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German Pages 159 [165] Year 1976
JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG
Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1975
Herausgegeben von Dagmar Droysen
Verlag Merseburger Berlin
Edition Mcrseburger 1475 ©1976 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten· Printed in Gcrmany Composersatz : Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Karin Mattoni und Heidemarie Schwarz Druck: Arno Brynda GmbH, Berlin
ISBN 3-87537-142-9
INHALT
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Mit freundlicher Ge riehmigung der Universal Edition A. G., Wien
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damals irgend denkbare musikalische Mannigfaltigkeit erzählen. Indem Mahlers Erzähltechnik zwischen musikalischem Material und Vortrag unterscheidet, ohne doch, wie nachmals Strawinsky, die beiden Elemente als getrennte ästhetisch zu objektivieren, gewinnt seine Musik einen bestimmten und doch nur schwer bestimmbaren Doppelcharakter. Indem ihre Materialgestaltung durch die wahrnehmbare Kategorie des Vortrags reguliert wird, entschlägt sie sich jeder, auch jeder scheinbaren Unmittelbarkeit. Hatte Ernst Bloch in Geist der Utopie den Ton des interpretatorischen Vortrags, nicht ohne Spitze gegen die Werkimmanenz von Musik, als Stifter musikalischer Unmittelbarkeit beschrieben (Philosophie der Musik, S. 82 f.), so definiert umgekehrt der auskomponierte Vortragscharakter den Ton von Mahlers Musik als durch und durch vermittelten. In Adornos Philosophie der neuen Musik wird Mahler in die Reihe der Vorläufer Strawinskys aus dem 19. Jahrhundert eingereiht, die nach einem Ausdruck Rudolf Kolischs „Musik über Musik" geschrieben haben, und überdies wird, als gemeinsamer Grundzug beider Komponisten, die Gebrochenheit des kompositorischen Verfahrens hervorgehoben (S. 168 f., S. 180 f.). Der hauptsächliche Unterschied zwischen Mahler und Strawinsky dürfte freilich weniger in ihrem Verhältnis zum Abgesang, den Strawinsky negiere, als vielmehr in der Art des Doppelcharakters ihrer Musiksprache bestehen. In gewissen Werken der neoklassizistischen Phase zitiert Strawinsky integrale Modelle und verfremdet sie dergestalt, daß Modell und Verfremdung als genau hörund bestimmbare Schichten der Komposition sich voneinander abheben. Als Autor gibt er sich zu erkennen gleichsam in den Akzidenzien, Mahler aber in der Substanz. Abgesehen davon, daß präzise Zitate in seinem Werk gegenüber dem ungefähr Erinnerten viel seltener vorkommen, bleibt kein herangezogenes Material, was es in seiner ursprünglichen Intaktheit war, sondern wird im Kompositionsprozeß von Mahlers Idiom erfaßt und verwandelt. Es ist die Leistung seines Tons, die mannigfachen Materialien zur musiksprachlichen Einheit zu integrieren, ohne daß darin ihr Ursprung völlig getilgt würde. Während Strawinsky, einem Satiriker vergleichbar, aus der vermeintlichen überlegenheit des Spätgeborenen heraus seine Modelle tendenziell zum bloßen Anlaß degradiert, die eigene Verfremdungskunst zu demonstrieren, ist Mahler, ein Epiker, durch Hinneigung und Liebe zu dem getragen, wovon er erzählt. Auch er befindet sich auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die epische Distanz, die seiner Musik aus dem Doppelcharakter von Material und Vortrag zuwächst, führt niemals, auch nicht bei der „mit Parodie" überschriebenen Stelle im dritten Satz der Ersten Symphonie, zum Auseinanderklaffen von Modell und dessen Parodie. Mahlers musikalische Verfremdungstechnik, Mittel seines epischen Erzählens, überläßt die zitierten Materialfetzen nicht ihrem Schicksal im symphonischen Kontext, noch verzerrt sie sie gar zu Fratzen, sondern führt sie, gebrochen durch die Qualität seines Tons, der von diesem gestifteten einheitlichen Sphäre zu. Die Bezeichnung „Musik über Musik", so präzis sie die Eigenart Strawinskys trifft, schießt demnach an der Mahlerschen vorbei. Ihr würde eher der Begriff des „Als ob" gerecht, mit dem sie bereits 1930 von Hans 4 Ferdinand Redlich (Mahler, S. 95 ) , freilich in pejorativem Sinn, charakterisiert wurde. Mahlers Musik spricht indessen gelegentlich nicht nur, was keinem Hörer entgeht, als ob sie des symphonischen Gattungsanspruchs sich entledigen und der unteren, der nicht artifiziell gefügten Musik zugehören möchte. Sie spricht umgekehrt - etwa im Finale der Dritten Symphonie - auch, als ob sie an die Möglichkeit ungebrochener Kunstmusik noch glaubte. Beides wohl zum Schein. Der komponierte Schein einer 4 Vgl. dazu Adorno, Mahler, S. 45.
