Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1981/82 [1981/82] 3875371925


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German Pages 240 [245] Year 1982

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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, 1981/82
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Preface
Dümling, Albrecht - Umwertung der Werte/Das Verhältnis Stefan Georges zur Musik
Dietrich, Ronny - Friedrich Silchers Bearbeitungen Beethovenscher Sinfonie- und Sonatensätze im Lichte der frühen Beethoven-Rezeption
Göpfert, Bernd und Joachim Schlichte - Johann August Strindberg: Ein Beispiel literarischer Musikrezeption um 1900
Dahlhaus, Carl - Zwischen Relativismus und Dogmatismus/Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte
Heister, Hans-Werner - Vollkommenes Musikerlebnis und Stillstellung des Lebens/Kommunikationsstruktur, Normen und Verhaltensweisen im Konzert
Reinecke, Hans-Peter - Paradoxien im öffentlichen und privaten Musikverständnis
Zaminer, Frieder - Konsonanzordnung und Saitenteilung bei Hippasos von Metapont/Wiederentdeckung eines frühen Lehrstücks
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1981/82 [1981/82]
 3875371925

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JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1981/82

Herausgegeben von Dagmar Droysen-Reber

Merseburger

Edition Merseburger 1480

© 1982 Verlag Merseburger Berlin GmbH, Kassel Alle Rechte einschließlich Photokopie und Mikrokopie vorbehalten · Printed in Germany

Datenerfassung:

Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Margot Ehmen, Marion Garschagen und Ilse Zernick

Technische Zeichnungen: Rona Frederiks Notenstich: Helmut Hofmann, Berlin Herstellung der Offset-Filme: Satz-Rechen-Zentrum Hartmann

+

Heenemann, Berlin

Druck : Arno Brynda GmbH, Berlin Redaktion und Layout: Dagmar Droysen-Reber unter Mitarbeit von Hannelore Schneider

ISBN 3-87537-192-5

INHALT

DOMLING, ALBRECHT

Umwertung der Werte Das Verhältnis Stefan Georges zur Musik DIETRICH, Ro

9

NY

Friedrich Silchers Bearbeitungen Beethovenscher Sinfonieund Sonatensätze im Lichte der frühen Beethoven-Rezeption ....... „

......

93

GöPFERT, BERND UND JOACHIM SCHLICHTE

Johann August Strindberg: Ein Beispiel literarischer Musikrezeption um 1900 ............................... 121 DAHLHAUS, CARL

Zwischen Relativismus und Dogmatismus Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte ............................................. 139 HEISTER, HANNS-WERNER

Vollkommenes Musikerlebnis und Stillstellung des Lebens Kommunikationsstruktur, Normen und Verhaltensweisen im Konzert ......................................................................................... 147 REINECKE, HA s-PETER

Paradoxien im öffentlichen und privaten Musikverständnis ................... 210 ZAMI ER, FRIEDER

Konsonanzordnung und Saitenteilung bei Hippasos von Metapont Wiederentdeckung eines frühen Lehrstücks ........................................ 231

VORWORT

Mit dem vorliegenden Band haben wir einen neuen Weg zur Texterstellung beschritten. Das bisher benutzte IBM-Composersystem wurde durch eine EDVAnlage Siemens 6620 ersetzt. Für das Jahrbuch allein wäre eine solche Umstellung nicht erforderlich gewesen. Da aber in unserem Institut mehrere bibliographische Projekte durchgeführt werden -ich denke hier vor allem an die jährlich erscheinende Bibliographie des Musikschrifttums-, werden nun die bibliographischen Informationen in einer Datenbank gespeichert. Auf diese Weise lassen sich aus dem Material z. B. Spezialbibliographien oder kumulative Register leicht abrufen und herstellen. Das Ganze dient einer spezialisierten Information und Dokumentation des Musikschrifttums in einem sehr weit gefaßten Sinne. Alles Neue hat so seine Tücken. Die Siemens-Anlage hat für die Manuskripterstellung viele Erleichterungen gebracht. Bis diese aber wirksam wurden, hat es unendlich vieler Mühen bedurft. Meine Kollegen, Norbert Böker-Heil und Hans-Reinhard Wirth, haben uns die erforderliche Software erstellt. Ihnen sei dafür besonders gedankt. Dieses Programmpaket ermöglicht die Bearbeitung unserer Texte durch alle Stadien von der Erfassung bis zur Herstellung von Datenträgern, die im kommerziellen Lichtsatz als Druckvorlage auf Offset-Film umgesetzt werden. Bei allen Aktivitäten (Texteingabe und -korrektur, Erzeugung von Druckerprotokollen und Korrekturvorlagen, Datensicherung und Ausgabe der Produktionsdaten) wird der Benutzer der Anlage im Bildschirmdialog so geführt, daß Fehlbedienungen praktisch ausgeschlossen sind. Ein weiterer Schritt der Anpassung wurde durch den Umstand erforderlich, daß wir jetzt selbst keine offset-fähigen Druckvorlagen mehr herstellen können. Wie schon gesagt, geschieht das im Lichtsatzverfahren. In Zusammenarbeit mit dem Satz-Rechen-Zentrum Hartmann und Heenemann (SRZ) in Berlin wurde ein weiteres Programmpaket entwickelt, das unsere Datenträger auf den SRZStandard bringt („umformatiert"). Ferner wurde eine vom Einzelobjekt unabhängige Schreibanweisung für typographische Befehle und Sonderzeichen aufgebaut. Als erstes Ergebnis liegt nun das Jahrbuch vor, dessen spätes Erscheinen auf die zuvor geschilderten Schwierigkeiten zurückzuführen ist. Diese sind endlich überwunden, auch stehen sie nicht in den Beiträgen, an denen der geneigte Leser hoffentlich Interesse und Vergnügen finden wird. Berlin, im November 1982

Dagmar Droysen-Reber 7

UMWERTUNG DER WERTE Das Verhältnis Stefan Georges zur Musik':ALBRECHT DüMLING

Vorbemerkung Das Verhältnis des Dichters Stefan George und seines Kreises zur Musik ist im deutschsprachigen Raum bisher noch nicht zum Gegenstand einer eigenen Studie gemacht worden. Grundlegend zu nennen ist neben Hinweisen bei Theodor W. Adorno (George), Joachim Bergmann (Musik), Paul Gerhard Klussmann (Stefan George), Gert Mattenklott (Bilderdienst, S. 237 ff.) und Wolfgang Osthoff (Haus in Bonn) vor allem die englischsprachige germanistische Dissertation von G.R. Urban (Kinesis); in ihr wird vor allem auf die Bedeutung des Gestalt-Begriffs für die Musikauffassung des George-Kreises rekurriert. Einen Anstoß, George überhaupt in musikwissenschaftliche und nicht bloß germanistische Untersuchungen einzubeziehen, gab der George-Artikel von Karl Dietrich Gräwe im Ergänzungsband des Riemann-Musiklexikons (S. 413). In neuester Zeit hat Wolfgang Osthoff in seinem George-Artikel (Sp . 442-447) einen Überblick über das Problem „George und die Musik" gegeben. Für die Neuauflage der George-Bibliographie Georg Peter Landmanns (S. 417 ff.) stellte er eine Liste von George-Vertonungen zusammen. Die verstreuten Äußerungen Georges zur Musik - das gilt insbesondere für dessen frühe Phase-, ferner die Differenzen zwischen der theoretischen Musikdiskussion und der Praxis, ließen es geboten erscheinen, das verfügbare Material in seiner Vielfalt zusammenzutragen und durch Zitate auch teilweise zu dokumentieren. Die Breite des Materials belegt, daß die Musik dem GeorgeKreis in einem sehr viel stärkeren Maße ein Problem war, als er es selbst hat zugeben wollen.

*Dieser Beitrag ist ein Teil aus der Dissertation des Autors, die in gekürzter Fassung 1981 im K.indler Verlag in München unter dem Titel Die fremden Kliinge der hiingenden Gärten erschienen !St.

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Musik als Maßstab der Kunst Die Eindrücke der Kindheit - Kindheit und frühe Jugend hat der Dichter später immer wieder als paradiesischen Urzustand empfunden - prägten Georges Musikbegriff und Musikempfindung entscheidend. In Bingen, der ländlichen Kleinstadt,' die vom Weinbau lebte, war die Handwerkstradition noch lebendig; die industrielle Entwicklung hatte sich noch wenig ausgewirkt. Auch der starke Einfluß der katholischen Kirche unterstreicht den eher konservativen Charakter der Stadt. 2 Die frühen Musikerfahrungen Georges bestanden dementsprechend in einfacher ländlicher Musik und Kirchenmusik- in „Umgangsmusik". Es ist auffallend, daß bei George nie von bestimmten Melodien und Musikstücken, sondern immer nur von „Tönen" die Rede ist. Unter diesem weiten und unscharfen Begriff fallen archaische Vorstellungen von Musik mit der von Naturklängen zusammen. Ton verklang auf den Altanen, Aus den gärten klänge tönen ... (George, Werke II, S. 15.)3

Es scheint, daß Georges mangelnde Differenzierung zwischen den verschiedenen „Musik-Arten" einerseits abhängig ist von seiner beschränkten Musikalität;4 andererseits spricht daraus aber auch die Sehnsucht, die Kunst archaisierend als Natur aufzufassen 5 (und umgekehrt auch die Natur wiederum als etwas Künstliches). Georges Verständnis von Musik als „Ton" (bzw. „Töne") impliziert aber nicht nur die Naturnähe; es verweist zugleich auf das Gewicht, das er bei der Perzeption dem Klang und der Klangfarbe zulegte. Diese Akzen1

1890 hatte Bingen 7627 Einwohner.

