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German Pages 156 [163] Year 1971
JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG
Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz
1970
Herausgegeben von Dagmar Droysen
Verlag Merseburger Berlin
Edition Merseburger 1442
© 1971 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten . Printed in Germany Druck: Arno Brynda, Berlin ISBN 3 87537 004 X
INHALT OSTHOFF, WOLFGANG
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Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit DAHLHAUS, CARL
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Miszellen zur Musiktheorie des 15. Jahrhunderts EPPSTEIN, HANS
Zur Vor- und Entstehungsgeschichte vonJ. S. Bachs Tripelkonzert a-moll (BWV 1044) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
GERLACH, REINHARD
Die Dehmel-Lieder von Anton Webern Musik und Sprache im Übergang zur Atonalität . . . . .
45
DE LA MOTTE-HABER, HELGA
Konsonanz und Dissonanz als Kriterien der Beschreibung von Akkorden . . . . 101 HESSE, HORST-PETER
Die Tonhöhenwahrnehmung und die neurophysiologischen Bedingungen des Gehörsinnes . . . ..
.. 128
REINECKE, HANS-PETER
Musikwissenschaft und Musikerziehung
144
Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Ober die Autoren
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BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT* WOLFGANG OSTHOFF
Ein Jahr nach dem Tode Ludwig van BEETHOVENs, 1828, erschienen die beiden ersten umfangreichen Würdigungen der Missa Solemnis und der 9. Symphonie aus der Feder von Joseph FROHLICH 1 • Fröhlich war seit 1804 in Würzburg Universitätsmusikdirektor und der erste Dozent für Musikgeschichte, er leitete zugleich das akademische Musikinstitut, aus dem das älteste deutsche Konservatorium, unser heutiges Staatskonservatorium, herausgewachsen ist. Die Universität Würzburg knüpft daher an ihre eigene Geschichte an, wenn sie Beethoven am Vorabend seines 200. Geburtstages ehrt. Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit, d. h. als gewordene, von den Kräften der Vergangenheit gespeiste, sich an den Kräften der Vergangenheit messende, als aus dem eigenen Gesetz wirkende, weiterwirkende und verpflichtende, rir:htende Realität - das möchte ich zu umreißen versuchen, so wie es sich mir darstellt. Ich werde nur wenige konkrete Punkte berühren, wobei ich von einigen exemplarischen Werken und von einigen exemplarischen Worten Beethovens und seiner Zeitgenossen ausgehe. Bevor Beethoven im November 1 792 seine Vaterstadt Bonn verließ, um in Wien den Unterricht bei Joseph Haydn anzutreten, schrieb ihm der befreundete Graf WALDSTEIN - derselbe, dem später die berühmte Klaviersonate gewidmet wurde - folgende prophetischen Sätze ins Stammbuch: „Lieber Beethoven. Sie reisen itzt nach Wien z ur Erfüllung Ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozarts Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bei dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen" (THA YER 3/1917, S. 290 2 ). Beethoven soll also aus den Händen Haydns den Geist, den Genius des ein Jahr vorher verstorbenen Mozart erhalten. Mit den Namen Haydn und Mozart ist bezeichnet, was Beethoven an Bedeutendem in der Welt der Musik unmittelbar vorfand. Was lernte er von Haydn, was empfing er von der Musik Mozarts, und in welcher Weise verwandelte er dieses klassische Erbe zu etwas Neuem, Eigenem? Bei Haydn, im Unterricht, hat er offenbar nur wenig gelernt, von Haydn hat er unendlich viel gelernt, vor allem aber konnte er von ihm lernen, welches Element das primäre für diese neue klassische Musik war: der Rhythmus. Noch spät, am 8. März 1824, hat er mit Anton Schindler ein Gespräch über den Rhythmus geführt, SCHINDLERs Antworten sind in dem betreffenden Konversationsheft erhalten. Eine von ihnen, die unzweifelhaft Beethovens Ansicht spiegelt, lautet: der Rhythmus „ ist unstreitig das Nothwendigste zur Verstän *Obiger Vortrag wurde am 15. Dezember 19 70 in der Universität Würzburg gehalten. Die mündliche Diktion ist für den Druck nicht geändert wordrn, allerdings wurden die notwendigen Na chwei se hinzugefügt. 1
Missa 1828, Caecilia 9, Heft 36, S. 2 7-45; Sinfonie 1828, Caccilia 8, Heft 32, S. 231-256.
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Abbildung in BORY (1960) S. 58.
WOLFGANG OSTHOFF
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digung der Musik" {KÖHLER-HERRE 1970, S. 198). Später ist von Arsis und Thesis die Rede, von Hebung und Senkung, das entspricht dem leichten und dem schweren, dem unbetonten und dem betonten Teil einer musikalischen metrischen Einheit. Auf dem rhythmischen Spiel der Motive über dem gleichmäßigen Fluß von Thesis-Arsis, Thesis-Arsis usw. beruhen ganz wesentlich der Geist und das Leben der Haydnschen Musik. Dabei kommt es nicht auf äußere motivische Kontraste an. Beim späten Haydn finden sich Fälle, in denen er ein und dasselbe Motiv, ein und dieselbe Melodie durch verschiedenartige metrische Placierung verändert und verwandelt. Ich gebe ein Beispiel aus dem letzten Satz von HAYDNs Sinfonie Nr. 103 in Es-Dur vom Jahr 1795. Zugrunde liegt ein gleichmäßiges Zweiermetrum von Thesis und Arsis, wobei Thesis und Arsis je einen Takt beanspruchen. In dieses metrische Gerüst setzt Haydn sein Hauptthema derart, daß es auf einer Thesis beginnt (Tonband-Beispiel):
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Als 2. Thema, als Seitenthema, bringt Haydn keine neue Melodie, sondern er placiert das 1. Thema in metrischer Hinsicht umgekehrt, d. h. es beginnt nun auf einer Arsis {Tonband-Beispiel T. 316-335). Das Motiv bleibt in melodischer und rhythmischer Beziehung identisch, durch die metrische Verschiebung wird es aber verändert und erhält daher auch eine andere Fortsetzung. Wollen wir das, was sich hier abspielt, allgemein, philosophisch fassen, so können wir uns an SCHILLERs im selben Jahre 1 795 herausgekommene Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen halten. Schiller spricht von zwei Grundtrieben des Menschen: 1. von dem sinnlichen - dieser Trieb fordert, „daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe" {12. Brief), 2. vom Formtrieb er „geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen ... und ist bestrebt, ... Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen ... " (12. Brief). Beide Triebe vereinigen sich aber in einem dritten, der den Menschen erst ganz zum Menschen macht (15. Brief), im Spieltrieb. Schiller schreibt: „Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei . . . " Der Spieltrieb, „in welchem beide verbunden wirken, ... würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren" (14. Brief). Haydn vereint Veränderung {den metrischen Wechsel) mit Identität (des Motives als solchen). Dieses Spiel vollzieht sich wie alle Musik notwendigerweise in der Zeit, durch das Veränderung bewirkende Spiel entsteht aber über den bloßen Ablauf hinaus der Eindruck eines Vorgangs. Der ausdrückliche Charakter des Vorgangs ist das Kennzeichen der Wiener klassischen Musik. Haydn hat das begründet, Mozart hat es aufgenommen. Wie verhält sich Beethoven dazu? In unserm Haydnschen Beispiel war die Verwandlung schon innerhalb des 1. Themas vorbereitet. Nebenstimmen deuteten die
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andere metrische Ordnung an. Doch in den Grundzügen blieben 1. und 2. Thema in metrischer Hinsicht voneinander geschieden. BEETHOVEN übernimmt das Haydnsche Verfahren, aber er verdichtet es. D. h. er kann die unterschiedliche metrische Haltung nun auch innerhalb eines einzigen Themas vorführen. So z. B. im 2. Thema des Allegro aus der Sonat e pathetique c-moll op. 13 von 1799, also vier Jahre nach Haydns Sinfonie. Beethoven arbeitet hier mit einem rhythmischen Impuls, der aus vier Tönen besteht (B-Es-F-Ges). In der hohen Lage setzt er den Impuls so ein, daß er auf der Arsis beginnt und auf die Thesis zuläuft. Schon das allein ergäbe ein schönes Thema. Das aber ist nicht das ganze Thema. Der Impuls erscheint auch in der tiefen Lage, hier jedoch beginnt er auf der Thesis. Zusammengesetzt heißt es (Tonband-Beispiel):
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Im Spiel mit den Impulsen, in den dadurch bewirkten Veränderungen und Vorgängen zeigt sich der Nachfolger Haydns, aus der Verdichtung und Intensivierung der Impulse spricht Beethoven. Das empfand GOETHE auch ganz unmittelbar an dem Menschen Beethoven, als er ihn 1812 in Teplitz traf. Er schrieb damals an seine Frau: „ ... Zusammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß" (LEITZMANN 1921, s. 138). Von Haydn übernahm Beethoven das Spiel, doch unter seinen Händen wurde daraus zugleich mehr als Spiel. Beethoven sprach öfter bei der Erklärung seiner Werke von dem Gegensatz zweier Prinzipe, der in seiner Musik ausgetragen werde (SCHINDLER 3/1860, 2. TI., S. 222). Schindler bemerkt dazu in den Konversationsheften: „ Tausende fassen das nicht!" (SCHüNEMANN 1943, S. 341). Vielleicht hat man es wirklich nicht genau erfaßt. Selbstverständlich finden wir in Beethovens Gesamtwerk die verschiedensten Prinzipe gegeneinandergestellt. Ein konkretes Beispiel für ein solches gegensätzliches Paar von Prinzipen im Sinne Beethovens sind die beiden Impulse unseres Themas, wie uns Schindler versichert, der mit Beethoven die Pathetique durchgenommen hat. Er schreibt, daß wir die beiden Prinzipe in diesem Seitenthema „in gedräng-
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WOLFGANG OSTHOFF
ter Form sich neben einander wiederholt aussprechen" hören. Er fährt fort: „Selbst der vertrocknetste Clavierlehrer dürfte nicht anstehen diesem Satze eine besondere Bedeutung zuzuerkennen .. . " (SCHINDLER3/1860, 2.11., S. 361) 3 • Das Neue gegenüber Haydn liegt also nicht nur in der Verdichtung des Spiels, sondern auch in der Härtung der Impulse zu Prinzipen und in der damit verbundenen Profilierung der Impulse, in dem Auftreten von unverwechselbaren, gegensätzlichen Charakteren. So hat der Impuls in der tiefen Lage etwas Polterndes, Brutales an sich, in der hohen Lage etwas Klagendes, Flehendes, zwei gegensätzliche Prinzipe, die doch in der Einheit des Themas zusammengefaßt sind. Mit Prinzipen, Charakteren ist natürlicherweise Inhalt, Vorstellung, Bedeutung - wie Schindler sagt - verbunden, also etwas, das nicht in Musik als solcher liegt, sich aber mit ihr verbinden kann. Schon der Titel Sonate pathetique gibt davon einen Begriff. Nach den Worten des Grafen Waldstein sollte Beethoven aus Haydns Händen Mozarts Geist erhalten. Mozarts Geist ist schwerer zu fassen als das Spiel, das Verfahren, das Beethoven von Haydn lernte. Ich glaube in der Annahme nicht fehlzugehen, daß es die tieferen seelischen Töne Mozarts waren, die in Beethoven entsprechende Saiten zum Schwingen brachten. Z. B. liebte er besonders MOZARTs Klavierkonzert in der DonGiovanni-Tonart d-moll, zu dem er auch Solokadenzen schrieb. Es gibt Beethovensche Themen, die in ihrer schlanken Zeichnung und gedämpften Farbe eine innere und bisweilen auch äußere Verwandtschaft mit Mozart aufweisen, und zwar angefangen von den Bonner Klavierquartetten des Fünfzehnjährigen, in denen sich zuerst Beethovens Auseinandersetzung mit Mozart nachweisen läßt 4 • Was aber hat Beethoven in der angedeuteten Richtung Neues gebracht, über Mozart hinaus? Ich stelle zwei Sätze Mozarts und Beethovens einander gegenüber, die in der Tonart gleich und in Bewegung und Tonfolge ähnlich sind, beides frühe Kompositionen. Zunächst hören wir den Anfang des langsamen Satzes aus MOZARTs Serenade D-Dur KV 320, der sogenannten Posthorn-Serenade aus dem Jahre 1779 (Tonband-Beispiel Andantino, T. 1-14). Eine melancholische, ausdrucksstarke, überaus sensible und sprechende Musik, von der man gesagt hat, daß sie eine „impression funebre" (WYZEWA/SAINT-FOIX 1936, S. 163) hervorrufe. Und doch ist das alles eingefangen in abgezirkelten, auch gegensätzlichen Gesten, deren Vornehmheit darin besteht, daß sie nie bis zum äußersten gehen. Ich möchte sagen: der Schöpfer dieses Seelengesanges bezieht die Öffentlichkeit stets in den künstlerischen Vorgang mit ein, die Öffentlichkeit etwa im Sinne des damaligen Das forte in SCHINDLERs Notenbeispiel (3/1860, 2. TI., S. 359/60; dana ~h auch unser Notenbeispiel 2) für den unteren Impuls fehlt in allen Ausgaben der Sonate (das Autograph ist verschollen). Andererseits nennt SCHINDLER (3/1860, 1. Tl., S. 52) im Zusammenhang mit „der Nachlässigkeit wie auch Unsauberkeit" der Wiener Musikdruckereien gerade unsere Sonate: „So hat manz. B. in der Sonate pathitique den Abgang einer ansehnlichen Zahl von Vortragszeichen im ersten und zweiten Satz, wichtig für richtige Auffassung, nicht blas für Färbung, zu beklagen." Angesichts dieser Bemerkung und in Anbetracht der Tatsache, daß Schindler die Sonate bei Beethoven studiert hat, möchte ich das forte für den unteren Impuls als authentisch ansehen, zumal der Gegensatz der Prinzipe erst durch den dynamischen Gegensatz in voller Deutlichkeit hervortritt. Daß SCHINDLER die dynamischen Zeichen ganz bewußt bringt, zeigt seine Bemerkung (3/ 1860) 2. 11„ s. 241. 4 Vgl. insbesondere das Klavierquartett Es-Dur WoO 36, Nr. 1 und MOZARTs Violinsonate G-Dur KV 379 (373a) von 1781, dazu Ludwig SCHIEDERMAIR (1925) S. 290-293. 3
