den Anspruch, die Schriften Sigmund Freuds, des Vaters der Psychoanalyse, als erster seit langem wirklich genau zu lesen und zu deuten. Beide, Luther wie Lacan, folgen kompromisslos dem Prinzip der sola scriptura, der möglichst genauen Lektüre der Signifi kanten. Beide, Luther und Lacan, wurden zunächst zu Reformatoren, dann zu Renegaten, zuletzt zu Neugründern einer alternativen Gemeinschaft, die der Orthodoxie den Rücken kehrte. Beiden wurde von ihren Feinden vorgeworfen, sie hätten den Ehrgeiz besessen, neue Päpste zu werden. Der Ablasshandel war für Luther der Anlass, seit dem Thesen-Anschlag von 1517 den Weg als Protestant zu gehen. Ablass war das Versprechen, durch Erwerb von Briefen des Papstes den Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen, im Grund das Versprechen, Glück, Seligkeit seien käuflich und nicht gebunden an Glaube, Buße und Gnade. Die Reformation, die Lacan in der Psychoanalyse einleitet, bezieht ihr Pathos aus der Attacke auf das Glücksversprechen der revidierten Psychoanalyse: dass der Durchgang durch eine Kur den Patienten glücklich mache, zuletzt Zugriff auf eben jenes »Ding« ermögliche, von dem die Psychoanalyse doch weiß, dass es unzugänglich bleiben 32. Luther: Tischgespräche (Anm. 24), S. 261. 33. Luther: Der Mensch vor Gott. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Bd. 1., hg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, S. VI. 34. Ebd., S.V.
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muss: »ein Anspruch auf Glück, auf happiness […], genau darum geht es« (348). Für Lacan sind Analytiker, die das Glück der Kur versprechen, die Ablasshändler des 20. Jahrhunderts, betreiben »eine Art Gaunerei« (361). Er erinnert an den harten Satz Freuds, es sei der Sinn der Analyse, hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Luther wie Lacan lehnen die aristotelische Ethik ab. Lacan zeigt auf, dass die Lehre von Maß und Mitte eine Machtordnung verbirgt, die als »Herrenmoral« (375) ihrerseits nicht befragt werden darf. Luther erkennt, dass der von Erasmus gepriesene aristotelische ›Mittelweg‹ begangen werden kann vor allem von den Privilegierten. In einem wuchtigen theologischen Aphorismus artikuliert sich die Sozialkritik am von weltlicher Macht geschützten Edel-Skeptizismus des Erasmus und schlägt in religiösen Fundamentalismus um: »Der heilige Geist ist kein Skeptiker«.35 Luthers Ablehnung des Aristoteles ist theologisch notwendig, weil dessen Ethik die moralische Qualität aus den Werken bestimmt. Das ist ein sozialer, kein theologischer Maßstab. Luther muss den Rang der Werke vernichten nicht nur, um den Ablasshandel zu bekämpfen. Auf der Nichtigkeit der Werke zu bestehen und gemäß Römer 3.28 einzig auf den Glauben zu setzen, wird unvermeidlich, wenn die Theodizee-Problematik vermieden werden soll. Als guter Mensch zu leben, bedeutet in dieser Welt keineswegs, von Gottvater bevorzugt und verwöhnt zu werden. Luthers Schrift Von den guten Werken ist, wie noch deren implizite Rezeption durch den Kant der Anthropologie verdeutlicht, der Gegenentwurf zur Ethik Aristotelischer Provenienz. Schließlich entspricht dem Insistieren Luthers auf einem Glauben, der höher als das Wissen zu schätzen sei, da das Wissen Faulheit, Wahnsinn und Tod durch zu viel Glück bedeute,36 bei Lacan die Lehre vom permanenten Aufschub des Begehrens, insofern die restituierte Jouissance als radikale Regression der Psychose gleichkommt. Was Luther der Glaube, das ist für Lacan der Aufschub des Glücks. Erneut, beide, Luther wie Lacan, halten sich strikt auf der Ebene des Signifikanten, der auch laut Lacan ein Sinnversprechen ist, das notwendig auf ein Jenseits verweist. Angesichts der Parallelen könnte man sagen, Jacques Lacan sei der Martin Luther der Psychoanalyse und mit Blick auf den Papst eine Konvergenz zwischen den beiden entlaufenen Söhnen des Katholizismus formulieren: Der heilige Vater ist nicht heilig, weil er kein Vater ist. Oder anders gesagt: Der Zölibat ist das Begehren, die Ehe aber ist Sublimierung, denn sie erhebt ein Objekt auf die Ebene des »Dings«. Die frappierenden Korrespondenzen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen Luther und Lacan ein Abgrund zu klaffen scheint. Abgesehen von dem banalen Hinweis darauf, dass Lacan 35. Luther: Vom Unfreien Willen (Anm. 29), S. 156. 36. Luther: Tischgespräche (Anm. 24), S. 238.