2 Einen Eindruck von der Volkstümlichkeit kirchlicher Traditionen in Bingen gibt Goethes Essay über das St. Rochus-Fest.

3 Vgl. „Töne" im ersten Wortsinn: „Mein sang ist schallend wie zu orgelten" (I, S. 37); „Bei festlich rauschendem getön" (I, S. 88); im zweiten Wortsinn: „Ein Edelkind ... lauschte der lerchen ton" (I, S. 96) - bzw. in kombinierter Anwendung: „Im dünenried der stürme orgelten" (I, s. 150). 4

Stefan Georges Musikalität reichte an die vieler seiner Freunde nicht heran. So soll er schon als Schüler vom Singen dispensiert worden sein (vgl. Bergmann, Musik, S. 20). Über die Auffassung Sabine Lepsius', Musikalität - sie meinte damit das musikalische Gehör - sei eine objektiv überprüfbare Fähigkeit, war er später entsetzt. Sein Zugang zur Musik war, wie etwa den Prosa-Texten Tage und Taten zu entnehmen ist, ein rein emotionaler. Hierin glich er Rilke, der sich über seinen „vollkommenen Analphabetismus in der Musik" nicht selten beklagte (vgl. Briefe, Bd. 1, S. 410). 5

In ähnlicher Weise zugleich archaisch-zeitlos wie naturhaft liebte Rilke die Musik, der in einem Brief aus Spanien schrieb: „Jeden Sonntag gehe ich in die kleine mozarabische Kirche ein Salve anhören, das wohl an die tausend Jahre alt ist ... ich würde es gern von den Engeln hören, aber auch so, es geht mir nah, wie alle ganz alte Musik, es stößt wie der Wind in die Welt hinein, ganz als bliese es so für sich, auch wenn wir nicht da wären. Und das ist doch wohl Musik" (ebenda).

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tuierung des Klanglichen war ein wesentliches technisches Moment in Georges Poetologie. Vom traditionellen Musikbegriff unterscheidet sich der Georges nach zwei Richtungen: Einerseits erweitert er ihn insofern, als er auch Naturklänge, wie etwa das Singen der Vögel und das Rauschen des Sturmes, umfaßt;6 zugleich verengt Georges Musikbegriff die traditionelle Musikauffassung aber auch insofern, als der Bereich der Konzertmusik ebenso wie rhythmische und formale Phänomene unberücksichtigt bleiben. Georges Musikbegriff ist einerseits bis zum Geräuschhaften erweitert, andererseits aber auch auf die Dimension der Klangfarbe reduziert. Der Hinweis auf die emotional bestimmte Hörweise des Dichters legt aber noch einen weiteren Nebensinn des Wortes „Ton" frei : den von „Ton" im Sinne von „Seelen-Ton" . Nicht zufällig ist es gerade der Bereich des Klanges und der Klangfarbe, der vom emotional bestimmten Musikhörer am eindringlichsten wahrgenommen wird. Unter allen Klangfarben aber bevorzugte George den Klang der Flöte, die ihm später als das Instrument Pans und der antiken Hirten Natur und Archaik zugleich verkörperte (vgl. Lepsius, George, S. 37) . Die positiv erlebten kindlichen Klangerfahrungen bildeten den ersten Maßstab für sein Ideal von Musik als Utopie von Archaik und N aturhaftigkeit. Der Gymnasiast George besuchte regelmäßig das großherzogliche Theater in Darmstadt und erlebte dort nicht nur klassische Dramen, sondern auch die Opern Wagners „in guter Darbietung" (Wolters, George, S. 13). Rituell-ernste Musikformen schienen ihm eher zu liegen als ausgelassen-fröhliche, das passive Rezipieren eher als eigene Aktivität. Als George 1889 nach Paris kam, schloß er sich dort dem Dichterkreis um Mallarme an. Symbolismus und Wagnerismus waren weithin identisch, und so war es beinahe selbstverständlich, daß die um 7 Mailarme versammelten Dichter begeisterte Wagnerianer waren . Unter ihnen ragte besonders Villiers de l'Isle-Adam heraus, der sich durch seine persönliche Bekanntschaft mit dem Bayreuther Meister zum Amte des Wagner-Propheten legitimiert fühlte. 8 Wagner galt in Paris gerade bei Dichtern und Malern als Inbegriff des modernen Künstlers. George hat sich zwar nicht wie seine französischen Freunde in Aufsätzen und Gedichten zu Wagner bekannt; jedoch findet sich unter seinen Abschriften von französischer Dichtung auch Mailarmes Hommage d Wagner.9 Er hätte sich dieses in der klassischen Sonett-Form ver6

Zumindest in diesem Punkte ähnelt George Marcel Proust.

7

Vgl. hierzu besonders Bernard , Mallarme; s. auch Schmidt-Garre, Wagnerisme (S. 512 ff.) , und Eckart-Bäcker, Frankreichs Musik. 8

Vgl. Bailley, Melomanie, S. 345- 350 ; Jäckel, Wagner; Guichard, Musique; Raitt, Villiers, f.

s. 101

9 CEuvres, S. 71 . Siehe dazu auch die ausführlichen Anmerkungen auf S. 1496. Vgl. die Liste von Georges Abschriften bei Boehringer, Bild, S. 212.

11

faßte Gedicht1° kaum eigens abgeschrieben, wenn es nicht seinen Empfindungen entsprochen hätte. Ähnlich wie in seinem Prosa-Text Richard Wagner, reverie d'un Poete /ranrais, der etwa gleichzeitig entstand, hob Mailarme hier enthusiastisch die belebende Wirkung des Wagnerschen Musikdramas auf das völlig erstarrte französische Theater („Je silence deja funebre") und auf die in den Bibliotheken verstaubende Poesie hervor. Auch der junge George, den Ernst Bloch (Wüste, S. 79) später einmal „das betonteste Weihfestspiel seit dem Parsifal" nennen sollte, wurde Wagnerianer. Im Sommer 1891 besuchte er auf den Spuren Richard Wagners die Königsschlösser des Bayernkönigs Ludwig II., dem er dann seinen Gedichtband Algabal widmete. 11 Manchen, so berichtete der Maler Karl Bauer, galt George damals als ein „Sprößling von Liszt, dem Musiker, auch Wagnerisches wurde hinter ihm vermutet" (Boehringer, Bild, S. 89). Carl August Klein, sein erster enger Mitarbeiter, hob im Dezember 1892 - die Trilogie Hymnen/Pilgerfahrten/ Algabalwar mittlerweile erschienen -die Nähe Georges zur deutschen Romantik, zu Nietzsche, Novalis und Wagner, zu Böcklin und Klinger, hervor. Wenn der frühe George überhaupt mit einem Komponisten verglichen wurde, war dieser Komponist stets Richard Wagner. 12 Auch bei seiner Binger Freundin Ida Coblenz, deren tiefgreifender Einfluß auf George von der Forschung erst allmählich erkannt wird, stieß George ab 1892 auf die Musik Wagners. Als höhere Tochter hatte Ida Coblenz früh Klavierunterricht bekommen, so daß sie .schon im Alter von 13 Jahren BeethovenSonaten spielte. Nachdem sie bald darauf ein Lied Erster Sang komponierte, wurde sie auch in Musiktheorie unterrichtet. Jedoch wurde ihre eigentliche Musikbegeisterung erst während ihrer Internatszeit in Brüssel durch ihren Klavierlehrer Wouters, damals Professor am Brüsseler Konservatorium, geweckt. „Der Lehrer mißachtete Virtuosität", schrieb sie später dankbar über diesen Unterricht. „Empfindung, Ausdruck war alles. Für ihn war Musik die Göttin, die nur noch mit der Schleppe ihres Gewandes die Erde berührt; sie selbst ist ihr schon entrückt. Die Seelen der Auserlesenen, denen Musik Erfassen des Göttlichen bedeutet, ruhen vereint an ihrem Herzen. Musizieren ist die Überwindung des Materiellen, übersinnlich, schwebend sollte der Strom der Melo-

10

Zuerst veröffentlicht in der Revue Wagneriennevom 8.1.1886.

11

Die „Aufschrift" zum Algabal - dessen künstliche Interieure wohl zuweilen an die Neuschwansteins und Linderhofs erinnern -verrät die Identifikation Georges mit Ludwig II. Aus dieser Identifikationshaltung heraus beurteilte er auch später Wagner. 12

„Wir haben auch Vertreter einer neuen Kunst ... Sie ist ganz anderer Art als die Zolas und der Norweger und ganz bei uns zu Haus. Ihre Hauptstützen Richard Wagner, der Komponist, Friedrich Nietzsche, der Orator, der Maler Arnold Böcklin und der Zeichner Max Klinger. Zu ihnen tritt ein Dichter" (Bliitter für die Kunst, Folge 1, Bd. 2; - im weiteren verkürzt wiedergegeben : Folge= römische Zahl, Band = arabische Zahl) .