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Theaters, der Oper. Bei aller Empfindungsstärke wahrt Mozart die überlegene und distanzierte Haltung des Dramatikers, des Dramaturgen. Hören wir dagegen den Anfang des langsamen Satzes aus BEETHOVENs Streichquartett F-Dur op. 18, Nr. 1 aus dem Jahre 1799 (Tonband-Beispiel Adagio molto, T. 1-9). Ein echter, unverwechselbarer langsamer Satz Beethovens, vor ihm undenkbar ebenso wie nach ihm. Auch hier bleibt die Geste beherrscht, auch hier wird Öffentlichkeit vorausgesetzt, aber Beethoven unterwirft sie seinem Ausdruckswillen. Von der spezifischen Theaterhaltung Mozarts entfernt sich Beethoven in Richtung auf eine unvermittelte Confessio, das zeigt sich übrigens auch in Teilen seiner einzigen Oper Fidelio. Mozart erschließt tiefere seelische Schichten als Haydn, doch auch seine Musik steht wie diejenige Haydns unter dem Gesetz des Spieltriebs. Beethoven knüpft an Haydn und Mozart an, doch beim Anhören seiner Musik stellen sich unabweisbar Bilder, Vorstellungen ein, konkrete Inhalte. Dies zeigt sich sehr deutlich im Musikschrifttum der damaligen Zeit, und die Exzesse in Form programmatischer Paraphrase und Hermeneutik sind uns allzu bekannt. Zu diesen Exzessen kam es aber gerade deshalb, weil man im fortschreitenden 19. Jahrhundert die konkrete Sprache der Beethovenschen Musik nicht mehr so verstand wie in der großen Zeit um 1800. BEETHOVEN selber äußerte sich 1823 dahingehend, „daß die Zeit, in welcher er die meisten Sonaten geschrieben, poetischer gewesen als die gegenwärtige, daher Angaben der Idee nicht nötig waren" (SCHINDLER 3/1860, 2. TI„ S. 222). Dann gibt er konkrete Beispiele für solche der Musik zugrundeliegenden Ideen, und in diesen Zusammenhang läßt sich auch unser Quartettsatz stellen. Dieses Quartett hatte BEETHOVEN dem ein Jahr jüngeren Karl Amenda gewidmet, „als ein kleines Denkmal unserer Freundschaft", wie er schrieb (THA YER 2/1910, S. 120 5 ). Von AMENDA erfuhr ein etwas späterer Musikschriftsteller die folgende Begebenheit: „A ls Beethoven sein bekanntes Streichquartett in F-Dur komponiert hatte, spielte er dem Freunde das herrliche Adagio vor und fragte ihn darauf, was er sich gedacht habe. Es hat mir, war die Antwort, den Abschied zweier Liebenden geschildert. Wohl, entgegnete Beethoven, ich habe mir dabei die Szene im Grabgewölbe aus Romeo und Julia gedacht" (THAYER 2/1910, S. 186 6 ). Das darf man nun um Himmels willen nicht so verstehen, als ob Beethoven die 3. Szene des 5. Aktes von Shakespeares Tragödie hier abkonterfeit hätte. Nur einige Bilder und Vorgänge lassen sich vielleicht identifizieren. Gegen Schluß des Satzes dürfte die dreimal auffahrende Gebärde Julias Entschluß zum Selbstmord und das folgende fortissimo den Stoß ihres Dolches andeuten. Danach verlöscht sie. Unter den Skizzen findet sich sogar ein Entwurf Beethovens mit den Worten: „Les derniers soupirs". Hören wir nach diesen Hinweisen den Schluß des Satzes (Tonband-Beispiel op. 18,1 Adagio, T. 95-110). Ich sprach von Ausdruckswillen, von Confessio, von außer- oder übermusikalischen Inhalten. Also beginnende Romantik? Setzen wir dagegen die programmatische Vertonung derselben Sterbeszene durch einen Romantiker in der dramatischen Symphonie Romeo et Juliette von Hector BERLIOZ aus dem Jahre 1839, zwölf Jahre nach Beet5
Abbildung in BORY (1960) S. 91 und LANDON (1970) S. 63 (Nr. 86]. 6 Die Skizze Les derniers soupirs bei NOTTEBOHM ( 188 7) S. 485 und bei ZOBELEY ( 1965) S. 42.
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hovens Tod. Deutlich nimmt man die Verzweiflung, das Zücken des Dolches, das Zustechen wahr. Danach auch hier das Erlöschen und Verscheiden (Tonband-Beispiel der letzten 60 Takte des Allegro vivace ed appassionato assai aus Romeo et juliette). Auch das ist Ausdruckswille, nun aber nicht mehr gebändigt, d. h. in der Freiheit des Spiels erscheinend, sondern exzessiv als Selbstzweck, d. h. unter dem Zwang des Affektes. In der Formulierung SCHILLERs gibt uns Beethoven „eine schöne Kunst der Leidenschaft", während Berlioz nur „eine schöne leidenschaftliche Kunst" bietet 7 (22. Brief) • Die Geste wird bei Berlioz zum naturalistischen Ausbruch, die Sprache wird zum Schrei. Diese Musik sieht im Grunde genommen von Öffentlichkeit im alten Sinne ab. Die Welt mag über ihr zugrundegehen oder angesichts ihrer versinken. BERLIOZ berichtet über die Entstehung dieser Symphonie: „Ich traute mir die Kraft zu, zur Wunderinsel zu gelangen, wo sich der Tempel reiner Kunst erhebt" (1914, S. 248). Selbstherrlicher Zauber, fernab der Wirklichkeit, reine abgelöste Kunst als Religionsersatz - wie fremd ist das alles Beethoven. Mag sich die Romantik und die aus ihr hervorgehende Modeme in Details auf Beethoven berufen - nimmt man ihn als Ganzes zum Maßstab, so wird er unversehens zu ihrem Richter. Ich sprach anhand von Haydn, und das gilt auch für Mozart, von dem Spiel, das unter Beethovens Händen verdichtet, gehärtet und intensiviert zur Auseinandersetzung von Prinzipen wird. Das ist eine Modifizierung, Weiterentwicklung, dennoch bleibt die übergeordnete Haltung des Spiels, bleibt der Spieltrieb verbindlich für die ganze Wiener klassische Musik bis hin zu Beethovens letztem Streichquartett, sogar bis hin zu seiner letzten vollendeten Komposition, dem nachkomponierten Finalsatz von op. 130. Wir hörten, daß dieser Spieltrieb - in SCHILLERs ästhetisch-philosophischer Formulierung - dahin gerichtet ist, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren." Ich habe damit die Lösungen Haydns (in der Sinfonie) und Beethovens (in der Pathetique) in Zusammenhang gebracht, als eine Analogie, als eine Entsprechung. Wie aber wäre es möglich, die Zeit in der Zeit wirklich aufzuheben, Werden mit Sein zu vereinigen? Auf diese Frage ist damals parallellaufend sowohl von der deutschen Musik als auch von der deutschen Dichtung dieselbe Antwort gefunden worden: die Zeit wird in der Zeit aufgehoben, das Werden mit dem Sein vereinigt in der Fixierung des Augenblicks, des erfüllten Augenblicks. Ein solches Fixieren des Augenblicks läßt sich technisch-musikalisch bei Haydn, Mozart und Beethoven in zunehmendem Maße beobachten8 . Als dramatische Explikation dieser Idee darf man MOZARTs Don Giovanni ansehen 9 • Expressis verbis spricht sie 7
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Ich verkenne nicht die konstruktive Rolle, welche die Baßfolge B-F-C-G und das Intervall der kleinen Sekunde in der Episode von Berlioz spielen. Doch der konstruktive Aspekt bleibt gegenüber dem naturalistischen sekundär. Die Wiener klassische Musik fixiert den Augenblick in der mannigfaltigsten Weise, es gibt dafür kein Modell oder Schema, die in diesem Vortrag angeführten Stellen sind nur paradigmatisch zu verstehen.
Zum „Augenblick" bei Mozart s. GEORGIADES (1956) S. 103 ff. (über das Terzett „Soll ich dich, Teurer, nicht mehr sehn? "aus der Zauberflöte). Vgl. aus der Zauberflöte ferner die Stelle „Ihr Götter. welch ein Augenblick" im 2. Finale (nach der Wasser- und Feuerprobe) sowie aus den Nozze di Figaro die Trio-Stelle „Da questo momento" im Finale des 2. Aktes (dazu W. OSTHOFF in Vorb.) und Susannas „ Giurue alfin il momento" aus dem 4. Akt. - Als Gegenbeispiel
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BEETHOVEN auf dem Höhepunkt seines Fidelio aus 10 • Der Gouverneur des Gefängnisses, Pizarro, ist als Bösewicht entlarvt. Der Minister fordert den Kerkermeister Rocco auf, dem edlen Florestan die Ketten abzunehmen. Plötzlich aber besinnt er sich, hält ein und wendet sich an Florestans Frau Leonore, der die Rettung zu verdanken ist: „Doch halt! - Euch, edle Frau, allein, /Euch ziemt es, ganz ihn zu befrein." Leonore schließt „in größter Bewegung" die Ketten auf, Florestan sinkt in ihre Arme, sie aber bringt nur die Worte hervor: „0 Gott! o Gott! welch ein Augenblick!" Notenbeispiel 3 Ohot·
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Für einen Augenblick scheint die Zeit still zu stehn, für einen Augenblick ist die Zeit in der Zeit aufgehoben, das Werden mit dem Sein vereinigt. In diesem Augenblick der Erfüllung und Gnade ist wie in einem Brennpunkt das ganze Drama konzentriert: Opfer, Tat und Sieg Leonorens. Musikalisch, von der musikalischen Deklamation des Textes her, läßt sich dieser Brennpunkt innerhalb der Stelle, die wir gehört haben, noch präziser lokalisieren: er fällt genau mit dem Aussprechen des Wortes „Augenblick" zusammen. Daß Beethoven mit dieser Stelle gerungen hat, ließe sich an den beiden frühen Fassungen der Oper von 1805 und 1806 zeigen. Die gültige Realisation gelang ihm erst in der definitiven Fassung von 1814. Wieder ist es in erster Linie der Rhythmus, dieses „Nothw endigs te zur Verständigung der Musik " - wie SCHINDLER als Echo die Meinung Beethovens wiedergibt - , der Rhythmus also, der diese gültige Realisation bewirkt. Der zugrundeliegende Vers des Textbuches hieß: „0 Gott, o welch ein Augenblick " . Dieser leiernde Vers erlaubte es Beethoven nicht, seine Konzeption dieser Stelle zu verwirklichen. Seine Konzeption besteht in einer wachsenden Intensivierung, rhythmisch gesprochen: in einer stetigen Verbreiterung der Ansätze. Deshalb ändert Heethoven den Text. Er bringt nun zweimal das „0 Gott" und läßt dafür das „o" vor „welch" fort. Das ermöglicht ihm folgende Intensivierung: das erste „0 Gott" versieht er mit kurzem Auftakt (Achtelauftakt), das zweite „0 Gott" versieht er mit langem Auftakt (Viertelauftakt); „welch ein" kann er jetzt als ganz breiten Ansatz bringen, d. h. nicht mehr auftaktig (wie die vorangehenden Glieder), sondern abtaktig, und dieser breite Ansatz mündet in den beinahe gesprochenen „Augenblick". Dieser Intensivierung entspricht auch die Melodieführung der Stelle: die Schritte der einzelnen Anvgl. das gefühls- und stimmungsmäßige Auskosten, aber nicht Fixieren des Augenblicks im Duett Komponist-Zerbinetta aus dem Vorspiel der Ariadne auf Naxos von Richard STRAUSS. 10 Man kann Leonorens Fixieren des erfüllten Augenblicks im 2. Akt zu Pizarros (vergeblichem) Erhaschen des erfüllten Augenblicks im 1. Akt („Ha, welch ein Augenblick") in dramatischer Beziehung sehen.