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Nietzsches Einsicht repetiert, dass Gott tot sei, öffnet sich der Abgrund konkret, so scheint es, in der Frage nach dem Begehren: »Ich behaupte«, sagt Lacan am Ende des Seminars über die Ethik, »dass es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren.« (380) Kaum ein größerer Gegensatz zu dieser These ist denkbar als das von Luther im Einklang mit dem Brief des Paulus an die Römer formulierte Gebot: »Du sollst nicht begehren.«37 Während die mosaischen Gebote detailliert angeben, was der Mensch nicht begehren soll: seines Nachbarn Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat, untersteht bei Paulus und Luther das Begehren überhaupt dem Verbot. Da der Mensch aber nicht anders kann als zu begehren, ist er – und Friedrich Nietzsche hat die Aufarbeitung der kulturgeschichtlichen Folgen dieser Umschrift des Dekalogs eindringlich geleistet38 – immer und überall sündig. Der Widerspruch zwischen Luther und Lacan ist nur scheinbar, denn einen Vater zu haben, das heißt, immer und überall schuldig zu sein, unter einem Verbot zu stehen, das sich auf alles bezieht: ob es um das Essen geht, um Güter, um Frauen und Männer. Es ist alles immer entweder vom Vater verboten oder durch ihn gestattet. Der neurotisch unter den Folgen des paulinisch begründeten und von Luther reformierten Christentums Leidende artikuliert daher den Wunsch nach einem Jenseits der symbolischen Ordnung, die Sehnsucht nach einem Zugriff auf das »Ding«, den Willen, »aufs Neue wieder anzufangen« (256). Lacan zufolge meldet sich in dieser Sehnsucht der dem Lustprinzip innewohnende und im Prozess der Analyse produktiv zu wendende Destruktionstrieb. Er gibt einen höchst aufschlussreichen Hinweis für therapeutische Praxis. Der Durchbruch der Aggression, faktisch eine autoaggressive Wendung wider die neurotische Konstitution des Subjekts, artikuliert sich auf der Couch regelhaft über die Referenz auf Metaphysiken des rettenden Wortes, das angeblich herauskatapultiert aus der als Strangulation erlittenen symbolischen Ordnung und »immer in das Register eines Destruktionstriebs gehört«: »In dem Augenblick, wo bei einem Subjekt, bei der Erzählung eines Traums zum Beispiel, ein Gedanke offen auftritt, den man als aggressiv gegen einen der Grundterme seiner subjektiven Konstellation bezeichnet, wird es Ihnen je nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit ein Bibelzitat, eine Referenz auf einen Autor, einen klassischen oder nicht, eine musikalische Anspielung bringen.« (287)
37. Luther: Traktat von der christlichen Freiheit (1520). In: Die reformatorischen Grundschriften. Bd. 4, München 1983, S. 15. 38. S. o. das Kapitel über Friedrich Nietzsche.
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Präzise erweitert Lacan die Studien Freuds zur monotheistischen Religion um die Analyse des Protestantismus Luthers. Die prominentesten Elemente der Luther’schen Theologie werden erkennbar als Bestätigung der Theorie von der Genese des toten Gottes aus dem ermordeten Urvater: der Willkürgott, die Nichtigkeit der Werke, die vollendete Sündhaftigkeit, schließlich die notorische Drastik der Luther’schen Sprache. Luther erfindet, was Freud dreihundert Jahr später analysieren muss. Luthers skatologische Obsession erlaubt es Lacan zu sagen, dass Luther uns faktisch, das heißt über »die Macht der Bilder«, aus der Welt der Theologie in uns selbst zurückkehren lässt, »das heißt in unseren Körper und nirgendwo sonst hin« (115). Luthers Tischgespräche und Predigten sind »letzten Endes unendlich analytischer als alles das, was eine moderne Phänomenologie in verhältnismäßig zarten Formen des Verlusts der Mutterbrust auszudrücken weiß – was ist diese Vernachlässigung, die ihre Milch versiegen lässt. Luther sagt wörtlich – Ihr seid der Abfall, der aus dem Hintern des Teufels auf die Erde fällt.« (115) Vermag es Lacan einerseits, aus der Sprache Luthers die analytische Dimension der Religion herauszulesen, an den Himmel projizierte infantile Sexualforschung und anale Theorie der Geburt, so erscheint ihm Luthers Bild des hassenden Vaters, dem auch die besten Kinder nichts recht machen können, als theologische Variante des Mythos vom Urvater, der die Dyade von Mutter und Kind zerschnitt und dafür die Gabe der symbolischen Ordnung verlieh, die das Kind auf Abstand hält, zu den Eltern und zu sich selbst. Angesichts der nur fragil zur religiösen Tugend umzudenkenden Verzweiflung über diesen Vater bleibt Luther selbst am Ende nur Resignation, Hoffnung auf ein Jenseits. Damit ist das letzte Element der analytischen Theorie der Religion benannt, der Trost über eine heillose Welt: »Es gibt ein Leben nach diesem Leben, in dem alles, was hier nicht bestraft und belohnt ist, dort wird bestraft und belohnt werden, da dies Leben nichts ist als ein Vorläufer oder vielmehr Anfang des künftigen Lebens.«39
5. Was haben die Parallelen zwischen Luther und Lacan mit der im vorliegenden Buch diskutierten Frage nach der Sublimierung, idealistisch formuliert: mit der Frage nach dem Geist der Natur, oder, mit Nietzsche, der Frage nach der ›verklärten Physis‹ zu tun? Freud entwickelt seine Theorie der Sublimierung, die eine Theorie der Naturbeherrschung impliziert – Beherrschung sowohl unserer Triebnatur als auch Beherrschung der Na39. Luther: Vom Unfreien Willen (Anm. 29), S. 249.