12

dien dahinfließen" (lda Dehmel, Daja, S. 58). 13 Bemerkenswert ist, daß die Begrifflichkeit, mit der lda Coblenz hier Musik als immaterielle Seelenkunst, fließend und schwebend zugleich, charakterisiert, Georges Auffassung von Musik bis in die Einzelheiten hinein entspricht. Musik übte auf Ida Coblenz eine fast narkotische Wirkung aus: „Wenn sie sich in Schumanns op. 11 vertiefte, so versank ihr die Außenwelt. In grenzenlosem Suchen verlor ihre Seele sich im Raumlosen. Sehnsucht, sich aufzulösen, zu vergehen, erfüllte sie." Am stärksten aber wirkte die Musik Wagners: „Sie fühlte sich (bei Walküre], losgelöst aus ihrem bisherigen Sein, Teil werden von fremden Gesichten, überwältigt von einer gottgleichen Neuschöpfung voll Wärme, Glanz und Größe. Ein paar Abende später ... ,Tristan und lsolde'. Wenn am ersten Abend die ganze Welt wie mit einem leuchtenden Netz von Klängen umsponnen schien, so sank nun ein Glück vollkommenen Erfülltseins in ihre Seele. Ja, die eigene Seele war Musik geworden, ging auf in Isoldes Liebesglück und Trennungsleid, diesem bittersten Leid, dessen Qual nie nachließ ... Wagner -das war ihr eigenes Sein, riesenhaft gesteigert und doch ihr Eigen" (ebenda, S. 99). George hat gerne zugehört, wenn ihm die Freundin am Klavier aus Wagner-Opern vorspielte. Sie besaß mehrere Wagner-Partituren und hatte sich daraus eigene Klavierauszüge angefertigt. In ihrer Berliner Wohnung, die auch George noch kennenlernen sollte, ließ sie sich 1895 ein Musikzimmer einrichten, das davon zeugt, daß Wagner für sie die Musik schlechthin verkörperte: Über dem Flügel hing ein umkränztes Bildnis des Bayreuther Meisters, geschmückt mit Lilienstrauß und der Figur eines Engels; dem Flügel gegenüber stand, in Anspielung auf Lohengrin, ein Sessel in der Form eines Schwans. Georges Lyrik bedeutete für Ida Coblenz ein ähnliches Identifikations-Erlebnis wie Wagner. Zwischen Wagners Musik und Georges Dichtung muß sie eine innere Verwandtschaft verspürt haben. Aber auch umgekehrt hat George eine Verbindung zwischen seiner Liebe zu Ida Coblenz und Wagner gesehen. Wohl der glühendste Wagnerianer unter Georges Freunden war neben Karl Wolfskehl der Maler Melchior Lechter. Mehr als der Titel „Maler" hätte ihm der des „Künstlers" zugestanden, denn er war gleichzeitig Maler, Musiker und Dichter. Sogar in seiner äußeren Erscheinung soll er mehr einem Musiker als einem Maler geglichen haben. 11 Lechters künstlerische Urerlebnisse waren Tri13

Das autobiographische Romanfragment ist im Dehmel-Archiv der Staatsbibliothek Hamburg aufbewahrt. Vgl. dazu Höpker-Herberg, Fra" Isi. Diese Studie konnte vom Verfasser allerdings nicht eingesehen werden. 14

Vgl. Lepsius, George, S. 32. Selb t der musikfeindliche Friedrich Wolters hielt ihn für einen ungewöhnlich vergeistigten Musiker, der auch unter Musikeinfluß Haltung bewahrt hätte (vgl. Wolters, George, S. 117; s. auch Wolters' Lech/er-Monographie). Klages erschien er aber weniger sympathisch, „weil gar zu weiblich, zu gefühlsmenschenhaft" (zit. bei Schonauer, Stefan George, s. 39).

13

stan und Parsi/al 18 86 in Bayreuth. Noch 1925 schrieb er über den Parsi/al: „0, dieses Werk (es war nunmehr meine 65. Aufführung seit dem Jahre 1886 !), es ist für mich das Größte, was es auf dem Theater gibt - und das empfinde nicht nur ich so. Auch Weininger z.B. in seinem furchtbar-genialen Buch ,Geschlecht und Charakter' erklärt sich ähnlich, ja er geht noch weiter, er hält den Parsifal für die tiefste Dichtung der Welt-Literatur überhaupt." 15 Lechters Musik-Erlebnis bekam durch Liszts Tod seine mystische Weihe. Am 1. August 1886, nachdem Liszt in der Nacht gestorben war, durfte sich Lechter Haar des Verstorbenen abschneiden. Dieses Haar hütete er das ganze Leben lang und arbeitete es später in eine goldene „Liszt-Reliquie" ein (Hoffmann, Mein Weg, S. 169). Wagner und Liszt besaßen seitdem für Lechter die Aura von HeiligenGestalten.16 Ähnlich wie Ida Coblenz' Berliner Wohnung zeugte auch die Lechters in der Kleiststr. 3 - hier war George sehr häufig zu Gast - von seiner Leidenschaft: Über dem Flügel hing eine Fotografie des musizierenden Liszt, an der Zimmerdecke prangte der Name Richard Wagners. Ein selbstentworfenes Glasfenster war betitelt: „Leidenssehnsuchtsmotiv aus dem Vorspiel zu Tristan und Isolde" (1895). Außer dem Flügel besaß Lechter auch ein Harmonium, auf dem er gerne im choralartigen Stil improvisierte (Hoffmann, Mein Weg, S. 20). Obwohl er nicht einmal Noten lesen konnte, spielte und sang er ganze Wagner-Opern auswendig. Von seiner mystisch-religiösen Musikauffassung - er wandte sich bald der Philosophie der russischen Theosophin Blavatzky zu - zeugen schließlich die Titelblätter, die er für Musikalien Conrad Ansorges und Richard Wintzers entwarf. Die enge Beziehung Georges zu den französischen Symbolisten, zu Ida Coblenz und Melchior Lechter, Menschen also, für die Wagner existentielle Bedeutung erlangt hatte, zeigt seine starke Verflochtenheit in den Wagnerismus. Für alle bedeutete der Wagnerismus nicht allein ein musikalisches Erlebnis, sondern wirkte sich auch auf die Dichtung und den Lebensstil aus. Wie sehr auch George in Wagnerschen Vorstellungen lebte, erhellt sein Buch der Sagen und Sänge. „Alles atmet die Keuschheit, die Frömmigkeit des Parzival-Geistes", schrieb Kurt Hildebrandt (Werk, S. 76) über das einleitende Gedicht Sporenwache, in dem es heißt:

15

Zit. bei Hoffmann, Mein Weg, S. 140. (Hier wird auch berichtet, daß Lechter 1929 eigens nach Ravello fuhr, um dort den „Antico Cortile de! Palazzo Rufolo", das Vorbild für Klingsors Zaubergarten, zu sehen .) Vgl. auch Golther, Wagner.

16 1901 schrieb Gundolf an George : „Sonntag oder Montag ist Liszts Christus, wobei ich nicht gut fehlen kann, will ich es nicht mit Lechter verderben. Ich habe überhaupt ein wenig Angst, seiner Musiktyrannei ausgeliefert zu sein" (George 1md Gimdolf, S. 70) .

14

Aus des altares weissgedeckter truhe Flog ein schwarm von engelsköpfen aus. Es floss bei ferner orgel heilgem braus Des Tapfren einfalt und des Toten ruhe Zu weiter klarheit durch das ganze haus.

Die Bilderwelt Tristans und Parsifals, wie sie Georges Freund Melchior Lechter malte, beherrscht das ganze Buch, das vielleicht auch aus diesem Grunde besonders häufig vertont wurde. Richard Wagners Werk bestimmte und beeinflußte nicht nur Georges Musikerfahrung und -auffassung, sondern auch, vermittelt durch die französischen Symbolisten und Parnassiens, 17 seine Kunst- und Dichtungstheorie. Es fällt auf, daß Wagner im Paris des Finde siede auf Dichter und Maler eine anscheinend stärkere Wirkung ausübte als auf Musiker (Koppen, Wagnerismus). Die ersten Wagnerianer in Frankreich waren Dichter wie de Nerval, Baudelaire und Villiers 18 - und nicht Musiker. Auch die einflußreiche Revue Wagnerienne ging nicht primär von Musikern aus (die Gründer waren Edouard Dujardin, Hauston S. Chamberlain und Theodore de Wyzewa). Traditionell nahm im Bewußtsein der Franzosen die Dichtung einen höheren Rang ein als die Musik; Wagner wurde deshalb nicht nur als Musiker, sondern auch als Dichter rezipiert. Wichtiger aber war, daß Wagners Musikdramen etwas Neues repräsentierten, eine eigene, „höhere" Welt, fern von der schlechten Realität. Unter dem Eindruck der Musik entstand bei Dichtern und Malern eine anti-realistische artistische Kunstbewegung. Nicht zu Unrecht hat man von einer „Geburt der symbolistischen Idee aus dem Geiste der Musik" gesprochen (Klussmann, Stefan George, S. 11). „Mailarme ist der Führer dieser Bewegung", schrieb Hofmannsthal. „Aber vor Mailarme gehen Baudelaire und Rimbaud, und der majestätische Fluß, die geheime Polyphonie des einen sowie das wilde Durchbrechen der Ordnungen bei dem anderen, bei beiden ist es ein Annähern an den Bereich der Musik, das sie als Brüder zu Mailarme stellt. Denn dieser war ja schon fast ebenso Musiker als Dichter." 19 Suzanne Bernard (Mallarme) unterscheidet drei Phasen des Symbolismus: 1. die „vague verlainienne, impressioniste et anti-conceptualiste", 2. die „vague instrumentale et scientifique" und 3. die „vague wagnerienne et recherche d'un ,art total'". 17

Zur Differenzierung zwischen Symbolisten und Parnassiens vgl. Klussmann, Stefan George,

s. 8 ff. 18

Durch Villiers wurde Mailarme zum Wagnerianer (vgl. Raitt, Villiers, S. 101 ff.).