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sätze werden immer weiter, und bei dem Abtakt kehrt sich die Richtung der Melodie um. Wir wollen die Stelle noch einmal in dieser Weise hören (Tonband-Beispiel Fidelio, Sostenuto, T. 1-10). Ich sagte, daß sich ein solches Fixieren des Augenblicks bei den Wiener Klassikern in zunehmendem Maße beobachten läßt, es gilt also genauso für die Instrumentalmusik. Auch nw ein Beispiel von Beethoven hierfür zu explizieren, würde viel zu weit führen. Stattdessen zitiere ich eine literarische Spiegelung dessen, was innerhalb eines Beethovenschen Satzes vor sich geht. Die folgenden Worte Beethovens berichtet Bettina BRENTANO in einem Brief vom 28. Mai 1810. Mag einiges in Stil und Ausdruck auf Rechnung der phantasievollen Bettina gehen, im Kern ist das Zeugnis echt. BEETHOVEN sagt also (LEITZMANN 1921, S. 120): „Da muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeisterung die Melodie nach allen Seiten hin ausladen. Ich verfolge sie, hole sie mit Leidenschaft wieder ein, ich sehe sie dahinfliehen, in der Masse verschiedener Aufregungen verschwinden; bald erfasse ich sie mit erneuter Leidenschaft, ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß mit raschem Entzücken in allen Modulationen sie vervielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphiere ich über den ersten musikalischen Gedanken. Sehen Sie, das ist eine Symphonie ... " 11 • Dieser Triumph im letzten Augenblick, meistens kurz vor dem Ende eines Satzes, faßt den Vorgang innerhalb des Satzes wie in einem Brennpunkt zusammen, er entspricht dem erfüllten Augenblick in unserm Sinne. Der Brief Bettinas ist an Goethe gerichtet. An GOETHE, der seinerseits im Faust die Fixierung des Augenblicks zum Hauptmotiv machte: „Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zu Grunde gehn! Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!" (Faust l, V. 1699 ff.) Daß wir uns mit einem Zitat aus Faust in Beethoven-Nähe befinden, läßt sich mit einem Ausspruch BEETHOVENs vom April 1823 belegen: „ist diese periode vorbej, so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist - Faust" (SCHÜNEMANN 1943, S. 149). Doch dazu ist es nicht gekommen. Der eigentliche erfüllte Augenblick erscheint erst im zweiten Teil des Faust: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem G1und mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Aeonen untergehn. -"(Faust II, V. 11576 ff.) 11
Vgl. als Verdeutlichung etwa die der Zeit dieses Zitates nächstgelegene Symphonie, die 7., 1. Satz, T. 391 ff. (Triumphieren über den ersten musikalischen Gedanken im letzten Augenblick).
BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT
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Nun soll der Augenblick verweilen, soll die Zeit in der Zeit aufgehoben werden. Für den sterblichen Menschen bedeutet das den Tod, doch für das Gedächtnis wird dieser Augenblick zu einem Ewigen Augenblick 12 • Denn er ist nun mit Sinn erfüllt, und zwar mit einem allgemeinen, verbindlichen Sinn. Für Goethe-Faust liegt der Sinn dieses Augenblickes darin, auf freiem Grund mit freiem Volke zu stehn. Enthält Beethovens Augenblick im Fidelio einen Sinn über die spezielle Handlung dieser Oper, über das persönliche Schicksal ihrer Helden hinaus? Die Melodie des Orchesters, zuerst von der Oboe angestimmt, vermittelt uns in ihrer zarten Eindringlichkeit den allgemeinen, verbindlichen Sinn. Hören wir die Melodie ein letztes Mal (Tonband-Beispiel). Wie aber läßt sich dieser allgemeine Sinn fassen? In diesem Falle besitzen wir den Schlüssel dazu, denn Beethoven hat die Melodie schon in Bonn verwendet, und zwar für eine Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II., im Jahre 1790. In der Kantate wird berichtet, wie Joseph dem Fanatismus aufs Haupt trat (Nr. 2 der Kantate). Darauf folgt eine Arie mit unserer Melodie zu dem Text: „Da stiegen die Menschen, die Menschen ans Licht Da drehte sich glücklicher die Erd um die Sonne Und die Sonne wärmte mit Strahlen der Gottheit." Menschlichkeit, Erleuchtung, Aufklärung, Glück unter dem wärmenden Strahl der Gottheit - die Ideen, gewiß die zeitbedingten Ideen, von 1 790. Was aber von diesen Ideen, wenn wir von ihren zeitbedingten Hüllen absehen, in Beethoven zentrale Kräfte seiner Kunst und Menschlichkeit freisetzte, erfahren wir im Fidelio, wenn Beethoven seine frühe Melodie mit der Erfüllung im höchsten Augenblick verbindet: die Befreiung des Menschen. Wieder erhebt sich die Frage, ob Beethoven mit einer so modernen Idee nicht eher zur Neuzeit gehört als zu der Welt, die sich musikalisch in Haydn und Mozart erfüllt. Diese Frage wäre zu bejahen, wenn bei Beethoven die Idee zum weltverbessernden Programm würde, d. h. wenn er dem freien Spiel seiner künstlerisch-menschlichen Kräfte um einer bestimmten Tendenz willen Fesseln anlegte, die Freiheit beschnitte. Um es in der Sprache SCHILLERs zu sagen: ein Widerspruch in sich selber wäre der Begriff einer „lehrenden {didaktischen) oder bessernden {moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben" (2 2. Brief). Wie steht es also damit bei Beethoven, und um die Frage auf ihren problematischen Punkt zuzuspitzen: wie steht es damit beim späten Beethoven? Wir sahen, daß Beethoven den Spieltrieb, den klassischen Spieltrieb, im Sinne Haydns und Mozarts betätigte. Wir sahen, daß es ihm - wie Haydn, wie Mozart - damit gelang, Veränderung mit Identität zu vercinbareu. Wir sahen, wie er mit der Fixierung des Augenblickes, dem er einen Sinn gab, die Zeit in der Zeit aufhob. Was aber ist dieser Augenblick? Faust will ihn halten, will die Zeit zum Stillstand bringen. Das bedeutet seinen Tod, doch GOETHE lehrt uns, was über den Tod des sterblichen Menschen hinaus von diesem Augenblick weiterwirkt: 12
Vgl. vom andern Pol der klassischen deutschen Dichtung her Jean PAUL: „ ... an der seligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick" (Titan, 2. Zykel).
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„Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Aeonen untergehn." Der erfüllte Augenblick strahlt also aus in die Zukunft. So auch der erfüllte Augenblick im Fidelio. Florestans Befreiung durch Leonore führt zu dem verallgemeinernden Schlußhymnus „ Wer ein holdes Weib errungen, /Stimm in unsern Jubel ein". Das ist nicht mehr primär die auf dem alten Theater am Schluß der Vorstellung übliche Wendung ad spectatores, an das reale gegenwärtige Publikum, sondern hier wird die Menschheit angesprochen, und zwar mehr noch eine zukünftige als die gegenwärtige Menschheit. Es schwingt aber noch mehr mit als der in diesem Schlußhymnus ausgesprochene Gedanke. Am Text des Fidelio haben im Lauf der Jahre bis zu seiner endgültigen Fassung drei Autoren gearbeitet. Doch von keinem der drei stammt der Anfan~ dieses Textes. Seine beiden ersten Verse stammen vielmehr aus SCHILLERs Ode an die Freude 13 • Ich zitiere die betreffende Strophe: „Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja - wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wers nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund." Nicht eheliche Liebe und Treue allein wird gepriesen, sondern der Bund des Menschen mit dem Menschen schlechthin. BEETHOVEN verkündet diese Botschaft der Brüderlichkeit ausdrücklich in der 9. Symphonie, die 9. Symphonie endet mit dieser Botschaft. Sie richtet sich noch mehr an die kommenden als an die gegenwärtigen Menschen: „Alle Menschen werden Brüder" heißt es in der Ode an die Freude, und später - von Beethoven nicht komponiert-: „Duldet mutig, Millionen! Duldet für die bessre Welt." Die Verheißung hat etwas Imperativisches an sich, sie äußert sich sogar mit militanter Gewalt: „Froh, wie seine Sonnen fliegen Durch des Himmels prächtgen Plan Laufet, Brüder, eure Bahn, Freudig, wie ein Held zum Siegen."
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Bisher, so weit ich sehe, nicht bemerkt.
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Beethoven unterstreicht in der 9. Symphonie den militanten Charakter dieser Stelle noch, indem er das Orchester sozusagen in eine Militärkapelle verwandelt, in eine türkische Musik, wie man es damals nannte: Bläser und dreifaches Schlagzeug (Triangel, Becken und Große Trommel). Die Streicher fungieren nur als Echo und als Verstärkung in den letzten Takten der Episode (Tonband-Beispiel 9. Symphonie, Finale, Alla Marcia). Es zittert etwas vom Elan der Revolutionstruppen in dieser Musik, zugleich weckt der gleichsam orientalische Überschwang der „türkischen Musik" Bilder von Dionysos- und Alexanderzügen in unserer Phantasie. Und das ist gar nicht abwegig, denn wir wissen, daß Beethoven eine geplante 10. Symphonie mit einer Feier des Bachus abschließen wollte (THAYER 1908, S. 19, Anm. 3) 14 • Wie dem auch sei, die Musik ist von jenem Beethovenschen Ethos getragen und beschwingt, das wir mit den Worten „Befreiung des Menschen" umschrieben. Doch was ist mit der Befreiung des Menschen gemeint? Was bedeutet diese geforderte Freiheit? Nach SCHILLERs Briefen über die ästhetische Erz iehung des Menschen (19. Brief) ist es die Freiheit, mit deren Hilfe der Mensch seine von der Natur angelegte Menschheit behauptet. D. h. die Freiheit der Wahl und die Freiheit des Ausgleichs zwischen seinen beiden Grundtrieben, dem sinnlichen und dem vernünftigen. Die beiden Oratorienpläne aus Beethovens letzter Lebenszeit (1826) bestätigen diesen Freiheitsbegriff. Das eine Oratorium sollte den Titel Die Elemente erhalten und „ein reges Lebensgemälde des Menschen werden, der Kind und Sklave und Herr der Elemente ist". Das zweite Oratorium sollte, angeregt von Händel, Saul heißen und „den Sieg der edleren Kräfte über wilde Begierden" darstellen (THAYER 1908, S. 326/27). Ein solcher aus Freiheit und in Freiheit gewonnener Sieg darf aber nach SCHILLER weder „die Mannigfaltigkeit der Natur" noch „die moralische Einheit" der Vernunft verletzen. Er fordert daher „ Totalität des Charakters". Die „ Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen" (4. Brief). Aus der geforderten Totalität des Charakters ergeben sich für den Menschen zwei weitere, entgegengesetzte Forderungen, zwei Fundamentalgesetze: „Das erste dringt auf absolute R eali tä t: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: er soll alles Innre veräußern und alles A'ußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriffe der Gottheit . .. " ( 11. Brief). Freiheit ist also ein Akt der Selbstverwirklichung des Menschen als Mensch. Allerdings ein Akt, der nur im Beschreiten dieses Weges zu vollbringen ist, niemals als ein Erreichen des Zieles. Dies bleibt der Gottheit vorbehalten. Befreiung des Menschen ist also, so gesehen, sein übergang, sein nie ganz vollzogener übergang, hin zur Gottheit. Wir dürfen einen solchen Freiheitsbegriff auch für Beethoven in Anspruch nehmen. Befreiung des Menschen als übergang zum Göttlichen hin, eine in die Zukunft weisende Aufgabe, zu realisieren in evolutionärem oder revolutionärem Elan, wie wir ihn an der 14
1815/16 befaßte sich Beethoven mit dem Plan einer „Bachus"-Opcr, vgl. THAYER (2/1911) S. 50 l ff. und 55 7.
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Musik der 9. Symphonie empfanden. Doch das ist nur der eine Aspekt dieses Beethovenschen Ethos, und ihn allein zu betonen, hieße Beethoven teilhaft sehen, hieße Beethoven verfälschen. Sein Befreiungsethos führt ihn ebenso und in derselben Spätzeit zu der demütigen Bitte „dona nobis pacem" in der Missa Solemnis. Diese Bitte um innern und äußern Frieden, wie er den betreffenden Teil seiner Messe überschreibt, ist gegründet wiederum auf einem Ubergang zum Göttlichen hin, hier aber Übergang nicht als für die Zukunft verheißener Sieg des Menschen, sondern als das einmal vollzogene und immer wieder vollziehbare Wunder der Wandlung von Materie in göttliche Substanz. In den großen zusammenhängenden Kompositionen der Messe, welche die Jahrhunderte hervorgebracht haben, ist dieser Vorgang der Wandlung, dieser erfüllte Augenblick des Mysteriums, nicht ausdrücklich in Musik gesetzt worden 15 • Beethoven steht am Ende der unangefochten christlichen Jahrhunderte, aber getragen von ihrem Geist und ihrer Glut und der Macht ihrer Geschichte vermag er, in der Missa Solemnis eine Zusammenfassung zu geben, in die auch die Umschreibung des Geheimnisses hineingenommen ist: eine von der verbindlichen Haltung des ganzen Messenwerkes getragene spezifische Wandlungsmusik (Tonband-Beispiel Missa Solemnis, Praeludium vor dem Benedictus). 9. Symphonie und Missa Solemnis: erst beides zusammengenommen ist Beethovens Botschaft. Der Sieg des erfüllten Augenblicks und die Gnade des erfüllten Augenblicks. So greift dessen Gegenwart aus, in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit 16 • „Doch Vergangenes ist, wie Künftiges, heilig den Sängern," sagt der im selben Jahr 17 geborene HÖLDERLIN (Elegie Stuttgart 3, 17) • Wenn Bach zu Recht als verbindliche abschließende Zusammenfassung eines Erbes von Jahrhunderten aufgefaßt wird, wenn Mozart eine Gegenwart zu verewigen scheint und wenn später - nach dem Wort Richard WAGNERs - der Künstler der Gegenwart der „Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist" (3/1898, S. 229, Schluß), so könnte Beethovens Einzigartigkeit darin gesehen werden, daß er, indem er Gegenwart fixiert, zugleich Zukunft (vgl. hierzu W. OSTHOFF 1970) und Vergangenheit einbezieht: das Ethos der Freiheit und das geschichtliche Gedächtnis. Gerade deshalb werden Sie nun zum Schluß nicht von mir erwarten, daß ich mich auf jene selbstgefällige, nur-gegenwartsbezogene Frage einlasse: Was hat Beethoven uns im Jahre 1970 zu sagen? Wie besteht er vor uns? Im 200.Jahre seiner Geburt scheint es mir angemessener zu sein, diese Frage umzukehren. Ein solches Gedenkjahr hätte dann seinen Sinn, wenn jeder von uns sich fragte und wenn wir alle uns fragten: Was haben wir angesichts von Beethoven zu sagen, und wie bestehen wir vor ihm? 15
Gesonderte Musik zur oder nach der Wandlung, wenn überhaupt zugelassen, konnte aus eucharistischen Motetten oder Instrumental-, vor allem Orgelstücken bestehen, die aber nicht zum Werkganzen einer Meßkomposition gehörten (vgl. zur Praxis seit dem 1 7. Jahrhundert BONT A 1969, S. 54-84, und zu Beethoven KIRKENDALE 1970, S. 687 /688). Im normalen Ordinarium-MissaeZyklus konnte das Benedictus nach der Wandlung erklingen. 16 Zu einer derartigen Deutung der Wandlung in der Messe vgl. HILLARD (1966) S. 15. 17
Vgl. in GOETHEs Vermächtnis: „Dann ist Vergangenheit beständig,/ Das Künftige voraus lebendig,/ Der Augenblick ist Ewigkeit."
