Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1970 [1970] 387537004X


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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, 1970
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Inhaltsverzeichnis
Osthoff, Wolfgang - Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit
Dahlhaus, Carl - Miszellen zur Musiktheorie des 15. Jahrhunderts
Eppstein, Hans - Zur Vor- und Entstehungsgeschichte von J. S. Bachs Tripelkonzert a-moll (BWV 1044)
Gerlach, Reinhard - Die Dehmel-Lieder von Anton Webern
De La Motte-Haber, Helga - Konsonanz und Dissonanz als Kriterien der Beschreibung von Akkorden
Hesse, Horst-Peter - Die Tonhöhenwahrnehmung und die neurophysiologischen Bedingungen des Gehörsinnes
Reinecke, Hans-Peter - Musikwissenschaft und Musikerziehung
Namen- und Sachregister
Über die Autoren
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1970 [1970]
 387537004X

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JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1970

Herausgegeben von Dagmar Droysen

Verlag Merseburger Berlin

Edition Merseburger 1442

© 1971 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten . Printed in Germany Druck: Arno Brynda, Berlin ISBN 3 87537 004 X

INHALT OSTHOFF, WOLFGANG

7

Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit DAHLHAUS, CARL

21

Miszellen zur Musiktheorie des 15. Jahrhunderts EPPSTEIN, HANS

Zur Vor- und Entstehungsgeschichte vonJ. S. Bachs Tripelkonzert a-moll (BWV 1044) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

GERLACH, REINHARD

Die Dehmel-Lieder von Anton Webern Musik und Sprache im Übergang zur Atonalität . . . . .

45

DE LA MOTTE-HABER, HELGA

Konsonanz und Dissonanz als Kriterien der Beschreibung von Akkorden . . . . 101 HESSE, HORST-PETER

Die Tonhöhenwahrnehmung und die neurophysiologischen Bedingungen des Gehörsinnes . . . ..

.. 128

REINECKE, HANS-PETER

Musikwissenschaft und Musikerziehung

144

Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Ober die Autoren

155

7

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT* WOLFGANG OSTHOFF

Ein Jahr nach dem Tode Ludwig van BEETHOVENs, 1828, erschienen die beiden ersten umfangreichen Würdigungen der Missa Solemnis und der 9. Symphonie aus der Feder von Joseph FROHLICH 1 • Fröhlich war seit 1804 in Würzburg Universitätsmusikdirektor und der erste Dozent für Musikgeschichte, er leitete zugleich das akademische Musikinstitut, aus dem das älteste deutsche Konservatorium, unser heutiges Staatskonservatorium, herausgewachsen ist. Die Universität Würzburg knüpft daher an ihre eigene Geschichte an, wenn sie Beethoven am Vorabend seines 200. Geburtstages ehrt. Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit, d. h. als gewordene, von den Kräften der Vergangenheit gespeiste, sich an den Kräften der Vergangenheit messende, als aus dem eigenen Gesetz wirkende, weiterwirkende und verpflichtende, rir:htende Realität - das möchte ich zu umreißen versuchen, so wie es sich mir darstellt. Ich werde nur wenige konkrete Punkte berühren, wobei ich von einigen exemplarischen Werken und von einigen exemplarischen Worten Beethovens und seiner Zeitgenossen ausgehe. Bevor Beethoven im November 1 792 seine Vaterstadt Bonn verließ, um in Wien den Unterricht bei Joseph Haydn anzutreten, schrieb ihm der befreundete Graf WALDSTEIN - derselbe, dem später die berühmte Klaviersonate gewidmet wurde - folgende prophetischen Sätze ins Stammbuch: „Lieber Beethoven. Sie reisen itzt nach Wien z ur Erfüllung Ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozarts Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bei dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen" (THA YER 3/1917, S. 290 2 ). Beethoven soll also aus den Händen Haydns den Geist, den Genius des ein Jahr vorher verstorbenen Mozart erhalten. Mit den Namen Haydn und Mozart ist bezeichnet, was Beethoven an Bedeutendem in der Welt der Musik unmittelbar vorfand. Was lernte er von Haydn, was empfing er von der Musik Mozarts, und in welcher Weise verwandelte er dieses klassische Erbe zu etwas Neuem, Eigenem? Bei Haydn, im Unterricht, hat er offenbar nur wenig gelernt, von Haydn hat er unendlich viel gelernt, vor allem aber konnte er von ihm lernen, welches Element das primäre für diese neue klassische Musik war: der Rhythmus. Noch spät, am 8. März 1824, hat er mit Anton Schindler ein Gespräch über den Rhythmus geführt, SCHINDLERs Antworten sind in dem betreffenden Konversationsheft erhalten. Eine von ihnen, die unzweifelhaft Beethovens Ansicht spiegelt, lautet: der Rhythmus „ ist unstreitig das Nothwendigste zur Verstän *Obiger Vortrag wurde am 15. Dezember 19 70 in der Universität Würzburg gehalten. Die mündliche Diktion ist für den Druck nicht geändert wordrn, allerdings wurden die notwendigen Na chwei se hinzugefügt. 1

Missa 1828, Caecilia 9, Heft 36, S. 2 7-45; Sinfonie 1828, Caccilia 8, Heft 32, S. 231-256.

2

Abbildung in BORY (1960) S. 58.

WOLFGANG OSTHOFF

8

digung der Musik" {KÖHLER-HERRE 1970, S. 198). Später ist von Arsis und Thesis die Rede, von Hebung und Senkung, das entspricht dem leichten und dem schweren, dem unbetonten und dem betonten Teil einer musikalischen metrischen Einheit. Auf dem rhythmischen Spiel der Motive über dem gleichmäßigen Fluß von Thesis-Arsis, Thesis-Arsis usw. beruhen ganz wesentlich der Geist und das Leben der Haydnschen Musik. Dabei kommt es nicht auf äußere motivische Kontraste an. Beim späten Haydn finden sich Fälle, in denen er ein und dasselbe Motiv, ein und dieselbe Melodie durch verschiedenartige metrische Placierung verändert und verwandelt. Ich gebe ein Beispiel aus dem letzten Satz von HAYDNs Sinfonie Nr. 103 in Es-Dur vom Jahr 1795. Zugrunde liegt ein gleichmäßiges Zweiermetrum von Thesis und Arsis, wobei Thesis und Arsis je einen Takt beanspruchen. In dieses metrische Gerüst setzt Haydn sein Hauptthema derart, daß es auf einer Thesis beginnt (Tonband-Beispiel):

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Als 2. Thema, als Seitenthema, bringt Haydn keine neue Melodie, sondern er placiert das 1. Thema in metrischer Hinsicht umgekehrt, d. h. es beginnt nun auf einer Arsis {Tonband-Beispiel T. 316-335). Das Motiv bleibt in melodischer und rhythmischer Beziehung identisch, durch die metrische Verschiebung wird es aber verändert und erhält daher auch eine andere Fortsetzung. Wollen wir das, was sich hier abspielt, allgemein, philosophisch fassen, so können wir uns an SCHILLERs im selben Jahre 1 795 herausgekommene Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen halten. Schiller spricht von zwei Grundtrieben des Menschen: 1. von dem sinnlichen - dieser Trieb fordert, „daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe" {12. Brief), 2. vom Formtrieb er „geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen ... und ist bestrebt, ... Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen ... " (12. Brief). Beide Triebe vereinigen sich aber in einem dritten, der den Menschen erst ganz zum Menschen macht (15. Brief), im Spieltrieb. Schiller schreibt: „Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei . . . " Der Spieltrieb, „in welchem beide verbunden wirken, ... würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren" (14. Brief). Haydn vereint Veränderung {den metrischen Wechsel) mit Identität (des Motives als solchen). Dieses Spiel vollzieht sich wie alle Musik notwendigerweise in der Zeit, durch das Veränderung bewirkende Spiel entsteht aber über den bloßen Ablauf hinaus der Eindruck eines Vorgangs. Der ausdrückliche Charakter des Vorgangs ist das Kennzeichen der Wiener klassischen Musik. Haydn hat das begründet, Mozart hat es aufgenommen. Wie verhält sich Beethoven dazu? In unserm Haydnschen Beispiel war die Verwandlung schon innerhalb des 1. Themas vorbereitet. Nebenstimmen deuteten die

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

9

andere metrische Ordnung an. Doch in den Grundzügen blieben 1. und 2. Thema in metrischer Hinsicht voneinander geschieden. BEETHOVEN übernimmt das Haydnsche Verfahren, aber er verdichtet es. D. h. er kann die unterschiedliche metrische Haltung nun auch innerhalb eines einzigen Themas vorführen. So z. B. im 2. Thema des Allegro aus der Sonat e pathetique c-moll op. 13 von 1799, also vier Jahre nach Haydns Sinfonie. Beethoven arbeitet hier mit einem rhythmischen Impuls, der aus vier Tönen besteht (B-Es-F-Ges). In der hohen Lage setzt er den Impuls so ein, daß er auf der Arsis beginnt und auf die Thesis zuläuft. Schon das allein ergäbe ein schönes Thema. Das aber ist nicht das ganze Thema. Der Impuls erscheint auch in der tiefen Lage, hier jedoch beginnt er auf der Thesis. Zusammengesetzt heißt es (Tonband-Beispiel):

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Im Spiel mit den Impulsen, in den dadurch bewirkten Veränderungen und Vorgängen zeigt sich der Nachfolger Haydns, aus der Verdichtung und Intensivierung der Impulse spricht Beethoven. Das empfand GOETHE auch ganz unmittelbar an dem Menschen Beethoven, als er ihn 1812 in Teplitz traf. Er schrieb damals an seine Frau: „ ... Zusammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß" (LEITZMANN 1921, s. 138). Von Haydn übernahm Beethoven das Spiel, doch unter seinen Händen wurde daraus zugleich mehr als Spiel. Beethoven sprach öfter bei der Erklärung seiner Werke von dem Gegensatz zweier Prinzipe, der in seiner Musik ausgetragen werde (SCHINDLER 3/1860, 2. TI., S. 222). Schindler bemerkt dazu in den Konversationsheften: „ Tausende fassen das nicht!" (SCHüNEMANN 1943, S. 341). Vielleicht hat man es wirklich nicht genau erfaßt. Selbstverständlich finden wir in Beethovens Gesamtwerk die verschiedensten Prinzipe gegeneinandergestellt. Ein konkretes Beispiel für ein solches gegensätzliches Paar von Prinzipen im Sinne Beethovens sind die beiden Impulse unseres Themas, wie uns Schindler versichert, der mit Beethoven die Pathetique durchgenommen hat. Er schreibt, daß wir die beiden Prinzipe in diesem Seitenthema „in gedräng-

10

WOLFGANG OSTHOFF

ter Form sich neben einander wiederholt aussprechen" hören. Er fährt fort: „Selbst der vertrocknetste Clavierlehrer dürfte nicht anstehen diesem Satze eine besondere Bedeutung zuzuerkennen .. . " (SCHINDLER3/1860, 2.11., S. 361) 3 • Das Neue gegenüber Haydn liegt also nicht nur in der Verdichtung des Spiels, sondern auch in der Härtung der Impulse zu Prinzipen und in der damit verbundenen Profilierung der Impulse, in dem Auftreten von unverwechselbaren, gegensätzlichen Charakteren. So hat der Impuls in der tiefen Lage etwas Polterndes, Brutales an sich, in der hohen Lage etwas Klagendes, Flehendes, zwei gegensätzliche Prinzipe, die doch in der Einheit des Themas zusammengefaßt sind. Mit Prinzipen, Charakteren ist natürlicherweise Inhalt, Vorstellung, Bedeutung - wie Schindler sagt - verbunden, also etwas, das nicht in Musik als solcher liegt, sich aber mit ihr verbinden kann. Schon der Titel Sonate pathetique gibt davon einen Begriff. Nach den Worten des Grafen Waldstein sollte Beethoven aus Haydns Händen Mozarts Geist erhalten. Mozarts Geist ist schwerer zu fassen als das Spiel, das Verfahren, das Beethoven von Haydn lernte. Ich glaube in der Annahme nicht fehlzugehen, daß es die tieferen seelischen Töne Mozarts waren, die in Beethoven entsprechende Saiten zum Schwingen brachten. Z. B. liebte er besonders MOZARTs Klavierkonzert in der DonGiovanni-Tonart d-moll, zu dem er auch Solokadenzen schrieb. Es gibt Beethovensche Themen, die in ihrer schlanken Zeichnung und gedämpften Farbe eine innere und bisweilen auch äußere Verwandtschaft mit Mozart aufweisen, und zwar angefangen von den Bonner Klavierquartetten des Fünfzehnjährigen, in denen sich zuerst Beethovens Auseinandersetzung mit Mozart nachweisen läßt 4 • Was aber hat Beethoven in der angedeuteten Richtung Neues gebracht, über Mozart hinaus? Ich stelle zwei Sätze Mozarts und Beethovens einander gegenüber, die in der Tonart gleich und in Bewegung und Tonfolge ähnlich sind, beides frühe Kompositionen. Zunächst hören wir den Anfang des langsamen Satzes aus MOZARTs Serenade D-Dur KV 320, der sogenannten Posthorn-Serenade aus dem Jahre 1779 (Tonband-Beispiel Andantino, T. 1-14). Eine melancholische, ausdrucksstarke, überaus sensible und sprechende Musik, von der man gesagt hat, daß sie eine „impression funebre" (WYZEWA/SAINT-FOIX 1936, S. 163) hervorrufe. Und doch ist das alles eingefangen in abgezirkelten, auch gegensätzlichen Gesten, deren Vornehmheit darin besteht, daß sie nie bis zum äußersten gehen. Ich möchte sagen: der Schöpfer dieses Seelengesanges bezieht die Öffentlichkeit stets in den künstlerischen Vorgang mit ein, die Öffentlichkeit etwa im Sinne des damaligen Das forte in SCHINDLERs Notenbeispiel (3/1860, 2. TI., S. 359/60; dana ~h auch unser Notenbeispiel 2) für den unteren Impuls fehlt in allen Ausgaben der Sonate (das Autograph ist verschollen). Andererseits nennt SCHINDLER (3/1860, 1. Tl., S. 52) im Zusammenhang mit „der Nachlässigkeit wie auch Unsauberkeit" der Wiener Musikdruckereien gerade unsere Sonate: „So hat manz. B. in der Sonate pathitique den Abgang einer ansehnlichen Zahl von Vortragszeichen im ersten und zweiten Satz, wichtig für richtige Auffassung, nicht blas für Färbung, zu beklagen." Angesichts dieser Bemerkung und in Anbetracht der Tatsache, daß Schindler die Sonate bei Beethoven studiert hat, möchte ich das forte für den unteren Impuls als authentisch ansehen, zumal der Gegensatz der Prinzipe erst durch den dynamischen Gegensatz in voller Deutlichkeit hervortritt. Daß SCHINDLER die dynamischen Zeichen ganz bewußt bringt, zeigt seine Bemerkung (3/ 1860) 2. 11„ s. 241. 4 Vgl. insbesondere das Klavierquartett Es-Dur WoO 36, Nr. 1 und MOZARTs Violinsonate G-Dur KV 379 (373a) von 1781, dazu Ludwig SCHIEDERMAIR (1925) S. 290-293. 3

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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Theaters, der Oper. Bei aller Empfindungsstärke wahrt Mozart die überlegene und distanzierte Haltung des Dramatikers, des Dramaturgen. Hören wir dagegen den Anfang des langsamen Satzes aus BEETHOVENs Streichquartett F-Dur op. 18, Nr. 1 aus dem Jahre 1799 (Tonband-Beispiel Adagio molto, T. 1-9). Ein echter, unverwechselbarer langsamer Satz Beethovens, vor ihm undenkbar ebenso wie nach ihm. Auch hier bleibt die Geste beherrscht, auch hier wird Öffentlichkeit vorausgesetzt, aber Beethoven unterwirft sie seinem Ausdruckswillen. Von der spezifischen Theaterhaltung Mozarts entfernt sich Beethoven in Richtung auf eine unvermittelte Confessio, das zeigt sich übrigens auch in Teilen seiner einzigen Oper Fidelio. Mozart erschließt tiefere seelische Schichten als Haydn, doch auch seine Musik steht wie diejenige Haydns unter dem Gesetz des Spieltriebs. Beethoven knüpft an Haydn und Mozart an, doch beim Anhören seiner Musik stellen sich unabweisbar Bilder, Vorstellungen ein, konkrete Inhalte. Dies zeigt sich sehr deutlich im Musikschrifttum der damaligen Zeit, und die Exzesse in Form programmatischer Paraphrase und Hermeneutik sind uns allzu bekannt. Zu diesen Exzessen kam es aber gerade deshalb, weil man im fortschreitenden 19. Jahrhundert die konkrete Sprache der Beethovenschen Musik nicht mehr so verstand wie in der großen Zeit um 1800. BEETHOVEN selber äußerte sich 1823 dahingehend, „daß die Zeit, in welcher er die meisten Sonaten geschrieben, poetischer gewesen als die gegenwärtige, daher Angaben der Idee nicht nötig waren" (SCHINDLER 3/1860, 2. TI„ S. 222). Dann gibt er konkrete Beispiele für solche der Musik zugrundeliegenden Ideen, und in diesen Zusammenhang läßt sich auch unser Quartettsatz stellen. Dieses Quartett hatte BEETHOVEN dem ein Jahr jüngeren Karl Amenda gewidmet, „als ein kleines Denkmal unserer Freundschaft", wie er schrieb (THA YER 2/1910, S. 120 5 ). Von AMENDA erfuhr ein etwas späterer Musikschriftsteller die folgende Begebenheit: „A ls Beethoven sein bekanntes Streichquartett in F-Dur komponiert hatte, spielte er dem Freunde das herrliche Adagio vor und fragte ihn darauf, was er sich gedacht habe. Es hat mir, war die Antwort, den Abschied zweier Liebenden geschildert. Wohl, entgegnete Beethoven, ich habe mir dabei die Szene im Grabgewölbe aus Romeo und Julia gedacht" (THAYER 2/1910, S. 186 6 ). Das darf man nun um Himmels willen nicht so verstehen, als ob Beethoven die 3. Szene des 5. Aktes von Shakespeares Tragödie hier abkonterfeit hätte. Nur einige Bilder und Vorgänge lassen sich vielleicht identifizieren. Gegen Schluß des Satzes dürfte die dreimal auffahrende Gebärde Julias Entschluß zum Selbstmord und das folgende fortissimo den Stoß ihres Dolches andeuten. Danach verlöscht sie. Unter den Skizzen findet sich sogar ein Entwurf Beethovens mit den Worten: „Les derniers soupirs". Hören wir nach diesen Hinweisen den Schluß des Satzes (Tonband-Beispiel op. 18,1 Adagio, T. 95-110). Ich sprach von Ausdruckswillen, von Confessio, von außer- oder übermusikalischen Inhalten. Also beginnende Romantik? Setzen wir dagegen die programmatische Vertonung derselben Sterbeszene durch einen Romantiker in der dramatischen Symphonie Romeo et Juliette von Hector BERLIOZ aus dem Jahre 1839, zwölf Jahre nach Beet5

Abbildung in BORY (1960) S. 91 und LANDON (1970) S. 63 (Nr. 86]. 6 Die Skizze Les derniers soupirs bei NOTTEBOHM ( 188 7) S. 485 und bei ZOBELEY ( 1965) S. 42.

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WOLFGANG OSTHOFF

hovens Tod. Deutlich nimmt man die Verzweiflung, das Zücken des Dolches, das Zustechen wahr. Danach auch hier das Erlöschen und Verscheiden (Tonband-Beispiel der letzten 60 Takte des Allegro vivace ed appassionato assai aus Romeo et juliette). Auch das ist Ausdruckswille, nun aber nicht mehr gebändigt, d. h. in der Freiheit des Spiels erscheinend, sondern exzessiv als Selbstzweck, d. h. unter dem Zwang des Affektes. In der Formulierung SCHILLERs gibt uns Beethoven „eine schöne Kunst der Leidenschaft", während Berlioz nur „eine schöne leidenschaftliche Kunst" bietet 7 (22. Brief) • Die Geste wird bei Berlioz zum naturalistischen Ausbruch, die Sprache wird zum Schrei. Diese Musik sieht im Grunde genommen von Öffentlichkeit im alten Sinne ab. Die Welt mag über ihr zugrundegehen oder angesichts ihrer versinken. BERLIOZ berichtet über die Entstehung dieser Symphonie: „Ich traute mir die Kraft zu, zur Wunderinsel zu gelangen, wo sich der Tempel reiner Kunst erhebt" (1914, S. 248). Selbstherrlicher Zauber, fernab der Wirklichkeit, reine abgelöste Kunst als Religionsersatz - wie fremd ist das alles Beethoven. Mag sich die Romantik und die aus ihr hervorgehende Modeme in Details auf Beethoven berufen - nimmt man ihn als Ganzes zum Maßstab, so wird er unversehens zu ihrem Richter. Ich sprach anhand von Haydn, und das gilt auch für Mozart, von dem Spiel, das unter Beethovens Händen verdichtet, gehärtet und intensiviert zur Auseinandersetzung von Prinzipen wird. Das ist eine Modifizierung, Weiterentwicklung, dennoch bleibt die übergeordnete Haltung des Spiels, bleibt der Spieltrieb verbindlich für die ganze Wiener klassische Musik bis hin zu Beethovens letztem Streichquartett, sogar bis hin zu seiner letzten vollendeten Komposition, dem nachkomponierten Finalsatz von op. 130. Wir hörten, daß dieser Spieltrieb - in SCHILLERs ästhetisch-philosophischer Formulierung - dahin gerichtet ist, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren." Ich habe damit die Lösungen Haydns (in der Sinfonie) und Beethovens (in der Pathetique) in Zusammenhang gebracht, als eine Analogie, als eine Entsprechung. Wie aber wäre es möglich, die Zeit in der Zeit wirklich aufzuheben, Werden mit Sein zu vereinigen? Auf diese Frage ist damals parallellaufend sowohl von der deutschen Musik als auch von der deutschen Dichtung dieselbe Antwort gefunden worden: die Zeit wird in der Zeit aufgehoben, das Werden mit dem Sein vereinigt in der Fixierung des Augenblicks, des erfüllten Augenblicks. Ein solches Fixieren des Augenblicks läßt sich technisch-musikalisch bei Haydn, Mozart und Beethoven in zunehmendem Maße beobachten8 . Als dramatische Explikation dieser Idee darf man MOZARTs Don Giovanni ansehen 9 • Expressis verbis spricht sie 7

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Ich verkenne nicht die konstruktive Rolle, welche die Baßfolge B-F-C-G und das Intervall der kleinen Sekunde in der Episode von Berlioz spielen. Doch der konstruktive Aspekt bleibt gegenüber dem naturalistischen sekundär. Die Wiener klassische Musik fixiert den Augenblick in der mannigfaltigsten Weise, es gibt dafür kein Modell oder Schema, die in diesem Vortrag angeführten Stellen sind nur paradigmatisch zu verstehen.