19

Vorrede, S. 489. Hofmannsthal vergleicht die Kompositionsweise Mailarmes mit der Debussys und nimmt damit spätere Forschungsergebnisse (vgl. Hardeck, Untersuchungen) vorweg, wonach enge Beziehungen zwischen Mailarmes „correspondances" und Debussys Technik der Motivverwandlung bestehen.

15

Während in der ersten Phase, die sich gegen den Parnasse und gegen beschreibende Poesie richtete, direkt gefühlsmäßig wirkende Dichtung geschrieben wurde, organisierte man in der zweiten unter dem Einfluß Helmholtz'20 die Abfolge der Vokale nach einem festen System (Vokale in synästhetischer Korrelation zu Instrumenten, Farben und Charakteren) als „Instrumentation" der Dichtung. Diese Ideen faßte Rene Ghil 1885 in seinem Traite du Verbe zusammen. Im gleichen Jahr wandte sich Mailarme intensiv der Musik zu. Er griff jedoch, zusammen mit Albert Mocke! und Albert Saint-Paul, die Theorie Ghils an. Laut Bernard war ihm die Musik aus drei Gründen wesentlich: erstens wegen ihres metaphysischen Charakters, zweitens wegen ihrer engen Verbindung zur Poesie und drittens wegen ihres religiösen, zukunftsweisenden Charakters. Für die „vague verlainienne" steht Paul Verlaines berühmtes programmatisches Gedicht Art poetique ( CEuvres, S. 206 f.). „De Ja musique avant toute chose" lautete die Parole. Vor allem sollte die Dichtung „Musik" sein, wie Musik klingen und wirken. Der Schlußvers behauptete, daß vor allem dieses „Musikalische" die Poesie von der bloßen Literatur abhebe. Die realistische „litterature" verfällt dem Verdikt des Kunstfremden. Die Musik übernimmt die Funktion eines Modells für nicht-realistische Kunst: Wie die Musik sei echte Poesie „plus vague et plus soluble dans l'air"; kunstgemäßer als eine deutliche Aussage sei eine andeutende („plus vague"), wichtiger als die feste Bedeutung der Worte ihre flüchtige Klanglichkeit („plus soluble dans l'air"). Schon der, nach Bernard, von den Symbolisten rezipierte Schopenhauer -1885 faßte Dujardin dessen Ästhetik in der Revue Wagnerienne zusammen, 1888 erschien Schopenhauers Hauptwerk in der Übersetzung Burdeaus - hatte dies an der Musik gerühmt: zugleich deutlich und undeutlich zu sein, zugleich allgemeine und besondere Gefühle darstellen zu können. „Rien de plus eher que Ja chanson grise / Ou l'Indecis au Precis se joint." Verlaine lehnte deshalb das Eindeutige, Deutliche, die klaren Farben ab. Die Darstellungsmittel orientieren sich am Darzustellenden; es geht um Zwischenzustände, die mehr ahnbar als definierbar sind, um die Nuance. „Car nous voulons Ja Nuance encor, I Pas la Couleur, rien que la nuance!" Winfried Börsch (Bedeutung) hat in diesem Zusammenhang auf ähnliche Gedanken in Jean Pauls Kleiner Nachschule zur ästhetischen Vorschule hingewiesen, wo die Musik als „romantische Poesie durch das Ohr" definiert ist. „Diese, als das Schöne ohne Begrenzung, wird weniger von dem Auge vorgespiegelt, dessen Grenzen sich nicht so unbestimmbar wie die eines sterbenden Tons verlieren. Keine Farbe ist so romantisch als ein Ton" Qean Paul, Werke, Bd. 45, S. 15 f.; zit. nach Börsch, Bedeutung, S. 9) . „Romantisch" ist der Ton wegen seiner Grenzenlosigkeit, wegen seiner Fähigkeit, Assoziationen zu suggerieren und auf das Unbewußte einzuwirken. 20 1868 wurde die Lehre von den Tonempfindungen ins Französische übersetzt. 16

Oh! la nuance seule fiance Le reve au reve et Ja f!Ote au cor! (Verlaine, CEuvres, S. 206 f.)

Zweierlei ist damit angesprochen: 1. die teilweise rauschhafte Wirkung der Kunst, 2. ihre anregende Wirkung in bezug auf Synästhesien. Im Übergang vom Wachen zum Träumen verwischen sich die Konturen zwischen den Dimensionen und Kunstgattungen. Diese verwischten Konturen, die Nuancen als Symptome des Übergangs, sind die eigentlichen Träger des ästhetischen Reizes. Verlaine wollte mit Dichtung Wirkungen erzielen, wie sie sonst nur von Musik, vor allem der Wagnerischen, ausgingen. 21 Daß ihm dabei die lexikalische Bedeutung der Worte ästhetisch sekundär wurde, wird evident in dem Mendelssohn nachempfundenen Titel seines Gedicht-Zyklus Romances sans parofes. Gemeinsam ist allen drei Phasen des Symbolismus, die hier nicht mehr im einzelnen dargestellt werden können, ihre inhaltliche und technische Orientierung an der Musik. Einerseits regten das Gesamtkunstwerk und die Künstlerpersönlichkeit Wagners eine weitgehende „inhaltliche", d. h. stimmungsmäßige, Verflechtung der Kunstgattungen im Sinne von „Kunst über Kunst" an, 22 andererseits, und dies geschah meist parallel, lehnte sich die Dichtung auch auf der technischen Ebene eng an die Musik an, versuchte, selbst eine Art von Musik zu sein. Während die erste Auffassung eine Universalisierung der Kunstausübung zur Folge hatte - Dichter begannen zu malen, Komponisten zu dichten usw. 23 - , bewirkte die zweite eher eine artistische Spezialisierung, eine Besinnung auf das je eigene Handwerk und Material. 24 Auf diese letztere Tendenz geht beispielsweise Rene Ghils „Instrumentisme", seine „methode evolutionniste-instrumentiste d'une poesie rationelle" (Schmidt-Garre, Musique, S. 573), oder Mailarmes Konzept zu Le Livre, in dem er sich unter anderem an der Notation und Aufführungspraxis von Musik orientierte, zurück. Beide Tendenzen, die Einbeziehung der stimmungsmäßigen „Inhalte" wie die technische Orientierung an der Musik, sind auf Wagner zurückzuführen. Die Idee des Gesamtkunstwerks bewirkte so einerseits eine Vermischung der Künste; andererseits führte sie aber auch zur Idee von Dichtung als „l'art total" oder „l'art complet", das heißt zur Idee einer „synthetischen Poesie", die in sich Elemente der

21

Helmut Schmidt-Garre (Musique, S. 567 f.) hat treffend von der symbolistischen Dichtung als von „Musique suggere" gesprochen. 22

So regten etwa James Whistlers Gemälde über Musikstücke wiederum Debussy zu seinen Noct1mies an. Melchior Lechter chuf seinen Gemäldezyklus Sieben Niichte am mystischen Quell nach eigenen Texten. Weitere Beispiele bei Schmidt-Garre, Musique. 23

Villiers z.B. wurde durch das Vorbild Wagners zu musikalischer Aktivität inspiriert: Er schrieb seine kleine Oper Le No1weau-Monde. 24

Produkt einer solchen Spezialisierung sind etwa Mailarmes Divagations, die der Dichter als „Oper ohne Orchesterbegleitung" bezeichnete.