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Emanzipation der heterogenen Stile im Kunstgebilde selber, diese absichtliche Uneigentlichkeit ist nichts als die Eigentlichkeit von Mahlers Ton. Weit entfernt, ein Makel zu sein, bezeugt die erst von Adorno ästhetisch legitimierte Uneigentlichkeit, die Mahlers Musik anhaftet (Mahler, S. 45 f.), in Wahrheit eine eminente kompositorische Leistung: sie enthüllt den Scheincharakter von Kunst im symphonischen Werk selber - wo er zuvor nur latent war -, ohne doch im geringsten zuzulassen, daß in dieser Enthüllung der Scheincharakter zerstört würde und Kunst dadurch in Prosa sich verwandelte. Sowohl einzelne Zitate oder zitatähnliche Versatzstücke wie ganze Satztypen aus der unteren ebenso wie aus der oberen Musik unterliegen dem, was Adorno mit einem aus der Mineralogie entlehnten Terminus Pseudomorphose nannte und was der Verfasser eher Verfremdung nennen möchte, da Pseudomorphose noch die mißliche Vorstellung einer unversehrten äußeren Form mit sich führt. Mahlers Ton, so ließe sich als vorläufige These formulieren, ist in seinem technischen Aspekt das Verfahren, heterogene musikalische Materialien und Stile, den Ländler so gut wie den weitausgreifenden Adagiotypus, ihres Ursprungs nach einheitlichen Prinzipien zu entfremden und sie zu einer eigenen, unverwechselbaren Musiksprache zu integrieren. Auf welche Weisen Mahlers Verfremdungstechnik die untere Musik gewisser niederer Qualitäten beraubt und auf der andern Seite der höheren ein Moment von Selbsterniedrigung verleiht, sei im folgenden an einigen Beispielen erläutert. Jeder Versuch, Mahlers Ton kompositionstechnisch zu dechiffrieren, muß sich allerdings bewußt bleiben, daß er sich mit dem Werk eines Komponisten befaßt, von dem der Satz stammt: „Das Beste der Musik liegt nicht in den Noten." (Nach dem Zeugnis Bruno Walters, Gustav Mahler, S. 69.) Aus dem ersten Trio des zweiten Satzes der Vierten Symphonie wollen wir die neun Takte nach Ziffer 4 (T. 94-102, Notenbeispiel 1) näher betrachten: Man griffe fehl mit der Umschreibung, Mahler nähere sich an dieser Stelle der Unterhaltungsmusik seiner Zeit an, für die das Werk Johann Straußens des Jüngeren einstehen mag, setzte das doch die kaum wertneutral gemeinte Formulierung voraus, es handle sich hierbei um ein vorübergehendes Abfallen von einer normalerweise durchgehaltenen mittleren oder oberen Stilhöhe. Mit größerem Recht ließe sich stattdessen sagen, Mahler entferne sich in diesen Takten von Volks- und gehobener Unterhaltungsmusik, die weitgehend deren stilistische Basis bilden, weg zur eigenen Musiksprache hin. Diese konkretisiert sich hier aus drei ineinandergreifenden kompositorischen Schichten: Geigenmelodie, Hornkontrapunkt (mit seiner subtilen Fortsetzung in Klarinetten und Violoncelli) und Begleitsystem. Die Geigenmelodie entspricht, isoliert betrachtet, in ihrer syntaktischen Regelmäßigkeit, der Sequenzbeziehung zwischen den beiden ersten Zweitaktphrasen, dem leicht strömenden rhythmischen Fluß mit Vorschlägen und Glissando durchaus der Melodik der zu Mahlers Zeiten noch gehobenen Unterhaltungsmusik. Zwar verhindern 2 1 die melodische Umspie!ung in T. 97 und die beiden leiterfremden Töne h und dcs in T. 99 bzw. 100 den Eindruck plattester Vulgarität, doch lebt auch die Unterhaltungsmelodik von der Würze eingestreuter Abweichungen. Ist aber Banalität, nach Hanns Gutmans treffender Formulierung, die Volkstümlichkeit der Komplizierten (Der banale Mahler, S. 105), so ist sie bei Mahler keine einfache, sondern eine komplexe Kategorie. Banal in einem eindimensionalen Sinn lautete die Passage, wenn die Geigenmelodie etwa folgendermaßen harmonisiert würde (Notenbeispiel 2):
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Notenbeispiel 2
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Die Harmonisierung trägt der impliziten Harmonik der Melodie auf einfachste Weise Rechnung und berührt lediglich im Zwischenakkord von T. 99 die Grenze eines eng umrissenen und regelkonform verwendeten Akkordbestandes. Ganz anders Mahler! Seine konventionswidrige Harmonik kritisiert die falsche Eingeschliffenheit der melodischen Konvention. Gewiß lassen sich die Akkordverbindungen der Takte 9 7 zu 98 mit Zwischendominante und Tonikaseptakkord, die der folgenden Takte (T. 99 - 102) als chromatischer Zug in zwei Schritten, E - Es Ges - F, erklären. Wichtig ist jedoch nicht die prinzipiell durchaus mögliche Erklärbarkeit des harmonischen Zusammenhangs, sondern der Sachverhalt, daß dieser sich an mindestens zwei Stellen der Passage quer zur impliziten Harmonik der Geigenmelodie stellt, in T. 9 7 /98 und in T. 101. Im letzteren Fall ersetzt eine Art harmonische Sequenzbildung - nach dem Modell der Rückung um einen Halbton nach unten (E Es, dann Ges F) - die an der