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German Pages 79 [100] Year 1973
JAHRBUCH
FÜR
MUSIKALISCHE
VOLKS-
UND
VÖLKERKUNDE
7
¿Jahrbuch
flrmiifi{alifcbo yolbitVölkcrJundo Herausgegeben von
FRITZ BOSE
Band 7 mit Notenbeispielen 12 A b b i l d u n g e n u n d 1 Schallplatte
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W A L T E R DE G R U Y T E R • B E R L I N • N E W Y O R K • 1973
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forsdiungsgemeinsdiaft
26.453 mm
ISBN 3 11 004271 1 L i b r a r y of Congress C a t a l o g C a r d N u m b e r : 73-80685 © 1973 by W a l t e r de G r u y t e r & C o . , v o r m a l s G . J . Göschen'sdie V e r l a g s h a n d l u n g • J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung • G e o r g Reimer • K a r l J . T r ü b n e r • Veit & C o m p . , Berlin 30 • Alle Rechte, insbesondere das der Ü b e r s e t z u n g in f r e m d e Sprachen, v o r b e h a l t e n . O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile d a r a u s auf photomechanischem Wege ( P h o t o k o p i e , M i k r o k o p i e ) zu v e r v i e l f ä l t i g e n . P r i n t e d in G e r m a n y Satz u n d D r u c k : Saladruck, Berlin 36
VORWORT Dieser 7. Band des Jahrbuches kann mit einer Erstveröffentlichung aufwarten, die recht ungewöhnlich ist: mit einem Beitrag meines 1935 verstorbenen Lehrers Erich M. von Hornbostel, Begründers der Berliner Schule der „vergleidienden Musikwissenschaft". Es handelt sich dabei allerdings nicht um einen zur Veröffentlichung bestimmten Aufsatz sondern um einen Vortrag für die Kantgesellschaft in Rostock vom Jahre 1928. Dieter Christensen fand das Manuskript bei den Arbeiten zur Herausgabe der gesammelten Schriften von Hornbostels in den Akten des Berliner Phonogrammarchivs, dessen Mitbegründer und Leiter Hornbostel von 1901 bis 1933 war. Es handelt sidi dabei mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um ein unmittelbar von ihm verfaßtes Manuskript sondern offenbar um eine nach einem Stenogramm von einer unbekannten Person aufgezeichnete Wiedergabe seines Vortrages. Ich habe nie erlebt, daß von Hornbostel einen Vortrag oder eine Vorlesung von einem Manuskript abgelesen hätte. Er brachte dazu Notizen auf kleinen Zetteln mit, die jedoch nur die Musikbeispiele der Phonogramme enthielten, die er zur Demonstration benutzen wollte. Er pflegte frei zu sprechen — und das auch noch ungern, denn er war nicht sehr redegewandt und nahm daher auch Einladungen zu öffentlichen Vorträgen nur ungern wahr. Zu seinem Mangel an Eloquenz kam seine Menschenscheu und ein ständig labiler Gesundheitszustand. 1928 war ich fast ständig von Berlin abwesend und weiß daher nichts über die näheren Umstände, die Hornbostel zur Annahme dieser Einladung veranlaßt hatten. Das Thema ist dem Anlaß angemessen: eine allgemein gehaltene, leicht verständliche Rede für ein gebildetes Auditorium ohne spezielle Sachkenntnis. Die Frage nach dem Ursprung der Musik lag damals noch im Bereich allgemeinen Interesses, veranlaßt durch die noch immer nachwirkenden Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts. Die Aufspaltung des Begriffs der Tonhöhe in zwei Wahrnehmungsbereidie „Helligkeit" und „Tonigkeit", die ihn damals stark beschäftigten, und die er analog auch auf die übrigen Sinnesgebiete anzuwenden bestrebt war, sind auch hier angesprochen wie auch die melodie- und leiterbildenden Faktoren der Distanz und der Konsonanz und die enge Bindung der Musik an Körpergesten und Tanz. Der zweite Beitrag befaßt sich gleichfalls mit den so oft schon diskutierten Fragen nach den „Anfängen der Musik" (Stumpf). Ich hatte ihn schon seit langem fertig ge-
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VORWORT
stellt und er w a r für diesen B a n d eingeplant, als ich den Vortrag von Honbostel von den Editoren der Gesamtausgabe zum Vorabdruck erhielt. N u n stehen beide in demselben Band. Doch meine ich, daß es nicht uninteressant sein dürfte, die Gedanken des Lehrers von seinem Schüler aufgegriffen und weitergeführt zu sehen. Mein A u f satz befaßt sich zudem nur mit den Fragen der Tonalität in primitiver Musik und behandelt die genetischen Fragen nur aus dieser Sicht u n d n u r nebenbei und nicht als das eigentliche Anliegen, das vielmehr in einer systematischen O r d n u n g der vorhandenen und der denkbaren Skalenbildung in den musikalischen Stilen aller Völker besteht. D i e beiden folgenden Beiträge gelten nun nicht auch noch generellen Problemen sondern speziellen Detailuntersuchungen, wie sie f ü r die moderne Musikethnologie richtungsweisend sind. Helmut Rösing befaßte sich mit der Schwierigkeit, auf Schallplatten fixierte Musik aus dem Repertoire der japanischen Gagaku-Musik in europäischen Notierungen lesbar zu machen. D i e melodie-führenden Instrumente Flöte und Oboe vermeiden geradezu eine exakte Intonation, und die melodischen Gestalten werden durch die o f t die Grenze der Erfaßbarkeit kontinuierlicher Gestaltzusammenhänge überschreitende Dehnung des Tempos für den an westliche Musik gewohnten Hörer kaum erkennbar. Der Anteil des improvisatorischen Elementes, der sonst jede Übertragung asiatischer Kunstmusik nach phonographierten Aufzeithnungen zu starren Momentaufnahmen eines sich stets wandelnden Prozesses
macht,
scheint mir dagegen bei der japanischen Palastmusik weniger relevant. Mir liegen zwei Einspielungen des Bugaku-Stückes R y ö ö vor, die bis auf die Tatsache, daß eine davon um genau die halbe Zeit kürzer ist, weil die Wiederholungen fortgelassen wurden, sonst in jeder kleinsten N u a n c e übereinstimmen. Der Beitrag von M. T . Massoudieh, der bei Marius Schneider in K ö l n studierte, führt uns in die an Pakistan grenzende Südostecke des Iran, wo das kleine Volk der Balutschen eine auch musikalisch eigene Tradition pflegt. A u s der reichen Folklore dieses Stammes sind hier Hochzeitslieder präsentiert und analysiert. D i e Schallplatte erlaubt es, auch die Interpretationstechnik und den Klangstil dieser eigenständigen Volksmusikkultur zu registrieren. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist wiederum f ü r die Beihilfe zu den H e r stellungskosten, dem Verlag f ü r die S o r g f a l t zu danken, mit der auch diesmal die o f t komplizierten Texte, N o t e n und Tabellen wiedergegeben wurden. Fritz Bose
INHALT Vorwort
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VON H O R N B O S T E L , E R I C H M . ( t )
Geburt und erste Kindheit der Musik
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(Berlin) Tonale Strukturen in primitiver Musik
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(Saarbrücken) Zur Problematik der Transkription japanischer Palastmusik
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(Teheran) Hochzeitslieder aus Balücestän
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BOSE, F R I T Z
RÖSING, HELMUT
MASSOUDIEH, M . T A G H I
Rezensionen Beilage: 1 Schallplatte
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GEBURT UND ERSTE KINDHEIT DER MUSIK von E R I C H M . VON H O R N B O S T E L ( F )
Als Erbe des 19. Jahrhunderts haben wir die entwiddungsgeschichtliche Fragestellung übernommen. Die Frage nach dem Ursprung der Musik hat schon Darwin selbst zu beantworten versucht und sie ist seither wiederholt erörtert worden. Wenn wir sie heute nochmals aufnehmen, so sind wir insofern besser dran als unsere Vorgänger, als durch das inzwischen angesammelte phonographische Material sich unsere Tatsachenkenntnis erheblich erweitert und gefestigt hat, und als die neuere, namentlidi die gestalttheoretisch orientierte Psychologie der Hypothesenbildung einen neuen Weg eröffnet. Auch die moderne Völkerkunde hat zwei alteingewurzelte Vorurteile aufgedeckt: das von der einfach linearen Entwicklungsreihe, die vom Urmenschen bis zu uns führe; und das von der Geschichtslosigkeit der heutigen Naturvölker. N i r gens mehr finden wir heute die wirklichen Anfänge. U n d es geht nicht an, ohne weiteres die Erscheinungen bei verschiedenen Völkern, etwa nach scheinbarer K o m plikation in eine Reihe zu ordnen, ohne historische Zusammenhänge auch nur zu erwägen. Von den Musikinstrumenten im engeren Sinne z. B. hat sich nachweisen lassen, daß die Naturvölker sie sämtlich von Hodikulturen entlehnt haben. Für das relative Alter der Erscheinungen sind mehrere methodisch einwandfreie Kriterien gefunden worden; z. B. beweist universale Verbreitung höchstes Alter. Was heute noch manchen Völkern fehlt, z. B. mehrstimmige Musik, wird im Lauf der Menschheitsgeschichte hinzugekommen sein. Was heute alle Menschen haben, kann entweder in der uns unbekannten Vorgeschichte entstanden sein oder zum Urbesitz der Gattung Homo gehören. Das letzte werden wir für die Erscheinungen annehmen, die sich auch bei Tieren finden. Alle Menschen haben Gesänge, d. h. rhythmisch und tonal geformte Lautäußerungen die sidh eben hierin von andern Lautäußerungen — Sprechen, Schreien, usw. — unterscheiden, auch für die Sänger selbst. Die Sprachmelodie ist — auch in den Sprachen mit sog. Tonhöhen (z. B. Bantusprachen, Chinesisch) — gleitend, die Sprachlaute stehen in ihrer Erscheinungsweise, aber auch schon physikalisch, den Geräuschen näher als die Gesangklänge. Was musikalische Klänge und Töne gegenüber den Geräuschen kennzeichnet, nennen wir Tonigkeit; Helligkeit dagegen die Eigenschaft, die sich bei
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allen Schallarten mit der Geschwindigkeit der Schwingungen ändert. (In dem gängigen Begriff Tonhöhe sind beide Eigenschaften nicht getrennt.) Die Unterscheidung ist für die Entwicklungsgeschichte bedeutsam; denn die Helligkeit erweist sich als älter als die Tonigkeit. Denn 1. eignet sie nicht nur allen Gehörserscheinungen, sondern — wie Stärke — allen Sinnesphänomenen, und bestand daher wahrscheinlich schon vor der Differenzierung der verschiedenen Sinnesgebiete; 2. ist sie biologisch wichtiger als Tonigkeit; überwiegen doch audi in der Natur Geräusche beiweiten vor den musikalischen Klängen; 3. das Wahrnehmungsvermögen für Tonigkeit kann fehlen, das für Helligkeit dagegen nie, abgesehen von totaler Taubheit bzw. Blindheit: es gibt Tontaube und Farbenblinde, aber nicht Ton- oder Farbentüchtige, die Helligkeit nicht wahrnehmen könnten; 4. gibt es Schallarten ohne Tonigkeit (und Klangfarben), aber keine ohne Helligkeit; 5. an den Grenzen des hör- und sichtbaren Gebiets von Ton- und Lichtschwingungen werden nur noch Unterschiede der Helligkeit, nicht der Tonigkeit wahrgenommen; 6. Tonigkeit (von Tönen und Farben) verschwindet bei sehr kurzer Reizdauer; 7. die Unterschieds-Empfindlichkeit ist größer für Helligkeit als für Tonigkeit (bei Tönen und Farben); 8. in der Schall Wahrnehmung von Tieren fehlt Tonigkeit wahrscheinlich überhaupt. Das letzte läßt sich auf folgende Weise erschließen: Dieselbe Besonderheit der Nervenvorgänge, die musikalische gegenüber geräuschhaften Schallarten auszeichnet, liegt auch der Ähnlichkeit von Oktavtönen und den Erscheinungen der Konsonanz gleichzeitiger und der „Tonverwandtschaft" aufeinanderfolgender Töne zugrunde. Es ist daher ein sicheres Kennzeichen dafür, daß Tonigkeit wahrgenommen wird, wenn (musikalische) Kinder — schon im ersten Lebensjahr — beim Nachsingen unwillkürlich um eine Oktave in ihre Stimmlage transponieren; Unmusikalische dagegen versuchen die Klangfarbe und Helligkeit des Vorbilds möglichst getreu nachzumachen, ebenso Papageien die Stimme des Sprechers. Bei Dressuren auf einen „Freßton" verwechseln Hunde diesen niemals mit seiner Oktave. Die meisten Singvögel, selbst Nachtigallen, untermischen Töne mit Geräuschen, was menschliche Sänger nie tun. Wenn also Tonigkeit — und mit ihr Oktavähnlidikeit, Tonverwandtschaft und Konsonanz — ein jüngeres Entwicklungsprodukt ist, das Tieren und Tontauben vollkommen fehlt, bei Unmusikalischen mehr oder weniger zurücktritt, so muß man erwarten, daß sie auch in primitiver Musik eine bescheidenere und keinesfalls die Hauptrolle spielt, die man ihr allgemein zugeschrieben hat. Zwar singen auch primitive Menschen in Oktaven — Vögel nicht, freilich auch nicht im Einklang — und ist es möglich, daß der Mensch die Fähigkeit, Tonigkeit wahrzunehmen, von vornherein besaß. Aber ihre Bedeutung für die Musik sehen wir sehr allmählich und bis an die
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Schwelle unserer Zeit hin zunehmen. Sie kann also nicht eine unerläßliche Voraussetzung der Musik sein, noch ist sie geeignet, das Wesen der Musik zu bestimmen. Die überwiegende Bedeutung der Helligkeit in primitiver Musik zeigt sidi an charakteristischen Zügen ihrer Melodik. Wie am Ton Helligkeit und Tonigkeit kann am Intervall Distanz (Schrittweite, Klangbreite) und Intervallfarbe unterschieden werden. Wird ein Intervall um eine Oktave erweitert, z. B. die Sekunde zur None, so ändert sich bloß die Distanz, nicht die Intervallfarbe. Distanzen gibt es aucK bei Geräuschen, z. B. in der Sprachmelodie, Intervallfarben nicht. Distanzen sind Helligkeitsgestalten, Intervallfarben Tonigkeitsgestalten. Die Konsonanz, die bestimmte Intervallfarben — als besonders einfache, geschlossene Gestalten — auszeichnet, ist bei Tonfolgen weniger ausgeprägt als bei Zusammenklängen. Alle primitive Musik ist aber wesentlich einstimmig. Die Unterschiede der Konsonanzgrade sind hier weniger auffallend, die Intervalle zerfallen im wesentlichen in zwei Klassen: Erstens die eigentlich melodischen Schritte von einem Ton zu einem gegensätzlichen, aber nicht allzu weit entfernten Nachbarn; zu ihnen gehören außer den Sekunden auch die Terzen; diese Intervalle sind nicht konsonant (die Töne nicht verwandt) und unterscheiden sich lediglich durch ihre Distanz. Zweitens die Intervalle höchsten Verwandtschaftsgrades — Oktave, Quint, Q u a r t —, die zunächst nur als Niveauwechsel, Hellgkeitsumschlag wirken, (z. B. bei den Papua) auf etwas höherer Stufe dann als Motivrahmen, Stützpunkte der Melodiestruktur, Transpositionsbasis und auch als melodische Sprünge dienen. D a sie gerade den primitivsten Melodien (Wedda, Yagan) fehlen, kann man in ihnen nicht den Urgrund der Musik suchen. Primitive Musik ist wesentlich Distanzmusik und auf lange hinaus behält die Distanz die Vorherrschaft vor der Tonverwandtschaft oder Konsonanz. Aber auch die Schrittgröße schwankt bei primitiven Sängern in weiten Grenzen (so auch bei Vögeln, z. B. dem Kuckuck). Zufällig ist sie aber nur beim ersten Schritt. Denn eine Melodie ist keine Aneinanderreihung von Tönen, noch von Intervallen. Auch die primitivsten Gesänge zeigen, wenn auch noch so kleine, Gestalteinheiten — Motive — die ungeteilte (wenn auch nicht ungegliederte!) Ganze bilden, auch in einem Zuge gesungen werden, wie man eine Turnübung nur in einem Zuge machen kann. Melodie ist ja das alte Paradigma der Gestalttheorie: eine Melodie läßst sich transponieren, wie eine Figur sidi im Raum verschieben läßt; es kommt also nichts an auf die (absoluten) Tonhöhen. Es kommt aber auch nichts an auf die absoluten Intervallgrößen: eine Melodie kann, wie eine Raumfigur, ihr Format ändern ohne ihre Gestalt zu ändern (Werner), ganz analog wie die rhythmische Gestalt unberührt bleibt von Tempoänderung. Das Format wird festgelegt durch den ersten Schritt — die folgenden ergeben sich aus der Melodiegestalt. Das dem so ist, haben Tonmessungen für eine bestimmte Melodiegestalt erwiesen: die Unterteilung eines Intervalls durch einen (unbetonten) Zwischenton, besser: die Oberbrüdcung einer Distanz bei einer Bewegung auf ein ferneres Ziel. Die Teilintervalle verhalten sich — bei belie-
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bigem Format: — wie die konsonanten Teilintervalle bei der Unterteilung eines konsonanten Ganzintervalls, z. B. wie Quarte zu Quinte bei der Teilung der Oktav. Diese Gliederung konsonanter Intervalle ist also nur ein Sonderfall der „harmonischen" Gliederung, in welchem zu den ausgezeichneten Distanzverhältnissen noch ausgezeichnete Tonverhältnisse hinzukommen. (Wie in der Entwicklungsgeschichte überhaupt schreitet also auch hier die Gliederung von oben nach unten, von Ganzen zu Unterganzen (Teilintervallen) und weiteren Unterganzen (Tönen) fort. Die harmonischen Distanzverhältnisse werden von den primitiven Sängern so genau getroffen, daß irgend eine bewußte Regelung der Kehlkopfmotorik ausgeschlossen erscheint, man vielmehr annehmen muß, daß die Vorgänge rein im Physiologischen verlaufen, also sehr primitiv sind. (Möglicherweise würde man bei Vögeln schon Ähnliches finden, falls diese Tiere Dreitonmotive als einheitliche Gestalten haben; für die Kohlmeise wenigstens scheint das nicht zuzutreffen, denn sie beschließt ihre Strophe bald mit diesem, bald mit jenem Ton ihres zizipe-Motivs.) Die tonale Gestaltung aller menschlichen Melodien zeigt als wesentliche Grundlage die Setzung eines Niveaus — „Tonika" —, um das die Bewegung herumpendelt, von dem sie ausgeht, zu dem sie zurückkehrt oder auf das sie zielt. (Ähnliches scheint auch in manchen Vogelmotiven vorzukommen, z. B. dem Paarungsruf des Ringeltäubers). Die Bewegung ist aber zugleich immer rhythmisch gestaltet im gesetzmäßigen Wechsel von Spannung und Entspannung. U n d das gleiche Gesetz, das die Motivgestalt beherrscht, bildet auch die Gestalt der Verszeile. Aus dem ersten Motiv wächst das zweite, als seine Ergänzung, naturnotwendig heraus, dieses Paar als Ganzes verlangt wieder seine Beantwortung durch ein andres Ganzes usw. Freilich sind in primitiver Musik diese Gestalten von sehr geringem Umfang, oft auf 2 oder 3 Töne im Bereich einer Terz beschränkt, die Motive und die aus ihnen erwachsenden Verszeilen auch zeitlich sehr eng. Daß diese Enge charakteristisch primitiv ist, geht daraus hervor, daß sie den Liedern von Völkern eignet, die sich rassen- und kulturgeschichtlich ganz fernstehn, wie den Wedda und den Yagan, aber nach Körperlichkeit und Lebensweise zu den Primitivsten der heute noch Lebenden gerechnet werden, und daß sie diesen Liedern gemeinsam ist, trotz aller sonstigen typischen Verschiedenheit der Melodik. (Daß sie uns dürftig erscheinen, wäre dagegen noch kein Beweis ihrer Primitivität; wir haben diesen Eindruck oft auch bei Melodien aus Hochkulturen, etwa chinesischen oder arabischen.) Die Enge der Melodiegestalten erklärt sich aus der Enge des Bewußtseins, die für frühe Entwicklungsstufen des Seelenlebens — auch bei Kindern, Tieren und (mit Vorbehalten) bei Geisteskranken — allgemein kennzeichnend ist. Der Bereich des gleichzeitig Überschaubaren ist eingeengt, ton- und zeitlich weiter ausladende Motivgestalten würden zerfallen. Andererseits wäre es verfehlt, aus den Melodien der Wedda oder Feuerländer nodi einfachere Vorstufen rekonstruieren zu wollen, etwa solche, die nur aus einem einzigen lang ausgehaltenen oder in gleichmäßigen Zeitabständen wiederholten Ton bestünden. Denn auch der Mangel
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an Gliederung würde die Gestalt zerstören. Tatsächlich gibt es denn audi keine echten Eintonmelodien in primitiver Musik: dem rhythmischen Wechsel der Betonung folgt die Tonhöhe — sdion physiologisdi steigt und fällt sie mit der Stärke der Tongebung —, und es ergeben sidi 2- oder 3tönige Motive, wenn auch aus zuweilen kaum merklichen Absdiattierungen des Haupttons. Mögen die Gesänge nodi so eintönig, selbst im wörtlichen Sinne, sein, mag ihr Rhythmus noch so stark vom Text her bestimmt sein — beides ist im Hauptteil der Kubugesänge der Fall — , sie sind doch immer tonal und rhythmisch geformt, sie sind eben gesungen und nidit gesprochen. (Gesprochene Gedichte sind ein ganz spätes Kulturprodukt. Audi Sprechgesang nach Art unseres Melodrams kommt bei Primitiven nicht vor. Zuweilen, namentlich bei Beschwörungen, wird der Gesang durch gesprochene Worte unterbrochen, aber auch hier nicht der Sington dem Sprechton angenähert oder umgekehrt. Dies geschieht wohl beim Rezitieren von Kulttexten bei Hochkulturvölkern, dürfte aber auch da erst spät an die Stelle wirklichen Singens getreten sein.) Man hat oft versucht, das Singen aus dem Sprechen abzuleiten. Da Gesang durch musikalische Töne gekennzeichnet ist gegenüber den Sprachlauten, war die erste Frage: unter welchen Bedingungen geht Sprechen über in Singen? Die zweite Frage ist dann: wann sind diese Bedingungen im Leben der Primitiven gegeben, und können die ersten Gesänge bei solchen Gelegenheiten entstanden sein? So hat H . Spencer, der hierin viele Vorgänger hatte, das Singen aus dem im Affekt gesteigerten Sprechen hergeleitet; wenn z. B . die Hausfrau „Mary" ruft und Mary kommt nicht, werde bei jeder Wiederholung die Stimmgebung stärker und resonanter, die Intervalle größer. Aber weder die Verstärkung nodi die Erweiterung der Distanz macht die Sprachlaute tonig; auch verwendet grade primitive Musik nur kleine Intervalle. Affekt verändert die Sprache nicht immer in dem von Spencer angegebenen Sinne. Sicherlich ist primitiver Gesang meist affektiv — aber nicht der Affekt bringt die Menschen zum Singen, sondern das Singen bringt sie in Affekt. Dennoch: Spencers Rufbeispiel bezeichnet richtig einen der Fälle, in denen Sprechen in Singen übergeht; aber was hier die Sprache tonig macht, ist das lange Aushalten der Vokale und die Wiederholung. Auch P. Sdimidt und Stumpf halten Rufen für die Quelle des Singens. Bei den Rufen der Straßenhändler — die übrigens audi schon durch unsere Melodik beeinflußt sind (Stumpf) — ist es wieder die Wiederholung, bei Signalrufen das lange Aushalten eines starken und hohen Schreis, was zur Tongebung führt. (Zudem wird, wie Stumpf bemerkt, die Stimme aufs äußerste angespannt und gibt so den höchsten Ton, dessen sie fähig ist; bis die Kraft erlahmt und die Tonhöhe im Glissando absinkt.) Rufe finden sich bei den Primitiven, sowohl als Signale (z. B. bei den Kubu, den Feuerländern) als am Anfang oder Schluß von Gesängen oder als Zwischenrufe der Umstehenden. Aber grade in den Situationen, wo man ruft — auf der Jagd, im Walde usw. — , schreit man, aber singt nicht. Und die primitiven Gesänge, mit
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ihrem engem Umfang in mittlerer Lage, ihren rhythmischen Motiven, ihren kurzen Tönen — lang ausgehaltene Fermaten kommen wieder nur am Anfang oder Schluß vor, oft ohne melodischen Zusammenhang mit dem eigentlichen Lied — sehen gar nicht so aus, als wären sie aus Rufen entstanden. Man müßte denn annehmen, nur die Fähigkeit, Töne hervorzubringen, wäre bei Signalrufen im Ernstfall entdeckt und dann spielerisch, freilich in ganz andrer Weise, verwendet und ausgebildet worden. Etwa wie schreiende kleine Kinder, wenn der Affekt abgeklungen ist, manchmal mit dem Schreien noch ein bißchen spielen, wobei es dann auch melodischer wird. Aber auch bei solchem Ursprung müßten die primitiven Melodien anders aussehn. P. Schmidt weist ferner darauf hin, daß beim gemeinsamen lauten Beten das Sprechen in Singen übergeht. Rezitieren im Chor ist nun freilich nicht primitiv, sogar das Zusammensingen im Einklang scheint bei Menschen ursprünglich ebensowenig vorzukommen wie bei Vögeln. Es ist aber, wenn es auch auf späterer Stufe auftritt, lehrreich für unsere Überlegungen: das Motiv des Vorsängers wird, wenn es vom Chor wiederholt wird, fester in Intonation und Rhythmus, indem die Sänger sich unwillkürlich einander anpassen. Dieselbe Angleichung führt auch beim gemeinsamen Sprechen zu festen Tonhöhen, Intervallen und Rhythmen. Sie wirkt aber nicht nur im Simultanen sondern ebenso im Sukzessiven: jede Bewegung, daher auch jede Lautäußerung wird bei fortgesetzter Wiederholung gleichförmig, indem jede folgende sich den vorhergehenden anpaßt; man kann einen Satz nicht wiederholt sprechen, ohne ihn mehr und mehr zu singen. Beim schnellen, affekt- und ausdruckslosen Sprechen (also grade entgegen Spencer!) wird die Sprache eintönig — auch ohne Wiederholung desselben Satzes — durch die Angleichung der Sprachtonhöhen aneinander. So mögen Zauberformeln von selbst zu Eintongesängen werden (z. B. bei den Kubu). Anscheinend gibt es keine primitiven Gesänge ohne Worte, obwohl die Textbedeutung häufig den Sängern selbst unbekannt ist. D a ß sie nur verloren gegangen ist, ergibt sich daraus, daß die unverständlichen Worte getreu überliefert werden — ihre Herkunft aus einer fremden Sprache läßt sich zuweilen noch nachweisen — und daß neben den unverständlichen sich häufig noch einzelne verstandene Wörter finden. Wenn auf etwas höherer Stufe die Gesänge weiter ausgesponnen werden, wächst die Melodie nach musikalischen Gestaltgesetzen, unbekümmert um den Text, der dann durch sinnfreie euphonische Silben erweitert wird. Es gibt also ursprünglich keinen Gesang ohne Sprache, (auch diese Tatsache steht übrigens der Ruftheorie entgegen), aber auch keine rhythmisch geformte Sprache ohne Gesang. U n d durch die bloße Wiederholung wird Sprechen von selbst und notwendig zu rhythmisch und tonal geformtem Singen. Was aber, so müssen wir weiter fragen, führt zur Wiederholung, die ja selbst gerade für primitive Gesänge so überaus kennzeichnend ist? Die Bewegungen des Stimmorgans sind bei allen natürlichen Menschen aus der Gesamtbewegung nicht herauslösbar; es gibt keine Sprache ohne Gebärden, keinen Gesang ohne Tanz, beim Menschen auch nicht stummen Tanz ohne Gesang, und
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ursprünglich audi nicht Tanz zur Gesangbegleitung Anderer. Wieder festigt sich beim Tanzen das Bewegungsmotiv durch die Wiederholung und, wo mehrere zusammen tanzen, durch die gleichzeitige (gleiche) Bewegung im Chor. Ähnliche Überlegungen haben schon öfter zu Hypothesen über den Ursprung der Musik geführt. So wollte sie Buecher aus gemeinschaftlichen Arbeiten ableiten, die die regelmäßige Wiederholung einer Bewegung im Gleichtakt fordern. Aber solche Arbeiten gibt es bei primitiven Sammlern und Jägern nicht, die Primitivsten kennen auch keine Schiffahrt; und später singt man zwar beim Rudern zum Zeitvertreib und zur Aufmunterung, aber nicht, um Takt zu halten. Nicht um Zweckbewegungen also kann es sich ursprünglich handeln, sondern nur um Bewegungen, die sich Selbstzweck sind. In diesem Sinn ist Tanz, wie namentlich Gross betont hat, ein Spiel. D a sie nicht an das Von-der-Stelle-Kommen oder an eine Hantierung gebunden ist, ist die Tanzbewegung sich selbst überlassen und läuft, einmal eingeleitet, automatisch weiter, und zwar naturnotwendig so, wie sie angefangen hat, in zwischen Antrieb und Ausgang pendelnder Wiederholung. So immer, wenn die Steuerung durch den Willen ausgeschaltet ist, bei Ablenkung der Aufmerksamkeit, bei gewissen Hirnkrankheiten usw. Der Automatismus, der die Bewegung leicht und frei macht, und die mit der fortgesetzten und sich selbst steigernden Tätigkeit verbundene Steigerung des Lebensgefühls sind von hoher Euphorie begleitet und können zu einem Bewegungsrausch führen, in welchem das Bewußtsein sich mehr und mehr einengt und zeitweilig ganz schwindet. Solche bis zur Ekstase gesteigerten Tänze finden wir nun tatsächlich nicht nur bei den religiösen Fanatikern der Hochkulturen, sondern bei allen Völkern, selbst den primitivsten (Wedda, Kubu) und auch schon bei Tieren (Anthropoiden, Vögeln). Am Bewegungsrausch mögen sexuelle Momente beteiligt sein, aber aus der geschlechtlichen Zuchtwahl läßt sich der Ursprung der Musik, wie Darwin wollte, nicht erklären. Die Weibchen bevorzugen nicht die besten Sänger und Tänzer, eher die brünstigsten Bewerber; und die Männchen singen und tanzen nicht um sich auszuzeichnen, sondern um ihre Erregung zu steigern. Beim Menschen kommt noch eine andre Absicht hinzu: Indem die Bewegungen und Laute sich von selbst formen, indem so Gestalten entstehen, die fester und besser sind als die, die man im Alltagsleben selbst schafft, und indem zugleich mit der Willkür das Bewußtsein sich einengt und schwindet, entsteht der Eindruck, ein fremdes, höheres Wesen sei in uns eingefahren und lebe und wirke nun in uns und aus uns heraus. Auch dieser Glaube an ein Besessensein findet sich schon bei den Primitivsten (Wedda). Der Tanz wird infolgedessen zu einem Mittel, die übersinnlichen Kräfte herbeizurufen und mit ihrer Hilfe die bösen Mächte (Krankheit, die Toten) zu vertreiben und die guten (Jagd- und Kriegsglück, Pflanzenwuchs, später auch Regen, Liebe usw.) zu gewinnen. So haben Tanz und Gesang schon auf frühen Stufen kultisch-zeremoniellen Charakter und werden erst viel später, wenn dieser Charakter abgeblaßt ist, zu einem Spiel und einer weltlichen Kunst.