17

anderen Künste integrierte. So stehen sich schon bei den französischen Symbolisten die beiden Tendenzen gegenüber, die dann auch bei George zu verfolgen sind: die Tendenz zur Kooperation mit anderen Künsten und die Tendenz zur Verabsolutierung und Verselbständigung der Dichtung. 25 Georges Hinwendung zu den Symbolisten vollzog sich in der „vague wagnerienne", die gekennzeichnet war durch „recherche d'un ,art total'". Des vor allem von der Revue Wagnerienne propagierten „vers libre", der „poesie en prose" bediente er sich selten. Wenn er sich in der Formfrage eher an der klassizistisch-artistischen Kunst des Parnasse orientierte (vgl. dazu die Darstellung bei Durzak, George, S. 58-87), so ist doch die Einwirkung der „vague wagnerienne" auf seine Ästhetik kaum abzustreiten. Vor allem der Wagnerianer Mailarme, der „Mahre", war Georges frühes Vorbild (vgl. Vordtriede, Conception), was sogar bis in die Änderung seines Vornamens hineinwirkte. 26 Im letzten Heft der 1. Folge der Bliitter für die Kunst (August 18 9 3) erschien seine „Lobrede" 27 auf Mailarme, die diese Abhängigkeit unterstreicht. George hob hier die Prävalenz des Klanglichen über das Inhaltliche hervor: „Denken wir an jene sinnlosen sprüche und beschwörungen die von unbezweifelter heilkraft im volke sich erhalten und die hallen wie rufe der geister und götter, an alte gebete die uns getröstet haben ohne dass wir ihren inhalt überlegt, an lieder und reime aus grauer zeit die keine rechte klärung zulassen bei deren hersagung aber weite fluten von genüssen und peinen an uns vorüberrollen und blasse erinnerungen auferstehen" (Werke 1, S. 506). Ein Grund für diese Bevorzugung des Klanglichen, Magischen und inhaltlich Dunklen war die Neigung Georges zur Exklusivität, weil nämlich, wie er schreibt, „jeder wahre künstler zeitweise von der sehnsucht befallen" wird, „in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne" (ebenda). An Verlaine hob George in einer zweiten Lobrede, die zwischen 1891 und 1896 entstand (vgl. Morwitz, Prosadichtungen, S. 42), dessen Lieder ohne Worte hervor, deren zarte Klanglichkeit auf tiefe Inhalte hinwiese: „Hier hörten wir zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heute pochen: wussten dass es keines kothurns und keiner maske mehr bedürfe und dass die einfache flöte genüge um den menschen das tiefste zu verraten. Eine farbe zaubert gestalten hervor indes drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt" (1, S. 509). Die Andeutung steht für das Ganze, der Klang für das Erlebnis, er symbolisiert tiefere Bedeutung. Neben 25

Vgl. Mailarmes Ausspruch: „Die Poesie, nahe der Idee, ist Musik par excellence" (zit. nach Schmidt-Garre, Wagnerisme, S. 5 J 9).

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26

Georges Vorname war zunächst „Etienne" (vgl. Boehringer, Bild, S. 31).

27

„Lobrede" ist Georges Eindeutschung von „Hommage".

den „Lobreden" sind die Bliitter für die Kunst selbst der eindrucksvollste Beleg für Georges Abhängigkeit vom französischen Symbolismus, und damit vermittelt von Wagner. Diese von George in Zusammenarbeit mit C.A. Klein herausgegebene Zeitschrift orientierte sich konzeptionell eng an den französischen Vorbildern La Wallonie, L 'Ermitage, La Plume, Mercure de France und - in der Namensgebung- an Rene Ghils Ecrits pour !'Art. In den Bliittern wurden nicht nur zahlreiche Gedichte der französischen Symbolisten in deutschen Übertragungen vorgelegt (Übersicht der Übertragungen bei Kluncker), ebenso die in Vorreden hier formulierte Ästhetik war der symbolistischen eng verwandt. Auch sie richtete sich bewußt gegen den Naturalismus. 28 Während dieser sich die realistische Darstellung der sozialen Wirklichkeit zum Ziel setzte, sollte nach George die Kunst die Sphäre des „schwankenden bohrenden andeutenden" ergreifen (Bliitter für die Kunst II, 2), sollte eben jene Nuancen wiedergeben, die Verlaine als den eigentlichen Inhalt der Poesie benannt hatte. Gegen die Wiedergabe der objektiven Realität stellte George die Wiedergabe der Emotion; ein Gedicht sei „nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung" (ebenda). Schon 1864 hatte Mailarme als Merkmal einer „poetique tres nouvelle" notiert: „Peindre, non la chose, mais l'effet qu'elle produit" (Correspondance, S. 137). Auch Hofmannsthal hob in seinem Gespriich über Gedichte hervor, daß alle guten Gedichte einen „Zustand des Gemütes", und nicht mehr, darstellten. 29 Die Nuancen, die Verlaine als den eigentlichen Inhalt von Poesie benannte, sind zu einem wesentlichen Teil synästhetische Phänomene. Folgende Beispiele für die synästhetische „Kunst des Übergangs" zwischen verschiedenen Wahrnehmungsformen können aus den Bliittern für die Kunst zitiert werden. - Leopold Andrian: Eine Locke (Farbe-Duft-Relation) -II, 3, S. 83. - Max Dauthendey: Schmerzensstimmung („flehendes blass") - I, 3, S. 80 . Vision („stöhnendes grau gelb . . . ein blass aus dem ganz zarte silberne glokkenspiele singen . .. ") - I, 3, S. 81. Abend („stimme des schweigens ... gesang von bleichen glocken") -II, 1, S. 16. Amselsang (akustisch-optische Relation) - ebenda. - Paul Gerardy: Das lied ganz aus mondenschein -I, 5, S. 143 . - Hugo von Hofmannsthal: „In seinen augen war die ruh von schlafend doch lebendgen edelsteinen" - III, 1, S. 10.

28

Georges wechselvolle Auseinandersetzung mit dem Naturalismus ist bei Durzak, George, S. 88- 102, ausführlich dargestellt. 29

„ Das ist die Berechtigung ihrer Existenz. Alles andere müssen sie anderen Formen überlassen : dem Drama, der Erzählung. Nur diese können Situationen schaffen. Nur diese können das Spiel der Gefühle zeigen" (Hofmannsthal , zit. nach G.P. Landmann, George-Kreis, S. 41) .

19

-

Ludwig Klages: Vorfrühling („Wie einsam steht auf diesem weiten land der baum ! / Wir aber wollen ... seines rauschens leise stimmen trinken /Wie kalte glut die schalle trinkt.") - III, 1, S. 27. - Carl A. Klein: Seraphische Bitte („Deine locken - leiser quelle schaum I Wiegend im schoosse melodisch geschmeide-") -II, 2, S. 45. - Melchior Lechter: Siebennächte am mystischen quell („die farbe wurde zum ton, der duft zur farbe, der ton zu duft, unendlich wechselnd in einanderrinnend") - III, 5, S. 147. - Richard Perls: „Und die blicke welche schmerzen saugen/ Küssen auf mit Just die alte wunde." - II, 5, S. 146. Es hat den Anschein, als hätten die verschiedenen Formen der Synästhesie, Synopsien - mit dem Spezialfall der audition coloree - und Phonismen, um 1900 beim künstlerischen Schaffensprozeß eine entscheidende Rolle gespielt. Da der Anlaß für Synästhesien häufig eine musikalische „Stimmung" war, verwundert es nicht, daß auch Musikstücke zuweilen zum thematischen Vorwurf von Dichtungen genommen wurden. 30 Schon Lechter hatte Musik zum Thema einiger Bilder genommen. 31 Karl-Gustav Vollmoeller gab in seinem Gedicht Herbstphantasie (Blätter für die Kunst IV, 1/2, S. 43) den Eindruck von Griegs op. 12 a-moll wieder. Auch George schilderte in mehreren seiner Gedichte musikalische Vorstellungen: Schall von oben! Sind es hörner, sind es harfen Die mich hoben Und in grüfte niederwarfen? (Algabaf) Wurde nicht in zarte saiten Ein gedehnter griff getan? Ahnungsloser schöner zeiten Scheues gleiten? (Vom Ritter der sich verliegt, aus Die Bücher der Sagen und Siinge.)

Die inhaltliche Orientierung der Dichtung an der Musik hatte einerseits die Verflüchtigung des inhaltlichen Moments, andererseits das Erscheinen neuer „musikalischer" Inhalte zur Folge. Solche musikalischen Momente waren entweder Beschreibung von Musikstücken oder die Wiedergabe von musikalischen Stimmungen durch Synästhesien. 30

Häufiger freilich als Gedichte über Musik sind in den Bliittem für die Kunst Gedichte über Bilder vertreten (vgl. Kluncker, Bliitter, S. 166 ff.). 31

Vgl. folgende Bild-Titel Lechters: „D-moll-Quartett: Adagio von Schubert" (1889), „Adagio mysterioso" (1892), „E-moll-Präludium von Chopin" (1893), „Orpheus" (Angaben nach Hoffmann, Mein Weg). Ähnliche Tendenzen finden sich gleichzeitig bei Max Klinger, dem Letten Curlionis, dem Engländer James Whistler u. a.