Penultima erwartete Dominante durch einen Subdominantstellvertreter, den Neapolitaner, und verwandelt damit die der Geigenmelodie implizite authentische Kadenz in eine ihr widersprechende plagale. Eine andere, womöglich noch intrikatere Komplikation zeigen die T. 97-98: Sie lassen in der Schwebe, ob ihre Verbindung in der Tat als Dominante-Tonika- Progression oder aber als einfache Vermollung der Durmediante zu deuten sei. Welche Erklärung vorgezogen wird, hängt von der Bedeutung ab, die man dem gezupften tiefen F von Kontrabaß und Harfe in T. 98 beimißt. Nimmt man es gemäß dem abstrakten Tonbestand des Akkordes als funktional relevanten Grundton, so ergibt sich die Folge: Zwischendominante zur Tonikaparallele - Tonika 11 (III ~ - 17), also eine trugschlußähnliche Dominante-Tonika- Fortschreitung, die der impliziten Harmonik der Geigenmelodie noch korrespondierte. Auf der andern Seite fällt es schwer, dem instrumentations- und satztechnisch kohärenten Akkordsatz des 2. bis 4. Horns, der den A-Dur- Dreiklang vermollt und der bisher (von T. 94 an) alle Grundtöne enthielt, ein eigenes Gewicht abzusprechen, zumal beim besagten tiefen F (T. 98) die Orgelpunktfunktion, die der Ton von T. 84 an und gleich danach in T. 100/101 von neuem wieder besitzt, unterschwellig noch mitschwingt. Es ergäbe sich somit die trugschlußähnliche Vermollung einer Durmediante, genauer des Dominant-
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terzquartakkordes zur Tonikaparallele in F-Dur: III III ~lt. Eine Entscheidung zwischen den beiden Arten, die Akkordverbindung von T. 9 7- 98 zu erklären, braucht nicht gefällt zu werden, da beide sinnvoll hörbar sind, wenngleich sie einander ausschließen. Solche Komplexität einer Harmonik, die nicht nur hier im Gewand der Einfachheit auftritt, ist in ihrem Beitrag zur Auflösung der harmonischen Tonalität, die auf einem System von Funktionen beruht, noch Thema künftiger Forschung. Technisch wird Mahlers Ton neben seiner spezifischen, hier freilich nicht systematisch zu erörternden Instrumentationskunst in einem schwerlich überschätzbaren Maße von Orgelpunktverfahren mannigfachster Art bestimmt. Sie umfassen einfache Liegestimmen, ostinate Figuren wie Wechselbässe, aber auch stationär-bewegte Klangfelder. Schon früher, etwa bei Johann Sebastian Bach, hatte die Orgelpunkttechnik freiere Akkordfolgen in den Oberstimmen gestattet, ohne den Tonsatz darum der grundsätzlichen Regelwidrigkeit zu überführen. Dieses Moment radikalisiert sich bei Mahler. Auch für den Regelverstoß der besprochenen Passage, die mit einer plagalen statt einer authentischen Kadenz abschließt, dürfte der Orgelpunkt F im Baß (T. 100/101) als ein Faktor verantwortlich sein, der solche Akkordfolgen mit gefährdetem eigenen Progressionssinn zu musikalischer Kontinuität zu verbinden vermag. Obschon die Orgelpunkttechnik dieses Beispiels der symphonischen Gattungstradition insofern verpflichtet ist, als Orgelpunkttrios zu den häufigsten Triotypen rechnen, erscheint Mahlers Orgelpunkttechnik im ganzen besonders dadurch charakterisiert, daß sie sich nicht mehr auf die ihr früher zugewiesenen Formabschnitte - in der Sonatenform beispielsweise in erster Linie Rückleitung zur Reprise und Coda - beschränkt, sondern sich zu einem Mittel von formaler Ubiquität entwickelt hat. Je drastischer Orgelpunkte bei Mahler· sehen Tanz- und Marsch typen als Klangstützen fungieren, die auch die oft monierten offenen oder verdeckten Stimmführungsparallelen meist überhaupt erst ermöglichen, desto deutlicher wird der Zusammenhang mit der Volksmusik. Hier tritt er vor allem durch die dritte kompositorische Schicht, die wir oben erwähnten, in Erscheinung: durch den Kontrapunkt des ersten Horns (T. 94 98). Die Simplizität seiner rhythmischen Struktur weist ihn als Weiterführung des Ländlerrhythmus der Klarinetten (vor Ziffer 4) aus. Es dürfte demnach möglich sein, die Stimmen von Violinen und erstem Horn als Materialschichten tendenziell verschiedenen Ursprungs im Mahl ersehen Tonsatz zu bestimmen. Während die Hauptmelodie der Violinen den Schmelz der Unterhaltungsmusik Straußscher Prägung trägt, verweist der ungehobelte, rhythmisch eher uniforme Hornkontrapunkt direkt auf die rustikale Sphäre des Ländlers, des Hauptcharakters dieses Satzes. Diese beiden Schichten werden mittels des Begleitsystems, dessen regelwidrige Harmonisierung eine artifizielle Unbeholfenheit bewirkt, ihrer ursprünglichen ästhetischen Geltung enthoben und zu einer durchaus als ästhetische Einheit erfahrbaren Struktur verschmol:i:en. Die Anspruchslosigkeit ihrer äußeren Erscheinung als Resultat eines komplexen Ineinandergreifens dreier kompositorischer Schichten auszuweisen, dies leistet Mahlers Ton für diese Passage. Wenngleich es mißlich erscheint, zum Zweck eines Vergleichs