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Die Tanzbewegung ist immer von Schall begleitet, mindestens — so schon bei den Menschenaffen — von Stampfen und Klatschen auf den Körper. Das Akustische erhöht die Wirkung und wird deshalb schon absichtlich verstärkt (Rasselschmuck sdion paläolithisch, Stampfen auf Hohlräume schon bei Anthropoiden in der Gefangenschaft, Aufschlag- und Gegenschlaggeräte). Wo das Stimmorgan dazu taugt — bei Menschen und Vögeln —, ist es in die Gesamtbewegung einbezogen, mit ihr formen sich die Laute rhythmisch und tonal, gleichgültig welcher Art die Laute sind; beim Menschen sind es wohl schon sehr früh, wenn nicht von vornherein, Worte. Gesang entsteht also zugleich mit dem Tanz, Musik ist — und bleibt auf lange hinaus — nur die akustische Seite des Tanzes. Aber audi beim Akustischen kommt es mehr auf das Machen an als auf das Hören, das Wesen der Musik ist, von Anfang an und auf alle Zeit, die geformte Bewegung. Sie ist darum auch in ihren Erscheinungen aufs engste an die Motorik gebunden. Wie die Sprachen, so sind auch die Musiken der Völker charakteristisch verschieden. Die Gesänge der Feuerländer sind denen der Wedda nur in den allgemein-primitiven Zügen ähnlich. In andern, besonders der Vortragsweise sind sie denen der übrigen amerikanischen Indianer und der Altasiaten Nordostasiens nächst verwandt, trotz der Verschiedenheiten der Kulturen. Das deutet auf eine Einheitlichkeit der Rassen die von den Anthropologen audi aus andern Gründen angenommen wird. 2 Der Bewegungshabitus, der sich ja in Tanz und Gesang am zweckfreisten und daher am reinsten äußert, ist anscheinend ein sehr konstantes, erbliches und gegen Einflüsse der Umwelt sehr widerstandsfähiges Rassenmerkmal. Aus der Ähnlichkeit des Bewegungsgehabens, wie es in Tanz und Gesang der Sakai auf Malaka und andrerseits der Samoaner erscheint, muß man, wie ich glaube, auf eine Rassenverwandtschaft schließen, auch wenn sie an andern Merkmalen nicht zu erkennen wäre. Denn nirgends zeigt sich die Natur eines Geschöpfs deutlicher und reiner als in seiner Bewegungsmelodie. Der Weltenschöpfer der Uitoto heißt R A F U E M A , „der die Worte ist". Die „Worte" sind die Kulttänze, getanzte und gesungene Erneuerungen der Schöpfungsakte. Dieses Naturvolk spürt, was wir mühsam suchen mußten: daß Musik nichts andres ist als das Leben selbst, das eine Allwesen, das sich selbst zeugte und gebar. ANMERKUNGEN 1 2
Vortrag, 1928 gehalten zu Rostode für die „Kantgesellschaft". „Endlich scheinen die Amerikaner eine noch nicht völlig eingeartete Rasse zu sein. Denn im äußersten Nordwesten von Amerika (woselbst audi, aller Vermutung nach, die Bevölkerung dieses Weltteiles aus dem Nordosten von Asien, wegen der übereinstimmenden Tierarten in beiden, geschehen sein muß,) an den nördlichen Küsten von der Hudsonbai, sind die Bewohner den Kalmücken ganz ähnlich. Weiterhin im Süden wird das Gesicht zwar offener und erhobener, aber das bartlose Kinn, das durchgängig schwarze H a a r , die rotbraune Gesichtsfarbe, ungleichen die Kälte und Unempfindlichkeit des N a t u r e l l s . . . gehen von dem äußersten Norden dieses Weltteils bis zum Staaten-Eilande fort." I. Kant, Von den verschiedenen Rassen der Menschen. Ankünd. d. Vorl. d. Phys. Geogr. im Sommerhalbj. 1775.
GEBURT U N D ERSTE K I N D H E I T DER MUSIK
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SUMMARY Singing differs from speaking as sound differs from noise. Language-melodies are characterised only by differences of clearnes („Helligkeit"), songs also by differences of tonality („Tonigkeit") that means by different grades of consonance. Even the most primitive melody ist not only a series of tones but consists of motifs as undivisilble nuclear elements („Gestalt-Einheiten"). Such a musical figure can be transposed, extended and shortened like geometric figures. Melodic steps in primitive music are mainly narrow: seconds or thirds. Wide steps prefer consonant intervalls like forth and fifth. As real primitive music is always of one voice, simultanuos consonance is unknown. For a long way of evolution of melody and music the principle of distance predominates and rules the relationship of tone. In eadi melody one tone has the function of base or tonic, even in motifs with only two tones. Spencer and later on Stumpf and others therefore divert singing from the call. But primitive songs repeat their nuclear theme, and a often repeated call becomes automatically fixed to distinct tones and passes over to song. Song is always connected with words, there is no song without them but there is also no rhythmic speach without melody. By repetition speach becomes rhythmic and tonal formed singing. Primitive songs are also everytime connected with dance. Contrary there is no dance without music. Constant repetition of dance and music leads to ecstasy and drunkenness, means of primitiv magic. The music of the different peoples in the world is different in character. Similarity specially in the style of performance and in the habitus of movement in dance and music signifies relationship of race.
TONALE STRUKTUREN IN PRIMITIVER MUSIK von
FRITZ BOSE,
Berlin
EINLEITUNG Die bunte Vielfalt der melodischen Gestalten in den Liedern aller Völker der Erde hat schon früh die Musikwissenschaft angeregt, nach Prinzipien zu suchen, diese musikalischen Gebilde zu ordnen. Als eins der auffälligsten hat sich der Tonvorrat angeboten, mit dessen Hilfe diese Lieder gebildet werden. Die erste Studie über die Musik außereuropäischer Völker, die diese zueinander in Beziehung setzt und damit jenen Zweig der Musikwissenschaft begründet, der als „vergleichende Musikwissenschaft" bekannt wurde, beschäftigte sich bereits mit Fragen der Tonalität: der Aufsatz des englischen Physikers Alexander John Ellis „On the Musical Scales of Various Nations", 1885 im Journal of the Society of Arts erschienen, untersucht die Tonleitern verschiedener exotischer Musikinstrumente und Gebrauchsleitern indischer und arabischer Musik, eine Veröffentlichung auf Grund tonometrischer Messungen, der bereits einige andere wesentlich kürzere seit 1864 vorausgegangen waren. Die erste Studie über die unbegleiteten Vokalmelodien eines Naturvolkes, „Zuni melodies", die B. J. Gilman 1891 im Journal of American Archeology and Ethnology I auf Grund von Walzenaufnahmen von Walter Fewkes veröffentlichte, stellt ebenfalls die Frage der Tonalität in das Zentrum der Betrachtung, und auch die erste deutsche Arbeit an Hand von Messungen an Instrumenten und Phonogrammen gilt den tonalen Verhältnissen exotischer Musik: Carl Stumpfs „Tonsystem und Musik der Siamesen", 1901 in dessen „Beiträgen zur Akustik und Musikwissenschaft 3" erschienen. Auch in der Folge beschäftigen sich die Arbeiten amerikanischer, deutscher und österreichischer Autoren über die Musik außereuropäischer Völker in erster Linie mit Fragen der Tonalität und des Tonsystems. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bleibt dies das beherrschende Thema in der Musikethnologie. Es scheint daher nicht zwingend notwendig, die Frage nach den tonalen Verhältnissen in der außereuropäischen Musik erneut zu stellen. Wenn es dennoch unternommen wird, so aus der Erkenntnis heraus, daß trotz der Fülle der bisher hierüber vorliegenden Untersuchungen und Bekundungen noch vieles zu diesem Thema unge-
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sagt und ungeschrieben geblieben ist, daß aus der heutigen Sicht der musikalischen Völkerkunde vieles sich ganz anders darstellt und daß eine zusammenfassende Darstellung des gesamten Problemkreises bisher nicht versucht worden ist. In jüngster Zeit stehen andere Aspekte der Musikethnologie im Vordergrund des Interesses, und es ist bezeichnend für den derzeitigen Stand des Fachgebietes, daß die nach Umfang und Anlage bedeutsamste Veröffentlichung im Generalüberblick des Faches, Alan P. Merriams Buch „The Anthropology of Music" (Northwestern University Press 1964), eine ausführliche Darlegung der soziologischen und psychologischen Grundlagen primitiver Musik, die tonalen Probleme nicht berührt. In dem Kapitel „Tonsystem und Leiter" meines Buches „Musikalische Völkerkunde" (Freiburg i. Br. 1953) habe ich versucht, einen ersten knappen Überblick über den Fragenkomplex zu geben, wie er sich aus der Sicht der heutigen Anschauung und Kenntnis der tonalen Faktoren der Melodiebildung in der ethnologischen Musikforschung darstellt. D a ß dies nicht in dem Maße erkannt worden ist, wie ich es erwartet hatte, liegt wohl daran, daß das Buch mehr als eine erste Einführung in die Musikethnologie — was es nadi dem Plan des Verlegers auch sein sollte — und nicht als eine Darlegung der Methodik der Forschung — was es im Sinne des Autors sein sollte — aufgefaßt wurde. Die dort nur kurz umrissenen Gedankengänge sollen hier nun ausführlich verfolgt und an Hand von Beispielen dargelegt werden 1 .
1. T O N A L I T Ä T U N D M E L O S Unser Ohr vermag Schwingungsvorgänge in einem Bereich, der individuell nur geringfügig schwankt, von etwa 30 Hertz bis 15 000 Hertz, gelegentlich auch noch darüber hinaus, wahrzunehmen. Dieser Hörbereich stellt sich als ein Kontinuum von Frequenzen dar. Der Mensch vermag auch ebenso kontinuierlich Schwingungen zu erzeugen, sei es mit seiner Stimme, sei es mit musikalischen Instrumenten. Wenn wir sprechen, erzeugen wir solche gleitenden Frequenzen; die Vokale als Sprachlaute mit ausgeprägten Frequenzen sind stets in solch gleitender Tonbewegung und nicht tonal genau fixiert erzeugt. Die ersten Laute eines Säugling, die auf das Schreien und Weinen folgen, sind ein Lallen in einer Tonbewegung, die bereits nicht mehr ein stufenloses Gleiten wie beim Schreien und Sprechen, aber auch noch nicht richtiges Singen ist, das sich vom Sprechen dadurch unterscheidet, daß hierbei über die gesamte Dauer eines Lautes oder einer Silbe die Tonhöhe relativ konstant bleibt und daß die einander folgenden Laute in festen meßbaren Frequenzabständen intoniert werden. Audi auf manchen Musikinstrumenten lassen sich gleitende Terzfolgen erzeugen. Zu Melodien werden auch instrumentale Tonfolgen aber erst, wenn sie in festen Tonstufen intoniert werden. Die Möglichkeit, Instrumente mit mehreren Intervallen zu konstruieren, sind mannigfach. Man kann z. B. Instrumente, die nur eine be-
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stimmte Tonhöhe erzeugen, in verschiedenen Größen und Stärken aneinanderreihen und erhält so ein Instrument mit verschiedenen Tonhöhen, z. B. aus Holz- oder Metallstäben, Glocken, Klangsteinen, offenen oder gedackten Rohrstücken (Panflöte). Oder man verändert den klingenden Bestandteil eines Instrumentes, z. B. die eingeschlossene Luftsäule in einer Flöte oder die schwingende Saite, durch Veränderung dieses schwingenden Körpers, bei Flöten durch die Anbringung von Grifflöchern, bei Saiten durch die Anbringung von Bünden. Die von uns wahrgenommenen wie die von uns produzierbaren Schwingungsvorgänge können periodisch oder aperiodisch verlaufen. J e größer der Anteil aperiodischer Schwingungen ist, um so mehr nähert sich deren Charakter dem „Geräusch", während Schallvorgänge, denen wir eine bestimmte Tonhöhe zuerkennen, einen starken Anteil periodischer Schwingungen haben müssen. Nur wenn ein Schwingungsvorgang sich in gleicher Gestalt mehrfach in gleichbleibender zeitlicher Folge wiederholt, erscheint er uns als musikalischer „Klang", als ein Schallphänomen bestimmter und bestimmbarer Tonhöhe. 2 Die weiteren zur Definition eines musikalischen Klanges gehörenden Kriterien wie spektrale Zusammensetzung der Teiltöne und Amplitude können hier unberücksichtigt bleiben, ebenso alle den Tonhöheneindruck bestimmenden weiteren Faktoren der Klangwahrnehmung 3 . Wir begnügen uns mit der Feststellung, daß der Mensch fähig ist, Klänge und Geräusche mit seiner Stimme, seinem Körper und mit Hilfe von Schallwerkzeugen zu produzieren und sie wahrzunehmen und zu differenzieren. Hierbei interessieren uns für unsere Untersuchung Geräusche nur insoweit, wie sie klangähnlichen Charakter haben, d. h. als Klänge bzw. Töne bestimmter Tonhöhe empfunden werden können. Das Gegeneinanderschlagen zweier Holzstäbe werden wir allgemein als Geräusch auffassen, wenn es isoliert oder als rhythmische Begleitung zu einem Gesang auftritt (etwa in Zeremonialgesängen der Australier). Wird dagegen auf zwei Holzstäbe verschiedener Länge geschlagen, hören wir ein Intervall, d. h. die beiden Geräusche erscheinen als Klänge verschiedener Tonhöhe. In allen solchen und ähnlichen Fällen bleibt allerdings zu fragen, ob dieser Höreindruck beabsichtigt ist. Das ist ein Problem, das uns stets bei Untersuchungen und Analysen primitiver Musik begegnet. Auch bei unmittelbarer Berührung mit dieser in der Feldarbeit wird es immer äußerst schwierig sein, von den Musik machenden und Musik hörenden Teilnehmern an einer Musik in fremdem und wenig entwickeltem Kulturmilieu zu erfahren, was sie dabei empfinden und was ihnen diese Schallvorgänge bedeuten. Nur in Ausnahmefällen werden sie Fragen nach so abstrakten Dingen wie Tonhöhe, Intervallcharakter, Tonalität zu begreifen und beantworten in der Lage sein, selbst wenn es keine Sprachverständigungs-Schwierigkeiten verhindern. Einzig mit gebildeten Musikern höher entwickelter Völker können solche Probleme erörtert werden, und erst bei den ausgesprochenen Hochkulturen werden wir auf volles Verständnis dafür und sogar auf entsprechende Literatur stoßen. Im Bereich der Primitiv-
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Völker, d. h. bei Völkern mit geringer sozialer Differenzierung, schwach entwickelter materieller Kultur und geringem Besitz in geistigen Kulturgütern sowie entsprechend kleinem Bestand musikalischer Formen werden wir bei der Analyse ihrer musikalischen Strukturen wie bei der Untersuchung ihrer musikalischen Praktiken im wesentlichen auf unsere eigenen Urteile angewiesen sein. Wir können dabei die offensichtlichen Tatbestände registrieren, ihre Beurteilung wird jedoch, da sie aus der Sicht des in der abendländischen Musikkultur befangenen Betrachters erfolgt, immer mit dem Vorbehalt der Befangenheit behaftet bleiben. Wenn hier die tonalen Strukturen „primitiver" Musik untersudit werden sollen, so soll damit Musik gemeint sein, die formal schlicht gestaltet ist und nicht auf einem rational gefundenen System tonaler Ordnungen beruht. „Primitiv" hat in diesem Zusammenhang keine abwertende Bedeutung. Und wenn hier von Primitivkulturen gesprochen wird, geschieht das ohne jede wertende Tendenz. Jede andere Bezeichnung ist genauso anfechtbar: „Naturvölker" ist ein zu komplexer Begriff, der nicht nur zu ungenau beschreibt, was wir darunter verstehen, sondern auch zu viele Völker umfaßt, deren Musikstile weit davon entfernt sind, als „einfach" oder „primitiv" gelten zu können; der häufig verwendete Begriff „schriftlose Völker" ist ebensowenig brauchbar, denn einerseits gibt es Völker, die keine Schrift kannten und doch zweifellos als Hochkulturen angesprochen werden müssen wie die alte präkolumbianische Kultur der Chibcha in Kolumbien 4 oder die südlich anschließende Hochkultur Boliviens und Perus, denn die Inka-Knotenschnüre sind noch nicht Schrift im engeren Sinne, während andererseits z. B. die Tuareg in der Sahara eine eigene Schrift besitzen, doch kaum als Kulturvolk höherer Ordnung gelten können. Primitive Musik im Sinne dieser Ausführungen ist einmal die Musik einer Reihe von Völkern, die meist zu den Altrassen der Menschheit zählen und die in vergleichsweise einfachen und dürftigen Verhältnissen leben, wobei sie eine Musik entwickelt haben, die sich dem sozialen und materiellen Niveau ihres wenig differenzierten Lebens anpaßt. Es ist aber auch die Musik der Unterschichten entwickelterer Kulturen, speziell auch solcher von anderer Rasse als die das gesamte Kulturniveau prägende Oberschicht, und es ist auch die Musik der Kinder und Kleinkinder in aller Welt, soweit sie nicht nur eine Nachahmung der Musik der Erwachsenen ist, sondern eigene Formen und Gestalten besitzt. In den musikalischen Äußerungen der Kleinkinder, die ja in allen Rassen und Völkern der Erde eine analoge Entwicklung zeigen, haben wir das einzige verläßliche Kriterium für die musikalische Urgeschichte der Menschheit, wenn wir uns die These der Anthropologie und Humanmedizin zueigen machen, daß in der Ontogenese sich die Partogenese wiederspiegelt, d. h. in der Entwicklung des Einzelwesens sich die der Gattung wiederholt. Jeder Versuch, in der Musik heute lebender Völker nach den berühmten oder besser berüchtigten „Anfängen der Musik" zu suchen, ist anfechtbar. 5 Wie die ersten musikalischen Äußerungen der Menschheit geklungen haben mögen, können wir nicht aus der Musik heutiger Primitivvölker wie
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der Wedda, der Feuerländer, der Australier u. a. m. entnehmen. Dazu stehen erstens auch diese Völker den Urahnen des Homo sapiens zu -weit entfernt, dazu ist zweitens auch deren Kultur schon zu weit fortgeschritten und in Traditionen musikalischer und außermusikalischer Natur gebunden, und drittens kennen wir davon nur das, was im 20. Jahrhundert von dieser Musik gesammelt und aufgezeichnet wurde ohne Kenntnis der Vorgeschichte, der möglichen Entwicklung dieser Stile, der Techniken der Überlieferung usw. Auch die Archäologie kann uns nicht an den Ursprung der Musik begleiten. Was sie uns an Zeugnissen über die Musik aus vorgeschichtlicher Zeit zu bieten hat, Knochenflöten-Funde aus der jüngeren und mittleren Steinzeit oder die Fels- und Höhlenbilder mit Musikszenen, ist noch viel zu rezent, da es höchstens einige zehntausend Jahre zurück datierbar ist, nichts im Vergleich zur Entwicklungsgeschichte der Gattung Mensch. Was sie uns zeigt, ist schon Zeugnis einer weit fortgeschrittenen Kulturentwicklung. Menschen, die fähig sind, einen erlebten oder vorgestellten Vorgang so weit zu abstrahieren, daß sie ihn als Bild an eine Wandfläche projizieren können, sind nicht mehr „primitiv" im Sinne von naiv und ungebildet; und die Herstellung eines musikalischen Arbeitsgerätes, möglicherweise sogar eines mehrere Töne produzierenden, setzt entwickelte geistige und handwerkliche Fähigkeiten voraus. Beides sind Talente, die wir nicht einmal in den heutigen Primitivvölkern antreffen. Nehmen wir jedoch die Musik dieser Primitiven und setzen wir sie in Parallele zu den ersten musikalischen Äußerungen der Kleinkinder, so können wir immerhin doch zu gewissen Rückschlüssen auf die Musikentwicklung in der Frühgeschichte der Menschheit kommen. Allerdings werden wir dann feststellen, daß die Musik der Wedda, Feuerländer, Australier und anderer Primitiver doch schon ein reiferes Stadium der Entwicklung darstellt und, so primitiv sie uns erscheint, bereits in Formeln, Konventionen und Traditionen erstarrt ist, die selbst wiederum geschichtlich bedingt sind und sich zu dieser Gestalt aus noch primitiveren Anfängen entwickelt haben, die wir nicht kennen und niemals kennenlernen werden. Der Gebrauch von Musikinstrumenten, also von Werkzeugen, dürfte erst in einem späteren Stadium der Kulturentwicklung einsetzen. Demnach wäre das Singen älter als das Musizieren. Auch der Säugling lernt den Gebrauch schallerzeugender Hilfsmittel wie Rassel und Klapper erst nach einigen Monaten und zu einem Zeitpunkt, wo das erste Schreien schon zu differenzierten Lauten gewandelt ist, die als Vorstufe sowohl des Singens wie des Sprechens aufgefaßt werden können. Die ersten Schreilaute des Säuglings sind noch völlig undifferenziert. Sie haben auch keinerlei emotionelle oder kommunikative Bedeutung, sind weder Zeichen der Lust noch des Unmutes, sondern lediglich eine Organbetätigung wie Atmen, Strampeln, Grimassenschneiden. Sehr bald begreift der kleine Mensch, daß diese Betätigung angenehme Folgen hat: er wird angesprochen, aufgenommen, trockengelegt, gefüttert. Und nun brüllt er nicht nur zur reinen Stimmgymnastik, sondern wegen der zu erwartenden Annehmlichkeiten. Er hat nun auch
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schon verschiedene Arten des Schreiens zur Verfügung, und die Mutter erkennt daran, ob er nur zur eigenen Belustigung als Organerprobung schreit oder ob er ihr etwas mitteilen will. Das Kind schreit also auch ohne die Absicht einer Kommunikation, und sein Schreien hat in diesem Fall einen euphoristischen Charakter: es schreit, weil es Spaß macht. Die Organbetätigung der Stimme erzeugt wie die anderer Organe einen Lustgewinn. Hier haben wir die beiden psychologischen Wurzeln für die Entstehung des Singens und der Musik: das Mitteilungsbedürfnis und die Euphorie. Beide Faktoren treten beim Kleinkind zur gleichen Zeit in Erscheinung, und so dürfen wir annehmen, daß sie analog auch in der Menschheitsgeschichte die Entstehung des Gesanges gleichzeitig und gleichwertig geleitet haben. Damit entfällt die alte Streitfrage nach der Priorität von Sprache oder Gesang, denn beim Säugling erfolgt die Differenzierung von lustbetontem Schreien sui generis und zweckbetontem Schreien aus Langweile oder Unlustgefühlen lange vor der Herausbildung von bestimmten Lautverbindungen, die als Vorstufe des Sprechens angesehen werden können, und von Tonfolgen, die als Singen zu werten wären. Auch der Urmensch wird also, bevor er singen oder Sprachlaute produzieren konnte, gebrüllt haben — entweder aus Freude an diesen Lauten oder aus einem Mitteilungsbedürfnis heraus, auch aus beiden Anlässen zugleich, wie es auch im Schreien des Säuglings der Fall sein kann. Dieser Urschrei, der ebensowohl Lustschrei wie Verständigungsmittel oder auch beides zugleich sein kann, ist weder Sprache noch Gesang. Er benötigt keine Sprachlaute und verwendet keine tonal fixierten Melodien. Er begegnet uns in den Säuglingen aller Rassen der Erde im Alter einiger Wochen oder Monate. Wir finden ihn aber ebenso auch in der Welt der Erwachsenen und ebenfalls in allen Rassen und Kulturen. Wir brauchen gar nicht weit in die fernen Kontinente zu gehen, wo wir solche Rufe auch finden können, wir haben sie auch in Europa, sozusagen vor der Tür: die Almrufe und Juchzer der Senner und Sennerinnen sind solche Schreie der Lust und der Verständigung von Alm zu Alm, noch nicht artikulierte Sprache und noch nicht Gesang oder textlose Melodie. Sie sind wiederholt gesammelt und notiert, es ergibt darüber einschlägige Literatur, und man kann sie auf Schallplatten hören. Es gibt sie nicht nur in den Alpen, auch in den Karpathen und in Skandinavien. Primitive Musik muß also nicht nur bei Naturvölkern gesucht werden, wir begegnen ihr auch in entwickelten Kulturen und inmitten hochspezialisierter und differenzierter Musik als wohl unbewußtes Relikt als fernen Tagen der menschlichen Entwicklungsgeschichte.