20

Unter dem Eindruck der Musik entwickelte sich im Symbolismus ein neues Verständnis vom Medium der Sprache als künstlerisches Mittel. Vielleicht zum ersten Male entdeckte man bewußt den Materialwert der Sprache. In bewußter Opposition zu (naturalistischer) „Literatur" und Wissenschaft, in Anlehnung aber an die Musik, versuchte die symbolistische Dichtung, das Hauptgewicht sprachlicher Gestaltung vom Semantischen zum Klanglichen hin zu verschieben. Die durch gesellschaftliche Konventionen geprägte Bedeutung von Sprache empfand man als „konventionell", als ein Hindernis bei dem Versuch, auch die Dichtung zu einer „reinen Kunst" -wie sie die Musik für die Symbolisten in beispielhafter Weise war - zu machen. Auch George näherte sich diesem „reinen" Kunst-Ideal an; er forderte in den Blättern für die Kunst Abstraktion vom Stofflichen und propagierte stattdessen die Hinwendung zum klanglichen Lautmaterial: „was in der malerei wirkt ist verteilung linie und farbe, in der Dichtung: auswahl maass und klang" (II, 2, 1894; zit. nach G.P. Landmann, George-Kreis, S. 17). Musik und Malerei schienen George verbindlichere, handwerkliche Grundlagen zu besitzen als die Dichtung. „Nie wäre bei uns", hieß es 1897 in den Blättern (IV, 1/2), „schrifttum und dichtung von heute in so traurige verödung geraten wenn ihre vertreter zu den gleichlebenden meistern der bildenden und der tonkunst den blick erhoben hätten" (vgl. ebenda, S. 34). Ein wichtiger Impuls in Richtung auf eine klangliche Erneuerung der Sprache ging in Frankreich vom Dichter Wagner aus. Während der Sprachstil von Wagners Operndichtungen in Deutschland schon früh parodistisch verwendet wurde, lenkte offensichtlich in Frankreich die sprachliche Distanz den Blick unbefangener auf die technischen Momente. So wurden gerade Wagners sprachliche Gestaltung, seine Alliterationen und Assonanzen, im Jahrgang 1887 der Revue Wagnerienne diskutiert (vgl. Bernard, Mallarme, S. 30 f.). Über die französischen Symbolisten, vermittelt durch George, fand diese klanglich akzentuierte Dichtungsart wiederum Eingang in die deutsche Dichtung. Aus einer ihn schwer bedrängenden Sprachkrise („Darin liegt auch der grund weshalb ich seit monden nichts mehr verfasse weil ich ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll" - Boehringer, Bild, S. 38) fand George 1890 wieder zu einer eigenen dichterischen Sprache. Das erste Werk im neuen „Ton" war der Gedicht-Zyklus Hymnen. Der neue Ton war von Richard Wagner inspiriert. 1891 empfahl George seinem Freund Albert Saint-Paul, die Hymnen iin deutschen Original zu lesen, um so, besser als in einer Übersetzung, nachvollziehen zu können - „comme j'ai profite des preceptes du grand Maitre Wagner ... Enfin si vous ne lisez pas !'original, vous ne pouvez pas jouir de mon amour pour le Maitre-Chanteur qui nous a enseigne !es deux musiques" (zit. nach Boehringer, Bild, S. 218). Abgesehen davon, daß George hier zum ersten und einzigen Male explizit von seiner Liebe zu Wagner spricht, ist sein Hinweis auf „!es deux musiques" Wagners von besonderem Interesse. Als „Ton-Dichter", scheint George sagen 21

zu wollen, war Wagner, der seine eigenen Texte vertonte und so auf der musikalischen und sprachlichen Ebene Klanglichkeit, also „Musik", realisierte, in doppelter Weise Musiker. Auch in den Hymnen finden wir „!es deux musiques". Nicht nur inhaltlich - etwa wenn Im Park „der Dichter auch der töne lockung lauscht" oder wenn das lyrische Ich im neuliindischen liebesmahle „einen melodienstrom" träumt-, sondern vor allem auch technisch-klanglich ist „Musik" in die Hymnen eingegangen. Wohl durch Wagner inspiriert - und in einer französischen Übertragung kaum nachvollziehbar - sind die zahlreichen Stabreime und Alliterationen (vgl. Kluncker, Bliitter, S. 137 ff.). „Tatsächlich erweckte dieser kleine Zyklus durch seine Musikalität, seinen reichen Wortklang und die Fülle seiner Rhythmen die Aufmerksamkeit der wenigen Dichter, die ihn bei seinem Erscheinen lasen" (David, George, S. 53). Schon Kurt Breysig sah Georges Dichtung „in ihrer engen Verkettung mit der Musik, die sowohl technisch wie innerlich bestünde, was durch die lang ausgehaltene Melodie ihrer Grundnoten etwas an die ewige Melodie Wagners erinnere" (Wolters, Stefan George, S. 162). „Hier aber in der Dichtung Georges", schrieb auch Johannes Nohl zurückblickend, „gleich in den ,Hymnen Pilgerfahrten Algabal', brauste die Sprache wie Orgelmusik ... Gewiß neu war der Reichtum an tönenden Vokalen, durch die der Grundton jedes Gedichtes bestimmt wird, neu die Fülle einfacher, sich kreuzender und umschließender Assonanzen, neu, wie die Melodie der Selbstlauter durch die Mitlauter instrumentiert wird, neu das irrungslose Zusammenfallen von Maß und Gewicht der Silbe mit dem Akzent, die abgründige Lautsymbolik, die musikalischen Intervalle zwischen den Bildern, die in einem Vers Auf- und Abgesang vereinigenden Metren" (Nohl, Sprache, S. 22). Auch im Zusammenhang mit einer eigenen Baudelaire-Übertragung (Boehringer, Bild, S. 32) sowie in den Bliittern für die Kunst betonte George die ästhetische Priorität des Klanges, der Sprachmelodie, über die Semantik: „Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit) sondern die form d. h. durchaus nichts äusserliches: sondern jenes tief erregende in maass und klang wodurch zu allen zeiten die Ursprünglichen die Meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter ordnung unterschieden haben" (Werke I, S. 530). Ganz ähnlich Mailarme: „Ich mache Musik, und als solche bezeichne ich nicht die, die durch euphonische Annäherung von Worten erreicht werden kann, --- sondern das, was jenseits davon liegt, das durch bestimmte Wortverteilungen magisch erzeugt wird; wo das Wort dem Leser nur noch als etwas materiell Vermittelndes gegenwärtig ist wie die Tasten eines Pianos ... Die Dichter aller Zeiten taten nie etwas anderes" (zit. nach SchmidtGarre, Wagnerisme, S. 518). Wenn George vom „tief erregenden in maass und klang" sprach, meinte er eine wie Wagnersche Musik unmittelbar suggestive Wirkung von Dichtung. Unter Berufung auf gerade die Dichter-Musiker Nietzsche und Jean Paul for22

derte er „eine kunst aus der anschauungsfreude aus rausch klang und sonne" (Blätter für die KunstIII, 1; zit. nach G.P.Landmann, George-Kreis, S.21). Rausch und Klang bilden hier eine Einheit. Gerade diese Einheit, die die Symbolisten exemplarisch an Wagners Musik erfahren hatten, war für George notwendige Bedingung für die Produktion und adäquate Rezeption von großer Kunst. „Tiefster eindruck, stärkstes empfinden sind noch keine bürgschaft für ein gutes gedieht. Beide müssen sich erst umsetzen in die klangliche Stimmung" (George, Werke I, S. 531). Am prägnantesten hat Carl August Klein die erstrebte musikalisch-rauschhafte Wirkung beschrieben: „Durch genau erwogene wahl und anhäufung von konsonanten und vokalen bekommen wir einen eindruck ohne zutat des sinnes. jubel und trauer glätte und härte nacht und licht fühlen wir ohne dass wir die begriffe dastehen haben. ganze verse dünken uns aus einer anderen sprache und versetzen uns in seltsame unruhe. alles läuft auf eines hinaus: den großen zusammenklang wobei wir durch die worte erregt werden wie durch rauschmittel." 32 Zwar konnte auch durch inhaltliche Bezüge, etwa die Nennung von Musikinstrumenten oder Gedichtüberschriften wie Adagio in cis-mofl (Blätter für die Kunst I, 5, S. 138 f.), beim Leser ein musikalischer Eindruck suggeriert werden. Entscheidend war aber wohl der Sprachklang. Nur so ist es denkbar, daß Mailarme, ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein, Georges Algabal-Dichtung allein aus dem Klang heraus begriffen haben will. 33 Auch bei den Gedichten aus dem fahr der Seele hob Mailarme „leur imperieuse melodie visible" 34 hervor. Wenn Dichtung als „Musik" wahrgenommen wurde, konnte vom Inhalt der Worte abstrahiert werden. So charakterisierte etwa Melchior Lechter Georges Übersetzung von Swinburnes Ballade vom Traumland als „Wortmusik": „Das leise Färben und Umfärben der Vokale und Konsonanten, der traumschwebende Rhythmus: eine berauschende duftschwere Musik. Klangwunder, die nicht gelesen, sondern mit den Ohren genossen werden müssen." Dichtung wurde in Analogie zur Wagner-Rezeption, als ein nicht durch die Begrifflichkeit, sondern durch die Klanglichkeit Bedeutungen suggerierendes Rauschmittel erfahren. 32

Klein, Über George. 1902 berichtete Friedrich Gundolf Wolfskehl von seiner Lektüre des Textbuches von „Wagners Tristan (ein Mittelalter in der Romantik - schwül schwer dumpf und süss triefend wie schwarzgoldner süsser Harz aus schwärenden Baumwunden). Ich bemerke mit Staunen, dass ich in diesem Werk keinen Satz ohne Musik höre ob ich will oder nicht. Dabei kenne ich die Musik nicht" ( Wol/skehl-Gimdolf, S. 159). 33 „Vos vers Algabal ... me paraissent tout d'abord familiers, intuitivement. La melodie au sen secret ne me trahit pas, je la per~ois en tant qu'un chant certain et pur, et de qualite lyrique tout en deversant sa multiple et subtile reverie ... "Mailarme 1893 an Stefan George; zit. nach Boehringer, Bild, S. 203. 34

Zit. nach Boehringer, Bild, S. 204. Gerade diese Bemerkung weist auf die Übernahme der Funktionen anderer Künste durch die Dichtung hin.