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ZUSAMMENFASSUNG Der Würzburger Universitätsvortrag zeigt, wie Beethoven von Haydn lernte, seiner Musik durch Handhabung von Rhythmus und Metrum Vorgangscharakter zu verleihen. Haydns Spieltrieb, der im Sinne Schillers dahin tendiert, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität" zu vereinen, verdichtet sich bei Beethoven zum musikalisch ausgetragenen Gegensatz zweier Prinzipe (Beispiel op. 13). - Beethoven nimmt Mozarts tiefere seelische Töne auf und erfüllt sie mit konkreten Vorstellungen (Beispiel op. 18, 1 Adagio). Die Romantik steht dagegen unter dem Zwang des Affekts und führt zum Naturalismus (Beispiel Berlioz „Romeo et Juliette"). - „Die Zeit in der Zeit" wird in der klassischen deutschen Dichtung (Faust) und Musik durch die Fixierung des erfüllten Augenblicks aufgehoben (Fidelio 2. Finale), der sich mit verbindlichem Sinn erfüllt: Befreiung des Menschen. Diese Zukunftsvision wird im Finale der 9. Symphonie sogar militant verkündet (Alla Marcia). Befreiung des Menschen ist aber nicht vordergründig zu verstehn, da sie sein - nie ganz vollzogener - Übergang hin zur Gottheit ist. Deshalb tritt Wandlung und Friedensbitte der Missa Solemnis gleichgewichtig neben die 9. Symphonie. In Gnade und Sieg des erfüllten Augenblicks bezieht Beethoven Vergangenheit und Zukunft mit ein: geschichtliches Gedächtnis und Ethos der Freiheit. Darin liegt seine Einzigartigkeit.
LITERATUR Berlioz, Hector: Lebenserinnerungen. Ins Deutsche übtr. und hrsg. von Dr. Hans Scholz. München. 1914 Bonta, Stephen: The Uses of the Sonata da Chiesa. 1969 In: JAMS 22, 54·84. Bory, Robert: Ludwig van Beethoven. Sein Leben und sein Werk in Bildern. Zürich. 1960 Fröhlich, Joseph: Sinfonie, mit Schlußchor über Schillers Ode: „An die Freude". 1828 In: Caecilia 8, II. 32, 231·256. ders.: Missa composita a Ludovico van Beethoven, Op. 123. In: Caccilia 9, H. 36, 27-45. 1828 Georgiades, Thrasybulos: Mozart und das Theater. 1956 In: Mozart, seine Welt und seine Wirkung. Augsburg. Hillard, Gustav: Das Recht auf Vergangenheit. 1966 In: Castrum Peregrini 75, 5-15. Kirkendalc, Warren: New Roads to Old ldcas in Becthoven's Missa Solemnis. 1970 In: Musical Quartcrly 56, 665-701. Köhler, Karl-Heinz und Grita Hcrre: Ludwig van Beethovens Konversationshefte. Bd. 5, H. 49-60. 1970 Hrsg. im Auftrag der Deutschen Staatsbibliothek Berlin von K.-H. K. und G. H. unter Mitw. von Peter Pötschner. Leipzig. Landon, II. C. Robbins: Beethoven. Sein Leben und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und 1970 Texten. Zürich. Lcitzmann, Albert: Ludwig van Beethoven. Berichte der Zeitgenossen, Briefe und persönliche Auf1921 zeichnungcn, gesammelt und crl. von A. L. Bd. 1. Leipzig.
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Nottebohm, Gustav: Zweite Beethoveniana. Leipzig. 1887 Osthoff, Wolfgang: „Haus in Bonn" - George und Beethoven. 1970 In: Castrum Peregrini 95, 5-29. ders.: Die Opera buffa. in Vorb. In: Gedenkschrift Leo Schrade. Bern. Schiedermair, Ludwig: Der junge Beethoven. Leipzig. 1925 Schindler, Anton: Biographie von Ludwig van Beethoven. Münster. 3/1860 Schünemann, Georg: Ludwig van Beethovens Konversationshefte. Im Auftrag der Preußischen 1943 Staatsbibliothek hrsg. von G. Sch. Bd. 3, H. 23-37. Berlin. Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Nach dem Original=Manuskript deutsch bearb. von Hermann Deiters. Revision ... von Hugo Riemann. Leipzig. Bd. 1. 3/ 191 7 Bd. 2. 2/1910 Bd. 3. 2/ 1911 Bd. 5. 1908 Wagner, Richard: Oper und Drama. 3/1898 In: Gesammelte Schriften und Dichtungen von R. W. Bd. 4. Leipzig. Wyzcwa, Theodore de et Georges de Saint-Foix: W.-A. Mozart. Sa vie musicale et son oeuvre. Bd. 3 1936 (von G. de Saint-Foix): Le grand voyage - L'installation aVienne (1777-1784). Paris. Zobeley, Fritz: Ludwig van Beethoven. Hamburg. 1965
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MISZELLEN ZUR MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS CARL DAHLHAUS
GUILIELMUS MONACHUS, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schrieb, unterscheidet in den Praecepta artis musicae (ed. 1965, Seay, S. 38-39) zwei Arten des Fauxbourdon, des Terz-Sext-Satzes mit Quint-Oktav-Klängen am Anfang und Schluß der Absätze. In der einen Art „beherrscht" der cantus firmus in verzierter Fassung den Sopran, in der anderen unverziert („sicut stat") den Tenor. Die Beschreibung des Fauxbourdon mit verziertem Sopran-cantus-firmus ist jedoch nicht unmißverständlich. In dem Exempel, das die Darstellung illustriert 1 , weichen Sopran und Tenor durch verschiedenes Maß an Kolorierung nicht unwesentlich voneinander ab. Notenbeispiel 1
Und es ist ungewiß und umstritten, ob der Contratenor, die nicht notierte Mittelstimme, sich melodisch und rhythmisch nach dem reich kolorierten Sopran oder nach dem einfacheren Tenor richtet. Manfred F. BUKOFZER machte es in dem Aufsatz Fauxbourdon Revisited (1952, S. 44) Heinrich BESSELER zum Vorwurf, daß er in Bourdon und Fauxbourdon (1950, S. 23) einen Satz des Guilielmus Monachus unvollständig zitiert und dadurch verzerrt habe. Das Satzfragment, auf das sich Besseler beschränkte: „Contra vero dicitur sicut supranus, accipiendo quartam subtus supranum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 39), war geeignet, die These zu stützen, daß im kontinentalen Fauxbourdon der Sopran-cantus-firmus durch einen „Intervallkanon" des Contratenors in der Unterquarte verdoppelt worden sei, daß also der Contratenor sich am Sopran und nicht am Tenor orientiert habe (BESSELER 1950, S. 16 f.). Die Fortsetzung des Zitats: „quae [sc. quarta] venit esse quinta et tertia supra tenorem" (Quinte am Anfang und Schluß, Terz in der Mitte der Absätze), bezieht jedoch, in scheinbarem Widerspruch zum ersten Teil des Satzt>s, den Contratenor auf den Tenor statt auf den Sopran. Und aus der Anlehnung an den gering1 Daß
das Beispiel, das der Beschreibung des Fauxbourdon mit Tenor-cantus-firmus folgt, zur Beschreibung des Fauxbourdon mit Sopran-cantus-firmus gehört, ist von Jacques HANDSCHIN ( 1949, S. 145 ff.) gezeigt worden.
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fügig verzierten Tenor resultiert eine andere Stimmführung als aus der Quartverdoppelung des reich kolorierten Soprans 2 • (BUKOFZER scheint übrigens 1952 vergessen zu haben, daß er selbst es war, der anderthalb Jahrzehnte früher als erster das fragmentarische Guilielmus-Zitat benutzte, um zu beweisen, daß der „Contratenor dem Sopran sklavisch angeglichen" (1936, S. 7 8) worden sei.) An der Zusammengehörigkeit der beiden Teile des Satzes ist um so weniger zu zweifeln, als es sich um die Wiederholung oder Zusammenfassung einer früheren Beschreibung des gleichen Sachverhalts handelt. Die Parallelstelle lautet: „Contratenor vero debet tenere dictum modum suprani; sed ( nota] quod habeat pro consonantiis tertiam et quintam altas, hoc est, primam quintam, reliquas tertias; ultimus vero finis concordiarum sit quinta, ut patebit per exemplum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Auch diese zweite Stelle ist jedoch, nicht anders als die erste, zerteilt worden. Edmond de Coussemaker las „sed quando habeat . . . " (GUILIELMUS ed. 1869, Coussemaker, 292 b) statt „sed quod habeat ... ". Und auf Coussemakers Textfassung stützte Brian TROWELL (1959, S. 66) die Behauptung, im zweiten Teil des Satzes („sed quando habeat . . . ") sei der Supranus und nicht der Contratenor gemeint. Der Satz sei als Parallele zum unmittelbar vorausgehenden zu verstehen 3 : „ . .. sed quando [Seay: quod] habeat supranus pro consonantiis primam, octal)am et reliquas sextas, et in fine concordiarum sit octava, hoc est, habeat sex et octo pro consonantiis supra tenorem, (Seay: Punkt statt Komma] contratenor vero debet tenere dictum modum suprani; sed quando (Seay: quod] habeat pro consonantiis tertiam et quintam altas, hoc est primam, quintam, reliquas tertias; ultimus vero finis concordiarum sit quinta, ut patebit per exemplum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Trowell konstruiert einen Parallelismus membrorum („sed quando ... sed quando ... ")mit dem Supranus als Subjekt, und er meint, der Supranus werde im ersten Absatz als Oberstimmen-cantus-firmus, im zweiten als Mittelstimmen-cantus-firmus beschrieben. Guilielmus denke also zunächst an den kontinentalen Fauxbourdon, dann an den englischen J?aburden, die Improvisation von Außenstimmen zu einem Mittelstimmen-cantus-firmus. Trowells Hypothese ist jedoch brüchig. Denn erstens wäre es, wenn sie zuträfe, unverständlich, warum Guilielmus von einem „supranus" statt von einem „cantus firmus" spricht, wenn er eine vorgegebene Melodie meint, die in einem Modus des Fauxbourdon als Oberstimme und im anderen als Mittelstimme erscheint. Zweitens kann man Guilielmus schwerlich unterstellen, daß er in den zitierten Sätzen zwei Arten des Fauxbourdon unterscheiden wollte, aber den Sachverhalt nicht unmißverständlich zu formulieren verstand; denn im nächsten Abschnitt ist ausdrücklich von einem anderen Modus des Fauxbourdon die Rede („Modus autem istius 2
HANDSCHIN (1949, S. 148) meinte darum: „Es erscheint mir daher nicht unmöglich, daß dem Praktiker eine gewisse Latitüde zwischen Quartenparallelen unter dem ausgezierten Sopran und Terzen über dem nicht ausgezierten Tenor gelassen wurde". Handschins Urteil ist salomonisch, aber, wie es scheint, nicht triftig.
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TROWELL ( 1959, S. 66): „Surely the parallel construction ,sed quando . .. vero .. . sed quando ... vero' and the use of the subjunctive mood imply a balanced contrast, with ,supranus' as the subject in each case". Das zweite „vcro" bezieht sich allerdings nicht auf eine andere Stimme, sondern auf eine andere Konsonanz derselben Stimme, so daßTrowells Konstruktion auch in sich nicht so „balanced" ist, wie er meint.