2. ZWEI-TON-MELOS Diese Almsdireie sind wie die des Säuglings ausgesprochen primitiv. Sie bestehen aus einem emphatischen Schrei, der ausgehalten wird, dabei an Schalldruckintensität
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verliert, und einem unbetonten Absinken der Stimme auf ein tieferes Frequenzniveau. Sie sind also im Prinzip zweitönig. Und in dieser Folge von betontem hohen und unbetontem tiefen Tonniveau haben wir wohl die Keimzelle der Melodiebildung zu sehen. Die gleichbleibend lautstarke und tonal nicht differenzierte Wiedergabe von Texten in einer fortlaufenden Eintonrezitation erscheint mir demgegenüber bereits eine höhere Stufe der musikalischen Entwicklung darzustellen. Sie setzt vor allem eine ausgebildete Sprache voraus, sogar die Gestaltung sprachlicher Mitteilungen in einer gewissen poetischen Form. Musikalisch ist sie eine bewußte Reduzierung melodischer Formen auf ein Einton-Niveau, und die Entdeckung des Einzeltons setzt wiederum das Vorhandensein mehrtöniger Melodik voraus. Diese Art von Rezitation ist ein ästhetischer Kunstgriff, ein künstlerischer Effekt, eine Stilisierung. Sie ist keineswegs naiv, also auch nicht primitiv. Das Lied ist älter als die Rezitation, die Arie war eher da als das Rezitativ. Während die ersten Schreilaute des Neugeborenen noch nichts Melodiöses an sich haben, weder tonale noch rhythmische Gestaltung erkennen lassen, ändert sich das im Lauf der nächsten Wochen und Monate. Es bildet sich ein Schema heraus, in dem man den Prototyp einer Melodie erkennen kann: Die Schrei-Impulse folgen in gewisser Regelmäßigkeit, die einen erst noch vagen Rhythmus erkennen lassen, und sie halten tonal eine ziemlich konstante Folge von einem mit starkem Stimmaufwand herausgebrüllten Hochton und dem schwächer intonierten Abgleiten auf ein niederes Frequenzniveau ein. Es entsteht so etwas wie eine Folge von Kurzmotiven aus einem hohen betonten und niederen unbetonten Ton. Dabei fällt auf, daß die Tonhöhe des höheren häufiger die gleiche Frequenzlage hat als die des tieferen, dessen Frequenz sehr stark schwanken kann. Auch ist der Übergang vom Hochton zum Tiefton meist ein Glissando. Im Ruf, der zumeist auch zweitönig ist und dessen musikalische Gestalt gleichfalls nur aus diesem einen Zweiton-Intervall besteht, finden wir ähnliche Verhältnisse. Ein schlichtes „ H a l l o " wird ähnlich geformt: ein Hochtonimpuls mit beträchtlichem Schalldruck auf der ersten Silbe, ein tieferer Ton mit geringerer Lautstärke auf der zweiten. Der Übergang kann gleichfalls gleitend sein. Je größer das Intervall, desto schwächer der Schalldruck des Tieftons und desto ungenauer dessen Frequenz-Intonierung, die bei sehr großen Intervallen, Quinte, Sexte, Oktave, ein Glissandoton, ein nicht tonal fixiertes Abgleiten der ausatmenden Stimme werden kann. In der Musik, vornehmlich im Gesang primitiver Völker finden wir hierzu Parallelen. Bei den Wedda auf Ceylon, bei den Feuerländern, bei den Papua auf Neuguinea und wohl noch bei anderen, auch weniger primitiven Völkern gibt es Melodien, die mit nur zwei Tonstufen auskommen. Das Intervall ist meist eine Sekunde. Das melodische Motiv besteht jedoch nicht, wie beim Ruf oder dem Schrei des Kleinkindes, aus einer simplen Folge dieser beiden Töne. Es ist bereits komplexer, die eine der beiden Tonstufen wird mehrfach wiederholt, ehe die zweite hinzutritt.
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In der Regel ist dieser Sekundschritt abwärts gerichtet. D a b e i ist der obere T o n betont, gespannt, dynamisch betont, der untere unbetont, entspannt, schwächer intoniert, meist auch in der Frequenz nicht so konstant, labiler. D e r obere T o n erscheint
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als der wichtigere. In dieser tonalen Struktur fungiert er als Hauptton; der untere ist Nebenton. Entweder kann er als Träger der Entspannungsphase als Ruheton aufgefaßt werden; dann ist er meist auch Finalis. Der obere Ton ist durch Häufigkeit, Bestimmtheit und Reinheit der Intonation und als Träger der metrisch-dynamischen Akzente als Hauptton erkennbar (Beispiele 2, 4). Der untere Ton kann aber auch in der Funktion eines Wechseltons auftreten, eine Umspielung des Haupttons auf einem tieferen Niveau oder ein Pendeln zwischen beiden Frequenzlagen (Beispiel 1). Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß selbst eine denkbar primitive Tonalität mehrere Möglichkeiten der funktionellen Stellung der Leitertöne zuläßt. Obwohl in Zweiton-Strukturen der obere Ton stets Hauptton ist, ist die Rolle des unteren Tones mehrdeutig. Es genügt also nicht, nur die in den Gesängen vorkommenden Tonstufen zu verzeichnen, man muß auch ihre Bedeutung erkennen. Die so gewonnene Strukturleiter ist dann ein Substrat der melodischen Gestalt. Wir dürfen nie außer acht lassen, daß im Bewußtsein der Sänger, auch in entwickelteren Kulturen bis hin zu den europäischen Volkssängern, nur die Melodie oder besser noch der Gesang als Ganzes in der Einheit von Wort und Weise existiert, aber nie die Tonleiter. Der naive Mensch ist nicht fähig, aus der von ihm beherrschten und produzierten Melodie die Folge der Leitertöne zu abstrahieren. Das Erkennen tonaler Strukturen setzt eine so weitgehende Distanzierung vom eigentlichen Wesen der Musik voraus, daß dazu nur der wissenschaftlich geschulte Geist fähig ist, dessen tonales Bewußtsein an Tonystemen erprobt ist, also einem Angehörigen eines Kulturvolkes. Jede Musik vollzieht sich in tonalen Gesetzmäßigkeiten, auch die primitivste. Doch offenbart sich die tonale Struktur nur in der analytischen Betrachtung der Melodie. Tonalität in primitiver Musik ist die Projektion der Melodik auf die aus ihr abstrahierte Tonleiter.
3. DIE ERWEITERUNG DES TONRAUMS J e größer die Zahl der Tonstufen in einer Melodie, desto größer wird auch die Möglichkeit ihrer funktionellen Verknüpfung. Schon bei Dreitonmelodien sind mehrere Strukturen möglich. Ein in primitiver Melodik häufiger Leitertyp besteht in einer Transposition des anfänglichen, abwärts gerichteten Zweitonmotivs um eine weitere, meist distanzgleidie Stufe. Der Sdilußton des ersten Motivs wird Anfangston des zweiten. In diesem Fall ist eine großräumige Struktur aus zwei aufeinanderfolgenden Quarten entstanden. Es können auch zwei Sekunden oder Terzen sein. Häufig findet sich auch die Folge Sekunde-Terz, einem weiteren Prinzip der Melodiebildung in primitiver Musik entsprechend, das zur Vergrößerung der Schritte nach der Tiefe zu tendiert. Das findet sich vor allem in solchen Dreitonmelodien, die den mittleren Ton als
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Hauptton haben. Von der Mitte aus gerät der Schritt nach oben kleiner als der nach unten, einer physikalischen wie physiologischen Gesetzmäßigkeit entsprechend 6 . Beim Entspannen der Stimmlippen sinkt die Tonhöhe, und zwar bei linear fortschreitender Abnahme der Spannung in umgekehrt quadratischen Schwingungszahlen. Bei gleichem Energieaufwand für die Stimmbandveränderungen wird also bei Verkürzung der Stimmbänder ein kleiner Tonschritt aufwärts, bei Verlängerung ein größerer nach unten erzielt. 5. Wedda (Ceylon)
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Die Finalis kann der Mittelton sein. Diese Struktur erscheint dem europäischen Hörer sehr fremd, für unser Gefühl müßte der Sdiritt unter die Tonika mit Rückkehr zu ihr ein Halbton sein, der dann als Leitton wirkt. Wir neigen dazu, soldie Tonalitäten mit geringer Stufenzahl als Ausschnitte aus einer diatonischen oder pen-
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tatonischen Tonleiter aufzufassen. Doch sollte man sich vor solchen Interpretationen hüten, sofern sie nicht durch vollständige Leitern im Oktavumfang aus derselben Kultur gestützt werden können. Solche Pendelmelodien, die um eine zentrale Tonika nach oben und unten ausschwingen, finden wir übrigens auch in europäischer Volksmusik, z. B. auch in den Singzeilen deutscher Kinderlieder. 8. Zwei Norddeutsche Kinderlieder
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In den von Kunst transkribierten Melodien der Kei auf den Molukken finden wir dreitönige Pendelmelodien, bei denen der Mittelton nicht Tonika ist. Er steht hier als Durchgangs- oder Wechselton in der Mitte des stärker betonten Rahmenintervalls. In diesem Fall zerlegt er es in gleiche Teile. 9. Kei (Molukken)
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Herbert Hübner: Die Musik im Bismardk-Archipel — Musikethnologisdie Studien zur Kulturkreislehre und Rassenforsdiung, Berlin 1938, Beispiel 7 0 (Strophen)
Konsonanzen. Unter dem Einfluß des Bewußtseins oder Bewußtwerdens der Konsonanz der Terzen und ihrer Folge als Quinten entstehen Schrittfolgen in Art zerlegter Dreiklänge. Dabei bleiben die Motive kurz und werden in immer neuen, meist festbedingten Varianten, ziemlich regellos aneinandergereiht. Es ist also primitive Musik, nidit anders als jene aus Sekundschritten aufgebaute. Dennodi erscheint sie Europäerohren vertrauter als engstufiges Pendel- oder Treppenmelos. Diese Dreiklangsleitern und Fanfarenmelodik aus Groß- und Kleinterzen, gelegentlich audi mit einem Durchgangston oder einem oberen Wechselton in Sekundgröße, sind genau so über alle Kontinente verbreitet wie die engstufigen Leitertypen. Typisch sind sie für Melanesier, Pygmäen und Buschmänner und andere kleinwüchsige Negritos. Sie finden sich auch in Indianergesängen. Hier jedoch treten sie ganz anders in Erscheinung. Die Dreiklangmelodik nord- und südamerikanischer Indianer ist eine Weiterbildung aus engstufiger und kleinmotivischer Melodik. Für die paläonegroide Fanfaren- und Jodelmelodik ist eine solche kleinräumige Vorstufe nicht nachweisbar und auch nicht als wahrscheinlich vorauszusetzen, da diese Melodik selbst alle Züge der Primitivität trägt. Noch primitivere Vorstufen sind kaum vorstellbar. Die Drei-
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klangmelodik der Indianer ist jedoch keineswegs mehr primitiv. Sie entstand aus der Vergrößerung des Bewegungsspielraumes der Melodik durch Reihung von Motiven und Rückung der Tonstufen. Die Zahl der Motive erweitert die zeitliche Dauer der vielteiligen Strophe, und mit dem zeitlichen ist der räumliche Umfang gewachsen. Die längere aus mehreren unterschiedlichen Motiven gebildete Strophe enthält auch mehr Text, also mehr an Gedanken und poetischem Gehalt. Sie bietet Gelegenheit sowohl zur Entfaltung einer reicheren musikalischen Gestaltung wie zu erweiterter Mitteilung von Gedanken und Empfindungen. Hierbei wird in der Erweiterung der Schrittgrößen das Konsonanzprinzip als gestaltbildender Faktor strukturbestimmend. Terzen fügen sich zu Quinten, Quinten und Quarten zu Oktaven. Dem erweiterten tonalen Rahmen entspricht nicht nur eine reichere, ausdrucksvollere Melodik, sondern hier nun auch eine effektvollere dynamische Gestaltung, die zum wesentlichen Kennzeichen der entwickelteren Indianermelodik gehört. Das Auftreten von konsonanten Intervallen allein ist noch kein Zeichen einer entwickelteren Melodik. Das Intervall an sich ist nicht so wichtig wie seine Funktion innerhalb des Melos. In den jodelartigen Gesängen der kleinwüchsigen Altrassen Afrikas, Pygmäen und Buschmänner, sind die einzelnen Terzen und die aus ihnen gebildeten Quinten nicht differenziert. Jedes Intervall ist funktionell gleichwertig, keins ist hervorgehoben. Die Melodik pendelt in diesen Terzintervallen ohne Bevorzugung einer Stufe; es gibt kaum die Möglichkeit, hier tonale Schwerpunkte festzustellen. Trotz des großräumigen Ambitus tritt keine Konsonanz als bestimmender tonaler Faktor hervor. Das ist ganz anders in Dreiklangsmelodien, die unter Einfluß der Konsonanz aus engräumigem Melos entwickelt erscheinen, wie in den Indianermelodien. Als Beispiel möge eine noch sehr schlichte indianische Melodie dienen, die zwar konsonante Intervalle verwendet, sonst aber durchaus den Typ der engstufigen Melodik der Indianergesänge der primitiveren Schicht der zweiten Einwanderungswelle vertritt, die auf die erste folgte, deren Reste in Feuerland noch im 20. Jahrhundert untersucht werden konnten. Es ist ein Kultgesang der Uitoto-Indianer des Amazonas-Quellgebietes am Ostabhang der Anden. 18. Uitoto (Kolumbien)
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Fritz Bose, Die Musik der Uitoto, Berlin 1934, Beispiel 25 Strophe III
Bis auf den größeren Ambitus und die Verwendung von Terz und Quarte ist diese dreitönige Melodie vom gleichen Typ wie die anderen Uitoto-Gesänge mit 3 Tönen aus Sekundschritten. Statt der kleinen Sekunde oberhalb des zentralen Haupttones
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steht hier eine Terz, statt der großen Sekunde im Abwärtsschritt eine Quarte. Im Wechsel von Spannung und Lösung pendelt das Melos um die zentrale Tonika. Die Bewegung setzt typisch indianisch mit einer emphatischen Überhöhung ein, fällt entspannt zur Mittellage zurück, sinkt dann unter das Zentralniveau ab, um sdiließlidi in der entspannten Mittellage zur Ruhe zu kommen. Die Terz nach oben und die Q u a r t nach unten sind spannungsgetragene Ausweichungen aus der Ruhelage. Sie sind völlig unbestimmt in ihrer Schrittgröße: die Terz schwankt in der Intonation zwischen großer und Kleinterz, die Unterquart wird mehrfach als Großterz intoniert. Ein auf der Prävalenz der Konsonanz gegründetes tonales Bewußtsein existiert hier also offenbar nicht. Ebensowenig kann das aber für die Fanfarenmelodik und Jodelweisen der kleinwüchsigen Paläonegroiden angenommen werden. Zwar werden hier die Intervalle sauber intoniert, die Konsonanz ist valent. Aber es gibt keine determinierte Tonika, keine ausgeprägte Abstufung der tonalen Funktionen. Das Verhältnis von Spannung und Lösung, das dieses wie jedes Melos bestimmt, wechselt von Stufe zu Stufe, es gibt keinen festen Bezugspunkt für die Gesamtbewegung der Melodik, wie es auch keine feste und regelmäßige Strophenform, keine wiederkehrende Folge wechselnder Motive gibt. Die nur dreitönige Uitoto-Melodie mit ihren unsauber intonierten Ecktönen ist aber ein Strophenlied aus drei regelmäßig wiederkehrenden prägnanten, wenn auch sehr kurzen Motiven. Sie stellt daher bereits einen fortgeschritteneren T y p der musikalischen Entwicklung dar. Kann man dieses Beispiel gerade noch als primitiv im Sinne von naiv und simpel bezeichnen, so trifft das für die Melodik und damit für die tonale Struktur der Mehrzahl der indianischen Völker der dritten und vierten Einwanderungswelle, d. h. für die große Masse der Indianer beider Subkontinente nicht mehr zu. Ebensowenig für die Musik der Negervölker Afrikas, die der Südseevölker, speziell der Polynesier, und die Musik der Völker Asiens und Europas. Auch wenn solche Lieder nur wenige Tonstufen verwenden und ihr Ambitus nicht die Oktave erreicht, ist ihr tonaler Aufbau komplex, d. h., es sind meist mehrere tonale Strukturen ineinander geschachtelt. Die einzelnen Leitertöne der aus der Melodie abstrahierten „Gebrauchsleiter" treten in die Relation von Spannung und Entspannung in verschiedener Funktion, entsprechend den Bewegungsgestalten der einzelnen Melodieabschnitte. Die Anlage ist formal ebenso komplex, die meist ausgedehnten Strophen bestehen aus einer Mehrzahl von Motiven, deren jedes eine andere tonale Struktur haben kann. So ist der Hauptton des einen Motivs vielleicht ein Spannungsträger im zweiten, ein Durchgangs* oder Leitton im dritten. Zugleich ist aber die Gesamtheit der Leitertöne bezogen auf einen dominierenden Hauptton, auf eine General-Tonika. Die weiteren Funktionell wichtigen Tonstufen stehen fast stets zu dieser in stark konsonantem Verhältnis, in der Regel als Quinten und Quarten. Gesänge- und Instrumentalstücke dieses Typs setzen eine ausgereifte poetische Form, die Gestaltung eines umfangreichen Inhalts an Ideen und Gefühlen voraus. Diese Fülle an poetischem Gehalt bedingt die
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erweiterte Form und die differenzierte Architektur, aus der wieder als Substrat der melodischen Gestalt die reich gegliederte und funktionell komplexe Leiter resultiert. Ich erspare es mir, hierfür Beispiele anzuführen. Sie sind in unendlicher Fülle aus jeder Publikation von Melodien dieser entwickelten Naturvölker, dieser Volksmusikarten aller Hochkulturen bis hin zum Kunstlied des Abendlandes und des Orients zu entnehmen. In diesen Melodien und in ihren Leitern wirken gewiß dieselben Gesetze der Melodiebildung wie in den hier zur Erörterung stehenden primitiven. Aber sie werden ergänzt und überlagert von Form- und Gestaltprinzipien, die die tonale Struktur als gegeben voraussetzen. Die melodischen Bewegungsabläufe folgen nicht nur den einfachen Regeln der Verknüpfung von Spannungsbögen, sie vollziehen sich unter der Auswirkung eines tonalen Bewußtseins. Der Bewegungsspielraum des Melos ist durch die Bindung der Tonstufen an Funktion und Konsonanz vorgegeben. Wenn auch die effektiv gebrauchte Tonleiter im Detail ihrer funktionellen Aufteilung und in der Verzahnung der Teilstrukturen stets, auch in der Musik der Hochkulturen, von Gesang zu Gesang wechselt und als Projektion des Melos auf eine Dimension bzw. als Substrat der Melodik angesehen werden muß: die Leiter als solche ist im Bewußtsein der Sänger vorhanden und bestimmend für die wechselnden melodischen Bewegungsabläufe. Sie ist ferner im Stilbereich der Hochkulturen noch geprägt durch ein Element, das auf keinen Fall Bestandteil der Melodik des einzelnen Gesanges, sondern rational erfundene Zutat zur musikalischen Gestalt ist, ein Element, das nicht den Gesetzen melodischer Gestaltung folgt, sondern sie sogar einengt: das Tonsystem.
5. TONALITÄT UND TONSYSTEM Tonsysteme sind das Resultat von Spekulationen und Experimenten. Der naive Mensch kennt kein Tonsystem. Er bildet Intervalle, in fortschreitender Ausdehnung seiner Melodien ordnen sie sich zu tonalen Strukturen mit konsonanten Rahmentönen. Aber sie bilden kein System absoluter oder relativer Frequenzfolgen. Absolute Tonhöhen werden erst am mehrtönigen Musikinstrument bedeutsam. Erst in dem Augenblick, wo die ursächliche Verknüpfung wahrgenommener Tonhöhen mit den räumlichen Abmessungen der Instrumente und die Abhängigkeit der Frequenz von diesen Maßen entdeckt wird, ordnen sich Tonhöhen in ein Maßsystem ein. Tonsysteme sind die Anwendung von allgemeinen Maßnormen auf akustische Wahrnehmungen. Meßbar sind aber nur konkrete räumliche Gebilde wie die Länge von Flötenrohren oder schwingenden Saiten. Die frei strömenden Schwingungen der Stimmlippen lassen sich nicht mit Maßstäben messen und normen. Am Beginn der Überlegungen, die zur Anwendung von Maßnormen auf Instrumentaltöne und damit zur Erstellung von Tonsystemen führen, steht die Entdeckung
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des Einzeltones. Das kann nur an einem Instrument geschehen, denn die menschliche Stimme produziert im allgemeinen keine isolierten Einzeltöne, sondern Melodien. Die ersten Musikinstrumente der Menschheit, durchweg Idiophone wie Klappern und Rasseln, sind Kultinstrumente. Sie haben bestimmte magische Eigenschaften und sind wie die von ihnen erzeugten Klänge oder Geräusche „heilig". Solche Geräte werden mit aller Sorgfalt hergestellt und gehütet. Bei ersatzweiser Neuanfertigung werden sie genauestens kopiert. Die Gleichheit in den äußeren Formen und Abmessungen bewirkt die Gleichheit der akustischen Eigenschaft. Klangstäbe oder Klangplatten, die in ihren Abmessungen, in Länge, Breite und Stärke, wie im Material übereinstimmen, müssen auch gleiche Tonhöhe haben. Flötenrohre gleicher Länge müssen bei gleichem Innendurchmesser gleiche Töne ergeben. Diese Entdeckung ist erst zu machen, ehe mehrtönige Klanggeräte unter das Gesetz von Maß und Zahl gestellt und mit ihnen ein genormtes System von Tonstufen als Material für eine Musik geschaffen wird, die durch die Einhaltung solcher Normen sich der Ideologie unterordnet, die diese Normen als heilige Ordnungen anerkennt. Tonsysteme sind daher in jedem Fall nur in Kulturen möglich, in denen die Magie der Zahlen Richtschnur des Denkens und Bestandteil der Religion ist, mithin nur bei Hochkulturvölkern. Nicht für jedes mehrtönige Musikinstrument, das bei Naturvölkern angetroffen wird, muß jedoch die Entlehnung aus einer Hochkultur vorausgesetzt werden. Der Musikbogen oder das Schenkelxylophon und einige weitere Instrumente ähnlich einfacher Konstruktion mit geringer Tonstufenzahl können durchaus Erfindungen primitiver Menschen sein, kultische Geräte, die ohne das Vorhandensein eines die Fülle der möglichen Tonhöhen regelnden Tonsystems entwickelt wurden. Wo wir aber mehrtönigen Musikinstrumenten mit mehr als zwei oder drei Tonstufen begegnen, ist die Entlehnung aus Hochkulturen als sicher vorauszusetzen. Das zeigt sich immer auch daran, daß die auf solchen Instrumenten produzierte Musik in keiner Beziehung zu den vokalen Musikstilen dieser Völker steht. Die Panflöten in Mittel- und Südamerika treten zwar mit Schlitztrommeln und Rasseln in den kultischen Zeremonien auf, die von Tänzen und Gesängen getragen werden, aber nie mit den Vokalstücken gemeinsam, stets unabhängig von den Gesängen für sich allein dargeboten. Sie bilden aber auch musikalisch einen eigenen Stilkomplex: die auf Panflöten und Flöten musizierten Stücke haben ein eigenes motivisches Material, andere Formgestalt und andere tonale Strukturen. Sie sind Fremdkörper in der Musikkultur der Indianer, wenn auch weitgehend adaptiert und in den musikalisch-kultischen Zusammenhang einbezogen. Es ist hier nicht der Platz, die Herkunft dieser Instrumente zu erörtern, die vielleicht in den Andenhochkulturen aus Anregungen von fernen, außeramerikanischen Musikkulturen mit ausgeprägten Tonsystemen entstanden sein mögen. Eine Untersuchung dieser Frage scheint dringlich. Sie könnte aber aufschlußreich nur dann sein, wenn man die amerikanischen Panflöten und Flöten im Zusammenhanng mit den Vorkommen in der Südsee behandelt und die afrikanischen und südostasiatischen Typen mit berück-
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sichtigt. Leider ist der ganze Komplex durch von Hornbostels Untersuchungen der Panflötenstimmungen unter der Prämisse einer weltweiten Orientierung nach dem Prinzip des Blasquintenzirkels so schwerwiegend vorbelastet, daß sich seither niemand dieser gewiß interessanten und für die Erkenntnis von Kulturzusammenhängen zwischen Naturvölkern und Hochkulturen bedeutsamen Aufgabe unterziehen mochte. Unterstellt man also als richtig, daß die mehrtönigen Musikinstrumente im Gebrauch von Naturvölkern geringer Entwicklungshöhe Lehngüter aus Hochkulturen sind, berücksichtigt man ferner, daß Musikinstrumente allgemein in primitiven Kulturen mit der Vokalmusik nur durch die gleiche soziale oder religiöse Aufführungsgelegenheit, nicht aber auch funktionell musikalisch verbunden sind, so folgt daraus, daß bei der Betrachtung der tonalen Strukturen die Instrumente unberücksichtigt bleiben können. Die meisten dieser Musikinstrumente erzeugen gar keine tonal bestimmbaren Klänge, sondern nur tonal indifferente Geräusche, wie z. B. Rasseln, Klappern, Schraper, Schwirrholz, Heulrohr. Aber selbst Instrumente mit bestimmbaren Tonhöhen, wie Schneckenhorn oder Musikbogen werden meist nur zur Erzeugung rhythmischer Impulse benutzt. Für die Beurteilung tonaler Gestaltungen fallen sie also nicht ins Gewicht. Hierfür kämen einzig die mehrtönigen Melodieinstrumente primitiver Bauart in Frage, wie z. B. die Dreiton-Panflöten der Uitoto. Bei diesen ist es fraglich, ob sie gleichfalls aus Hochkulturen entlehnt oder eigene Schöpfungen ihrer Benutzer sind, die man vielleicht als Reduzierung der vieltönigen Instrumente in eine der allgemeinen Musikkultur angemessene Skala auffassen könnte. Leider konnte ich durdi Vergleich der im Berliner Völkerkunde-Museum aufbewahrten Instrumente mit dem in Kolumbien aufgenommenen Phonogramm diese Frage nicht klären 7 . Ähnliche Erwägungen wären für die Xylophone mit drei bis fünf Holmen anzustellen, die gleichfalls Weiterentwicklungen des zweitönigen Schenkel- und Erdxylophons (in Afrika und Südamerika) oder aber Vereinfachung der aus Asien importierten mehrtönigen Xylophone sein können. Doch auch diese Frage ist noch nicht geklärt 8 .