23

Veränderungen in der Relation der Künste Bei der Zielsetzung, in der Dichtung dem Ausdruck von „Stimmung" und der Darstellung von synästhetischen Nuancen, welche auch der „reinen" Klanglichkeit Bedeutung geben konnten, Priorität zu geben, konnte die Beschränkung auf die gattungsspezifischen Grenzen und Mittel der Dichtkunst kaum noch von Interesse sein. Vielmehr wurde in den Blättern für die Kunst eine Tendenz zur Vermischung der Künste, zur Verwischung der Gattungsgrenzen deutlich. Diese Tendenz entfaltete sich auf zwei Ebenen: Erstens drängten die Künstler hinaus aus der Spezialisierung in ihrer Einzelkunst, zweitens versuchten sie, synthetische Kunstwerke zu schaffen. So wurde etwa der Maler Karl Bauer nicht nur zum Dichter, er vermittelte auch in seinen Gedichten zwischen bildlichem Vorwurf und der intendierten musikalischen Wirkung. Mehr noch als Bauer repräsentierte Melchior Lechter den Typus des universellen Künstlers. Lechter war als Maler, Musiker und Dichter zudem ästhetisch von sehr viel größerem Einfluß auf die Blätter für die Kunst. Hier veröffentlichte er auch seine Sieben nächte am mystischen quell, 35 die für die Ästhetik ihres Schöpfers ebenso charakteristisch sind wie für die synästhetische V ermischungstendenz innerhalb der frühen Blätter. In dieser Lechterschen Textfolge ist neben einer Betrachtung über Des musikalischen Mystikers (Franz Liszt) Dante Sinfonie. Purgatorium und der romantischen Phantasie Traum und Nacht auch eine Meditation Der Mittag enthalten: „Und ein feiner seltsam fremder duft umhüllt mich: vor mir dämmern blumen-farbenvisionen auf, zarte lichtgebilde entfalten ihre blüten. duftwellen, lang gezogen, in geschlungenen rythmen aufflutend, langsam verbleichend, umschmeicheln mich. das duftorchester verhaucht zu traumakkorden: fern unirdisch-violett schwellen schmachtend tonwogen lichtdurchtränkt an mein ohr. Meine seele ist licht. Ganz lichte tief versunkene blaue mittagsstille, von wachsendem glück umhüllt: die farbe wurde zum ton, der duft zu farbe, der ton zu duft, unendlich wechselnd in einanderrinnend."

Obwohl stark beeinflußt von der W agnerschen Ästhetik, verstand Lechter aber nicht die Musik, sondern die Dichtung als das Bindeglied zwischen den Künsten. In seinem Aufsatz Über Stefan George hatte Klein, mit George Herausgeber der Blätter für die Kunst, unter Berufung auf Novalis erklärt: „Die poesie im strengen sinn scheint fast die mittelkunst zwischen den bildenden und tönenden künsten zu sein. sollte der takt der figur, der ton der farbe entsprechen?" (Blätter!, 2, S. 47.) Auch für George selbst war die gegenseitige Befruchtung der Künste wichtig. „Dies sei uns noch immer anfang und ende: von der kunst zu reden: den Künsten in ihren beziehungen und ihrem zusammen35

Blätter für die Kunst III, 5, S. 146-150 (1896). Später wohl auf Initiative Hofmannsthal in der Wiener Rundschau nachgedruckt. Der gleichnamige Bilderzyklus Lechters wurde auf der Pariser Weltausstellung preisgekrönt.

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wirken eine die andre anregend und vor erstarrung bewahrend" (BlätterN, 112; zit. nach G.P. Landmann, George-Kreis, S. 34). Während die französischen Symbolisten vor allem die Musik zum technischen und inhaltlichen Vorbild ihrer Kunst genommen hatten, spielte bei George neben der Musik auch die Malerei eine große Rolle. Er schrieb mehrere Gedichte über Gemälde, 36 ferner in Prosaform Beschreibungen von Bildern Cimabues, Quentin Massys', Dierick Bouts', Arnold Böcklins und Max Klingers. 37 Da George anstrebte, einer ganzen neuen Kunstrichtung zum Durchbruch zu verhelfen, nahm er in die Blätter für die Kunst auch thematisch verwandte Gemälde und Musikstücke auf, vornehmlich solche, die ihrerseits von Gedichten aus den Blättern angeregt waren. „Wenn schon wir in erster linie den neuen bestrebungen in der dichtung dienen wollten nahmen wir uns vor diese seiten auch den verwandten ton- und bildenden künstlern zu erschliessen", hieß es in den Blättern des Jahres 1893. Die „geistige Kunst" der Blcitterwar so häufig „Kunst über Kunst". Gert Mattenklott wies auf die Realitätsverflüchtigung bei diesen Kunstwerken des Fin de siede hin, „die primär einander spiegeln und [wo] die Handschrift des Baumeisters solcher Spiegelkabinette nur an den Verzerrungen der Bilder kenntlich ist" (Bilderdienst, S. 21). -Die Bild- und Notenbeilagen („inlagen") der Blätter hatten die Funktion, eine Bewegung in mehreren Künsten, freilich orientiert an der Georgeschen Dichtung, zu inspirieren. 1896 schrieb George in einem Brief an Hofmannsthal: „Es macht sich in unserem deutschland an vielen stellen eine sehnsucht nach höherer kunst bemerkbar ... Sie geht von malerei ton und dichtung durch verzierung und baukunst sogar allmählich in mode und leben." Die Beilagen steckten damit den ästhetischen Kontext der „höheren Kunst" der Blätter-Dichtung ab und sind, als Kunst über Kunst, frühe Dokumente der Wirkungsgeschichte der Georgeschen Dichtung. Sie dokumentieren aber auch, daß nichts dem frühen George-Kreis ferner lag, als die Künste streng gegeneinander abzugrenzen. Der „wahre Künstler" durfte nicht bloß Dichter sein. 38 Während die Bildbeilagen - so etwa das Gemälde Appasionata von Leo Samberger oder die George-Porträts von Paul Hermann und Hermann Schlittgen - nur in einem indirekten Bezug zum Heft standen, lag den Musikbeilagen meist in den Blättern für die Kunst publizierte Dichtung zugrunde. Daß sich George anfangs sogar intensiv um Kompositionen für die Blätter bemüht hat,

36

Vgl. die Gedichte Der Infant und Ein Angelico in den Hymnen.

37

In Tage und Taten. Vgl. zu Georges primär literarischem Malerei-Verständnis David, George, S. 237, und Thormaelen, Erinnerungen, S. 48. 38

Deshalb fühlte der junge George sich auch so nach Paris hingezogen . „Ich gedeihe nicht unter jenen (größtenteils) zeitungsschreibern ohne jedes musikalische oder malerische interesse. Dort aber leben dichter, die wahre künstler zugleich sind" (zit. nach Stefan George, S. 54).

25

geht aus seinem Briefwechsel mit Hofmannsthal hervor. Am 12. April 1896 hatte er bei Hofmannsthal angefragt: „Könnten Sie uns auch vielleicht für dies nächste heft ein musikstück eines Ihrer freunde besorgen, eines Ihrer eignen lieder in tönen wenn möglich. daran mag es doch in Wien nicht fehlen" (S. 91 f.). Sein Angebot, in die Blätter neben den Vertonungen eigener Gedichte auch eine von Hofmannsthal aufzunehmen, kann als ein besonderer Gunstbeweis gelten. Die Komposition, die George noch im April erhielt, war aber wieder eine George-Vertonung. Kritisch schrieb er am 1. Mai: „Clemens Franckenstein 39 hat mir vor einigen tagen ein paar meiner verse mit seinen tönen geschickt. ich gestehe Ihnen dass mich die anordnung durchaus nicht angenehm berührte und die höchst nachlässige art des mit fehlern und entstellungen besäten textes mich für den absender nicht sonderlich erwärmt hat ... Ich bestand auf einem Wiener weil ich gern eines Ihrer gedichte mit würdigen tönen in den ,Blättern' sehn würde, andre jedoch zur genüge da sind. vielleicht haben Sie die grosse freundlichkeit über all das mit Herrn v. Franckenstein in einer mündlich ausgleichenden weise zu verhandeln." Wenn George die Komposition nicht als „Lied", sondern als „Verse mit tönen" bezeichnete, gab er damit seiner Vorstellung vom Primat der Dichtung Ausdruck, deren Originalgestalt durch die hinzugesetzte Musik nicht angetastet werden dürfe. Demgegenüber bezeichnete Hofmannsthal die Komposition schlicht als „Musikstück"; aus Dichtung war für ihn Musik geworden. Ihm war das musikalische Lied keine literarische, sondern eine musikalische Gattung. Leider ist nicht angegeben, um welche Komposition Franckensteins es sich handelt. Hofmannsthal fragte am 6. Mai aus Galizien nach, was er „wegen Frankenstein machen soll. Was verstehen Sie unter ,Anordnung'? Wie er zu einem fehlerhaften Text kommt, ist auch mir unbegreiflich." George antwortete am 23. Mai 1896: „Unter ,anordnung' verstand ich damals: meine verse an irgendwelchen thörichten reimspielen zu ordnen. wenn geschäftliche oder andere gründe für Herrn v. F. vorlagen meine dichtungen nicht getrennt zu veröffentlichen, so hätte er es mir nur mitzuteilen brauchen, ich hätte ihm im fall die hindernisse wegräumen helfen. Wenn er etwas aus Ihren werken in töne setzen und fertig stellen lassen will, so werden Sie gewiss aufmerken dass es in einer Ihnen bekömmlichen art geschehe."