Zum „Augenblick" bei Mozart s. GEORGIADES (1956) S. 103 ff. (über das Terzett „Soll ich dich, Teurer, nicht mehr sehn? "aus der Zauberflöte). Vgl. aus der Zauberflöte ferner die Stelle „Ihr Götter. welch ein Augenblick" im 2. Finale (nach der Wasser- und Feuerprobe) sowie aus den Nozze di Figaro die Trio-Stelle „Da questo momento" im Finale des 2. Aktes (dazu W. OSTHOFF in Vorb.) und Susannas „ Giurue alfin il momento" aus dem 4. Akt. - Als Gegenbeispiel

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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BEETHOVEN auf dem Höhepunkt seines Fidelio aus 10 • Der Gouverneur des Gefängnisses, Pizarro, ist als Bösewicht entlarvt. Der Minister fordert den Kerkermeister Rocco auf, dem edlen Florestan die Ketten abzunehmen. Plötzlich aber besinnt er sich, hält ein und wendet sich an Florestans Frau Leonore, der die Rettung zu verdanken ist: „Doch halt! - Euch, edle Frau, allein, /Euch ziemt es, ganz ihn zu befrein." Leonore schließt „in größter Bewegung" die Ketten auf, Florestan sinkt in ihre Arme, sie aber bringt nur die Worte hervor: „0 Gott! o Gott! welch ein Augenblick!" Notenbeispiel 3 Ohot·

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Für einen Augenblick scheint die Zeit still zu stehn, für einen Augenblick ist die Zeit in der Zeit aufgehoben, das Werden mit dem Sein vereinigt. In diesem Augenblick der Erfüllung und Gnade ist wie in einem Brennpunkt das ganze Drama konzentriert: Opfer, Tat und Sieg Leonorens. Musikalisch, von der musikalischen Deklamation des Textes her, läßt sich dieser Brennpunkt innerhalb der Stelle, die wir gehört haben, noch präziser lokalisieren: er fällt genau mit dem Aussprechen des Wortes „Augenblick" zusammen. Daß Beethoven mit dieser Stelle gerungen hat, ließe sich an den beiden frühen Fassungen der Oper von 1805 und 1806 zeigen. Die gültige Realisation gelang ihm erst in der definitiven Fassung von 1814. Wieder ist es in erster Linie der Rhythmus, dieses „Nothw endigs te zur Verständigung der Musik " - wie SCHINDLER als Echo die Meinung Beethovens wiedergibt - , der Rhythmus also, der diese gültige Realisation bewirkt. Der zugrundeliegende Vers des Textbuches hieß: „0 Gott, o welch ein Augenblick " . Dieser leiernde Vers erlaubte es Beethoven nicht, seine Konzeption dieser Stelle zu verwirklichen. Seine Konzeption besteht in einer wachsenden Intensivierung, rhythmisch gesprochen: in einer stetigen Verbreiterung der Ansätze. Deshalb ändert Heethoven den Text. Er bringt nun zweimal das „0 Gott" und läßt dafür das „o" vor „welch" fort. Das ermöglicht ihm folgende Intensivierung: das erste „0 Gott" versieht er mit kurzem Auftakt (Achtelauftakt), das zweite „0 Gott" versieht er mit langem Auftakt (Viertelauftakt); „welch ein" kann er jetzt als ganz breiten Ansatz bringen, d. h. nicht mehr auftaktig (wie die vorangehenden Glieder), sondern abtaktig, und dieser breite Ansatz mündet in den beinahe gesprochenen „Augenblick". Dieser Intensivierung entspricht auch die Melodieführung der Stelle: die Schritte der einzelnen Anvgl. das gefühls- und stimmungsmäßige Auskosten, aber nicht Fixieren des Augenblicks im Duett Komponist-Zerbinetta aus dem Vorspiel der Ariadne auf Naxos von Richard STRAUSS. 10 Man kann Leonorens Fixieren des erfüllten Augenblicks im 2. Akt zu Pizarros (vergeblichem) Erhaschen des erfüllten Augenblicks im 1. Akt („Ha, welch ein Augenblick") in dramatischer Beziehung sehen.

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WOLFGANG OSTHOFF

sätze werden immer weiter, und bei dem Abtakt kehrt sich die Richtung der Melodie um. Wir wollen die Stelle noch einmal in dieser Weise hören (Tonband-Beispiel Fidelio, Sostenuto, T. 1-10). Ich sagte, daß sich ein solches Fixieren des Augenblicks bei den Wiener Klassikern in zunehmendem Maße beobachten läßt, es gilt also genauso für die Instrumentalmusik. Auch nw ein Beispiel von Beethoven hierfür zu explizieren, würde viel zu weit führen. Stattdessen zitiere ich eine literarische Spiegelung dessen, was innerhalb eines Beethovenschen Satzes vor sich geht. Die folgenden Worte Beethovens berichtet Bettina BRENTANO in einem Brief vom 28. Mai 1810. Mag einiges in Stil und Ausdruck auf Rechnung der phantasievollen Bettina gehen, im Kern ist das Zeugnis echt. BEETHOVEN sagt also (LEITZMANN 1921, S. 120): „Da muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeisterung die Melodie nach allen Seiten hin ausladen. Ich verfolge sie, hole sie mit Leidenschaft wieder ein, ich sehe sie dahinfliehen, in der Masse verschiedener Aufregungen verschwinden; bald erfasse ich sie mit erneuter Leidenschaft, ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß mit raschem Entzücken in allen Modulationen sie vervielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphiere ich über den ersten musikalischen Gedanken. Sehen Sie, das ist eine Symphonie ... " 11 • Dieser Triumph im letzten Augenblick, meistens kurz vor dem Ende eines Satzes, faßt den Vorgang innerhalb des Satzes wie in einem Brennpunkt zusammen, er entspricht dem erfüllten Augenblick in unserm Sinne. Der Brief Bettinas ist an Goethe gerichtet. An GOETHE, der seinerseits im Faust die Fixierung des Augenblicks zum Hauptmotiv machte: „Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zu Grunde gehn! Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!" (Faust l, V. 1699 ff.) Daß wir uns mit einem Zitat aus Faust in Beethoven-Nähe befinden, läßt sich mit einem Ausspruch BEETHOVENs vom April 1823 belegen: „ist diese periode vorbej, so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist - Faust" (SCHÜNEMANN 1943, S. 149). Doch dazu ist es nicht gekommen. Der eigentliche erfüllte Augenblick erscheint erst im zweiten Teil des Faust: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem G1und mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Aeonen untergehn. -"(Faust II, V. 11576 ff.) 11

Vgl. als Verdeutlichung etwa die der Zeit dieses Zitates nächstgelegene Symphonie, die 7., 1. Satz, T. 391 ff. (Triumphieren über den ersten musikalischen Gedanken im letzten Augenblick).

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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Nun soll der Augenblick verweilen, soll die Zeit in der Zeit aufgehoben werden. Für den sterblichen Menschen bedeutet das den Tod, doch für das Gedächtnis wird dieser Augenblick zu einem Ewigen Augenblick 12 • Denn er ist nun mit Sinn erfüllt, und zwar mit einem allgemeinen, verbindlichen Sinn. Für Goethe-Faust liegt der Sinn dieses Augenblickes darin, auf freiem Grund mit freiem Volke zu stehn. Enthält Beethovens Augenblick im Fidelio einen Sinn über die spezielle Handlung dieser Oper, über das persönliche Schicksal ihrer Helden hinaus? Die Melodie des Orchesters, zuerst von der Oboe angestimmt, vermittelt uns in ihrer zarten Eindringlichkeit den allgemeinen, verbindlichen Sinn. Hören wir die Melodie ein letztes Mal (Tonband-Beispiel). Wie aber läßt sich dieser allgemeine Sinn fassen? In diesem Falle besitzen wir den Schlüssel dazu, denn Beethoven hat die Melodie schon in Bonn verwendet, und zwar für eine Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II., im Jahre 1790. In der Kantate wird berichtet, wie Joseph dem Fanatismus aufs Haupt trat (Nr. 2 der Kantate). Darauf folgt eine Arie mit unserer Melodie zu dem Text: „Da stiegen die Menschen, die Menschen ans Licht Da drehte sich glücklicher die Erd um die Sonne Und die Sonne wärmte mit Strahlen der Gottheit." Menschlichkeit, Erleuchtung, Aufklärung, Glück unter dem wärmenden Strahl der Gottheit - die Ideen, gewiß die zeitbedingten Ideen, von 1 790. Was aber von diesen Ideen, wenn wir von ihren zeitbedingten Hüllen absehen, in Beethoven zentrale Kräfte seiner Kunst und Menschlichkeit freisetzte, erfahren wir im Fidelio, wenn Beethoven seine frühe Melodie mit der Erfüllung im höchsten Augenblick verbindet: die Befreiung des Menschen. Wieder erhebt sich die Frage, ob Beethoven mit einer so modernen Idee nicht eher zur Neuzeit gehört als zu der Welt, die sich musikalisch in Haydn und Mozart erfüllt. Diese Frage wäre zu bejahen, wenn bei Beethoven die Idee zum weltverbessernden Programm würde, d. h. wenn er dem freien Spiel seiner künstlerisch-menschlichen Kräfte um einer bestimmten Tendenz willen Fesseln anlegte, die Freiheit beschnitte. Um es in der Sprache SCHILLERs zu sagen: ein Widerspruch in sich selber wäre der Begriff einer „lehrenden {didaktischen) oder bessernden {moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben" (2 2. Brief). Wie steht es also damit bei Beethoven, und um die Frage auf ihren problematischen Punkt zuzuspitzen: wie steht es damit beim späten Beethoven? Wir sahen, daß Beethoven den Spieltrieb, den klassischen Spieltrieb, im Sinne Haydns und Mozarts betätigte. Wir sahen, daß es ihm - wie Haydn, wie Mozart - damit gelang, Veränderung mit Identität zu vercinbareu. Wir sahen, wie er mit der Fixierung des Augenblickes, dem er einen Sinn gab, die Zeit in der Zeit aufhob. Was aber ist dieser Augenblick? Faust will ihn halten, will die Zeit zum Stillstand bringen. Das bedeutet seinen Tod, doch GOETHE lehrt uns, was über den Tod des sterblichen Menschen hinaus von diesem Augenblick weiterwirkt: 12

Vgl. vom andern Pol der klassischen deutschen Dichtung her Jean PAUL: „ ... an der seligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick" (Titan, 2. Zykel).

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„Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Aeonen untergehn." Der erfüllte Augenblick strahlt also aus in die Zukunft. So auch der erfüllte Augenblick im Fidelio. Florestans Befreiung durch Leonore führt zu dem verallgemeinernden Schlußhymnus „ Wer ein holdes Weib errungen, /Stimm in unsern Jubel ein". Das ist nicht mehr primär die auf dem alten Theater am Schluß der Vorstellung übliche Wendung ad spectatores, an das reale gegenwärtige Publikum, sondern hier wird die Menschheit angesprochen, und zwar mehr noch eine zukünftige als die gegenwärtige Menschheit. Es schwingt aber noch mehr mit als der in diesem Schlußhymnus ausgesprochene Gedanke. Am Text des Fidelio haben im Lauf der Jahre bis zu seiner endgültigen Fassung drei Autoren gearbeitet. Doch von keinem der drei stammt der Anfan~ dieses Textes. Seine beiden ersten Verse stammen vielmehr aus SCHILLERs Ode an die Freude 13 • Ich zitiere die betreffende Strophe: „Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja - wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wers nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund." Nicht eheliche Liebe und Treue allein wird gepriesen, sondern der Bund des Menschen mit dem Menschen schlechthin. BEETHOVEN verkündet diese Botschaft der Brüderlichkeit ausdrücklich in der 9. Symphonie, die 9. Symphonie endet mit dieser Botschaft. Sie richtet sich noch mehr an die kommenden als an die gegenwärtigen Menschen: „Alle Menschen werden Brüder" heißt es in der Ode an die Freude, und später - von Beethoven nicht komponiert-: „Duldet mutig, Millionen! Duldet für die bessre Welt." Die Verheißung hat etwas Imperativisches an sich, sie äußert sich sogar mit militanter Gewalt: „Froh, wie seine Sonnen fliegen Durch des Himmels prächtgen Plan Laufet, Brüder, eure Bahn, Freudig, wie ein Held zum Siegen."

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Bisher, so weit ich sehe, nicht bemerkt.

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Beethoven unterstreicht in der 9. Symphonie den militanten Charakter dieser Stelle noch, indem er das Orchester sozusagen in eine Militärkapelle verwandelt, in eine türkische Musik, wie man es damals nannte: Bläser und dreifaches Schlagzeug (Triangel, Becken und Große Trommel). Die Streicher fungieren nur als Echo und als Verstärkung in den letzten Takten der Episode (Tonband-Beispiel 9. Symphonie, Finale, Alla Marcia). Es zittert etwas vom Elan der Revolutionstruppen in dieser Musik, zugleich weckt der gleichsam orientalische Überschwang der „türkischen Musik" Bilder von Dionysos- und Alexanderzügen in unserer Phantasie. Und das ist gar nicht abwegig, denn wir wissen, daß Beethoven eine geplante 10. Symphonie mit einer Feier des Bachus abschließen wollte (THAYER 1908, S. 19, Anm. 3) 14 • Wie dem auch sei, die Musik ist von jenem Beethovenschen Ethos getragen und beschwingt, das wir mit den Worten „Befreiung des Menschen" umschrieben. Doch was ist mit der Befreiung des Menschen gemeint? Was bedeutet diese geforderte Freiheit? Nach SCHILLERs Briefen über die ästhetische Erz iehung des Menschen (19. Brief) ist es die Freiheit, mit deren Hilfe der Mensch seine von der Natur angelegte Menschheit behauptet. D. h. die Freiheit der Wahl und die Freiheit des Ausgleichs zwischen seinen beiden Grundtrieben, dem sinnlichen und dem vernünftigen. Die beiden Oratorienpläne aus Beethovens letzter Lebenszeit (1826) bestätigen diesen Freiheitsbegriff. Das eine Oratorium sollte den Titel Die Elemente erhalten und „ein reges Lebensgemälde des Menschen werden, der Kind und Sklave und Herr der Elemente ist". Das zweite Oratorium sollte, angeregt von Händel, Saul heißen und „den Sieg der edleren Kräfte über wilde Begierden" darstellen (THAYER 1908, S. 326/27). Ein solcher aus Freiheit und in Freiheit gewonnener Sieg darf aber nach SCHILLER weder „die Mannigfaltigkeit der Natur" noch „die moralische Einheit" der Vernunft verletzen. Er fordert daher „ Totalität des Charakters". Die „ Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen" (4. Brief). Aus der geforderten Totalität des Charakters ergeben sich für den Menschen zwei weitere, entgegengesetzte Forderungen, zwei Fundamentalgesetze: „Das erste dringt auf absolute R eali tä t: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: er soll alles Innre veräußern und alles A'ußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriffe der Gottheit . .. " ( 11. Brief). Freiheit ist also ein Akt der Selbstverwirklichung des Menschen als Mensch. Allerdings ein Akt, der nur im Beschreiten dieses Weges zu vollbringen ist, niemals als ein Erreichen des Zieles. Dies bleibt der Gottheit vorbehalten. Befreiung des Menschen ist also, so gesehen, sein übergang, sein nie ganz vollzogener übergang, hin zur Gottheit. Wir dürfen einen solchen Freiheitsbegriff auch für Beethoven in Anspruch nehmen. Befreiung des Menschen als übergang zum Göttlichen hin, eine in die Zukunft weisende Aufgabe, zu realisieren in evolutionärem oder revolutionärem Elan, wie wir ihn an der 14

1815/16 befaßte sich Beethoven mit dem Plan einer „Bachus"-Opcr, vgl. THAYER (2/1911) S. 50 l ff. und 55 7.

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Musik der 9. Symphonie empfanden. Doch das ist nur der eine Aspekt dieses Beethovenschen Ethos, und ihn allein zu betonen, hieße Beethoven teilhaft sehen, hieße Beethoven verfälschen. Sein Befreiungsethos führt ihn ebenso und in derselben Spätzeit zu der demütigen Bitte „dona nobis pacem" in der Missa Solemnis. Diese Bitte um innern und äußern Frieden, wie er den betreffenden Teil seiner Messe überschreibt, ist gegründet wiederum auf einem Ubergang zum Göttlichen hin, hier aber Übergang nicht als für die Zukunft verheißener Sieg des Menschen, sondern als das einmal vollzogene und immer wieder vollziehbare Wunder der Wandlung von Materie in göttliche Substanz. In den großen zusammenhängenden Kompositionen der Messe, welche die Jahrhunderte hervorgebracht haben, ist dieser Vorgang der Wandlung, dieser erfüllte Augenblick des Mysteriums, nicht ausdrücklich in Musik gesetzt worden 15 • Beethoven steht am Ende der unangefochten christlichen Jahrhunderte, aber getragen von ihrem Geist und ihrer Glut und der Macht ihrer Geschichte vermag er, in der Missa Solemnis eine Zusammenfassung zu geben, in die auch die Umschreibung des Geheimnisses hineingenommen ist: eine von der verbindlichen Haltung des ganzen Messenwerkes getragene spezifische Wandlungsmusik (Tonband-Beispiel Missa Solemnis, Praeludium vor dem Benedictus). 9. Symphonie und Missa Solemnis: erst beides zusammengenommen ist Beethovens Botschaft. Der Sieg des erfüllten Augenblicks und die Gnade des erfüllten Augenblicks. So greift dessen Gegenwart aus, in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit 16 • „Doch Vergangenes ist, wie Künftiges, heilig den Sängern," sagt der im selben Jahr 17 geborene HÖLDERLIN (Elegie Stuttgart 3, 17) • Wenn Bach zu Recht als verbindliche abschließende Zusammenfassung eines Erbes von Jahrhunderten aufgefaßt wird, wenn Mozart eine Gegenwart zu verewigen scheint und wenn später - nach dem Wort Richard WAGNERs - der Künstler der Gegenwart der „Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist" (3/1898, S. 229, Schluß), so könnte Beethovens Einzigartigkeit darin gesehen werden, daß er, indem er Gegenwart fixiert, zugleich Zukunft (vgl. hierzu W. OSTHOFF 1970) und Vergangenheit einbezieht: das Ethos der Freiheit und das geschichtliche Gedächtnis. Gerade deshalb werden Sie nun zum Schluß nicht von mir erwarten, daß ich mich auf jene selbstgefällige, nur-gegenwartsbezogene Frage einlasse: Was hat Beethoven uns im Jahre 1970 zu sagen? Wie besteht er vor uns? Im 200.Jahre seiner Geburt scheint es mir angemessener zu sein, diese Frage umzukehren. Ein solches Gedenkjahr hätte dann seinen Sinn, wenn jeder von uns sich fragte und wenn wir alle uns fragten: Was haben wir angesichts von Beethoven zu sagen, und wie bestehen wir vor ihm? 15

Gesonderte Musik zur oder nach der Wandlung, wenn überhaupt zugelassen, konnte aus eucharistischen Motetten oder Instrumental-, vor allem Orgelstücken bestehen, die aber nicht zum Werkganzen einer Meßkomposition gehörten (vgl. zur Praxis seit dem 1 7. Jahrhundert BONT A 1969, S. 54-84, und zu Beethoven KIRKENDALE 1970, S. 687 /688). Im normalen Ordinarium-MissaeZyklus konnte das Benedictus nach der Wandlung erklingen. 16 Zu einer derartigen Deutung der Wandlung in der Messe vgl. HILLARD (1966) S. 15. 17

Vgl. in GOETHEs Vermächtnis: „Dann ist Vergangenheit beständig,/ Das Künftige voraus lebendig,/ Der Augenblick ist Ewigkeit."

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ZUSAMMENFASSUNG Der Würzburger Universitätsvortrag zeigt, wie Beethoven von Haydn lernte, seiner Musik durch Handhabung von Rhythmus und Metrum Vorgangscharakter zu verleihen. Haydns Spieltrieb, der im Sinne Schillers dahin tendiert, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität" zu vereinen, verdichtet sich bei Beethoven zum musikalisch ausgetragenen Gegensatz zweier Prinzipe (Beispiel op. 13). - Beethoven nimmt Mozarts tiefere seelische Töne auf und erfüllt sie mit konkreten Vorstellungen (Beispiel op. 18, 1 Adagio). Die Romantik steht dagegen unter dem Zwang des Affekts und führt zum Naturalismus (Beispiel Berlioz „Romeo et Juliette"). - „Die Zeit in der Zeit" wird in der klassischen deutschen Dichtung (Faust) und Musik durch die Fixierung des erfüllten Augenblicks aufgehoben (Fidelio 2. Finale), der sich mit verbindlichem Sinn erfüllt: Befreiung des Menschen. Diese Zukunftsvision wird im Finale der 9. Symphonie sogar militant verkündet (Alla Marcia). Befreiung des Menschen ist aber nicht vordergründig zu verstehn, da sie sein - nie ganz vollzogener - Übergang hin zur Gottheit ist. Deshalb tritt Wandlung und Friedensbitte der Missa Solemnis gleichgewichtig neben die 9. Symphonie. In Gnade und Sieg des erfüllten Augenblicks bezieht Beethoven Vergangenheit und Zukunft mit ein: geschichtliches Gedächtnis und Ethos der Freiheit. Darin liegt seine Einzigartigkeit.

LITERATUR Berlioz, Hector: Lebenserinnerungen. Ins Deutsche übtr. und hrsg. von Dr. Hans Scholz. München. 1914 Bonta, Stephen: The Uses of the Sonata da Chiesa. 1969 In: JAMS 22, 54·84. Bory, Robert: Ludwig van Beethoven. Sein Leben und sein Werk in Bildern. Zürich. 1960 Fröhlich, Joseph: Sinfonie, mit Schlußchor über Schillers Ode: „An die Freude". 1828 In: Caecilia 8, II. 32, 231·256. ders.: Missa composita a Ludovico van Beethoven, Op. 123. In: Caccilia 9, H. 36, 27-45. 1828 Georgiades, Thrasybulos: Mozart und das Theater. 1956 In: Mozart, seine Welt und seine Wirkung. Augsburg. Hillard, Gustav: Das Recht auf Vergangenheit. 1966 In: Castrum Peregrini 75, 5-15. Kirkendalc, Warren: New Roads to Old ldcas in Becthoven's Missa Solemnis. 1970 In: Musical Quartcrly 56, 665-701. Köhler, Karl-Heinz und Grita Hcrre: Ludwig van Beethovens Konversationshefte. Bd. 5, H. 49-60. 1970 Hrsg. im Auftrag der Deutschen Staatsbibliothek Berlin von K.-H. K. und G. H. unter Mitw. von Peter Pötschner. Leipzig. Landon, II. C. Robbins: Beethoven. Sein Leben und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und 1970 Texten. Zürich. Lcitzmann, Albert: Ludwig van Beethoven. Berichte der Zeitgenossen, Briefe und persönliche Auf1921 zeichnungcn, gesammelt und crl. von A. L. Bd. 1. Leipzig.