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tur als Gegenstand der modernen Naturwissenschaft –, aus Anlass seiner Diskussion der Frage nach dem religiösen Bedürfnis. Die fragmentarische und widersprüchliche Theorie der Sublimierung wird von Lacan weitergeführt, wobei sich herausstellt, dass diese Weiterarbeit den Rekurs auf Elemente der religiösen Tradition unumgänglich macht. Ausarbeitung der psychoanalytischen Theorie der Zivilisation weitet sich zu einer Ontopsychologie. Lacan lässt sich durch Luther darüber belehren, was der Mensch ist, der darum kämpft, seiner Natur Geist einzuhauchen: zu sublimieren. Weite Teile des Seminars VII, das der Ethik der Psychoanalyse gewidmet ist, diskutieren den Begriff der Sublimierung. Schematisch ausgedrückt sind es laut Freud die Triebe, die unser innigstes Band zur Natur bedeuten. Der Glücksbegriff des Menschen ruht auf der Idee, uneingeschränkt dem Lustprinzip zu folgen. Freud erörtert angesichts der garantierten Frustration Modi der Leidabwehr: Ablenkung, Ersatzbefriedigung, Betäubung. Das sind Maßnahmen des Individuums, ohne die es auf dem Planeten der Versagungen nicht auszuhalten wäre. Es gibt schließlich eine weitere Möglichkeit: dass sich Menschen zusammenschließen und »zum Angriff auf die Natur« übergehen. 40 Freuds Naturbegriff ist der der modernen Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, der magisch-animistische, teleologische, schließlich theologische Naturbegriffe verabschiedete und Natur als das Ganze des Beobachtbaren verstand, das einerseits übermächtig und unser aller Substanz ist, anderseits aber das mathematisch und physikalisch Berechenbare und daher Verlässliche wird. 41 Für Freud, wie für viele Theoretiker seit dem 17. Jahrhundert, ist der Mensch von Natur aus ein Wesen, das aus der Natur heraustritt. Natur ist das, dem wir entstammen, ein terminus a quo. Durch die drei Elemente der Zivilisation: Wissenschaft, zweitens Regelung des Sozialverkehrs zur Ermöglichung der Wissenschaft und des Überlebens, drittens die individuellen Techniken der Leidabwehr – von Intoxikation und Ablenkung bis zu Meditation und kompensatorisch wirkender Phantasieproduktion (Kunst) – wird es möglich, die Versagungen zu mindern. Dieser Prozess der Zivilisation wird von Lacan ebenfalls prägnant zusammengefasst: Der Weg »zu einer Wiedererlangung des Triebs […] hängt mit einem kulturellen Verlust des Objekts zusammen.« (123) Strukturell wird die Einsetzung des Realitätsprinzips ermöglicht dadurch, dass es Sublimierung gibt, eine Veränderung am Objekt des Triebs. 42 Nun ist auff ällig, dass Freud die offenbar entscheidende Lehre von der Sublimierung, wie im entsprechenden Kapitel zu zeigen versucht wurde, nur 40. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), Bd. 9, S. 209. 41. Vgl. Spaemann: »Natur« (Anm. 19). 42. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915), Bd. 3, S. 86.
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in Ansätzen entwickelt, die sich zudem widersprechen. Die Kulturtheorie Freuds ruht auf einem Begriff, der dunkel blieb. Die Dunkelheit betriff t sowohl deren Struktur im Kontext von Trieblehre und Metapsychologie als auch ihre Bewertung. Im Innersten der nüchtern formulierten Zivilisationslehre steckt ein ungeklärtes »Ding«. Freud kennt, wie im Adorno-Kapitel noch einmal schematisch zusammengefasst wurde, mindestens drei kategorial ihrerseits nicht miteinander verschaltete Formen von Sublimierung, eine Sublimierung A, die Produktion von Kunst, eine Sublimierung B, die Rezeption von Kunst, die beide Spezialfälle der Begabung des Menschen zu einer Sublimierung C sein sollen, jenem umfassenden Triebverzicht, der Zivilisation ermöglicht. Warum hat Freud keine Theorie der Sublimierung formuliert, keine Schrift verfasst, die den Begriff eigens ausarbeitet? Das Problem liegt vor allem darin, dass es Freud – mit der Ausnahme der Porträts großer Individuen wie Leonardo oder Goethe – nicht gelingt, einen Begriff von Sublimierung zu etablieren, der frei wäre vom Beigeschmack des Ersatzes, des bitteren Verzichts auf das ›Eigentliche‹. Freud entdeckt später, dass Sublimierung immer gekoppelt ist an einen transitorischen narzisstischen Zwischenschritt. Um den Übergang von einem zu einem neuen Objekt zu ermöglichen, ist eine narzisstische Rückwendung erforderlich, in der sich das Ich-Ideal bildet. Was geschieht indes mit dem Ich, das Züge des verlorenen Objektes in sich aufnimmt, um sich dem Es als Übergangsobjekt anzubieten, um es anschließend erneut als Ideal in die Welt zu projizieren? Es ist in Trauer, im schlimmsten Fall melancholisch. Trauer und Melancholie schreiben sich als schwarze Spur in den Zivilisationsprozess bereits auf der Ebene der Konstitution von Sublimierung ein. Damit wird Sublimierung, Zivilisation notwendig traurig. Zivilisation ist Trauerarbeit. Freud erkennt ferner, dass der Triebanspruch mit der Fähigkeit zur Idealbildung ansteigt. Je feiner die Fähigkeit zur Idealbildung ausgebildet ist, umso schärfer und qualvoller wird dem Subjekt bewusst, dass verzichtet werden muss. Freud sieht sich konfrontiert mit der Tatsache, dass der Differenzierte und nicht der Primitive ein Problem mit dem Sublimieren hat, wenn es ihm nicht gelingt, das Ideal am Ende aufzugeben. Auf dem Höhepunkt der Zivilisation kehrt das Archaische womöglich ungebrochen, neurotisch intensiviert, wieder. Mit der Einführung des Narzissmus entdeckt Freud die Dialektik der Auf klärung. Es wäre daher die gewaltige Aufgabe, Wege zu zeigen, wie gegen Trauer und Unbehagen anzugehen wäre. Gelungene Sublimierung wäre gegeben, wenn der Akzent im Erleben des Subjekts vom egoistischen Wunsch nach Trieberfüllung auf das Objekt verlagert würde, also der Übergang möglich wäre vom amour propre zum amour pur oder zumindest eine Amalgamierung von Trieb und Objekt. Liebe als Liebe zum Objekt in seiner Freiheit und nicht Liebe zum eigenen 261