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faulxbordon aliter passet assumi apud nos . . . "). Drittens wurde die Parallelstelle, der von Bukofzer und Besseler fragmentierte Satz, von Trowell übersehen oder vernachlässigt. Und viertens ist das Wort „quod" (statt Coussemakers „quando") in Seays Lesung des Textes - einer Lesung, an der Trowells Interpretation scheitert durchaus einleuchtend. Zu ergänzen wäre das Wort „nota": „ ... sed nota quod ... " (Die Verkürzung von „nota quod" zu „quod" findet sich bei GUILIELMUS (ed. 1965, Seay, S. 30) auch an anderer Stelle: „Contra vero accipiat unisonum et ex consequenti quintam, tertiam, octavam, tertiam bassam, et quod penultima sit semper quinta".) Ist demnach Trowells Auslegung hinfällig oder mindestens fragwürdig, so muß auch der analoge, von Bukofzer und Besseler amputierte Satz als unteilbar begriffen werden. Und die fragmentarische Zitierung ist nicht nur philologisch illegitim, sondern sogar überflüssig, sofern es sich darum handelt, die These von der „sklavischen Angleichung" des Contratenors an den Sopran zu stützen 4 • Auch der unverkürzte Text läßt die Interpretation zu, die Bukofzer und Besseler einzig dem verkürzten geben zu können glaubten. Die Vorstellung, daß sich der Contratenor zugleich an dem reich kolorierten Sopran und an dem wenig verzierten Tenor orientiere, ist allerdings zunächst verwirrend. Und um die Schwierigkeiten zu lösen, muß man sie häufen. Außer dem Contratenor wird auch der Sopran, obwohl er Cantus firmus, also die Voraussetzung der Komposition ist, auf den Tenor bezogen, als sei er eine abhängige Stimme: „ ... sed quod habeat supranus pro consonantiis primam octavam et reliquas sextas, et in fine concordiarum sit octava, hoc est, habeat sex et octo pro consonantiis supra tenorem" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Die Ungleichheit der Stimmen, die Differenz zwischen paraphrasiertem Sopran und einfachem Tenor, hindert Guilielmus nicht, von Sexten und Oktaven zu sprechen, als handelte es sich um einen Satz Note gegen Note. Er beschreibt, wenn er die kontrapunktische Beziehung des Soprans zum Tenor zu charakterisieren versucht, also nicht die kolorierte Fassung der Komposition, sondern den Gerüstsatz. Und kontrapunktisch stützt sich der Sopran auf den Tenor, obwohl er genetisch die erste Stimme ist. Analog aber ist die doppelte Bestimmung des Contratenors zu verstehen. Mit den Quinten und Terzen über dem Tenor, die der Contratenor „pro consonantiis" hat, meint Guilielmus das Konsonanzengerüst des Tonsatzes. Und daß die Gerüsttöne des Contratenors auf den Tenor bezogen sind, der kontrapunktisch das Fundament der Komposition bildet, schließt nicht aus, daß sich die melodisch-rhythmische Auszierung des Contratenors am Vorbild, am „modus" des Soprans orientiert: „Contratenor vero debet tenere dictum modum suprani" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Mit dem „dictus modus suprani" kann nichts anderes gemeint sein als die rhythmisch-melodische Präparierung des Soprans, die Guilielmus in den unmittelbar vorausgegangenen Abschnitten beschrieben hat: Die Mensur ist dreizeitig (vgl. TRUMBLE 1959, S. 63), die erste Note des Cantus firmus wird auf das Doppelte der übrigen gedehnt, eine Tonwiederholung im Cantus firmus wird durch einen „ transitus sive passagium" verdeckt (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). 4
Die These ist von Erncst TRUMBLE ( 1959, S. 17 f.) aufgegriffen worden.
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Guilielmus unterscheidet demnach die melodische Beziehung der Stimmen von der kontrapunktisch-klanglichen. Melodisch ist der Contratenor vom Sopran abhängig, den er, nach Besselers Auslegung des Sachverhalts, in einem Unterquartkanon verdoppelt. Kontrapunktisch-klanglich aber stützt er sich auf den Tenor, der zwar nicht mehr Fundament im doppelten Sinne - cantus prius factus und kontrapunktische Bezugsstimme -, aber immer noch „Klangträger" ist. Und analog zum Contratenor beschreibt Guilielmus auch den Sopran. In dem Konsonanzengerüst, das Sopran und Tenor bilden, erscheint der Tenor als Stütze und der Sopran als abhängige Stimme („ ... sed quod habeat supranus pro consonantiis primam octavam et reliquas sextas ... "); melodischrhythmisch aber präsentiert sich der Sopran, der cantus firmus, als primäre Stimme, nach der sich der Contratenor richtet: „Modus" und „ordinatio" des Soprans werden vom Contratenor nachgezeichnet. Die Unterscheidung zwischen dem melodischen und dem kontrapunktisch-klanglichen Moment des Zusammenhangs zwischen den Stimmen bedeutet, daß die Quarten des Contratenors von Guilielmus eher unter melodischem Aspekt - als Verdoppelung der Sopranmelodie - als unter klanglich-kontrapunktischem gesehen werden. Und nichts anderes besagt Besselers Interpretation als „Intervallkanon" ohne Zeitabstand der Stimmen: eine Interpretation, für die demnach das unverkürzte Guilielmus-Zitat eine festere Stütze bildet als das verkürzte, das Besseler heranzog.
II
Die Meinung, daß die Mensuralmusik des späten 15. Jahrhunderts, die durch die Generationen Ockeghems und Josquins geprägt worden ist, eine Musik ohne Schwerpunkte, mindestens ohne Nachdrucksakzente an den Tactusanfängen gewesen sei, ist zu einer communis opinio der Musikhistoriker geworden, die um so fester wurzelt, als sie dem Bedürfnis nach einfachen Antithesen zwischen älterer und neuerer Musik entgegenkommt. Der Tactus, der Nieder- und Aufschlag der Hand des Dirigenten, diente, so scheint es, der Orientierung der Sänger, ohne eine rhythmische Funktion, die Unterscheidung schwerer und leichter Zeiten, zu erfüllen. Er war, pointiert gesagt, ein Mittel der Aufführungspraxis ohne Relevanz für die kompositorische Struktur. Ein Einwand, der von der Dissonanztechnik ausgeht, liegt allerdings nahe. Die Regel, daß eine Durchgangs- oder Wechselnotendissonanz unbetont bleiben soll, daß sie also, sofern sie Minimendissonanz ist, ausschließlich auf die zweite Hälfte des Tactus alla Semibreve - der die Norm bildete - fallen darf, ist kaum verständlich, wenn man nicht voraussetzt, daß die erste Hälfte des Tactus als schwer oder auffällig und die zweite als leicht oder unauffällig empfunden wurde. Und es scheint demnach, als sei die schroffe Alternative zwischen akzentuierender Taktrhythmik und „schwebender" Mensuralrhythmik eine Verzerrung der geschichtlichen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die reich an Zwischenstufen ist. Die Extreme sind Konstruktionen von Idealtypen, und was zu beschreiben wäre, sind die Vermittlungen: das Maß an Abstufung schwerer und leichter Zeiten, das für die verschiedenen Epochen charakteristisch ist. So wenig die Differenzierung der ersten und zweiten Minima des Tactus alla Semibreve um 1500
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dazu berechtigt, von funktionaler Taktrhythmik im Sinne des 18. und 19. Jahrhunderts zu sprechen, so dogmatisch wäre es andererseits, den Ansatz zu einer Abstufung zu verleugnen, weil er nicht das ganze System impliziert. Der Zusammenhang zwischen Tactus und Dissonanztechnik ist von Johannes TINCTORIS (ed. 1876), dem repräsentativen Theoretiker der Ockeghem-Generation, 1477 im zweiten Buch des Liber de arte contrapuncti beschrieben worden. Und die Theorie des Tinctoris ist um so aufschlußreicher, als sie außer der problemlosen Norm auch einen so fragwürdigen Grenzfall wie den Sesquitactus umfaßt. Sesquitactus, Tactus in der Proportio sesquialtera, wurde das Verfahren genannt, einer dreizeitigen Mensur einen zweizeitigen Tactus aufzuzwingen. So wurde etwa in der Prolatio maior oder perfecta statt eines Tactus inaeQualis. dessen Niederschlag doppelt so lang wie der Aufschlag war (
eJ 6 6 6 6 6 ),
ein Tactus aequalis geschlagen, der sich über die • t J. t Grenzen der Prolatio hinwegsetzte ( eJ J J J 6 6 ). Der Tactus stand gleichsam quer zur Mensur. ~ t J. i J. i Nach Tinctoris umfaßt der Tactus - Terminus für den Tactus ist im Liber de arte contrapuncti entweder „mensurare" oder „mensuram dirigere" - in der Prolatio maior oder perfecta entweder (als Tactus inaequalis) die dreizeitige „semibrevis integra" oder (wenn die Prolatio maior augmentiert zu lesen ist, so daß die Minima die Dauer einer Semibrevis erhält) die Minima oder aber (nach dem Schema des Sesquitactus) zwei Minimen. Wird jedoch der Sesquitactus vorausgesetzt, so muß die dritte Minima der Prolatio maior, mit der ein zweiter Tactus beginnt, eine Konsonanz sein. „Subinde quoniam cantus maioris prolationis aliquando non secundum integram semibrevem, vel secundum minimam solam, sed secundum semibrevem imperfectam, hoc est duas minimas mensuratur ... , tune eo quod supra tertiam minimam semibrevis mensura dirigi incipiat, necesse est supra eam totam aut primam partem ipsius assumi concordantiam" (TINCTORIS ed. 1876, 142 b). Die Dissonanzbehandlung ist nach Tinctoris also vom Tactus abhängig, und zwar auch dann, wenn er die Mensur durchkreuzt. Der 'Tactus greift, statt ein bloßes Akzidens der Aufführungspraxis zu sein, in die Struktur der Komposition ein. Nicht anders als die Prolatio maior behandelt Tinctoris das Tempus perfectum diminutum. Die Proportio dupla (Proportio binaria), die Verkürzung der Zeitwerte auf die Hälfte, hat zur Folge, daß die dreizeitige Brevis des Tempus perfectum dem zweizeitigen Sesquitactus unterworfen wird. Und die dritte Semibrevis des Tempus muß, als Anfang des zweiten Tactus - der in der Diminution ein Tactus alla Breve ist -, eine Konsonanz sein ( 01 o o o o o o ). •t~iJ.t
„Si vero quamvis praedictarum notarum in proportione binaria constitutarum per naturam quantitatis cui subjicitur perfectam fuerit, ut brevis prolationis minoris, sed temporis perfecti in dupla ... , quia tune mensura non secundum totam ipsam notam, sed secundum duas eius partes tantum dirigitur, necessarium est ultimam eius partem tertiam totam aut partem primam ipsius esse concordantiam eo quod per eam mensurae directio incipiat" (TINCTORIS ed. 1876, 138 b). Das Exempel am Schluß des Kapitels illustriert die Regel:
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Notenbeispiel 2
1
,.,+
-
Die Außenstimmen, der Diskant und der Contratenor, stehen im Tempus perfectum non diminutum, die Mittelstimme, der Tenor, im Tempus perfectum diminutum. Und die Dissonanz in der Mittelstimme, der relativ betonte Durchgang h, fällt auf die erste Semibrevis des Tempus, die aber die zweite, unauffällige Semibrevis des Tactus ist. Am deutlichsten ist von der Nachdrucksbedeutung des Tactus in einem Kapitel über Synkopierungen die Rede. Von der Brevis in der Proportio tripla schreibt Tinctoris: Ist sie dreizeitig - sei es durch Perfektion oder durch Augmentation - und geht ihr eine einzelne Semibrevis voraus, so muß der dritte Teil der Brevis, da er stärker als der zweite betont zu werden pflegt, entweder ganz oder mindestens zu Anfang konsonieren. Anders ausgedrückt: Ist eine Brevis im Tempus verschoben ( o ,;fo ). so ist die Grenze des Tempus, nicht die der Brevis für die Dissonanztechnik entscheidend. „Sed si ipsa nota perfecta vel augmentata sit sive per syncopam una minor eam
antecedat, sive non, quoniam tertia pars eius magis quam secunda exprimi soleat, haec supra se totam aut supra primam partem sui concordantiam postulat" (TINCTORIS ed. 1876, 140 a). So trivial der Sachverhalt ist, den Tinctoris beschreibt - daß der Anfang einer Perfectio, eines Tempus, konsonieren müsse, ist eine franconische Regel aus dem 13. Jahrhundert -, so auffällig ist die Begründung und Formulierung: Auf den Anfang des Tempus und Tactus (die in der Proportio tripla übereinstimmen) muß eine Konsonanz fallen, weil er einen Nachdrucksakzent trägt. Die Klarheit, mit der Tinctoris die Theorie des Tactus exponiert, bleibt allerdings nicht ungetrübt. An anderer Stelle vergleicht er die Dissonanzen mit den rhetorischen Figuren, mit denen sie die Eigenschaft teilen, geduldete und legitime Ausnahmen von der Regel - von den Normen der Grammatik und des Contrapunctus simplex - zu sein.
„ Verumtamen modis aliquando praedictis discordantiae parvae a musicis sicut figurae rationabiles a grammaticis ornatus necessitatisve causa assumi permittuntur. Ornatur enim cantus, quando fit ascensus vel descensus ab una concordantia ad aliam per media compatibilia, et per syncopas quae interdum sine discordantiis fieri non possunt. Quae quidem discordantiae parvae ita vehementer se non repraesentant auditui, quoniam supra ultimas partes notarum collocantur, ut si supra primas assumantur" (TINCTORIS ed. 1876, 144 b}. Die Dissonanz soll sich demnach, obwohl sie eine zulässige Abweichung, eine „figura rationabilis" ist, nicht aufdrängen und soll darum auf den zweiten
MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS
27
Teil einer Note fallen, der schwächer als der erste ist. Tinctoris erwähnt außer der Durchgangsdissonanz auch die Synkopendissonanz; und es scheint, als verwickelte er sich in einen Widerspruch. Notenbeispiel 3
Als Note, die dissoniert - der Begriff der dissonierenden Note ist allerdings, streng genommen, fragwürdig - , kann bei der Synkopendissonanz entweder die Unterstimme, welche die Dissonanz herbeiführt, oder die Oberstimme, durch die sie aufgelöst wird, bestimmt werden; und zwar tendierte TINCTORIS (ed. 18 76, 135 a) zur ersten Auffassung, die spätere Kontrapunkttheorie zur zweiten. Entweder fällt also die Dissonanz - als Unterstimmendissonanz - auf den ersten Teil der Note und drängt sich, entgegen dem Postulat des Tinctoris, dem Hörer auf. Oder der dissonierende zweite Teil der Note - die Oberstimmendissonanz - bildet den Anfang des Tactus und des Tempus; und wenn es als Rechtfertigung der Dissonanz gelten soll, daß der zweite Teil der Note schwächer als der erste ist, so entsteht ein Widerspruch zu der Vorstellung, daß der Tactusanfang einen Nachdrucksakzent trage: Die Synkopendissonanz kann nicht zugleich als zweiter Teil der Note unbetont und als erster Teil des Tactus betont sein. Der Widerspruch ist nicht anders auflösbar als durch die Annahme, daß Tinctoris einerseits, wie erwähnt, die Unterstimme, welche die Dissonanz herbeiführt, als dissonierend ansah, so daß die Dissonanz auf den Anfang sowohl der Note als auch des T'.lctus fällt, und daß er andererseits mit der Dissonanz, die dadurch gerechtfertigt sei, daß sie über dem zweiten, schwächeren Teil der Note erscheine, ausschließlich die Durchgangs- und nicht die Synkopendissonanz meinte.