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Nottebohm, Gustav: Zweite Beethoveniana. Leipzig. 1887 Osthoff, Wolfgang: „Haus in Bonn" - George und Beethoven. 1970 In: Castrum Peregrini 95, 5-29. ders.: Die Opera buffa. in Vorb. In: Gedenkschrift Leo Schrade. Bern. Schiedermair, Ludwig: Der junge Beethoven. Leipzig. 1925 Schindler, Anton: Biographie von Ludwig van Beethoven. Münster. 3/1860 Schünemann, Georg: Ludwig van Beethovens Konversationshefte. Im Auftrag der Preußischen 1943 Staatsbibliothek hrsg. von G. Sch. Bd. 3, H. 23-37. Berlin. Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Nach dem Original=Manuskript deutsch bearb. von Hermann Deiters. Revision ... von Hugo Riemann. Leipzig. Bd. 1. 3/ 191 7 Bd. 2. 2/1910 Bd. 3. 2/ 1911 Bd. 5. 1908 Wagner, Richard: Oper und Drama. 3/1898 In: Gesammelte Schriften und Dichtungen von R. W. Bd. 4. Leipzig. Wyzcwa, Theodore de et Georges de Saint-Foix: W.-A. Mozart. Sa vie musicale et son oeuvre. Bd. 3 1936 (von G. de Saint-Foix): Le grand voyage - L'installation aVienne (1777-1784). Paris. Zobeley, Fritz: Ludwig van Beethoven. Hamburg. 1965

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MISZELLEN ZUR MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS CARL DAHLHAUS

GUILIELMUS MONACHUS, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schrieb, unterscheidet in den Praecepta artis musicae (ed. 1965, Seay, S. 38-39) zwei Arten des Fauxbourdon, des Terz-Sext-Satzes mit Quint-Oktav-Klängen am Anfang und Schluß der Absätze. In der einen Art „beherrscht" der cantus firmus in verzierter Fassung den Sopran, in der anderen unverziert („sicut stat") den Tenor. Die Beschreibung des Fauxbourdon mit verziertem Sopran-cantus-firmus ist jedoch nicht unmißverständlich. In dem Exempel, das die Darstellung illustriert 1 , weichen Sopran und Tenor durch verschiedenes Maß an Kolorierung nicht unwesentlich voneinander ab. Notenbeispiel 1

Und es ist ungewiß und umstritten, ob der Contratenor, die nicht notierte Mittelstimme, sich melodisch und rhythmisch nach dem reich kolorierten Sopran oder nach dem einfacheren Tenor richtet. Manfred F. BUKOFZER machte es in dem Aufsatz Fauxbourdon Revisited (1952, S. 44) Heinrich BESSELER zum Vorwurf, daß er in Bourdon und Fauxbourdon (1950, S. 23) einen Satz des Guilielmus Monachus unvollständig zitiert und dadurch verzerrt habe. Das Satzfragment, auf das sich Besseler beschränkte: „Contra vero dicitur sicut supranus, accipiendo quartam subtus supranum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 39), war geeignet, die These zu stützen, daß im kontinentalen Fauxbourdon der Sopran-cantus-firmus durch einen „Intervallkanon" des Contratenors in der Unterquarte verdoppelt worden sei, daß also der Contratenor sich am Sopran und nicht am Tenor orientiert habe (BESSELER 1950, S. 16 f.). Die Fortsetzung des Zitats: „quae [sc. quarta] venit esse quinta et tertia supra tenorem" (Quinte am Anfang und Schluß, Terz in der Mitte der Absätze), bezieht jedoch, in scheinbarem Widerspruch zum ersten Teil des Satzt>s, den Contratenor auf den Tenor statt auf den Sopran. Und aus der Anlehnung an den gering1 Daß

das Beispiel, das der Beschreibung des Fauxbourdon mit Tenor-cantus-firmus folgt, zur Beschreibung des Fauxbourdon mit Sopran-cantus-firmus gehört, ist von Jacques HANDSCHIN ( 1949, S. 145 ff.) gezeigt worden.

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fügig verzierten Tenor resultiert eine andere Stimmführung als aus der Quartverdoppelung des reich kolorierten Soprans 2 • (BUKOFZER scheint übrigens 1952 vergessen zu haben, daß er selbst es war, der anderthalb Jahrzehnte früher als erster das fragmentarische Guilielmus-Zitat benutzte, um zu beweisen, daß der „Contratenor dem Sopran sklavisch angeglichen" (1936, S. 7 8) worden sei.) An der Zusammengehörigkeit der beiden Teile des Satzes ist um so weniger zu zweifeln, als es sich um die Wiederholung oder Zusammenfassung einer früheren Beschreibung des gleichen Sachverhalts handelt. Die Parallelstelle lautet: „Contratenor vero debet tenere dictum modum suprani; sed ( nota] quod habeat pro consonantiis tertiam et quintam altas, hoc est, primam quintam, reliquas tertias; ultimus vero finis concordiarum sit quinta, ut patebit per exemplum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Auch diese zweite Stelle ist jedoch, nicht anders als die erste, zerteilt worden. Edmond de Coussemaker las „sed quando habeat . . . " (GUILIELMUS ed. 1869, Coussemaker, 292 b) statt „sed quod habeat ... ". Und auf Coussemakers Textfassung stützte Brian TROWELL (1959, S. 66) die Behauptung, im zweiten Teil des Satzes („sed quando habeat . . . ") sei der Supranus und nicht der Contratenor gemeint. Der Satz sei als Parallele zum unmittelbar vorausgehenden zu verstehen 3 : „ . .. sed quando [Seay: quod] habeat supranus pro consonantiis primam, octal)am et reliquas sextas, et in fine concordiarum sit octava, hoc est, habeat sex et octo pro consonantiis supra tenorem, (Seay: Punkt statt Komma] contratenor vero debet tenere dictum modum suprani; sed quando (Seay: quod] habeat pro consonantiis tertiam et quintam altas, hoc est primam, quintam, reliquas tertias; ultimus vero finis concordiarum sit quinta, ut patebit per exemplum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Trowell konstruiert einen Parallelismus membrorum („sed quando ... sed quando ... ")mit dem Supranus als Subjekt, und er meint, der Supranus werde im ersten Absatz als Oberstimmen-cantus-firmus, im zweiten als Mittelstimmen-cantus-firmus beschrieben. Guilielmus denke also zunächst an den kontinentalen Fauxbourdon, dann an den englischen J?aburden, die Improvisation von Außenstimmen zu einem Mittelstimmen-cantus-firmus. Trowells Hypothese ist jedoch brüchig. Denn erstens wäre es, wenn sie zuträfe, unverständlich, warum Guilielmus von einem „supranus" statt von einem „cantus firmus" spricht, wenn er eine vorgegebene Melodie meint, die in einem Modus des Fauxbourdon als Oberstimme und im anderen als Mittelstimme erscheint. Zweitens kann man Guilielmus schwerlich unterstellen, daß er in den zitierten Sätzen zwei Arten des Fauxbourdon unterscheiden wollte, aber den Sachverhalt nicht unmißverständlich zu formulieren verstand; denn im nächsten Abschnitt ist ausdrücklich von einem anderen Modus des Fauxbourdon die Rede („Modus autem istius 2

HANDSCHIN (1949, S. 148) meinte darum: „Es erscheint mir daher nicht unmöglich, daß dem Praktiker eine gewisse Latitüde zwischen Quartenparallelen unter dem ausgezierten Sopran und Terzen über dem nicht ausgezierten Tenor gelassen wurde". Handschins Urteil ist salomonisch, aber, wie es scheint, nicht triftig.

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TROWELL ( 1959, S. 66): „Surely the parallel construction ,sed quando . .. vero .. . sed quando ... vero' and the use of the subjunctive mood imply a balanced contrast, with ,supranus' as the subject in each case". Das zweite „vcro" bezieht sich allerdings nicht auf eine andere Stimme, sondern auf eine andere Konsonanz derselben Stimme, so daßTrowells Konstruktion auch in sich nicht so „balanced" ist, wie er meint.

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faulxbordon aliter passet assumi apud nos . . . "). Drittens wurde die Parallelstelle, der von Bukofzer und Besseler fragmentierte Satz, von Trowell übersehen oder vernachlässigt. Und viertens ist das Wort „quod" (statt Coussemakers „quando") in Seays Lesung des Textes - einer Lesung, an der Trowells Interpretation scheitert durchaus einleuchtend. Zu ergänzen wäre das Wort „nota": „ ... sed nota quod ... " (Die Verkürzung von „nota quod" zu „quod" findet sich bei GUILIELMUS (ed. 1965, Seay, S. 30) auch an anderer Stelle: „Contra vero accipiat unisonum et ex consequenti quintam, tertiam, octavam, tertiam bassam, et quod penultima sit semper quinta".) Ist demnach Trowells Auslegung hinfällig oder mindestens fragwürdig, so muß auch der analoge, von Bukofzer und Besseler amputierte Satz als unteilbar begriffen werden. Und die fragmentarische Zitierung ist nicht nur philologisch illegitim, sondern sogar überflüssig, sofern es sich darum handelt, die These von der „sklavischen Angleichung" des Contratenors an den Sopran zu stützen 4 • Auch der unverkürzte Text läßt die Interpretation zu, die Bukofzer und Besseler einzig dem verkürzten geben zu können glaubten. Die Vorstellung, daß sich der Contratenor zugleich an dem reich kolorierten Sopran und an dem wenig verzierten Tenor orientiere, ist allerdings zunächst verwirrend. Und um die Schwierigkeiten zu lösen, muß man sie häufen. Außer dem Contratenor wird auch der Sopran, obwohl er Cantus firmus, also die Voraussetzung der Komposition ist, auf den Tenor bezogen, als sei er eine abhängige Stimme: „ ... sed quod habeat supranus pro consonantiis primam octavam et reliquas sextas, et in fine concordiarum sit octava, hoc est, habeat sex et octo pro consonantiis supra tenorem" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Die Ungleichheit der Stimmen, die Differenz zwischen paraphrasiertem Sopran und einfachem Tenor, hindert Guilielmus nicht, von Sexten und Oktaven zu sprechen, als handelte es sich um einen Satz Note gegen Note. Er beschreibt, wenn er die kontrapunktische Beziehung des Soprans zum Tenor zu charakterisieren versucht, also nicht die kolorierte Fassung der Komposition, sondern den Gerüstsatz. Und kontrapunktisch stützt sich der Sopran auf den Tenor, obwohl er genetisch die erste Stimme ist. Analog aber ist die doppelte Bestimmung des Contratenors zu verstehen. Mit den Quinten und Terzen über dem Tenor, die der Contratenor „pro consonantiis" hat, meint Guilielmus das Konsonanzengerüst des Tonsatzes. Und daß die Gerüsttöne des Contratenors auf den Tenor bezogen sind, der kontrapunktisch das Fundament der Komposition bildet, schließt nicht aus, daß sich die melodisch-rhythmische Auszierung des Contratenors am Vorbild, am „modus" des Soprans orientiert: „Contratenor vero debet tenere dictum modum suprani" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Mit dem „dictus modus suprani" kann nichts anderes gemeint sein als die rhythmisch-melodische Präparierung des Soprans, die Guilielmus in den unmittelbar vorausgegangenen Abschnitten beschrieben hat: Die Mensur ist dreizeitig (vgl. TRUMBLE 1959, S. 63), die erste Note des Cantus firmus wird auf das Doppelte der übrigen gedehnt, eine Tonwiederholung im Cantus firmus wird durch einen „ transitus sive passagium" verdeckt (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). 4

Die These ist von Erncst TRUMBLE ( 1959, S. 17 f.) aufgegriffen worden.

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Guilielmus unterscheidet demnach die melodische Beziehung der Stimmen von der kontrapunktisch-klanglichen. Melodisch ist der Contratenor vom Sopran abhängig, den er, nach Besselers Auslegung des Sachverhalts, in einem Unterquartkanon verdoppelt. Kontrapunktisch-klanglich aber stützt er sich auf den Tenor, der zwar nicht mehr Fundament im doppelten Sinne - cantus prius factus und kontrapunktische Bezugsstimme -, aber immer noch „Klangträger" ist. Und analog zum Contratenor beschreibt Guilielmus auch den Sopran. In dem Konsonanzengerüst, das Sopran und Tenor bilden, erscheint der Tenor als Stütze und der Sopran als abhängige Stimme („ ... sed quod habeat supranus pro consonantiis primam octavam et reliquas sextas ... "); melodischrhythmisch aber präsentiert sich der Sopran, der cantus firmus, als primäre Stimme, nach der sich der Contratenor richtet: „Modus" und „ordinatio" des Soprans werden vom Contratenor nachgezeichnet. Die Unterscheidung zwischen dem melodischen und dem kontrapunktisch-klanglichen Moment des Zusammenhangs zwischen den Stimmen bedeutet, daß die Quarten des Contratenors von Guilielmus eher unter melodischem Aspekt - als Verdoppelung der Sopranmelodie - als unter klanglich-kontrapunktischem gesehen werden. Und nichts anderes besagt Besselers Interpretation als „Intervallkanon" ohne Zeitabstand der Stimmen: eine Interpretation, für die demnach das unverkürzte Guilielmus-Zitat eine festere Stütze bildet als das verkürzte, das Besseler heranzog.

II

Die Meinung, daß die Mensuralmusik des späten 15. Jahrhunderts, die durch die Generationen Ockeghems und Josquins geprägt worden ist, eine Musik ohne Schwerpunkte, mindestens ohne Nachdrucksakzente an den Tactusanfängen gewesen sei, ist zu einer communis opinio der Musikhistoriker geworden, die um so fester wurzelt, als sie dem Bedürfnis nach einfachen Antithesen zwischen älterer und neuerer Musik entgegenkommt. Der Tactus, der Nieder- und Aufschlag der Hand des Dirigenten, diente, so scheint es, der Orientierung der Sänger, ohne eine rhythmische Funktion, die Unterscheidung schwerer und leichter Zeiten, zu erfüllen. Er war, pointiert gesagt, ein Mittel der Aufführungspraxis ohne Relevanz für die kompositorische Struktur. Ein Einwand, der von der Dissonanztechnik ausgeht, liegt allerdings nahe. Die Regel, daß eine Durchgangs- oder Wechselnotendissonanz unbetont bleiben soll, daß sie also, sofern sie Minimendissonanz ist, ausschließlich auf die zweite Hälfte des Tactus alla Semibreve - der die Norm bildete - fallen darf, ist kaum verständlich, wenn man nicht voraussetzt, daß die erste Hälfte des Tactus als schwer oder auffällig und die zweite als leicht oder unauffällig empfunden wurde. Und es scheint demnach, als sei die schroffe Alternative zwischen akzentuierender Taktrhythmik und „schwebender" Mensuralrhythmik eine Verzerrung der geschichtlichen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die reich an Zwischenstufen ist. Die Extreme sind Konstruktionen von Idealtypen, und was zu beschreiben wäre, sind die Vermittlungen: das Maß an Abstufung schwerer und leichter Zeiten, das für die verschiedenen Epochen charakteristisch ist. So wenig die Differenzierung der ersten und zweiten Minima des Tactus alla Semibreve um 1500

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dazu berechtigt, von funktionaler Taktrhythmik im Sinne des 18. und 19. Jahrhunderts zu sprechen, so dogmatisch wäre es andererseits, den Ansatz zu einer Abstufung zu verleugnen, weil er nicht das ganze System impliziert. Der Zusammenhang zwischen Tactus und Dissonanztechnik ist von Johannes TINCTORIS (ed. 1876), dem repräsentativen Theoretiker der Ockeghem-Generation, 1477 im zweiten Buch des Liber de arte contrapuncti beschrieben worden. Und die Theorie des Tinctoris ist um so aufschlußreicher, als sie außer der problemlosen Norm auch einen so fragwürdigen Grenzfall wie den Sesquitactus umfaßt. Sesquitactus, Tactus in der Proportio sesquialtera, wurde das Verfahren genannt, einer dreizeitigen Mensur einen zweizeitigen Tactus aufzuzwingen. So wurde etwa in der Prolatio maior oder perfecta statt eines Tactus inaeQualis. dessen Niederschlag doppelt so lang wie der Aufschlag war (

eJ 6 6 6 6 6 ),

ein Tactus aequalis geschlagen, der sich über die • t J. t Grenzen der Prolatio hinwegsetzte ( eJ J J J 6 6 ). Der Tactus stand gleichsam quer zur Mensur. ~ t J. i J. i Nach Tinctoris umfaßt der Tactus - Terminus für den Tactus ist im Liber de arte contrapuncti entweder „mensurare" oder „mensuram dirigere" - in der Prolatio maior oder perfecta entweder (als Tactus inaequalis) die dreizeitige „semibrevis integra" oder (wenn die Prolatio maior augmentiert zu lesen ist, so daß die Minima die Dauer einer Semibrevis erhält) die Minima oder aber (nach dem Schema des Sesquitactus) zwei Minimen. Wird jedoch der Sesquitactus vorausgesetzt, so muß die dritte Minima der Prolatio maior, mit der ein zweiter Tactus beginnt, eine Konsonanz sein. „Subinde quoniam cantus maioris prolationis aliquando non secundum integram semibrevem, vel secundum minimam solam, sed secundum semibrevem imperfectam, hoc est duas minimas mensuratur ... , tune eo quod supra tertiam minimam semibrevis mensura dirigi incipiat, necesse est supra eam totam aut primam partem ipsius assumi concordantiam" (TINCTORIS ed. 1876, 142 b). Die Dissonanzbehandlung ist nach Tinctoris also vom Tactus abhängig, und zwar auch dann, wenn er die Mensur durchkreuzt. Der 'Tactus greift, statt ein bloßes Akzidens der Aufführungspraxis zu sein, in die Struktur der Komposition ein. Nicht anders als die Prolatio maior behandelt Tinctoris das Tempus perfectum diminutum. Die Proportio dupla (Proportio binaria), die Verkürzung der Zeitwerte auf die Hälfte, hat zur Folge, daß die dreizeitige Brevis des Tempus perfectum dem zweizeitigen Sesquitactus unterworfen wird. Und die dritte Semibrevis des Tempus muß, als Anfang des zweiten Tactus - der in der Diminution ein Tactus alla Breve ist -, eine Konsonanz sein ( 01 o o o o o o ). •t~iJ.t

„Si vero quamvis praedictarum notarum in proportione binaria constitutarum per naturam quantitatis cui subjicitur perfectam fuerit, ut brevis prolationis minoris, sed temporis perfecti in dupla ... , quia tune mensura non secundum totam ipsam notam, sed secundum duas eius partes tantum dirigitur, necessarium est ultimam eius partem tertiam totam aut partem primam ipsius esse concordantiam eo quod per eam mensurae directio incipiat" (TINCTORIS ed. 1876, 138 b). Das Exempel am Schluß des Kapitels illustriert die Regel:

26

CARL DAHLHAUS

Notenbeispiel 2

1

,.,+

-

Die Außenstimmen, der Diskant und der Contratenor, stehen im Tempus perfectum non diminutum, die Mittelstimme, der Tenor, im Tempus perfectum diminutum. Und die Dissonanz in der Mittelstimme, der relativ betonte Durchgang h, fällt auf die erste Semibrevis des Tempus, die aber die zweite, unauffällige Semibrevis des Tactus ist. Am deutlichsten ist von der Nachdrucksbedeutung des Tactus in einem Kapitel über Synkopierungen die Rede. Von der Brevis in der Proportio tripla schreibt Tinctoris: Ist sie dreizeitig - sei es durch Perfektion oder durch Augmentation - und geht ihr eine einzelne Semibrevis voraus, so muß der dritte Teil der Brevis, da er stärker als der zweite betont zu werden pflegt, entweder ganz oder mindestens zu Anfang konsonieren. Anders ausgedrückt: Ist eine Brevis im Tempus verschoben ( o ,;fo ). so ist die Grenze des Tempus, nicht die der Brevis für die Dissonanztechnik entscheidend. „Sed si ipsa nota perfecta vel augmentata sit sive per syncopam una minor eam

antecedat, sive non, quoniam tertia pars eius magis quam secunda exprimi soleat, haec supra se totam aut supra primam partem sui concordantiam postulat" (TINCTORIS ed. 1876, 140 a). So trivial der Sachverhalt ist, den Tinctoris beschreibt - daß der Anfang einer Perfectio, eines Tempus, konsonieren müsse, ist eine franconische Regel aus dem 13. Jahrhundert -, so auffällig ist die Begründung und Formulierung: Auf den Anfang des Tempus und Tactus (die in der Proportio tripla übereinstimmen) muß eine Konsonanz fallen, weil er einen Nachdrucksakzent trägt. Die Klarheit, mit der Tinctoris die Theorie des Tactus exponiert, bleibt allerdings nicht ungetrübt. An anderer Stelle vergleicht er die Dissonanzen mit den rhetorischen Figuren, mit denen sie die Eigenschaft teilen, geduldete und legitime Ausnahmen von der Regel - von den Normen der Grammatik und des Contrapunctus simplex - zu sein.

„ Verumtamen modis aliquando praedictis discordantiae parvae a musicis sicut figurae rationabiles a grammaticis ornatus necessitatisve causa assumi permittuntur. Ornatur enim cantus, quando fit ascensus vel descensus ab una concordantia ad aliam per media compatibilia, et per syncopas quae interdum sine discordantiis fieri non possunt. Quae quidem discordantiae parvae ita vehementer se non repraesentant auditui, quoniam supra ultimas partes notarum collocantur, ut si supra primas assumantur" (TINCTORIS ed. 1876, 144 b}. Die Dissonanz soll sich demnach, obwohl sie eine zulässige Abweichung, eine „figura rationabilis" ist, nicht aufdrängen und soll darum auf den zweiten

MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS

27

Teil einer Note fallen, der schwächer als der erste ist. Tinctoris erwähnt außer der Durchgangsdissonanz auch die Synkopendissonanz; und es scheint, als verwickelte er sich in einen Widerspruch. Notenbeispiel 3

Als Note, die dissoniert - der Begriff der dissonierenden Note ist allerdings, streng genommen, fragwürdig - , kann bei der Synkopendissonanz entweder die Unterstimme, welche die Dissonanz herbeiführt, oder die Oberstimme, durch die sie aufgelöst wird, bestimmt werden; und zwar tendierte TINCTORIS (ed. 18 76, 135 a) zur ersten Auffassung, die spätere Kontrapunkttheorie zur zweiten. Entweder fällt also die Dissonanz - als Unterstimmendissonanz - auf den ersten Teil der Note und drängt sich, entgegen dem Postulat des Tinctoris, dem Hörer auf. Oder der dissonierende zweite Teil der Note - die Oberstimmendissonanz - bildet den Anfang des Tactus und des Tempus; und wenn es als Rechtfertigung der Dissonanz gelten soll, daß der zweite Teil der Note schwächer als der erste ist, so entsteht ein Widerspruch zu der Vorstellung, daß der Tactusanfang einen Nachdrucksakzent trage: Die Synkopendissonanz kann nicht zugleich als zweiter Teil der Note unbetont und als erster Teil des Tactus betont sein. Der Widerspruch ist nicht anders auflösbar als durch die Annahme, daß Tinctoris einerseits, wie erwähnt, die Unterstimme, welche die Dissonanz herbeiführt, als dissonierend ansah, so daß die Dissonanz auf den Anfang sowohl der Note als auch des T'.lctus fällt, und daß er andererseits mit der Dissonanz, die dadurch gerechtfertigt sei, daß sie über dem zweiten, schwächeren Teil der Note erscheine, ausschließlich die Durchgangs- und nicht die Synkopendissonanz meinte.

III

Die Dissonanztechnik im „klassischen Kontrapunkt" des 16. Jahrhunderts beruht wenn man Nebenformen von geringer Bedeutung, wie die Antizipationsdissonanz und die Cambiata, vernachlässigt - auf der Unterscheidung zwischen zwei Dissonanztypen, die sich scharf voneinander abheben: Durchgangs- und Synkopendissonanz. Deren gemeinsame Merkmale sind, daß sie durch einen Sekundschritt aufgelöst werden müssen und daß die Dissonanz nicht Note gegen Note exponiert werden darf, sondern daß die eine Stimme einen Ton festhält, während die andere eine Dissonanz herbeiführt. Die Differenz zwischen Durchgangs- und Synkopendissonanz kann als Korrelation zwischen Stimmführung und Akzentuierung beschrieben werden: Eine Dissonanz auf unbetonter Zeit muß von derselben Stimme aufgelöst werden, durch die sie exponiert worden ist (Durchgangsdissonanz); dagegen wird eine Dissonanz auf betonter Zeit von der einen Stimme herbeigeführt und durch einen Sekundschritt der anderen aufgelöst (Synkopendissonanz).