6. ETHNOLOGISCHE UND ANTHROPOLOGISCHE GRUPPIERUNGEN Kann man die verschiedenen Typen tonaler Strukturen primitiver Musik — und das heißt ja nichts anderes, als bestimmte melodische Gestaltungsprinzipien — bestimmten Kulturen oder Rassen zuordnen? Ergibt sich im weltweiten Uberblick ein Verbreitungsmuster, das sich mit dem außermusikalischer Parameter deckt, zum Beispiel mit dem Vorkommen bestimmter Wirtschaftsformen, bestimmter Sozialordnungen, Hausbautypen, Schmuck- und Zierformen, bestimmter religiöser Vorstellungen oder schließlich bestimmter Körpermerkmale? Gerade für die letztgenannte Zuordnungsmöglichkeit ist wiederholt — und nicht nur in Deutschland und unter dem
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Einfluß der nationalsozialistischen Rassenideologie — und fast stets äußerst leichtfertig und ohne auch nur den Ansatz einer exakten wissenschaftlichen Beweisführung eine solche Zugehörigkeit bestimmter Melodie- und Leitertypen zu einer anthropologischen Gruppe behauptet worden. Idi habe diese Versuche, in rein formal-musikalischen Tatbeständen Rassekriterien zu suchen, in meiner Habilitationsschrift ad absurdum geführt (was meiner wissenschaftlichen Laufbahn nicht gerade förderlich war). Ich konnte aber experimentell nachweisen, daß der Stimmklang, entsprechend dem verschiedenen Bau der Schwingungs- und Resonanzorgane des Körpers, bei extrem verschiedenen Rassen gewisse gleichbleibende generelle Unterschiede aufweist und fand auch entsprechende Parallelerscheinungen im Vortragsstil und Bewegungshabitus der Vokalmusik. 9 ' 1 0 Ich bin heute, wo mir ein weitaus vollständigerer Überblick über die musikalischen Stile aller Völker der Erde dank der Sammler- und Herausgeber-Tätigkeit einer schon fast unübersehbaren Zahl von Forschungsreisenden aller Kulturnationen möglich ist, nicht mehr ganz so skeptisch der Frage gegenüber, ob nicht auch in Melodie und Leiter anthropologische Kriterien gefunden werden können. Die Melodik ist schließlich auch ein somatisch und nicht nur psychisch bedingter Bewegungsvorgang. Sie ist ähnlich wie der Vortragstil des Singens an Organbewegungen des Körpers gebunden und nicht nur vom Intellekt gesteuert. Mir scheint daher, daß gewisse melodische Bewegungstypen, denen bestimmte tonale Strukturen entsprechen, durchaus an bestimmte anthropologische Gruppen gebunden sein können. Ich denke da an die ohne feste Tonika-Basis gleichsam kreisende Tonalität der Fanfaren- und Dreiklangsmelodik, die einen so ganz anderen Bewegungshabitus erkennen läßt, als etwa die völlig lineare Projektion eines sehr kleinen Motivs auf einer ausgedehnten Skala vom oberen zum unteren Grenzbereich des Stimmumfangs oder als die innerhalb konsonanzgeprägter Bezugstöne pendelnde Bewegung in engstufigen Schritten oder als die Bogen- und Wellenbewegung großräumiger Melodiegestalten in kompliziert verknüpften tonalen Gerüststrukturen. Solche musikalisch-formalen Bewegungsformen könnten einem allgemeinen physiologisch-somatisdien Bewegungshabitus entsprechen, wie er eben auch in den Tanzbewegungen zum Ausdruck kommt, die ihrerseits mit der Melodik über den Rhythmus der Vokalmelodien verknüpft sind. Andererseits darf man nicht außer acht lassen, daß die Melodik und die ihr innewohnende Tonalität in mindestens ebenso starkem Maße von der Gestaltung des Textes und von der Sprache, mithin von Faktoren bestimmt werden, die körperunabhängig und allein vom Intellekt geprägt sind. Niemand wird in Sprachen Rassekriterien suchen, niemand ein sprachliches Kommunikationsmittel, auch in poetischer Gestalt, als somatisch bedingt ansehen wollen. Eine Zuordnung von tonalen Strukturen zu Rassen und anthropologischen Gruppierungen ist also nur unter sehr vielen Vorbehalten möglich und bedarf sehr eingehender Begründung und der Untersuchung sehr umfangreicher Materalien. Es ist doch, nach Kenntnis unserer bisher zugänglichen Sammlungen der
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Musik einzelner Stämme und Völker primitiven Kulturniveaus, in keinem Fall der Nachweis zu erbringen, daß in einem Stamm, dessen Repertoire an Gesängen einigermaßen vollständig erfaßt werden konnte, nur eine einzige tonale Struktur und entsprechend nur eine spezielle Art von melodischer Bewegungsgestalt existiert. Die von K. Th. Preuß 1914 phonographierte Sammlung der Musik der Uitoto des Putumayo-Gebietes ist sicher nicht vollständig im Hinblick auf das musikalische Repertoire, aber doch recht ansehnlich. Die Analysen der Gesänge ergaben das Vorhandensein zweier Typen von Melodien, die sich in vielen Hinsichten, auch tonal, deutlich unterscheiden lassen: ein primitiver Typ, der den Gesängen der Feuerländer nahesteht und z. T. völlig gleicht, wird überlagert von einem entwickelteren, der der Kulturschicht der tropischen Waldindianer entspricht, der die gesamte Kultur der Uitoto weitgehend angehört. 11 Ähnliche Situationen sind in anderen Primitivkulturen mehrfach angetroffen und dargestellt worden; eine besonders gründliche Analyse der Musik eines sehr umfassenden Repertoires aus der Südsee ergab ebenfalls das Nebeneinander verschiedener, teils archaischer, teils modernerer, teils auch von Nachbarinseln entlehnter Stile und tonaler Strukturen. 12 Solche Feststellungen lassen sich nur auf Grund eines umfangreichen Materials treffen, das möglichst vollständigen Einblick in das Repertoire der zu untersuchenden Gruppe erlaubt, worauf Marius Schneider nachdrücklidi hingewiesen hat 1 3 . Auf Grund eines nur lückenhaften Materials oder gar nur einer einzigen Melodie Aussagen über die bevorzugte tonale Struktur eines Volkes oder Stammes machen zu wollen, ist ein hoffnungsloses Unternehmen und kann nur zu Fehlschlüssen führen. Ein Musterbeispiel dafür ist der unlängst von Heiner Ruland unternommene Versuch, an einer einzigen Melodie der Hopi-Indianer das Vorhandensein eines temperierten fünfstufigen Tonsystems in der vokalen (!) Musik eines Naturvolkes anzunehmen, das melodiefähige Instrumente nicht besitzt. Ein solcher Versuch kann nicht mehr als eine Spekulation sein, so scharfsinnig und wohlbegründet seine Argumentierung auch ist 14 . Jede etwas umfangreichere Materialsammlung primitiver Musik hat bisher stets ergeben, daß es nicht möglich ist, in ihr das Walten nur eines bestimmten Melodietypus und damit nur einer tonalen Struktur zu erkennen. Das Repertoire aller bislang untersuchten oder auch nur durch Publikation in Transkriptionen oder als Schallplatte zugänglich gemachten Musikstile primitiver Völker zeigt vielmehr immer das Auftreten verschiedener melodischer Gestaltprinzipien und tonalen Strukturen. Neben älteren, schlichteren, stehen auch immer jüngere, entwickeltere formale und tonale Typen. Das gilt für primitive Kulturen genauso, wie es für die Musik entwickelterer Naturvölker und für die Volksmusikstile der Kulturvölker Asiens und Europas seit jeher angenommen und als selbstverständlich erkannt worden ist. Das aber erschwert naturgemäß alle Versuche, Typen von tonalitären Ordnungen bestimmten ethnographischen
oder anthropologischen
Gruppierungen
zuzuweisen.
Hinzu kommt, daß durchaus nicht alle tonalen Strukturen gleicher Tonfolgen gleiche
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melodische Gestaltungen voraussetzen. „Der gleiche Tonbestand kann in verschiedene Stile eingebettet sein: Gleichheit im Notierbaren bedeutet nicht Gleichheit der konkreten Erscheinung. Die erstaunlichen Übereinstimmungen aber mögen sich manchmal aus Kulturverwandtschaft, z. B. zwischen Indianern und Eskimos, erklären, weithin jedoch polygenetisdi: Musikalische Elementargedanken der Menschheit können an verschiedenen Stellen der Erde ohne geschichtlichen Zusammenhang entstanden sein . . . Allein aus der Formähnlichkeit primitiver Gebilde, ohne andere Indizien, ist nicht auf Kulturverwandtschaft oder geschichtlichen Zusammenhang zu schließen." 15 Besonders im Vergleich europäischer Tatbestände mit gleichartigen außereuropäischen ist daher größte Vorsicht geboten. Wiora unternimmt es dann aber doch, primitive Naturvölker-Melodien solchen aus Europa gegenüberzustellen, und seine Beispiele zeigen oft eine verblüffende Ähnlichkeit im Melos, formalen Aufbau und Leitergerüst. Nun darf aus solchen Übereinstimmungen aber auf keinen Fall auf einen kulturellen oder historischen Zusammenhang geschlossen werden. Die primitiven tonalen Strukturen im Abendland sind audi niemals, wie oft bei Naturvölkern, die einzig oder vorwiegend gebrauchten, sondern seltene Ausnahmen, die sich nur in Rückzugs- und Randgebieten, wie z. B. auf dem Balkan oder im Kinderlied und in bestimmten alten Brauchliedern (z. B. Totenklagen) finden. Aber in diesen Vokalmelodien haben sich nicht etwa „Reste urtümlicher Formen bis in die Gegenwart bewahrt", so daß man sie nicht mit den Gesängen der Primitiven auf eine Stufe stellen kann. Denn auch auf die primitiven tonalen Strukturen europäischen Volksgesanges wirken die tonalen Ordnungen der abendländischen Musikkultur von der Antike über die Gregorianik und die modalen Leitertypen bis zur Dur-Moll-Tonalität der Neuzeit erkennbar ein. Das tonale Bewußtsein der europäischen Volkssänger und selbst das der Kinder, sofern sie dem Säuglingsalter entwachsen sind, wird von den musikalischen Formen geprägt, die das Musikleben Europas beherrschen, Formen, die ihrerseits
wieder
einen breiten Aspekt historischer Bezüge der Kunstmusik wie der Volksmusik aus dem ganzen Reservoir der abendländischen Musikgeschichte beinhalten. Das zeigt sich unter anderem auch darin, daß die archaischen Melodien in bi- bis tetrachordaler Tonalität häufiger als bei Naturvölkern in gleichbleibend fixierten Intervallen ablaufen. Während eine zweitönige Wedda-Melodie in ihrer Schrittgröße von einer Mini-Sekunde, die kaum mehr als eine geringfügige Abweichung vom Ausgangsbzw. Hauptton darstellt, bis zur Quarte schwanken kann, 1 6 zeigen die primitivsten europäischen Melodien demgegenüber eine größere Konstanz der Intervalle. Und in den entwickelteren europäischen Volksmelodien in tetra- bis heptadiordisdien Strukturen wirkt das Gestaltungsprinzip eines, wenn auch nur latent bewußten systems mit, worauf auch Wiora hinweist 17 . Die allgemeineuropäische
Ton-
„Singzeile"
z. B. der Ansinglieder unserer Kinder mit der trichordalen Kernzelle a g—e kann, erweitert zur Vierton-Struktur a g — e — c in Varianten auch die pentachordale Struktur a g—e d c annehmen, wobei sich deutlich eine Dur-Charakteristik einstellt, die
TONALE STRUKTUREN IN PRIMITIVER MUSIK
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diese Struktur als reduzierte Dur-Skala des herrschenden Dur-Moll-Tonsystems erscheinen läßt. Wenn man also versucht, auf Grund von Ubereinstimmungen der tonalen Struktur kulturelle Zusammenhänge in weltweitem Überblick zu konstruieren, ist die Gefahr gegeben, daß man Fakten gleichsetzt, die keineswegs gleichgeartet sind. Selbst die diesen Tonalitäten zugrundeliegenden Melodien sind allein noch kein Kriterium für Kulturzusammenhänge, denn Gesänge sind mehr als Melodien, sie haben auch einen Text und eine soziale oder religiöse Funktion, von anderen Bedingheiten zu schweigen. Vergleichen lassen sich nur komplexe Ganzheiten der Musikkulturen. Dennoch ist wiederholt versucht worden, solche tonalen Strukturen in größerem Kulturzusammenhang zu sehen und aus ihren Übereinstimmungen „Tonalitätskreise" in Anlehnung an die historische Schule der Ethnologie zu ermitteln. Eine Fülle von Übereinstimmungen der tonalen Strukturen machen solche Versuche plausibel und geben ihnen vergleichsweise ebensoviel Berechtigung wie dem Versuch von Curt Sachs, die Verbreitungsgebiete bestimmter Musikinstrumente mit den Kulturkreisen der Wiener Schule der Ethnologie zur Deckung zu bringen. Befriedigend sind aber alle solche Unternehmungen nicht, und die oben erwähnten Vorbehalte und Einwände bleiben bestehen. Wenn etwa versucht wurde, für die Hirtenvölker Asiens und Europas ein übereinstimmendes tonales und melodisches Prinzip zu erkennen, so ist damit der Anspruch, es sei für „die Hirtenkultur" an sich kennzeichnend, sicher falsch. Denn es trifft für die Hirtenvölker Ostafrikas nicht zu, die weder Dreiklangs- und Fanfarenmelos noch halbtonfreie Pentatonik, sondern ein wellen- und bogenförmiges Melos im Rahmen tetrachordaler bis heptachordaler Leitern aus Sekunden besitzen, ebensowenig auf die Hirten des vorderen Orients und Nordafrikas, deren tonale Strukturen am Instrument entwickelte Tonsysteme zugrunde liegen. 18
7. VOKALES UND INSTRUMENTALES MELOS Bei Naturvölkern primitiver Entwicklungsstufen sind melodiefähige Instrumente, sofern sie dort überhaupt anzutreffen sind, Lehngut aus höher organisierten Kulturen. Ihre Verwendung kann recht verschieden sein. Der Musikbogen wird z. B. in Südafrika meist als Begleitinstrument zum Gesang gebraucht, wobei seine Funktion sich mehr auf die Rolle des Rhythmusinstrumentes erstredet, als daß darauf die Gesangsmelodie mitgespielt oder in mehr oder weniger thematisch von ihr abhängiger Melodieführung „begleitet" oder kontrapunktiert wird. Bei den Instrumenten mit konstanten Tonhöhen ist die Verwendung wieder anders. Als rhythmisches Begleitinstrument werden sie kaum verwendet, höchstens dann, wenn sie nur einen, meist tiefen Ton erzeugen, wie das Heulrohr der Australier und die Holz- oder Rindentrompeten und Eintonflöten südamerikanischer Indianer und die Holz- oder Metall-Glocken
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Afrikas. Die Flöteninstrumente mit Grifflöchern oder als gereihte Einzelrohre (Panflöte) dagegen werden stets als Melodieinstrument gebraudit. Ihr Melos ist tonal beschränkt durch die Zahl der verfügbaren Intervalle. Diese ergeben sich aus dem Herstellungsverfahren dieser Instrumente. Sowohl die Rohrlänge der Panflöte wie die Grifflöcher der Flöten werden z. B. in Amerika nicht nach musikalischen Gesichtspunkten gewählt, sondern nach dem Prinzip der gleichen Abstände: bei den 3-RohrPanflöten der Uitoto und Tukano werden die kleineren Rohre um dieselbe Länge des Abschnitts verkürzt, die Grifflöcher der primitiven Flöten mit Außenspalt in Südamerika haben gleiche Abstände, vielfach auch noch Kernspaltflöten hier und in anderen Teilen der Welt einschließlich des Balkans. Das ergibt in beiden Fällen Leitern mit ungleich großen Intervallen: bei gleicher Verkürzung der schwingenden Luftsäule werden die Intervalle nach der Höhe zu immer größer. Der Tonvorrat dieser Instrumente deckt sich also nicht mit den tonalen Strukturen der Vokalmusik dieser Völker. Das ist wohl auch einer der Gründe, weshalb die Flöten oder Panflöten bei den südamerikanischen Waldindianern zwar innerhalb der Kultfeste aber stets isoliert und nicht zusammen mit den Gesängen gespielt werden. Andere Gründe liegen in der religiös-magischen Funktion dieser Schallwerkzeuge, ihrer Tabuierung und anderen außermusikalischen Bedingtheiten. Es werden daher auch auf ihnen durchaus andere Melodien praktiziert als sie in den Gesängen der gleichen Kultfeste und auch in außerkultischem Gebrauch verwendet werden 19 . Nur bei nordamerikanischen Indianern finden sich Flötenstücke, die instrumentale Wiedergaben vokaler Melodien sind. Hier ist die Flöte, eine Kernspaltflöte mit 6 bis 8 Grifflöchern in diatonischer Stimmung, offenbar bereits europäisch beeinflußt, das Instrument für den Liebeszauber, also auch funktionell anders bewertet als in Südamerika, wo die Flöte wie die Panflöte meist nur paarweise auftritt und — oft in der Verbindung mit der Schlitztrommel — ein ebenso feminin wie maskulin betontes Fruchtbarkeitssymbol mit eher lunarer Tendenz darstellt. In Nordamerika ist die Grifflochflöte aus Holz oder (Vogel-)Knochen phallisch gesehen, also solares und maskulines Symbol. Auch die Bemalung (rot) und der Schmuck (Vogelfedern) betonen diese Bedeutung. Die Verwendung melodiefähiger Instrumente zur Wiedergabe vokaler Melodien oder zur „Begleitung" derselben in zwei- oder mehrstimmiger Spielweise, wie wir es in Afrika mit Zithern, Harfen, Klimpern und Xylophonen erleben, ist jedenfalls nicht mehr „primitiv". Eine Untersuchung dieser tonalen Strukturen solcher Instrumentalweisen gehört nicht mehr in den Rahmen dieser Betrachtung, da hier schon die vom Instrument vorgegebene Tonalität bestimmend ist, die zu Skalierungen führt, die den nach Maß und Zahl bestimmten Tonsystemen der Hochkulturen näherstehen als den tonalen Strukturen der Volksmusik naiver Kulturgesinnung. Bei den Instrumentalstücken primitiver und auch nicht mehr so ganz primitiver Völker fällt auf, daß sie viel weniger differenziert sind als die Vokalmelodien
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desselben Volkes, Stammes oder Dorfes. 2 0 Während die Gesänge recht verschiedene Melodiegestalt und auch meist verschiedene tonale Strukturen haben, ähneln sich die Instrumentalmelodien bis zur Identität. Es sind nur Varianten ein und derselben Flöten- oder Panflötenstücke. Das Melos in der Vokalmusik ist eben freier in seinen Entfaltungsmöglichkeiten, das instrumentale Melos stärker gefesselt durch die B e grenzungen des Tonvorrates und die spieltechnischen Gegebenheiten. I m unbegleiteten Gesang kann sich die melodische Gestaltung frei entfalten parallel zur Gestaltung der Dichtung. D a ß sie nicht in formlosen Gebilden ohne feste Bezugstöne frei und wild schwankend sidi zeigt, sondern rhythmisch-metrische wie tonale Grenzen respektiert, ist eins der Geheimnisse der menschlichen N a t u r . Kunst ist die G a b e der Selektion, der Beschränkung auf das Wesentliche, das Prägnante, und das gilt schon für ihre ersten Anfänge. D a s K l e i n k i n d wie der Primitive
findet
offenbar schon auf der
frühesten Stufe der Entwicklung kommunikativer und lustbringender Äußerungen zu stabilen Formen einer früh-künstlerischen Gestaltung. I m Bereich von Sprache und Musik sind dies im Singen auch bereits tonal
fixierte
Strukturen. Audi primitive
Melodik entwickelt tonale Bezugssysteme, in denen Anfangs- und E n d p u n k t e der M o t i v e und Strophen, Grenzen des Ambitus, Gravitationszentren der Bewegung und Umkehrpunkte
des
Richtungswechsels
der
Bewegung
funktionell
hervortretende
Orientierungspunkte sind. Doch sind solche Skalierungen nicht wie Tonsysteme das Material, aus dem das Melos gestaltet wird, sondern die Substrate aus frei geschaffenen melodischen Formen. „Die S k a l a ist nicht die N o r m , der die Melodie gehorcht, sondern das empirische Gesetz, das wir in der Fülle der melodischen Erscheinungsformen als das Bleibende e r f a h r e n . " 2 1
ANMERKUNGEN Bruno Nettl hat in sein Buch „Music in Primitive Culture", das 1956 in der Harvard University Press in Cambridge erschien, einen Abschnitt „Scale and Melody" aufgenommen, der sich meist auf ältere Publikationen stützt und keine neuen Aspekte aufzeigt. 2 Ferdinand Trendelenburg: Klänge und Geräusche 1935. * Hans-Peter Reinecke: Hörprobleme im Lidite akustisch-tonpsychologischer Forschung; in „Der Wandel musikalischen Hörens", Berlin 1962, S. 48—56. 4 Fritz Bose: Die Musik der Chibcha und ihrer heutigen Nachkommen; Internationales Archiv für Ethnographie XLVIII, 1958, S. 149—198. 5 Fritz Bose, Musikalische Völkerkunde, Freiburg 1953, S. 18—20. 6 E. M. von Hornbostel: Musik der Makuschi, Taulipang und Jekuana — in Koch-Grünberg: Vom Roroima zum Orinoco, Bd. III, Stuttgart 1923, S. 410. 7 Fritz Bose: Die Musik der Uitoto. Berlin 1934, S. 10—11. 8 A. M. Jones: Africa and Indonesia. Leiden 1964. 9 Fritz Bose, Stimmklang und Vortragsstil als psychosomatische Kriterien 1939, Manuskirpt, gedruckt im Auszug unter „Klangstile als Rassenmerkmale", Zeitschrift für Rassenkunde XIV, S. 78 ff. und S. 208 ff. 1943/44, Fortsetzung unter „Meßbare Rassenunterschiede in der Musik" Homo II, S. 147 ff., 1952. 1
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FRITZ BOSE Derselbe: Rassentheorie und Rassenforschung in der vergleichenden Musikwissenschaft, Musikblätter No. 16, 1948, S. 5 ff. Bose, Uitoto. Dieter Christman und Gerd Kodi: Die Musik der Ellice-Inseln. Museum für Völkerkunde, Berlin 1964. Artikel Tonalität, M G G Band 13, 1966, Spalte 512. Heiner Ruland: Zur Tonalität einer Indianermelodie. Jahrbuch für musik. Volks- und Völkerkunde Band 4, 1968, S. 106 ff. Walter Wiora: Älter als die Pentatonik. Studia Memoriae Bela Bartök Sacra 1956, S. 189. E. M. von Hornbostel: The Music of the Fuegians. Ethnos 1948, Beispiel Nr. 39. A. a. O. S. 204—205. Literatur: Schneider, Danckert, Wiora. Bose: Musik der Tukano und Desana, Jahrbuch für musikalische Volks- und Völkerkunde, Band 6. Bose: Tukano, Bose: Chibdia (vgl. Anm. 19 und 4). von Hornbostel, Melodie und Skala, S. 23.