einzelne Stellen aus dem Zusammenhang herauszureißen - denn jede Passage hat da5 Anrecht, unter Berücksichtigung ihres Kontextes beurteilt zu werden -, sei es für einmal doch erlaubt, die Qualität des Mahlerschen Tons, die hier in der Verfremdung der unteren Musik zu einer persönlichen Musiksprache hin liegt, gleichsam e contrario zu beleuchten, indem wir eine Passage ungebrochener Unterhaltungsmusik betrachten, die aus Richard Strauss' Eulenspiegel stammt (Notenbeispiel 3 ). Das achttaktige, satzähnliche Gebilde, das mit dem 2/4- Takt ansetzt, läßt, für sich genommen, in seiner syntaktischen, melodischen und harmonischen Regelmäßigkeit nicht erahnen, daß es in einem symphonischen Kontext steht. Es prägt die Teilhabe des „leichtfertigen" sympho-
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Aus: EP 4192c R. Strauss, opus 28, Till Eulenspiegel Mit freundlicher Genehmigung von C. F. Peters, Frankfurt
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nischen Helden an der Sphäre der problemlos leichten Muse als musikalische Struktur aus, deren Charakter die Problemlosigkeit selber ist. Solche Ungebrochenheit der unteren Musik im symphonischen Rahmen wäre bei Mahler, der einen grundsätzlich anderen kompositorischen Subjektbegriff als Strauss voraussetzt und der sich gleichsam niemals von seinem eigenen Ton befreien kann, kaum denkbar, auch wenn wir die Bestimmung dieses Tons als einer gebrochenen Sprache im folgenden werden differenzieren müssen. Die Schranken, die Mahlers Ton im ersten Trio des Scherzos der Vierten als Instanz von Kunstmusik gegen die Implikationen des zugrundeliegenden Materials errichtet hat, werden in der Parallelstelle des zweiten Trios (T. 254- 274, Notenbeispiel 4) mit der großzügigen Geste dessen niedergerissen, der sich nicht aus Kulturbeflissenheit zu scheuen braucht, auch der unverhüllten Sentimentalität eine Spur von Wahrheit beizumessen. Die Rückung von F-phrygisch nach D-Dur bei Ziffer 11 eröffnet im plötzlichen Pianissimo des Tutti einen neuen, weiten Klangraum. Selbst die „freche", mit erhobenem Schalltrichter zu spielende Ländlerstimme der Holzbläser kann sich der Umarmung durch die weit geöffneten Arme der Geigenmelodie nicht entziehen, die nun mit potenzierten Glissandi in Oktaven schwelgt. Die nachfolgende neuntaktige Partie (T. 266 - 274) verzichtet auf die Komplexität der Parallelstelle und schmiegt sich dieser Sphäre an. Der Ländlerkontrapunkt des Horns fehlt, die Geigen singen nunmehr in Oktaven, die Instrumentation hat sich zu einem üppigen Klangteppich ausgeweitet. Namentlich aber die Harmonik erhebt nicht mehr im Namen von Kunst Einspruch gegen die Trivialität: über dem nun durchgehaltenen Orgelpunkt erklingen die der Melodie impliziten Harmonien ohne die früheren Komplikationen, dafür mit genüßlich ausgespielten Vorhalten (T. 268, T. 270). Ein Pedant vermöchte zwar ohne Zweifel Mahlers kompositorische Eigenart wenigstens in den charakteristischen offenen Quartund Quintparallelen zwischen beiden Melodicstimmen (in T. 2 72 /2 73) oder in dem klangtechnischen Raffinement gegenläufiger Glissandi und Vorschläge (in T. 256 bzw. in T. 268 und 270) festzunageln . Doch wäre dies nicht entscheidend und eher schlechte Apologie. Aus dieser selbst für Mahler extremen Affinität zur Sphäre der Unterhaltungsmusik seiner Zeit wäre vielmehr zu erkennen, daß sich die Kategorie Ton nicht in der Unmittelbarkeit klingender Gegenwart erschöpft, sondern den Kontext musikalischer Partien als Moment ihrer Bestimmung aufnehmen muß. Der Kontext dieser zweiten Triopartie aber wird einmal durch ihre Relation zur ersten, zum anderen durch ihre Stellung zwischen mittlerem und abschließendem Scherzoteil definiert. Ohne Berücksichtigung des Kontextes schränkt der Ton erfüllten, wenn auch vergänglichen Glücks, der aus diesen Takten spricht, Adornos Bestimmung, Mahlers Ton sei kein anderer als der von Gebrochenheit, in ihrer ästhetischen und kompositionstechnischen Reichweite ein. Und desgleichen gerät unser Begriff der Mahlerschen Verfremdungstechnik in ernsthafte Schwierigkeiten, sobald er im Hinblick auf Kompositionstechnik unmittelbar beim Wort genommen wird. Ein weiteres Beispiel (Notenbeispiel 5) soll diese Problematik noch verschärfen. Das Finale der Dritten Symphonie ist niemals von einem gebrochenen Ton durchdrungen, sondern ganz im Gegenteil von einem hohen, innigen, mitunter auch feierlichen Stil getragen, der immanent keinerlei Brechung kennt, mit Ausnahme freilich der bedeutsamen Rückblendungen auf den ersten Satz vor den Ziffern 20 und 22 der Partitur. Würde nun behauptet, diese Einblendungen vermittelten dem Stil des ganzen Finale dennoch einen Ton von Gebrochenheit, so erwiese das Argument nichts als seine eigene Brüchigkeit und jene der kunstphilosophischen Prämisse, die ihm zugrundeläge. Windiger noch wäre etwa die Behauptung, das Finale der Dritten dürfte, weil es - ebenso wie das Adagietto der