28

CARL DAHLHAUS

Notenbeispiel 4

Ausgeschlossen ist also einerseits der unbetonte vorbereitete Vorhalt, andererseits der betonte Durchgang, der im 1 7. Jahrhundert, als das Dissonanzsystem des klassischen Kontrapunkts durchbrochen wurde, „Transitus inversus" genannt worden ist. (Eine Ausnahme von der Regel bildete im 16. Jahrhundert der relativ betonte Semiminimendurchgang, der jedoch auf eine bestimmte Kadenzformel beschränkt blieb.) Notenbeispiel 5

r

f

Die Unterscheidung der beiden Dissonanztypen bildete sich im 15. Jahrhundert im neuen Kontrapunkt der Generationen Dunstables und Dufays heraus; und der Grad an Deutlichkeit, in dem die Differenz ausgeprägt erscheint, ist charakteristisch für die Entwicklungsstufe einer Dissonanztheorie. Die unscheinbare Frage, ob der betonte Durchgang - und zwar als Dissonanz von der Dauer einer Minima - von Johannes Tinctoris erlaubt worden ist oder nicht, ist also keineswegs bedeutungslos; sie zielt auf nichts Geringeres als das fundierende Prinzip der Dissonanztechnik des 15. und 16. Jahrhunderts. Im zweiten Buch des Liber de arte contrapuncti erwähnt TINCTORIS (ed. 1876), daß fast alle neueren Komponisten und Kontrapunktimprovisatoren - zu den neueren Komponisten zählt er die Niederländer und Engländer der letzten vierzig Jahre vor 1477 - in der Prolatio maior, wenn der erste oder zweite Teil einer Minima konsoniert, und in der Prolatio minor sogar, wenn der erste oder zweite Teil einer Semibrevis konsoniert, über dem unmittelbar folgenden Teil eine Dissonanz gleichen oder geringeren Wertes setzen: „ . . . quod fere omnes recentiores, non solum compositores, verum

etiam super librum canentes tarn in prolatione maiori supra primam vel aliam partem minimae et in minori ultra hoc supra primam vel aliam etiam partem semibrevis posita concordantia, discordantiam eiusdem aut minoris notae supra sequentem immediate collocant" (135 a). Hugo RIEMANN (2/1920, S. 312) übersetzte „unmittelbar folgende Note" statt „unmittelbar folgender Teil", bezog also „sequentem" nicht auf „partem", sondern ergänzte das Wort „notam". Und die philologische Differenz ist, so geringfügig sie erscheint, sachlich nicht gleichgültig. Die Regel, daß in der Prolatio minor einer konsonierenden ersten Minima eine Dissonanz folgen dürfe, ist orthodox und problemlos. Die Dissonanz gleichen Wertes, wie Tinctoris sie nennt, ist der unbetonte Minimendurchgang ( C 6 6 ). die Dissonanz gerinK

geren Wertes der relativ betonte Semiminimendurchgang (

D

c 6 •. ). K

DK

Mißverständ-

29

MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS

lieh aber ist der Satz, daß in der Prolatio minor, wenn der zweite Teil (alia pars) einer Semibrevis konsoniere, der unmittelbar folgende Teil oder - nach Riemanns Übersetzung - die unmittelbar folgende Note dissonieren dürfe. Die unmittelbar folgende Note ist, so scheint es, nichts anderes als der Anfang der nächsten Semibrevis, und die Dissonanz, die entsteht, ist demnach - im Widerspruch zur Norm des klassischen Kontrapunkts - der betonte Minimendurchgang ( c ~ 6 6 6 ). K [) Die Vermutung, daß Tinctoris mit der betonten Minimendissonanz nicht die Durchgangs-, sondern die Synkopendissonanz meine, träfe ins Leere; die Synkopendissonanz behandelt er im zweiten Absatz des zitierten Kapitels, der vom ersten durch die Anfangsworte „e contra vero" scharf abgehoben ist. Die einzige Alternative zu der Hypothese, daß Tinctoris den betonten Minimendurchgang dulde und zu rechtfertigen versuche, wäre die Erklärung, daß er mit dem konsonierenden zweiten Teil der Semibrevis nicht die ganze zweite Minima, sondern deren Anfang meine und mit dem dissonierenden Teil, der folgt (pars sequens), nicht den Beginn der nächsten Semibrevis (die kein „Teil" der ersten Semibrevis ist), sondern die letzte Semiminima der ersten

( c J •• ). KD

TINCTORIS (ed. 1876, 145 b - 146 b), der nicht davor zurückscheute, Werke von Ockeghem und Busnois einer pedantisch strengen Zensur zu unterwerfen, tendierte zur Einschränkung und Reglementierung des Dissonanzengebrauchs: zu einer Restriktion, die im 15. Jahrhundert, anders als im 17. oder 19., nicht regressiv, sondern progressiv war und als Moment der Rationalisierung und Beherrschung des musikalischen Satzes erscheint. Daß er den betonten Minimendurchgang, der eine auffällig hervorstechende Dissonanz darstellt, als erträglich empfand, ist demnach unwahrscheinlich, und zwar auch aus philologischen Gründen. Erstens kommen in dem Beispiel, das die mißverständliche Regel illustriert, zwar der unbetonte Minimendurchgang und der relativ betonte Semirninimendurchgang vor (TINCTORIS ed. 1876, 135 a - 136 b}. Notenbeispiel 6

+

" p•

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.....

-

Der betonte Minimendurchgang ist jedoch vermieden. Zweitens legt eine Parallelstelle die Konsequenz nahe, daß mit der dissonierenden „pars sequens", die der konsonierenden „alia pars" der ersten Semibrevis folgen darf, nicht

CARL DAHLHAUS

30

der Anfang der zweiten Semibrevis ( gemeint ist (

c 6 • • ).

c 6 6 6 6 ),

sondern der Schluß der ersten K D Die Semibrevis des Tempus perfectum diminutum ist ein

KO Analogon zur Minima des Tempus non diminutum. Und von den Semibreven, den Teilen der Brevis des Tempus perfectum diminutum, heißt es in Kapitel XXV, daß einer konsonierenden ersten oder zweiten Semibrevis, einer konsonierenden „prima aut alia pars" der Brevis, eine Dissonanz gleichen oder geringeren Wertes folgen dürfe.

„Ante ipsam tarnen huiusmodi notae tertiam partem postquam supra primam aut atiam partem eius concordantia ut opportet assumpta fuerit discordantia eiusdem aut minoris notae supra sequentem collocari permittitur" (TINCTORIS ed. 1876, 138 b). Mit der Dissonanz aber, die einer konsonierenden zweiten Semibrevis angehängt werden darf, kann nicht die nächste Semibrevis gemeint sein, denn von ihr, der „tertia pars" der Brevis, heißt es im selben Kapitel, daß sie konsonieren müsse, da mit ihr im diminuierten Tempus perfectum der zweite Tactus anfange ( o z o o o o o ) : •

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~

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„ ... necessarium est ultimam eius partem tertiam totam aut partem primam ipsius esse concordantiam eo quod per eam mensurae directio incipiat" (TINCTORJS ed. 18 76, 138 b). Ist jedoch im Tempus diminutum die dissonierende „pars sequens" nach der konsonierenden „alia pars" nicht die nächste Semibrevis, so ist im Tempus non diminutum die analoge „pars sequens" nach der „alia pars" nicht die nächste Minima. Von einer Legitimierung des betonten Minimendurchgangs durch Tinctoris kann also nicht die Rede sein. Und daß der betonte Minimendurchgang ausgeschlossen bleibt, besagt nichts Geringeres, als daß sich Tinctoris des tragenden Prinzips der Dissonanztechnik im klassischen Kontrapunkt, der Korrelation zwischen Akzentuierung und Stimmführung, mindestens in Umrissen bewußt war.

IV Franchinus Gafurius war, wie es scheint, der erste Theoretiker, der die charakteristischen Dissonanztypen des 15. und 16. Jahrhunderts, die Durchgangs- und die Synkopendissonanz, miteinander konfrontierte. „Quae vero per sincopam et ipso rursus ceteri transitu tatet discordantia admittitur in contrapuncto" (GAFURIUS 1496, liber III, caput 4). Die Beschreibung der Dissonanzen, die Gafurius versuchte, ist jedoch nicht unmißverständlich; jedenfalls geriet Hugo Riemann durch sie in Verwirrung. In einem ersten Absatz ist von Dissonanzen die Rede, die dem übergang von einer imperfekten Konsonanz zu einer perfekten vorausgehen; die Sekunde löst sich in die Terz, die Terz in den Einklang auf. „ld enim omnibus fere cantitenis contigit: ut quum im-

perfectam continemus concordantiam: ex qua immediate: per contrarios organizantium motus ad perfectam sibi propinquiorem proceditur: tune minima seu etiam semibrevis ipsam imperfectam immediate praecedens erit discordantia sciticet vet secunda quum ex tertia in unisonum pervenitur: vet quarta quum [scilicet: ex tertia] in quintam prodeunt: vet septima quum [scilicet: ex sexta] ad equisonantem octavam prositiunt. A tque iccirco discordantia hujusmodi sincopata tatet nullam auribus afferens tesionem: ut hoc percipitur exemplo."

MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS

31

Notenbeispiel 7

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II

M 42

Du hattest ...

dein Blut, sein

deine Stirn ... weg von mir ...

Abgrund ... deine Seele ...

mein Aufschrei. [vgl. dazu die briefliche Mi tteilung Dehmels über die Gelegenheit, auf die das Gedicht Bezug nehme

M 43

2

]

Echo meines Auf-

Welt verstummt,

schreis (fern)

Blut erklingt

III

V

IV

du Nacht, ... deine Ewig· keiten ... mich hebt Glanz ... (die Nacht), als ob Augen winken, als ob Arme sinken: ... strahlt ein Stern mir es treiben mich Gewalten ... ein Entfalten nimmt, bringt und erlöst mich in die Zeiten

Lichtes F1ut aus des Mondes ... Hand dämpft mir... hörst du, Herz? küsse mich! mit zaghafter Gewalt, Mädchen, küß ich dich [unter dem magischen Einfluß eines Naturvorgangs, ohne ein gegenwärtiges gegenständliches Du (das Interjektion bleibt), daher: kein Tun, sondern Empfinden]

[stummes] Treiben, Quellen, Entfalten

hörst du, ... ? Welle

der weiße Mond küßt ein F1üstern wohnt als schweige sich der Hain zur Ruh: Geliebte du - [welche?] Weiher, Weide, Schatten, Wind, Weiten ruhen, schimmern, flimmern, weinen, leuchten wir träumen

t:i

die Niederung hebt den Schleier ... [Aufhebung jeder Möglichkeit zur ldentifikation durch die Verflüchtigung des grammatischen Bezugssystems in der Schlußzeile:]

::i:

o hin - o Traum

lallt: ...

Flüstern wohnt ... , als neige, als schweige sich ... der Wind weint in den Bäumen

t'1

:::: t'1

t;"' t""

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t:i t'1 ~

< 0 z ~ t::o t'1

~

z

1 Vgl.

die auf Gegenüberstellung von VERLAINEs La lune blanche und Helle Nacht beruhende Interpretation von FRITZ (1969, S. 53 ff.), die ergibt: „der größeren Subjektivierung der künstlerischen Aussage [bei Dehmel] ... entspricht . .. die zunehmende Tendenz .. . , die Elemente der Wirklichkeit . .. unter Vernachlässigung realer Kategorien funktional zu verwenden. - Die Wirklichkeit büßt ihren Eigenwert ein, ihr einziger Bezugspunkt ist die in ihr sich objektivierende Subjektivität des Künstlers; sie [die Wirklichkeit] dient [lediglich] als Material der Fixierung und Veranschaulichung innerer Zustände". 2 „ Weißt du, was mein Eigenstes in diesen neuen ,Erlösungen' ist? - S. 311 [!deale Landschaft, 2. Ausgabe der Erlösungen]-:, Und sahst nur immer weg von mir' - - es stammt von jenem Abend auf der Parkterrasse bei Dresden, als wir zusammen in den Weltraum starrten, samt unsrer lieben Frau lsi [gemeint ist Dehmels zweite Frau]." (Brief anA. Mombert, 1898, in: DEHMEL 1922, S. 273/74;Dehmel unterschrieb sich als „Dein Bruder Richard").

u. u.

56

REINHARD GERLACH

linsky war es nicht möglich, vollständige Gewißheit zu erlangen - hat auch nur eines der Gedichte, die Webern in seinem Dehmel-Liederzyklus vertonte, auch seinerseits komponiert mit Ausnahme von Strauss. STRAUSS hat sein Lied Am Uf er 1899 geschrieben und als opus 41,3 veröffentlicht; er hat es neun Jahre vor Webern verfaßt. Und Strauss wiederum voll mit eingeschlossen, wurde keiner von Dehmels Lyrik so weit getragen wie der einzige Webern, auch Schönberg nicht, der - übrigens mit Strauss (11) - am häufigsten Gedichte Richard Dehmels (8 vollendete, 2 unvollendete Lieder, Streichsextett op. 4 und Klavierquintett von 1905, unvollendet) benutzt hat, aber nach 1905 offensichtlich auch nicht eines mehr (vgl. RUFER 1959). Die Bedeutung Dehmelscher Lyrik für das eigene und das Schaffen seiner Freunde - da Berg kein Gedicht Dehmels komponiert hat, kann zuerst Webern, fraglich, ob auch Zemlinsky, im „wir" gemeint sein - würdigt SCHÖNBERG im Brief an Dehmel an· läßlich von dessen fünfzigstem Geburtstag: „Hochverehrter Meister, . . . Sie, weit mehr als irgendein musikalisches Vorbild, Sie waren es, der das Partei-Programm unserer musikalischen Versuche ausmachte. Von Ihnen lernten wir die Fähigkeit, in uns hinein zu hören, und dennoch ein Mensch unserer Zeit zu sein. Oder vielmehr eben darum: weil die Zeit vielmehr innen, in uns war, als außen, in der Realität. Von Ihnen aber lernten wir auch das Gegenteil: wie man ein Mensch aller Zeiten sein kann, indem man einfach ein Mensch ist. Ich bin Ihnen noch anderen Dank schuldig; aber ich glaube, das habe ich Ihnen schon gesagt: daß fast an jedem Wendepunkt meiner musikalischen Entwicklung ein Dehmelsches Gedicht steht. Daß ich fast immer zu Ihren Tönen erst den neuen Ton fand, der mein eigener sein sollte; den Ton, der vom Menschen das aussagt, was es noch über ihm giebt, den Ton [,] dessen sinnliches diminuendo ein geistiges crescendo ist; dessen Zartheit von der Kraft einer anderen Welt, dessen Kraft von der Vergänglichkeit unserer hiesigen Daseinsgefühle redet. Diesen Ton lehrte uns der Inhalt, den wir damals nicht leicht begriffen, mehr aber noch der Klang Ihrer Verse, den wir voll in uns aufnahmen" (BIRKE 1958, S. 285). Von Webern konnte kein Brief im Nachlaß Dehmels aufgefunden werden; möglicherweise hat er nie einen an den Dichter gerichtet und seine Begegnung mit dessen Gedichten ebenso sein Geheimnis bleiben lassen wie die Existenz des Liederzyklus, der unmittelbar an Webems frühe atonale Liederzyklen nach George, op. 3 und 4, heranführt.

V

Vorbemerkung zu den Analysen der Dehmel-Lieder 1- V: Benutzt wurde die Ausgabe: WEBERN, Fiue Songsafter Poems by Richard Dehmel for Voice and Piano. From the Composer's Autograph Manuscripts in the Moldenhauer Archive ed. by Leonard Stein, New York: Carl Fischer, Inc., © 1962; © 1966. Abweichend von der üblichen Art funktionsharmonischer Analysen-Kurzschrift, welche im wesentlichen nur die drei Grundsymbole S- D- T (mit Zusatzzeichen und -ziffem) zur Verfügung hat, ist in den folgenden Analysen eine in Gebrauch, die für jede Tonart ein Symbol in Form von Tonname (Dur =Majuskel; moll = Minuskel) mit den geläufigen Ziffernzusätzen bereithat. Mit einer derartigen Nomenklatur wird versucht, der speziellen Eigenart Webernscher Harmonik Rechnung zu tragen. Diese zieht nicht nur weitgehend Nutzen aus Mediantverwandtschaft, sondern kennt schon auf der Stufe

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

57

des ersten Liedes keine Tonika mehr, die nicht mit jeder, die bei akustischer Identität gleich gültig für sie eintreten kann, vertauschbar wäre. Die Vorzeichnung in Lied I von einem Kreuz ist, wie in den folgenden Liedern die von einem b usw., eine Chiffrierung. Hinter einer Chiffre verbirgt sich, wer nicht will, daß man ihn erkenne, aber ebenfalls, wer gar seine Identität nachzuweisen nicht in der Lage ist. Die Labilität der Tonalität, das Moment der Gleichgültigkeit gegenüber der Identität eines Klanges als der Tonika verrät einen neuerwachten Möglichkeitssinn, einen Sinn dafür, daß alles, was je ist, genauso gut hätte anders werden können, und alles, was wird, seinesgleichen habe, einen Sinn, der den Liedern so eignet wie vordem anderen ihr bestimmter Ausdruck. Zeichenerklärung: Wenn für Enklaven dennoch zuweilen Funktionszeichen benutzt sind, stimmen sie in Aussehen und Bedeutung mit den von MALER (4/1957) in Kurs gesetzten überein. e Ubereinanderstehende Tonnamen in der Weise ~

·' gis

symbolisieren einen Akkord; einzeln stehende Tonnamen, ohne Zusatzzeichen, geben, wenn sie in der untersten Zeile stehen, den Baßton an. Ziffern im Kreis geben die Taktzahl an; Ziffern ohne Kreis bedeuten ein Intervall. Exp. Repr. Df'g Einl'g Str.

Exposition Reprise Durchführung Einleitung Strophe

r. H. l.H. Singst. 1

Klavier, rechte Hand Klavier, linke Hand Singstimme Motiv 1 (Zählung gemäß der Reihenfolge des Auftretens)

Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. I: Tonika ist kein moll- oder Dur-Akkord, sondern ein vagierender Akkord, der übermäßige Dreiklang e-gis-c. In der Komposition des Liedes betrachtet Webern jeden seiner Töne als einen möglichen Grundton des Liedes. Ausgenommen davon scheint der Ton gis; tatsächlich ist jedoch ein Schluß des Liedes, der voll befriedigt, ebenso in Gis wie in E oder C denkbar. Eben darum ist die Schlußkadenz des Liedes nach E-Dur nicht unproblematisch. Nicht nur ist durch die häufigen Kadenzen auf Stufen terzverwandter Tonarten das Gleichgewicht des tonalen Zusammenhangs ein bewegliches, sondern durch die Anlage des Schlusses in diesem Sinn geradezu noch gesteigert, sozusagen provozierend labil: Der kadenzierende Quartsextakkord (Takt 34) steht auf G; der Ton c liegt in der Oberstimme, wenn die Tonika erreicht sein sollte (Takt 35 ). Indes ist Gis zu diesem Zeitpunkt der Baßton; nach Gis-Dur weisen beide, gis und c (= his), und e ertönt einen Augenblick lang wie eine Wechselnote zu dis (vgl. Notenbeispiel I,1). Im übermäßigen Dreiklang gis-e-c ist aber auch gleichberechtigt E-Dur enthalten; daß das Lied in diese Tonart mündet, entspricht einem Tonalitätsbewußtsein, dem die entschiedene Tonart einigermaßen gleichgültig ist und dem es, daß sie am Schluß erklingt, kaum mehr als Zufall bedeutet. Nicht aber die Form, sondern die Tonart E-Dur entbehrt am Schluß der überzet.:genden Notwendigkeit, es sei denn, man versteht sie als

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von tinu Achse aw k~bsg.mgig m sich zurucklaufcnck (~pic~ltc) Melodie

Analyse des Liedes III (Sehr ruhig; drei ~, 3/4, 47 Takte)

°'.....

68

REINHARD GERLACH

Lied eröffnet hat - ganz unbefestigt, so daß sie willkürliche Setzung oder zufälliges Ereigi;iis dünkt. Das erweist vollkommen der Vergleich des Liedanfangs mit dem augmentierten Schluß (vgl. Notenbeispiel 111,1). Die Austauschbarkeit der Tonika Es mit E gründet wiederum in der Mehrdeutigkeit des übermäßigen Dreiklangs, hier des Akkordes:

es 1 e

b1 h

~

(gis)

mit „ambivalenten" Terzen. Hinter solch tonaler Ambivalenz verbirgt sich aber nichts anderes, als daß der Liedsatz ohne Einschränkung volle Chromatik entfaltet, wie sie aus der Kombination der Es-Dur- und E-Dur-moll-Leiter resultiert (vgl. Notenbeispiel III,2). Daß beide Leitern gleichzeitig die Harmonik des Liedes mit ihren Stufen bestimmen, sei im folgenden nachgewiesen. Auf dem „äußeren" Höhepunkt, dem auch dynamischen Gipfel des Liedes, erklingt nach ausgedehnter Steigerung zu den übermäßigen Dreiklängen: d 1

b

und

1

fis

es l h l g

das Motiv: f - e - gis - a - fis - es als Komplement (und zwar sofort im doppelten Kontrapunkt, wobei r. H. und l. H. tauschen). Dieser Stelle (Takt 31, Beginn der Reprise, ff, „sehr breit") entspricht der „innere" Höhepunkt, der durch stetige Zurücknahme vom „forte" über „sehr zurückhaltend" bis zum ppp der Singstimme (bei pp des Klaviers) als der Moment größter Verhaltenheit (Takt 42) erreicht wird. Voraus geht bei „sehr langsamem" Tempo eine Kette von fünf übermäßigen Dreiklängen (vom letzten Viertel des Taktes 39 an), die ein zwölftöniges Feld (= umrandet) bildet:

d

cis 1 a 1 f

es

1

1

b

h 1

f~

g

e 1

c

1

as

f 1 cis 1 a

und damit auch die variierte Umkehrung des Motivs von Takt 31: f -

fis -

d -

(b -

g -

e) -

es enthält.

Durch Selektion sind im Augenblick der intensivsten Ruhe von den insgesamt sechs Tönen der beiden übermäßigen Dreiklänge fis-b-d und g-h-es lediglich noch es - fis im Zusammenklang übrig.