SUMMARY The origin of music cannot be found in the songs of the Fuegians, Australians or Wedda. Though their musical styles are very primitive ones, they are the product of a long historical development. Analogies to the rise of music and song may more easily be found in the development of crying and stammering of the infants. The first cries of the ancient homo sapiens like those of our babies are means of communication as well as of euphoria. These first exercises are still without distinct phonemes. Singing therefore precedes speaking. The first melodies have two tones. One-tone-recitation is an artificial trick and no more naiv. Normally the melodic movement is descending, the upper level more constant and accentuated, the lower more indifferent. The intervall differs between some cents and a third or forth. Melodies with three tones can have different tonal structures according to the tonal function of the different tones. They also may have different directions of movement and different ambits. Series of three-tone-motifs can be connected on another level so that a primitive motif passes through a wide range as in ancient Australian and in some American Indian songs. The next step in the development of melody is still connected with the principle of consonance. But not all songs using only thirds, forthes and fifthes are progressive ones as for instance those of the Papua and Melanesian ore even the Pygmies. Progressiv are only scales in which the main functions of begin and close, accentuated and central tones are fixed to tones in consonant intervalls. This connexion of distance and consonance in the scales of four and more steps — even if the octave is not readied — is to be found in the tonal structures of all races and peoples in the world and by no means primitiv. In the musical scales of the civilised cultures we find yet another principle of construction: the tonal system, as a result of experiments and mathematics. Such systems can never be constructed in pure vocal music, they only can be developed with the help of musical instruments with several different tones. If primitive peoples have such instruments, they are borrowed from higher civilized neighbours, and than they have other scales as their vocal melodies and cannot be used together with songs. There exist several attempts to assign the different tonal structures to distinct ethnological and anthropological units. But this is very difficult because in the most cases we
T O N A L E S T R U K T U R E N I N PRIMITIVER MUSIK
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do not know the whole repertoire of the compared groupes and comparisons of only one element of musical culture is not at all sufficient. The tonal structures of instrumental scales in primitive music are nearly almost different from those of their vocal scales. The instrumental melodies of such peoples are lese different than the vocal ones. Vocal melos may expand free, the instrumental melos is bound to the prefixed scale.
ZUR PROBLEMATIK DER TRANSKRIPTION JAPANISCHER PALASTMUSIK von HELMUT RÖSING, S a a r b r ü t k e n
Die Versuche, japanische Palastmusik in europäischer Notation wiederzugeben, lassen sich bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgen1. Auf die Problematik derartiger Transkriptionen wies bereits E. M. von Hornbostel bei der Besprechung des 1. Bandes der „Geschichtlichen Denkmäler der japanischen Tonkunst", Abteilung I, Hofmusik, hin2, das Saibara, altjapanische autochtone Gesänge beinhaltet 3 . Von Hornbostel formuliert allerdings nur das Unbehagen, das die Herausgeber bei den Übertragungen selbst empfanden. In ihrem Vorwort machen sie darauf aufmerksam, daß die Transkription weder den Eigenheiten der Intonation noch der Vortragsweise gerecht werden, vor allem der improvisatorischen klanglichen Auszierung4. Darum äußert von Hornbostel mit Recht: „Nur die phonographische Aufnahme kann die alten Kulturdenkmäler wirklich der Nachwelt erhalten" 5 . Auch heute, fast 40 Jahre später, hat sich die Lage kaum geändert bzw. verbessert. Im Gegenteil, die generellen Vorbehalte gegenüber Transkriptionen von außereuropäischer Musik haben eher zugenommen. Wenn Forscher wie E. GersonKiwi 6 , Ch. Seeger7, W. Kaufmann 8 oder K. Dahlback 9 betonen, daß unsere herkömmliche Notation allein nicht ausreicht, um die Musik anderer Kulturen in ihrer ganzen Eigenheit wiederzugeben, so drückt sich darin ein berechtigtes Mißtrauen gegenüber einer Notation aus, die in einem langen historischen Prozeß entwickelt wurde, um den Belangen der abendländischen Musik Rechnung zu tragen. Schon die Zuhilfenahme von Zusatzzeichen hinsichtlich der genauen Tonhöhe, der klingenden Dauer der Töne, der Verzierungen und der durch besondere Spielpraktiken hervorgerufenen besonderen klanglichen Wirkungen verdeutlichen die Begrenztheit unseres Notationssystems bei der Kennzeichnung von musikalischen Sachverhalten, die von den in der europäischen Musik gebräuchlichen abweichen. Auch bei uns reicht für viele Werke der Neuen Musik, für die leitermäßig fixierte Tonhöhen, divisionäre Rhythmen und traditionelle Spielweise der Instrumente nicht mehr als verbindlich gelten,
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unsere herkömmliche Notation nicht aus. Die Komponisten versudien daher die neuen Sachverhalte mit neuen graphischen Notationen zu verdeutlichen. Die technischen Hilfsmittel sind dagegen seit 1930 derart weiterentwickelt worden, daß es ohne wesentliche Schwierigkeiten möglich ist, die gesamte Musik, die transkribiert werden soll, aufzunehmen und zusammen mit den Übertragungen auf Schallplatte zu veröffentlichen. Was bereits von Hornbostel zu einer Zeit forderte, in der umfangreichere Musikaufnahmen noch mit einem erheblichen technischen Aufwand verbunden waren, sollte heute eigentlich selbstverständlich sein. Die Transkription würde zwar das Verständnis für die Musik erleichtern, wäre aber neben der Aufnahme selbst nur in zweiter Linie von dokumentarischem Wert. Ihre Aufgabe brauchte dann auch gar nicht mehr die möglichst vollkommen exakte Wiedergabe des vorliegenden klingenden Materials zu sein, sondern sie hieße: Veransdiaulichung des Essentiellen durch Abstraktion in dem bei uns gebräuchlichen Notationssystem 10 und damit zugleich:
sinngemäße
Interpretation 11 . Von dieser hier skizzierten Möglichkeit wird aber noch immer nicht generell Gebrauch gemacht. So verzichtet leider bislang auch S. Shiba, der Herausgeber der geplanten Gesamtausgabe von Transkriptionen japanischer Gagakumusik, darauf, zu den Noten die Musik auf Schallplatten zu edieren. Statt dessen weist er in dem Vorwort zu dem ersten Band 1 2 , ähnlich wie die Herausgeber der oben erwähnten Ausgabe der Baibara von 1930, auf die Problematik der Transkriptionen hin und nennt sie „einen Versuch" 13 . Damit werden Sinn und Zielsetzung dieser Ausgabe, nämlich 1. die Erhaltung dieser Musikstücke für zukünftige Generationen und 2. das Bestreben, das Wesen dieser Musik auch in der westlichen Welt bekannt zu machen, von vorne herein fragwürdig. Auf sich allein gestellt, ist der Wert der Übertragungen gering. Für die Praxis ist die Spielweise der japanischen Palastmusik wichtiger als das tonhöhen- und taktmäßig fixierende Notenmaterial. Die Transkriptionen können nur dem etwas über die Musik sagen, der mit ihrem Wesen bereits vertraut ist. Würde z. B. ein Ensemble von europäischen Musikern notengetreu nach den Übertragungen spielen, so käme dabei, wie schon E . Harich-Schneider betont 14 , alles andere heraus als Palastmusik. Auch bei den Hofmusikern selbst ist es nicht üblich, sich nach den in japanischer Notation vorliegenden Stimmbüchern zu richten 15 , da das improvisatorische Element der Verzierung und klanglichen Bereicherung bei der Ausführung eine erhebliche Rolle spielt. Wesentlich ist die mündliche Überlieferung vom Meister zum Schüler, die sich, wie L. Picken erwähnt 18 , im Lauf der Jahrhunderte von den schriftlichen Vorlagen erheblich entfernt hat. Wie die Palastmusik an den Schüler weiter vermittelt wurde, beschreibt M. Courant sehr anschaulich: Jede Melodie wird durch eine bestimmte Folge von Silben charakterisiert, die der Schüler erst auswendig beherrschen muß, bevor er das Instrument überhaupt zur Hand nehmen darf 1 7 . Auf die
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grundsätzliche Bedeutung der mündlichen Uberlieferung für das Erlernen der richtigen Ausführungspraxis weist T. van Khe 1 8 hin: Wenn die Musiker die Palastmusik nach schriftlichen Vorlagen erlernen und ausführen würden, dann ginge sehr schnell das verloren, was letztlich unabdingbar zu dieser Musik gehört: das improvisatorische Element. Der Effekt der Übertragungen wäre damit ein negativer. Die Gefahr liegt nahe, daß sie das Gegenteil von dem bewirken, was mit ihnen intendiert war. Die mündliche Tradierung ist überall dort gebräuchlich, wo das improvisatorische Element und die Art der Ausführung gegenüber der Verwendung eines reichhaltigen, genau fixierten Tonmaterials im Vordergrund stehen, wie bei den meisten außereuropäischen Musikkulturen und auch bei der japanischen Palastmusik. Eine melodische Entwicklung in unserem Sinn ist bei ihr kaum zu erkennen. Das statische Element, das geruhsame Fortschreiten von Tonebene zu Tonebene dominiert. Die Holzblasinstrumente Flöte und Oboe wiederholen, mit geringfügigen Varianten, immer wieder ein im Rahmen der zugrundeliegenden Gebrauchsleiter gegebenes Thema, zu dem die Schlaginstrumente den rhythmischen Rahmen 1 9 , die Mundorgel und die Saiteninstrumente eine klangliche Abrundung durch vielschichtige Akkorde bzw. Arpeggien bringen 20 . Meistens wird jede Tonebene bis an die Grenze der psychischen Präsenzzeit, die mit 4—7 s. angegeben ist 21 , ausgehalten. Der Eindruck eines melodischen Kontinuums kann folglich kaum noch auftreten. Die Statik im Melodisdien wird durch die blebte Binnenstruktur der einzelnen Tonebenen wieder aufgehoben. Der koreanische Komponist Isang Yun hat dieses entscheidende Charakteristikum ostasiatischer Palastmusik in einem in Berlin gegebenen Interview 22 sehr deutlich formuliert: „Wenn in der Musik Europas erst die Tonfolge Leben gewinnt, wobei der Einzelton relativ abstrakt sein kann, lebt bei uns schon der Ton für sich . . . Vom Ansatz bis zum Verklingen ist jeder Ton Wandlungen unterworfen, er wird mit Verzierungen, Vorschlägen, Schwebungen, Glissandi und dynamischen Veränderungen ausgestattet, vor allem wird die natürliche Vibration jedes Tones bewußt als Gestaltungsmittel eingesetzt". Gerade über die hier erwähnte Musizierpraxis der kunstvollen Verzierungen vermag die Transkription keinen Aufschluß zu geben, auch, wenn sie im Vorwort allgemein erläutert wird. Auch für wissenschaftliche Untersuchungen sind die Transkriptionen nicht ausreißend. Zwar können Gebrauchsleitern und Motivskalen bestimmt und Klassifizierung nach Tonsystemen vorgenommen werden, aber schon bei dem Versuch der Festlegungen des rhythmischen oder melischen Tempos treten Schwierigkeiten auf 2 3 . Aussagen über Spielweise und Klangstil müssen vollends im allgemeinen bleiben, liegen nicht auch die Aufnahmen als unbestechliches Dokument vor. Die Aufnahmen können zudem, außer mit dem Gehör, zusätzlich mit der Hilfe von elektronischen Geräten analysiert werden, um bei den Aussagen eine möglichst weitgehende Objektivität zu gewährleisten. Denn die Gefahr des „Zurechthörens" ist bei der Untersuchung außereuropäischer Musik für den westlichen Betrachter bekanntlich sehr
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groß 24 . Es kann damit beginnen, daß die Tonhöhen'in eine Skala projiziert werden, die zwar der unsrigen angenähert ist, aber nicht den Tatsachen entspricht, und kann so weit führen, daß dem Musikgeschehen immer wieder Begriffe aus unserer Musikgeschichte mit unbewußter Zwangsläufigkeit unterlegt werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, scheint es angebracht, sich bei der Analyse elektroakustisdier Hilfsmittel zu bedienen, die in dieser Hinsicht unbestechlich sind, wie z. B. der KaySonagraph, der nach der „Suchtonmethode" arbeitet. Das Gerät zerlegt durch Aussieben mittels eines Filters ein von Schallplatte oder Magnetophonband auf eine rotierende Scheibe überspieltes Schallereignis in sein Teiltonspektrum und zeichnet es auf Funkenregistrierpapier als Sonagramm auf. Auf ihm sind die Frequenzen an der Abszisse (in Kiloherz), der zeitliche Verlauf an der Ordinate (in Sekunden) und die Gesamtamplitude oberhalb des Frequenzspektrums abzulesen. Die auf dem Sonagramm sichtbaren physikalisch-akustischen Fakten dürfen allerdings nicht unabhängig vom Höreindruck betrachtet werden, und zwar schon deshalb, weil das zeitliche Auflösungsvermögen des Sonagraphen größer ist als das des menschlichen Gehörs26. Erst im ständigen Hörvergleich können die Sonagramme sinnvolle Dienste leisten bei dem Bestreben, das Klangbild möglichst exakt zu analysieren. Um die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die die Übertragungen japanischer Palastmusik mit sich bringen, wird bei den folgenden Detailuntersuchungen der Sonagraph als Hilfsmittel benutzt. Die Problematik der Transkription beginnt nicht erst beim Zusammenspiel des ganzen Orchesters, sondern bereits beim solistischen Spiel eines Instruments. In dem Beiheft zu der Schallplatte Japan II der „Unesco Collection" 27 hat Hans Edcardt eine Übertragung einer einleitenden musikalischen „Bannformel" für die Bambusquerflöte Ryüteki, den kleinen Bronzegong Shöko und die Faßtrommel Taiko in der Tonart Ichikotsuchö (d-e-fis-a-h-d) angegeben, die, wie sich beim Vergleich mit der Aufnahme sofort herausstellt, nicht ganz zutrifft (abgesehen davon, daß das Beispiel um eine Oktave höher klingt). Eckhardt notiert: Ryul-elci
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obwohl das Beispiel schon eher folgendermaßen wiedergegeben werden kann:
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Den objektiven Anhaltspunkt für diese Notierung geben die Sonagramme (Abb. 1 u. 2). Bei dem rhythmisdi sehr freien, kadenzartigen Vortrag der Flöte fällt trotz der konstanten Schlagfiguren von Shöko und Taiko eine eindeutige taktmäßige Gliederung schwer. Entsprechend schwankt die Dauer pro Takt zwischen 6,8 s. (T. 2) und 5,9 s. (T. 3). Die Sdilagfiguren bleiben zwar in ihrer Abfolge konstant, sie richten sich aber im Tempo nach dem teils vorantreibenden, teils retardierenden Vortrag der Flöte. — Die melodische Linie ist durch fixierte Tonhöhen für jeden Ton nur sehr ungefähr wiederzugeben. Typisch ist das kontinuierliche Hinauftreiben des Tones, das auch deutlich wahrnehmbar ist. Auf dem Sonagramm läßt sich genau verfolgen, wie z. B. das d 3 des 1. Taktes oder das a 3 des 3. Taktes um einen Halbton tiefer angesetzt werden, dann innerhalb von etwa 1/2 s. auf das skaleneigene Tonhöhenniveau getrieben werden und im weiteren Verlauf stetig darüber hinaus angehoben werden. Bei größeren Intervallsprüngen, besonders bei Oktavsprüngen, werden zudem die letzten 0,1 bis 0,2 s. mit einem markanten Aufwärtsschleifer versehen (d 3 -d 4 , a 3 -a 4 ), der deutlich hörbar ist, zumal er oberhalb der Integrationskante des Gehörs liegt. Bei den hier erwähnten Eigenheiten handelt es sich nicht um die individuelle Spielweise dieses einen Flötisten. Gleiche Untersuchungen von Flöten- und Oboenstimmen weiterer japanischer Palastmusik mit anderen Ausführenden 28 führten zu übereinstimmenden Ergebnissen. Daraus geht hervor, daß das kontinuierliche Höhertreiben des Tones 29 über einen Viertel- bis Halbton hinaus (je nach der Tondauer) und die abschließenden Aufwärtsschleifer ein typisches Kennzeichen für die Spielweise der Bläser ist (die Mundorgel natürlich ausgenommen). Die Erlernung dieser kunstvollen und schwierigen Spielpraxis ist für die Bläser Voraussetzung, wenn sie Palastmusik spielen wollen. Eine Transkription vermag diesen Sachverhalt kaum hinlänglich zu verdeutlichen. Der Bannformel folgt ein Vorspiel („Ranjo"), ausgeführt von 3 Flöten (Ryüteki), von der großen Sanduhrtrommel San-no-tsuzumi und der Taiko (die Shöko setzt erst später ein), dessen Anfang — in Anlehnung an Eckardt — etwas so zu transkribieren
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irvrsnrsrtrsrvrsnrsnrsr rrr r rrr r rrr r rr rr rrr r rrr r rrr r r r ^ A u f den ersten Blick scheint das Stüde tatsächlich „eine immer virtuosere K o n t r a p u n k t i k " der 3 Flöten aufzuweisen 3 0 . Aber bereits E . Harich Schneider wandte sich mit Recht gegen den Gebrauch des aus unserer Musiktradition entnommenen Begriffs „ K o n t r a p u n k t " im Zusammenhang mit der Charakterisierung derartiger Vorspiele. V o n K o n t r a p u n k t i k kann eigentlich nur dort die R e d e sein, w o zwei oder mehrere Stimmen einigermaßen selbständig weitergeführt werden. —
In den ersten sechs
T a k t e n unseres Beispiels (Abb. 3 u. 4) werden im steten Wechsel zwischen den 3 Flöten d 3 und e 3 gespielt. A b T a k t 6 erfolgt eine Erweiterung des Tonraumes. Statt e 3 spielt jeweils eine der Flöten a 3 , eine andere oktaviert d 3 . D a m i t ist der T o n v o r r a t an Gerüsttönen für das Vorspiel gegeben. Verfolgt man nun das Spiel jeder Flöte für sich, so lassen sich, wenn man will, durchaus einfädle melodische Linie erkennen. A b e r nur mit Anstrengung, denn jede Flöte hält einen T o n mit all seinen vorhin erwähnten Varianten mindestens 4 s. aus (die D a u e r pro T a k t liegt zwischen 4,5 und 4,7 s.), häufig jedoch über 2 T a k t e hinweg. D a m i t wird sogar die mit maximal 7 s. angegebene psychische Präsenzzeit überschritten 3 2 , außerhalb der keine „unmittelbare Erlebnisnachwirkung" 3 3 mehr gegeben ist. Das bedeutet: jeder der ausgehaltenen T ö n e wird in sich als Einheit aufgefaßt und kann in der Folge mit den anderen Tönen kaum den Eindruck eines melodischen
Kontinuums
hervorrufen. D e r Versuch, dieses und ähnliche Vorspiele melodisch-linear zu hören, kann nicht gut der Anlage des Stückes entsprechen, denn das hieße indirekt behaupten, d a ß hier Musik praktiziert wird, die sich nicht innerhalb der durch die physiologischen und psychologischen Gegebenheiten des Gehörs abgesteckten Größenordnungen vollzieht. — D i e Feststellung, daß der Dauerton wichtiger ist als die Empfindung eines melodischen Kontinuums,
wird durch folgende weitere Beobachtung
anhand
der
Sonagramme gestützt: wie schon bei der Bannformel, so sind auch beim Zusammen-
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spiel mehrerer melodieführender Instrumente die Tonhöhen nidit eindeutig
fixiert.
I n den T a k t e n 1 — 6 wird das d 3 (mit Ausnahme von T . 4 ) jeweils auf eis 3 angesetzt und kontinuierlich um etwa einen Viertelton über d 3 hinaufgetrieben. Das e 3 wird dagegen gerne etwas tiefer gespielt (besonders T . 3 — 5 ) . D i e Distanz zwischen d 3 und e 3 liegt darum meistens unter einem G a n z t o n . D a s führt zu verstärkten Schwebungen zwischen beiden Tönen. M i t 100 bis 70 Schwebungen pro Sekunde liegt die Schwebungsfrequenz nodi in dem Bereich, der ein eindeutiges Rauhigkeitsempfinden hervorruft 3 4 . Spielen zwei Flöten den gleidien T o n ( T . 2 — 4 e 3 , T . 5 + 6 d 3 ), so ergeben sidi auch hier als Folge der unterschiedlichen Intonation (bewußt hervorgerufen durch ein nicht simultanes Hinauftreiben der T ö n e ) stärkere Schwebungen, deren Frequenz in diesem Beispiel 2 0 H z (ca. 1/s G a n z t o n ) nidit überschreitet 35 . Zwischen den T ö n e n d 3 , a 3 und d 4 liegen die Intervallverhältnisse etwas anders. Schwebungen werden aber auch hier ständig hervorgerufen, v o r allem durch Distonationen von d 3 und d 4 . D i e ständige klangliche Abwandlung der bis über die Grenze der Präsenzzeit ausgehaltenen Tonebenen ist — psychologisch gesehen — notwendig, um die negativen Auswirkungen der Adaptation auszuschalten. Niditmodulierte Dauerreize führen wegen Überbelastung bestimmter Nervenfasern und Sinneszellen zu einem starken A b f a l l der Empfindung 3 6 .
Der
informative
Gehalt
lang ausgehaltener
Tonebenen
äußerst gering, würde die S t a t i k der Tonhöhen nicht ständig durch
wäre
geringfügige
Abwandlungen im Detail belebt werden. W a s wir, aus europäischer Sicht, etwas voreilig als „kontrapunktisches
Gefüge"
bezeichnen, ist in Wirklichkeit als kunstvolle klangliche Abwandlung v o n in sich ruhenden Tonebenen aufzufassen. „ D i e Veränderungen eines Tones in der T o n h ö h e " , so Isang Y u n , „werden weniger als melodische Intervalle angesehen, als vielmehr in ihrer ornamentalen Funktion und als Teile des Ausdrucksregisters eines und desselben Tones begriffen" 2 2 . Eine Übertragung in westliche N o t a t i o n kann diesen Sachverhalt kaum in allen Einzelheiten verdeutlichen. Abgesehen davon, daß sie notgedrungen bereits eine mehr oder weniger zutreffende Interpretation des Musikstückes beinhaltet, können gerade die wesentlichen Eigenschaften, die den C h a r a k t e r dieses und ähnlicher Vorspiele prägen und die allein zum näheren Verständnis der Musik beitragen, nicht in unserer Notenschrift ausgedrückt werden. Sie liegen zwischen den Systemen. D a s lange Aushalten einzelner Tonebenen, das ständige Hinauftreiben der T ö n e durch die Flöten und das bewußte H e r v o r r u f e n von Schwebungen durch Stimmungsdivergenzen ist nicht lediglich ein Kennzeichen des analysierten Vorspiels.
Dafür
sprechen die übereinstimmenden Hinweise, die sich in den bereits genannten Beiträgen von E . M . von Hornbostel, E . Harich Schneider, K . Reinhardt u. a. finden lassen. Einige Sonagramme vom A n f a n g eines Etenraku Banshikicho (Grundton h, RitsuSkala) im Stil N o k o r i g a k u („Abschiedsmusik"), gespielt von Mitgliedern der H o f kapelle, bestätigen diese Beobachtungen ebenfalls (Abb. 5 und 6) 3 7 . Das Stück wird, wie allgemein die klassische Linksmusik, ausgeführt von der R y ü t e k i , dem D o p p e l -
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rohrblattinstrument Hichiriki, der Mundorgel Shö, von Taiko und Kakko, dem kleinen Bronzegong Shöko und zwei Saiteninstrumenten: der Baßlaute Biwa und der Zither Koto (die erst später einsetzen). Die Frequenzanteile der einzelnen Instrumente verteilen sich kontinuierlidi bis 9 kHz über den Klangraum. Der Raum bis 1,5 kHz wird von dem Grundton der Oboe, den Geräuschkomponenten und Quasiharmonischen der Kakko bzw. (seltener) der Taiko ausgefüllt. Der sehr starke Grundton der Flöte liegt zwischen 1,5 und 2,5 kHz. Bis 4 kHz wird der Klangraum vor allem durch die Teiltöne der Shö bestimmt, von 5 bis 9 kHz dominieren die Teiltöne der Hichiriki. Sdiwebungen zwischen den fortwährend hinaufgetriebenen Tönen von Flöte und Oboe und den fixierten Akkordtönen der Shö lassen sich ständig feststellen, und zwar ebenso zwischen Flöte und Oboe wie zwischen Teiltönen dieser beiden Instrumente mit Teiltönen der Mundorgel. Am stärksten gerät jeweils der Grundton der Flöte in Schwebungen. Dadurch wird ihr eigentlich weicher Klang (kaum Obertöne, relativ lange Ausgleichsvorgänge) verschärft und kann sich ebenbürtig neben dem näselnden Klang der Mundorgel und dem schrillen der Oboe behaupten. Besonders gut lassen sich die Schwebungen zwischen dem Grundton der Flöte und dem h 3 der Mundorgel verfolgen (Abb. 5, T . 4). Die Flöte setzt auf b 3 ein. Nach 0,1 s. zeigen sich Sdiwebungen mit einer Sdiwebungsfrequenz von 100 Hz, die mit dem weiteren Hinauftreiben zum h 3 hin immer geringer werden und nach 0,8 s. für kurze Zeit völlig verschwinden. Das reine Unisono dauert jedoch nidit lange an, die Flöte treibt ihren Grundton kontinuierlich weiter hinauf. Nach 1,2 s. beträgt die Stimmdivergenz zwischen Mundorgel und Flöte bereits wieder 20—25 H z , nach 2 s. nimmt sie bis zu 50 H z zu und verringert sich nach 2,5 s. wieder auf 20—25 Hz. Die Sdiwebungsfrequenz wird demnach bewußt zwischen 20 und 50 Folgen pro Sekunde gehalten, d. h. oberhalb der Grenze, von der ab die Sdiwebungen als Pulsato bzw. Intensivitätsvibrato gehört werden 38 , und unterhalb der Grenze, von der ab der Rauhigkeitscharakter wegen der begrenzten Auflösefähigkeit des Gehörs von kurzzeitigen Reizen verloren geht 39 . —
Wie Abb. 6 deutlich zeigt, kommt es zwischen den beiden melodieführenden
Instrumenten Hichiriki und Ryüteki nicht nur zu Sdiwebungen durch Stimmungsdivergenzen, sondern auch zu Umspielungen des Gerüsttones in Sekundabständen. Die Sekundumspielungen sind, wie auch bei dem zuvor untersuchten Vorspiel, nidit als melodische Fortschreitung zu werten, sondern als klanglich-räumliche Varianten ein und derselben Tonebene. Sie müßten daher auch in der Transkription ihrer Funktion entsprechend gegenüber den Gerüsttönen gekennzeichnet werden, um Fehlinterpretationen von vorne herein auszuschließen. Eine besondere Schwierigkeit für die Übertragung ergibt sich bei der Gliederung in Takte, obwohl der allgemein gradtaktige Rhythmus der japanischen Palastmusik gegenüber den komplexen, polyrhytmisdien Strukturen, wie sie z. B. in afrikanischer Musik anzutreffen sind, und auch gegenüber den additiven Rhythmen indischer
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Musik recht einfach wirkt. — Der alte und neue Takt sind stark miteinander verzahnt. Die Dauer eines Taktes, dem jeweils ein bestimmter Ton bzw. Akkord als Basis zugrunde liegt, beträgt zwischen 5,8 und 7,5 s. und verkürzt sich gegen Ende des Stückes erheblich40. Die Mundorgel ändert ihren Akkord jeweils schon bis zu 1 s. vor dem Beginn eines neuen Taktes. Es folgt die Flöte, die etwa 0,05 s. vor der Oboe einsetzt. Gleichzeitig mit dem Oboeneinsatz, der den eigentlichen Beginn des neuen Taktes markiert, erfolgt ein Schlag auf die Taiko, 0,3 s. später auf die Shöko. Die Kakko beendet ihren Trommelwirbel, der bereits im 4. Takt begann, erst 0,5 S. nach dem Oboeneinsatz. Die gleiche Folge des zeitlichen Hintereinanders der Instrumenteneinsätze über einen Zeitraum von etwa 1 s., das gleiche Überspielen der Taktgrenzen kennzeichnet sämtliche Taktübergänge dieses Etenraku Banshikicho. Die zeitlichen Divergenzen bei den Einsätzen der verschiedenen Instrumente würden in der europäischen Musik als ungenaues Zusammenspiel abgetan werden, weil sie oberhalb der Integrationskonstante des Ohres liegen und somit im einzelnen wahrnehmbar sind. Sie haben in der japanischen Musik die Funktion, jeden Taktübergang, der zugleich den Schritt von einer bis an die Grenze der Präsenzzeit ausgehaltenen Tonstufe zu einer neuen markiert, möglichst plastisch zu gestalten. Durch die Verzahnung der Einsätze und das Überspielen der Taktgrenzen wirkt keiner der Übergänge übereilt, sondern behäbig, zögernd, so, als koste es Mühe, aus der Statik der alten Tonebene zu einer neuen zu gelangen. Ebenso wie jede Tonebene verschleiert wird durch das Hochtreiben des Gerüsttones und durch Sekundumspielungen, so ist auch der Taktübergang nicht eindeutig fixiert. Die japanische Palastmusik erhält dadurch trotz aller Statik des melodischen Geschehens eine klangliche Lebendigkeit im Detail, die durch eine Transkription in unsere Notation kaum wiedergegeben werden kann. Aus diesem Grund vermag eine Transkription alleine nicht den Zweck zu erfüllen, den S. Shiba ihr abverlangen möchte: die klassische japanische Palastmusik in ihrer traditionellen Spiel weise der Nachwelt zu überliefern. Erst mit der zusätzlichen Aufnahme dieser Musik in möglichst authentischer Interpretation wäre der von Shiba intendierte Zweck zu erreichen. Die Musiker könnten mehr als auf die Folge von Noten auf die kunstvolle Spielpraxis der klanglichen Auszierung achten, und die Wissenschaftler könnten mit der Hilfe von elektroakustischen Geräten eine exakte Analyse vornehmen, wie es hier mit dem Kay-Sonagraphen versuchte wurde.