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Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A.G., Wien
Fünften mit der Kategorie Stil sehr wohl zu fassen und darum in seinem Kunstcharakter von den Mahlerschen Voraussetzungen her als mißlungen zu veranschlagen sei, vom Geltungsbereich des Begriffs Ton ausgeschlossen werden, ohne daß dieser dadurch seinen Anspruch als Einheitskategorie des Mahlerschen Oeuvres einbüßen müßte. Nein, der bisher zunächst auf kompositionstechnische Konkretion so weit als möglich bezogene Begriff von Mahlers Ton, will man ihn nicht preisgeben, muß angesichts dieser Beispiele um die Kategorien des werkimmanenten sowie des pragmatischen musikalischen Kontextes erweitert werden. Die Richtung dieser Begriffserweiterung in werkimmanenter Hinsicht anzudeuten - wir können sie in diesem Rahmen unmöglich im einzelnen ausführen - , dazu mag ein Rekurs auf Friedrich Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne hilfreich sein 5 • Da es uns nicht um eine Übertragung dieser Lehre, die Hölderlin kurz vor der Jahrhundertwende in verstreuten Ansätzen zu entwickeln versuchte, auf den Begriff von Mahlers Ton, sondern allein darum gehen kann, aus ihr Anregungen zur Lösung seiner offenbaren Problematik zu empfangen, brauchen wir uns nicht in die noch immer labyrinthischen Probleme dieser Lehre zu verstricken und dürfen uns mit einer knappen, vereinfachenden Charakterisierung derselben begnügen, Für die Anregung zu diesem Rekurs möchte ich Herrn Dr. Martin Zenck herzlich danken, ebenso auch Herrn Professor Dr. Christian Möllers für seine freundliche Bereitschaft zu Diskussionen über satztechnische Probleme.
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die sich auf Lawrence J. Ryans grundlegende Arbeit, Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne , stützt. Hölderlin geht es darum, die scheinbar ungeregelte Mannigfaltigkeit der dichterischen Äußerungsmöglichkeiten auf drei sogenannte Töne (und deren Kombinationen} zu reduzieren, die er den naiven, den heroischen und den idealischen nennt. Aus diesen drei Tönen, in Verbindung mit den Funktionskategorien Kunstcharakter, Grundstimmung und Geist, wird die Dreiteilung der Poesie in Epos, Tragödie und lyrisches Gedicht, die drei Gattungen der Dichtkunst also, dergestalt abgeleitet, daß die starren Trennungen der traditionellen Gattungspoetik sich auflösen und die Dichtarten sich, wie Peter Szondi (Hölderlin-Studien, S. 133) zeigte, in verschiedenen Kombinationen der Funktionskategorien und Töne als geschichtlich bedingte erweisen. Darüber hinaus und wohl zur Hauptsache erhebt Hölderlins Lehre den Anspruch, die Struktur auch jedes einzelnen Gedichts aus Gesetzmäßigkeiten der Aufeinanderfolge der drei Töne, eben aus dem Wechsel der Töne, zu erklären. Zweierlei läßt sich nach Auffassung des Verfassers aus Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne für die Erkenntnis von Mahlers Musik gewinnen. Zum einen ließe sich daraus eine Klärung von gattungstheoretischen Problemen erhoffen, welche die Mahlersche Symphonik aufwirft. So wie sich in Hölderlins Theorie eine Gattung nicht aus dem einfachen Gegensatz gegen eine andere, sondern gerade aus dem spezifischen Ineinandergreifen verschiedener Töne und Gattungsmomente konstituiert, so wäre Mahlers Symphonik, die sich einer Subsumption unter den einheitlichen traditionellen Gattungsbegriff widersetzt, einem - noch nicht entwickelten - Begriff von Symphonie als gemischter Gattung zu vindizieren. Gattungsmomente von Lied, von Volks- und Militärmusik (in ihren verschiedenen Tanz- und Marschtypen} sowie von artifizieller Symphonik treten bei Mahler unter dem Primat letzterer zusammen - sowohl in zeitlicher Sukzession als auch, was entscheidend wäre, in der Simultaneität eines komplexen Orchestersatzes. Zum anderen und für unseren Zusammenhang noch wesentlicheren Teil kann Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne fruchtbar werden, wenn wir uns einer Bestimmung von Ton als musikalischer Kategorie erinnern, die Adorno in dem Aufsatz Kriterien der neuen Musik aus den Klangfiguren mehr unter der Hand einfließen läßt und die im Kontext seiner Kritik an seriellen Kompositionsverfahren steht: „Aber eigentliche musikalische Charaktere und ihre Totalität, der ,Ton' eines Komponisten, wie ihn jeder Takt von Mahler, Berg, Webern zeigt, haben doch mit Originalität das Unauswechselbare, Nicht-Fungible gemein; wo solcher Ton puristisch ausgetrieben würde, wäre das Beste vergessen." (S. 296} Da Kategorien wie Einfall und Originalität der kompositorischen Rationalität der Kranichsteiner Bewegung als verschlissen und verpönt galten, postuliert