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Trieb, das wäre gelungene Sublimierung. Oder, romantisch formuliert: Sublimierung ist Liebe. Eine Ausarbeitung dieses Projektes hat Freud nicht mehr vorgenommen. Er hinterließ die offene Frage, ob es gelungene Sublimierung geben könne. Lacan bestimmte im Text über das Spiegelstadium als die Aufgabe der »Liebe«, den Knoten imaginärer Knechtschaft immer wieder neu zu lösen oder auch zu zerschneiden. Zu dieser Liebe gehört – denn sie soll die irdische Reise ermöglichen –, energisch daran zu erinnern, dass Freud von der Schrift über Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen von 1898 bis zum Unbehagen in der Kultur von 1930 und dem Abriss der Psychoanalyse von 1938 die perverse Erfahrung als den Zugang zum Verständnis der Normalität ausgezeichnet hat. Ohne Aneignung der perversen Erfahrung gibt es weder Heilung von der Neurose noch Verständnis der Kultur. Jacques Lacan verschärft den Blick auf die Zivilisation von der Grenze her, indem er die kulturellen Hauptleistungen aus psychischen Krisen hervorgehen lässt und im Anschluss an Freud eine scharfe These bietet, »in welcher die jeweiligen Mechanismen der Hysterie, der Zwangsneurose und der Paranoia mit drei Termen der Sublimierung in Verbindung gebracht werden, Kunst, Religion und Wissenschaft« (159f.). Kunst ist demnach ein hysterischer Tanz um die peinigende Leere in unserem Herzen, die Wissenschaft ist der paranoide Versuch, die Strukturen der Verschwörung eines bösen Gottes gegen unser Glück freizulegen, insofern sie sich blasphemisch als radikaler »Unglauben« (160) entwirft, Religion schließlich »besteht in allen Weisen, dieser Leere aus dem Weg zu gehen« (160). 43 Konsequent läuft das Seminar VII im Hinblick auf die Funktion der Kunst auf eine Lektüre der Antigone des Sophokles zu, um die »Struktur der tragischen Ethik zu demonstrieren, die die Ethik der Psychoanalyse ist« (310). Lacan bestimmt das Schöne, das er in der Gestalt der jungen Antigone, einer Figur »Am-Ende-der-Bahn« (326), verkörpert sieht, als »ein Auffangnetz«, das uns einhalten lässt, uns aber zugleich anzeigt, »in welcher Richtung das Feld der Destruktion liegt« (262). In einer eleganten Wendung meint er, das Schöne sei nicht der Glanz des hässlichen Wahren, sondern dessen »Glasur« (262), also gleichsam der schimmernde Bernstein um den prähistorischen Moskito. Die Lektüre der Antigone kulminiert in einer neuen, schockierenden Definition der Katharsis, der Sekunde des Entsetzens, die den Ernst der Sublimierung erfahrbar macht:
43. Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu (1912/13), Bd. 9, S. 363: »Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.«
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»[D]ie Funktion des Begehrens [muss] in einem grundlegenden Verhältnis zum Tod bleiben. Ich stelle die Frage – muss das Ende der Analyse, das wahrhafte Ende, ich meine das, das darauf vorbereitet, Analytiker zu werden, nicht den, der sich ihr unterzieht, mit der Realität der conditio humana konfrontieren? Es ist genau das, was Freud, wo er von der Angst spricht, als den Grund bezeichnet hat, auf dem ihr Signal auftaucht, nämlich die Hilflosigkeit, in welcher der Mensch in seinem Verhältnis zu sich selbst, das sein eigener Tod ist […], von niemandem Hilfe zu erwarten hat« (362).
Eine Kunst, die den Doppelcharakter von Versprechen und Warnschild preisgibt – Lacan spricht wiederholt vom »Blendungseffekt« der Schönheit (337) – und eindeutig auf eine Kassierung dieser Distanz hinaus will, geht an die Grenze, reißt die Sublimierungen ein. Jenseits dieser Grenze liegt das sadistische Bedürfnis, die Hilflosigkeit des gehassten Anderen nicht nur in dieser Welt folternd zu etablieren, sondern sie phantasmatisch noch über diese Welt hinaus zu verlängern, den Zweiten Tod einzuführen, die unendliche Höllenqual. 44 Das Werk de Sades überschreitet laut Lacan diese Grenze: »Ein Werk, das, wie man gesagt hat, nicht zu überbieten ist an Unerträglichkeit, was hinsichtlich einer Überschreitung aller menschlichen Grenzen in Worten auszudrücken ist. Keiner hat die Gefühle und Gedanken der Menschen tiefer verletzt. […] Es besteht [das Werk de Sades, E.G.] im Moment der Annäherung an ein glühendes Zentrum oder einen absoluten Nullpunkt, der psychisch den Atem verschlägt. […] Das Kunstwerk zeigt sich hier als ein Experiment, das in seinem Verlauf das Subjekt aus seinen psychosozialen Vertäuungen reißt – um nicht im Ungefähren zu bleiben, würde ich sagen: aus jeder psychosozialen Wertung der Sublimierung, um die es geht.« (242f.)
Man kann hier klar benennen, warum eine Kunst, die das Ideal des Ausbruchs aus der symbolischen Ordnung verfolgt, für Lacan eine Kunst an der Grenze ist. Kunst hat laut Lacan die doppelte ethische Funktion, zwischen uns und dem ›Ding‹ einerseits Distanz zu halten, uns anderseits aber die Richtung anzuzeigen, in die wir nicht gehen dürfen. Kunst emergiert aus der liminalen Phase und bezeichnet als »Glasur« die Grenze zwischen uns und der Krise. Eingebettet in den schimmernden Bernstein der Darstellung spendet der in der Wirklichkeit schmerzhaft unangenehme
44. Vgl. zum Begriff des zweiten Todes – der biologische Tod in Adam ist der erste, die Höllenexistenz des Ungetauften oder Verworfenen hingegen der zweite Tod – etwa Augustinus: Confessiones, 5. Buch.