ANMERKUNGEN 1
Z. B. L. Müller, Einige Notizen über die japanische Musik, Mitteilungen der deutschen Ges. f. Nat.- u. Völkerkunde Ostasiens in Tokyo, 1874, S. 13—31; 1875 S. 41—48; 1876, S. 19—35; H. u. N. Konoye, Etenraku, Tokyo 1935 (mitget. bei L. Picken, The music of far eastern Asia, N O H M Bd. I, hrsg. E. Wellesz, New York-Toronto 1959, S. 147).
T R A N S K R I P T I O N J A P A N I S C H E R PALASTMUSIK 2
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Zs. f. Mw. 14, 1931/2, S. 235—236. hrsg. K. Kanetune u. S. Tudi, Tokyo 1930. 4 Hierüber im folgenden Näheres. 6 a . a . O . S.235. 6 Towards an exact transcription of tone-relations, Acta musicologia XV, 1953, S. 80—87. 7 Toward an universal music sound-writing for musicology, Journ. Internat. Folk Music Council IX, 1957, S. 63—66. 8 Musical notations of the Orient, Bloomington 2/1967, S. VI. 9 New methods in vocal folk music research, Oslo 1958. 10 Vgl. bereits O. Abraham u. E. M. v. Hornbostel (Sammelbde. Internat. Musikges. XI, 1909/10, S. 2): Das Original soll zwar möglichst getreu wiedergegeben werden, aber der Notentext darf nidit auf Kosten der Deutlichkeit mit diakritischen Zeichen überlastet werden. 11 vgl. W. Wiora, Die Aufzeichnung u. Herausgabe von Volksliedweisen, Jahrbuch f. Volksliedforschung 6, 1938, S. 66. 12 Complete Gagaku Music in Western Notation, hrsg. S. Shiba, Bd. I, Tokyo 1968. Vgl. auch bereits die zwei Bände Japanese classical court music, Score of Gagaku, hrsg. S. Shiba, Tokyo 1955 u. 1956. Im japanischen Vorwort gibt der Herausgeber Hinweise zur Geschichte der einzelnen instrumental begleiteten Gesänge und teilt Texte und Tonleitern mit; über Spiel weise und Aufführungspraxis äußert er sich dagegen nicht (Mitteilung von Takashi Ochi, Saarbrücken). " ibid, S. 3. 14 The present condition of Japanese court music, M Q 39, 1953, S. 50: „ . . . t h a t only practical knowledge of the instruments and practical performing of the music open the door to some understanding". 15 E. Harich-Schneider, Die Gagaku in der Musikabteilung des japanischen Kaiserhofes, Kongressber. Ges. f. Musikforschung Lüneburg 1950, Kassel-Basel o. J., S. 168. 18 The music in far eastern Asia, a. a. O. S. 147. 17 Chine et Corée, in Encyclopédie de la musique, Bd. I, 1, Paris 1924, S. 252. Das Lernen mit Hilfe von Silben ist weit verbreitet, vgl. die Trommelsilben in Afrika und Indien („bols") oder die Solmisation im Mittelalter. 18 Viet-Nam, Paris 1967, S. 66 ff. Vgl. auch W. Graf, Das biologische Moment im Konzept der vergleichenden Musikwissenschaft, Studia musicologica Acad. Scient. Hung. Bd. 10, 1968, S. 92: „Bei der mündlichen Uberlieferung dagegen ist die Gelegenheit geboten, weitgehend auch die Gestaltung des Ausdrucks zu übernehmen". 19 Vgl. dazu E. Harich-Schneider, The rhythmical patterns in Gagaku and Bugaku, Leiden 1954. 29 Vgl. H . Eckardt, Japanische Musik, MGG Bd. 6, Kassel-Basel-London 1957, Sp. 173, C. Sachs, The rise of music in the ancient world east and west, New York 1943, S. 147 u. K. Reinhard, Konsonanz und Dissonanz in japanischer Sicht, Das Musikleben 7, 1954, S. 172. 81 L. W. Stern, Psychische Präsenzzeit, Zs. f. Psych, u. Physiol, der Sinnesorgane 13, 1897, 325—349. 22 „Berlin Confrontation" der Ford Foundation, Berlin 1965. 25 Vgl. K. Reinhard, Einführung in die Musikethnologie, Wolfenbüttel-Zürich 1968, S. 110. 24 Darauf weist bereits L. Euler mit Nachdruck hin (Tentamen Novae Theoriae Musicae, 1739, französische Ausgabe Musique Mathématique, Paris 1865, S. 25, 221 u. 224 fi.). 25 Über das Gerät und seine Arbeitsweise siehe W. Graf, Musikalische Klangfroschung, Karlsruhe 1969, S. 23 ff.; F. Födermayr, zur gesanglichen Stimmgebung in der außereuropäischen Musik.S eries Musicologica, Bd. 1, Wien 1971, S. 22 f. 2„ die Integrationskonstante unseres Gehörs liegt bei etwa 0,05 s. Sie besagt, daß aufeinanderfolgende Schallereignisse von einer kürzeren Dauer nicht mehr getrennt wahrgenommen werden. Vgl. dazu auch das von K. E. v. Baer mit 0,055 s. angegebene „art3
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HELMUT RÖSING spezifische Moment" des Menschen (mitget. bei P. R. Hofstätter, Psychologie, Frankfurt/M. 1965, S. 23). Bärenreiter Musicaphon BM 30 L 2013. H . Rösing, Probleme und neue Wege der Analyse von Instrumenten- und Orchesterklängen, Phil. Diss. Wien 1967, S. 175 u. f. Wien 1970 Die Frage, warum die Töne im allgemeinen höher getrieben werden, aber kaum absinken, läßt sich vielleicht gerade durch die mit dem Höhertreiben verbundene spieltechnische Schwierigkeit erklären: „natürlich" wäre es, den Ton im zeitlichen Verlauf absinken zu lassen. Kunstvoll aber ist es, ihn nicht nur auf gleicher Höhe zu halten, sondern sogar noch durdi zunehmende Lippenspannung und verstärkten Luftdruck höher zu treiben. H . Eckardt, Beiheft zur Platte Bärenreiter BM 30 L 2013. Vgl. auch W. P. Malm, der aber etwas einschränkender formuliert: "It is one of the rare instances of such near contrapunctal action in Japanese music". The present condition of Japanese Court Music, a. a. O. S. 55. Zur Orientierung: Bei MM = 45 beträgt die absolute Zeitdauer 1,33 s. (vgl. W. Graf, Jahrbuch f. musikal. Volks- u. Völkerkunde Bd. 2, Berlin 1966, S. 67). Sie wird in der Regel in der europäischen Konzertmusik für die Dauer einer Note (außer bei Orgelpunkten u. dgl.) nicht überschritten. A. Wellek, Musikpsychologie und Musikästlhetik, Frankfurt/M. 1963, S. 127. Vgl. vor allem G. v. Békésy, Uber akustische Rauhigkeit, Zs. f. techn. Physik 16, 1935, S. 276—282 u. R. Plomp, Experiments on tone perception, Soesterberg 1966, S. 58 ff. K. Reinhard (Konsonanz u. Dissonanz in japanischer Sicht, a. a. O. S. 173) erwähnt, daß die Differenz meist einen Viertelton beträgt. Diese Beobachtung deckt sich mit weiteren, hier nicht mitgeteilten Untersuchungen des Verf. G. v. Békésy, Zur Theorie des Hörens, Physikal. Zs. 30, 1929, S. 115—125. The traditional music of Japan, Victor IL 32, Record I A. Unter 20—25 H z . Vgl. dazu O. F. Ranke, Physiologie des Gehörs, Berlin-GöttingenHeidelberg 1953, S. 149. Eine Konstante läßt sich nicht ermitteln, da mit zunehmender Schwebungszahl die Rauhigkeit bei tieferen Tönen wegen der geringeren zeitlichen Auflösefähigkeit des Gehörs rascher abfällt als bei hohen (vgl. G. v. Békésy, Uber akustische Rauhigkeit, a. a. O. S. 278). Für mittlere Tonhöhe wird die Grenze mit 60—80 H z angegeben (E. Skudrzyk, Psychoakustische Erscheinungen bei der Bildung von natürlichen u. synthetischen Klängen, Gravesaner Blätter 9, 1957, S. 77). Vgl. auch O. Abraham u. E. M. V. Hornbostel, Studien über das Tonsystem und die Musik der Japaner, Sammelbde. der Internat. Musikges. 4, Leipzig 1902/3, S. 333: „Ebenso wie das Tempo der ganzen Musikstücke bedeutenden Schwankungen unterliegt, ebenso wie am Schluß eines einzelnen Teiles ein deutliches Accelerando zu erkennen ist, so finden sich auch willkürliche Schwankungen, Fermaten und Verkürzungen im Einzeltakt".
SUMMARY General difficulties in transcribing Japanese court music into western notation are discussed. Western notation as developped in a long historical process fits into the criteria of occidental music. However, it proves but poorly suitable to characterize musical facts differing from those in use for european music. By means of the Kay Sonagraph which records an accurate spectre of all events of sound in a defined space of time, existing transcriptions can be compared with the structure of sound of the respective piece of music. It is revealed, thereby, that the structure of sound by our system of notation can be reflected in rough outlines only: for example the perpetual pushing higher of tones and
T R A N S K R I P T I O N J A P A N I S C H E R PALASTMUSIK
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the temporal indentations by (hanging of tones could not possibly come forward if translated into western notation. Transcriptions of Japanese court music will be, therefore, without sense unless combined with the recording. Such record, as an intrinsic document, could be supported by the transcription as an attempt or rather a suggestion for an interpretation.
HOCHZEITSLIEDER AUS BALUCESTAN von M . T A G H I MASSOUDIEH, T e h e r a n
Die Provinz Balücestän und Sistän, die audi Mokrän genannt wird, liegt im südöstlichen Teil des Iran, angrenzend an Pakistan. Die Einwohner jenes Gebietes werden Balüüen genannt, und die überwiegend gesprochene Sprache ist Balücl. Persisch ist lingua franca, und einige Einwohner sprechen audi Urdu. Nach der letzten Volkszählung von 1966 beträgt die Einwohnerzahl 503 845; bei einer Größe von 177 832 km2 ergibt das eine Bevölkerungsdichte von drei Einwohnern pro km 2 . Mokrän besteht aus fünf Bezirken, die in 16 Verwaltungskreise aufgeteilt sind. Die Hauptstadt ist Zähedän. Sie liegt im nordöstlichen Teil dieses Gebietes, an der Grenze von Päkistän. Balücestän hat noch heute eine verhältnismäßig reiche Volksmusik. Die Musiker sind im allgemeinen Berufsmusiker, die hauptsächlich an ländlichen Festen und Hochzeitsfeiern teilnehmen. Beim Gesang begleitet sich der Spieler selbst auf einem Saiteninstrument, und wird meistens von einem zweiten Spieler auf einem Trommelinstrument begleitet. Die im September 1970 von Eckhard Neubauer und dem Verfasser aufgenommenen Melodien aus den beiden Provinzen Zähedän und Saräwän umfassen Heldengesänge, Hochzeitslieder, Klagelieder, religiöse Lieder und Hirtengesänge. Bei fast allen diesen Melodien zeigen die Texte Strophenformen verschiedenen Aufbaus und haben fast immer einen Refrain. Die hier vorgelegten Melodien stammen aus den Orten Zähedän, Iränsahr und Saräwän, die in Nordost, Mittel- und Ostbalücestän liegen. Es handelt sich um fünf Hochzeitslieder, die von einem Mitarbeiter von Radio Iran, Hasan-e-Äzäd, zum Teil unter schwierigen Verhältnissen, im Laufe der vergangenen 7 Jahre aufgenommen und mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt worden sind. Auf Grund der ungünstigen Aufnahmesituationen zeigen hier die Tonbänder stellenweise technische Mängel. Zu Vergleichszwecken sind zwei dieser Wechselgesänge aus den Aufnahmen Neubauer/Massoudieh von September 1970 mit herangezogen worden. Begleitinstrumente sind: Qeycak 1 , Setär 2 und Däyre®.
HOCHZEITSLIEDER AUS BALUCESTAN
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Vor der Betrachtung der einzelnen Melodien seien hier zunächst ihre Texte mit Obersetzung wiedergegeben. Die Transkription sowie die Übersetzung der Texte stammt von Eckhard Neubauer: 1. Mir 'Elam Lá ro lá ro ley 1 á ro 1. Mir 'Elam häne 2. Mir Mehrab häne 3. Dir ná-bu zöte Ba-rähT gela buóte Ne-man nuóte Sähet! gueste 2. Terä cäkdra
düsten
1. Cuöke terä cäkara dösten 2. Mäsin ta Kora-wa pada hören [ + ] 3. Rapte ta Kolan kandag-e miyän 3. Arman
golära
La ro lä ro lä ro 1. Arman golära dorbor-u mala 2. Dasmäl Kuwait! balki na-paiti 3. Patiye dorde tai-gäd [d] e sorde 4.
Bolbol
Ley lá ro ley lá ro 1. Dordäneg-e ballen [ + ] 2. Edäre-ye posta Mir o mayär gallen [ + ] Brahímes kosta 5.
Bolbol
1. [Te] kaéyo nendé mey déla sendé Bolbol-e [tey] derdán man seridáron 2. [Ha] palipalláne padi dellá 'e Bolbol-e . . . 3. [Bi] to soto dírko zer mena kórko Bolbol-e... 4. [Bi] te g°are lasán man bandwan haláson Bolbol-e . . . 5. Yé man o yé to cí ungo gun tó Bolbol-e...
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M. TAGHI MASSOUDIEH
6. [Bi] te g°are xarán bus ara (Sarán Bolbol-e... 7. [ H a ] doxtar magsáni [ne] golbenda sáni Bolbol-e... 8. [ E y ] doxtar Hudyáni seni mudáni Bolbol-e... 9. [Hey] ceran [walla[h]] túne doxtar Bohlúdi Bolbol-e... 10. [ T e ] kaéyo hokána gaure dokána Bolbol-e... 6. Ves tavaréna 1. Leylaro laro leylaro laro Salunk-e kowsàn ves [s] tavaréna 2. Vagah-e kowsan ves [s] tavaréna 3. Vagah-es es neste gin o gan neste 7. Vei tavaréna 1. Leylaro laro leylaro laro salonke-e kósan ves [s] tavaréna 2. Hena yerúzí salonk[o] arúsí salonk tey kósan ves [s] tavárent [Abwcichung im Refrain] 3. Tep dep-e dántan sohri espantan salonk-e... 4. To rewe gúwa bermúsere búwa salonk-e... 5. [ A l l a [ h ] ] kismete káren tey kalem gáren salonk-e... 6. T o rewe manda sabzele randa salonk-e... 7. [ A l l a [ h ] ] kismete káren tey kalem gáren salonk-e... 8. Icinun dári bar konon giri salonk-e... 9. Y e k bune mú°zen polok tey pú°zen salonk-e... 10. Barin i à n e bú°dar [ke] baréga dú°zdar salonk-e... 11. [ A l l a [ h ] ] cemma tey táge [ = dage] gipte man m°áge
HOCHZEITSLIEDER AUS BALUCESTÄN
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Übersetzung 1. Mir 'Elam La ro la ro ley la ro 1. Mir Elam ist ein Kahn Auf den Wegen ist er Räuber geworden 2. Mir Mehrab ist ein Khan Er akzeptiert [das] nidit 3. Es war nidit spät, es war [noch] früh [Erst] eine Stunde war vergangen 2. Terä cakara düsten 1. Idi verehre Dich wie ein Diener [seinen guten Herren] 2. Das Auto fuhr bis zum Fluß Kora; dann fing es an zu regnen 3. Es fuhr bis zum Dorf Kolan, bis zum Graben in der mitte [des Dorfes] 3. Arman
golära
La ro lä ro lä ro 1. O Golära, in der Zeit, da es Geld gab ( = da ich Geld hatte) 2. Das Tudi aus Kuwait, vielleicht magst du es nidit 3. Nimm Deinen Schleier ab und bewege Deinen Körper zum Tanz 4.
Bolbol Ley la ro ley la ro
1. Ein guter Mensch und Freund ist er [ = sind sie] [Um ihn] versammeln sidi Reiche und Arme 2. Hinter dem Büro Hat er den Ibrahim umgebracht. 5.
Bolbol
1. Du kommst, setzt dich und raubst mein Herz. Das Leid der Nachtigall teile idi. 2. ? der Fuß ist zu sehen. 3. Du bist gegangen und hast dich verspätet; meine Augen hast du blind gemacht [vor Tränen]. 4. 5. 6. 7.
Ich sehe dich, dieses starrköpfige [Mädchen]; im Herzen trage ich Liebe zu dir. Dies bin ich und dies bist du; was habe ich zu dir gesagt? Auf deinen Haupte sollte man [wörtlich: ich] eine Krone sehen. Mädchen ?; einen Halsschmuck aus?
8. Das Mädchen aus Hudyani: seine Haare hat es gelöst. 9. ? du Mädchen aus Bohludi 10. Von dorther kommst du, vom Laden des Schwindlers [wörtlidi: des Ungläubigen].
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6. Veä tavarena 1. Leylaro läro leylaro läro Die Sdiuhe des Bräutigams haben einen guten Klang. 2. Die Schuhe des Herren [Bräutigams] haben einen guten Klang. 3. Der H e r r [Bräutigam] hat sich gesetzt; hoch soll er leben, er hat sich gesetzt. 7. Ves tavarena 1. Leylaro . . . Die Schuhe des Bräutigams geben einen schönen Klang. 2. Hena aus? [ f ü r ] den Bräutigam [und] die Braut; Bräutigam: Deine Schuhe geben einen schönen Klang. [Abweichung des Refrains] 3. Die Zähne deines Mundes haben die Röte der Rauteblüten (die Zähne werden mit mozrank rötlich gefärbt aus hygienischen Gründen und als Schönheitsideal). 4. [Wenn] du zum Bach gehst, so rieche den D u f t [der blühenden N a t u r ] . 5. 6. 7. 8. 9.
Gott hat es gewollt, daß der Stift zum Briefsdireiben verloren gegangen ist. Du gehst nach Mande zu [deinem] jungen [wörtlich: grünen] Mädchen. Gott hat es gewollt, daß der Stift [zum Briefsdireiben] verloren gegangen ist. Brennholz will schlagen und auf das Lasttier laden. N u r eine Wurzel haben die Bananen [an einem Stamm]; [auch] die Perle an deinem Nasenflügel hat nur eine Wurzel [nämlidi meine Liebe].
10. Gehen wir zu der wohlduftenden Frau; freue dich an [ihrer] schlanken [Taille]. 11. Deine Augen brennen; idi habe Augenschminke f ü r didi geholt [deine Augen zu erfrischen].
Analyse Mir 'Elam (Transkr. 1) In diesem Stück ist jeder Verszeile eine Melodieperiode zugeordnet. Die Melodieperiode ist in zwei gleichlange Melodieglieder (a und b) zerlegt. Diese beiden Glieder werden antiphonisch von zwei Chören ausgeführt. Auffallend ist, daß das erste Glied (a) ein kadenzierendes und das zweite (b) ein konstituierendes Melodieglied ist. Demnach ist das ä als Schlußton der Melodie aufzufassen 4 . Jedes dieser Glieder besteht aus vier Takten. Während das Melodieglied a das a' sehr stark betont, exponiert das zweite b den ganzen Tonbereich der Melodie. Es beginnt meist mit dem Sprung e'-a', zuweilen aber auch mit dem Schlußton a', wie in den Zeilen 6, 11, 14 und 16. Bei dem Verhältnis von Text und Melodie fällt es auf, daß nahezu jede Silbe einen Ton erhält. Hieraus resultiert eine parlandohafte Vortragsweise.
HOCHZEITSLIEDER AUS BALUCESTÄN Das Metrum kann als ein
3 /4-Takt
aufgefaßt werden. Die Synkopierung
63 im
dritten und vierten T a k t der beiden Melodieglieder (a + b) erweckt jedoch den Eindruck, als ob die metrische Einheit jeweils in 3 + 3 + 2 + 2 + 2-Achtel gegliedert wäre. Das Händeklatschen markiert fast immer die erste Zählzeit der metrischen Dreiergruppe. Es erscheint gegenüber der Melodie als weitgehend selbständig. Terä
cäkara
düsten
(Transkr.
2) Der ganzen Melodie, die ebenfalls von zwei
Chören alternierend vorgetragen wird, liegen lediglich die Silben la ley la ro la ro zugrunde. Anscheinend sind diese Silben häufig den balüclsdien Hochzeitsliedern unterlegt. Sie treten hauptsächlich als Refrain auf. Im vorliegenden Wechselgesang steigt die Melodie einer jeden Periode wellenförmig zum Schlußton a' hinunter. Sie besteht aus drei Melodiegliedern (a + b + c, vgl. Z. 1), von denen das letzte (c) eine verkürzte und zugleich variierte Fassung des vorhergehenden Glieds (b) darstellt:
iLC-Ti L C J
Melodieglied b
Melodieglied c
Genau wie im vorhergehenden Hochzeitslied (Transkr. 1), so stellt man audi hier in den letzten Takten der beiden Melodieglieder a und b eine Synkopierung fest, durch die ein Metrum von 3 + 3 + 2 + 2 + 2-Achtel entsteht. Das Händeklatschen markiert wiederum konstant vom Anfang bis zum Sdiluß die erste Zählzeit der metrischen Dreiergruppe. Arman
golära
(Transkr.
3) Arman golära kann als eine abgewandelte Fassung
der vorhergehenden Melodie (Transkr. 2) betrachtet werden. In den beiden Melodien ist e"-a' das Strukturintervall. Der Unterschied liegt vor allem in der Gliederung der Periode. Der hier vorgelegte Wechselgesang besteht aus vier Melodiegliedern (a + b + c + d, Z. 2), von denen das erste weitgehend dem dritten gleicht. In diesem Melodieglied werden die beiden Glieder (a + b) des vorhergehenden Wechselgesanges (Transkr. 2) zusammengefaßt. Das letzte, kadenzierende Glied, (d) besteht lediglich aus der Wiederholung des Schlußtones a'. Auch hier ist jeder Strophe eine Periode zugeordnet. An dieser Melodie ist auffallend, daß durch das Überlappen der Stimmen manchmal Zweiklangsbildungen zustande kommen, wie in den Zeilen 2, 3, 5, 7, 8, usw. Ferner wird das c " des vierten sowie des zwölften Taktes in den Zeilen 5, 6, 9, 11, 15 und 16 höher intoniert. Die Intonationsabweichungen der Melodietöne sind in der balüclsdien Musik äußerst selten zu beobachten. Die vielen Glissandi, die insbe-
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M. TAGHI MASSOUDIEH
sondere in den Wechselgesängen auftreten, erwecken jedoch zunächst den Eindruck, als ob in dieser Musik erhöhte und vertiefte Töne gebraucht würden. Dennoch kann von einem ausgesprochenen Erhöhungs- und Vertiefungsbewußtsein, wenn es auch zuweilen vorhanden wäre, in bezug auf die Intervalle nicht gesprochen werden. Bolbol (Transkr. 4) Im Gegensatz zu den bisher behandelten Wediselgesängen, erstreckt sich in dem vorliegenden Hochzeitslied jede mit einem Vers verbundene Melodieperiode über 2 (notierte) Melodiezeilen, von denen jede als eine Phrase erscheint. Die Periode A z. B. (Z. 1—2) wird in die beiden Phrasen a + b (Z. 1) + a j + c (Z. 2) zerlegt. Jede Phrase besteht ihrerseits aus zwei Melodiegliedern, von denen wiederum das erste (a, Z. 1) dem dritten (a t , Z. 2) ähnelt. Auch hier sind der ersten Phrase (a + b, Z. 1) die Silben ley la ro läro unterlegt. Es fällt auf, daß das Melodieglied b (Z. 1) stets g'is benutzt, während das letzte Glied (c, Z. 2) g' verwendet. Dieser Wechsel zwischen g' und g'is in den beiden Melodiegliedern steht wohl im Zusammenhang mit der Zielrichtung der melodischen Bewegung. Der Gesamtverlauf der Melodie stellt jedoch, eine ausgeprägte absteigende Linie dar, die zum Schlußton e' strebt. Die aufsteigende Melodiebewegung innerhalb dieser Gesamtlinie f ü h r t hingegen auf die Ecktöne a' und h' der Strukturintervalle h'-e" und a'-e' zu. Ein Vergleich dieser Melodie mit der von zwei Sängern alternierend vorgetragenen Bolbol (Transkr. 5) zeigt, daß den beiden Hochzeitsliedern weitgehend der gleiche Tonbereich sowie die gleichen Strukturintervalle zugrunde liegen: Tonbereich der Bolbol (Transkr. 4)
¡ f J tr t . . Ii ' M F
1
—T *J ^ * J
Tonbereich der Bolbol (Transkr. 5)
Die Bolbol (Transkr. 5) wird zunächst vom Qeycak vorgetragen. Ihre starke Ornamentierung entspringt wohl der Spielmöglidikeit dieses Instruments. Dadurch erhält die Einleitung der Melodie eine unbestimmte Linienführung. Die beiden Sänger begleiten sich jeweils auf Qeycak und Setär. Qeycak und Gesangstimme weichen selten voneinander ab. Dagegen dient der Setär lediglich als Begleitinstrument. In der Begleitfigur des Setär erklingt nur das e' als Bordunton, doch stimmt das Metrum der Begleitfigur häufig mit den metrischen Werten der Melodie überein. Während das Tempo in der ersten Bolbol (Transkr. 4) von Anfang bis Ende verhältnismäßig konstant bleibt, wird es in der zweiten Bolbol (Transkr. 5) allmählich beschleunigt.