III
Die Dissonanztechnik im „klassischen Kontrapunkt" des 16. Jahrhunderts beruht wenn man Nebenformen von geringer Bedeutung, wie die Antizipationsdissonanz und die Cambiata, vernachlässigt - auf der Unterscheidung zwischen zwei Dissonanztypen, die sich scharf voneinander abheben: Durchgangs- und Synkopendissonanz. Deren gemeinsame Merkmale sind, daß sie durch einen Sekundschritt aufgelöst werden müssen und daß die Dissonanz nicht Note gegen Note exponiert werden darf, sondern daß die eine Stimme einen Ton festhält, während die andere eine Dissonanz herbeiführt. Die Differenz zwischen Durchgangs- und Synkopendissonanz kann als Korrelation zwischen Stimmführung und Akzentuierung beschrieben werden: Eine Dissonanz auf unbetonter Zeit muß von derselben Stimme aufgelöst werden, durch die sie exponiert worden ist (Durchgangsdissonanz); dagegen wird eine Dissonanz auf betonter Zeit von der einen Stimme herbeigeführt und durch einen Sekundschritt der anderen aufgelöst (Synkopendissonanz).
28
CARL DAHLHAUS
Notenbeispiel 4
Ausgeschlossen ist also einerseits der unbetonte vorbereitete Vorhalt, andererseits der betonte Durchgang, der im 1 7. Jahrhundert, als das Dissonanzsystem des klassischen Kontrapunkts durchbrochen wurde, „Transitus inversus" genannt worden ist. (Eine Ausnahme von der Regel bildete im 16. Jahrhundert der relativ betonte Semiminimendurchgang, der jedoch auf eine bestimmte Kadenzformel beschränkt blieb.) Notenbeispiel 5
r
f
Die Unterscheidung der beiden Dissonanztypen bildete sich im 15. Jahrhundert im neuen Kontrapunkt der Generationen Dunstables und Dufays heraus; und der Grad an Deutlichkeit, in dem die Differenz ausgeprägt erscheint, ist charakteristisch für die Entwicklungsstufe einer Dissonanztheorie. Die unscheinbare Frage, ob der betonte Durchgang - und zwar als Dissonanz von der Dauer einer Minima - von Johannes Tinctoris erlaubt worden ist oder nicht, ist also keineswegs bedeutungslos; sie zielt auf nichts Geringeres als das fundierende Prinzip der Dissonanztechnik des 15. und 16. Jahrhunderts. Im zweiten Buch des Liber de arte contrapuncti erwähnt TINCTORIS (ed. 1876), daß fast alle neueren Komponisten und Kontrapunktimprovisatoren - zu den neueren Komponisten zählt er die Niederländer und Engländer der letzten vierzig Jahre vor 1477 - in der Prolatio maior, wenn der erste oder zweite Teil einer Minima konsoniert, und in der Prolatio minor sogar, wenn der erste oder zweite Teil einer Semibrevis konsoniert, über dem unmittelbar folgenden Teil eine Dissonanz gleichen oder geringeren Wertes setzen: „ . . . quod fere omnes recentiores, non solum compositores, verum
etiam super librum canentes tarn in prolatione maiori supra primam vel aliam partem minimae et in minori ultra hoc supra primam vel aliam etiam partem semibrevis posita concordantia, discordantiam eiusdem aut minoris notae supra sequentem immediate collocant" (135 a). Hugo RIEMANN (2/1920, S. 312) übersetzte „unmittelbar folgende Note" statt „unmittelbar folgender Teil", bezog also „sequentem" nicht auf „partem", sondern ergänzte das Wort „notam". Und die philologische Differenz ist, so geringfügig sie erscheint, sachlich nicht gleichgültig. Die Regel, daß in der Prolatio minor einer konsonierenden ersten Minima eine Dissonanz folgen dürfe, ist orthodox und problemlos. Die Dissonanz gleichen Wertes, wie Tinctoris sie nennt, ist der unbetonte Minimendurchgang ( C 6 6 ). die Dissonanz gerinK
geren Wertes der relativ betonte Semiminimendurchgang (
D
c 6 •. ). K
DK
Mißverständ-
29
MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS
lieh aber ist der Satz, daß in der Prolatio minor, wenn der zweite Teil (alia pars) einer Semibrevis konsoniere, der unmittelbar folgende Teil oder - nach Riemanns Übersetzung - die unmittelbar folgende Note dissonieren dürfe. Die unmittelbar folgende Note ist, so scheint es, nichts anderes als der Anfang der nächsten Semibrevis, und die Dissonanz, die entsteht, ist demnach - im Widerspruch zur Norm des klassischen Kontrapunkts - der betonte Minimendurchgang ( c ~ 6 6 6 ). K [) Die Vermutung, daß Tinctoris mit der betonten Minimendissonanz nicht die Durchgangs-, sondern die Synkopendissonanz meine, träfe ins Leere; die Synkopendissonanz behandelt er im zweiten Absatz des zitierten Kapitels, der vom ersten durch die Anfangsworte „e contra vero" scharf abgehoben ist. Die einzige Alternative zu der Hypothese, daß Tinctoris den betonten Minimendurchgang dulde und zu rechtfertigen versuche, wäre die Erklärung, daß er mit dem konsonierenden zweiten Teil der Semibrevis nicht die ganze zweite Minima, sondern deren Anfang meine und mit dem dissonierenden Teil, der folgt (pars sequens), nicht den Beginn der nächsten Semibrevis (die kein „Teil" der ersten Semibrevis ist), sondern die letzte Semiminima der ersten
( c J •• ). KD
TINCTORIS (ed. 1876, 145 b - 146 b), der nicht davor zurückscheute, Werke von Ockeghem und Busnois einer pedantisch strengen Zensur zu unterwerfen, tendierte zur Einschränkung und Reglementierung des Dissonanzengebrauchs: zu einer Restriktion, die im 15. Jahrhundert, anders als im 17. oder 19., nicht regressiv, sondern progressiv war und als Moment der Rationalisierung und Beherrschung des musikalischen Satzes erscheint. Daß er den betonten Minimendurchgang, der eine auffällig hervorstechende Dissonanz darstellt, als erträglich empfand, ist demnach unwahrscheinlich, und zwar auch aus philologischen Gründen. Erstens kommen in dem Beispiel, das die mißverständliche Regel illustriert, zwar der unbetonte Minimendurchgang und der relativ betonte Semirninimendurchgang vor (TINCTORIS ed. 1876, 135 a - 136 b}. Notenbeispiel 6
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.„ -
.....
-
Der betonte Minimendurchgang ist jedoch vermieden. Zweitens legt eine Parallelstelle die Konsequenz nahe, daß mit der dissonierenden „pars sequens", die der konsonierenden „alia pars" der ersten Semibrevis folgen darf, nicht
CARL DAHLHAUS
30
der Anfang der zweiten Semibrevis ( gemeint ist (
c 6 • • ).
c 6 6 6 6 ),
sondern der Schluß der ersten K D Die Semibrevis des Tempus perfectum diminutum ist ein
KO Analogon zur Minima des Tempus non diminutum. Und von den Semibreven, den Teilen der Brevis des Tempus perfectum diminutum, heißt es in Kapitel XXV, daß einer konsonierenden ersten oder zweiten Semibrevis, einer konsonierenden „prima aut alia pars" der Brevis, eine Dissonanz gleichen oder geringeren Wertes folgen dürfe.
„Ante ipsam tarnen huiusmodi notae tertiam partem postquam supra primam aut atiam partem eius concordantia ut opportet assumpta fuerit discordantia eiusdem aut minoris notae supra sequentem collocari permittitur" (TINCTORIS ed. 1876, 138 b). Mit der Dissonanz aber, die einer konsonierenden zweiten Semibrevis angehängt werden darf, kann nicht die nächste Semibrevis gemeint sein, denn von ihr, der „tertia pars" der Brevis, heißt es im selben Kapitel, daß sie konsonieren müsse, da mit ihr im diminuierten Tempus perfectum der zweite Tactus anfange ( o z o o o o o ) : •
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~
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i
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„ ... necessarium est ultimam eius partem tertiam totam aut partem primam ipsius esse concordantiam eo quod per eam mensurae directio incipiat" (TINCTORJS ed. 18 76, 138 b). Ist jedoch im Tempus diminutum die dissonierende „pars sequens" nach der konsonierenden „alia pars" nicht die nächste Semibrevis, so ist im Tempus non diminutum die analoge „pars sequens" nach der „alia pars" nicht die nächste Minima. Von einer Legitimierung des betonten Minimendurchgangs durch Tinctoris kann also nicht die Rede sein. Und daß der betonte Minimendurchgang ausgeschlossen bleibt, besagt nichts Geringeres, als daß sich Tinctoris des tragenden Prinzips der Dissonanztechnik im klassischen Kontrapunkt, der Korrelation zwischen Akzentuierung und Stimmführung, mindestens in Umrissen bewußt war.
IV Franchinus Gafurius war, wie es scheint, der erste Theoretiker, der die charakteristischen Dissonanztypen des 15. und 16. Jahrhunderts, die Durchgangs- und die Synkopendissonanz, miteinander konfrontierte. „Quae vero per sincopam et ipso rursus ceteri transitu tatet discordantia admittitur in contrapuncto" (GAFURIUS 1496, liber III, caput 4). Die Beschreibung der Dissonanzen, die Gafurius versuchte, ist jedoch nicht unmißverständlich; jedenfalls geriet Hugo Riemann durch sie in Verwirrung. In einem ersten Absatz ist von Dissonanzen die Rede, die dem übergang von einer imperfekten Konsonanz zu einer perfekten vorausgehen; die Sekunde löst sich in die Terz, die Terz in den Einklang auf. „ld enim omnibus fere cantitenis contigit: ut quum im-
perfectam continemus concordantiam: ex qua immediate: per contrarios organizantium motus ad perfectam sibi propinquiorem proceditur: tune minima seu etiam semibrevis ipsam imperfectam immediate praecedens erit discordantia sciticet vet secunda quum ex tertia in unisonum pervenitur: vet quarta quum [scilicet: ex tertia] in quintam prodeunt: vet septima quum [scilicet: ex sexta] ad equisonantem octavam prositiunt. A tque iccirco discordantia hujusmodi sincopata tatet nullam auribus afferens tesionem: ut hoc percipitur exemplo."
MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS
31
Notenbeispiel 7
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II
M 42
Du hattest ...
dein Blut, sein
deine Stirn ... weg von mir ...
Abgrund ... deine Seele ...
mein Aufschrei. [vgl. dazu die briefliche Mi tteilung Dehmels über die Gelegenheit, auf die das Gedicht Bezug nehme
M 43
2
]
Echo meines Auf-
Welt verstummt,
schreis (fern)
Blut erklingt
III
V
IV
du Nacht, ... deine Ewig· keiten ... mich hebt Glanz ... (die Nacht), als ob Augen winken, als ob Arme sinken: ... strahlt ein Stern mir es treiben mich Gewalten ... ein Entfalten nimmt, bringt und erlöst mich in die Zeiten
Lichtes F1ut aus des Mondes ... Hand dämpft mir... hörst du, Herz? küsse mich! mit zaghafter Gewalt, Mädchen, küß ich dich [unter dem magischen Einfluß eines Naturvorgangs, ohne ein gegenwärtiges gegenständliches Du (das Interjektion bleibt), daher: kein Tun, sondern Empfinden]
[stummes] Treiben, Quellen, Entfalten
hörst du, ... ? Welle
der weiße Mond küßt ein F1üstern wohnt als schweige sich der Hain zur Ruh: Geliebte du - [welche?] Weiher, Weide, Schatten, Wind, Weiten ruhen, schimmern, flimmern, weinen, leuchten wir träumen
t:i
die Niederung hebt den Schleier ... [Aufhebung jeder Möglichkeit zur ldentifikation durch die Verflüchtigung des grammatischen Bezugssystems in der Schlußzeile:]
::i:
o hin - o Traum
lallt: ...
Flüstern wohnt ... , als neige, als schweige sich ... der Wind weint in den Bäumen
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~
z
1 Vgl.
die auf Gegenüberstellung von VERLAINEs La lune blanche und Helle Nacht beruhende Interpretation von FRITZ (1969, S. 53 ff.), die ergibt: „der größeren Subjektivierung der künstlerischen Aussage [bei Dehmel] ... entspricht . .. die zunehmende Tendenz .. . , die Elemente der Wirklichkeit . .. unter Vernachlässigung realer Kategorien funktional zu verwenden. - Die Wirklichkeit büßt ihren Eigenwert ein, ihr einziger Bezugspunkt ist die in ihr sich objektivierende Subjektivität des Künstlers; sie [die Wirklichkeit] dient [lediglich] als Material der Fixierung und Veranschaulichung innerer Zustände". 2 „ Weißt du, was mein Eigenstes in diesen neuen ,Erlösungen' ist? - S. 311 [!deale Landschaft, 2. Ausgabe der Erlösungen]-:, Und sahst nur immer weg von mir' - - es stammt von jenem Abend auf der Parkterrasse bei Dresden, als wir zusammen in den Weltraum starrten, samt unsrer lieben Frau lsi [gemeint ist Dehmels zweite Frau]." (Brief anA. Mombert, 1898, in: DEHMEL 1922, S. 273/74;Dehmel unterschrieb sich als „Dein Bruder Richard").
u. u.