69

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

Sie bilden Exponenten von:

t

t Ass< -

As< -

und

Es

R

H -

e(/E)

s> und geben bei einem Minimum an Ton ein Maximum an harmonischer Dichte, die in der Orthographie der Takte 42 und 43 faktisch greifbar (sichtbar) wird. An der Art und Weise solcher Rücknahme stellt sich das Prinzip dar, demgemäß sich in dem Liede die musikalische Form auf harmonischer Grundlage noch zu entwickeln vermocht hat, nachdem die für die Funktionsharmonik grundlegende Tonhierarchie durch Hereinnahme aller chromatischen Zwischenstufen abgeschafft war. Es ist das wertfreier statistischer Selektion, welcher je nach Zusammenhang die Bedeutung von Verweigerung des Totals oder Gewährung unterlegt werden kann. Aus der zwölftönig gleichstufigen Skala, zu der sich die beiden diatonischen Leitern aus Es- und E-Dur/moll komplettieren, sind zu gewinnen: Modus

es

Modus II

f

g

a

fis

e

gis

h

cis

b

c

d

als beide jeweils wieder gleichberechtigte sechstönig gleichstufige Skalen. Wiederum über Selektion stellt jeder Modus zwei übermäßige Dreiklänge bereit:

h

c

cis

1

1

1

g

as

a

1

1

1

e

f

es

d

J1 fis

II

Akkorde aus Tönen eines jeden der beiden Modi können als Dominanten zu Akkorden aus Tönen des jeweils anderen Modus fungieren, z. B.: f 1

es

b , bzw. cis

d

1

1

~

a

1

f

fis

~

bzw.

es 1 CIS

a

1

f

Ds= D7 s>

d

c

~ 1

D T 7- 3

e

oder: 1

gis

b

1

fis

1

e

TS


~< 7 ~ s Es E D5 b G 3

JJL

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A6 > Ds

5>

3

6
d1s

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c

Thcmakopf

Thcmakopf

F

F S
ci6> s< 3 s

9< 7 g gS> Gs

Thcmakopf

Analyse des Liedes IV (Nicht zu langsam; ein~ ,4/4, 27 Takte)

Thcmakopf augmcnticrt

7

G7 - Ciss> S> Thcmakopf augmcnticrt

~

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~ > C"l :r:

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

77

Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. IV: Die Form des Liedes ist unter Kontrolle durch die Sensibilität des Komponisten gewachsen, wie sie wurde; sie hat sich mit Kontrapunkt bewehrt; die Außenstimmen (Singst. und l. H., aber auch r. H. und l. H.) verlaufen einander weitgehend imitierend, manchmal auch kanonisch, und sichern die sonst wesentlich harmonische Anlage des Liedes strukturell ab. Webems Sensibilität reagiert gegenüber der Trivialität entschiedener tonaler Fortschreitung allergisch; darum hat das Lied, obwohl tonal komponiert, keine eindeutige Tonika. „Die Klischees sind ganz einfach weggeblieben. Der chromatische Weg, d. h. der Weg, in Halbtönen fortzuschreiten, hat seinen Anfang genommen" (WEBERN 1960, S. 50). An keiner Stelle ist eine Tonart wirklich als Tonika „ausgedrückt". Vielmehr bleibt die Entscheidung „in der Schwebe". Wenn SCHONBERG definiert: „Die Tonalität ist eine ... formale Möglichkeit, durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, im Laufe eines Tonstücks nur solche Klänge und Klangfolgen, und beide nur in solcher Anordnung zu verwenden, daß die Beziehung auf den Grundton der Tonart des Stückes, auf die Tonika, unschwer aufgefaßt werden kann" (3/1922, S. 28), so ist negativ Webems Position im Lied Nr. IV bezeichnet. Ihm geht es gerade nicht um Eindeutigkeit, sondern um die Zwischentöne, die vieldeutige Wahrheit. „Abgründe dort sehen zu lernen, wo Gemeinplätze sind", war für WEBERN (1960, S. 10), den Schüler Karl Kraus' in Sachen der Sprache, der Antrieb beim Widerstand auch gegen den schmelzenden Wohlklang der glatten Oberfläche in der Musik, den musikalischen Gemeinplatz, seit er als Komponist - eher als er es aus übergroßer Skrupulosität sich zutraute - mündig geworden war. Der Enthaltsamkeit von wohlfeiler trivialer Phrase verdankt die Harmonik des bei aller Intensität des Ausdrucks („sehr warm") überaus zarten, verhaltenen Liedes ihr überall und Nirgendwo. Die Analyse weist aus, daß in den wenigen Takten der Komposition beinahe jede der zwölf Tonarten in einem Dreiklang oder Septakkord wenigstens einmal wie grüßend und wiedergegrüßt vorübergeht. Die Klänge, die scheinbar nicht voneinander wissen, gehen keine festen Bindungen ein, auch wenn sie zu nahezu allen fähig wären. In sie eingesenkt sin

=

J.H.

z

::i:

§

_J

C)

t>l

~

Drei Schichten unabhangigC'T rhythmisch geordneter

u,

~

~}

>

Abbufe innCThalb emcs VierviC'Tlt'ltakt-Metrums

C')

::i: Ritornell

®

@ @

®

Variation ,-on Ta.kt 1 bis 3 durch Vl-;edt'rhohe Spi~lungen (doppelten Kontrapunkt) und Augment;;ition Durch Einbezug der SingsL

CMla

® ® r.H.

~

Klavier rolo LH.

.E..

X

@

® ~ is

'.!!. Aufhebung des linear ~richteten Zeitablaufs durch Aufhebung der FunktionaliUt der Harmonik

.!.

Analyse des Liedes V (Sehr zart, mässig, ein ~ , 4/4, 4 7 Takte)

a (

Ur F

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

81

Aus der Tendenz zur Erstattung des Vorenthaltenen ergibt sich 1) der Fortgang von Takt 1 zu Takt 2 (wie der Vergleich zwischen dem Tonbestand von Takt 2 und den vorgeschlagenen Ergänzungen gemäß der durch Lied I - IV geltenden Harmonik des übermäßigen Dreiklangs erweist), 2) die „Begleitung" (L H.): Die „Begleitung" besteht - entgegen dem an Lied Nr. III als dem bisher avanciertesten beobachteten Prinzip der konstruktiven Intervallik - aus großer Sext und Tritonus: Takt 1

Takt 2

Davon sind im Sinne der Harmonik des übermäßigen Dreiklangs komplementär zu Takt 1 und 2 die in dieser Form umrandeten Töne: 0 (= I) und (= II). Als verkürzte Schichtungen von Akkorden aus Modus I und II können

0

aufgefaßt werden. Die großen Sexten sind fraglos „durchgängig" gemeint; bist Leitton zu h, c ist Leitton zu cis, d. h. im Rahmen der auf Großterzstruktur der Akkorde basierenden Ganztonharmonik sind die beiden Töne sogenannte Nebennoten. Wo aber Haupt- und Nebensachen unterscheidbar sind, besteht auch ein Gefälle und damit dynamische Form. Nun fehlt auffälligerweise im Ritornell eine genügende Anzahl von Tönen aus Modus II. Das Zurückgehen („zögernd", pp) im Übergang vom zweiten zum dritten Takt geschieht mit den Tönen

~ •u• 11, dio du«h Längung dtt Tond.uo' Gowkht bokommon, und ondot mit ~ ins PPP verklingend. Dann aber tritt - man möchte sagen: aus einer Art Nachlässigkeit heraus - schon im Verklingen ein Ereignis ein, das (wie bei Webern die meisten) seine Bedeutsamkeit im Unscheinbaren zu verbergen sucht. Nicht im Durchgang, vielmehr, von der Umgebung schon fast isoliert, im Besonderen schichten sich Modus I und II, zwar wie zufällig, unachtsam und doch mit der Kraft des letzten Entschlusses, und bilden eine Synthese, in der auch die Bewegung von Ton zu Ton in der Art des „osmotischen Druckausgleichs" zwischen Modus 1 und II aufgehört hat als jene letzte mögliche, an kadenzierendes Fortschreiten erinnernde schon im pantonalen Klangraum. Das Resultat ist der aus pantonaler Synthese hervorgegangene atonale Akkord, Inhalt jenes Traums von einem „freien" Klang, den das Lied Nr. 1 (vgl. Takt 2 7) schon geträumt hatte:

82

REINHARD GERLACH

fis 1

>II

d 1 g

'· >

CIS

1

b) der Strophe: Die Freisetzung der Tonpotentialitäten Die Harmonik der Strophen 1 bis III ist grundsätzlich von anderer Beschaffenheit und dabei eigentümlich amorph. Wie wenig zufällig indes jeder Takt ausgefüllt ist, zeigt die Synopsis der taktweise auf den bloßen Tonbestand reduzierten Strophen 1 bis III (vgl. Notenbeispiel V,1). Fast ausnahmslos sind diese Füllungen in allen drei Strophen gleich, was verschiedene Gründe hat, die weiter unten noch zu erörtern sind. Statistisch sind je Takt Füllungen von fünf- bis neuntöniger Dichte in den Takten vor Takt 9 und 10 und ihren Entsprechungen in den Strophen II und III zu ermitteln. Takt 9-10 zusammen zu bewerten hat Grund, weil hier stets die Terz af orgelpunktgleich teils sukzessiv, teils simultan ertönt. Damit „steht" - oder (Takt 31-32) „hängt" - ein Klang, über - unter - dem ein sechstöniger Akkord (in Takt 9, 20, 31), ein siebentöniger (in Takt 10), ein achttöniger (in Takt 21) und ein dreitöniger Akkord (in Takt 32) „in sich und um sich rotiert". (Auf die unterschiedliche Taktfüllung in den Takten 10, 21 und 32 wird noch unten zurückzukommen sein.) Es handelt sich, wie Notenbeispiel V,1 demonstriert, offenbar um ein Komponieren schon nach dem Prinzip der „variablen Dichte", die zunehmen oder abnehmen kann, ohne daß Logik im funktionsharmonischen Verstand herauszuhören wäre. Dem gilt die hintergründige Bemerkung STRAWINSKYs auf die Frage nach dem „Hören":

„Ihre Frage besagt, daß Sie noch danach trachten, die Töne in eine tonale Verbindung zu bringen. Die Tatsache, daß Sie nach einer ,Tonart' suchen, ermächtigt Sie zu dieser Handlungsweise ( ... ) . Doch alles, was das Ohr in diesem Sinne gewahr werden kann, ist Dichte (niemand unter dreißig, und nur vereinzelte vorsintflutliche Menschen über dreißig, wie ich, benützen noch das Wort ,Harmonie'; dafür sagt man ,Dichte')." Weiter, wenn auch nicht mehr in striktem Bezug zum Thema: „ ... die Dichte ist zu einer streng seriellen Angelegenheit geworden, ein Element, das wie jedes andere, variiert und permutiert werden kann. Entsprechend dem eigenen System kann man in vertikaler Anhäufung von zwei bis zwölf Tönen auffassen (ist das mathematisch? Natürlich ist es das, nur komponiert der Komponist die Mathematik). Dies alles geht zurück auf Webern, der das ganze Problem der variablen Dichte verstand ( ... )" (S. 234, Nr. 177). In den Takten 9 und 10 wächst die Dichte über dem doppelten Orgelpunkt zur höchsten an. Es erscheinen in den Taktpaaren alle 11 Töne der chromatischen Leiter bis auf den zwölften: ces = h, der am weitesten entfernt im Quintenzirkel auftritt, wenn man die Vorzeichnung eines b auf ein freilich rein fiktives F-Dur als Zentrum bezieht. Es bedünkt, ihr Auftreten ist ziemlich regellos (vgl. Notenbeispiel V,2). Dennoch sind sie nicht ohne strukturelle Bindungen, was hier - in der Isolation - nicht gewahrt werden kann; vielmehr gehören sie zum Teil Stimmen von der strik-

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

83

testen Verbindlichkeit an, die für alle drei Strophen gilt (vgl. weiter unten). Aber auch in der Mikrostruktur sind gewisse wiederkehrende Gruppierungen, die sich aus engster Nachbarschaft der Töne ergeben, freilich lockerer Art, feststellbar. Immerhin lassen sie sich, wenn auch nur ideal-typisch, erfassen, d. h. zwar kann man eine größere Anzahl von Fällen, aber nicht alle Fälle von Stimmbewegung ihnen zuordnen (Oktavversetzungen der Gruppen sind in diesem Betracht selbstverständlich zulässig) (vgl. Notenbeispiel V,3). Wenn bisher von „Zellen", maximal aus zwei übermäßigen Dreiklängen des gleichen Modus (wobei der sechstönige Akkord vermieden wurde als „rotierend"; vgl. oben Kommentar zur Analyse von Lied Nr. III), die Rede hat sein können, zwischen denen - als Modus-Wechsel - „Druck"ausgleich möglich und damit eine Form der gesetzmäßigen Tonbewegung realisierbar war, so stellt sich nunmehr ein harmonischer Zustand dar, in dem die Substanzen, flüssig bei porös gewordenen Zellwänden, diffundierten. Das Ergebnis: Die Großterzstruktur von Akkorden ist verloren gegangen und mit ihr die Polarität. Stattdessen kommuniziert jeweils gegen Ende der Strophen I-III nach Anwachsen der Dichte, was noch in Lied Nr. I-IV in den beschriebenen Weisen geschieden geblieben war, das tonale Gegensatzpaar Modus I - Modus II. Das meint: Aus Eigenschaften (= spezifischen Qualitäten auf Grund einer vorausgegangenen mehrhundertjährigen musikalischen Tradition in Komposition und Hören) der Töne auch in der polaren Ganztonharmonik Webems noch durchaus valid - wurden in harmonischem Verstand „Aller-schaften" oder Potentialitäten. An der harmonischen Disposition der Großform ist die Veränderung einleuchtend aufzeigbar. Harmonische Anziehung herrscht nur noch wie unter Gestirnen; eine Tonfluktuation zwischen F ~Ces (= H) kann beobachtet werden, aber sie gleicht allein einer Gezeitendynamik, eingepaßt dem formalen Rahmen der barc-.:ken Aria (vgl. weiter unten). Der Beginn jeder Strophe gravitiert nach Ces-Dur bzw. es-moll; auf dem musikalischen Höhepunkt jeder Strophe ist der Ton h (bzw. ces) ausgespart, sind f-as aber Liegestimme. Webems Musik kommt auf zwei Weisen von der funktionalen Harmonik los:

1. durch Synthese von an sich funktional im weitesten Begriff noch bestimmbaren polaren EI menten zu atonalen oder pantonalen Klängen. In diesem Sinn ist bereits pantonal der übermäßige Dreiklang des Liedes Nr. 1 als synthetisch entstanden aus den Großterzen zweier Durdreiklänge verschiedener Tonart; 2. durch eine auf die Technik der Nebennoten rückführbare Unschärfe des Einzeltons, der vertauschbar ist mit seinen unmittelbaren Nachbarn - eben dies, in gegensätzlichem Sinn gebraucht, hat Webern zur Chiffrierung seiner Lieder Nr. 1 bis IV als tonale gedient - ; dann die Unschärfe des Akkordes und der durch ihn repräsentierten Tonart. Eine Stufe der Entwicklung noch auf der Ebene der übermäßigen Dreiklangsharmonik stellt die Technik der Komplementierung zum chromatischen Total durch Tonbewegung nach Art des „osmotischen Druckausgleichs" dar, von der aus die Entwicklung weiter - sowohl nach 1. - zur Synthese und - als auch nach 2. - zur Dissolution zu verfolgen war; elliptisches Schrumpfen, das Webern in der Komposition seit opus 2 vorantreiben wird, ist erst in Ansätzen zu bemerken.

84

REINHARD GERLACH

Beide unter 1. und 2. genannten Möglichkeiten der Aufhebung der sprachähnlichen funktionalen „Logik" der Harmonik sind in Lied Nr. V noch realisiert. Aber von der in Lied Nr. III auffälligen Vernachlässigung der Intervalle: kleine Terz, Tritonus und große Sexte als konstruktive Intervalle innerhalb des harmonischen Gebäudes und damit von einem gewissen Purismus kann nicht länger die Rede sein. So ist nun wirkliche Freiheit von der funktionalen Harmonik erst jetzt in Sicht, wo über alle Intervalle verfügt werden kann. Webern hat eine Schwelle betreten und sich auf die weiter zu verfolgende Richtung festgelegt: WEBERN weiß nun, „daß es nur weiter geht nach Innen" (1959, S. 10), wie er 1928 bestätigen wird. Die Rhythmik Rhythmisch sind in dem Lied drei Schichten voneinander differenziert. Damit spielt eine neue Problematik herein; denn keines der voraufgegangenen Lieder des Zyklus hatte insgesamt in diesem Grade rhythmische Aufgaben zu bieten wie das fünfte. Lediglich taktweise gab es in Lied Nr. II ähnliche Probleme, wenn der synkopische Orgelpunkt zu den trioligen Achteln des übermäßigen Dreiklangs in Konflikt geriet und präzise jene Verschwommenheit ausgedrückt war, die der Text mit der mystischen Formel: „dein Blut erklingt .. . [und ist ein] ... heller Abgrund" zur Sprache brachte. Ferner fanden sich Komplikationen ähnlicher Art in Lied Nr. III, zweite Hälfte des Mittelteils, wo der harmonische Untergrund zum Duett von Singst. und r. H. beim Text „seligste Versunkenheiten, strahlt (ein Stern) ... und es treiben mich Gewalten . .. " durch Triolen gegen Achtel ein scheinbigt auch die Einstufung der Akkorde auf einer neunstufigen Skala „hell-dunkel" (s. Tabelle 5). Die Mittelwerte dieser Einstufungen korrelieren mit den Ladungen auf Faktor II recht hoch (rho = -0,93, s. auch Abb. 4). Die zwischen den Akkorden empfundene Ähnlichkeit wurde somit auch von ihrer Helligkeit beeinflußt. In Anbetr:i.cht der geringfügigen Unterschiede zwischen den von Akkord zu Akkord variierenden Tonhöhen ist dies erstaunlich. Denn daraus, daß bei einer direkten Befragung, wie sie die Helligkeitseinstufung auf der neunstufigen Skala darstellt, mit der ein ausdrücklicher Hinweis verbunden ist, eine schwach ausgeprägte Eigenschaft zur Skalierung dienen kann, ergibt sich nicht, daß sie bei der Beurteilung der Ähnlichkeit von Akkorden beachtet wird und sich ebenfalls als distinktives Merkmal erweist. Da die gering aus-

115

KONSONANZ UND DISSONANZ

Nr. des Akkords

Mittelwert der Einstufung auf der Skala "hell-dunkel"

1

3,53

2

5,70

3

7,30

4

2,50

5

4,00

6

5,40

7

2,46

8

5,60

Tabelle 5. Die Mittelwerte der Einstufungen der Akkorde auf der Skala „hell-dunkel"

geprägten Tonhöhenunterschiede zwischen den Akkorden als Kriterium zu einer Typisierung derselben gebraucht werden, kann man vermuten, daß für Hörer, die einer Tradition angehören, in der die Differenzierung der Tonhöhen einen Vorrang vor der anderer musikalischer Dimensionen genießt, die Tonhöhe ein so wichtiges Merkmal zur Beurteilung musikalischer Objekte ist, daß ihr auch bei geringer Variation Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mehrere Informationen über einen Gegenstand oder eine Person, die in die gleiche Richtung zielen, werden von Beurteilern so verarbeitet, daß sie ein extremeres Gesamturteil ergeben, als es dem Mittelwert der Einzelinformationen entspräche. Zur Beschreibung von Urteilsprozessen dieser Art erweist sich ein linear-additives Modell als ge-

he 11

-

dunke 1

• 3

rho • -o, 93

1

-1.0

-o.s

0

Abb. 4. Die Abhängigkeit der Ladungen vom Helligkeitseindruck auf Faktor II

116

HELGA DE LA MOTTE-HABER

eignet. Besitzen Beurteiler jedoch widersprüchliche Informationen über ein Objekt, so vermögen sie keine additive Kombination derselben zu leisten. Ihr Urteil läßt sich daher aus den Einzelinformationen nicht vorhersagen. Die Interpretation des dritten Faktors macht solche Überlegungen nolwendig. Hoch lädt auf ihm die Einschätzung des übermäßigen Dreiklangs, und eine ebenfalls beachtliche Ladung besitzt die des verminderten. Der negative Pol ist gekennzeichnet durch die Beurteilung von f-b-c. Besonders der übermäßige Dreiklang läßt sich als Beispiel dafür ansehen, daß er Beurteiler vor die Aufgabe stellt, sich mit widersprüchlicher Information auseinanderzusetzen. Bietet man ihn isoliert dar, so wirkt er weich und wohlklanghaft. Stumpfs Versuche mit Unmusikalischen ergaben, daß die übermäßige und verminderte Quinte nicht dissonant wirken. Riemanns Kritik an diesem Resultat betrifft das Nu tzbarmachen eines psychologischen Versuchs für die Musiktheorie; bei einer Beschränkung der Intention auf die bloße Wirkungsweise von Zwei- und Mehrklängen wird sie hinfällig. übermäßige und verminderte Quinten wirken nicht rauh und dissonant. Für musikalisch vorgebildete Vpn ist dieser Eindruck jedoch schwer zu kombinieren mit dem Wissen um die Regeln der Musiktheorie. übermäßige und verminderte Dreiklänge gelten als Alterierungen, die der Auflösung bedürfen, die also dissonant sind. Der Widerspruch zwischen spontanem Eindruck und der Verwendung von übermäßigem und vermindertem Dreiklang ergibt bezüglich des Konsonanz-Dissonanz-Eindrucks indifferente Urteile. Die Charakterisierung dieser Akkorde als neutrale Sonanzen ist insofern richtig, als sie diese Indifferenz zum Ausdruck bringt; sie ist jedoch nicht hinreichend, da eine adäquatere Beurteilung auf Grund einer anderen Merkmalsdimension erfolgt. Gleiche Argumente lassen sich vielleicht auch für den am negativen Pol von Faktor III ladenden Akkord f-b-c anführen. Schon RAMEAL' (1722) stellte den dissonanten Akkorden solche Vorhaltsbildungen auf Grund ihres Wohlklangs zusammen mit den konsonanten gegenüber. Der Widerspruch zwischen Wohlklang (man vergleiche die wenn auch nicht allzu hohe Ladung auf Faktor I) und Dissonanz zwingt den Beurtcilcr, auf eine andere Dimension auszuweichen. Offensichtlich wird als dominantes Merkmal von f-b-c die Terzlosigkeit empfunden - Gegenpol zur Schichtung jeweils zweier gleichgearteter Terzen bei vermindertem und übermäßigem Dreiklang. Der vierte Faktor ist durch den Gegensatz der Beurteilung von e-b-c und f-h-c gekennzeichnet. An und für sich handelt es sich in beiden Fällen um dissonante Akkorde, wobei f-h-c auf Grund der kleinen Sekunde schärfer wirken müßte als der Akkord e-b-c. Dieser aber erfährt durch die Erinnerung an eine Dominante eine Modifikation im Sonanzeindruck, er wirkt milder, als es seine akustische Struktur vermuten läßt. Den Eindruck dieses Akkords bestimmt weniger das Kriterium Konsonanz und Dissonanz als vielmehr neben seiner mangelnden Helligkeit die Möglichkeit zu funktionaler Deutung. Zwar ließe auch f-h-c eine solche Deutung zu als S 4 , jedoch wirkt sie, auf den isoliert dargebotenen Dreiklang bezogen, krampfhaft gesucht. Im Verhältnis zu den anderen beurt..:ilten Akkorden wirkt f-h-c eher fremdartig, so, als gehörte er nicht wie sie dem Akkordvorrat der harmonischen Tonalität an. Daß dieser Akkord in dur-moll-tonaler Musik auftritt, entkräftet dieses Argument nicht. Seine Seltenheit vermag seine Fremdartigkeit zu begründen. Für die Beurteilcr bildet er einen Gegensatz zu dem Akkord, dessen llar-

KONSONANZ UND DISSONANZ

117

moniecharakter am stärksten ausgeprägt ist. Der Harmoniecharakter ist eigentlich ein Merkmal, das erst die Sukzession von Akkorden erbringt. Häufig gleichartiger Gebrauch eines Akkords bewirkt, daß er zu einer Eigenschaft wird, die diesem auch bei isolierter Darbietung zukommen kann. Die vier mit Hilfe eines Distanzratings gefundenen Ähnlichkeitsdimensionen lassen sich als in der Wahrnehmung gegebene und zur Typisierung von Akkorden geeignete Merkmale ansehen. Die vermutete Reduktion des Ähnlichkeitsurteils auf das Merkmal Sonanz konnte nicht nachgewiesen werden, da neben diesem Helligkeit und Terzhaltigkeit der Charakterisierung dienen. Außerdem hängt die Beurteilung von Dreiklängen auch von Eigenschaften ab, die kein Äquivalent in der physikalischen Struktur haben, sondern sich aus der Geschichte eines Akkords erklären. Verbaler Beschreibung musikalischer Sachverhalte haftet neben anderen Unzulänglichkeiten ein Mangel an Differenzierung an 4 . Bei einfachen musikalischen Objekten könnte allerdings jener Mangel entfallen, da hinreichende sprachliche Äquivalente vorhanden sein müßten . .Jedoch schafft im allgemeinen jede Verbalisierung von Urteilsprozessen eine Vereinfachung, der nachzuspüren die Beurteilung der Akkorde mit dem Polaritätsprofil dienen sollte. Zweierlei Vorüberlegungen scheinen zunächst angebracht: Von der üblichen Beschreibung von Gegenständen unterscheidet sich die durch das Polaritätsprofil vor allem dadurch, daß dem Beurteiler nur eine bestimmte Anzahl von Wörtern zur Verfügung gestellt wird. Diese Auswahl ist methodisch notwendig, um die Urteile vergleichbar zu machen. Argumente für vermutete Einschränkungen hinsichtlich der Differenzierung des Urteils würden sich jedoch weniger daraus ergeben, daß es sich um eine Art kontrollierter Assoziationen handelt, sie müßten sich vielmehr auf einen Mangel an Repräsentativität der gewählten Adjektiv-Gegensatzpaare beziehen. Und letztere scheint im vorliegenden Fall einigermaßen gesichert (vgl. S. l l 0). Wie wenig fruchtbringend die methodisch nicht eingeengte, bloß verbale Charakterisierung von Akkorden ist, zeigt eine Arbeit von H. FREYBERG (1934}. Akkorde und Akkordfolgen wurden auf Präferenzen hin untersucht; zugleich hatten die Beurteiler die Aufgabe, ihre Eindrücke zu verbalisieren. Ergebnis kann hierbei nur ein Katalog der benutzten Wörter sein, dessen Verarbeitung hinsichtlich der Auswahl der zur Charakterisierung eines Akkords verwendeten Wörter, wie auch des am häufigsten gebrauchten Wortes, einer sehr großen Gruppe von Beurteilern bedürfte, die zudem einen annähernd gleichen range von zu benutzenden Adjektiven haben müßten. Das Verfahren kann also kaum als sehr praktikabel gelten. Bezüglich des Polaritätsprofils bleibt weiterhin das zu bedenken, was es mißt. Erfaßt wird die konnotative Bedeutung eines Objekts, also dessen affektive und ästhetische Valenzen - ein sehr kleiner Ausschnitt der Bedeutung eines Objekts, wie es scheint. Konnotationen sind jedoch von den anderen Eigenschaften eines Gegenstandes abhängig; daraus abgeleitete Ähnlichkeiten zwischen Objekten basieren somit nicht nur auf Teilaspekten. Die Einstufungen der Akkorde mit dem Polaritätsprofil wurden in der üblichen Weise verarbeitet. Für jedes Adjektiv-Gegensatzpaar wurde das arithmetische Mittel der Be4Grundsätzlicherc Erwägungen über die Möglichkeit, ein Medium durch ein anderes zu repräsentieren, würden hier zu weit führen.