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HOCHZEITSLIEDER AUS BALUCESTÄN
Ves tavarena (Transkr. 6) Im allgemeinen steht dieser Wechselgesang der Melodie Arman golära (Transkr. 3) sehr nahe. Die Gemeinsamkeit der beiden Hochzeitslieder liegt in der ähnlichen Kontur der melodischen Linie sowie in der Gliederung der Periode. Mit je einer Textstrophe ist eine Melodieperiode verbunden. Die Periode hat vier Glieder (a + b + c + d, Z. 1), von denen das letzte wiederum nur aus der Weiderholung der Finalis a' besteht. In Ves tavarena tritt das letzte Glied (d) als Refrain auf. Der Unterschied zwischen diesen beiden Melodien kann folgendermaßen zum Ausdruck gebracht werden: 1. Während in Arman golära das erste Melodieglied (a) weitgehend dem dritten (c) gleicht, ähnelt in Ves tavarena das zweite (b) dem dritten (c). Auch diese wiederholen am Schluß die Finalis a'. 2. Durch die oft repetierten Ecktöne des Strukturintervalls d'-a' erhält die Melodie Ves tavarena eine parlandohafte Vortragsweise. 3. Als weitere Strukturintervalle treten hierbei h'-e' und e"-a' auf. Diese drei Strukturintervalle erscheinen durch die Art des Melodieverlaufs ineinander verzahnt. 4. Auffallend ist, daß durch Überschneiden der von beiden Chören antiphonal ausgeführten Strophen in Zeile 5 der vorliegenden Melodie Zweiklangsbildungen zustande kommen. 5. Das Verhältnis der Gruppen in Arman golära (Transkr. 3) ist im Gegensatz zu der Ves tavarena responsorialer Art. 6. Wie das folgende Beispiel zeigt, hat jede Melodie einen anderen Tonbereich. Die tonale Funktion der Töne ist ebenfalls unterschiedlich: Tonbereich der Ves tavarena (Transkr. 6)
Tonbereich der Arman golära (Transkr. 3)
ä
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:
Ves tavarena (Transkr. 7) Zum Vergleich habe ich eine zweite Fassung der Ves tavarena aus den Aufnahmen Neubauer/Massoudieh transkribiert. Sie hat eine nichtmetrisierte Einleitung A (Z. 1), die vom Qeycak ausgeführt wird. Diese weitgehend improvisierte Einleitung, die zu Beginn der oberen Oktav des Finaltones a' den Vorrang gibt, bewegt sich wellenförmig auf die Finalis zu. Ihr Ambitus reicht vom h" bis zur Subfinalis gi's. Sie wird durch die allmähliche Verdichtung der Tonfortschreitungen ständig lebhafter. Bildlich gesprochen, gleicht die
M. TAGHI MASSOUDIEH
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Einleitung A (Z. 1) einem Gefälle, auf welchem sich ein Gegenstand abwärts bewegt. J e näher der Gegenstand dem Ziel kommt, desto rascher wird seine Bewegung. Die starke Ornamentierung der Melodie in Zeile 2 entspringt auch hier der Spielmöglichkeit von Q e y c a k . Diese Fassung weidit in mancher Hinsicht von der durch die beiden Sänger alternierend vorgetragene Ves tavar^na (Z. 3—9) ab. Diese beginnt mit der Finalis a ' und jene mit e'. Demnach liegen den beiden Fassungen jeweils andere Strukturintervalle zugrunde: Die vom Q e y c a k ausgeführte Melodie in Zeile 2 hat nur e"-a' als Strukturintervall, und die Melodie der Sänger aber benutzt a ' - d " und a'-e". I m übrigen ist der MelodieAmbitus in Zeile 2 größer als in den übrigen Zeilen. Er reicht vom a " bis zum e'. D i e vom ersten Sänger vorgetragene Melodie (Z. 5 und 8) hat auch eine kurze Einleitung, die aus vier kleinen, sequenzierten Figuren besteht. Die Einleitung führt auf die lang-ausgehaltene Finalis a' hin. Hier wird die zweite H ä l f t e der Ves t a v a r i n a Einleitung A (Z. 1) variiert und zugleich verkürzt. D a s Melodieglied b 2 (Z. 4 + 7) beginnt, im Gegensatz zu dem Glied b t (Z. 3 + 6 + 9), mit einem Sprung von a ' nach g " . D i e drei Melodieglieder a, b und c werden beim Gesang (Z. 3—9) durch eine Pause voneinander getrennt. D a s h' des dritten Taktes wird sowohl beim Gesang als auch beim Q e y c a k fast zu einem Triller ausgebildet. Instrumenteal- und Gesangspart weichen manchmal voneinander ab. Zuweilen entsteht aus solchen Stellen ein heterephones Spiel zweier verschiedener Melodiefiguren. Auch hier erscheint das Metrum als 3 /e. Auf Grund dieses Metrums bildet der D ä y r e die Begleitfigur aus, die ständig wiederholt wird. Wo die Begleitfigur mit dem
JJ^ vielgestaltigen
metrisch-rhythmischen Geschehen in der Melodie gleich liegt, entsteht im Gesamtsatz Polyrhythmie. Ein Vergleich dieser Melodie mit der vorhergehenden Ves tovarena (Transkr. 6) zeigt, daß der Tonbereich der hier vorgelegten Ves tavarena erheblich ausgeweitet ist, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: Tonbereich der
. ,,
Ves tavarena (Transkr. 6)
p ~_±
..
I m
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Tonbereich der Ves tavarena (Transkr. 7) In beiden Wechselgesängen tritt das letzte Melodieglied (d), das, wie bei allen Hochzeitsliedern, hauptsächlich aus der Wiederholung der Finalis a' besteht, als Refrainträger auf. Während auf jede Silbe im Ves t a v a r i n a (Transkr. 6) nahezu ein T o n fällt, sind in der zweiten Fassung über einzelne Silben vokalisenähnliche T o n f o l g e
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gelegt. Hieraus resultiert dem Höreindruck nach, eine äußerst affektgeladene Musik. Das Tempo wird in der ersten Melodie (Transkr. 6) nahezu ohne nennenswerte Schwankung durchgehalten. In der zweiten Ves tavarena (Transkr. 7) ist dagegen eine allmähliche Beschleunigung des Tempos zu beobachten. Merkwürdigerweise ist die Beschleunigung des Tempos im Zusammenhang mit der instrumentalen Besetzung festzustellen. Gemäß den vorhergehenden Analysen können die Hauptdiarakteristika der hier vorgelegten balüclschen Hochzeitslieder molgendermaßen zusammengefaßt werden. Diese Hauptdiarakteristika, obwohl nur aus der Betrachtung dieser Melodien gewonnen, dürften in der balüclschen Musik, wie aus meinen bisherigen Untersuchungen hervorgeht, wohl allgemeine Gültigkeit besitzen: 1. Die Gliederung der Melodie entspricht den Strophen und Versen der Texte. 2. Einem Vers oder einer Strophe ist jedesmal eine Periode zugeordnet, und diese kann aus zwei Phrasen bestehen. Die Strophenfolge wird nicht allzu sehr variiert. 3. Zweiklangsbildungen kommen durch das Uberlappen der Stimmen zustande: während der zweite Chor noch die Finalis aushält, setzt der erste schon mit der nächsten Strophe ein. 4. Das Verhältnis der Gruppen ist sowohl von responsorialer als auch von antiphonaler Art. 5. Die Melodie bewegt sich innerhalb eines Strukturintervalls vom Umfang einer Quarte oder Quinte. Zuweilen werden die beiden Strukturintervalle durch den Melodieverlauf ineinander verzahnt. 6. Die stereotype Schlußfigur, die vielfach als Refrain auftritt, besteht lediglich aus der mehrmaligen Wiederholung der Finalis. Dadurch wird die Finalis prägnant hervorgehoben. 7. Als Metrum wird 3 /s in allen Melodien durchgehalten. Die erste Zählzeit der metrischen Dreiergruppe wird häufig durch Händeklatschen markiert. Zu Anfang ist das Klatschen manchmal uneinheitlich und wird erst im weiteren Verlauf regelmäßig. Händeklatschen tritt völlig unabhängig vom Gesang auf. 8. Die Melodie benutzt meist Sekundfortsdireitung, zuweilen auch Terz- und Quartsprünge. Wenn jedodi die Glissandi bei der Zusammenstellung des Tonmaterials vernachläßigt werden, ist manchmal ein pentatonisches Grundschema zu erkennen.
ANMERKUNGEN 1
Der Qeycak ist eine Streidilaute mit hölzernem Corpus. Das Corpus hat etwa die Form eines umgekehrten Schiffsanerks. Nur sein unterer Teil, auf welchem der Steg schräg aufgelegt ist, wird mit einer am Rande befestigten Membran versehen. Der ausgewölbte
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M. T A G H I MASSOUDIEH Oberteil bleibt frei. Der verhältnismäßig kurze Hals ist nach hinten doppelt geknickt. An das Corpus ist ein bundloses Griffbrett angesetzt, das in einen Wirbelkasten mit großen seitenstänfigen Wirbeln übergeht. Das Instrument hat drei Melodiesaiten mit der Stimmung c c' g" und neun Aliquotsaiten mit der Stimmung d" c' a' f ' d g' d " e" f". Der Qeyüak wird mit einem schmalen, runden und dünn behaarten Bogen gespielt. Die Bogenhaare sind an einem auf der Spitze des Bogens befestigten Ring verknotet. Die balüilsdie Langhalslaute Setär besitzt als wesentliche Kennzeichen einen birnenförmiges Holzcorpus und eine Wirbelplatte mit drehbaren vorderständigen Wirbeln. Der lange Hals fließt mit dem Corpus, der flache Decken hat, in geschwungener Linie zusammen. Das Griffbrett ist auf der oberen Seite des Halses aufgeleimt. Seine Unterseite ist abgerundet. Der Däyre ist eine Hand-Rahmentrommel mit runden Rahmen. Der Spieler schlägt mit einer H a n d das Fell und mit anderen den Rand. Im allgemeinen sind Schellen oder kleine Ringe am Rahmen der Trommel befestigt. Bei meinen Untersuchungen der Volkslieder aus dem nördlichen Teil des Iran habe ich manchmal das gleiche Gestaltungsprinzip festgestellt.
LITERATURVERZEICHNIS Ähang-hä-ye-mahalli-ye-manäteq-e-gonüb-e-Iran, Daftar-e-awwal Theran Mordäd 1335 (d. i. 1956). Christensen, Dieter: Zur Mehrstimmigkeit in kurdischen Wechselgesängen, in: Festschrift für W. Wiora, Kassel 1967, S. 571/577. Dames, M. Langworth: Popular Poetry of the Balodies, Published by the Royal Asiatic Society, 2 Bde. London 1907. Encyclopaedia of Literature, Art and Science, Ashrafi Publishing House, Teheran 1345 (d. i. 1967). Kuckertz, Josef: Gestaltvariation in den von Bart6k gesammelten rumänischen Colinden, Regensburg 1963. Massoudieh, M. Taghi: Änällz-e-ciahärdeh taräne-ye-mahalll-ye-Iran, in: Modäwemat-etärlhl-ye-Iran. In Vorbereitung. Mobasserl, Lotfolläh: Ahang-hä-yi-mahalll-ye-Gllän, Teheran Farwardin 1338 (d. i. 1959). Näseh, Dabiholläh: Balücestän, Teheran 1345 (d. i. 1967). Sachs, Curt: Reallexikon der Musikinstrumente, Berlin 1913, Photomech. Nachdruck, Hildesheim 1962. Schneider, Marius: Gestaltimitation als Kompositionsprinzip im Cancionero de Palacio, Musikforschung XI, (4), 1958, S. 415/422. Schneider, Marius: Lieder ägyptischer Bauer, Eine melodietypologische Untersuchung, in: Festschrift f ü r Zoltan Kodaly, Budapest 1943. Taräna-ha-ye-sähel-e-daryä-ye-Mäzanderan, Daftar-e-awwal Teheran Esfand 1323 (d. i. 1944).
SUMMARY This paper consists of two parts: The first part contains a short introduction followed by transcriptions and translations of folk songs. In the second part seven folk songs peculiar to wedding ceremonies in Balû£estâ, a south-west province of Iran, have been analyzed.
H O C H Z E I T S L I E D E R AUS BALUCESTAN
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Two versions of the songs called Bolbol (Transcription 4) and VeS tavarena (Transcription 6) have been given. Comparison of these melodies shows that the two versions of Bolbol, in contrast to Ves tavarena, have similar modes and intervalic structure. In general, the characteristics whidi were found in these wedding songs correspond with what the author has found, in his previous investigations, in other folk songs of Baluiestan. These diaracteristics have been outlined at the end of the paper.
REZENSIONEN Musikalische Volkskunst Spaniens — Hispaniae Musica 9. D G G Archiv Produktion 198460. Die deutsche Schallplattenproduktion ist bisher nur sehr zögernd an das Geschäft mit authentischer Volksmusik und nicht-abendländischer Kunstmusik herangegangen, obwohl die Nachfrage vor allem seitens der Jugend danach recht rege ist. Nun wird in den Regalen und Auswahlkästen der deutschen Schallplattengeschäfte unter dem Stichwort „Spanien" auch eine deutsche Aufnahme liegen. Die Archiv-Produktion hat sie in ihrer Reihe musikgeschichtlicher Beispiele spanischer Musik als 9. Platte herausgebracht. Und sie enthält auch komponierte und datierbare Musik des 15. bis 17. Jahrhunderts, Folias, das sind in diesem Fall mehrstimmige Bearbeitungen der Folia-Melodie, die im 15. Jahrhundert als portugiesischer Tanz in Spanien beliebt und seitdem bis in die Gegenwart auch thematische Grundlage kunstvoller Kompositionen war. Vier solcher Werke mit der Folia-Melodie bilden das Kernstück dieser Platte, aber nur etwa ein Viertel ihres Inhaltes. Sie sind eingerahmt von Proben echter spanischer Volksmusik aus mündlicher Uberlieferung und z. T. auch aus augenblicklicher Improvisation. So enthält die Platte spanische Volkskunst im weitesten Sinne; rezente Produkte einer unbestimmbar alten Tradition und ihre Spiegelung in kunstmusikalischer Bearbeitung. Mit drei Flamenco-Liedern in einer sehr guten, traditionellen Interpretation wird die Volkskunst Südspaniens vorgestellt, eine sehr expressive, introvertierte Musik, ganz auf die fein figurierte Kantilene des Sängers gestellt, von der Gitarre mit sparsamen Akkordschlägen unterlegt und in den Pausen des Sängers mit Ritornellen angereichert, die ihr eigenes thematisches, oft in stereotypen Formeln gestaltetes Material verwenden. Die Texte sind wörtlich vom Band so transkribiert, wie sie gesungen wurden, mit den Einwürfen des Gitarristen. Der Anteil an Eigenimprovisation des Sängers ist von dem der Überlieferung im Text so wenig zu trennen wie in der Melodie. Bodenständig andalusische mit importierten orientalischen Elementen, von Zigeunern und Arabern entlehnt, vermischen sich zu diesem Cante Flamenco, hier in der verbreitetsten Form des Fandango. Wichtiger aber ist die zweite Plattenseite, bringt sie doch eine Auswahl spanischer Volksmusik, die bisher nicht auf Schallplatten vertreten ist, weil es sie in Spanien selbst nicht mehr gibt: Volksmusik sefardischer Juden in altspanischer Sprache, aber nur in der Diaspora in Südosteuropa und Kleinasien noch lebendig. Die Sefardim, der am weitesten westlich vorgedrungene Zweig des jüdischen Volkes, vor den Arabern schon in Spanien seßhaft, von diesen toleriert, wurde bei der Eroberung auch der letzten Bastionen arabischer Herrschaft durch die Christen 1492 mit den Mauren aus Spanien vertrieben, soweit sie nicht zum christlichen Glauben übertraten. Wo sie nach der Vertreibung in ganzen Gemeinden beisammen blieben, bewahrten sie bis in unsere Zeit Reste der spanischen Sprache aus der Zeit Cervantes' in Redensarten, Sprichwörtern und Liedern. Eine Auswahl solcher altspanischer Lieder aus dem Repertoire der
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sefardischen Juden von Serajewo sind hier eingespielt. Es sind Balladen und Liebeslieder, sdiöne, z. T. sehr kunstvolle Gedichte, manche nur wenige Zeilen, andere dagegen viele Strophen umfassend. Die Dichter sind ebenso unbekannt wie der Schöpfer der Melodien, die Lieder sind nirgends gedruckt oder notiert. Trotz der jahrhundertelangen Konservierung in der ghettohaften Abgeschlossenheit von jedem Kontakt zum Ursprungsland sind die Melodien dieser altspanischen Lieder im Charakter noch immer sowohl spanisch wie renaissancehaft. Sie sind nur teilweise schlicht volkstümlich, besonders die umfangreicheren Balladen und Romanzen haben durch ihre Melismatik und durch die Weite ihrer Thematik Kunstliedgepräge. Der modale Charakter der Leitern ist noch nicht zur reinen Dur-Moll-Tonalität erstarrt. Volksliedhafte Züge zeigen nur die kurzen Liedchen, vor allem die drei ersten Stücke. Die reiche Kolorierung der größeren Lieder schließt eine mehrstimmige Satzart aus. Alle Stücke sind solistisch vorgetragen unter Verzicht auf jede Begleitung. Die Schallplatte enthält die für die Archiv-Produktion üblichen sorgfältigen und vollständigen Angaben für die Quellen und die Interpretation. Zu den Liedern sind die Texte vollständig abgedruckt und dreisprachig übersetzt. Der Kommentar ist bei aller Kürze informativ. Fritz Bose
Musik als Gestalt und Erlebnis. Festschrift Walter Graf zum 65. Geburtstag. Wiener
musikwissenschaftliche Beiträge Band 9. Hermann
Böhlhaus
Nachfolger,
Wien-Köln-Graz 1970. 262 Seiten, 13 Tafeln, Tabellen, Notenbeispiele. D M 55,— Die große Wertschätzung des Jubilars, der als der führende Vertreter der systematischen und vergleichenden Musikwissenschaft in Österreich gilt und über die Grenzen seines Landes und Europas hinaus Schüler, Freunde und Bewunderer zählt, zeigt sich im Umfang wie in der Qualität dieser Festschrift. Die 22 Aufsätze stammen von prominenten Vertretern der Musikethnologie und Akustik, die hier über eigene Forschungen und Studien berichten. Vorangestellt ist eine kurze Laudatio von Erich Schenk und ein Schriftenverzeichnis. Die Beiträge sind nach Autoren alphabetisch angeordnet. Dieter Christensen (Berlin, New York) teilt 5 Melodien aus dem melanesischen Bereich Neuguineas, von den Inseln Siar und Geraded vor der Nordostküste, mit. Sie zeigen bei den Beispielen aus Geraded den reinen, pentatonischen Stil Melanesiens, auf Siar eine weiträumige, zur Diatonik tendierende, aus modulierter Pentatonik entwickelte Melodik mit gelegentlicher Mehrstimmigkeit. Umfangreicher ist der Beitrag von Alfons M. Dauer (Göttingen) „Die Posaunen Gottes. Über Erregungs- und Ergriffenheitstechniken in religiöser Dichtung und Musik der Afro-Amerikaner". Er berichtet darin, zum Teil aus eigener Erfahrung, über die Gottesdienstformen in den Hinterhof- und Ladenkirchen von Harlem, deren Verlauf er schildert und auch wörtlich zitiert und analysiert, so daß die typischen Elemente afroamerikanischer religiöser Dichtung und Musik klar hervortreten. Die Rolle und die Geschichte der Musikinstrumente in der primitiven Gesellschaft ist Gegenstand eines bedeutsamen Aufsatzes von Oskar Elschek (Bratislava) „Mensch — Musik — Instrument". Er verwertet eine Fülle von Literatur zur Urgeschichte der Musik und der Musikinstrumente und bringt sehr kluge und zutreffende Gedanken zu diesem immer wieder aktuellen Thema, die er zum Schluß in Form einer tabellarischen Übersicht knapp und präzise darlegt. Die Ololyge, der „Weibertriller", arabisch zalrhüta, in Afrika beschäftigt Franz Födermayr (Wien), der diesem Phänomen in der afrikanischen Vokalmusik in 64 phonographierten
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Beispielen aus allen Teilen des Kontinents nachgeht. An 50 Sonogrammen wird der Klangaufbau und -verlauf dargestellt und der Bereich der Partialtöne und Formanten bestimmt. Letztere liegen im oberen Bereich des Vokals „U". Der Anwendungsbereich in rituellen wie unterhaltenden Gesängen läßt die Ololyge sowohl als Jubel- wie als Klageruf auftreten. Sie ist schon in antiker Zeit bekannt. Edith Gerson-Kiwi (Jerusalem) steuert einen Aufsatz „On the Technique of Arab Taqsim Composition" bei. Nach ihrer Definition ist das „system of Maqamat a practical method of free composition in terms of strict improvisation" und „not a musical form in itself, but a scheme for its creative development". So finden sich die improvisatorischen Elemente am ausgeprägtesten und als kompositorische Form nur in den „prelude-like opening movements of the Taqsim". Nach Gerson-Kiwi „the Maqam technique manifests itself in two different phases of development: in a preparatory form of a kind of exposition, in which the main notes of the Maqam are presented one after the other, and in the central part carrying the development of the preparatory root-melody to greater expansion". Sie gibt auch ein Beispiel für Maqam-Modell-Lieder, mnemotechnische Hilfen in Form von allgemein bekannten Volksliedern, die das Tonmaterial eines Maqam benutzen und die der Sänger oder Spieler „is free to insert into one of the sections of Taqsim". Die Frage, ob die Magrepha im Tempel des Herodes ein Sistrum oder eine Orgel war, was Hans Hickmann (Hamburg) noch 1936 vermutete, kann er auch anhand der neuesten Untersuchungen von J. Yasser nicht eindeutig entscheiden. Der Beitrag über die „Doppelglocken im Kongo-Angola-Raum" von Walter Hirschberg (Wien) versucht die Geschichte dieses afrikanischen Musikinstruments mit Hilfe alter Quellen zu klären. Er hält sie für außer-afrikanischen Ursprungs und glaubt, daß sie von den Portugiesen, zusammen mit dem Hofzeremoniell und Feudalwesen im 17. Jahrhundert eingeführt wurden. An einigen Erscheinungen in der Musik Afghanistans deckt Felix Hoerburget (Regensburg) die ethnischen, kulturellen und historischen Schichtungen und ihre wechselseitige Durchdringung auf. „Arabische Maqamen in ostsyrischer Kirchenmusik" erläutert Heinrich Husmann (Göttingen), gestützt auf einen gelehrten chaldäischen Priester, der ihm die für die 8 Grund-Maqamat typischen Melodiefloskeln in Art eines Taqsim vortrug. An die Stelle der 8 Kirchentöne der griechisch-orthodoxen Kirche sind in der syrischen die arabischen MaqamModelle getreten. Einen umfangreichen und wichtigen Beitrag hat Gerhard Kubik (Wien) beigesteuert, der sich mit der Xylophonmusik in Buganda befaßt. Das Instrument ist ebenso wie die an ihm entwickelten kompositorischen Techniken eng an die Feudalstruktur, d. h. an die Königshöfe und ihre spezielle Musikpflege gebunden und nimmt in Ostafrika eine Sonderstellung ein als ausschließlich höfisches Musikinstrument. Kubik teilt die Ansicht Wachsmanns, daß Xylophon und H a r f e in Uganda pentatonisch mit angestrebter Gleichstufigkeit gestimmt werden und stellt Vergleiche zum javanischen Pelog an. Das Instrument hat 12 Holme und wird gleichzeitig von 3 Spielern bedient, deren jeder seine eigenen Melodiephrasen spielt, die melodisch und rhythmisch ineinander verzahnt sind. 50 Beispiele in einer Ziffernnotation sind zwar platzsparend, erfordern aber einiges Umdenken. „Examples of Popular and Folk Music of Khorsan" gibt Bruno Nettl (Urbana). Er unternahm 1966 eine Reise in diese Nordostprovinz des Iran zum Studium der dortigen Musik. Seine Beispiele stehen etwa in der Mitte zwischen Volksmusik und Unterhaltungsmusik. Es ist eine Musik zu bestimmten geselligen Anlässen wie Jahrmarkt, Hochzeit und Familientreffen. Josef Pfundner (Wien) untersucht mit Hilfe des Sonographen einige akustische Phänomene, z. B. die Ursache der unschönen Klangwirkung frei hängender Glocken. In der Praxis des Glockenturmbaus hat man schon vor Jahrhunderten die Lösung des Problems der zu schrillen, an unharmonischen Teiltönen reichen Glockentöne in Nähe der Schallquelle und bei freier