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Moskito sanfte Vorlust, oder, mit Lacan geredet: »[A]uf der Seite des Werkes ist es immer schön« (152). Kunst kann die tragische Dimension der conditio humana umschreiben, ihr aber keine Lösung geben, die den Hunger nach Erfüllung, die grauenhafte Erfahrung vollkommener Hilflosigkeit tilgte. Lacan stellt sich der durch die Angst gegebenen Herausforderung, indem er die Schärfe der Problematik deutlich herausstellt. Freud zeigt, dass der in der voranalytischen Ethik maßgebliche Begriff des höchsten Gutes der Welt des Lustprinzips entstammt, »daß jenes Höchste Gut, das das Ding ist, das die Mutter, das Objekt des Inzests ist, ein verbotenes Gut ist und daß es kein anderes Gut gibt.« (88) Die Suche nach »einer natürlichen Moral«, das optimistische Vorhaben der Zivilisierung, »das natürlich die Reifung der Instinkte« (110) bewirken soll, die Hoffnung auf »eine meliorisierte Natur oder natürliche Melioration« (111) ist immer schon gescheitert, wenn sich diese Suche am Phantasma des höchsten Gutes orientiert. Dass das höchste Gut ein schwarzes Übel ist, zeigt sich am von Freud entdeckten Phänomen, das nur jenseits der ödipalen Situation als paradox erscheint: dass nämlich »das Moralbewußtsein um so fordernder auftritt, je mehr es geläutert ist – um so grausamer, je weniger wir es tatsächlich verletzen« (111). Je mehr sich das Subjekt um das höchste Gut bemüht, umso stärker wird der »Parasit« des die Schuldgefühle produzierenden Moralbewusstseins, »der sich aus den ihm zugestandenen Befriedigungen ernährt«. (112) Sublimierung heißt demzufolge, die Idee des höchsten Gutes als ein Produkt des Narzissmus zu erkennen und aufzugeben. Auf der anderen Seite heißt dann Sublimierung, sich gleichwohl bewusst zu werden und zu bleiben, dass die Sehnsucht nach dem Guten uns nie verlassen wird. Im Gegensatz zur Inszenierung der unerschütterlichen Seelenruhe der von Freud gezeichneten stoischen Individuen insistiert Lacan auf der untilgbar »kreationistischen« Dimension unseres Lebens (369 u. ö.), darauf, dass wir in genau dem Moment, in dem wir entdecken, dass der reale Vater nicht »der große Macker« (366) ist, sondern »ein Idiot oder einfach ein armer Kerl« (367), anfangen, mit dem imaginären Vater zu hadern: Die »Funktion des Überichs ist […] in letzter Hinsicht Haß auf Gott« (367). Es gibt auch bei Lacan keine Zukunft der Illusion, aber eine klarere Ausleuchtung des religiösen Szenarios als bei Freud. Hinter dem Konflikt mit dem realen Vater taucht der Konflikt mit dem großen Anderen auf. Das Gebet ist nichts anderes als der Versuch, mit Sprache über Sprache hinauszugelangen. Und deshalb wird das Porträt Gottes, das Luther zeichnet, für Lacan so aufschlussreich: »Luther freilich, das ist meiner Meinung nach viel mehr. Der Haß, der sogar vor der Erschaffung der Welt da war, der korrelativ ist zu der Beziehung, die zwischen einer bestimmten Wirkung des Gesetzes als solchem und einer bestimmten Kon-
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VII. Das Ding
zeption des Dings besteht, als radikalstes Problem und, um alles zu sagen, als das Problem des Bösen – ich denke es kann Ihnen nicht entgehen, daß das genau das ist, womit Freud es zu tun hat, wenn die Frage nach dem Vater, die er stellt, ihn dazu führt, in ihm uns den Tyrannen der Horde zu zeigen, als den, gegen den sich das Urverbrechen richtete, das eben damit die Ordnung, das Wesen und das Fundament des Bereiches des Gesetzes eingeführt hat.« (121)
Insofern sich die Sorge um das höchste Gut immer tiefer in den Stacheldraht der Schuld verstrickt, potenziert sich die Problematik nur, wenn zwei unausweichlich narzisstisch verwundete Subjekte liebend aufeinander treffen. Dem Weg zum Nächsten sind enge Grenzen gesteckt, denn man entdeckt, »daß der Nächste all die Bösartigkeit hat, von der Freud spricht, daß diese Bösartigkeit aber keine andere ist als die, vor der ich in mir selbst zurückweiche. Ihn zu lieben als ein Ichselbst, heißt gleichzeitig, mich notwendig auf irgendeine Grausamkeit zuzubewegen.« (240)
Verzichtet sei hier auf ausgreifende Zitate der extrem pessimistischen Anthropologie Luthers, dem auch die Welt der Natur eine verrottete und korrupte war: »je elter je kerger, jhe lenger je erger«, 45 sondern hingewiesen nur auf den Rat für jenen, der sich verheiraten will: Beten, beten beten. 46 Das ist weniger scherzhaft gemeint, als es klingt. Luther weiß, dass zwei Menschen, direkt miteinander konfrontiert, die Entdeckung der Grausamkeit machen: »Die Begierde kommt ohne besonderen Anlaß, wie Flöhe und Läuse«. 47 Es bedarf – wie noch Julia Kristeva lehrt – eines vermittelnden Dritten, einer übergeordneten Instanz, eines Ideals, eines Gottes, damit Zweisamkeit gelingen kann. 48 Die Suche nach dem höchsten Gut gerät, als vom narzisstischen Ideal eingeblasene, immer tiefer in die Falle der Schuld, Liebe ist Entdeckung der Grausamkeit, ist nicht natürlich. Selbst jenseits dieser Brennpunkte erweist sich die Suche nach dem Guten als Streben nach Macht. Gut ist etwas, über das ich verfügen kann: »Der Bereich des Guten ist die Entstehung der Macht«. (276) Im Kern des Guten lauert nicht nur die psychotische Selbstauflösung, sondern zumal der Wille zur Ermächtigung:
45. Groh: Schöpfung im Widerspruch (Anm. 30), S. 581. 46. Luther: Tischgespräche (Anm. 24), S. 285. 47. Ebd., S. 286. 48. Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe, Frankfurt a.M. 1989, S. 11.