Adorno Ton als Instanz von heute noch legitimer, ja notwendiger Originalität, als einen Begriff, der einzig die erforderliche Objektivation der Musik aufgrund einer Leistung des kompositorischen Subjekts, nicht einer bloßen Materialdisposition zu stiften vermöge. Kaum woanders erhellt die Funktion von Ton als Quintessenz fortgeschrittener Musik deutlicher denn hier. Kaum aber bildet das Oeuvre eines Komponisten eine Totalität musikalischer Charaktere durchgängiger und konsequenter aus als das Mahlersche. Von einer Summe unterscheidet sich eine Totalität aber darin, daß sie, wo jene als Ergebnis einer Addition von Einzelcharakteren die Zufälligkeit von deren Konstellation nicht verhehlen kann, auf eine Typologie der Charaktere nach Maßgabe der Idee eines Systems zielt. Eine systematisch entfaltete Typologie der Mahlerschen Charaktere wäre nichts als der Versuch, deren inneren Zusammenhang, der sich durch das gesamte Werk hindurchzieht, zu ergründen und zu einer Art Lehre vom Wechsel der Mahlerschen Töne qua Charaktere zu entwickeln; Mahlers Ton im
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Notenbeispiel 6
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ermann den Schatten einer fremden Gestalt, in die Landschaften und Stimmungsbilder einbeziehen. Für die Bergsymphonie hat Liszt auf eine solche Lösung verzichtet, jedenfalls seit Beginn der Weimarer Kompositionstätigkeit: schon die erste Fassung zeigt alle charakteristischen Merkmale des abgeschlossenen Tongedichts. Bereits hier sind alle wichtigen Entscheidungen gefallen. Liszt verzichtet also auf die Kennzeichen des erlebenden Subjekts, mehr noch: er tilgt jeden Hinweis auf die Rahmensituation; nur der Titel und die durch ihn geweckten Assoziationen an heroische Bergeinsamkeit stecken für den Hörer den Erfahrungsbereich ab. Das literarische Zitat tritt an die Stelle musikalischer Beschreibung. So fragwürdig als Symphonische Dichtung die Alpensymphonie von Richard Strauss sein mag, ergibt sich doch in ihr der Erlebnisgehalt der Begegnung mit dem Unendlichen aus der tonmalerischen Handlungsabfolge unmißverständlich von selbst. 5 3 Liszt verschmäht dagegen alle Tonmalerei. Schon die meisten seiner frühen Stücke sind mehr Ausdruck der durch den Anblick der Landschaft oder eines Gemäldes, durch den Besuch eines Orts oder die Erinnerung an ein Ereignis wachgerufenen Empfindung, nicht Nachzeichnung ihrer Anlässe. In Ce qu 'on entend sur la montagne geht er noch einen Schritt weiter und versucht, die von Hugo entworfene Idee rein für sich wirken zu lassen, ohne den Umweg über das Erlebnis und seine Vorbedingungen. Ob darin ein Bruch mit einer älteren Konzeption zu sehen ist, läßt sich heute nicht mehr entscheiden. Fest steht nur, daß die so schroffe, vom Gedicht so wenig nahegelegte Abkehr von jedem subjektiven Moment in der Bergsymphonie übereingeht mit Liszts Tendenz während der ersten Weimarer Jahre, sich ganz aus der rhapsodischen, gedanklich wie formal auf Ungebundenheit pochenden Haltung seiner früheren Musik zu lösen. Die unvermittelte Beendigung seiner Virtuosenlaufbahn und - gegenläufig dazu - die intensive Auseinandersetzung mit der Wiener Klassik, seine Bemühungen um eine Fortführung der autonomen Musik aus romantisch-poetischem Geist, sind Ausdruck einer tiefgreifenden Wandlung seiner ästhetischen überzeugungen. Alle Subjektivität mußte ihm in dieser noch ungeklärten Situation suspekt sein, da er den Fortschritt der Instrumentalmusik - im Gefolge von Beethovens IX. Symphonie - in ihrer „innigeren Verbindung mit der Dichtkunst"54 gewahrte, unter der Dichtkunst aber ausschließlich die idealische Gedankendichtung verstand, deren „Menschheitsgedanken"5 5 allein der Würde der Musik entsprechen und eine Versündigung am Form 1836 - sowohl der Klavierauszug, der die Viola-Partie gesondert ausweist, als auch der Pilgermarsch für Klavier zu zwei Händen - , wie sehr gerade diese Verstrickung von Einzelstimme und symphonischem Zusammenhang Liszt zu Beginn seiner Komponisten-Laufbahn beschäftigt hat. Daß spätere Komponisten wie Smetana und Richard Strauss auf Berlioz' Spuren weiterexperimentierten, hängt sicher damit zusammen, daß sich die Symphonische Dichtung im Gefolge Berlioz' und nicht im Gefolge von Liszt entwickelt hat: das tonmalerische Element blieb, mit zum Teil beträchtlicher Vergröberung des geistigen Ansatzes, für die Geschichte der Symphonischen Dichtung bestimmend. 53
Dabei verzichtet auch Richard Strauss auf eine deutliche Individualisierung des Wanderers: die Wanderung selbst, die Etappen des Aufstiegs und die sich daran anknüpfenden Episoden ergeben aber, dank der ganz geschlossenen Wahrnehmungsform, die dem Leser von Stufe zu Stufe ein bestimmtes Empfinden suggeriert, ein auch dem inneren Gehalt nach zusammenhängendes Tongemälde.