39

Franckenstein, 1875 in Franken geboren, hatte Musiktheorie und Komposition bei Exponenten der neudeutschen und Brahmsischen Schule, nämlich bei Thuille in München und Knorr in Frankfurt am Main, studiert. Als Operndirigent zunächst in New York und London tätig, wurde er 1914 Generalintendant in München.

26

Anscheinend war die Franckensteinsche Komposition schon veröffentlicht, ohne daß allerdings -wie etwa bei den George-Vertonungen Schönbergs und Weberns - der vertonte Text getrennt noch einmal beigegeben war. Wenn es sich um ein bereits gedrucktes Lied gehandelt hat, wird es Das Lied des Zwergen op. 1, Nr. 3 (NB. 1) gewesen sein.40 Denn bereits am 5. August 1895 hatte Franckenstein George die Veröffentlichung eines gleichnamigen Liedes angekündigt.41 Das kurze Lied erinnert an Wolfsehe Miniaturen. Die „Anordnung" des Textes ist kaum als ungewöhnlich zu bezeichnen: Der korrekt übernommene Text- er wurde zuerst in den Bliittern für die Kunst vom Mai 1893 abgedruckt- ist ebenso korrekt in Musik umgesetzt. Jede Liedzeile ist zweitaktig und deutlich in Entsprechung zur Verszeile als Bauelement erkennbar. Nur die letzte Zeile wird auf vier Takte gedehnt. Der Rhythmus des Gedichts ist in der Vertonung allerdings verändert. Dies geschieht durch Dehnung der Zeilenschlüsse -wohl dies meinte George mit den „törichten Reimspielen" - sowie durch die Verwandlung des ursprünglich auftaktigen in einen volltaktigen Rhythmus. Gedicht:

Jl \J Ji \ J Ji l J I J

Ganz klei - ne

Vertonung:

~ )i ) ) ) ) Ganz klei-ne Vö-gel

sin -

Vö - gel

1

J Jl

7

gen

1

sin - gen

Daraus folgt eine übermäßig starke Betonung des Zeilenanfangs „ganz" und eine Schwächung der folgenden Worte „kleine" und „Vögel''. Diese rhythmische Veränderung, eine Veränderung sowohl des metrischen als auch des Sinnakzents, muß der Dichter als besonders schwerwiegenden Eingriff empfunden haben. Wohl geringer wog für ihn dagegen eine weitere Veränderung: entgegen der Reimstruktur des Gedichts (aaa - bbb - ccc) besitzt Franckensteins Vertonung die Zeilenstruktur abb - cdd - eef. Diese Überlagerung zweier Formstrukturen, die jedoch keinen Eingriff in das Gedicht bedeutet, dürfte George wegen seiner eher bescheidenen Notenkenntnisse kaum bemerkt haben. 40Musikverlag und Bühnenvertrieb Emil Berte & Co (Wien und Leipzig) o. J. Signatur der Musiksammlung der Österr. Nationalbibliothek Wien (Albertina) M.S. 9370. Vgl. NB. 1 und auch die Vertonung des GedichtS von Mieczyslaw Natrowski, der um 1900 in Berlin u. a. bei Gustav Hollaender und Hans Pfitzner studierte und 1942 der Judenverfolgung zum Opfer fiel. Sein Lied des Zwergen wurde aus dem Nach laß in Castrum Peregrini LXXI, S. 40-43 , veröffentlicht. 41 Vgl. Seekamp, George. Auch Boehringer geht davon aus, daß das Lied des Zwergen gemeint war (vgl. George, Briefwechsel, S. 246) . Außer in op . 1 verwendete Franckenstein in op. 4, Nr. 2; op. 5, Nr. 2, und op. 11 , Nr. 1- 3, George-Texte.

27

NB. 1

Presto

Langsam (quasi Recit.)

Das Lied des

Zwer -ge n:

# sempre PP

f

#.

gen,

ganz

kl ei - ne

Blu - men ,,,.---_

28

Die beiden George-Vertonungen von Karl Hallwachs und Kurt Peters, die schon vorher in den Bliittern veröffentlicht worden waren, haben Georges Vorstellungen eher entsprochen. Als erste Musikbeilage der Bliitter erschien 1894 (II, 2) eine Komposition von Hallwachs: „Aus den knospen quellen sachte". 42 Der Kontakt Georges zu Hallwachs hatte sich entweder über den Darmstädter Karl Wolfskehl oder über Hallwachs' spätere Frau, die als WolfSängerin bekannte Sopranistin Frieda Zimmer-Zerny, ergeben, die der Dichter in München kennengelernt haben soll (vgl. Morwitz, Kommentar, S. 76). Auch Hallwachs' ästhetische Haltung wird den Kontakt gefordert haben. 43 In seiner Verweigerung gegenüber dem Kulturbetrieb, wie immer sie auch motiviert gewesen sein mag, ähnelte Hallwachs George. George verwandt war er auch insofern, als er wie dieser vom Primat der Dichtung ausging. In einem Aufsatz über Hugo Wolf schrieb er: „Für Wolf ist mit Wagner die Dichtung alles, und die Musik nur insoferne von Interesse, als sie diese zu erhöhter Ausdrucksfähigkeit zu bringen vermag. Wolf ist, so sonderbar dies klingen mag, eigentlich gar nicht als Componist thätig; die musikalischen Gedanken als solche haben für ihn, absolut betrachtet, gar kein Interesse, sie sind ihm stets nur Mittel, Mittel, um die Wirkung der Dichtung zu erhöhen" (zit. nach Fuchs,

42

Vollständiger Titel „aus Lieder im geschmack eines fahrenden spielmanns von Stefan George / in Musik gesetzt von Karl Hallwachs". Der 1870 in Darmstadt geborene Komponist hatte von 1888 an an der Münchner Akademie der Tonkunst Komposition bei Joseph Rheinberger und Ludwig Thuille, Gesang bei Julius Stockhausen und Julius Hey studiert. Hallwachs war zunächst als Chordirigent tätig, 1897-1899 als Theaterkapellmeister in Wiesbaden. In Mainz wurde 1898 seine Oper Ramaka uraufgeführt. Ab 1902 war er Kapellmeister in Kassel, dort tätig als Dirigent des Oratorien-Vereins und der Liedertafel, später „Musikmeister" in Hamburg. Wahrscheinlich meint Wolters (George, S. 81) damit den Kapellmeistertitel (s. auch den Artikel Hallwachs im RiemannL, 1111929, S. 698). Das Jahr 1894 war besonders George gewidmet: In der Allgemeinen Kunstchronik (München, XVII/23, 2. Novemberheft) erschien neben seinem Aufsatz über Hugo Wolf eine weitere Vertonung eines George-Gedichts Lilie der auen. Weiter ist 1894 in den Blättern für die Kunst (II, 2) von seiner Bühnenmusik zu Georges Drama Die Herrin betet die Rede; bei dieser „tonbegleitung zu den stummen teilen der handlung" wird Wagners Idee vom musikalischen Drama Pate gestanden haben. Um die Jahrhundertwende entstanden weitere George-Lieder Hallwachs': Lieder eines fahrenden Spielmanns, op . 12, Vier Gesänge nach Gedichten von Stefan George und Karl Wolfskehl, op. 13 („Lilie der Auen", „Jedem werke bin ich fürder tot", „ Ein edelkind sah vom balkon") und Das Lied des Zwergen, op. 27 . Opus 13 und 27 erschienen im Berliner Verlag Eisoldt & Rohkrämer (später : Dreililien-Verlag), wo auch die George-Vertonungen Conrad Ansorges verlegt wurden. 43

Georg Fuchs, ein Darmstädter Freund Karl Wolfskehls, der zunächst in den Bliittem publizierte, dann aber als Theaterreformer bekannt wurde, schrieb über den Komponisten (Hallwachs) : „Als ein verfeinerter stolzer Geist nicht gewillt, die düsteren Pfade zu betreten, welche in dem von epigonaler Mittelmäßigkeit und oberflächlichem Geschäftstreiben allzusehr beeinträchtigten deutschen Musikleben zu einem fragwürdigen Ruhme führen , hat er Jahr um Jahr geschaffen und gesungen, glücklich, eine kleine Runde von Männern und Frauen um ich zu sehen, welche die wahre Kunst mit sehnendem Herzen suchend, ihm Dank wußten für all das Schöne, das er aus voller Seele gab."

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