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»Die wirkliche Natur des Guten, sein tiefer Doppelcharakter liegt darin, daß es nicht schlicht und einfach ein natürlich Gutes ist, die Antwort auf ein Bedürfnis, sondern mögliche Macht, Macht zu befriedigen. Deshalb organisiert sich jedes Verhältnis des Menschen zum Realen der Güter durch das Verhältnis zur Macht, die die Macht des anderen ist, der imaginären anderen, ihn derselben zu berauben.« (281)
Das Bild menschlichen Lebens, das Lacan im Einklang mit Luther zeichnet, ist ein in Selbsthass, wechselseitiger Zufügung von Grausamkeit verstricktes und ein endloser Wettbewerb um Macht: »Zuallererst ist der Nächste ein böses Wesen« (225). Es herrscht das unersättliche Begehren nach dem, was der andere hat, es ist ein Leben im Zeichen von Lebensneid. Der Lebensneid aber ist selbst tragisch, insofern er Begehren des anderen im doppelten Sinne ist: zu werden wie der andere, indem man raubt, was der andere hat. Auch hier erhält der Täter immer nur Objekte, niemals das ersehnte ›Ding‹ und bleibt auf seinem oder ihrem Hunger sitzen.
6. Angesichts dieser schonungslosen Phänomenologie muss eine Ethik der Psychoanalyse eine Ethik der Grenzen sein, auch eine Apologie der Institutionen. Sie muss zunächst die Grenzen bewusst machen, die den konflikthaft strukturierten Menschen individuell gesetzt sind: »Nicht jede Sublimierung ist möglich für das Individuum. Beim Individuum […] sehen wir uns an Grenzen. Es ist da etwas, das nicht sublimiert werden kann, es gibt eine libidinöse Forderung, die Forderung einer bestimmten Dosis, eines bestimmten Satzes an direkter Befriedigung, in dessen Ermangelung es in der Folge zu Schäden und schweren Störungen kommt.« (114)
Zivilisation muss daher Regressionsasyle bereithalten, Ablenkungen. Ferner muss sie fähig sein, das Missverständnis der Liebe aufzufangen. Denn: »Die allgemeinste Formel, die ich Ihnen von der Sublimierung geben kann, ist diese – sie erhebt ein Objekt – und hier wehre ich mich nicht gegen kalauerhafte Anklänge, die mit dem Gebrauch des Terms, den ich bringen möchte, verbunden sein mögen – zur Dignität des Dings.« (138)
In den Intimbezügen der Subjekte muss es möglich sein, die strukturell generierte Frustration zu verarbeiten, die sich einstellt, sobald das zum 266
VII. Das Ding
»Ding« sublimierte Objekt sich erweist als das, was es ist: als Mensch. Hier formuliert Lacan eine Lösung des Sublimierungsproblems von ausgesuchter Rafinesse. Er schlägt vor, nicht am Trieb zu arbeiten oder am Objekt, sondern den Wechsel der Objekte zu favorisieren. Permanenter Wechsel gestattet es, dem Zug des unersättlichen Triebs zu folgen, ohne in die tödliche Falle eines Begehrens nach dem »Ding« zu gehen. Promiskuität, Vermeidung heilloser Fixierung, schaff t gesunde Distanz zu den Eltern und ihren Wiedergängern in der Übertragung: »In der Definition der Sublimierung als einer Befriedigung ohne Verdrängung gibt es implizit oder explizit einen Übergang vom Wissen zum Nichtwissen, ein Anerkennen dessen, daß das Begehren nichts anderes ist als die Metonymie des Diskurses des Anspruchs. Es ist der Wechsel als solcher. Ich bestehe darauf – dieses im eigentlichen Sinne metonymische Verhältnis eines Signifikanten zum anderen, das wir Begehren nennen, ist nicht das neue Objekt, auch nicht das Objekt von früher, es ist der Wechsel des Objekts in sich selbst.« (350)
Vorgesehen werden muss dann eine Kompensation der Sublimierungarbeit jenseits der Liebesbeziehungen: »Sublimieren Sie, was immer Sie wollen, Sie müssen es mit etwas bezahlen. […] Was an Gut um des Begehrens willen geopfert wird – und Sie werden darauf achtgeben, daß das dasselbe heißt wie, was an Begehren um des Guten willen verloren geht –, dieses Pfund Fleisch ist genau das, was wiederzuerlangen, die Religion als ihren Dienst und als ihre Verwendung ansieht.« (384)
Insgesamt besteht die Ethik der Psychoanalyse in einer doppelten Bewegung, das von Todesangst befeuerte Begehren der Menschen als unvermeidlich anzuerkennen und freizugeben und ihm zugleich strenge Grenzen zu setzen: »Die Blumen des Begehrens sind in diesem Gefäß, dessen Umgrenzung wir festzuhalten versuchen.« (355) In analytischer Perspektive, die in Anerkennung unserer »kreationistischen« Disposition die eschatologische Perspektive auf das in dieser Welt für immer verlorene ›Ding‹ einnimmt, ist Angst vor dem Über-Ich und das entsprechende Schuldgefühl nur die Maske vor der einzigen Schuld, die es im Kontext der analytischen Triebtheorie gibt. Der womöglich zentrale Satz des Seminars VII lautet daher: »Letztlich besteht das, wessen sich das Subjekt wirklich schuldig fühlt, wenn es Schuld auf sich lädt, es mag dem Beichtvater gefallen oder nicht, im Grund darin, daß es von seinem Begehren abgelassen hat.« (381)