54 Nach dem bekannten Brief von Agnes Street-Klindworth vom 16. November 1860; vgl. Franz Liszt's Briefe, hrsg. von La Mara (Leipzig 1893), Bd. 3, S. 135. 55
Vgl. Liszt, GS Bd. 4, S. 27 f.
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gesetz durch subjektive Willkür ausschließen. 5 6 Unter dieser veränderten Voraussetzung läßt sich in der Tat feststellen, daß Liszt unter dem Eindruck der Weimarer Kunstauffassung (im weitesten Sinn) sich an einem entscheidenden Punkt von Victor Hugo bei der Vertonung seines Gedichts gelöst habe, jedoch nicht vorab aus intensiver Gläubigkeit, der Hugos Schluß zu pessimistisch gewesen wäre, sondern aus der bei Hugo schon angelegten Abkehr von der Selbstaussprache des Ich. Sie konnte weder gedanklich noch formal in eine symphonische Konzeption Eingang finden, die auf thematische und kompositorische Geschlossenheit und darin auf übertrumpfende Rivalität zur Tradition der Symphonie angelegt war. Keimzelle für Liszts Komposition wurden so die Verse 30 ff. des Gedichts, wo sich die beiden einander verschwisterten und doch im Streit auseinandertretenden Stimmen aus dem Klangchaos befreien: Bientot je distinguai, confuses et voilees, Deux voix, dans cette voix l'une l'autre, meiees, De la terre et des mers s'epanchant jusqu'au ciel, Qui chantaient la fois le chant universel; Et je les distinguai dans la rumeur profonde, Comme on voit deux courants qui se croisent sous l'onde. 5 7
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In diesen Zeilen liegt die eigentliche Herausforderung für den Musiker, wofern nur der Wahrnehmungsvorgang, der aus einem Kontinuum für sich Stimmen zu unterscheiden vermag, in einen Handlungsvorgang verwandelt wird, bei dem die gegensätzlichen Prinzipien und Stimmen sich objektiv, das heißt zwangsläufig aus der unbestimmten Tonbewegung des Anfangs herausbilden, zu immer neuen Motiven und Gedanken sich aufspalten, in immer heftigere Kontraste gegeneinander geraten und doch in jedem Augenblick ihre innere Verwandtschaft beibehalten. Für Liszt mußte dieses Moment unbegrenzter Entwicklungsmöglichkeit des musikalischen Gedankens in mehr als einer Hinsicht bestechend sein: einmal ergab sich daraus für den Komponisten die Chance, ohne sklavisch am Wort zu hängen, die Farben und Kontraste in Hugos Wortmusik in eine aus sich begründete Abfolge zu bringen und darin zugleich die subjektive Wahrnehmung in das zu verfestigen, was man auf dem Berge hört, das allen Visionen gemeinsame, das gültige Bergerlebnis zu beschwören. Zum anderen und vor allem lag hier ein neues Baugesetz für eine Symphonie nach Beethoven parat, das aus „poetischer Notwendigkeit" 5 8 das mechanische Regelgefüge der Symphonie durch eine nicht weniger strenge, aber individuellere Formgeschlossenheit ersetzte und der freien Weiterbildung der Tondichtung ihre Einheit garantierte. Erst im Zug der Arbeit an der Bergsymphonie mag der Komponist die Tragfähigkeit dieses Verfahrens für die Symphonische Dichtung generell erkannt haben. Daß er aber in ihm die Chance erhielt, Hugos elevation in eine musikalische Epopöe umzusetzen, die nach ihrem Rang sich neben den großen Werken der Klassischen Symphonik behaupten konnte, muß ihm von Anfang an klar gewesen sein: schon im ersten Manuskript sind alle Motive aus der Anfangsbewegung abgeleitet, schon in ihm wird ein geschlossener Vorgangsbogen angestrebt. Da notwendigerweise alle Gedanken und musikalischen Themen auf den Anfang zurückzuführen sind, muß auch die Hymne, die eigentlich alle älteren Interpreten als christliche Zutat des Katholiken Liszt und als unabhängig vom Gesetz der Motivver56
Ebenda, S. 29.