118

HELGA DE LA MOTI'E-HABER

urteilung eines Akkords berechnet, die sich daraus ergebenden Durchschnittsprofile wurden interkorreliert (Produkt-Moment-Korrelationen) und die Korrelationen einer Faktorenanalyse unterzogen (Principal-Components-Analyse):

Nr. des Akkords

Gewichtszahlen der Faktoren I

II

III

IV

h2

1

-.394

.438

.770

-.097

.991

2

.139

.933

-.008

-.303

.981

3

.836

.387

-.328

.006

.956

4

.891

.392

.055

.026

.952

5

.784

-.482

.296

-.105

.956

6

.930

-.135

-.092

-. 251

.955

7

.606

-.675

.332

.080

.940

8

.755

.399

.240

.449

.989

Varianz

53,0%

29,5%

12,6%

Tabelle 6.

5,0%

Die unrotierte Faktorenmatrix der mit Polaritätsprofil beurteilten Akkorde

Vier Faktoren wurden in Analogie zur Analyse der Paarvergleichsurteile extrahiert. Im Gegensatz zu dieser ist hier aber der vierte Faktor mit 5,0% Anteil an der Gesamtvarianz nahezu bedeutungslos; er besitzt nur sehr niedrige Ladungen. Drückt sich hierin schon eine geringere Differenzierung des Urteils aus, so zeigt sie sich ebenfalls bei der Betrachtung der extrahierten Varianz. Schon mit drei Faktoren sind bei der Analyse der Profildaten 90,31 % der Varianz extrahiert, wohingegen vier Faktoren der Analyse des Paarvergleichs nur 87,19% der Varianz widerspiegeln. Die Vergröberung der Urteile, die die Einstufung mit dem Polaritätsprofil nach sich zieht, muß nicht unbedingt mit der erwähnten, bei der Verbalisierung auftretenden Vereinfachung von Einschätzungen zusammenhängen. Zu berücksichtigen bleibt, daß die Reizdarbietung der beiden Versuche jeweils verschieden war. Es ist denkbar, daß bei paarweiser Darbietung von Objekten Merkmale, die Unterschiede bedingen, zur Geltung kommen, die bei der isolierten Darbietung eines Reizes unberücksichtigt bleiben. Allerdings verliert dieser Gedanke dadurch an Gewicht, daß die Beurteiler das Reizmaterial vor der Einstufung mit dem Profil genau kannten, also keine absoluten Urteile zu fällen hatten. Es erscheint daher sinnvoller, die geringere Differenzierung der Urteile auf die sprachliche Kategorien kennzeichnende Ökonomie zurückzuführen, die zugleich, da sie eine Beschränkung dessen ist, was benannt wird, Unterschiede verwischt. Die Faktorenstruktur, die die Beurteilung der Akkorde mit dem Polaritätsprofil ergab, müßte sich als eine Teilstruktur des vierdimensionalen Raumes, der aus dem Distanzrating gewonnen worden war, darstellen lassen:

119

KONSONANZ UND DISSONANZ

Nr. des Akkords

Gewichtszahlen der Faktoren I

II

IV

III

1

.810

.510

.070

-.270

2

.740

-.500

.285

-.280

3

-.230

-.600

.730

-.070

4

-.130

-.230

.920

-.160

5

-.690

.380

.490

-.280

6

-.650

-.450

.400

-.390

7

-.690

.530

. 325

-.250

8

.035

.020

.955

.180

Tabelle 7. Die rotierte Faktorenmatrix der mit dem Polaritätsprofil beurteilten Akkorde Die höchste Ladung auf dem ersten Faktor besitzt der Dur-Dreiklang, ebenfalls recht hoch ist die des Moll-Dreiklangs; der negative Pol ist gekennzeichnet durch die dissonanten Akkorde f-h-c und es-b-c. Diese Dimension läßt sich unschwer als Konsonanz-Dissonanz-Faktor erkennen. übereinstimmend mit der ersten Analyse besitzen die Akkorde fis-a-c, e-as-c und e-b-c nur geringe Ladungen auf diesem Faktor. Abweichungen zur Faktorenanalyse des Distanzratings ergeben sich nur bezüglich des Akkords f-b-c, dessen dissonanter Charakter bei der Beurteilung mil dem Polaritätsprofil stärker ins Gewicht fällt - ein Effekt, der vielleicht doch durch die isolierte Reizdarbietung hervorgerufen wurde. Der zweite Faktor ist am positiven Pol durch die Ladungen des Dur-Dreiklangs und des Akkords f-h-c, am negativen durch den Moll-Dreiklang und den Akkord e-as-c gekennzeichnet. Diese Dimension ist schwer zu interpretieren. Sie repräsentiert sich nicht so eindeutig als Tonhöhenfaktor wie beim Distanzrating; allerdings spiegelt sie ebenfalls einen Helligkeitseindruck wider. Wie die Rohdaten zeigen, werden der Dur-Dreiklang und der Akkord f-h-c (mit Mittelwerten von 1,85 und 1,90 auf der hell-dunkel-Skala des Polaritätsprofils) für die hellsten Akkorde gehalten. Der Moll-Dreiklang hingegen wird neben dem tiefer als die übrigen liegenden Akkord e-as-c als dunkel empfunden. Deutlich zeigen sich Unterschiede zu der Einstufung des Helligkeitsgrades, die in Tabelle 5 dargestellt ist. Die Mittelwerte dieser Skala korrelieren mit der Einschätzung „hell-dunkel" des Polaritätsprofils nur rho = O, 7 0, was, wenn es sich um einen Retest handelte, eine zu niedrige Reliabilität ergäbe. Den Beurteilern war bei der Einstufung der Akkorde auf der neunstufigen hell-dunkel-Skala gesagt worden, daß sie ihren Tonhöheneindruck wiedergeben sollten. Bei der Beurteilung mit dem Polaritätsprofil wurden die Begriffe „hell-dunkel" - obwohl mit dem Tonhöheneindruck korreliert - jedoch mehr in einem metaphorischen Sinn gebraucht. Dies führte dazu, daß, stereotypen Vorstellungen entsprechend, nicht der Akkord mit den höchsten Tönen, sondern der Dur-Akkord als hellster und nicht der Akkord mit den tiefsten Tönen, son-

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dem der Moll-Akkord als dunkelster angekreuzt wurden. Daher rühren die Unterschiede zwischen den beiden Skalierungen. Es scheint jedoch, daß trotz der ausdrücklichen Instruktion, den Tonhöheneindruck anzugeben, wie die Einschätzung des MollAkkords zeigt, auch bei der Beurteilung auf der neunstufigen hell-dunkel-Skala metaphorische Bezüge vorhanden sind. Der zweite Faktor der Analyse der Profildaten läßt sich als Ilelligkeitsfaktor interpretieren. Er ist jedoch nur teilweise mit dem Tonhöhenfaktor, den das Distanzrating erbrachte, identisch, denn dieser zeigt vor allem den Niederschlag der Tonhöhenunterschiede zwischen den Akkorden, während jener ein Gemisch von Tonhöheneindruck und Akkordfarbe abbildet, in welchem sich auch die Geschichte der Akkorde widerspiegelt. Daß in Sprache gefaßte Urteile vereinfachen, Unterschiedliches miteinander verschmelzen, zeigt am deutlichsten Faktor III. Auf ihm laden sehr hoch der verminderte wie der übermäßige Dreiklang und der Akkord e-b-c. Diesen Akkorden ist gemeinsam, daß sie den Beurteiler vor die Verarbeitung widersprüchlicher Information stellen. Gemeinhin werden diese Akkorde den Dissonanzen zugerechnet; das Wissen darüber verbindet sich schlecht mit dem recht milden Eindruck, den sie beim Hören erwecken {vgl. S. 116}. Während aber beim Distanzrating für den übermäßigen und verminderten Dreiklang im Unterschied zum Akkord e-b-c verschiedenen Gesichtspunkten der Vorrang eingeräumt wurde, um dem Widerspruch auszuweichen, erweist sich bei ihrer Beurteilung mit dem Polaritätsprofil nur eine Dimension als charakteristisch, die als eine Generalisation jener beim Distanzrating aufgetretenen verschiedenen Aspekte verstanden werden kann. Ihre Lokalisation auf der Konsonanz-Dissonanz-Skala beschreibt diese Akkorde nur unvollständig. Auflösungsbedürfnis in einem tonalen Zusammenhang und Mangel an Schärfe veranlassen die Beurteiler, sie durch eine Dimension zu beschreiben, die vom Konsonanz-Dissonanz-Faktor unabhängig ist.

Schlußbemerkungen Durch verbale Urteile über Gegenstände werden meist nicht alle in der Wahrnehmung gegebenen Unterschiede berücksichtigt, denn die Kategorien der Sprache sind nicht so differenziert, daß sie jedes Merkmal einzufangen vermögen. Die sich aus der Einstufung mit dem Polaritätsprofil im Vergleich mit cler des Distanzratings ergebende geringere Faktorenzahl bestätigt dieses häufig gefundene Ergebnis. Es erscheint nicht sinnvoll, daß alle musikalischen Ereignisse mit Worten belegt werden können, denn dies würde die völlige Abbildbarkeit des Mediums „Musik" - und damit wäre diese überflüssig - in dem der Sprache bedeuten. Auch die bei so einfachen musikalischen Objekten wie Akkorden gefundenen, nicht alle differenzierenden Eigenschaften berücksichtigenden Urteile gründen sich hierin und nicht, wie hypothetisch auch angenommen werden könnte, in einem Mangel der Methode des Polaritätsprofils. Wie bei der Begriffsbildung die Feinheit der Benennung hängt vielleicht die der verbalen Charakterisierung vom Nutzen und Gebrauch dessen, was beschrieben wird, ab. Die Unterscheidung von Löffeln obliegt einem im allgemeinen weniger als die von Personen des eigenen Umkreises. Und dies drückt sich in der Zahl der verschiedenen sprachlichen

KONSONANZ UND DISSONANZ

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Codierungsmöglichkeiten aus wie auch im Bedürfnis, überhaupt Unterschiede anzugeben. Daß der dominantische Dreiklang e-b-c, der in der dur-moll-tonalen Harmonielehre als Dissonanz gilt, bei der Beurteilung mit dem Polaritätsprofil nicht abgehoben erscheint von dem ebenfalls als dissonant geltenden verminderten oder übermäßigen Dreiklang, obwohl ihm seine milde Wirkung nicht auf Grund der akustischen Struktur wie letzteren zukommt, sondern eher durch das Wissen um die nachfolgende Tonika, läßt dieselbe Erklärung angebracht erscheinen. Das aus dem gleichen Gebrauch hervorgewachsene Merkmal „Auflösungsbedürfnis" ruft ein gleiches verbales Urteil hervor, das diese Akkorde von den übrigen Dissonanzen, die nicht durch den Widerspruch zu einer vergleichsweise milden Wirkung gekennzeichnet sind, abhebt, - ein Urteil, das aber nicht weiter differenziert wird, da feinere Unterschiede demgegenüber unwichtig erscheinen. Beim Distanzrating allerdings treten diese zutage; das Urteil ist nicht von den auf Präzision bei gleichzeitiger Ökonomie hinzielenden sprachlichen Mechanismen abhängig, die teilweise wohl mit dem kommunikativen Charakter der Sprache zusammenhängen. Zudem hat wohl auch die paarweise Darbietung zu einer Differenzierung des Urteils beigetragen, denn obwohl bei der Beurteilung mit dem Polaritätsprofil (vgl. S. 117} keineswegs absolute Urteile erfolgten, wurde nicht so ausdrücklich wie beim Distanzrating nach dem jeweiligen Unterschied zwischen zwei Akkorden gefragt. Der Grad der Differenzierung eines Urteils ist abhängig von der Art des Urteils; die Vergröberung, die eine Verbalisierung mit sich bringt, ist gegen die leichtere Mitteilbarkeit abzuwägen. Charakterisiert man Akkorde, so wird gewöhnlich als wichtigste Eigenschaft „Konsonanz" und „Dissonanz" genannt. Bei der Untersuchung von Urteilen über Dreiklänge ist eine Reduktion auf diese beiden Merkmale zu vermuten, zumal sich viele Ordnungsversuche, die Akkorde betreffen, auf diese Eigenschaften als beinahe ausschließliche beziehen. Andere Dimensionen spielen jedoch für die Wahrnehmung von Akkorden ebenfalls eine Rolle. Sie sind von deren akustischen Eigenschaften wie auch von deren Geschichte, die sich im Wissen und Lernen der Beurteiler niederschlägt, bestimmt.

Anhang Konsonante Dissonanzen Die Feststellung, daß der Konsonanz-Dissonanz-Grad eines Akkords vom Kontext abhängt und keine invariante Eigenschaft ist, ist vage, da sie sehr unterschiedliche inhaltliche Präzisierung erfahren kann. GARDENER und PICKFORD (1943}, die zu jener Aussage gelangten, wiesen die Veränderung des Dissonanzeindrucks bei jeweils verschiedenem Adaptationsniveau nach: Ein dissonanter Akkord, der zwischen zwei ihn an Schärfe übertreffenden Mehrklängen eingebettet ist, erscheint milder, als wenn er ins Verhältnis zu konsonanteren gesetzt wird. Daß man den Septakkord als sehr milde empfindet, wenn er wie bei Richard Wagner als Auflösung eines schärferen Klanges gebraucht wird, hängt mit dem gleichen, in dem Versuch von Gardener und Pickford demonstrierten Phänomen zusammen, daß Urteile durch den Bezugsrahmen bestimmt werden.

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Ebenfalls durch den Kontext erklärbar, aber von der beschriebenen Relativierung abzuheben, ist die Veränderung des Konsonanz-Dissonanz-Eindrucks je nach der syntaktischen Verwendung eines Akkords. Mollsext-Akkorde im dreistimmigen Satz unterscheiden sich von Akkorden gleicher Intervallstruktur, die jedoch als Sextvorhalte eines Grundakkords zu deuten sind. Diese bedürfen im Gegensatz zu jenen der Auflösung. Abzuheben hiervon sind klangidentische Akkorde, die im musikalischen Zusammenhang unterschiedliche Funktionen einnehmen können, die jedoch jeweils durch ihre Funktion zu einem hinsichtlich des Intervallaufbaus anderen Akkord werden. Isoliert dargeboten, besitzen sie nicht wie Mollsext-Akkorde jene Zweideutigkeit, die erst durch einen Zusammenhang geklärt werden kann. Auch der Kunstgriff, Akkorde durch ihre Stellung zu schärfen, ist jener allgemeinen Feststellung der Kontextabhängigkeit zuzurechnen. Unvorbereitetes, die Hörerwartung mißachtendes Auftreten einer Dissonanz kann ihren Charakter unterstreichen. So wirkt der erste Akkord des Schlußsatzes von Beethovens 9. Sinfonie weitaus dissonanter als dies bei einer entsprechenden Tonikavorhaltsbildung, der nicht zugleich ein besonderes Gewicht durch eine Synkope verliehen wird, gegen Ende einer musikalischen Phrase der Fall wäre. Die bloße Feststellung der Kontextabhängigkeit des KonsonanzDissonanz-Eindrucks von Mehrklängen bedarf zumindest der Ergänzung durch eine differenzierte Aufzählung von Möglichkeiten, damit dieser Sachverhalt nicht durch eine Verallgemeinerung vereinfacht wird. Die veränderte Wahrnehmung eines Objekts in Abhängigkeit vom Bezugsrahmen betrifft nicht nur akustische Reize, sondern gilt für alle Sinnesgebiete. Die Wahrnehmung liefert keineswegs ein getreues Abbild der Umwelt. Eine eindeutige Entsprechung von Physikalischem, Physiologischem und Psychischem wird jedoch insoesondere für das Phänomen „Konsonanz" aufrechterhalten (vgl. REINECKE 1962, S. 42). Dies hängt vielleicht mit der Eigenart des Merkmals „konsonant" zusammen. Die Bezeichnung eines Gegenstandes als konsonant wirkt nicht selbstverständlich, sondern heischt besondere Erklärung. Wird ein Objekt hingegen als rot oder laut benannt, so kann diese Beschreibung genügen. Frequenz und Amplitude von Schwingungen werden hierbei allenfalls als physikalische Korrelate angesehen und selten als Begründung gebraucht. Bei der Feststellung des Konsonanzeindrucks neigt man jedoch zu Aussagen, die Konditional- oder Kausalsätze darstellen und Bezug auf die physikalische Struktur nehmen; ein Konsonanzeindruck liegt dann vor, „wenn einfache Schwingungsverhältnisse herrschen" oder „er entsteht, weil ... ". HELMHOLTZ' Hinweis (4/1877, S. 4), daß das Bemühen um Reduktion auf Physikalisches bzw. auch Physiologisches aus der Eigentümlichkeit musikalischer Vorgänge resultierte, stellt allenfalls den Versuch einer Legitimierung seines eigenen Werkes dar, will in anderen Zusammenhängen aber nicht einleuchten. Psychologische Definitionen verzichten häufig nur scheinbar auf Implikationen, die das Verhältnis der akustischen Realität zu psychischen Vorgängen betrifft, insbesondere dann nicht, wenn sie nicht nur als schmückende Beiworte zur Konsonanz gebraucht werden wollen. Scheint doch selbst STUMPFs Verschmelzung fast nur ein Synonym für den Ausdruck „konsonant" zu sein, zumindest wird sie von ihm selbst als unzureichend empfunden, der Fundierung durch Physiologisches, nämlich durch „specifische

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Synergien" (1890, S. 214}, bedürfend. Eine ausreichende Erklärung von Konsonanz und Dissonanz vermag eine nur physikalische Begründung nicht zu liefern. Die Art der Wahrnehmungsorganisation wie auch die geschichtlichen Implikationen dieser Begriffe machen es unmöglich, daß die akustische Beschreibung eines Akkords und der Konsonanzeindruck ineinander übergeführt werden können. Daß das Urteil über einen Akkord abweichen kann von den Voraussagen, die man aufgrund seiner Proportionen u.ä. treffen kann, wirkt also kaum überraschend. Von den beschriebenen Kontextabhängigkeiten des Konsonanzeindrucks hebt sich aber die merkwürdige Beobachtung ab, daß bei isolierter Darbietung Dur-Dreiklänge, die eine kleine Sept aufweisen, die also den Anschein einer Dominante erwecken, sehr viel konsonanter eingeschätzt werden als andere, die Intervalle geringerer Schärfe besitzen. Die sich aufdrängende funktionale Deutung solcher Akkorde unterscheidet sie von anderen und liefert daher vielleicht einen Gesichtspunkt zur Interpretation ihrer geringen Schärfe. Zumindest wird die Frage aufgeworfen, ob die Erinnerung an eine Funktion die Milderung einer Dissonanz bewirken kann. Folgender Versuch sollte klären, ob zwischen funktional zu deutenden Akkorden und solchen, die es nicht sind, hinsichtlich des Konsonanzeindrucks ein Unterschied besteht: Von zwei musikalischen Phrasen, die jeweils acht dissonante Akkorde umfaßten, sollte der durchschnittliche Konsonanz-Dissonanz-Eindruck ihrer Mehrklänge beurteilt werden. Nicht nur in der Länge, sondern auch hinsichtlich ihres Rhythmus und der Art ihrer melodischen Bewegung glichen sich die beiden Phrasen. Beide enthielten Akkorde, deren Intervallaufbau gleich war, Phrase A erlaubt, die Akkorde funktional aufeinander zu beziehen, in Phrase B war jeder funktionale Bezug vermieden, was jedoch nicht bedeutet, daß sie darum als musikalisch sinnlos zu werten ist. Die mangelnde funktionale Deutung in B wurde durch eine andere Reihenfolge der Akkorde erzielt und vor allem dadurch, daß sie nicht einer Tonart entstammten. Letzteres schafft Unterschiede zwischen den beiden Phrasen - so etwa in B weniger Tonwiederholungen, weniger Sekundschritte, eine größere Anzahl von verschiedenen Tönen; Unterschiede, die jedoch notwendig zu dem Gegensatz „funktional zu deuten / nicht funktional zu deuten" gehören. Die Funktionen in Phrase A beschränken sich mit einer einzigen Ausnahme auf Subdominante und Tonika. Dominantsept-Akkorde wurden bewußt vermie7 den, weil ihre Bedeutung auch in anderen Zusammenhängen bestehen bleibt. D ist in dieser Hinsicht „charakteristischer" als Sg, was wohl damit zusammenhängen mag, daß Dur-Dreiklänge mit einer kleinen Septime in der dur-moll-tonalen Musik immer als Dominanten behandelt werden, wohingegen eine hinzugefügte Sexte bei jeder Funktion und nicht nur bei der Subdominante gebraucht wird. Akkorde, deren Bedeutung in so starker Weise fixiert ist - selbst ohne Zusammenhang erinnern sie an Dominanten -, erschienen unbrauchbar zur Konstruktion einer Phrase, deren Akkorde keine funktionale Deutung erlauben sollten. Die beiden Phrasen wurden auf dem Klavier gespielt, auf Tonband aufgenommen und 30 Beurteilern (Schulmusiker höherer Semester) in jeweils zufälliger Reihenfolge dargeboten. Nach mehrmaligem Anhören sollte auf einer neunstufigen Skala der mittlere Konsonanzgrad der Akkorde von Phrase A und B angegeben werden:

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A

2

3

4

ß

5

8

6

S9

Di

5

3

2

6

4

8

T

Die beurteilten musikalischen Phrasen Ein Einwand gegen dieses methodische Vorgehen entsteht durch Überlegungen hinsichtlich der Art der Urteilsbildungen. Den mittleren Konsonanzgrad mehrerer Akkorde anzugeben, ist eine unübliche Aufgabe. Andere Möglichkeiten der Untersuchung bieten sich jedoch kaum an. Die isolierte Darbietung von Akkorden garantiert keine funktionale Auffassung derselben. Gardeners und Pickfords unterschiedliche Einbettung eines Akkords bringt andere Variable, so etwa den Kontrast, ins Spiel, so daß aufgrund der Kontamination mit diesen sich der Einfluß der Funktion nur schwer feststellen läßt. Für das hier vorgenommene Experiment kann man jedoch geltend machen, daß das Urteil, das von den Vpn verlangt wurde, nicht so schwierig war, wie es theoretische überlegungen erscheinen lassen. Dies hängt mit der Homogenität der verwendeten Akkorde zusammen. über einen konsonanten und einen dissonanten Akkord läßt sich schwerlich ein gemeinsames Urteil abgeben. Mehrklänge, die einander recht ähnlich sind, lassen sich hingegen viel leichter „auf einen Nenner" bringen. Die nicht allzu große Streuung bestätigt diese Annahme:

Mittelwert

Streuung

A

3 ,60

2, 11

B

6,13

2,74

t

=

6,33 ss

Tabelle 8. Mittelwerte und Streuungen des Konsonanzeindrucks von Phrase A und B Da die Urteile annähernd normal verteilt waren und die Homogenität der Varianzen (F = 1,9 ns) gesichert erschien, wurde der Unterschied der Einschätzungen von Phrase A und B mit Hilfe eines Mittelwertvergleichs (für abhängige Stichproben) geprüft. Er erwies sich als sehr signifikant (t = 6,33 ss). Die Akkorde von Phrase A, die funktionale Deutungen erlaubten, wurden somit sehr viel konsonanter beurteilt als die von Phrase B. Die Interpretation dieses Ergebnisses fällt nicht leicht; dies hängt mit den unvermeidbaren Mängeln des Versuchsplans zusammen, wenn nicht gar mit dem Gegenstand der Untersuchung selbst. Beschränkt man sich nicht auf die Feststellung, daß der lntervallaufbau von Akkorden offensichtlich nicht ausschließlich für den Konsonanz-Disso-

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nanz-Eindruck verantwortlich zu machen ist, so müssen Hypothesen an Stelle einer eindeutigen Erklärung stehen. Auch ohne die Kompetenz der Beurteiler anzuzweifeln, ist es nicht ausgeschlossen, daß sich mit dem Urteil „konsonanter" bzw. „dissonanter" ein anderes, nämlich „geordneter" bzw. „ungeordneter" vermischt. Die Kompetenz der Beurteiler wäre nur für den Fall in Frage gestellt, wo die Assoziation von konsonant und geordnet auf mangelnden Umgang mit anderer als nur dur-moll-tonaler Musik zurückzuführen wäre. Dies läßt sich mit Sicherheit ausschließen. Mutmaßt man jedoch trotzdem einen Zusammenhang zwischen dem Urteil „konsonant" und „geordnet", so wäre daran zu denken, ob nicht vielleicht beide Ausdrücke als Synonyme füreinander fungieren, ob also das Urteil „konsonant" für die Akkorde der Phrase A eine mangelnde Differenzierung des Wortgebrauchs andeutet. Andererseits scheint es, daß man sich mit solchen Gedanken in wilden Spekulationen verlieren muß. Phrase B ist ohne Zweifel ebenso geordnet wie Phrase A. Andere Überlegungen, die eine Verquickung des Urteils „konsonant-dissonant" mit „einfach-kompliziert" zu erfassen trachten, führen ebenfalls in die Irre. Unterschiede zwischen den beiden Phrasen, die als geordnet oder einfach zu bezeichnen wären, lassen sich nicht hinreichend beschreiben. Lediglich mit einer Interpretation, die den funktionalen Bezug der Akkorde in Phrase A heranzieht, ist es möglich, auch den erwähnten, vergleichsweise konsonanten Eindruck der an eine Dominante erinnernden Sept-Akkorde zu erklären. Die Feststellung, daß funktionale Deutung Akkorde milder erscheinen läßt, charakterisiert den Unterschied der Einschätzungen von Phrase A und B am besten; eine Begründung dieses Ergebnisses liegt jedoch nicht auf der Hand. Ruft ein Reiz die gleiche, wenn auch an Intensität schwächere Reaktion hervor, die auf einen anderen Reiz gelernt wurde, so spricht man von Generalisation. Die Ursache hierfür wird zumeist in einer wahrnehmungsmäßigen Ähnlichkeit der beiden Reize gesehen. Stellt man stattdessen - in Anlehnung an E. C. TOLMANs ( 1932) Lerntheorie - eine erlernte Kategorisierung in Rechnung, so ließe sich folgern, daß das gehäufte Auftreten zweier aufeinander bezogener Reize - so etwa das einer dissonanten Dominante und einer konsonanten Tonika - subjektiv erlebte Ähnlichkeit zwischen beiden schafft, so daß eine ähnliche Reaktion auf den einen wie den anderen Reiz erfolgen kann. Werden subdominantisch oder dominantisch zu deutende dissonante Akkorde konsonanter eingeschätzt als solche vergleichbarer Intervallstruktur, so wirkt dies einleuchtend, da sie einem Repertoire entstammen, in dem ein dissonanter Akkord durch die Wahrscheinlichkeit einer nachfolgenden Konsonanz charakterisiert ist. Ihr KonsonanzDissonanz-Grad bemißt sich nicht an der Schärfe ihrer Intervalle, sondern an ihrem Auflösungsbedürfnis. Dieses aber ist eine ihnen integrierte, erlernte Erwartung der Konsonanz, die die Dissonanzwirkung modifiziert. Funktional zu deutende Akkorde heben sich so von anderen ab, da sie durch Merkmale charakterisiert werden, die nur eine Beschreibung im Hinblick auf das System, dem sie zugehörig empfunden werden, zulassen. Das Konsonanzenverbot der atonalen Musik, mit dem weniger ein Vermeiden von Konsonanzen als der konsonanter wirkenden Dissonanzen, also funktional zu deutender Klänge, angestrebt ist, läßt sich als Verbot von Zeichen eines fremden Vokabulars ansehen, das andere Differenzierungen und Ähnlichkeiten besitzt als das eigene.

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ZUSAMMENFASSUNG Dem Merkmal „Konsonanz - Dissonanz" kommt trotz der unterschiedlichen Auffassungen, die hierüber bestehen, bei der Beschreibung von Zwei- und Mehrklängen eine besondere Bedeutung zu. Mit Hilfe einer mehrdimensionalen Skalierung von Akkorden - einem Verfahren, das bislang in musikpsychologischen Arbeiten noch kaum zur Anwendung kam - konnte gezeigt werden, daß sich das Ähnlichkeitsurteil aber nicht auf diese Dimension beschränkt. Neben dem Eindruck von „Konsonanz" und „Dissonanz" ist auch bei isolierter Darbietung der „Harmoniecharakter" (WELLEK 1963) für die Beurteilung eines Akkordes wichtig, weiterhin seine Helligkeit und Terzhaltigkeit. Diese vierfaktorielle Auffächerung des Urteils erfährt eine Reduktion, wenn man die Eigenschaften von Akkorden sprachlich charakterisieren läßt. Verbalisierung von Eindrücken ist mit Einengung verbunden. Widersprüchliche Informationen, wie aus der Einschätzung des weich wirkenden, aber als dissonant geltenden verminderten oder übermäßigen Dreiklangs hervorgeht, werden dadurch verarbeitet, daß eine andere nicht mit diesem Widerspruch behaftete Dimension für ihre Beurteilung gesucht wird. Daraus läßt sich schließen, daß der Urteilsvorgang nicht additiv verläuft. Die Beurteilung von Akkorden ist (vgl. Anhang) nicht nur von ihrem Intervallaufbau abhängig, sondern auch von der Erfahrung und vom Wissen der Beobachter, in denen sich die Geschichte eines Mehrklanges widerspiegeln kann.

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KONSONANZ UND DISSONANZ

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DIE TONHOHENWAHRNEHMUNG UND DIE NEUROPHYSIOLOGISCHEN BEDINGUNGEN DES GEHÖRSINNES HORST-PETER HESSE

Die wissenschaftliche Untersuchung des Gehörsinnes basiert noch heute überwiegend auf dem durch Georg Simon OHM (1843) und Hermann von IIELMHOLTZ (186 3 ) geprägten Grundgedanken der klassischen Hörtheorie, daß das Ohr eine Spektralanalyse der Schallsignale vornimmt und die akustischen Wahrnehmungsqualitäten daher auf die Elemente dieses Spektrums, nämlich auf sinusförmige Schwingungen, zu beziehen sind. Man geht davon aus, daß die Grundfrequenz des Schallvorganges die Tonhöhenempfindung bestimmt; das Gesamtspektrum, charakterisiert durch Anzahl und relative Amplitude der Harmonischen, wird als physikalisches Äquivalent der Klangfarbe angesehen. An die Stelle der alten Vorstellung, daß der die Frequenzanalyse durchführende organische Mechanismus eine Serie resonanzfähiger Querfasern der Basilarmembran sei (HELMllOLTZ 1863), sind heute - vor allem auf Grund der eindrucksvollen Forschungsergebnisse von BEKESYs (1960) - hydrodynamische Theorien getreten (vgl. ZWISLOCKl 1953). Grundlage der Überlegungen blieb dabei die Suche nach einem physiologischen Vorgang, durch den der Schallreiz derart in Komponenten aufgeteilt wird, daß jede Schallfrequenz an einem spezifischen Ort im Innenohr Nervenimpulse auslöst. Es wird meist nicht weiter verfolgt, daß das Hörproblem mit der örtlichen Aufgliederung der Frequenzkomponenten einer komplexen Welle durchaus nicht gelöst ist. Denn dadurch entsteht die neue Frage, wie man sich die darauffolgende Phase des Hörvorganges, nämlich die Synthese zu einer einheitlichen Wahrnehmung, zu denken hat. Gewisse allgemein bekannte Tatsachen deuten darauf hin, daß ein zweistufiger Hörvorgang dieser Art sogar recht unwahrscheinlich ist. Einerseits ist kein pathologischer Fall bekannt, wo die Synthese - also der zweite Schritt - versagt und jemand z. B. zwanzig Teiltöne statt einer Klangfarbe gehört hat. Andererseits muß es überraschen, daß der Tonhöheneindruck nicht etwa bei rein sinusförmigem Schall besonders eindeutig ist, denn bekann dich ist er in diesem Falle abhängig von der Schallintensität (vgl. STEVENS und DAVIS 1938). Er wird im Gegenteil gerade dann sehr präzise und eindringlich, wenn das Schallsignal zahlreiche Oberwellen enthält, die eine Beurteilung doch eigen tlich erschweren müßten. Besonders schwierig wird die Lage, wenn ein komplexer Schallreiz zwar ein harmonisches Spektrum aufweist, in diesem Spektrum aber die Grundfrequenz fehlt. Auch dann entspricht die empfundene Tonhöhe nämlich der (im Schall nicht enthaltenen) Grundschwingung. Man glaubte früher, dieses Phänomen durch eine Hilfshypothese erklären zu können. Wenn man annimmt, daß die Schallwelle während der Übertragung in das Innenohr nichtlinear verzerrt wird, so müssen dabei Differenzfrequenzen entstehen. Da der

TONHÖHENWAHRNEHMUNG

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Frequenzabstand zwischen den einzelnen Harmonischen des ursprünglichen Schallsignals gleich der fehlenden Grundfrequenz ist, muß diese also durch die nichtlineare Übertragungscharakteristik als Differenzfrequenz zwischen je zwei benachbarten Harmonischen im Ohr selbst entstehen. Bereits im vorigen Jahrhundert übten mehrere Forscher auf Grund verschiedener Experimentalergebnisse Kritik an diesem Denkmodell, ohne jedoch in der Wissenschaft größere Resonanz zu finden. Heute dagegen erlauben die Mittel der modernen Elektroakustik Versuchsanordnungen, die eindeutig den Nachweis liefern, daß die Grundidee der klassischen Hörtheorien mit verschiedenen wahrnehmungspsychologischen Fakten unvereinbar ist.

Experimente zur Tonhöhenwahrnehmung Aus der Vielzahl der kritischen Experimente sollen an dieser Stelle nur einige Beispiele angeführt werden. l. Bereits vor drei Jahrzehnten gelang SCHOUTEN (1940) der Nachweis, daß die Tonhöhenempfindung bei grundfrequenzlosen Schallreizen nicht durch sogenannte Differenztöne zu erklären ist. Mit Hilfe kurzer Rechteckimpulse wurden Signale erzeugt, die den gleichen Frequenzabstand zwischen den Harmonischen, aber verschiedene Periodizität aufweisen. Solche Impulsfolgen haben ein breites Frequenzspektrum, das u. a. davon abhängt, ob die Ausschläge alle in eine einzige Richtung erfolgen (unipolare Impulse) oder ob positive und negative Impulse abwechseln (bipolare Impulse). Während bei unipolaren Impulsfolgen alle Harmonischen im Spektrum vertreten sind, enthält das Signal bei wechselnder Polarität nur die ungeradzahligen. Die Grundfrequenz der Reihe wird jeweils durch die Periodendauer bestimmt. Wählt man bei einem unipolaren Signal den Impulsabstand 2,5 msec, so ist auch die Periodendauer 2,5 msec, die Grundfrequenz also 400 Hz. Das Spektrum enthält dann Sinuskomponenten von 400, 800, 1200, ... Hz. Bei einem bipolaren Signal ist dagegen bei gleichem Impulsabstand die Periodendauer 5 msec, die Grundfrequenz also 200 Hz. Das Spektrum enthält Komponenten mit den Frequenzen 200, 600, 1000, ... Hz. Der Abstand zwischen den Harmonischen und damit die gemeinsame Differenzfrequenz zwischen allen benachbarten Schwingungskomponenten beträgt bei beiden Signalen jeweils 400 Hz. Unabhängig davon, ob die Grundfrequenz im Spektrum enthalten ist oder durch Interferenz ausgelöscht wird, hört man jedoch bei dem unipolaren Signal eine Tonhöhe wie bei sinusförmigem Schall von 400 Hz, bei dem bipolaren dagegen entsprechend Sinusschall von 200 Hz. Das ändert sich auch nicht, wenn man - wie LICKLIDER (1956) es in späteren Untersuchungen tat - die eventuell im tiefen Frequenzbereich entstandenen Differenzfrequenzen durch ein Rauschband verdeckt. Damit ist die Behauptung widerlegt, daß die Tonhöhenempfindung nur über spezifische, an einen bestimmten Cochleaort gebundene Nervenfasern erfolgen kann. Der Tonhöheneindruck wird bei dieser Versuchsanordnung also eindeutig durch die Periodizität der Wellenform bestimmt und ist weder

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HORST-PETER HESSE

an das Vorhandensein der Grundfrequenz im Schallsignal noch an die Differenzfrequenz gebunden. 2. Eine weitere Möglichkeit, dieses Problem zu untersuchen, bieten amplitudenmodulierte Schallwellen. Als Amplitudenmodulation bezeichnet man die periodische Änderung der Amplitude einer hochfrequenten, sogenannten Trägerwelle im Rhythmus einer niederfrequenten Schwingung. Man kann sie erzeugen durch multiplikative Verknüpfung von Trägerwelle und modulierendem Signal. Sind beide Komponenten sinusförmig, so läßt sich das entstandene amplitudenmodulierte Signal mathematisch als Summe dreier Sinusfunktionen darstellen. Eine Spektralanalyse ergibt also drei Spektrallinien: Es sind die Trägerfrequenz und dazu zwei Seitenfrequenzen, die sich aus Addition bzw. Subtraktion von Träger- und Modulationsfrequenz ergeben. Erzeugt man beispielsweise mit einer Trägerfrequenz von 2000 Hz und einer Modulationsfrequenz von 200 Hz auf die genannte Weise ein Schallsignal, so enthält dieses drei Spektralkomponenten mit den Frequenzen 1800, 2000 und 2200 Hz. Auch in diesem Falle kann man einen tiefen Ton hören, dessen Tonhöhe gleich der eines Sinustones von 200 Hz ist. (Wir benutzen den Ausdruck „Sinuston" als abkürzende Bezeichnung desjenigen Tones, den das Ohr empfindet, wenn eine sinusförmige Schallwelle mit mittlerer Intensität auf das Ohr geleitet wird.) Weil die bei nichtlinearer Verzerrung zwischen den benachbarten Harmonischen entstehende Differenzfrequenz ebenfalls 200 Hz ist, könnte man diesen Ton also für einen Differenzton halten. Erhöht man nun aber die Trägerfrequenz auf 2050 Hz und läßt die Modulationsfrequenz konstant, so werden alle drei Spektralkomponenten um den gleichen Frequenzbetrag verschoben. Aus dem harmonischen V omplex entsteht nun ein unharmonischer mit den drei Frequenzkomponenten 1850, 2050 und 2250 Hz. Weil die Differenzfrequenz unverändert 200 Hz ist, sollte man erwarten, daß die Tonhöhe des scheinbaren Differenztones gleichbleibt. Tatsächlich aber steigt sie etwas. Entsprechend dem Frequenzanstieg der Trägerwelle ist sie nun gleich der eines Sinustones von 205 Hz. Einerseits ist damit bewiesen, daß die Tonhöhenbestimmung nicht auf der Auswertung des Spektrums beruht, andererseits wird deutlich, daß auch die Hüllkurve des gesamten Schwingungsvorganges nicht entscheidend ist; diese nämlich wird nur durch die Modulationsfrequenz und den Amplitudenhub bestimmt, die in diesem Falle unverändert blieben. Vergleicht man dagegen die zeitliche Gliederung der beiden - nicht in Komponenten aufgelösten - komplexen Schallwellen in obigem Beispiel, so findet man einen entscheidenden Hinweis auf den Vorgang, der der Tonhöhenbestimmung offenbar zugrunde liegt. Bei harmonischem Spektrum (in diesem Beispiel: Trägerfrequenz 2000 Hz, Modulationsfrequenz 200 Hz) wird eine Periode des Signals von genau n Perioden der Trägerwelle (in diesem Falle n= lO) ausgefüllt. Trifft (bei entsprechendem Phasenverhältnis) ein Maximum der Trägerwelle genau auf einen Gipfel der Hüllkurve, so muß sich beim nächstfolgenden Hüllkurvengipfel das gleiche Bild ergeben. Der zeitliche Abstand zweier Hauptgipfel der komplexen Welle ist gleich der Periodendauer des Signals.

Modulierendes Signal

Trägerwelle

Abb. 1. Amplit11dcnmodulation

m = 1, 2, 3

m = J,2 , 3,4,5 , 6

m = 2, 3, 4, 5, 6

Abb. 2.

F(t) =

~ m

A . sin 27T (m. d) t

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Bei unharmonischem Spektrum (Trägerfrequenz 2050 Hz, Modulationsfrequenz 200 Hz) ändern sich die Verhältnisse jedoch. Ausgangspunkt der Betrachtung sei wieder ein Hilllkurvengipfel, auf den ein Maximum der Trägerwelle trifft. Da die Trägerfrequenz erhöht wurde, eilt die Trägerwelle jetzt gegenüber der konstant gebliebenen Hüllkurve ein wenig voraus und erreicht ihr Maximum kurz vor dem Enveloppengipfel. Der Abstand der Hauptgipfel des Schwingungsvorganges ist daher etwas kleiner als die Modulationsperiode. Diese Verkleinerung aber entspricht genau der Tonerhöhung. Man kann daher den Schluß ziehen, dag das komplexe Schallsignal im Innenohr nicht sofort in Frequenzkomponenten aufgelöst wird und die zeitliche Gliederung des komplexen Schallsignales für den Tonhöheneindruck maßgeblich ist. 3. Benutzt man als Schallreiz nicht eine aus wenigen Frequenzkomponenten zusammengesetzte Welle, sondern „weißes Rauschen", so ergibt sich eine Möglichkeit, verschieden periodische Schallsignale ohne Änderung des Spektrums zu erzeugen. Unterbricht man dieses Geräusch in gleichmäßigen Abständen, so kann man dies als Amplitudenmodulation mit einer Rechteckkurve auffassen. Eine Amplitudenmodulation erzeugt Seitenbänder um die Trägerfrequenz. Ist diese selbst aber ein Geräusch mit kontinuierlichem Spektrum, in dem also alle Frequenzen gleichmäßig vertreten sind, so ändert die Modulation nicht die Uniformität des Spektrums. Bei Unterbrechung in regelmäßigen Intervallen bleibt das vom Kopfhörer übertragene Frequenzgemisch daher gleich dem eines beständigen Geräusches. Die Frequenz, die der Unterbrechungsanzahl entspricht, wird im Spektrum nicht intensiviert. MILLER und TAYLOR (I948) benutzten derartige Signale und stellten fest, daß das Ohr nicht nur verschiedene Unterbrechungsfrequenzen unterscheiden kann, sondern daß es bei derartigen Folgen von Rauschpulsen eindeuti~e Tonhöhen empfindet. Die Versuchspersonen konnten auf Grund von Tonhöhenvergleichen die Frequenz von Sinusschwingungen auf die Unterbrechungsfrequenz einstellen. Das Ohr unterscheidet hier also etwas, was ein Frequenzanalysator nicht tut. Folglich kann seine Fähigkeit, verschiedene Unterbrechungsfrequenzen als verschiedene Tonhöhen zu hören, nicht durch solche Theorien erklärt werden, nach denen die Tonhöhe durch die Grundfrequenz bzw. den dadurch bestimmten Ort der Maximalstimulation in der Cochlea bestimmt ist. Diese Forschungsergebnisse führen zu der Erkenntnis, daß die Tonhöhenempfindung nicht an sinusförmige Schallkomponenten gebunden ist. In den genannten Beispielen wurde nur eine periodische zeitliche Gliederung des Schallsignals vorausgesetzt. Eine derartige Gliederung aber ist nicht auf Puls- oder amplitudenmodulierte Signale beschränkt. Sie ist besonders dann sehr ausgeprägt, wenn eine Schallwelle aus mehreren, in harmonischem Frequenzverhältnis stehenden Partialschwingungen gebildet wird. Die Schallwelle ist dann durch Hauptgipfel im Abstand der Grundperiode gegliedert, unabhängig davon, ob eine Sinuswelle mit dieser Periodendauer (Grundfrequenz) im Signal enthalten ist. Bei regelmäßiger Phasenlage der Partialschwingungen heben sich die Hauptgipfel der komplexen Welle um so stärker aus der Umgebung heraus, je größer die Anzahl der Harmonischen ist. Doch nicht nur die geschilderten komplexen Schallsignale sind durch Periodizität gekennzeichnet, sondern auch die Sinuswelle. Als Konsequenz ziehen wir den Schluß,

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daß auch der durch Sinusschwingungen ausgelöste Tonhöheneindruck auf deren Periodizität beruhen könnte. Die Sinuswelle wäre dann also eine hinreichende, nicht aber die notwendige Bedingung für das Entstehen einer Tonhöhenempfindung. Es muß nun untersucht werden, inwieweit die anatomisch-physiologischen Bedingungen im Hörorgan diese Hypothese stützen.