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Nach Lacan trägt nicht die Zivilisation die Verantwortung für unser Unbehagen, sondern nur wir selbst, unsere konstitutionelle Unnatur, die uns zu Hungerleidern nach dem Unerreichlichen macht. Wir sind uns selbst unangenehm. Zivilisation setzt unserem Selbsthass Grenzen; und darin besteht Lacans Umwendung Freuds im Zeichen einer Reflexion auf Religion. Bei der Inventarisierung der Stellungnahmen zum Problem der Sublimierung wurde ein additiv-administrativer Stil gewählt, um zu verdeutlichen, dass es nach Lacan offenbar eine mit großer Autorität ausgestattete Instanz geben muss, die die Verordnungen für das Sozial- wie das Intimleben formuliert, eine Instanz, die die schwankend bleibende Bewegung zwischen Begehren und Frustration ebenso flexibel wie straff organisiert und insgesamt die Explosion des Ganzen verhindert. Es muss Subjekte geben, wenn anders die Bombe nicht hochgehen soll (Lacan schreibt mit permanentem Seitenblick auf den Kalten Krieg), denen das sublimste Werk der Sublimierung gelingt: die Sehnsucht nach dem »Ding« umzuformulieren in die Verantwortung für den »Thing«, für den Sozialverband (vgl. 56ff.): »Die Frage nach dem Höchsten Gut stellt sich für den Menschen von alters her, doch er, der Analytiker weiß, daß das eine abgeschlossene Frage ist. Nicht nur hat er nicht, was man ihm verlangt, er hat es mit Sicherheit nicht, das Höchste Gut, sondern er weiß, daß es ein solches nicht gibt. Eine Analyse an ihr Ende gebracht zu haben, heißt nichts anderes, als auf diese Grenze gestoßen zu sein, an der sich die ganze Problematik des Begehrens stellt.« (357)
Die klare Auskunft steht in markantem Gegensatz zu einer anderen Passage, in der Lacan ebenso entschieden betont, dass »wir, als Analytiker, denken, daß es kein Wissen gibt, das sich nicht auf einem Grund von Unwissenheit erhebt« (208). Das Paradox, einerseits um die Notwendigkeit der Ziehung von Grenzen zu wissen, auf der anderen Seite aber ein Unwissen konzedieren zu müssen, warum es überhaupt Grenzen geben soll und nicht vielmehr keine, löst Lacan mit einer eminent herausfordernden Volte, die das spirituelle und das soziale Moment integriert: Der Sohn muss zum Vater werden. Im Einklang mit Freud unterstreicht Lacan, »wie kostbar jene männliche Identifizierung ist, die aus der Liebe zum Vater fließt«, der eben nicht nur die Aufgabe zukommt, die »Normalisierung des Begehrens« qua Kastration zu lancieren, die den Blick vom Ursprung und Nirvana wegdreht (219). Im sublimen Namen des Vaters zu agieren, bedeutet gelungene Sublimierung: »Anerkennung der Funktion des Vaters in der Menschheitsgeschichte [ist] eine Sublimierung, die wesentlich für das Entstehen einer Spiritualität ist, die als solche ein Neues darstellt, einen Schritt in der Erfassung der Wirklichkeit als solcher.« (219) 268
VII. Das Ding
Von dieser Zumutung her, das Monstrum lieben zu sollen, das der Vater ist, und zwar in solchem Ausmaß, dass man nicht davor zurückweicht, selbst Vater zu werden, erklärt sich das Interesse Lacans an Luther. Im Vater verbirgt sich die andere Seite der Sehnsucht nach dem »Ding«: »das elementare Grauen vor einer solchen erneuten, das Bewußtsein auslöschenden Verschmelzung mit der Mutter, mit der primären Matrix, das seine Personifikation in der Imago des Vaters, seiner den Inzest untersagenden Funktion findet«.49
Luther interessiert Lacan nur sekundär als religiöser Autor, der den ums Glück betrogenen Menschen ein kompensierendes Jenseits verspricht. Lacan interessiert sich für Luther primär als leidenden Sohn, der die Einsicht zum Ausgangspunkt seiner Theologie macht, dass wir als Söhne gehasst werden »dadurch, daß wir geboren werden.«50 Die Theologie Luthers dokumentiert die schmerzhaften Stationen auf dem Weg eines Sohnes, der sich zur Vaterposition durchkämpft. Im Vergleich dazu sind, wie Luther selbst schreibt, »das Papsttum, das Fegefeuer, der Ablass und ähnliches […] mehr Lappalien als wirkliche Probleme«.51 Der Papst ist kein Vater, nur eine im narzisstischen Begehren steckende Stellvertreterfigur. Der Weg zur Vaterposition führt den Sohn Martin Luther durch drei Lichter hindurch, das schwache Licht der Natur, das flackernde Licht der Gnade und das gleißende Licht der Herrlichkeit: »Im Licht der Natur ist es unlösbar, daß das gerecht ist, daß das Gute heimgesucht wird und daß es dem Bösen wohl gehet. Doch dies löst das Licht der Gnade. Im Licht der Gnade ist es unlösbar, wie Gott den verdammen kann, der aus seinen eigenen Kräften nichts anderes tun kann, als sündigen und schuldig werden. Hier sagen sowohl das Licht der Natur, wie das Licht der Gnade, daß die Schuld nicht des armen Menschen, sondern des ungerechten Gottes sei. Denn sie können nicht anders über Gott urteilen, der den gottlosen Menschen umsonst ohne Verdienste krönt, und einen anderen nicht krönt, sondern verdammt, der vielleicht weniger oder wenigstens nicht mehr gottlos ist. Aber das Licht der Herrlichkeit redet anders und wird alsdann zeigen, daß Gott, dessen Gericht bisher eine unbegreifliche Gerechtigkeit innewohnt, die gerechteste und offenkundigste Gerechtigkeit zugehört.«52
49. Zagermann: Ich-Ideal (Anm. 25), S. 9. 50. Luther: Vom Unfreien Willen (Anm. 29), S. 238. 51. Ebd., S. 252. 52. Ebd., S. 250.