56
REINHARD GERLACH
linsky war es nicht möglich, vollständige Gewißheit zu erlangen - hat auch nur eines der Gedichte, die Webern in seinem Dehmel-Liederzyklus vertonte, auch seinerseits komponiert mit Ausnahme von Strauss. STRAUSS hat sein Lied Am Uf er 1899 geschrieben und als opus 41,3 veröffentlicht; er hat es neun Jahre vor Webern verfaßt. Und Strauss wiederum voll mit eingeschlossen, wurde keiner von Dehmels Lyrik so weit getragen wie der einzige Webern, auch Schönberg nicht, der - übrigens mit Strauss (11) - am häufigsten Gedichte Richard Dehmels (8 vollendete, 2 unvollendete Lieder, Streichsextett op. 4 und Klavierquintett von 1905, unvollendet) benutzt hat, aber nach 1905 offensichtlich auch nicht eines mehr (vgl. RUFER 1959). Die Bedeutung Dehmelscher Lyrik für das eigene und das Schaffen seiner Freunde - da Berg kein Gedicht Dehmels komponiert hat, kann zuerst Webern, fraglich, ob auch Zemlinsky, im „wir" gemeint sein - würdigt SCHÖNBERG im Brief an Dehmel an· läßlich von dessen fünfzigstem Geburtstag: „Hochverehrter Meister, . . . Sie, weit mehr als irgendein musikalisches Vorbild, Sie waren es, der das Partei-Programm unserer musikalischen Versuche ausmachte. Von Ihnen lernten wir die Fähigkeit, in uns hinein zu hören, und dennoch ein Mensch unserer Zeit zu sein. Oder vielmehr eben darum: weil die Zeit vielmehr innen, in uns war, als außen, in der Realität. Von Ihnen aber lernten wir auch das Gegenteil: wie man ein Mensch aller Zeiten sein kann, indem man einfach ein Mensch ist. Ich bin Ihnen noch anderen Dank schuldig; aber ich glaube, das habe ich Ihnen schon gesagt: daß fast an jedem Wendepunkt meiner musikalischen Entwicklung ein Dehmelsches Gedicht steht. Daß ich fast immer zu Ihren Tönen erst den neuen Ton fand, der mein eigener sein sollte; den Ton, der vom Menschen das aussagt, was es noch über ihm giebt, den Ton [,] dessen sinnliches diminuendo ein geistiges crescendo ist; dessen Zartheit von der Kraft einer anderen Welt, dessen Kraft von der Vergänglichkeit unserer hiesigen Daseinsgefühle redet. Diesen Ton lehrte uns der Inhalt, den wir damals nicht leicht begriffen, mehr aber noch der Klang Ihrer Verse, den wir voll in uns aufnahmen" (BIRKE 1958, S. 285). Von Webern konnte kein Brief im Nachlaß Dehmels aufgefunden werden; möglicherweise hat er nie einen an den Dichter gerichtet und seine Begegnung mit dessen Gedichten ebenso sein Geheimnis bleiben lassen wie die Existenz des Liederzyklus, der unmittelbar an Webems frühe atonale Liederzyklen nach George, op. 3 und 4, heranführt.
V
Vorbemerkung zu den Analysen der Dehmel-Lieder 1- V: Benutzt wurde die Ausgabe: WEBERN, Fiue Songsafter Poems by Richard Dehmel for Voice and Piano. From the Composer's Autograph Manuscripts in the Moldenhauer Archive ed. by Leonard Stein, New York: Carl Fischer, Inc., © 1962; © 1966. Abweichend von der üblichen Art funktionsharmonischer Analysen-Kurzschrift, welche im wesentlichen nur die drei Grundsymbole S- D- T (mit Zusatzzeichen und -ziffem) zur Verfügung hat, ist in den folgenden Analysen eine in Gebrauch, die für jede Tonart ein Symbol in Form von Tonname (Dur =Majuskel; moll = Minuskel) mit den geläufigen Ziffernzusätzen bereithat. Mit einer derartigen Nomenklatur wird versucht, der speziellen Eigenart Webernscher Harmonik Rechnung zu tragen. Diese zieht nicht nur weitgehend Nutzen aus Mediantverwandtschaft, sondern kennt schon auf der Stufe
DEHMEL-LIEDER VON WEBERN
57
des ersten Liedes keine Tonika mehr, die nicht mit jeder, die bei akustischer Identität gleich gültig für sie eintreten kann, vertauschbar wäre. Die Vorzeichnung in Lied I von einem Kreuz ist, wie in den folgenden Liedern die von einem b usw., eine Chiffrierung. Hinter einer Chiffre verbirgt sich, wer nicht will, daß man ihn erkenne, aber ebenfalls, wer gar seine Identität nachzuweisen nicht in der Lage ist. Die Labilität der Tonalität, das Moment der Gleichgültigkeit gegenüber der Identität eines Klanges als der Tonika verrät einen neuerwachten Möglichkeitssinn, einen Sinn dafür, daß alles, was je ist, genauso gut hätte anders werden können, und alles, was wird, seinesgleichen habe, einen Sinn, der den Liedern so eignet wie vordem anderen ihr bestimmter Ausdruck. Zeichenerklärung: Wenn für Enklaven dennoch zuweilen Funktionszeichen benutzt sind, stimmen sie in Aussehen und Bedeutung mit den von MALER (4/1957) in Kurs gesetzten überein. e Ubereinanderstehende Tonnamen in der Weise ~
·' gis
symbolisieren einen Akkord; einzeln stehende Tonnamen, ohne Zusatzzeichen, geben, wenn sie in der untersten Zeile stehen, den Baßton an. Ziffern im Kreis geben die Taktzahl an; Ziffern ohne Kreis bedeuten ein Intervall. Exp. Repr. Df'g Einl'g Str.
Exposition Reprise Durchführung Einleitung Strophe
r. H. l.H. Singst. 1
Klavier, rechte Hand Klavier, linke Hand Singstimme Motiv 1 (Zählung gemäß der Reihenfolge des Auftretens)
Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. I: Tonika ist kein moll- oder Dur-Akkord, sondern ein vagierender Akkord, der übermäßige Dreiklang e-gis-c. In der Komposition des Liedes betrachtet Webern jeden seiner Töne als einen möglichen Grundton des Liedes. Ausgenommen davon scheint der Ton gis; tatsächlich ist jedoch ein Schluß des Liedes, der voll befriedigt, ebenso in Gis wie in E oder C denkbar. Eben darum ist die Schlußkadenz des Liedes nach E-Dur nicht unproblematisch. Nicht nur ist durch die häufigen Kadenzen auf Stufen terzverwandter Tonarten das Gleichgewicht des tonalen Zusammenhangs ein bewegliches, sondern durch die Anlage des Schlusses in diesem Sinn geradezu noch gesteigert, sozusagen provozierend labil: Der kadenzierende Quartsextakkord (Takt 34) steht auf G; der Ton c liegt in der Oberstimme, wenn die Tonika erreicht sein sollte (Takt 35 ). Indes ist Gis zu diesem Zeitpunkt der Baßton; nach Gis-Dur weisen beide, gis und c (= his), und e ertönt einen Augenblick lang wie eine Wechselnote zu dis (vgl. Notenbeispiel I,1). Im übermäßigen Dreiklang gis-e-c ist aber auch gleichberechtigt E-Dur enthalten; daß das Lied in diese Tonart mündet, entspricht einem Tonalitätsbewußtsein, dem die entschiedene Tonart einigermaßen gleichgültig ist und dem es, daß sie am Schluß erklingt, kaum mehr als Zufall bedeutet. Nicht aber die Form, sondern die Tonart E-Dur entbehrt am Schluß der überzet.:genden Notwendigkeit, es sei denn, man versteht sie als
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von tinu Achse aw k~bsg.mgig m sich zurucklaufcnck (~pic~ltc) Melodie
Analyse des Liedes III (Sehr ruhig; drei ~, 3/4, 47 Takte)
°'.....
68
REINHARD GERLACH
Lied eröffnet hat - ganz unbefestigt, so daß sie willkürliche Setzung oder zufälliges Ereigi;iis dünkt. Das erweist vollkommen der Vergleich des Liedanfangs mit dem augmentierten Schluß (vgl. Notenbeispiel 111,1). Die Austauschbarkeit der Tonika Es mit E gründet wiederum in der Mehrdeutigkeit des übermäßigen Dreiklangs, hier des Akkordes:
es 1 e
b1 h
~
(gis)
mit „ambivalenten" Terzen. Hinter solch tonaler Ambivalenz verbirgt sich aber nichts anderes, als daß der Liedsatz ohne Einschränkung volle Chromatik entfaltet, wie sie aus der Kombination der Es-Dur- und E-Dur-moll-Leiter resultiert (vgl. Notenbeispiel III,2). Daß beide Leitern gleichzeitig die Harmonik des Liedes mit ihren Stufen bestimmen, sei im folgenden nachgewiesen. Auf dem „äußeren" Höhepunkt, dem auch dynamischen Gipfel des Liedes, erklingt nach ausgedehnter Steigerung zu den übermäßigen Dreiklängen: d 1
b
und
1
fis
es l h l g
das Motiv: f - e - gis - a - fis - es als Komplement (und zwar sofort im doppelten Kontrapunkt, wobei r. H. und l. H. tauschen). Dieser Stelle (Takt 31, Beginn der Reprise, ff, „sehr breit") entspricht der „innere" Höhepunkt, der durch stetige Zurücknahme vom „forte" über „sehr zurückhaltend" bis zum ppp der Singstimme (bei pp des Klaviers) als der Moment größter Verhaltenheit (Takt 42) erreicht wird. Voraus geht bei „sehr langsamem" Tempo eine Kette von fünf übermäßigen Dreiklängen (vom letzten Viertel des Taktes 39 an), die ein zwölftöniges Feld (= umrandet) bildet:
d
cis 1 a 1 f
es
1
1
b
h 1
f~
g
e 1
c
1
as
f 1 cis 1 a
und damit auch die variierte Umkehrung des Motivs von Takt 31: f -
fis -
d -
(b -
g -
e) -
es enthält.
Durch Selektion sind im Augenblick der intensivsten Ruhe von den insgesamt sechs Tönen der beiden übermäßigen Dreiklänge fis-b-d und g-h-es lediglich noch es - fis im Zusammenklang übrig.
69
DEHMEL-LIEDER VON WEBERN
Sie bilden Exponenten von:
t
t Ass< -
As< -
und
Es
R
H -
e(/E)
s> und geben bei einem Minimum an Ton ein Maximum an harmonischer Dichte, die in der Orthographie der Takte 42 und 43 faktisch greifbar (sichtbar) wird. An der Art und Weise solcher Rücknahme stellt sich das Prinzip dar, demgemäß sich in dem Liede die musikalische Form auf harmonischer Grundlage noch zu entwickeln vermocht hat, nachdem die für die Funktionsharmonik grundlegende Tonhierarchie durch Hereinnahme aller chromatischen Zwischenstufen abgeschafft war. Es ist das wertfreier statistischer Selektion, welcher je nach Zusammenhang die Bedeutung von Verweigerung des Totals oder Gewährung unterlegt werden kann. Aus der zwölftönig gleichstufigen Skala, zu der sich die beiden diatonischen Leitern aus Es- und E-Dur/moll komplettieren, sind zu gewinnen: Modus
es
Modus II
f
g
a
fis
e
gis
h
cis
b
c
d
als beide jeweils wieder gleichberechtigte sechstönig gleichstufige Skalen. Wiederum über Selektion stellt jeder Modus zwei übermäßige Dreiklänge bereit:
h
c
cis
1
1
1
g
as
a
1
1
1
e
f
es
d
J1 fis
II
Akkorde aus Tönen eines jeden der beiden Modi können als Dominanten zu Akkorden aus Tönen des jeweils anderen Modus fungieren, z. B.: f 1
es
b , bzw. cis
d
1
1
~
a
1
f
fis
~
bzw.