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Aufhängung durch eine entsprechende Konstruktion der Glockenstube gefunden, in der die unerwünsditen Klanganteile durch Interferenz gedämpft und im Idealfall gelösdit werden. Einige Sonogramme erläutern die Darstellung. Hans-Peter Reinecke (Berlin) stellt einige Überlegungen zum Problem der objektiven Transkription ethnischer Melodien, z. B. mit Hilfe von Tonhöhensdireibern an. Setzt man an die Stelle vergleichender Bewertung subjektiver Tonhöhen-Eindrücke die unmittelbare, objektive Frequenzmessung, so kann leicht übersehen werden, daß physikalische Maßzahlen nicht mit den musikalischen Valenzen identisch sind, die den Höreindruck ausmachen. Die Kompositionsprinzipien klassischer türkischer Musik stellt Kurt Reinhard (Berlin) anhand einer Komposition von Itri (1640—1711) dar, die in mehreren späteren Niedersdiriften, variiert nach der Interpretationstechnik der Überlieferer, erhalten ist. Es handelt sich um das Äyin, die große Hymne für das Zeremoniell der Tanzenden Derwische. Aufbau und Struktur der großen Komposition werden im Detail wie im Zusammenhang betrachtet und analysiert. „Klangfarbe und Rhythmus im indischen Tablaspiel" ist der Beitrag von Helmut Rösing (Saarbrücken). Die vermutlich von den islamischen Eroberern in Indien eingeführte altarabische Tabla ist kein Begleitinstrument im abendländischen Sinne sondern eine selbständige, notwendige, ja führende Stimme im nordindischen Ensemble, die zum Rhythmus auch Tonhöhe und Klangfarbe beisteuert. Sonogramme erhellen die Klangspektren der verschiedenen Schlagarten. Etwas aus dem Rahmen musikethnologischer und akustischer Aufsätze fällt der von Erich Schenk (Wien) „Die Zauberflöte im Dreivierteltakt". Diese kleine, amüsante Studie über die Trivialmusik der Wiener Klassik beschreibt die Zauberflöte-Bearbeitungen f ü r den Gebrauch im Tanzsaal und als Hausmusik, ein durchaus legales Verfahren, das ja Mozart selbst angewandt hat. Hier handelt es sich um zwei Fassungen von 12 deutschen Tänzen nach Melodien aus Mozarts Oper aus der Feder des in Wien lebenden polnischen Komponisten Stanislaus Ossowski. Die Augmentation des Rhythmus in mittelalterlicher und neuerer Volksmusik beschäftigt Marius Schneider (Köln), der in dem Prinzip variabler Metren, die sich eng an Metrik und Betonung des Textes anlehnen, ein hervorstechendes Merkmal vokaler Melodiebildung sieht. Hörphysiologische Fragen behandelt der Aufsatz von Kurt Schügerl (Wien) „Zeitfunktion und Spektrum in der subjektiven Akustik", Fragen, die sowohl f ü r die Nachrichtentechnik wie für die Hörtheorie von Bedeutung sind. Die einer Gemeinschaft, einer Gruppe eigene Musiksprache und Erlebnisqualität untersucht Bence Szabolcsi (Budapest) auf ihre Wirkungsweise in seinem Beitrag „Der musikalische Konsens". Über die Volkslieder, die beim Reispflanzen in der Provinz Shimane auf der japanischen Insel Honsyu gesungen werden, berichtet Ruriko Uchida (Tokio) in einer Abhandlung „The Musical Charakter of Taue-Bayashi". Diese Gesänge und das ganze Ritual des Reispflanzens gehören zu den ältesten Überlieferungen japanischer Volksmusik. Taue-Texte sind schon aus dem 9. Jahrhundert überliefert, dem Anfang japanischer Literatur. Frau Uchida, die diese Gesänge seit langem sammelt, gibt hier 6 Beispiele, die jeweils einen anderen Typ charakterisieren und einen speziellen Verwendungszweck haben. Als letzter Beitrag steht ein bemerkenswerter Aufsatz von Walter Wiora (Saarbrücken) „Über die Zunahme trivialer Melodik im neueren Volkslied". Mit John Meier beklagt auch er den Verlust des Volksliedes „an Wert und Eigenart" und glaubt mit Tibor Kneif, daß Trivialität „ein durch und durch modernes Phänomen" ist. Sein Versuch zutreffende Begründungen zu finden, ist anregend. So bildet diese Festschrift eine Sammlung meist vorzüglicher Aufsätze, die vielfach neue Gesichtspunkte oder neue Forschungsergebnisse enthalten, und deren Niveau beachtlich ist. Besonderes Lob gebührt dem Herausgeber (Erich Schenk) und Redakteur dafür, daß sie diese
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Publikation aus recht heterogenen Bestandteilen zu einer optisch und inhaltlichen Geschlossenheit gestalteten und sie ohne die bei Festschriften übliche vieljährige Verspätung vorlegen konnten. Fritz Bose Aenne Goldschmidt Handbuch des deutschen Volkstanzes. Systematische Darstellung der gebräuchlichsten deutschen Volkstänze. Tanzgeschichtliche Mitarbeit: Eva Rentner. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1967. Textband. Bildband. N o t e n b a n d (in Sdiuber). Das schon äußerlich ansprechend aufgemachte Werk gliedert sich in 3 separate Bände, wodurch die Benutzbarkeit sehr erleichtert wird. Der Notenband enthält 55 ausgewählte Tänze in nicht zu schwierigem Satz (Klaviersatz: Kurt Petermann). Der Bildband ist vor allem für den Praktiker wichtig: Außer „Erläuterungen zur Terminologie" und einem „Alphabet. Register der Handfassungen und Armfiguren" findet er dort gut verständliche Zeichnungen der „Bewegungsrichtungen" und „Aufstellungsarten" (Heinz Wunderlich) sowie instruktive Fotos der „Handfassungen und Armfiguren" (Günter Börner), für die sich das Tanzensemble der DDR zur Verfügung stellte. Bildband und Notenband sind nur Begleitbände zu dem eigentlichen Hauptteil, dem Textband. (Es versteht sich, daß alle notwendigen Verweise untereinander gemacht wurden.) Mit Ausnahme der nicht weiter sachdienlichen ideologischen Bemerkungen ist bereits die „Einführung" für den Benutzer wichtig. Man erfährt, daß das in erster Linie für die Praxis gedachte Handbuch nicht die noch immer fehlende zusammenhängende Geschichte des deutschen Volkstanzes ersetzen soll, so daß die historischen Abschnitte absichtlich knapp gehalten sind. Die Verfasserin wollte mit diesem Werk vor allem „Choreographen, Tanzpädagogen, Leitern von Laientanzgruppen, Gesellschaftstanzlehrern und allen interessierten Tänzern", also Leuten der Praxis einen Überblick über die wichtigsten deutschen Volkstänez mitsamt praktischen Beispielen sowie das notwendige Wissen darüber verschaffen (S. 7). Eine Gesamterfassung aller Tanztypen Deutschlands allerdings konnte und wollte das Handbuch nicht bieten, es fehlen z. B. so wichtige Gruppen wie Tänze mit beruflichen Merkmalen oder mit brauchtumsgebundenen Motiven. Notwendig für eine spätere Erweiterung wären noch zahlreiche regionale Untersuchungen. Die Tänze im Hauptteil sind nach ihrer tänzerischen Form geordnet; innerhalb dessen wurde eine historische Abfolge angestrebt. Alle anderen Gesichtspunkte, etwa regionale oder funktionsgebundene, konnten nur innerhalb der Einteilung nach Formtypen berücksichtigt werden, was einleuchtend begründet wird. Die Vf. folgte bereits existierenden Systematisierungsversuchen (sie nennt die Namen von der Au, Horak, Wolfram u. Zoder), stand aber vor der Aufgabe, die Ergebnisse dieser meist regional gebundenen Untersuchungen auf ganz Deutschland auszudehnen. Dabei kommt sie zu der Feststellung, daß die Erforschung des deutschen Volkstanzes trotz aller bisherigen Vorarbeiten noch in den Kinderschuhen steckt. Besonders hemmend wirkte sich bei der Erstellung eines solchen Handbuches das „Fehlen einer allgemein gebräuchlichen, gültigen . . . Tanzschrift" aus (S. 8), ferner die oft „fehlerhafte Beschreibung" und „eine verschwommene oder irreführende Terminologie" (S. 9) in vielen der bisher erschienenen Untersuchungen. Nicht selten kommt es vor, daß in den Tanzbeschreibungen für eine bestimmte Schrittform, Handfassung oder Aufstellungsart die unterschiedlichsten Bezeichnungen verwandt werden. Die Vf. bemühte sich, so weit wie möglich bereits allgemein
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gebräuchliche Bezeichnungen zu verwenden, neue nur wenn nötig zu prägen, alle aber umzuschreiben auf eine im ganzen Handbuch einheitliche Terminologie. Das verleiht dem Buche Geschlossenheit und erleichtert seine Benutzbarkeit. Der Hauptteil des Textbandes mit den eigentlichen Tanzbeschreibungen gliedert sich in 4 große Abschnitte, bei denen den „Gruppentänzen" und den „Paartänzen" jeweils ein kurzer historischer Abriß vorangestellt wurde. Für jeden Tanztypus gibt es dann ein in sich geschlossenes Kapitel mit jeweils 4 Abschnitten: 1. Tanzname (auch Untertitel u. regionale Sonderprägungen) und allgemeine Einführung 2. Darlegung der Tanzform (Aufbau, Musik, Schritt, Tanzfigur, Fassung) 3. Inhalt, Funktion, Geschichte und Verbreitung 4. Beispiele Wenn auch durch diese Anlage einzelne Wiederholungen nicht ganz zu vermeiden waren, so wird das aufgewogen durch den großen Vorteil, daß das Buch tatsächlich wie ein Handbuch benutzt werden, also jeder Tanz für sich nachgeschlagen werden kann. Es ist hier nicht Raum, nun noch auf die Kapitel im einzelnen einzugehen, zum Schluß nur einige Anmerkungen eines Benutzers: (1) Es wird dankbar vermerkt, daß nicht nur die von Volkstanzkreisen heute noch gepflegten Tänze, sondern auch die Kinderreigen mit einbezogen werden, mit Beschreibung und unter Nennung der Eingangszeilen der Tanzlieder (s. bes. „Singtänze" u. „Balladentanz" in dem großen Kapitel der „Gruppentänze"). (2) Das Sachregister enthält im wesentlichen dreierlei: Tanzliedanfänge, Tanztitel und Tanzbezeichnungen, darunter dankenswerterweise auch mundartliche Prägungen. — Solche und weitere Tatsachen machen das Buch zu einem wichtigen Nachschlagewerk nicht nur für den Praktiker, sondern auch für „Theoretiker", z. B. für die Betreuer landschaftlicher Volksliedarchive, denen für das in diesen Archiven befindliche Material hier wertvolle Hinweise für die Bestimmung und Einordnung an die Hand gegeben werden. Von einem solchen „Theoretiker" stammt auch diese Rezension. Renate Brockpähler
Klangdokumente zur Musikwissenschaft. Herausgegeben von der Musikethnologischen Abteilung des Museums für Völkerkunde Berlin. K M 0 0 1 Josef Kuckertz: Südindische Tempelinstrumente ( 1 9 6 9 ) . K M 0 0 2 K u r t Reinhard: Klassische türkisdie Musik ( 1 9 6 9 ) . Die Musikethnologische Abteilung des Berliner Völkerkundemuseums ist die Fortführung des ehemaligen, weltberühmten Berliner Phonogrammarchivs. Jenes hatte bereits 1929 ein Album mit Klangdokumenten zur außereuropäischen Musik veröffentlicht, die Schallplattenreihe „Musik des Orients" mit einem Kommentarheft. Während dieses erste Unternehmen jedoch auf Schallplatten aufgebaut war, die von der Firma Carl Lindström A.-G. bzw. von deren Tochtergesellschaften in Übersee zu kommerziellen Zwecken ohne Mitwirkung von Musikologen und erst recht ohne Beteiligung des Phonogrammarchivs aufgenommen und hergestellt wurden, sind die nun publizierten „Klangdokumente zur Musikwissenschaft" von Mitarbeitern der Musikethnologischen Abteilung für diese aufgenommen und kommentiert. Die ganze Reihe ist als wissenschaftliche Publikation angelegt, nicht als Beispielsammlung. Die „Klangdokumente" sind mehr als Dokumentation, sie sind musikethnologische Abhandlungen mit klingenden Illustrationen anstelle von geschriebenen Notenbeispielen (die außerdem noch
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beigefügt werden). So scheinen mir diese Schallplatten, soweit sie bereits vorliegen, etwas prinzipiell Neues darzustellen, was sie noch über die ähnliche Editionsprinzipien vertretenden Schallplattenausgaben der Society for Ethnomusicology stellt, die doch mehr eine Beispielsammlung mit freilich wissenschaftlich belangvollen Kommentaren ist und den Editionen der Ethnic Folkways Library näher steht als dieser Reihe. Bisher sind erst zwei Schallplatten erhältlich, drei weitere sind in Vorbereitung. Das erste Klangdokument beruht auf Aufnahmen, die Josef Kuckertz 1958 in Madras eigens f ü r diese Studie aufgenommen hat. Er stellt auf dieser Platte die in südindischen Tempeln ritual gebrauchten Musikinstrumente vor, Trompeten und Perkussionsinstrumente. Aus dem reichen Schatz an Musikinstrumenten in der südindischen Kunst- und Volksmusik ist dies also nur ein Ausschnitt. Es handelt sich auch nicht um eine Dokumentation südindischer Tempelmusik sondern allein um eine der dabei verwendeten Klangwerkzeuge. Die Instrumente werden dabei einzeln vorgestellt — in einer Photographie, die auch die Handhabung zeigt, und in Proben der charakteristischen Spielfiguren. In einigen Fällen wurden auch mehrere Instrumente zu Gruppen zusammengefaßt, um die klangliche und melodische Funktion der einzelnen Instrumente im Verband zu demonstrieren, da sie ja meist nicht solistisch, sondern im Ensemble verwendet werden. Drei Arten von Gegenschlagbecken mit jeweils verschiedener Funktion im Tempelritual werden mit ihren charakteristischen rhythmischen Formeln ohne Gesang isoliert vorgespielt, dann eine Aufschlagplatte zusammen mit der Rahmentrommel, ohne die sie nicht gebraucht wird, und danach mit dem zugehörigen Gesang. Eine kleine Sanduhrtrommel wird ebenfalls zuerst allein, dann mit dem Aufschlagbecken, mit dem Becken und Sänger und mit Becken und Schneckentrompete gezeigt. Zwei weitere größere Sanduhrtrommeln, eine davon auch mit Gefäßrasseln, und die eZylindertromml pampai, diese dann auch im Zusammenspiel mit Sanduhrtrommel und Rassel, leiten über zu den drei Typen der Kesseltrommel mit verschiedenen musikalischen wie funktionellen Aufgaben. Einer teils mit den Händen, teils mit Stöcken geschlagenen Einfellrahmentrommel und weiteren Kesseltrommelformen folgen zwei Faßtrommeltypen. Darauf erklingen die Blasinstrumente, Längstuben und Längshörner, einzeln und paarweise, und die Schnecken trompete im Solo und mit Kesseltrommel. Kuckertz beschreibt die Instrumente und gibt nicht nur ihre Stellung im Tempelritual, sondern auch ihre Verwendung außerhalb des Tempels und in profaner Musik an. Zu jedem Instrument sind Literaturhinweise über Namen, Machart, Spieltechnik und Verwendung angegeben, die das Kommentarheft zu einer exakten wissenschaftlichen Dokumentation erheben. Die zweite Platte enthält „Klassische türkische Musik", 1964 und 1967 von Kurt Reinhard in der Türkei aufgenommen und von ihm kommentiert. Acht der zehn Stücke sind Aufnahmen von der neuntägigen jährlichen Gedenkfeier für den Begründer des Ordens der tanzenden Derwische Celaleddin Rumi, der 1273 in Konya gestorben ist. Die beiden restlichen Stücke sind Aufnahmen von namhaften Interpreten klassischer Musik aus Istanbul. Die Einzelbesprechung und Analyse der Stücke vorangestellt ist eine kurze Schilderung der Instrumente und eine Darlegung der Musikformen taksim und pe$rev bzw. der hiermit verwandten saz semai und eine Erläuterung des Makambegriffs in der türkischen Kunstmusik und der Rhythmusmodelle usul. Die Reihe der Beispiele beginnt mit einem taksim, also einer rhythmisch ungebundenen Improvisation im Makam Suzidil, ein Einleitungsstück f ü r eine Komposition im gleichen Makam, gespielt auf der Längsflöte ney. Das folgende pejrev im gleichen Makam Suzidil und im usu (metrisch-rhythmischen Modell) devri Kebir ist als Ensemblestück aufgenommen (Flöten, Stachelgeige, Langhalslaute, Pauken, Becken). Es folgen die Schlußstücke der Mevlevi-Zeremonie, zwei komponierte und ein improvisiertes, zusammenhängend aufgenommen wie gespielt. Ein pejrev im Makam Acenajiran wird durch ein über-
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leitendes taksim mit einem peçrev verbunden und einem Hicaz taksim beendet. Letzteres stammt aber audi aus der Derwisch-Zeremonie in Konya. Während die Stücke der ersten Plattenseite alle sehr eingehend analysiert und meist auch mit Notenwiedergabe versehen sind, werden die der B-Seite kürzer behandelt, da die Gestaltelemente sich mehr oder weniger gleichen. Sie beginnt mit einem Überleitungs-taksim vom Makam Acemaçiran nach Hüseyni für Flöte mit Ensemble. Ein längeres peçrev im BeyatiMakam ist zu Ehren eines Mäzens des Ordens in jüngster Zeit komponiert. Von diesem Makam zu dem des nächsten peçrev leitet wieder eine Improvisation über — die drei Stücke wurden audi bei der Zeremonie hintereinander gespielt. Es folgen ein taksim der Langhalslaute Tambur und ein Flöten-taksim und als Abschluß ein kurzes taksim auf der Zither Kanun — leider um eine Oktave zu tief und daher audi entsprechend zu langsam vom Band auf die Platte gebracht, ein ärgerlicher Fehler, der auf Plattenspielern normaler Bauart nicht zufriedenstellend korrigiert werden kann. Zu allem Überfluß hat sidi dann auch noch im Kommentar durch Ausfall und Vertausdiung von Textzeilen ein weiteres Handicap eingeschlichen. Da dies aber der kürzeste Cut dere Platte ist, fallen diese Schönheitsfehler weniger ins Gewidit und mindern den Wert der Platte nicht, die erlesene Stücke alter und neuerer türkischer Kunstmusik aus der Tradition des Mevlevi-Ordens zusammenstellt. Da ausschließlich Instrumentalmusik vertreten ist, ergibt sich kein vollständiges Bild der Musikszene bei den ritualen Festen der tanzenden Derwisdie, doch ist dies audi nicht beabsichtigt. Der Herausgeber der Plattenserie, Dieter Christensen, sdieint nach diesen beiden ersten Platten eine instrumentenkundlidie und instrumentenmusikalisdie Dokumentation ritueller Musik anzustreben. Damit hebt sich diese Reihe auch thematisch von anderen ab, die sie zudem noch an Gründlichkeit und Dichte der wissenschaftlichen Information übertrifft. Fritz Bose
Die Schallplatten des Musée de l'Homme Aus seinen reichen Beständen von Musikaufnahmen hat das berühmte Pariser Völkerkundemuseum schon vor Jahrzehnten Schallplatten herstellen lassen und vertrieben. In den letzten Jahren ist man nun dazu übergegangen, neuere Expeditionsaufnahmen in Langspielplatten-Alben mit ausführlichen Kommentaren in Französisch und Englisch bei Vogue fabrizieren zu lassen und nun auch im normalen Handel anzubieten. Die Platten haben den Sammeltitel „Collection Musée de l'Homme, publiée sous la direction de Gilbert Rouget, réalisation technique: Jean Schwartz". Sie sind nicht fortlaufend numeriert, haben also nur die Plattennummer des Herstellers zur Signifikation. Ich habe die mir vorliegenden 12 Alben nach geographischer oder ethnologischer Gruppierung geordnet. Die Aufnahmen zu der Platte „Barong — drame musical balinais" (LD 763 B) sind 1966 von dem frühverstorbenen Louis Berthe gemacht, der Kommentar von Bernard Lortat-Jacob und Tran Quang Hai. Barong, ein Maskentanzspiel, das den Kampf und Sieg des Barang, einer Löwenfigur freundlichen Charakters, mit einer Dämonin zum Inhalt hat, geht auf alte Hindulegenden zurück. Die beiden Hauptfiguren, von Nebenrollen und maskierten Tänzern assistiert, stellen eine mystische Kommunikation der Götterwelt mit den Irdischen her. Der religiöse Charakter dieser Tänze ist offenkundig. Das begleitende Gamelan Barong hat eine spezielle Besetzung und eigene Kompositionen. Die Platte bringt einige typische Abschnitte des Dramas, ferner noch vier Stücke anderer Gamelan-Besetzungen (Gambang, Anklung, Wajang und Genggong), die beiden ersten zu Totenfeiern, eine Schattenspielmusik und das letzte, für Maultrommel und Flöten, ohne spezielle Aufführungsgelegenheit.
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„Musique Dayak — Bornéo" (LD 30 108) enhält Aufnahmen bei verschiedenen Stämmen am Oberlauf des Mehakam von Pierre Ivanoff 1953—54. Die interessante Platte bietet Chorund Sologesang und Instrumentalstücke zur Kopfjagd, Reisernte, Krankenkur und Krieg. „Musique polynésienne traditionelle" I (LD 785) und II (LDM 30 109) ist von Hugo Zemp in Ontong 'Java, dem größten Atoll der Südsee, 1969 aufgenommen. Hier ist der westliche Einfluß noch gering und die Musik der Insulaner noch nicht vom Kitsch der Südsee-Schlager korrumpiert. Zwar wird das große Sanga-Fest seit Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr gefeiert, doch leben die Lieder und Tänze noch in der Erinnerung fort und konnten f ü r diese Aufnahme noch einmal aufgeführt werden. Auch die alten profanen Tänze sind nicht völlig ausgestorben, obwohl die Jugend heute die Tahiti-Lieder mit Gitarre vorzieht. Gleichfalls von Hugo Zemp sind die beiden Alben „Are, Are, flûtes de pan mélasienne" auf der Salomonen-Insel Malaita 1969—70 aufgenommen (LDM 30 104/5). Die Are Are sind ein kleiner Stamm im Süden der Insel. Ihre überlieferte Musik ist im Erlöschen dank der Missionstätigkeit. Relativ gut tradiert ist nur die Instrumentalmusik und gerade sie ist hier von besonderer Vielfalt und Eigenart. Die erste Platte bringt 11 Stücke der beiden ältesten PanflötenEnsembles, deren erstes aus 4 Musikern besteht, die in zweistimmiger Polyphonie mit Oktavverdoppelung spielen, während im zweiten zwei Chöre zu je vier Instrumenten in vier Oktavlagen zweistimmig musizieren. Die zweite Platte enthält Proben von drei weiteren Ensembles, eins mit drei Stimmen, eins mit zwei Melodie- und zwei Begleitstimmen und ein gleiches mit Oktavverdoppelung. Für jedes Ensemble sind besondere Flöten erforderlich, deren Größe extrem schwankt. Die Platten, die den Grand Prix du Disque erhielten, sind von hohem wissenschaftlichem wie ästhetischem Reiz. „Musique Banda" (LD 765) sind von Simha Arom und Geniève Douron-Taurelle 1964 und 1967 gesammelte Instrumental- und Vokalstücke. Die Banda, ein Stamm in den Savannen der Zentralafrikanischen Republik, haben sehr originelle Instrumente und Orchester: Schlitztrommeln verschiedener Größe aus Paaren und Doppelpaaren, viertastige Brettxylophone, die wie die Schlitztrommeln gebraucht und auch so benannt werden, Einton-Trompeten aus Holz, quer und auch längs geblasen und zu großen Ensembles zusammengestellt, Orchester aus Einton-Kerbflöten. Eine Querflöte mit 4 Grifflöchern tritt selten allein auf und ist wie die Bogenharfe wohl von Nachbarvölkern übernommen. Die Vokalmusik ist einstimmig. Die Gesänge haben wie die Instrumentalstücke eine pentatonische Skala mit fallender Melodik. — Von der Elfenbeinküste stammt die von Hugo Zemp 1965 aufgenommene Platte „Musique Guéré" (LD 764). Die Guéré, Nachbarn der Dan, leben in der Waldzone im Landesinnern. Die einst autonomen Häuptlinge hatten eigene Musiker im Gefolge. Auch die Geheimgesellschaften besaßen eigene musikalische Riten. Eine Musikerkaste gibt es nicht, jeder kann sich betätigen. Bordun- und Ostinatotechnik und Quartenparallelismus kennzeichnen die BandaMusik, von der die Platte eine bunte Mischung aus profanen und rituellen, vokalen und instrumentalen Stücken bietet. Weitere Proben westafrikanischer Musiker südlich der Sahara bringt die Platte „Musique Torna, Guinée" (LDM 30 107) von P. D. Gaisseau, J. Fichter und T. Saulnier. Die Torna sind Reisbauern und Weber, Nachbarn der Malinke und Kissi. Ihre Musik ist sehr artenreich. Die Platte zeigt Ausschnitte aus den Excisionsriten der Mädchen, Festmusiken zu verschiedenen Anlässen, Bestattungsriten und profane Unterhaltungsmusik. — Berbermusik aus Marokko aus verschiedenen Expeditionen von 1964 bis 1970 vereint die Platte „Musique Berbere du Haut Atlas" (LD 786). Alle Aufnahmen stammen von den Ayt Mgun, einem Zweig der Infd'wak, die im 2000 m hoch gelegenen Tal des Tasawt in 25 Dörfern leben und Getreide anbauen. Außerhalb der Stammesfeste zur Erntezeit, Beschneidung der Knaben oder der
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Rückkehr yon der Pilgerfahrt, zu Hochzeiten oder zu Ehren eines Heiligen oder Marabu gilt es f ü r unschicklich und skandalös, zu singen und zu musizieren. Die Platte enthält 8 Beispiele solcher Festmusiken zu verschiedenen Anlässen. Gilbert Rouget nahm Gesänge der Malinké in Guinea auf ( L D M 3 0 113). Der arabische Ethnograph Ibn Batuta besuchte das Mali-Reich im 14. Jahrhundert und beschrieb auch ihre Musik und die Instrumente. Die heutigen Malinké bewohnen das Grenzgebiet von Guinea und Mali. Die Musikausübung liegt vornehmlich in den H ä n d e n von griots, Berufsmusikern bestimmter Clans. Die vielen Arten von Musikinstrumenten sind hier in verschiedenen K o m binationen und in Verbindung mit C h o r - und Sologesang zu hören. Eine Seite bringt „ H o f Musik der griots, die Rückseite rituelle und p r o f a n e Dorfmusik. — Gleichfalls von Rouget stammt die Platte L D M 3 0 116, die weitere Malinké-Musik mit Gesängen und Instrumentalstücken der Baulé der Elfenbeinküste kombiniert, eine gelungene Demonstration zweier sehr verschiedener musikalischer Stile trotz unmittelbarer Nachbarschaft: moslemisierte H i r t e n kultur der Savannen und heidnische Bauernkultur der waldreichen Flußebenen. Fritz Bose
Abbildungen zum Beitrag R Ö S I N G , Zur Problematik der Transkription japanischer Palastmusik
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Abbildungen zum Beitrag MASSOUDIEH, Hochzeitslieder aus Balucestan
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