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In der Rede vom gleißenden Licht konvergieren die von Lacan akzentuierte Spiritualität und radikale Diesseitigkeit. Es liegt eine bewundernswerte Tiefe in Lacans Beobachtung, dass Spiritualität den Schritt zur Erfassung der Wirklichkeit als solcher geht. Im gleißenden Licht der Herrlichkeit, der Allegorie des Reifungsprozesses, verbrennen die kindlichen Klagen, die im Licht der Natur wie der Gnade geführt werden. Ins gleichgültige Licht der Herrlichkeit zu blicken bedeutet, sich für einen ebenso ekstatischen wie tödlichen Augenblick aus der Welt der Klage heraus zu schwingen, um nach der totalen Blendung die Wirklichkeit in ihrer Fülle zu entdecken. Das Licht der Herrlichkeit entbirgt die Fülle einer Welt, in der es sinnlos ist zu klagen, weil es keinen Vater mehr gibt: Theologie hebt sich auf ihrem Höhepunkt selbst auf. Es gibt keine Instanz, an die man sich wenden könnte außer denjenigen Instanzen und Institutionen, die die Menschen über einem Abgrund von Nichtwissen selbst schaffen. In der Sekunde der Einsicht hat der Sohn die Vaterposition eingenommen und den Glauben verloren. Unter dem Gesetz des Vaters war Leben der Zwang, »fortwährend im Ungewissen zu arbeiten und Lufthiebe zu machen«.53 Im Licht der Herrlichkeit vergeht das Gespenst des toten Vaters, dem die verzweifelten Lufthiebe und Klagen galten. Zurück bleiben die Söhne und Töchter und deren reale Konflikte. Lacan denkt Freuds Theorie der Sublimierung im gleißenden Licht Luthers zu Ende. Sublimierung ist nicht Abkehr von der Welt, sondern der Königsweg zu ihrer Entdeckung. Das gleißende Licht der Herrlichkeit kehrt in der Schrift über den Spiegel wieder als das Entzücken, an dessen Grenze Psychoanalyse jene führt, die ihre Ideale vom Glück aufgegeben haben: »In diesem Punkt, wo sich Natur und Gesellschaft treffen und den die heutige Anthropologie so hartnäckig erforscht, erkennt allein die Psychoanalyse jenen Knoten imaginärer Knechtschaft, den die Liebe immer neu lösen oder zerschneiden muß. Für ein solches Werk erweist sich nach unserer Meinung das altruistische Gefühl als eitel; wir setzen die Aggressivität ins Licht, welche unter den Aktionen des Philanthropen, des Idealisten, des Pädagogen, sogar des Reformators liegt. In der Zuflucht, welche wir vor dem Subjekt für das Subjekt retten, kann die Psychoanalyse den Patienten bis zu der Grenze der Entzückung begleiten, wo sich ihm in der Formel ›du bist es‹ die Chiffre seiner irdischen Bestimmung enthüllt, aber es steht nicht allein in unsrer Macht als Praktiker, ihn dahin zu führen, wo die wahre Reise beginnt.«
53. Ebd., S. 246.
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Notiz Ich danke den Kolleginnen und Kollegen am Department of German der New York University für ihre große Unterstützung, die das Entstehen dieses Buches ermöglicht hat: Avital Ronell, Elke Siegel, Paul Fleming, Paul North, John Hamilton, Fred Ulfers, Ulrich Baer, Andrea Dortmann, Robert Cohen, Kathrin DiPaola, Larry Rickels, und Elisabeth Bronfen. Vivian Liska und Hella Tiedemann danke ich für den via E-Mail bzw. Telefon geführten Austausch zu einzelnen Kapiteln, Eberhard Lämmert für die Gespräche über Goethe und Thomas Mann. Lindsay O’Connor und Harriet Asase danke ich für ihre vielfältige Hilfe und Carmen Bartl für die Korrekturen. Christopher Leake, Christopher Clark und Libby Garland danke ich für die gemeinsam verbrachte time off in Manhattan. In Berlin bzw. Deutschland danke ich von Herzen: Caroline Gille, Achim Geisenhanslüke, Gregor Gumpert, Hans-Christian v. Herrmann, Martin v. Koppenfels, Martin Steffen und vor allem: Max Haupt. Ihm ist dieses Buch in großer Dankbarkeit gewidmet. Von kritischen Anmerkungen zu einzelnen Kapiteln habe ich eminent profitiert, verantworte aber natürlich meine Interpretationen und Thesen und Fehler allein. Ich danke Achim Geisenhanslüke, Georg Mein und dem transcript Verlag für die Bereitschaft, das vorliegende Buch in die Reihe Literalität und Liminalität aufzunehmen. Dem Dean for the Humanities der NYU, Edward J. Sullivan, danke ich für den Zuschuss zu den Druckkosten und der NYU für die mit der ehrenvollen Vergabe des Research Challenge Award verbundene finanzielle und administrative Unterstützung. In vollkommen überarbeiteter Form ist mein Aufsatz über Adorno in Sils Maria aus der 2001 bei Königshausen & Neumann erschienenen Festschrift für Hella Tiedemann – Kritik der Tradition – in das vorliegende Buch eingegangen. Frühere Fassungen der folgenden Kapitel wurden bereits an anderer Stelle in Deutschland publiziert: •
Das Ding (Sublimieren). Lacans Luther, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für AVL (2007), S. 131-144. 271
Jenseits des Unbehagens
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Tierische Transzendenz: »Herr und Hund«. In: Stefan Börnchen/Claudia Liebrand: Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die klassische Moderne, München 2008, S. 278-297. Erschütterung. Adorno über Sublimierung. In: Richard Faber/EvaMaria Ziege (Hg.): Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945, Würzburg 2008, S. 105-121.
In den USA erschien eine Kurzfassung des Goethekapitels: • Aussöhnung. Sublimierung als Paradigma in Goethes Trilogie der Leidenschaft. In: Monatshefte, vol. 100, Nr. 4 (2008), S. 461-488. New York, am 21.Oktober 2008 Eckart Goebel
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Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion 2008, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-870-4
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9
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3) ANZ1197.p 208993377184
Literalität und Liminalität Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift 2008, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-777-6
Nicola Gess, Tina Hartmann, Robert Sollich (Hg.) Barocktheater heute Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne 2008, 220 Seiten, kart., mit DVD, 25,80 €, ISBN 978-3-89942-947-3
Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität August 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-89942-779-0
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Literalität und Liminalität Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-877-3
Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3
Oliver Kohns Die Verrücktheit des Sinns Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle 2007, 366 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-738-7
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