Bestätigung der neuen Hypothese durch die Neurophysiologie In den Jahren nach 1950 brachten die elektrophysiologischen Untersuchungen von Tasaki, Davis und anderen mehrere Entdeckungen, die mit der traditionellen Theorie nicht zu vereinbaren sind. Seit den berühmt gewordenen Arbeiten von WEYER und BRAY (1930) weiß man, daß elektrische Wechselspannungen als Antwort auf Schallreize nicht erst im Hörnerv, sondern bereits in der Cochlea meßbar sind. Legt man eine Elektrode an das runde Fenster der Cochlea und eine zweite an eine neutrale Stelle, etwa den Nacken der Versuchstiere, so spiegelt diese im Bereich der Haarzellen des Cortischen Organs entstehende Potentialschwankung wie die von einem Mikrofon abgenommene Spannung genau die Form der Schallwelle wider. TASAKI und Mitarbeiter (1952) arbeiteten im Gegensatz zu früheren Untersuchungen mit mehreren Paaren von Mikroelektroden, von denen jeweils die eine in der Scala vestibuli, die andere in der Scala tympani an genau gegenüberliegenden Stellen der Cochleatrennwand angelegt wurde. Auf diese Weise wurden die Cochlea-Mikrofonpotentiale von kleinen Segmenten verschiedener Windungen der Schnecke in Bezug auf Amplitude und Phase als Funktion der Reizfrequenz untersucht. Bei Reizung mit Sinusschall ergab das Orts-Zeit-Muster der Potentialschwankungen eine Welle, die die Cochlea hinaufwandert bis zu einer frequenzabhängigen Stelle. Dieser Befund stimmt überein mit dem Verhalten der mechanischen Wanderwellen, die von Bekesy beobachtet hatte. In anderer Hinsicht bestand jedoch ein charakteristischer Unterschied. Bei niedrigen Schallfrequenzen beobachtt>te von Bekesy in der basalen Cochleawindung nur geringe Auslenkungen der Schneckentrennwand. Während die Welle in der Cochlea aufwärtswanderte, wuchs deren Amplitude, bis sie ein Maximum im oberen Cochleateil erreichte. Tasaki fand dagegen, daß niedrige Schallfrequenzen auch in der Basalwindung hohe elektrische Spannungsamplituden erzeugen. Man muß daraus schließen, daß die gleiche Membranauslenkung nicht in jeder Schneckenwindung die gleiche elektrische Spannung erzeugt, das Mikrofonpotential also nicht der Auslenkung, sondern vielleicht der Krümmung oder Spannung bestimmter Elemente proportional ist. Wenn aber, wie man seit langem annimmt, das Mikrofonpotential der Auslöser der Nervenimpulse ist, dann müßte diese Tatsache entscheidende Konsequenzen für das Nervenimpulsmuster haben. Tatsächlich bestätigte sich diese Vermutung. TASAKI (1954) konnte auch die Aktionspotentiale einzelner Nervenfasern von den verschiedenen Cochleasegmenten messen und .fand, daß die Nervenzellen in der basalen Cochlea-

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windung des Meerschweinchens auf praktisch alle Frequenzen im Hörbereich reagieren. Nicht nur Mikrofon-, sondern auch Nervenaktionspotentiale konnten dort als Reaktion auf tiefe Frequenzen gemessen werden , die das mechanische Auslenkungsmaximum im oberen Cochleateil erzeugen und denen gemäß der Ortstheorie an dieser Stelle spezifische Nervenfasern zugeordnet werden. Selbst die lokale Injektion von KCl-Lösung ir.1 oberen Cochleateil, die dort die Response unterbindet, änderte nicht die geschilderte normale Reaktion im basalen Teil. Diese Befunde decken sich mit anderen, bereits früher gemachten Erfahrungen. Durch Überreizung mit sehr starkem, hochfrequenten Dauerschall läßt sich im basalen Teil der Schnecke eine Schädigung des Cortischen Organs und ein damit verbundener gradueller oder abrupter Hochtonverlust herbeiführen.Je weiter die Schallfrequenz jedoch gesenkt wird, desto weniger spezifisch ist die Wirkung. Alleinige Tieftontaubheit kann auf diese Weise nicht erreicht werden (WEYER 1949). Auch durch chirurgische Abtragung von kleinen Segmenten des Cortischen Organs kann man keinen auf spezifische Frequenzen beschränkten Hörausfall erzeugen (DAVIS 1935, S. 212). All diese Beobachtungen schließen jegliche genaue Lokalisation der nervlichen Aktivität in der Cochlea aus. Der einzige Unterschied in der nervlichen Reaktion auf verschiedene Schallfrequenzen besteht darin, daß die basale Schneckenregion auf alle Frequenzen, der obere Bereich nur auf niedrige Frequenzen anspricht. Darüber hinaus fanden Tasaki und Mitarbeiter, daß ein Schallsignal, welches aus mehreren Komponenten mit verschiedener Frequenz besteht, in der Basalwindung Mikrofonpotentiale erzeugt, die der komplexen Schallwelle entsprechen. Eine Auflösung in Komponenten findet dort nicht statt, die Nervenzellen werden also erregt entsprechend dem Verlauf der zusammengesetzten Welle. Während der Mikrofoneffekt die Cochleatrennwand entlangwandert, zeigt sich eine Trennung in Frequenzkomponenten nur insoweit, als diejenigen mit höherer Frequenz eher weggedämpft werden als die mit niedriger. Das Innenohr ist demnach nicht als Kette von Bandpaßfiltem zu betrachten und daher nicht imstande, eine genaue Spektralanalyse der Schallsignale durchzuführen. Die physiologische Wirkung eines Schallreizes, insbesondere die Auslösung von Nervenimpulsen, erstreckt sich über einen ausgedehnten, mit fallender Frequenz anwachsenden Bereich der Basilarmembran. Die einzelnen Abschnitte des Innenohres kann man mit einer Serie von Tiefpaßfiltern vergleichen, deren obere Grenzfrequenz gegen das Helicotrema absinkt.

Das Zeitintervall an Stelle der Frequenz Die Anwendung einer Fourier-Analyse auf eine komplexe Welle und die Erklärung des totalen physiologischen Effektes als Summe der Wirkungen der konstituierenden Sinusschwingungen spiegeln keinesfalls die tatsächlichen Vorgänge im Innenohr wider. Andererseits aber liefert die geschilderte Funktionsweise die Voraussetzung dafür, daß jeder Schallreiz, der durch ausgeprägte Wellenfronten periodisch gegliedert ist, Nervenimpulse im Rhythmus der Periode auslöst, unabhängig davon, ob die Grundfrequenz

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im Schallsignal enthalten ist. Das ist sowohl bei den geschilderten Impulssignalen wie bei den Rauschpulsen unmittelbar verständlich. In den Schallwellen der Abbildung 2 wird eine steil ausgeprägte Wellenfront durch den die Periode abgrenzenden Hauptgipfel gebildet. Dieser Hauptgipfel bringt in allen Basilarmembransegmenten, die durch die Wanderwelle gereizt' werden, eine größere Anzahl von Nervenzellen zur Impulsauslösung als die nachfolgenden, kleineren Nebengipfel. Durch die Hauptgipfel werden also zusätzlich zum übrigen Impulsmuster im Rhythmus der Grundperiode weitere Impulse ausgelöst. Dies Prinzip gilt für alle gereizten Abschnitte der Schnecke, die Impulse im Abstand der Grundperiode bilden, also die zeitliche Obergliederung des gesamten Impulsmusters. An die Stelle der Frequenz einer Tonhöhen bestimmenden Sinuswelle setzen wir daher das Zeitintervall zwischen zwei Unpulsgruppen. Es ist nun nicht nur ersichtlich, warum auch nichtsinusförmige Schallwellen eine einzige Tonhöhenempfindung auslösen können, obgleich man bei einer Fourier-Analyse dieses Signals etliche Teilfrequenzen feststellt, sondern es wird auch klar, warum der Tonhöheneindruck in vielen Fällen sogar prägnanter ist als bei sinusförmigem Schall. Da nämlich die Hauptgipfel einer aus harmonischen Komponenten bestehenden Welle um so steiler ausgeprägt sind und um so höher aus der Umgebung heraustreten, je größer die Anzahl der Harmonischen ist, muß in gleichem Maße auch die Anzahl der genau mit der Grundperiode synchronisierten Nervenimpulse ansteigen.

Der Klangcharakter Das Ergebnis der Schallanalyse in der Cochlea ist kein ortsmäßig aufgereihtes Spektrum von Sinuskomponenten, sondern ein Impulsmuster, das sowohl durch ~eine räumliche Charakteristik als auch durch die zeitliche Gliederung Information über die Schallstruktur an die höheren Zentren der Hörbahn liefert. Nachdem mit dieser Feststellung das Modell der Fourier-Analyse verlassen worden ist, muß noch ein weiterer klassischer Gedanke aufgegeben werden. Sinustöne sind nach dem alten Konzept nur durch Tonhöhe und Lautstärke unterschieden (HELMHOLTZ 1863). Tatsächlich aber wechselt ihr Klangcharakter mit Frequenz und Amplitude der Schallwelle erheblich. Beispielsweise klingen Sinustöne in tiefer Lage weich und dumpf, in den höchsten Bereichen dagegen spitz und stechend. STEVENS (1934) fand, daß zwei charakteristische Empfindungsvariable - nämlich Klangvolumen und Klangdichte - jeweils mit den beiden Reizparametern Frequenz und Amplitude in systematischem Zusammenhang stehen, die ursprünglich nur auf die Tonhöhen- bzw. Lautstärkeempfindung bezogen wurden. Das Volumen wächst mit der Intensität und nimmt ab mit steigender Frequenz. Hohe, leise Töne haben geringes Volumen; tiefe, laute Töne dagegen großes Volumen. Die Dichte steigt mit Frequenz und Intensität. Die dichtesten Töne sind hoch und laut. Parallele Zusammenhänge zwischen den Wirkungen von Frequenz und Intensität lassen sich auch im physiologischen Bereich feststellen: 1. Man kann die flächenmäßige Ausdehnung der erregten Zone als physiologische Parallelerscheinung zur Volumenempfindung ansehen.

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2. Die auf die Flächeneinheit wirkende Schallenergie, die sich im Verhältnis der aktiven Nervenfasern zu deren Gesamtanzahl pro Flächeneinheit spiegelt, kann als Korrelat der Dichteempfindungen gelten. Wenden wir dieses Modell zunächst auf verschiedene, sinusförmige Schallwellen an : a) Je größer die Wellenlänge, desto weiter wandert die Erregungswelle die Schneckentrennwand entlang, desto größer ist also die erregte Fläche und damit die physiologische Basis der Volumenempfindung. b) Eine Schallschwingung mit niedriger Frequenz hat einen flacheren Anstieg der Membranauslenkung und damit des impulsauslösenden Mikrofonpotentials zur Folge als eine mit hoher Frequenz und gleicher Amplitude. Die Wahrscheinlichkeit, eine große Anzahl von Nervenzellen gleichzeitig überschwellig zu reizen und genau synchrone Impulse auszulösen, wächst mit steiler werdendem Anstieg. Bei den auf der Trennwand entstehenden Wanderwellen wird die Auslenkungsamplitude im Verlauf größer und damit der Anstieg steiler, der Effekt der Welle steigt also im Verlauf. Steigender Schallpegel bewirkt nun, daß erstens die Welle etwas weiterwandert, bis sie durch die Dämpfung verschwindet, und zweitens der Beginn der besonders effektiven Zone bereits näher an der Basis der Schnecke liegt und daher das stark gereizte Gebiet erheblich wächst. Deshalb müßte wachsender Schallpegel ebenfalls die Volumenempfindung steigern. c) Je höher die Schallfrequenz, desto kürzer ist die von den Wanderwellen zurückgelegte Strecke, auf desto engerem Raum kommt also die Gesamtenergie zur Wirkung. Außerdem steigt die Reizfolgegeschwindigkeit. Das Ergebnis ist, daß mehr Nervenzellen in kürzeren zeitlichen Abständen gereizt werden. Damit steigt die gesamte Impulsdichte und als deren Folge die entsprechende Empfindung. Diese bezeichnen wir jedoch nicht als „Dichte", sondern ersetzen den Begriff aus dem Stevensschen Dimensionspaar durch den Begriff „Helligkeit", der uns treffender erscheint. d) Eine entsprechende Steigerung der Impulsdichte und ihres psychischen Korrelats der Helligkeit - ergibt sich bei wachsender Schallintensität. Damit erzeugen bereits sinusförmige Schallwellen - je nach Frequenz und Amplitude durch die unterschiedliche Energieverteilung in der Cochlea verschiedenartige physiologische Vorgänge, die sich nach unserer Vorstellung in verschiedenem Klangcharakter spiegeln. Das Schema läßt sich in gleichem Sinne auf komplexe Wellen übertragen. Dies sei am Beispiel der Helligkeit gezeigt. Es lassen sich drei Helligkeitsreihen auseinanderhalten, deren physikalische Korrelate unabhängig voneinander variierbar sind. Diese beschreiben wir - wie bisher üblich - durch die Spektraldarstellung, damit Vergleiche mit der vorhandenen Literatur erleichtert werden. 1. Eine Helligkeitsreihe entsteht, wenn die Grundfrequenz eines Schalles bei Konstanz des relativen Teilfrequenzspektrums kontinuierlich erhöht wird. (Die unter c beschriebene Helligkeitszunahme durch Frequenzsteigerung bei sinusförmigem Schall ist als Greqzfall dieser Reihe anzusprechen.) 2. Eine zweite Helligkeitsreihe entsteht, wenn man einen Schall bei konstanter Grundfrequenz mit zusätzlichen Teilfrequenzen immer höherer Ordnung anreichert.

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3. Eine Aufhellung tritt weiter ein, wenn man ein Formantband von den niedrigsten bis zu den höchsten in emem bestimmten Schallspektrum enthaltenen Teilfrequenzen verschiebt, d. h. die relative Intensität der höherfrequenten Komponenten verstärkt. Allen Reihen gemeinsam ist, daß die Helligkeitszunahme zur Erhöhung der Impulsdichte parallel verläuft. Entsprechende Überlegungen lassen sich für das Volumen anstellen. Diese Modellvorstellung ist nicht aufs treng periodischen Schall beschränkt, sondern gilt in ähnlicher Weise bei Schmalbandrauschen, das als Sinuswelle aufzufassen ist, die sowohl in der Frequenz als auch in der Amplitude statistisch moduliert ist. Dabei ergeben sich entsprechende mittlere Werte für die physiologischen Erscheinungen. Bei komplexer Schallstruktur tritt über die beiden genannten Dimensionen hmaus noch eine weitere in Erscheinung. Ist die Schallwelle nämlich derart gegliedert, daß wenige Hauptgipfel eine Vielzahl kleinerer Nebengipfel deutlich überragen, so wird die zeitliche Folge des Impulsmusters diskontinuierlich.Jeder Hauptgipfel reizt einen hohen Prozentsatz der Nervenelemente, so daß kurzzeitig eine große Impulsdichte entsteht. Die nachfolgenden, kleineren Nebengipfel aber treffen auf viel weniger zündbereite Nervenzellen, so daß sie nur eine wesentlich geringere Impulszahl pro Salve auslösen. Wenn dagegen bei einem Schallsignal kein Gipfel die anderen wesentlich überragt, kommt es zu alternierenden Entladungen der vorhandenen Nervenzellen und damit zu einem im zeitlichen Verlauf gleichmäßigen Impulsmuster. Derartige - hier allerdings nur skizzierte -- neurophysiologische Vorgänge könnten die Ursache für den schärferen oder rauheren Klangcharakter sein, den man immer dann empfindet, wenn die Hüllkurve der Schallwelle breite und tiefe Einschnürungen aufweist (MATHES und MILLER 1947). Es scheint nach d en bisher vorliegenden Untersuchungen, daß der Klangcharakter durch die auf das Nerve'limpulsmuster bezogenen Dimensionen „Helligkeit", „Volumen" und „Rauhigkeit" zu erfassen ist. Diese Dimensionen stimmen mit den drei Gegensatzpaaren überein, durch die STUMPF (1890, S. 530) die „Klangfarbe im engeren Sinne " charakterisierte, nämlich: 1. dunkel - hell, 2. weich - rauh, 3. breit - dünn.

Die Analyse in den Cochleariskemen Eine Hörtheorie, die auf diesen Erkenntnissen aufbaut, erfordert als zweiten Schritt die Ausmessung der Zeitintervalle zwischen den genannten Impulsgruppen . Dieser Vorgang muß jenseits der Cochlea im neuralen Bereich stattfinden. Die ersten zentralen Schaltstationen im Verlaufe der Hörnervenbahn sind die Cochleariskeme in der Medulla oblongata, dem untersten Teil des Hirnstammes. Der Aufbau dieser Hirnzentren ist höchst differenziert, schematisch vereinfachend lassen sich aber zwei Haupttypen von Nervenzellen in ihnen unterscheiden (LORENTE DE NO 1933): 1. Zellen mit langem Fortsatz (Axon oder Neurit genannt). Die Neuriten dieser Zellen laufen weiter zentralwärts (efferente Fasern). 2. Zellen mit kurzem Fortsatz. Diese Neuriten verlassen den Cochleariskern nicht, sondern stellen innerhalb des Kerns Verbindungen her. Nervenzellen dieser Art wi:rden als Schaltneuronen bezeichnet.

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Die von der Cochlea aufsteigenden (afferenten) Nervenfasern laufen nicht - wie es eine reine Ortstheorie erfordern würde - als streng getrennte Leitungen zum Großhirn, sondern treten im Cochleariskern direkt oder über Schaltneuronen in Verbindung mit hunderten von efferenten Nervenzellen, die - umgekehrt gesehen - jeweils eine Vielzahl von Eingangssignalen erhalten. Zur überschwelligen Reizung einer dieser sekundären Nervenzellen kommt es nur, wenn mehrere afferente Impulse gleichzeitig - bzw. innerhalb eines den Bruchteil einer msec. betragenden Integrationsintervalles eintreffen. Zwischen überschwelliger Reizung und Impulsauslösung vergeht dann eine bestimmte Latenzzeit. Da die Reizleitung im Axon sehr schnell geschieht, ist diese Latenzzeit die einzige ins Gewicht fallende Verzögerung im Nervensystem. Zur Auswertung der im Cochleariskem ankommenden Nervenimpulse ist ein Mechanismus erforderlich, der einerseits periodische Gliederungen der Impulsserien erfaßt und andererseits nicht gestört wird durch unregelmäßige Lücken in der En tladungsfolge der individuellen Nervenzellen. LICKLIDER (1951) erkannte als erster, daß die anatomische Struktur der Cochleariskerne die für einen solchen Analysator erforderlichen Bedingungen erfüllen könnte. Aus der Weiterentwicklung seiner Gedanken entstand das Schema eines neuronalen Autokorrelators (vgl. Abb. 3). Die Neuronen Ai und Aj sind primäre Neuronen aus dem Spiralganglion des Innenohres. J edes von beiden steht in diesem Schema für eine Gruppe von Zellen, die nach dem Volley-Prinzip in alternierender Aktion eine Impulsfolge zum Cochleariskem leitet. Aus Gründen der Übersichtlichkeit projizieren wir die Leistung der Zellgruppen in jeweils ein einziges Neuron. Ist t die synaptische Verzögerung bei jedem Schaltneuron Bi und X • t der Abstand der Impulse des Neurons Aj, so wird Neuron cix gleichzeitig vom n-ten Impuls direkt und vom (n - 1)-ten Impuls über die Verzögerungskette gereizt und gibt dann ein Ausgangssignal. Wenn die Ausgangsimpulse der Neuronen Cix und Cj x innerhalb des Integrationsintervalls beim Neuron Dx eintreffen, so wird hier ein efferenter Impuls ausgelöst. Neuron Dx repräsentiert dann eine bestimmte Reizfrequenz oder genauer gesagt: ein bestimmtes Zeitintervall in der Schallstruktur. Ein derartiger Mechanismus würde um so exakter die zeitliche Gliederung der Schallreize bestimmen, je genauer die primären Nervenimpulse synchronisiert sind. Wir wissen mit Sicherheit, daß das in der Cochlea entstehende Impulsmuster auch nach dem Passieren des hypothetischen Autokorrelators auf seinem Weg zur Hirnrinde 110ch weitere Transformationsvorgänge durchmacht. Einer davon soll in diesem Zusammenhang noch näher betrachtet werden. Die im Cochleariskem ankommenden Impulse werden nach dem Volley-Prinzip transportiert, da eine einzelne Zelle nur Reizfrequenzen bis zu einer bestimmten oberen Grenze übertragen kann. Unter der gleichen Einschränkung stehen aber auch die Nervenelemente im Cochleariskern und in den weiteren Hörbahnabschnitten. In der Skizze des neuronalen Autokorrelators muß man sich daher auch unter jedem Neuron Deine alternierend arbeitende Gruppe vorstellen. Dieses Prinzip wird jedoch nicht während des ganzen Verlaufs der Hörbahn beibehalten. Die Messung der elektrischen Aktivität in der Hörsphäre der Hirnrinde zeigt, daß

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Abb. 3. Grundschema eines neuralen Autokorrelators

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eine reizsynchrone Response auf dieser höchsten Ebene nur bis zu Frequenzen von etwa 200 Hz festgestellt werden kann (GOLDSTEIN, KIANG und BROWN 1959). Da in den unteren Regionen der Hörbahn wesentlich höhere Impulsfrequenzen gemessen wurden (vgl. KEMP, COPPEE und ROBINSON 1937), muß man annehmen, daß die Frequenz - wahrscheinlich in mehreren Stufen - heruntertransformiert wird. Diese „Demultiplizierung" ist gleichbedeutend mit dem Abbau des Volley-Prinzips. Wenn nun die Periodendauer einer afferenten Impulsserie kürzer ist als die Refraktärzeit einer gereizten Nervenzelle, so kann diese Zelle nur auf jeden zweiten Impuls reagieren. Die Eingangsfrequenzen n oder 2n erzeugen also die gleiche Ausgangsfrequenz; eine derartige physiologische Gleichsetzung dieser Frequenzen aber kann auf die wahrnehmungsmäßige Oktavenäquivalenz bezogen werden.

Chroma Eines der Hauptprobleme der Gehörpsychologie bestand darin, daß einer Erklärung der doppelten Verwandtschaftsbeziehung zwischen Tönen - nämlich der Nachbarschafts- und der Oktavenähnlichkeit - das Fehlen einer parallelen Erscheinung auf der Reizseite entgegenstand. Die hier skizzierte Hörtheorie wird dagegen diesen Tatsachen gerecht. Sie basiert auf der Annahme einer zweistufigen Reizanalyse, die selbst bei sinusförmigem Schall zwei physiologische Vorgänge liefert, die den beiden Aspekten der Tonhöhenwahrnehmung entsprechen. Das Ergebnis der Cochlea-Analyse zeigt - wie bereits ausgeführt - physiol