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Zugleich verdeutlicht dieser Abschnitt die Zwischenstellung des Dichters: als Prophet wie Moses über sein Volk gestellt, und doch nicht in der Lage, ganz in der Göttlichkeit aufzugehen, eins zu werden mit dem All, in dem sich alle Mißtöne zum Wohllaut zusammenfügen.
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Vgl. Liszt GS, Bd. 4, S. 28.
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wandlung, also als selbständiges Them a aufgefaßt haben 5 9 , T eil des übergreifenden Zusammenhangs und damit dem gleichen formalen Prinzip unterworfen sein wie die anderen konstituierenden Motive. Carl Dahlhaus hat den formalen Konnex zwischen der Hymne und den anderen Motiven nachgewiesen und auch gezeigt, wie unumgänglich eine solche formale Verbindung vom Thema gefordert wird. Hugo spricht zu Anfang bereits von der ewigen Hymne, die wie eine zweite Atmosphäre die Erde umzieht und in deren Klänge die Welt eingetaucht ist (V. 25 ff.: Comme une autre atmosphhe epars et deborde, / L'hymne eternel couvrait tout le globe inonde. / Le monde, enveloppe dans cette symphonie); der ungeschiedene, alle Widersprüche in sich fassende bruit Zarge wird in den Ohren Gottes, wird jenseits der Berge zur Hymne an die Harmonie der Welt, in der wieder alle Gegensätze, alle Schmerzenslaute in Wohllaut aufgehoben sind. Bei Hugo entspricht denn auch die nachklappende Separierung der Stimmen der Wahrnehmung des Ich, der Chaos und Ordnung nicht faßbar sind. Liszt verfährt nur konsequent, wenn er seinerseits den Choral als Synthese an das Ende seiner Vorgangs-Rekonstruktion setzt und in ihm formal und thematisch die dem Chaos antwortende Summe zieht. Damit stehen wir erneut vor der Schwierigkeit, wie sich die zielgerichtete Bewegung von Liszts Exposition, die ganz unzweifelhaft mit Takt 520 an ihr Ende gekommen ist, mit der veränderten Wiederaufnahme des gleichen thematischen Materials sinnvoll verbinden läßt. Gibt es außer einer formal konsequenten Erklärung des musikalischen Zusammenhangs auch eine inhaltliche von Liszts Sujet her? Mit der Eliminierung des Subjekts war für ihn auch der erkenntnisstiftende Augenblick der Selbstüberhebung und Selbstdesillusion weggefallen: die Unaufhörlichkeit des Widerstreits von Natur und Menschheit, das Zugleich von Triumphlied und Schrei, der Riß in der Harmonie - alles das bedarf ja der spontanen Erfahrung im Subjekt, um überhaupt aus der Sprachlosigkeit des Geräuschs erlöst zu werden. Erst der Abstand der Infinitesimal-Existenz des Einzelnen zur wandellosen Dauer kann ja diese im Augenblick des Gewahrwerdens in der Imagination dingfest machen. Das Chaos wie die göttliche Ordnung entziehen sich jeder subjekt-unabhängigen Beschwörung. Indem Liszt die ineinandergreifenden Zustände von Chaos und Ordnung als Vorgang musikalisch einzufangen versucht, entzieht sich ihm der Augenblick als Fokus eines noch kommensurablen Verstehens, und es bleibt ihm nichts übrig, als die Unaufhörlichkeit dieses Vorgangs durch seine Wiederholung hörbar zu machen. Im Grunde steht die Verdoppelung für eine beliebige Vervielfachung, für den hybriden Versuch, die Wirkung der Unendlichkeit auf das Ich ohne dessen Mitwirkung zu beschwören. Die Bergsymphonie endet mit keiner tröstlicheren Botschaft als Victor Hugos Elegie - noch in den verklingenden Lauten des Schlusses bleiben die feindlichen Stimmen von einander geschieden, bereitet sich eine neue Wiederholung vor - , sie sucht sie nur aus einem abstrakten und im Grunde unmöglichen Standort zu artikulieren. Das Mißbehagen an Ce qu 'on entend sur la montagne bleibt, aber nicht weil in Liszts erster Symphonischer Dichtung die Schlacken einer naiveren Musikauffassung übriggeblieben sind oder weil er einen mechanischen Ausgleich mit der symphonischen Tradition gesucht hatte, sondern weil er mit äußerster Konzentration, mit rigider Konsequenz und einem übersteigerten Vertrauen in die Möglichkeiten musikalischer Imagination an die Grenzen des Gedankens vorgestoßen war, weil sich das Leiden des Subjekts an der Welt nicht objektivieren läßt. 59
Vgl. Alfred Heuß, Eine motivisch-thematische Studie über Liszt's sinfonische Dichtung „Ce qu 'on entend sur la montagne", in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft XIII, 1911/12, S. 10. (Ähnlich auch Joachim Bergfeld, Die formale Struktur der „Symphonischen Dichtungen" Franz Liszts, Berlin 1931, S. 99 f.)
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s für Musikforschung