es 1 CIS
a
1
f
Ds= D7 s>
d
c
~ 1
D T 7- 3
e
oder: 1
gis
b
1
fis
1
e
TS
~< 7 ~ s Es E D5 b G 3
JJL
S>
A6 > Ds
5>
3
6
d1s
®
®
-®
®
c
Thcmakopf
Thcmakopf
F
F S
ci6> s< 3 s
9< 7 g gS> Gs
Thcmakopf
Analyse des Liedes IV (Nicht zu langsam; ein~ ,4/4, 27 Takte)
Thcmakopf augmcnticrt
7
G7 - Ciss> S> Thcmakopf augmcnticrt
~
Cl t>l
~ > C"l :r:
DEHMEL-LIEDER VON WEBERN
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Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. IV: Die Form des Liedes ist unter Kontrolle durch die Sensibilität des Komponisten gewachsen, wie sie wurde; sie hat sich mit Kontrapunkt bewehrt; die Außenstimmen (Singst. und l. H., aber auch r. H. und l. H.) verlaufen einander weitgehend imitierend, manchmal auch kanonisch, und sichern die sonst wesentlich harmonische Anlage des Liedes strukturell ab. Webems Sensibilität reagiert gegenüber der Trivialität entschiedener tonaler Fortschreitung allergisch; darum hat das Lied, obwohl tonal komponiert, keine eindeutige Tonika. „Die Klischees sind ganz einfach weggeblieben. Der chromatische Weg, d. h. der Weg, in Halbtönen fortzuschreiten, hat seinen Anfang genommen" (WEBERN 1960, S. 50). An keiner Stelle ist eine Tonart wirklich als Tonika „ausgedrückt". Vielmehr bleibt die Entscheidung „in der Schwebe". Wenn SCHONBERG definiert: „Die Tonalität ist eine ... formale Möglichkeit, durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, im Laufe eines Tonstücks nur solche Klänge und Klangfolgen, und beide nur in solcher Anordnung zu verwenden, daß die Beziehung auf den Grundton der Tonart des Stückes, auf die Tonika, unschwer aufgefaßt werden kann" (3/1922, S. 28), so ist negativ Webems Position im Lied Nr. IV bezeichnet. Ihm geht es gerade nicht um Eindeutigkeit, sondern um die Zwischentöne, die vieldeutige Wahrheit. „Abgründe dort sehen zu lernen, wo Gemeinplätze sind", war für WEBERN (1960, S. 10), den Schüler Karl Kraus' in Sachen der Sprache, der Antrieb beim Widerstand auch gegen den schmelzenden Wohlklang der glatten Oberfläche in der Musik, den musikalischen Gemeinplatz, seit er als Komponist - eher als er es aus übergroßer Skrupulosität sich zutraute - mündig geworden war. Der Enthaltsamkeit von wohlfeiler trivialer Phrase verdankt die Harmonik des bei aller Intensität des Ausdrucks („sehr warm") überaus zarten, verhaltenen Liedes ihr überall und Nirgendwo. Die Analyse weist aus, daß in den wenigen Takten der Komposition beinahe jede der zwölf Tonarten in einem Dreiklang oder Septakkord wenigstens einmal wie grüßend und wiedergegrüßt vorübergeht. Die Klänge, die scheinbar nicht voneinander wissen, gehen keine festen Bindungen ein, auch wenn sie zu nahezu allen fähig wären. In sie eingesenkt sin
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Analyse des Liedes V (Sehr zart, mässig, ein ~ , 4/4, 4 7 Takte)
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Aus der Tendenz zur Erstattung des Vorenthaltenen ergibt sich 1) der Fortgang von Takt 1 zu Takt 2 (wie der Vergleich zwischen dem Tonbestand von Takt 2 und den vorgeschlagenen Ergänzungen gemäß der durch Lied I - IV geltenden Harmonik des übermäßigen Dreiklangs erweist), 2) die „Begleitung" (L H.): Die „Begleitung" besteht - entgegen dem an Lied Nr. III als dem bisher avanciertesten beobachteten Prinzip der konstruktiven Intervallik - aus großer Sext und Tritonus: Takt 1
Takt 2
Davon sind im Sinne der Harmonik des übermäßigen Dreiklangs komplementär zu Takt 1 und 2 die in dieser Form umrandeten Töne: 0 (= I) und (= II). Als verkürzte Schichtungen von Akkorden aus Modus I und II können
0
aufgefaßt werden. Die großen Sexten sind fraglos „durchgängig" gemeint; bist Leitton zu h, c ist Leitton zu cis, d. h. im Rahmen der auf Großterzstruktur der Akkorde basierenden Ganztonharmonik sind die beiden Töne sogenannte Nebennoten. Wo aber Haupt- und Nebensachen unterscheidbar sind, besteht auch ein Gefälle und damit dynamische Form. Nun fehlt auffälligerweise im Ritornell eine genügende Anzahl von Tönen aus Modus II. Das Zurückgehen („zögernd", pp) im Übergang vom zweiten zum dritten Takt geschieht mit den Tönen
~ •u• 11, dio du«h Längung dtt Tond.uo' Gowkht bokommon, und ondot mit ~ ins PPP verklingend. Dann aber tritt - man möchte sagen: aus einer Art Nachlässigkeit heraus - schon im Verklingen ein Ereignis ein, das (wie bei Webern die meisten) seine Bedeutsamkeit im Unscheinbaren zu verbergen sucht. Nicht im Durchgang, vielmehr, von der Umgebung schon fast isoliert, im Besonderen schichten sich Modus I und II, zwar wie zufällig, unachtsam und doch mit der Kraft des letzten Entschlusses, und bilden eine Synthese, in der auch die Bewegung von Ton zu Ton in der Art des „osmotischen Druckausgleichs" zwischen Modus 1 und II aufgehört hat als jene letzte mögliche, an kadenzierendes Fortschreiten erinnernde schon im pantonalen Klangraum. Das Resultat ist der aus pantonaler Synthese hervorgegangene atonale Akkord, Inhalt jenes Traums von einem „freien" Klang, den das Lied Nr. 1 (vgl. Takt 2 7) schon geträumt hatte:
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b) der Strophe: Die Freisetzung der Tonpotentialitäten Die Harmonik der Strophen 1 bis III ist grundsätzlich von anderer Beschaffenheit und dabei eigentümlich amorph. Wie wenig zufällig indes jeder Takt ausgefüllt ist, zeigt die Synopsis der taktweise auf den bloßen Tonbestand reduzierten Strophen 1 bis III (vgl. Notenbeispiel V,1). Fast ausnahmslos sind diese Füllungen in allen drei Strophen gleich, was verschiedene Gründe hat, die weiter unten noch zu erörtern sind. Statistisch sind je Takt Füllungen von fünf- bis neuntöniger Dichte in den Takten vor Takt 9 und 10 und ihren Entsprechungen in den Strophen II und III zu ermitteln. Takt 9-10 zusammen zu bewerten hat Grund, weil hier stets die Terz af orgelpunktgleich teils sukzessiv, teils simultan ertönt. Damit „steht" - oder (Takt 31-32) „hängt" - ein Klang, über - unter - dem ein sechstöniger Akkord (in Takt 9, 20, 31), ein siebentöniger (in Takt 10), ein achttöniger (in Takt 21) und ein dreitöniger Akkord (in Takt 32) „in sich und um sich rotiert". (Auf die unterschiedliche Taktfüllung in den Takten 10, 21 und 32 wird noch unten zurückzukommen sein.) Es handelt sich, wie Notenbeispiel V,1 demonstriert, offenbar um ein Komponieren schon nach dem Prinzip der „variablen Dichte", die zunehmen oder abnehmen kann, ohne daß Logik im funktionsharmonischen Verstand herauszuhören wäre. Dem gilt die hintergründige Bemerkung STRAWINSKYs auf die Frage nach dem „Hören":
„Ihre Frage besagt, daß Sie noch danach trachten, die Töne in eine tonale Verbindung zu bringen. Die Tatsache, daß Sie nach einer ,Tonart' suchen, ermächtigt Sie zu dieser Handlungsweise ( ... ) . Doch alles, was das Ohr in diesem Sinne gewahr werden kann, ist Dichte (niemand unter dreißig, und nur vereinzelte vorsintflutliche Menschen über dreißig, wie ich, benützen noch das Wort ,Harmonie'; dafür sagt man ,Dichte')." Weiter, wenn auch nicht mehr in striktem Bezug zum Thema: „ ... die Dichte ist zu einer streng seriellen Angelegenheit geworden, ein Element, das wie jedes andere, variiert und permutiert werden kann. Entsprechend dem eigenen System kann man in vertikaler Anhäufung von zwei bis zwölf Tönen auffassen (ist das mathematisch? Natürlich ist es das, nur komponiert der Komponist die Mathematik). Dies alles geht zurück auf Webern, der das ganze Problem der variablen Dichte verstand ( ... )" (S. 234, Nr. 177). In den Takten 9 und 10 wächst die Dichte über dem doppelten Orgelpunkt zur höchsten an. Es erscheinen in den Taktpaaren alle 11 Töne der chromatischen Leiter bis auf den zwölften: ces = h, der am weitesten entfernt im Quintenzirkel auftritt, wenn man die Vorzeichnung eines b auf ein freilich rein fiktives F-Dur als Zentrum bezieht. Es bedünkt, ihr Auftreten ist ziemlich regellos (vgl. Notenbeispiel V,2). Dennoch sind sie nicht ohne strukturelle Bindungen, was hier - in der Isolation - nicht gewahrt werden kann; vielmehr gehören sie zum Teil Stimmen von der strik-
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testen Verbindlichkeit an, die für alle drei Strophen gilt (vgl. weiter unten). Aber auch in der Mikrostruktur sind gewisse wiederkehrende Gruppierungen, die sich aus engster Nachbarschaft der Töne ergeben, freilich lockerer Art, feststellbar. Immerhin lassen sie sich, wenn auch nur ideal-typisch, erfassen, d. h. zwar kann man eine größere Anzahl von Fällen, aber nicht alle Fälle von Stimmbewegung ihnen zuordnen (Oktavversetzungen der Gruppen sind in diesem Betracht selbstverständlich zulässig) (vgl. Notenbeispiel V,3). Wenn bisher von „Zellen", maximal aus zwei übermäßigen Dreiklängen des gleichen Modus (wobei der sechstönige Akkord vermieden wurde als „rotierend"; vgl. oben Kommentar zur Analyse von Lied Nr. III), die Rede hat sein können, zwischen denen - als Modus-Wechsel - „Druck"ausgleich möglich und damit eine Form der gesetzmäßigen Tonbewegung realisierbar war, so stellt sich nunmehr ein harmonischer Zustand dar, in dem die Substanzen, flüssig bei porös gewordenen Zellwänden, diffundierten. Das Ergebnis: Die Großterzstruktur von Akkorden ist verloren gegangen und mit ihr die Polarität. Stattdessen kommuniziert jeweils gegen Ende der Strophen I-III nach Anwachsen der Dichte, was noch in Lied Nr. I-IV in den beschriebenen Weisen geschieden geblieben war, das tonale Gegensatzpaar Modus I - Modus II. Das meint: Aus Eigenschaften (= spezifischen Qualitäten auf Grund einer vorausgegangenen mehrhundertjährigen musikalischen Tradition in Komposition und Hören) der Töne auch in der polaren Ganztonharmonik Webems noch durchaus valid - wurden in harmonischem Verstand „Aller-schaften" oder Potentialitäten. An der harmonischen Disposition der Großform ist die Veränderung einleuchtend aufzeigbar. Harmonische Anziehung herrscht nur noch wie unter Gestirnen; eine Tonfluktuation zwischen F ~Ces (= H) kann beobachtet werden, aber sie gleicht allein einer Gezeitendynamik, eingepaßt dem formalen Rahmen der barc-.:ken Aria (vgl. weiter unten). Der Beginn jeder Strophe gravitiert nach Ces-Dur bzw. es-moll; auf dem musikalischen Höhepunkt jeder Strophe ist der Ton h (bzw. ces) ausgespart, sind f-as aber Liegestimme. Webems Musik kommt auf zwei Weisen von der funktionalen Harmonik los:
1. durch Synthese von an sich funktional im weitesten Begriff noch bestimmbaren polaren EI menten zu atonalen oder pantonalen Klängen. In diesem Sinn ist bereits pantonal der übermäßige Dreiklang des Liedes Nr. 1 als synthetisch entstanden aus den Großterzen zweier Durdreiklänge verschiedener Tonart; 2. durch eine auf die Technik der Nebennoten rückführbare Unschärfe des Einzeltons, der vertauschbar ist mit seinen unmittelbaren Nachbarn - eben dies, in gegensätzlichem Sinn gebraucht, hat Webern zur Chiffrierung seiner Lieder Nr. 1 bis IV als tonale gedient - ; dann die Unschärfe des Akkordes und der durch ihn repräsentierten Tonart. Eine Stufe der Entwicklung noch auf der Ebene der übermäßigen Dreiklangsharmonik stellt die Technik der Komplementierung zum chromatischen Total durch Tonbewegung nach Art des „osmotischen Druckausgleichs" dar, von der aus die Entwicklung weiter - sowohl nach 1. - zur Synthese und - als auch nach 2. - zur Dissolution zu verfolgen war; elliptisches Schrumpfen, das Webern in der Komposition seit opus 2 vorantreiben wird, ist erst in Ansätzen zu bemerken.
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Beide unter 1. und 2. genannten Möglichkeiten der Aufhebung der sprachähnlichen funktionalen „Logik" der Harmonik sind in Lied Nr. V noch realisiert. Aber von der in Lied Nr. III auffälligen Vernachlässigung der Intervalle: kleine Terz, Tritonus und große Sexte als konstruktive Intervalle innerhalb des harmonischen Gebäudes und damit von einem gewissen Purismus kann nicht länger die Rede sein. So ist nun wirkliche Freiheit von der funktionalen Harmonik erst jetzt in Sicht, wo über alle Intervalle verfügt werden kann. Webern hat eine Schwelle betreten und sich auf die weiter zu verfolgende Richtung festgelegt: WEBERN weiß nun, „daß es nur weiter geht nach Innen" (1959, S. 10), wie er 1928 bestätigen wird. Die Rhythmik Rhythmisch sind in dem Lied drei Schichten voneinander differenziert. Damit spielt eine neue Problematik herein; denn keines der voraufgegangenen Lieder des Zyklus hatte insgesamt in diesem Grade rhythmische Aufgaben zu bieten wie das fünfte. Lediglich taktweise gab es in Lied Nr. II ähnliche Probleme, wenn der synkopische Orgelpunkt zu den trioligen Achteln des übermäßigen Dreiklangs in Konflikt geriet und präzise jene Verschwommenheit ausgedrückt war, die der Text mit der mystischen Formel: „dein Blut erklingt .. . [und ist ein] ... heller Abgrund" zur Sprache brachte. Ferner fanden sich Komplikationen ähnlicher Art in Lied Nr. III, zweite Hälfte des Mittelteils, wo der harmonische Untergrund zum Duett von Singst. und r. H. beim Text „seligste Versunkenheiten, strahlt (ein Stern) ... und es treiben mich Gewalten . .. " durch Triolen gegen Achtel ein scheinb